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German Pages 262 Year 2015
Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf (Hg.) Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung
Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 7
Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Ton- und Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.
Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf (Hg.) Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte
Publiziert mit Unterstützung des SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
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Inhalt Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf Einleitung. Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung 7
Methoden und Konzepte der Intermedialität Jürgen E. Müller Intermedialität digital: Konzepte, Konfigurationen, Konflikte 17 Beate Ochsner Zur Frage der Grenze zwischen Intermedialität und Hybridisierung 41 Jens Schröter Intermedialität und Kapitalismus in der Kunst 61 Michael Wetzel Inframedialität – Performation als Transformation 83 Gunther Reisinger Netzkunst, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Eine Methodensuche 99
Fallstudien und ästhetische Reflexionen Vincent Kaufmann Guy Debord: kein Recht auf Einsicht 115 Simona Travaglianti Debords unzertrennliche Montagen in Critique de la séparation 129 Doris Gassert ›A technique for the focused erasure.‹ Intermediale Inszenierungen zwischen Film und Computer in Eternal Sunshine of the Spotless Mind 147 Jürgen Raab Präsenz und Präsentation – Intermediale Inszenierungen politischen Handelns 171 Joachim Michael Die lateinamerikanische Telenovela als intermediale Gattungspassage 197 Ulla Patricia Autenrieth Doku-Soap des eigenen Lebens – Photographische Selbstrepräsentation als intermediale Identitätsarbeit von Jugendlichen auf Social Networking Sites 221 Andy Blättler Grenzen passieren: Heath Buntings »BorderXing Guide« im Kontext von Überlegungen zu Zeit, Politik, Medien und Performanz 235 Autorinnen und Autoren 255
Einleitung. Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf »Am Ende verfällt alles dem algorithmischen Zugriff.«1
Schon Mitte der 1980er Jahre proklamierte Friedrich Kittler die Auf hebung der Einzelmedien im universellen, digitalen Code des Computers. Zehn Jahre später bemerkte auch Yvonne Spielmann »das langsame Verschwinden des Intermedialen im Paradigma des Digitalen«.2 So schien sich das vornehmlich von der kulturkritischen Verlustrhetorik beklagte Verschwinden gerade auf der Oberfläche des Computers am markantesten zu zeigen. Digital codierte bzw. generierte (Nicht-)Bilder3 ließen die postmoderne Streitfrage laut werden, ob solche Bilder »noch zur vertrauten Geschichte angehören oder das Ende des Menschen markieren« und damit zu einer post-humanen »Cyber-Visionik« überleiten. 4 Wenn jedoch auf der Oberfläche des Computers alle alten Medien in ontologischer Hinsicht völ1. Frieder Nake, Vortrag an der Hyperkult, 4.7.2009, Lüneburg. 2. Yvonne Spielmann: »Intermedialität als symbolische Form«, in: Ästhetik und Kommunikation 24 (1995), S. 112-117, hier S. 117. 3. Vgl. Wolfgang Hagen: »Es gibt kein ›digitales Bild‹. – Eine medienepistemologische Anmerkung«, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hg.), Licht und Leitung, Weimar: Universitätsverlag 2002, S. 103-110. 4. Georg Christoph Tholen: »Einleitung«, in: Sigrid Schade/Thomas Sieber/ Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel: Schwabe 2005, S. 15-25, hier S. 25.
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lig ›verschmelzen‹ würden, so wäre auch das Analysepotenzial der intermedialen Forschungsperspektive obsolet. Zum Zeitpunkt dieser Debatte jedoch, 1998, zieht Joachim Paech eine ganz andere Bilanz: »Intermedialität ist ›in‹«5, stellt er angesichts des florierenden Intermedialitätsdiskurses fest. Ihm kommt sogar, so Paech, die Funktion eines zentralen Paradigmas der zeitgenössischen Gesellschaft und Kultur zu. Auch heute, wiederum zehn Jahre später, ist trotz der digitalen Codierbarkeit kein schlichtes Verschwinden der Einzelmedien zu beklagen. Vielmehr werden gerade durch den universellen Code die »Spezifika der verschiedenen Medien abgelöst von ihrer technischen Materialität als virtuelle Form«6 sichtbar, und somit in ihrer ästhetischen Dis-Position reflektierund verhandelbar.7 Ganz der medientheoretischen Tradition Marshall McLuhans verpflichtet, kehrt nun auch dessen klassische These, dass der Inhalt neuer Medien die alten Medien seien, nicht nur im Diktum von Jay D. Bolters und Richard Grusins »all mediation is remediation«8 oder Jürgen E. Müllers historisch fokussierter Spurensuche9 wieder, sondern gibt der zeitgenössischen Intermedialitätsdebatte neue Impulse. Gerade neuere heterogene Ansätze machen deutlich, wie unter digitalen Vorzeichen die Intermedialität über die systematisch-historischen Klassifizierungsversuche von Rajewsky über Schröter bis Wirth hinaus10 modifizierte neue Forschungsperspektiven ermöglicht, um den zeitgenössischen Wandel der 5. Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998, S. 14-30, hier S. 18. 6. Jens Schröter: »Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 385-411, hier S. 397 (Hervorhebung wie im Original). 7. Vgl. Georg Christoph Tholen: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Wilhelm Fink 1999, S. 15-34; ders.: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 8. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 2000, S. 55 (Hervorhebung wie im Original). 9. Vgl. den Beitrag von Jürgen E. Müller in diesem Band. 10. Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002; Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 7 (1998), S. 129-154; Uwe Wirth: »Intermedialität«, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Wilhelm Fink 2005, S. 114-121.
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Einleitung
Medienkultur zu untersuchen. Das zeigt sich in Beate Ochsners Ansatz einer »Meta-Intermedialität« 11, in Michael Wetzels Vorschlag einer »Inframedialität«12, Roberto Simanowskis Erforschung der »Transmedialität« 13, der »intermedialen Gattungspassage« 14 von Joachim Michael bis hin zu Jens Schröters Ausweitung des ästhetischen Intermedialitätsdiskurses in Richtung einer Theorie der Politik des Intermedialen.15 Damit bleibt die Intermedialität auch im digitalen Zeitalter als »epistemische Bedingung der Medienerkenntnis« notwendig 16 und setzt gerade im Spannungsfeld von analog/digital 17 neue Akzente in der medien- und kulturwissenschaftlichen Forschung.18 Gerade im Umbruch vom Analogen ins Digitale zeigt sich, dass Medien nicht einfach technisch definierte Apparaturen sind, sondern als »multimediales Kommunikationsdispositiv«19 stets neue intermediale Konstellationen eingehen, durch welche die Medialität auf neue Weise erschließbar wird. Medien dienen als Vermittlungsinstanzen und Transformatoren und »verschieben und verändern den jeweiligen Rahmen unseres kulturspezifischen Wahrnehmens, Denkens und Wissens. Medien speichern, übertragen und verarbeiten nicht nur Informationen, sondern auch Ideen und Ideologien, Werte und Normen.«20 Die Intermedialität bildet dabei die grundlegende Funktion medialer Vermittlung. Richtete die ältere Forschung infolge des ›intermedial turn‹ ihre Aufmerksamkeit auf die strukturellen Bezüge, Interferenzen sowie Inter11. Vgl. den Beitrag von Beate Ochsner in diesem Band. 12. Vgl. den Beitrag von Michael Wetzel in diesem Band. 13. Roberto Simanowski: »Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst«, in: Urs Meyer/Roberto Simanowski/Christoph Zeller, Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 39-81. 14. Vgl. den Beitrag von Joachim Michael in diesem Band. 15. Vgl. den Beitrag von Jens Schröter in diesem Band. 16. Sybille Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 78-90, hier S. 82. 17. Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität Analog/Digital. Theorien, Methoden, Analysen, München: Wilhelm Fink 2008. 18. Neben dem Basler ProDoc-Graduiertenprogramm »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« sei hier auch auf den Sonderforschungsbereich Sfb 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« und das Internationale Graduiertenkolleg »InterArt«, beide in Berlin, verwiesen. 19. I.O. Rajewsky: Intermedialität, S. 7. 20. G.C. Tholen: »Einleitung«, S. 16.
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aktionen unterschiedlicher Medien, so verschiebt sich der Schwerpunkt der aktuellen Intermedialitätsforschung auf die unter digitalem Vorzeichen neu entstehenden, gleichermaßen trennenden wie verbindenden medialen Ausdrucksweisen und Darstellungsformen, welche die medialen Brüche und Zwischenräume, und somit die Struktur der Medialität als solche, wie Georg Christoph Tholen bemerkt, ins Zentrum der medienwissenschaftlichen Reflexion rücken.21 Die digitale ›Entmaterialisierung‹ löst dabei alte mediale Formate und Sichtweisen im Computer nicht auf, vielmehr ermöglicht der algorithmische Zugriff neue intermediale Konfigurationen und Wechselwirkungen, die in ihrer virtuellen Potenzialität ein nahezu unbeschränktes intermediales Spielfeld eröff nen, dessen ästhetische Vielfalt stets unabgeschlossen bleibt: »›Unfinished‹«, so Peter Lunenfeld, »defines the aesthetic of digital media.«22 Daraus ergibt sich das Forschungsdesiderat einer systematischen (Neu-)Bestimmung des Verhältnisses von Aisthesis und Medialität unter virtuellen, also potenziellen und nie abschließbaren Bedingungen, die die Übersetzungen und Verschiebungen, Brüche und Schwellenräume, Lücken und Zäsuren selbst ins Zentrum ihrer Reflexion rücken. Dass das digitale Zeitalter und seine rasante mediale Entwicklung dabei eine besondere Herausforderung für die Intermedialität darstellt, darüber besteht kein Zweifel. Dass die intermediale Forschungsperspektive dabei aber als Notwendigkeit zur Untersuchung des gegenwärtigen Medienwandels bestehen bleibt, und sich dieser Herausforderung gerne annimmt, davon sollen die folgenden Beiträge handeln. In seinem Beitrag Intermedialität digital: Konzepte, Konfigurationen, Konflikte befasst sich Jürgen E. Müller anhand ausgewählter digitaler Formate wie Online-Nachrichten, Second Life oder der Interaktion zwischen Film und Videospielen mit der Frage der Relevanz und Übertragbarkeit des intermedialen Forschungsansatzes auf die ›neuen‹ Medien. Dabei sieht auch er in den digitalen Medien eine Herausforderung für die intermediale Forschungsachse, widerspricht aber dem Standpunkt, dass intermediale Prozesse im Digitalen verschwinden würden. Vielmehr, so Müller, mache eine historisch orientierte Intermedialitätsforschung auch neue Konfigurationen und Formen intermedialer Dynamiken der digitalen Medien erschließbar. In ihrem Beitrag Zur Frage der Grenze zwischen Intermedialität und Hybridisierung widmet sich Beate Ochsner dem Phänomen der Intermedia21. G.C. Tholen: »Überschneidungen«, S. 15. 22. Peter Lunenfeld: »Unfinished Business«, in: ders. (Hg.), The Digital Dialectic. New Essays on New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 1999, S. 7-23, hier S. 7.
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Einleitung
lität bzw. den oft synonym verwendeten Begriffen »Intermedialität« und »Hybridisierung«. Ochsner geht davon aus, dass das Phänomen der Intermedialität zumeist in einen Prozess der allgemeinen Hybridisierung der Kultur und ihren Diskursen eingeordnet wird. Dabei untersucht sie das Phänomen der Grenze im Kontext ästhetischer Theorien, um aufzuzeigen, wie die im Rahmen intermedialer oder hybrider Interaktionen erzeugten Transgressionen diskutier- und verhandelbar werden. Jens Schröter untersucht in seinem Beitrag Intermedialität und Kapitalismus in der Kunst die politischen Konnotationen, welche schon seit den frühen Debatten um ›Intermedia‹ in den 1960er Jahren explizit mit den Fragen nach der ›Spezifik‹ der Medien bzw. ihren intermedialen Übergängen und Verbindungen verbunden sind. So stellt Schröter fest, dass die ›reinen‹, auf ihre ›Spezifik‹ reduzierten Medien entweder negativ mit der kapitalistischen Arbeitsteilung oder gerade umgekehrt positiv mit einer Kritik an der ›kapitalistischen Gesellschaft des Spektakels‹ in Verbindung gebracht werden. Umgekehrt gilt Intermedialität (bzw. die ›Intermedia‹) entweder als Vorschein der Überwindung der Arbeitsteilung oder als Kapitulation vor dem Spektakel. Schröter rekonstruiert diese konträren Positionen und die damit einhergehenden politischen Implikationen und liefert damit einen ersten Schritt zu einer Analyse und Theorie der Politiken der Intermedialität. Michael Wetzels Beitrag Inframedialität – Performation als Transformation intensiviert die Diskussion der Perspektive von Intermedialität hinsichtlich der internen, verborgenen und immateriellen Bedingungen eines Bezugs der Medien aufeinander. Seinen Ansatz der Inframedialität leitet er von Marcel Duchamps Konzept des »inframince« her. Die im Begriff »infra« enthaltene Idee impliziert eine Metastabilität – ein Gleiten oder Changieren, das an eine Abkehr vom linearen zum zyklischen Zeitverständnis gebunden ist. Es werden keine Geschichtsschwellen markiert, sondern Berührungen, Metamorphosen, Passagen und Fugen zwischen den Medien, mit dem Anliegen, eine Sensibilisierung für die minimalen Verschiebungen oder Umgestaltungen (Transformationen) in technischapparativer wie ›medien-aisthetischer‹ Entwicklung der Medien zu erreichen. Im Fragehorizont dieses Ansatzes verwandelt sich das intermediale »Dazwischen-Sein der Medialität« im Bezug eines Einzelmediums auf ein anderes in ein transzendentales Verhältnis der Bedingung der Möglichkeit. Im Mittelpunkt des methodenorientierten Aufsatzes Netzkunst, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Eine Methodensuche von Gunther Reisinger steht die Frage, wie eine Restaurierung und Archivierung von medienkünstlerischen Phänomenen der Netzkunst einen möglichst authentischen Blick auf das einstige Kunstwollen des Künstlers erlaubt. Für die Erörterung dieser Frage und vor dem Hintergrund der Problematik, dass 11
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solche Netzkunst-Phänomene aufgrund ihrer medialen Spezifi ka nur im World Wide Web existieren, schlägt Reisinger eine interdisziplinäre Methoden-Mischung aus Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Informatik vor. Die folgenden zwei Autoren beschäftigen sich mit der Situationistischen Internationalen, einer künstlerisch-intermedial wie medienkulturell bedeutsamen Avantgarde-Bewegung der Nachkriegszeit. Dabei nähert sich Vincent Kaufmann mit seinem Beitrag Guy Debord: kein Recht auf Einsicht dem Schaffen Guy Debords über die oszillierenden Diskurse Theorie und Autobiographie an. Kaufmann erörtert anhand der Begriffe Kein Recht auf Einsicht, Bildersturm, Widerlegung sowie Ausschluss die strategischen Eigenheiten Debords, das von diesem verhasste »Spektakel« zu bekämpfen, und spezifiziert entlang der genannten Leitbegriffe die ästhetischen Konsequenzen Debords Engagements eines multimedialen Widerstandes gegen den Blick aller anderen. Simona Travaglianti widmet sich in ihrer Untersuchung Debords unzertrennliche Montagen in Critique de la séparation der fi lmischen Bildverwertung der visuellen Widerstands-Strategie Guy Debords. Dabei vermerkt sie, dass sich Debords Werk nicht allein auf ein destruktives Vorhaben beschränken lässt, sondern dem Rezipienten Raum für eine multiple Filminterpretation eröffnet werden kann. Am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (USA 2004) zeigt Doris Gassert, wie sich mit der motivischen Inszenierung des Computers im Film ein Spannungsfeld zwischen analog und digital eröffnen kann, welches die mediale Transformationsleistung des Computers auf das fi lmische Bewegtbild und Erzählmuster ästhetisch verhandelbar macht. ›A technique for the focused erasure.‹ Intermediale Inszenierungen zwischen Film und Computer untersucht die in Eternal Sunshine inszenierte Erinnerungswelt, die gerade im Moment ihres Verschwindens die modulierende Funktion des Computers sichtbar werden lässt. Jürgen Raab zieht in seinem Artikel Präsenz und Präsentation – Intermediale Inszenierungen politischen Handelns mit Triumph des Willens (Regie: Leni Riefenstahl, D 1935) und Comandante (Regie: Oliver Stone, USA 2003) den historisch frühesten und einen der letzten Vertreter von »QuasiPolitdokumentationen« zu einer vergleichenden Analyse heran. Auf dieser Grundlage wird das intermediäre Übersetzungs- und Spannungsverhältnis aus politischem Handeln, performativer Auratisierung und bildlich-fi lmischer Inszenierung sowohl hinsichtlich seiner durchgängigen Strukturen als auch mit Blick auf seine spezifischen Ausformungen erhellt. Joachim Michaels Beitrag Die lateinamerikanische Telenovela als intermediale Gattungspassage erörtert, wie sich die Telenovela als heutige kulturelle Leitgattung in Lateinamerika aus einem zugleich medialen wie kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch entwickelt hat. Als eine Transposition 12
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des serialisierten Melodramas auf das Fernsehen knüpft sie zwar an vorhergehende Gattungen anderer Medien an, bricht aber grundsätzlich mit ihnen. Die Bannkraft der Telenovela lässt sich aus dem in die Erfahrungswelt der Unterentwicklung eingesenkten Blickregime verstehen. Ulla Patricia Autenrieth beschreibt in ihrem Beitrag Doku-Soap des eigenen Lebens – Photographische Selbstrepräsentation als intermediale Identitätsarbeit von Jugendlichen auf Social Networking Sites die Bedeutung von Online-Netzwerken wie Facebook für Jugendliche als Aushandlungsrahmen für die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Prozessen der wechselseitig aufeinander bezogenen photographischen Eindrucksmanipulationen (Techniken der Darstellung, Imagepflege, Face-Work) der jeweiligen Untersuchungsgruppe zum Zweck der Identitätsbildung. Andy Blättlers Essay Grenzen passieren: Heath Buntings »BorderXing Guide« im Kontext von Überlegungen zu Zeit, Politik, Medien und Performanz spürt der Grenze als einer performativen Manifestation der wechselseitig hybriden und intermedialen Friktion von virtueller und physisch-territorialer Welt nach. Am Verschwinden der innereuropäischen Grenzen im Zuge des Schengener Abkommens zeigt sich das Phänomen der Grenze als eine imaginäre Ereignismaschine, deren Effekte Heath Bunting in verschiedenen medialen Verhältnissen sichtbar macht. Die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes sind vor allem Prof. Dr. Georg Christoph Tholen, Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel, zu Dank verpflichtet; wie auch dem Schweizerischen Nationalfonds, der die Herausgeber als Doktorierende im Rahmen des ProDocs »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« unterstützt und fördert.
Bibliographie Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 2000. Hagen, Wolfgang: »Es gibt kein ›digitales Bild‹. – Eine medienepistemologische Anmerkung«, in: Lorenz Engel/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hg.), Licht und Leitung, Weimar: Universitätsverlag 2002, S. 103-110. Krämer, Sybille: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 78-90. 13
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Lunenfeld, Peter: »Unfinished Business«, in: ders. (Hg.), The Digital Dialectic. New Essays on New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 1999, S. 7-23. Paech, Joachim/Schröter, Jens (Hg.): Intermedialität Analog/Digital. Theorien, Methoden, Analysen, München: Wilhelm Fink 2008. Paech, Joachim: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998, S. 14-30. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002. Schröter, Jens: »Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 385-411. Schröter, Jens: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 7 (1998), S. 129154. Simanowski, Roberto: »Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst«, in: Urs Meyer/Roberto Simanowski/Christoph Zeller, Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 39-81. Spielmann, Yvonne: »Intermedialität als symbolische Form«, in: Ästhetik und Kommunikation 24 (1995), S. 112-117. Tholen, Georg Christoph: »Einleitung«, in: Sigrid Schade/Thomas Sieber/ Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel: Schwabe 2005, S. 15-25. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Tholen, Georg Christoph: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Wilhelm Fink 1999, S. 15-34. Wirth, Uwe: »Intermedialität«, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Wilhelm Fink 2005, S. 114-121.
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Methoden und Konzepte der Intermedialität
Intermedialität digital : Konzepte, Konfigurationen, Konflikte Jürgen E. Müller
1. Das digitale Zeitalter als Herausforderung für die Intermedialitätsforschung Zweifelsohne erweisen sich die digitalen Medien (wie auch immer wir diese fassen mögen)1 als eine große Herausforderung für Medientheorie, Mediengeschichte und das Konzept der Intermedialität. Vor einiger Zeit beschrieb Lev Manovich die Auswirkungen der digitalen Kulturen und Netzwerke als cultural totalization. Die immer noch rapide expandierenden digitalen Netze würden demnach zu einem globalen Netzwerk verschiedener einzelner Medien, Institutionen, Dispositive und Infrastrukturen und somit zu einem digitalen Verschmelzen von Phänomenen führen, die vormals getrennt voneinander existierten.2 Zahlreiche Medienwissenschaftler vertreten die Ansicht, dass mediale Formen im digitalen Zeitalter ihre Materialität und materiellen Aspekte einbüßen und dass sie – haben sie erst einmal virtuelle Form angenommen – umgeformt und neu kombiniert werden. Diese Aussage scheint zuzutreffen, aber bedeutet sie auch zwangsläufig, dass Intermedialität oder intermediale Prozesse (hier insbesondere in Bezug auf ma-
1. Karin Bruns hat zu Recht darauf hingewiesen, dass kein »eigenes Paradigma des Digitalen« existiert. Vgl. dies.: »Das widerspenstige Publikum. Thesen zu einer Theorie multikursaler Medienformate«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.), Intermedialität Analog/Digital. Theorien, Methoden, Analysen, München: Wilhelm Fink 2008, S. 531-546, hier bes. S. 542ff. 2. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 2001.
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Jürgen E. Müller
terielle Aspekte) durch das Digitale ausgelöscht (aufgehoben) werden, wie es einige Kollegen behaupten?3 Ich denke, dem ist nicht so. Mit Blick auf diese Frage lassen sich – mindestens – zwei Argumente anführen: Medien und auch digitale Medien können und dürfen nicht einzig auf ihre materiellen Aspekte reduziert werden. Trotz aller Bestrebungen, sich von Kategorien wie »Zeichen«, »Inhalt«, »Bedeutung«, »Genre« und »Format« zu lösen, spielen diese nach wie vor eine wichtige Rolle in jeglichem Diskurs über Medialität und Intermedialität. Stimmten wir dieser Ansicht zu, so hieße dies, dass intermediale Prozesse nicht in der »generellen Virtualität des Materials« verschwinden würden, sondern dass sie in gewandelter Form oder mit einer Schwerpunktverschiebung weiter wirksam sind und ›zurückkehren‹. 4 ›Intermedialität‹ macht nicht vor den so genannten neuen Medien Halt, sie findet sich auch ›in‹ den digitalen Medien, jedoch gilt es dort neue, ›remedialisierte‹ Formen von Intermedialität zu untersuchen und zu rekonstruieren. Diese Aufgabe scheint gegenwärtig die größte Herausforderung für unsere intermediale axe de pertinence zu sein, die ich nach wie vor als ›Suchbegriff‹ (im Sinne von Walter Moser) verstehe. Entlang dieser Argumentationslinie werde ich im Folgenden einige Thesen zu Konzepten, Konfigurationen und Konflikten intermedialer Forschungsachsen im digitalen Zeitalter vorstellen, die ich anhand einiger Formate aus der ›analogen und digitalen Medienlandschaft‹ illustrieren werde. Ich werde mich dem thematischen Schwerpunkt dieses Artikels somit auf paradigmatische Weise annähern – wobei ich weniger endgültige Antworten anzubieten habe, als vielmehr thesenartig skizzierte Frage- und Forschungsfelder ansprechen werde. Zuvor soll allerdings noch ein kurzer Umweg eingeschlagen werden, der Antworten auf die grundlegende Frage zu finden sucht: Wann ist ein Medium ein Medium, wann ist ein neues Medium ein Neues Medium, und wann ist ein digitales Medium ein Digitales Medium?
3. Vgl. dazu etwa Yvonne Spielmann: »Intermedialität als symbolische Form«, in: Ästhetik und Kommunikation 24 (1995), S. 112-117, hier S. 117. 4. Hier stimme ich den Vorschlägen von Jens Schröter zu. Vgl. ders.: »Das ur-intermediale Netzwerk und die (Neu)Erfindung des Mediums im (digitalen) Modernismus. Ein Versuch«, in: J. Paech/J. Schröter (Hg.), Intermedialität Analog/Digital, S. 579-601, hier S. 585.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
1.1 WANN I S T E IN M EDIUM E IN M EDIUM , E IN NEUE S M EDIUM E IN N EUE S M EDIUM , UND E IN DIGI TALE S M EDIUM E IN D IGI TALE S M EDIUM ? 5 Eine der entscheidenden Fragen – wenn nicht die entscheidende Frage – jeglicher Beschäftigung mit medialen Begegnungen oder Intermedialität ist die, was wir unter einem ›Medium‹ verstehen. Wie hinlänglich bekannt, gibt es Dutzende von Definitionsvorschlägen auf der Grundlage verschiedener wissenschaftlicher Paradigmen, die von philosophischen, sozialwissenschaftlichen, ökonomischen, biologischen, kommunikationswissenschaftlichen, technologischen Rahmungen über Diskurskanäle und Simulationen bis hin zu Aktionsmustern oder kognitiven Prozessen reichen – um nur einige zu nennen. McLuhan6 beispielsweise verwendet die Begriffe ›Medium‹ und ›Medien‹ auf eine sehr offene, manchmal verschleierte oder verschleiernde Art. ›Medium‹, ›Medien‹ oder ›Technologie‹ bezeichnen bei ihm das gesprochene und geschriebene Wort, aber auch Geld, Uhren, Comics, das Rad, Fahrräder, Autos, Telegraphen, Phonographen, Licht, Kinofi lme, Radio, Fernsehen, Waffen, Automatisierung – soweit eine Auswahl der einschlägigen Beispiele. Die verschiedenen Medien- und Medialitätskonzepte (die sich nur begrenzt mit McLuhans Vorschlägen decken) haben zwangsläufig entscheidende Auswirkungen auf jede Forschungsarbeit im Bereich der Inter-Medialität. Meines Erachtens stellt ein semiologisches und funktionales Medienkonzept, das Medien in Beziehung zu soziokulturellen und historischen Prozessen setzt, die nützlichste Rahmung für die Intermedialitätsforschung dar, da in ihm sowohl materielle als auch inhaltliche Aspekte berücksichtigt werden.7 Wenn nun im Zusammentreffen ›alter‹ und ›neuer‹, analoger und digitaler Medien das offensichtlichste und vorrangigste Forschungsfeld interme5. Dieses Subkapitel präsentiert eine knappe Zusammenfassung einiger zentraler Argumente aus meinem Aufsatz »Intermediality Revisited. Some Reflections about Basic Principles of this Axe de pertinence«, in: Lars Elleström (Hg.), Media Borders, Multimodality and Intermediality, Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 237-252. 6. Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, Cambridge/Mass., London: MIT Press 1999. 7. Wie etwa Claus Clüver darlegt, ist eine solche semiologische Vorgehensweise nach wie vor bei vielen (inter-)medialen Fragestellungen hilfreich. Vgl. ders.: »›Transgenic Art‹: The Biopoetry of Eduardo Kac«, in: L. Elleström (Hg.), Media Borders, Multimodality and Intermediality, S. 175-186.
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Jürgen E. Müller
dialer Prozesse zu sehen ist,8 muss man sich fragen: Wann wird ein Medium ein Medium, wann wird ein digitales Medium ein Digitales Medium? In beiden Fällen laufen komplexe soziale, kulturelle, technologische und generische Prozesse der Institutionalisierung ab, damit das, was wir als ›Medium‹, als Neues oder Digitales Medium bezeichnen wollen, manifest wird. Zur Erläuterung dieser Frageachsen empfiehlt sich ein kurzer Blick auf die ›Entstehungsgeschichte‹ des Mediums ›Fernsehen‹, die uns verdeutlicht, dass sich erst nach einer langen (sich über Jahrzehnte oder gar über Jahrhunderte hinziehenden) Phase der Interaktion zwischen (und der Überlagerung von) verschiedenen kulturellen und technologischen Serien9 die Vorstellung eines mehr oder weniger ›konfigurierten‹ und ›stabilen‹ Mediums herauskristallisiert, welches ab Ende der 1930er Jahre im deutschsprachigen Kontext als ›Fernsehen‹ bezeichnet wird. In dieser Perspektive wird der Status dieser Vorstellung des Fernsehens (die im Zeitalter digitaler Netzwerke mit ihren Optionen von Interaktivität und Immersion für den Zuschauer/User zu erodieren begonnen hat und derzeit in neue instabile Konfigurationen überführt wird) heute – ähnlich wie Baudrys Konzept des Dispositivs Kino10 – als ›zufällige‹ historisch-normative Setzung transparent, die einem kultur-, medienund technologiegeschichtlichen Wandel unterworfen ist.11 Vor diesem Hintergrund erweist sich ›die‹ Geschichte der Inter-Medien als Rekonstruktion technologisch-dispositiver Prozesse innerhalb bestimmter historischer, ökonomischer und sozialer Rahmenbedingungen. Eine derartige Geschichte verortet mediale Entwicklungen und das Zusammentreffen von Medien explizit innerhalb verschiedener kultureller und technologischer Reihen. Im Zusammenhang dieser Geschichtsarbeit sollten wir uns davor hüten, ›neue‹ Medien oder Technologien so zu behandeln, als fielen diese als mehr oder weniger ›fertige Einheiten‹ vom apparativen, technologischen oder sozialen ›Himmel‹ – ein Trugschluss, dem auch McLuhan in Understanding Media erliegt. McLuhans These, dass der »Inhalt« eines jeden Mediums immer ein anderes Medium sei, setzt bekanntlich klar voneinander abgegrenzte, historisch nur unzureichend bestimmte, mediale Einheiten voraus. Diese ›Einheiten‹ konstituieren sich indes in der Regel primär als Simulacra oder Imaginationen von Medien. 8. Vgl. die Beiträge in folgendem Sammelband: Jürgen E. Müller (Hg.), Me-
dia Encounters and Media Theories, Münster: Nodus Publikationen 2008. 9. Hier folge ich Louis Francœur: Les signes s’envolent. Pour une sémiotique des actes de langage culturels, Québec: Presses de l’Université de Laval 1985, S. 69f. 10. Vgl. Jean-Louis Baudry: L’effet cinéma, Paris: Éditions Albatros 1978. 11. Vgl. Jürgen E. Müller: »Perspectives for an Intermedia History of the Social Functions of Television«, in: J.E. Müller (Hg.), Media Encounters and Media Theories, S. 203-217.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
Das Beispiel des so genannten ›frühen Fernsehens‹ macht deutlich, dass sich Medientheoretiker und Medienhistoriker fragen müssen, welche Elemente das ›Fernsehen‹ konstituieren, wie dessen ›Grenzen‹ gezogen werden, wann ›Fernsehen‹ zum ›Fernsehen‹ wird und welche Bedingungen diese Transformationsprozesse beeinflussen. Wird die Mediengeschichte als ein rhizomatischer und vernetzter Prozess begriffen, der zwischen den Polen von Technologie, kulturellen Serien, historischen Mentalitäten und sozialen Praktiken oszilliert, so ergibt sich ein neues Verständnis medialer Entwicklungen. Mit Lars Elleström sollten wir technologische Eigenschaften daher als zentrale Faktoren des Zusammenspiels von »Bedeutungen und materiellen Einflüssen«12 betrachten – wobei diese meines Erachtens in historischen Kategorien zu fassen sind. Aus einer intermedialen Sicht lässt sich McLuhans stark verallgemeinernde und undifferenzierte Aussage, dass der Inhalt neuer Medien die alten Medien seien, weiter differenzieren. Das Fernsehen der 1930er Jahre triff t beispielsweise auf das relativ gut etablierte und hochentwickelte Kino oder Telefon und das noch expandierende Radio. Es musste komplexe intermediale Differenzierungs- und Institutionalisierungsprozesse durchlaufen sowie traditionelle Genres und Formate recyceln und umformen, bevor es zu dem Medium werden konnte, das wir heute innerhalb bestimmter institutioneller und diskursiv konstruierter Grenzen verorten. So gesehen stellt das Mono-Medium ›Fernsehen‹ ein technologisches, soziales, historisches und mentales Konstrukt dar. McLuhans Konzept wäre in diesem Sinne im Hinblick auf die komplexen Prozesse und Bedingungen, die dazu beitragen, dass die alten Medien zum Inhalt der neuen Medien werden, weiter zu spezifizieren. Vor einer Annäherung an einige digitale Paradigmen soll noch ein Kernpunkt intermedialer Konzepte, die Wechselbeziehungen von Materialität und Bedeutung, betrachtet werden.
2. Konzepte der Intermedialität : Mater ialität und Bedeutung Im Rahmen dieses kurzen Statements scheint ein Resümee oder gar eine fundierte Fortsetzung der aktuellen wissenschaftshistorischen und -theoretischen Diskussion der Intermedialitätsforschung nicht zielführend. Zahlreiche Monographien, Sammelbände, kommentierte Bibliographien 12. Elleström spricht von »senses and the material impact«. Vgl. ders.: »The Modalities of Media: A Model for Understanding Intermedial Relations«, in: ders. (Hg.), Media Borders, Multimodality and Intermediality, S. 11-50, hier S. 31.
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befassen sich mit diesem Sachverhalt, zu welchem sich eine Reihe von Kollegen13 und ich mich ausführlich geäußert haben.14 Deshalb soll hier der Hinweis genügen, dass ›Intermedialität‹ und damit natürlich auch ›Intermedialität im digitalen Zeitalter‹ meines Erachtens (immer noch?) als eine Forschungsachse, als eine axe de pertinence aufzufassen ist, von der kein ›geschlossenes System der Systeme‹, sondern (lediglich?) Impulse für konkrete historische oder medientheoretische Frageperspektiven zu erwarten sind. Aus diesem Grunde erweist sich meines Erachtens die heute immer noch gerne erhobene Forderung nach der Entwicklung eines kohärenten theoretischen Paradigmas für die Analyse aller intermedialen Prozesse für obsolet. Selbst wenn es – wie zu Zeiten der abstrakt-mathematischen Semiotik in den 1970er und 1980er Jahren – ›gelänge‹, eine umfassende ›Formel‹ intermedialer Prozesse zu erstellen, so würde uns diese den Blick auf die komplexen Prozesse historischer Ausprägungen und Entwicklungen verstellen. Daher sollte eine durchaus ›mühsamere‹, prozess- und phänomenorientierte, historische Forschung den Vorzug vor taxonomischen ›Fixierungen‹ erhalten. Diese historische Orientierung intermedialer Konzepte öffnet auch ein ›neues‹ Fenster auf digitale Medienlandschaften. Als eine der zentralen Herausforderungen für nahezu alle intermedialen Annäherungen an die so genannten digitalen Medien erweisen sich meines Erachtens die Dynamiken und Wechselbeziehungen zwischen Medien, Materialitäten und Inhalten sowie die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen dieser Interaktionen. Eine Historiologie oder ›Archäologie‹ intermedialer Prozesse darf nicht auf ein monolithisches Paradigma der ›Materialitäten‹ oder ›Bedeutungen‹ reduziert werden,15 vielmehr sollte sie 13. Vgl. etwa den Artikel von Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 7 (1998), S. 129-154. 14. Jürgen E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998, S. 31-40; sowie Jürgen E. Müller: »Wege einer vernetzten Mediengeschichte. Zur intermedialen Funktions-Geschichte der Television«, in: Uta Felten/Michael Lommel/Isabel Maurer Quiepo/ Nanette Rissler-Pipka/Gerhard Wild (Hg.), »Esta locura por los sueños«. Traumdiskurs und Intermedialität in der romanischen Literatur- und Mediengeschichte. Festschrift für Volker Roloff, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S. 407-432. 15. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: »Why Intermediality – if at all?«, in: Intermédialités 2 (2003), S. 173-178, hier S. 175.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
uns zu neuen Komplexitätsgraden der Medienforschung führen. Die Beziehungen von ›Sinn‹ und ›Materialität‹, von ›Bedeutung‹ und ›Medien‹ wären folglich weder als ›komplementär‹ noch als ›sich wechselseitig ausschließend‹, sondern als ein Spannungsverhältnis und als ein Oszillieren zu begreifen, das mit Blick auf die jeweils vorhandenen historischen Rahmenbedingungen zu rekonstruieren ist. In dieser Forschungsperspektive wäre die eingangs zitierte (und zu kurz greifende) These, dass die ›alten‹ Medien in die ›neuen und digitalen‹ Medien diffundieren, als eine Geschichte der intermedialen Begegnung unterschiedlicher technologischer und kultureller Serien mit ihren historisch fluktuierenden Grenzen, institutionellen Imaginationen, Formaten und Inhalten im Bereich des Digitalen fortzuschreiben. Zu dieser Historiographie würde zentral auch die Rekonstruktion der mit den intermedialen Prozessen verknüpften sozialen Funktionen zählen, die uns erlauben würde, physische und räumliche Bedingungen von Medien mit der Bedeutungskonstruktion ihrer Formate zu verbinden.16 Dass wir in diesem Falle mit weiteren Spielformen oder Modalitäten17 der Intermedialität konfrontiert sein werden, die sich von den Ebenen des ›Analogen‹ unterscheiden, hat Schröter verdeutlicht. Diese ›neue‹ Ebene des Intermedialen impliziert indes keine Tilgung intermedialer Prozesse, sondern vielmehr deren Fortsetzung auf einem anderen Niveau: auf einem Niveau, in dem Vorstellungen von Gattungen, Formaten, Funktionen in re-medialisierter oder recycelter Form mit dem Sinnbildungsvermögen des ›Users‹ spielen. Eine intermedial orientierte KulturGeschichte der digitalen Medien und deren sozialer Funktionen hätte somit die sozialen Prozesse der Bedeutungskonstitution mit einzubeziehen. Als eine der zentralen axes de pertinence dieser Geschichte stellte sich die – eingangs formulierte – Frage, wann ein digitales Medium zum Digitalen Medium wird (allein bereits durch die Verwendung digitaler Chips/ Gadgets in Aufnahme-, Speicher-, Übertragungs- und Wiedergabegeräten oder dagegen erst durch andere, funktional bestimmte Qualitäten wie die wohl bekannten Faktoren der Interaktivität, der Sozialität und der Immersionsangebote?) und in welchen gesellschaftlich-historischen Funktionen sich diese ›Digitalität‹ manifestiert. Konzepte oder Forschungsachsen zur Intermedialität des Digitalen hätten diesen Fragen Rechnung zu tragen. 16. Wie es z.B. Hickethier für die Geschichte des deutschen Fernsehens der 1950er bis 60er Jahre vorgeführt hat. Vgl. Knut Hickethier: »Zwischen Einschalten und Ausschalten. Fernsehgeschichte als Geschichte des Zuschauens«, in: Werner Faulstich (Hg.), Vom ›Autor‹ zum Nutzer. Handlungsrollen im Fernsehen (Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5), München: Wilhelm Fink 1994. 17. Vgl. L. Elleström: »The Modalities of Media«.
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Doch nun sollen in einem zweiten Schritt zunächst Konfigurationen der Intermedialitätsforschung des Digitalen betrachtet werden.
3. Konf igurationen der Intermedialität : oder wenn Intermedialität auf das Digitale tr if f t Erstaunlicherweise findet der Terminus ›Konfiguration‹ im Diskurs der Intermedialitätsforschung leider nur geringe Beachtung.18 Mögliche Ursachen für diesen Sachverhalt könnten darin liegen, dass sich dieser Begriff – wie wir es bekanntlich von zahlreichen (medien-)wissenschaftlichen Termini kennen – durch breite Denotations- und Konnotationshöfe auszeichnet, und dass er im geisteswissenschaftlichen Umfeld bislang nur von Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus verwendet wurde. Ohne Gefahr laufen zu wollen, der gegenwärtigen Inflation neuer Termini im Bereich der Intermedialitätsforschung weiter Vorschub zu leisten oder in Konkurrenz zu aktuellen und nützlichen terminologischen Arrondierungen und Ergänzungen dieses Konzepts (etwa zum Begriff der ›Modalitäten‹ intermedialer Prozesse) zu treten, scheint ein kurzer Blick auf die mögliche Relevanz dieses Begriffes und Konzeptes für unsere intermediale axe de pertinence hilfreich. Für die Analyse der Begegnungen von Intermedialität und digitalen Medien wären auf den ersten Blick die Denotationen und Konnotationen der ›Konfiguration‹ im Bereich der Computertechnologie und Computernutzung einschlägig, die bekanntlich auf das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher Systemkomponenten in den Bereichen von Hard- und Software und auf deren Repräsentation auf der ›Benutzeroberfläche‹ des screen zielen. Hier würde sich (in gewisser Analogie zu Forschungsfragen der Intermedialität) in der Tat die Frage nach den Beziehungen zwischen diesen ›Oberflächen‹ und den dahinter verborgenen Interaktionen mit Systemkomponenten ergeben. Ebenso bieten sich metaphorische Fortsetzungen der Verwendungen dieses Begriffs in den Diskursen und Feldern der Mechanik, der Chemie, der (Atom-)Physik, der Informatik und nicht zuletzt der Avionik (im Sinne jeweils konfigurierter Flug-Zustände von Flugzeugen) an. Als besonders hilfreich könnte sich indes mit Blick auf unsere encounters des Intermedialen und des Digitalen vor allem Wittgensteins knappe Um18. Der vor einem Jahrzehnt von Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen gemachte terminologische Vorschlag geriet bislang leider nicht ins Zentrum des Intermedialitätsdiskurses. Vgl. dies. (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Wilhelm Fink 1999.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
schreibung des Terminus ›Konfiguration‹ als »Vorstellung dessen, was verschiedene mögliche Welten voneinander unterscheidet«,19 erweisen, wobei die Form den Strukturen vorausgeht. Die Betonung der Form (oder die Vorstellung und Konstitution einer Form, um eine phänomenologisch fundierte intermediale Perspektive hinzuzufügen) erlaubt über die (logische) Konfiguration der Gegenstände die Möglichkeit der Strukturierung der Sachverhalte. Vor diesem Hintergrund – dies scheint mit Blick auf unsere Diskussion des Nutzens einer intermedialen Forschungsperspektive im ›digitalen Zeitalter‹ der relevanteste Aspekt zu sein – spielt die ›Materialität‹ eines Mediums keine entscheidende oder gar ausschließliche Rolle, vielmehr geht es darum, zu untersuchen, was ein Medium sein soll, d.h. welche Konfigurationen (mit Wittgenstein gesprochen)20 und welche funktionalen Optionen (wie zu ergänzen wäre) es aufgrund der ihm eingeprägten ›logischen‹ Formen generiert, um Strukturen von Sachverhalten ›aufzunehmen‹. Aus intermedialer Sicht scheint hier der Aspekt und der Status der logischen Formatierung zu vernachlässigen zu sein (nicht zuletzt, um das Eintreten in einen fundamentalphilosophischen Diskurs zu vermeiden); als sehr bedenkenswert erweist sich indes der Hinweis auf den Vorstellungscharakter medialer Konfigurationen, der als ein historischer und steuernder Faktor aufzufassen ist, der in verschiedenen Abstufungen sowohl in den so genannten analogen als auch in den digitalen Medien wirksam wäre. Dies impliziert auch eine Neukonzeption der so genannten »Mediengrenzen«21 als historische Konstrukte, die sich in verschiedenen inter-medialen Konfigurationen entfalten. Wir hätten somit Wittgensteins Begriff von einer abstrakt-logischen Ebene auf (s)eine historische Basis gestellt, um eine Spurensuche nach intermedialen ›Konfigurationen‹ im Bereich des Digitalen zu initiieren. Im Folgenden sollen diese Optionen kurz anhand von drei Beispielen erläutert werden.22 19. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, London: Kegan & Co. 1922, S. 2.0231, 2.0271. 20. Vgl. Stanislav Hubík: »Das technische Bild und der logische Bau: Flusser und Wittgenstein«, in: Flusser Studies 05 (2007), www.flusserstudies. net/pag/05/Das-technische-bild.pdf (20. April 2009). 21. Vgl. Irina O. Rajewsky: »Border Talks: The Problematic Status of Media Borders in the Current Debate about Intermediality«, in: L. Elleström (Hg.), Media Borders, Multimodality and Intermediality, S. 51-68. 22. Eine ausführlichere Diskussion dieser Beispiele findet sich in meinem Artikel »Remediationen in sekundären (und primären) Welten. Zur gattungsspezifischen Paratextualität digitaler Spiele«, in: Andrzej Gwozdz (Hg.), Film als Baustelle. Film under Re-construction. Das Kino und seine Paratexte. Cinema and Its Paratexts, Marburg: Schüren 2009, S. 285-299.
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3.1 N ACHR ICHTENSE I TEN
IM
I NTERNE T
AL S ER S TER
TE S TFALL
Die Internetnachrichten von Zeitungen, Fernsehsendern und anderen Providern haben sich als einige der erfolgreichsten Produkte oder Formate des Web 2.0 erwiesen. Wurden sie auch lange als eine Art billiges und flüchtiges Nebenprodukt ›richtiger‹ Print- oder Fernsehmedien abgetan, scheinen sie heute ins Zentrum des Interesses der Produzenten und Konsumenten gerückt zu sein. Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Wahrnehmung der Online-Redaktionen digitaler Zeitungen vollkommen gewandelt: Anfangs galt die Arbeit, die dort geleistet wurde, als randständig und als eine quantité négligeable des ›echten Journalismus‹. Darin ist übrigens eine gewisse Parallele zu den Anfängen des Fernsehens zu sehen, als – zumindest in Nazideutschland – nur ›ehrgeizlose‹ oder ›politisch unzuverlässige‹ Journalisten zum Fernsehen versetzt wurden. Mittlerweile sind Internetnachrichten sehr präsent und bedeutend geworden – und Herausgeber, Journalistenschulen und Medienwissenschaftler müssen dem Rechnung tragen. Werfen wir einen kurzen Blick auf eine Seite von Spiegel Online. In Bezug auf unsere Frageachse möchte ich hier auf zwei relevante Phänomene hinweisen: Abbildung 1: www.spiegelonline.de
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
Abbildung 2: www.spiegelonline.de
Selbst wenn diese Internetseite auf den ersten Blick als eine Art digitales Sammelsurium erscheint, als eine Anhäufung, Kombination und – letztendlich – ›Verschmelzung‹ von Medien, die in unserer Vorstellung früher als distinkte, einzelne Medien existierten, löscht dies keineswegs unsere Erinnerung und unser ›Bild‹ der ursprünglichen medialen Konfiguration analoger ›Einzelmedien‹ und korrelierender Genres und Formate aus.23 Mit anderen Worten: Die Oberfläche dieser Seiten führt zu einer Verschiebung unseres Wissens um historische mediale Konfigurationen, um konstruierte und imaginierte Mediengrenzen, und ermöglicht zugleich das Spiel mit einigen wesentlichen Möglichkeiten dieser ›alten‹ Medien. Wir treffen Entscheidungen und navigieren auf diesen Seiten entsprechend unseren Erwartungen im Hinblick auf die Profi le und den Mehrwert der verschiedenen Elemente, die von Texten über Bilder bis hin zu kurzen Videos oder ›Fernsehnachrichten‹ reichen. Hierbei erweisen sich die Internetseiten als eine Art mediales Amalgam (ähnlich wie Robida im Jahre 1883 das »téléphonoscope«, das ›Fernsehen‹ in seinem utopischen Roman 23. Es wäre sicherlich ein lohnenswertes Unterfangen, den von mir vorgeschlagenen (aus dem Kontext gattungshistorisch-funktionaler Theorien stammenden) Terminus mit den von Karin Bruns vorgeschlagenen Profilbildungen zu vergleichen. Vgl. K. Bruns: »Das widerspenstige Publikum«, bes. S. 543ff.
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Le vingtième siècle beschreibt), welches weit mehr ist als nur die Summe seiner einzelnen Bestandteile und Möglichkeiten. In dieser Perspektive scheint die anwenderbezogene (Weiter-)Entwicklung dieser Konfigurationen und der Möglichkeiten ihres Zusammenspiels und ihrer Kombination eine der größten Herausforderungen der Zukunft zu sein – dies sowohl für eine intermedial ausgerichtete Medienwissenschaft als auch für den Online-Journalismus selbst.24 Doch ein weiterer wichtiger Aspekt wäre hier noch zu beleuchten. Ganz offensichtlich spielen diese Seiten mit einer Vielzahl historisch gewachsener Konfigurationen und Formate. Dies triff t auf das Verhältnis von geschriebenen Texten und Bildern zu, das sich – trotz der angeblichen Innovativität des Phänomens – noch immer an den Mustern der ersten Magazine oder ›Illustrierten‹ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts orientiert; es triff t auf die Photostrecken zu, die auf öffentliche Alben, Skandal- und Hochglanzmagazine oder Boulevardblätter anspielen; es triff t auf die VideoNachrichten zu, die auf die Formate der Fernsehnachrichten verweisen; und es triff t auch auf die Videoclips zu, die Unfälle, Flugzeugunglücke oder Katastrophen zeigen, und somit in der Tradition des Vaudeville stehen, das seinen Besuchern nicht zuletzt den schönen Schauder des Genusses einer Konfrontation mit Bedrohungen und Schrecken unseres alltäglichen (und nicht-alltäglichen) Lebens ermöglicht(e). Die McLuhan’schen Vorstellungen des ›technologisch-medialen Kannibalismus‹ wären somit – ebenso wie das Konzept der Remediation – einer intermedialen, genretheoretischen und -historischen Revision zu unterziehen. Folgen wir unserer intermedialen Forschungsachse, sollten wir uns fragen, was mit all diesen Konfigurationen, mit diesen Genre- und Formatmustern geschieht, wenn sie im digitalen Kontext re-medialisiert werden. Wie erregen sie noch immer die Aufmerksamkeit des Users/Navigators und motivieren ihn zu einer ›Lektüre‹ dieser Sites?
3.2 V IDEOGAME S
UND
F IL ME
AL S Z WE I TER
TE S TFALL
Videogames und deren historische Funktionen erweisen sich offensichtlich als eine neue Herausforderung für die intermediale Forschungsachse, wie kurz anhand des Videogames und des Films Doom zu erläutern ist.
24. Diese Prozesse ließen sich mit Georg Christoph Tholen gesprochen als »medienunspezifische Darstellbarkeit von medienspezifischen Darstellungsweisen« auffassen. Vgl. ders.: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: S. Schade/G.C. Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, S. 15-34, hier S. 16, 22.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
Abbildung 3: Doom 4, Game-Monster25
Abbildung 4: Doom, Film-Monster26
25. www.gamespot.com/pages/forums/show_msgs.php?topic_id=26498691 (20. April 2009). 26. http://movies.universal-pictures-international-germany.de/doom (20. April 2009).
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Doom ist nur eines von zahlreichen Beispielen, bei denen ein Spiel re-medialisiert und in einen Film transformiert wurde. Ohne weiter ins Detail zu gehen, was den Inhalt des Films oder die Möglichkeiten des Spiels betriff t, lässt sich dieses als ›First-Person Shooter‹ klassifizieren. Im Hinblick auf unsere Fragestellung nach den wissenschaftlichen Optionen der Forschungsachse der ›Intermedialität‹ und dem Begriff der ›Konfiguration‹ für die Untersuchung der digitalen Medien möchte ich unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf folgende Prozesse lenken: Bei Spielen dieser Art müssen die Spieler/User eine Reihe von Problemen lösen, z.B. Außerirdische oder übermenschliche Monster auslöschen.27 Die einzelnen Spielhandlungen werden also durch einen Satz von Regeln generiert, die den Spielern verschiedene Handlungsmöglichkeiten offen lassen, damit sie das Spiel auf ihre Weise zu Ende führen können. Eine fi lmische Version dieses Spiels (oder anderer Spiele) muss nun diese konfigurativen Prinzipien in eine neue Konfiguration und Form narrativer Linearität transformieren (zumindest dann, wenn der Film den traditionellen transparenten Erzählmustern Hollywoods folgen soll). Mit Blick auf unsere intermediale Forschungsachse führt uns dies in einen (durchaus lösbaren) Konflikt zwischen ludologischen oder narratologischen Erklärungsoptionen.28 Die Remedialisierung der vielfältigen digitalen Spielmuster in einen Film umfasst hochkomplexe intermediale Prozesse, die – unter anderem – zwangsläufig zu einer Reduktion zahlreicher spielerischer Möglichkeiten führen, um auf eine kohärente Erzählform hinauszulaufen – und dies, ohne dabei die Faszination des ›Topos‹ oder des ›Themas‹ zu zerstören. Welche Instrumente kann uns unsere intermediale axe de pertinence hier an die Hand geben, um diese Prozesse zu erfassen und zu analysieren? Eine Kombination aus dem Konzept der Remedialisierung und der historisch ausgerichteten Forschungsachse der Intermedialität wird uns zu neuen Einsichten führen – sowohl im Hinblick auf die Wiederverwertung von Erzählmustern in der digitalen Welt des Spiels als auch im Hinblick auf die Wiederverwertung von Spielmustern im Film. In diesem Sinne sollte sich die Relevanz der Intermedialitätsforschung für die Rekonstruktion der konfigurativen Prozesse in und zwischen Games und Filmen herauskristallisieren. Wenden wir uns nun unserem letzten Beispiel digitaler Paradigmen zu. 27. Hier folge ich der Argumentation von Hans Bouwknegt: »Meta Semiotics in the Digital Era. The Analytical and Creative Dimensions of a Semiotic Model«, in: J.E. Müller (Hg.), Media Encounters and Media Theories, S. 101-121. 28. Vgl. dazu etwa Hans Bouwknegt: Beyond the Simulacrum: A Conceptual Semiotic Approach for the Analysis and Design of Digital Media, Dissertation, Universität Bayreuth, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät 2009.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
3.3 S ECOND L IF E
AL S DR I T TER
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Auch wenn das Phänomen Second Life – nach Monaten der Aufregung und des öffentlichen Interesses in der digitalisierten Welt – schnell an Attraktivität verloren hat, so stellt es immer noch einen spannenden Testfall für die Anwendbarkeit und Relevanz einer intermedialen Forschungsachse im Hinblick auf das Web 2.0 dar. Es ist interessant zu sehen und zu erfahren, dass die Macher und/oder Avatare von Second Life nicht nur innerhalb der virtuellen raum-zeitlichen Konfigurationen der Plattform ein Doppelleben führen (was eine ziemlich banale Feststellung wäre), sondern dass eines der zentralen Elemente dieses Spiels mit (und in) virtuellen Welten in der vielschichtigen Verwendung filmischer oder anderer audiovisueller medialer und generischer Muster besteht. Mit anderen Worten: Es finden sich viele Fälle, in denen die Macher/Produzenten/Anwender filmische Elemente oder Elemente des Fernsehens mit den ihnen eigenen Handlungsmöglichkeiten und narrativen Mustern als Ausgangslage für Second Life nehmen. Mit Wittgenstein gesprochen, würde hier die virtuelle Plattform als konfigurative Basis von Abbildungen aus der realen Welt dienen (wobei wir hier – im phänomenologischen Sinne – die Frage nach einer eventuellen ›Isomorphiebeziehung‹ zwischen diesen Welten ›einklammern‹ wollen). Einer der User versetzte z.B. einen virtuellen weiblichen Dracula in ein U-Bahn-Setting, wo diese unschuldige Opfer ›biss‹ (Abb. 5). Auf den ersten Blick scheint die Interferenz der ›echten‹ und ›zweiten Welten‹ und der medialen Wirkungskräfte von Second Life für eine ›vereinende‹ (?) digitale Repräsentation nicht von vorrangiger Bedeutung im Hinblick auf unsere intermediale axe de pertinence zu sein – im Gegensatz zu einigen anderen Prozessen, die durchaus eine Herausforderung darstellen. In diesem Zusammenhang rückt die Frage in den Vordergrund, wie wir die materiellen und semiologischen Möglichkeiten des Zusammenspiels zwischen ›virtueller Materialität‹ und ›Inhalt/Bedeutung‹ der Handlungen der verschiedenen Avatare in oder zwischen den verschiedenen ›Orten‹ der Second World untersuchen können. Dem Aspekt des Umgangs mit historischen medialen Konfigurationen, Formen, Gattungen und Formaten sollte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zukommen. Zudem hätte die Intermedialitätsforschung auch die Funktion der digitalen Natur der Bilder im Verhältnis zum so genannten ›Live-Charakter‹ und der ›Interaktivität‹ des Dispositivs zu analysieren. Was geschieht beispielsweise mit Erzählstrukturen und Elementen literarischer Genres oder Kinooder Fernsehgenres, wenn diese in den dynamischen virtuellen Raum und in die Narrationen von Second Life versetzt werden? Was könnten die sozia31
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len und kulturellen Funktionen dieser und anderer intermedialer Prozesse sein, und wie lassen sich die historischen Funktionen einiger Modalitäten herausstellen und untersuchen?
Abbildung 5: Vampirin aus Second Life29
4. Konflikte in der Intermedialitätsforschung : oder zum Status dieser Forschungsachse Das Konzept der Intermedialität hat sich (bei durchaus divergierenden Forschungsschwerpunkten) im letzten Jahrzehnt zunehmend im medienwissenschaftlichen Diskurs etabliert. Eine Reihe neuer internationaler Forschungszentren, die nach der Gründung des CRI an der Université de Montréal ins Leben gerufen wurden, legen ein Zeugnis von der Dynamik 29. Filmstill aus Susanne Jäger: Mein wunderbares Ich, Köln: WDR 2007 (Dokumentarfilm).
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
und der Bandbreite intermedialer Forschungsansätze ab.30 Diese Entwicklung führte unter anderem auch dazu, dass seit einiger Zeit selbst ›traditionelle‹ (d.h. ›medien-monadisch‹ orientierte) Film- und Medienhistoriker die Notwendigkeit einer Re-Konzeption von Mediengeschichte(n) als einer vernetzten Historiologie anerkennen, oder dass etwa Medientheoretiker und Narratologen die Erzählformen und -funktionen nun als intermediale begreifen. Dieser Sachverhalt sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Suchbegriff oder die Forschungsachse der Intermedialität auch heute noch keine singuläre und kohärente ›Theorie‹ darstellt. Ganz im Gegenteil: In intermedialen Diskursen werden eine Reihe von – durchaus Anlass zu kritischer und kreativer Reflexion gebenden – ›Konflikten‹ ausgetragen, von denen wir bereits einige angesprochen haben. Erinnern wir uns etwa an das Spannungsverhältnis zwischen ›Materialität‹, ›Technizität‹ und ›Bedeutung‹, zwischen ›Analogem‹ und ›Digitalem‹, zwischen medialen ›Konfigurationen‹ und ›Formen‹. Ohne den Versuch unternehmen zu wollen, eine exhaustive Übersicht über alle relevanten Konfl iktfelder zu präsentieren (womit wir Gefahr liefen, den engen Rahmen dieses Artikels zu sprengen), wird abschließend in Form von ›binär-oppositiv‹ angelegten Bemerkungen auf einige zentrale ›Konfliktfelder‹ verwiesen. Dabei werden uns die bereits oben skizzierten Spannungsfelder nur noch am Rande interessieren; wir werden uns überdies die Freiheit nehmen, mögliche ›Lösungsoptionen‹ der skizzierten Konfliktfelder anzudeuten.
4.1 I NTERMEDI AL I TÄT :
ANALOG
–
DIGI TAL
Vor dem Hintergrund differenzierter Konzepte der Intermedialitätsforschung, die den konfigurativen Aspekt der Medien berücksichtigen, erscheint die Opposition zwischen analogen (intermedialen Forschungsperspektiven ›zugänglichen‹) und digital-›konvergenten‹ (intermedialen Forschungsperspektiven ›unzugänglichen‹) Medien hinfällig. ›Intermedialität‹ löst sich nicht im ›Digitalen‹31 auf, vielmehr eröffnen digitale Medien neue Formen intermedialer Dynamiken, die wir – zum Teil – auf neuen Ebenen (auch der Bewusstseins-Aktivitäten des Users)32 anzusiedeln haben. Wir 30. Etwa an der Universität Basel, der Vrije Universiteit Amsterdam, der Universität von Växjö (Schweden) oder der Universität Graz. 31. Vgl. Fußnote 1. 32. Es wäre ein spannendes Unterfangen, diese historisch gefassten UserAktivitäten den von Volker Roloff in seiner »Medienanthropologie« entwickelten Kategorien gegenüberzustellen und diese gegebenenfalls miteinander zu verknüpfen. Vgl. Volker Roloff: »Intermedialität und Medienanthropologie. An-
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sind somit nicht mit einer ›Auflösung‹ der Intermedialität im Digitalen, sondern stattdessen mit einer Verschiebung von Typen der Intermedialität konfrontiert,33 die es mittels neuer (und bewährter) Forschungsachsen zu fassen gilt, wobei mir der Begriff der ›Konfiguration‹ – durchaus in Anspielung an dessen Denotations- und Konnotationshöfe in der Avionik – nützlich zu sein scheint. Intermediale ›Konfigurationen‹ lenken uns auf das Zusammenspiel von dynamischen ›konfigurierten Formen‹ und deren Funktionen in einem breiten (sozialen, historischen und technologischen) Umfeld.
4.2 I NTERMEDI AL I TÄT : M ONO -
UND
M ULT IMEDIEN
›Medien‹ sind immer das Resultat spezifischer historischer Diskurse. Dies impliziert, dass die Vorstellung von ›distinkten‹ Medien, vorgängigen Medienmonaden34 oder Monomedien35 zwar eine nützliche béquille zur Bewältigung unseres medialen Alltags darstellt, sich aus medienwissenschaftlicher Sicht allerdings als obsolet erweist. In diesem Licht scheint es weder hilfreich noch sinnvoll, ›die‹ Mediengeschichte als Geschichte von sich fortwährend aufs Neue vermischender Monomedien zu Multimedien zu konzipieren. Vielmehr haben wir – im hermeneutischen Sinne – von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auszugehen, die uns darauf lenkt, dass die Begegnung zweier oder mehrerer (im historischen Diskurs ›künstlich‹ fi xierter) Medien immer eine Begegnung von medialen Vorstellungen/ Ideen/Imag(o)inationen mit ihnen innewohnenden zeitlichen Dynamiken darstellt. In diesem Zusammenhang erweist sich die Frage nach den (vermutlich) nicht monomedialen ›Ursprüngen‹ unserer Medien und nach deren intermedialer und prozessualer Ausdifferenzierung als sekundär; es gilt hingegen zu untersuchen, wie sich Vorstellungen von ›Mono‹-, ›Multi‹- oder ›Intermedien‹ vor dem Hintergrund spezifischer kulturell-technologischer und historischer ›Serien‹ entwickeln und welche funktionalen Optionen an diese gekoppelt sind.
merkungen zu aktuellen Problemen«, in: J. Paech/J. Schröter (Hg.), Intermedialität Analog/Digital, S. 15-29. 33. Hier stimme ich Jens Schröter zu. Vgl. ders.: »Das ur-intermediale Netzwerk«, S. 585ff. 34. Vgl. dazu die Bemerkungen, die ich bereits vor einiger Zeit machte: Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster: Nodus Publikationen 1996, S. 16. 35. Vgl. dazu auch J. Schröter: »Das ur-intermediale Netzwerk«.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
4.3 I NTERMEDI AL I TÄT : TA XONOMIEN – H I S TOR IOLOGIEN Seit nahezu eineinhalb Jahrzehnten ist der Intermedialitätsdiskurs von einer (vermeintlichen?) Opposition zwischen taxonomischen und historiologischen Ansätzen geprägt.36 Dieser Konfl ikt, der in gewisser Weise auch Elemente des Intertextualitätsdiskurses zu reproduzieren scheint, stellt eine Typologie unterschiedlicher, möglichst klar zu definierender und zu differenzierender Sub-Formen intermedialer Beziehungsmuster in Gegensatz zu historischen Rekonstruktionsbemühungen intermedialer Dynamiken, die sich zunächst (übrigens durchaus ebenfalls auf einem klar gefassten theoretisch-methodologischen Fundament) mit der Beschreibung (im phänomenologischen Sinne) intermedialer Prozesse befassen, bevor diese in einer weiteren (›erklärenden‹) theoretisch-reflektierten Operation auf ein ›höheres‹ Abstraktionsniveau gebracht werden. Dieser Konflikt hat über einige Zeit zu gegenseitigen Anwürfen, etwa einer ›vorschnellen‹ und ›strukturalistischen‹ Festschreibung ›offener‹ historischer Prozesse oder einer (›theoriefernen‹) ›intuitiven‹ Aufarbeitung intermedialer Dynamiken geführt. In jüngster Zeit zeichnen sich – nicht zuletzt durch eine ›Historisierung‹ der Typologien/Taxonomien und durch eine sozial- und funktionshistorisch geprägte Revision der Konzepte ›distinkter‹ Medien mit klar definierbaren ›Grenzen‹37 – fruchtbringende Erosionen und diskursive Begegnungen zwischen taxonomischen und historiologischen Ansätzen ab,38 die (im Sinne von Roland Barthes) von den Typologien zu den Historien und von den Historien zu den Typologien führen können. Die Re-Perspektivierung typologisch-taxonomischer Kategorien der Intermedialitätsforschung als historische Einheiten und als funktionale Vorstellungen von medialen Konfigurationen eröffnet zahlreiche neue Felder auf dem Terrain der so genannten digitalen Medien.
36. Vgl. dazu auch meinen Beitrag: »Intermedialität und Medienhistoriographie«, in: J. Paech/J. Schröter (Hg.), Intermedialität Analog/Digital, S. 3146. 37. Vgl. dazu I.O. Rajewsky: »Border Talks«. 38. Vgl. dazu z.B. die Forschungen von Werner Wolf: »Introduction: Frames, Framing Borders in Literature and Other Media«, in: ders./Walter Bernhart (Hg.), Framing Borders in Literature and Other Media, Amsterdam, New York: Rodopi 2006, S. 1-40.
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Jürgen E. Müller
4.4 I NTERMEDI AL I TÄT : M EDIEN , K ÜNS TE , TE X TE In der frühen Phase der Konzeptionalisierung des Intermedialitätsbegriffs verwendeten viele Kolleginnen und Kollegen (auch ich) den Begriff der Medialität mehr oder weniger undifferenziert auch mit Blick auf die so genannten ›Künste‹. Dies führte bekanntlich zu einer geringen analytischen Schärfe hinsichtlich der Beschreibung und Erklärung primär ästhetischer oder medialer Prozesse. Selbst wenn sich diese artifizielle Trennung in die Bereiche der (Inter-)Artialität und der (Inter-)Medialität inzwischen als nicht immer hilfreich erwiesen haben sollte, so hat der inzwischen eingesetzte Klärungsprozess erfreulicherweise die wechselseitigen Relevanzen oder ›Schnittmengen‹ zwischen diesen Ansätzen zutage gefördert, dass die Untersuchungsfelder und -methoden von interartialen oder intermedialen Phänomenen oftmals komplementär, jedoch nicht mehr als sich wechselseitig ausschließend erscheinen. Ähnliches gilt – trotz der immer noch starken Prägung ›des‹ Intermedialitätskonzepts und unterschiedlicher Lösungsvorschläge durch text- oder literaturwissenschaftliche Ansätze – für die Schnittfelder zwischen intertextueller und intermedialer Forschung.39 Intertextualität und Intermedialität werden zunehmend als durchaus miteinander zu vereinbarende Forschungsachsen aufgefasst, die jeweils unterschiedliche Akzentsetzungen implizieren.
4.5 I NTERMEDI AL I TÄT : M E THODE ( N )
VS .
F OR SCHUNGSACHSEN
Seit nahezu zwei Jahrzehnten zieht sich durch die (medienwissenschaftlichen) Diskurse zum Nutzen des Intermedialitätskonzepts die kritische Bemerkung einer unzureichenden theoretisch-methodologischen (nicht allein ›systematisch-kohärenten‹) Unterfütterung dieses Ansatzes. Betrachten wir die Resultate der Intermedialitätsforschung, so scheint diese Kritik ›des‹ Intermedialitätskonzepts und unterschiedlicher Lösungsvorschläge – zumindest ansatzweise – berechtigt; allerdings steht diese im Konflikt zu einer anderen, mindestens ebenso plausiblen und deutlich markierten Position, die auch von mir geteilt wird. Die Rede von der Forschungsachse oder axe de pertinence der Intermedialität, vom Suchbegriff der Intermedialität, impliziert kein bequemes ›Ausweichen‹ vor den Forderungen nach einer theoretisch fundierten wissenschaftlichen ›Systematisierung‹, ebenso wenig eine ›Theorieferne‹ oder gar ›Theorieschwäche‹, vielmehr verweist sie auf das immer noch erforderliche Bemühen, dieses 39. Auf die wechselseitigen Beziehungen und ›Schnittstellen‹ zwischen diesen Konzepten hatte ich bereits vor einigen Jahren in Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation (1996) hingewiesen.
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
Konzept ›offen‹ für weitere dynamische Entwicklungen und Herausforderungen der (insbesondere digitalen) ›Medienlandschaft‹ zu halten. Eine einseitige Ausrichtung auf spezifische theoretische Rahmungen – seien diese nun (neo-)strukturalistischer, technologischer, anthropologischer Art – leistet einer vorschnellen ›Verkrustung‹ des Konzeptes Vorschub; einer Verkrustung, welche den theoretisch-methodologischen ›Nutzen‹ einer Forschungsachse, die sich fortlaufend Revisionen zu unterziehen hat, zunichtemacht. Es bleibt zu hoffen, dass dieser immer noch sehr virulente Konflikt eine Entschärfung in Form einer Reduktion überzogener theoretisch-methodologischer Erwartungen mit Blick auf ›eine‹ (?) HyperTheorie der Intermedialität erfahren wird.
5. Fazit – oder : Intermedialität im digitalen Zeitalter Im Hinblick auf Konzepte, Konfigurationen und Konflikte im Diskurs der intermedialen Forschungsachse wurden hier nur einige erste Fragen und Aphorismen in den Raum gestellt, die hoffentlich verdeutlichen konnten, dass so genannte ›alte‹ und ›traditionelle‹ Kategorien wie die des ›Zeichens‹, der ›Gattung‹, des ›Formats‹, des ›Inhalts‹, der ›Bedeutung‹ weiterhin eine wichtige Rolle im digital-intermedialen Universum spielen werden. Unsere Forschung sollte sich somit keineswegs mit der (allzu einfachen) Antwort begnügen, wonach das digitale Zeitalter – im Bezug auf Materialität – zu neuen Überlagerungen und multimodalen Kombinationen von vormals einzeln existierenden Medien in Form einer ›verbindenden‹ Im-Materialität des digitalen Codes führen wird; vielmehr gilt es zu fragen, inwiefern und wie die traditionellen audiovisuellen Medien und/oder analogen Töne und Bilder ihre Spuren in diesen digitalen Welten hinterlassen haben, welche Modalitäten rekonstruiert werden können und welche sozialen Funktionen sich aus diesen Prozessen für die Nutzer der so genannten Neuen Medien ergeben. In diesem Sinne würde das digitale Zeitalter nicht das Ende der Intermedialitätsforschung einleiten, sondern eine neue und große Herausforderung mit Blick auf die noch zu leistende Re-Konstruktion einer vernetzten Geschichte digitaler Medien bilden.
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Jürgen E. Müller
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Intermedialität digital: Konzepte, Konf igurationen, Konflikte
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Jürgen E. Müller
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Zur Frage der Grenze zwischen Intermedialität und Hybr idisierung Beate Ochsner
Konnte sich Joachim Paechs vor zehn Jahren getroffene Feststellung »Intermedialität ist ›in‹« 1 auf zahlreiche Publikationen zum Thema berufen, so verweisen immer mehr Forscher auf das Fehlen einer Systematik, bemängeln den wenig konturierten Begriff und betrachten ihn letztlich als Hype, mit dessen Hilfe der ›Text‹ der Intertextualitätsforschung einfach durch publikumswirksamere Medien ersetzt wurde, ohne sich der Bedeutung dieser Verschiebung methodisch oder inhaltlich bewusst zu werden. Gleichwohl griff und greift man häufig und gerne auf das mit dem Begriff der Intermedialität verbundene Analysepotenzial zurück,2 und die Anmerkung Hans Ulrich Gumbrechts, dies gelte in erster Linie für das bereits von der Intertextualität begeisterte Deutschland, erscheint im Angesicht einer beachtlichen Anzahl ausländischer Publikationen und Institutionen wie z.B. dem Centre de recherches sur l’intermédialité (Université de Montré1. Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998, S. 14-30, hier S. 18. 2. So z.B., um nur einige wenige zu nennen, Joachim Paech (1994, 1997), Yvonne Spielmann (1994), Peter V. Zima (1995), Jürgen E. Müller (1996, 1998), Jörg Helbig (1998), Jens Schröter (1998), Werner Wolf (1998), Karl Prümm (1998), Georg Christoph Tholen (1999), Beate Ochsner (2001, 2004), Uwe Wirth (2005) etc. Vgl. z.B. Mathias Mertens: Forschungsüberblick »Intermedialität«: Kommentierungen und Bibliographie, Hannover: Revonnah 2000; oder die aktuellen Vorschläge in Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität Analog/ Digital. Theorien, Methoden, Analysen, München: Wilhelm Fink 2008.
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Beate Ochsner
al) von lediglich eingeschränkter Aussagekraft.3 Tatsächlich lässt auch der schon seit längerem zu vernehmende Vorwurf der geringen theoretischen Reichweite und Zerstreutheit intermedialer Forschungen 4 das spätestens seit Mitte der 90er Jahre beliebte Forschungsfeld kaum austrocknen, vielmehr beschäftigt man sich vor allem im Rahmen der Digitalisierung wieder verstärkt mit dem Phänomen der Intermedialität – wenn auch häufi g nicht unter diesem Namen. Während verschiedene Wissenschaftler mit dem technologischen Fortschritt oder genauer: der Digitalisierung das Ende der Intermedialitätsforschungen nahen sehen, so schlagen andere vor, den alten Begriff ›Intermedialität‹ durch den (noch älteren) der Hybridisierung zu ersetzen. Mit dem Erscheinen des Hyper-5 respektive »Hybridmediums«6 Computer, der alles mathematisch-algorithmisch Kalkulierbare 3. Hans Ulrich Gumbrecht: »Why Intermediality – if at all?«, in: Angelica Rieger (Hg.), Intermedialidad e hispanística, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003, S. 13-17. 4. So z.B. Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München: Wilhelm Fink 2003. 5. Vgl. u.a. Wolfgang Coy: »Gutenberg und Turing. Fünf Thesen zur Geburt der Hypermedien«, in: Zeitschrift für Semiotik 16 (1994), S. 69-74. 6. Der Begriff Hybridmedium oder Universalmaschine trägt dem Umstand Rechnung, dass der Computer viele andere, historisch ältere Medien simulieren kann, er in – je nach Programmierung – verschiedenen Anwendungsbereichen zum Einsatz kommen kann. Ebenso beziehen sich die Begriffe darauf, dass der Computer keine ›stand-alone‹-Maschine darstellt, sondern ökonomisch und sozial vernetzt ist. Auch der Kommunikationswissenschaftler Joachim R. Höflich wendet den Begriff Hybridmedium auf den Computer an, das Individual-, Gruppen- und Massenkommunikation integriere und zudem noch Merkmale aufweise, die bei keiner der anderen Kommunikationsformen zu finden seien. Höflich hat drei so genannte Computerrahmen beschrieben: 1. der Distributionsrahmen, in dem der Computer primär als Informations- und Abrufmedium dient. Wie bei den klassischen Massenmedien können Nachrichten, Daten und Dienstleistungen ausgewählt und abgerufen werden. 2. Rahmen öffentlicher Foren und Diskurse, innerhalb dessen der Computer als Diskussionsmedium, so z.B. in Newsgroups oder Chat-Foren, genutzt wird. Hier wird nun zum einen die in den Kommunikationswissenschaften immer noch thematisierte Einseitigkeit massenmedialer Kommunikation aufgehoben, der Sender werde zum Empfänger und umgekehrt. 3. Der Rahmen technisch vermittelter interpersonaler Kommunikation oder der Computer als Beziehungsmedium, mit dessen Hilfe z.B. via E-Mail oder OnlineChats zwei oder mehr Nutzer zeitgleich oder zeitversetzt kommunizieren können. Vgl. Joachim R. Höflich: Mensch, Computer und Kommunikation. Theoretische Verortungen und empirische Befunde, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003.
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Zur Frage der Grenze zwischen Intermedialität und Hybr idisierung
darstellen könne7 und so zur Auflösung aller differenten Entitäten führe, sei die Grundlage intermedialen Forschens, mithin die Medienspezifi ka, nicht mehr gegeben. Freilich hat sich die Erkenntnis, die Bestimmung der Medienspezifi ka entstehe nur in relationaler und differenzieller Abgrenzung zu anderen Medien bzw. zum Mediensystem, nicht erst im Kontext des Digitalrechners durchgesetzt. Tatsächlich löse das aus dem Computer als technischer Bedingung, als Netzwerk sowie den Formen der Darstellung und der Interaktion bestehende Medium die alten Grenzen auf. Doch sei es nicht das Ziel, sie zum Verschwinden zu bringen, vielmehr – so die von Georg Christoph Tholen formulierte Ver-Wendung des Hypermediums8 – mache erst der Computer jene ›alten‹ Grenzen reproduzierbar und in ihrer ästhetischen Dis-Position gleichzeitig reflektierbar: »Der Begriff des Hybriden ist bewusst unscharf und hat mit der Digitalisierung der Medien zu tun. Er bedeutet: Verkreuzung und Interferenz von vormals getrennten Codes – ähnlich wie Michail Bachtin von einer Vermischung sozialer Sprachen sprach, die sich unabsichtlich oder absichtlich vollzieht und – als künstlerische Strategie – ironisch, parodistisch verfährt.«9 Während der vergleichsweise junge Begriff der Intermedialität im Allgemeinen die Beobachtbarkeit spezifischer Medialitäten in medialen Interaktionen bezeichnet, so ist der sehr viel weiter zu fassende Begriff der Hybridisierung etymologisch auf ›gemischtes Blut‹ zurückführbar. Als hybrid wird bezeichnet, was aus unterschiedlichen Elementen besteht, von zwei unterschiedlichen Arten abstammt, aus zwei unterschiedlichen Sprachen entlehnt ist, was unterschiedliche Gattungen, Traditionen, Ausdrucksformen und -medien kombiniert. Eine hybride Kultur entsteht im Zusammenleben verschiedener Identitäten in nationalen, linguistischen, ethnischen und/oder regionalen Räumen, die von Kulturwissenschaftlern als »in-between-spaces« oder »third spaces«10 bezeichnet werden. Waren 7. Hartmut Winkler allerdings warnt zu Recht vor Universalisierungseuphorie, da die Allmacht des Rechners zumindest in Bezug auf die sequenziell abzuarbeitenden Programmabläufe eingeschränkt ist. Vgl. ders.: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg: Boer 1997, S. 76. 8. Vgl. Georg Christoph Tholen: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Wilhelm Fink 1999, S. 15-34; ders.: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 9. Vgl. Georg Christoph Tholen: »Der Ort der Medien und die Frage nach der Kunst«, http://netzspannung.org/cat/servlet/CatServlet/$files/150577/Tholen. pdf (14. Februar 2009). 10. Homi Bhabha begreift Hybridität als eine Form liminalen oder »in-
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die verschiedenen Mischformen der Biologie, Linguistik oder Poetik lange Zeit negativ konnotiert, um im Gegenzug das Reinheitsprinzip aufzuwerten, so erfährt der Begriff des Hybriden im zeitgenössischen Diskurs eine Aufwertung, wohingegen nun Purifizierungstendenzen mit negativ begriffenem Machtstreben und -denken verbunden werden. Michail Bachtin gilt als einer der frühen Forscher mit dem Anliegen, dem Uniformisierungsdrang des Machtdiskurses und seinem Bestreben, Kontingenz und Komplexität zu reduzieren, heterologe Systeme, hybride und polyphone Diskurse entgegenzusetzen. Die bereits erwähnte frühere Aufwertung des Reinheitsideals bediente sich eines naturwissenschaftlichen Klassifikationssystems, durch dessen Rasterung das Hybride, das Unreine oder auch das Monströse zunächst verortet und gleichzeitig als das Andere, das Fehlerhafte oder Deviante wieder ausgeschlossen werden konnte. So zielte dieser Versuch einer taxonomischen Naturalisierung zunächst auf die Banalisierung des Außergewöhnlichen, um es dann als (noch mangelhaften, im-perfekten) Ursprung eines in Richtung des reinen Ideals sich entwickelnden Systems festzusetzen, aus dem es – aufgrund seiner Hybridität – sogleich wieder herausfällt.11 So bleibt zu fragen, ob Hybridität für den Traum beständiger Heterotopien, für den Paradigmenwechsel vom Sehen zum Wissen, die zunehmende Verflechtung von Kunst und Wissenschaft steht oder ob sie als Technik der Komplexitätsbewältigung durch Steigerung von Kontingenz oder, wie Gerhard Gamm dies formuliert, als »Flucht aus der Kategorie« zu begreifen ist,12 was dem postmodernen Geschmack between-space«, als »cutting edge of translation and negotiation« oder eben »third space«. Vgl. Homi Bhabha: »Cultures in-between«, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London: Sage Publications 1996, S. 53-60. 11. Vgl. Pierre Jourde: »Le monstre«, in: Sylvie Thorel-Cailleteau (Hg.), Dieu, la chair et les livres. Une approche de la décadence, Paris: Champion 2000, S. 241-263, hier S. 243: »Le monstre est l’un et l’autre, le même et pas le même. D’où le paradoxe de toute monstruosité: le monstre représente certes une singularité et une exception, mais cette exception tient à l’impossibilité de réaliser l’Un, ce caractère unique qui constitue chaque individu et en même temps l’inscrit dans la norme.« [»Das Monster ist das Eine und das Andere, dasselbe und nicht dasselbe. Daher das Paradox jeglicher Monstrosität: Das Monster repräsentiert zwar eine Einzigartigkeit und eine Ausnahme, aber diese Ausnahme entsteht durch die Unmöglichkeit, das Eine zu realisieren, den einzigartigen Charakterzug, der jedes Individuum konstituiert und es gleichzeitig in die Norm einschreibt.« (Übersetzung B.O.)] 12. Vgl. Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
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am Zurückweisen von Kategorien, Regeln und der Aufteilung in einzelne Gattungen zugunsten von Überschreitungen, Deviationen, Nicht-Angepasstheit Rechnung trage. Der Linearität einfacher und zweckoptimistischer Modernisierungsprozesse (Ulrich Beck) eine Absage erteilend, favorisieren hybride Diskurse eine Beobachtung zweiter Ordnung. Ziel der Medien-Kunst sei mithin – so Peter Spangenberg – nicht mehr die Erfahrung von Einheit oder Einheitlichkeit, vielmehr gehe es um Vielfalt und Pluralität, Unbestimmtheit von Sinnbildungsebenen, Wahrnehmungsformen und alternative Verfahren der Fremd- und Selbst wahr nehmung oder, kurz gesagt, um die Erfahrung produktiver Kontingenz.13 In der aktuellen Forschung werden beide Begriffe, Intermedialität und Hybridisierung oder Hybridität, häufig nahezu synonym verwendet 14 bzw. 13. Peter M. Spangenberg: »Produktive Irritationen: Zum Verhältnis von Medienkunst, Medientheorie und gesellschaftlichem Wandel«, in: Peter Gendolla/Norbert M. Schmitz/Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 140-165, hier S. 150, 151. 14. Vgl. auch Jürgen E. Müller, der von »unzählige[n] intermediale[n] Hybriden« spricht (ders.: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte«, in: Jörg Helbig [Hg.], Intermedialität, S. 31-40, hier S. 32) und davon ausgeht, dass das Interesse an Intermedialität gerade »durch die historische […] Entwicklung medialer Apparate (die zum digitalen Schein der postmodernen Hybrid-Medien geführt hat)« entstanden sei (ders.: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster: Nodus Publikationen 1996, S. 15). Volker Roloff behauptet, dass die Produkte der neuen Medien durch einen »noch komplexeren Spielraum der Diskursmischung und Hybridisierung« gekennzeichnet seien. Vgl. ders.: »Film und Literatur. Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film, Darmstadt: WBG 1995, S. 269-309, hier S. 271. Rainer Leschke zufolge stillten »Hybridbildungen oder intermediale Rückgriffe« unterschiedslos den steten Bedarf an materieller Innovation; vgl. R. Leschke: Medientheorie, S. 317. Und Yvonne Spielmann betont die Verwandtschaft der beiden Begriffe u.a. in ihren Aufsätzen »Intermedialität und Hybridisierung«, in: Roger Lüdeke/Erika Greber (Hg.), Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen: Wallstein 2004, S. 78-102 und dies.: »Aspekte einer ästhetischen Theorie der Intermedialität«, in: Heinz-B. Heller/Matthias Kraus/Thomas Meder/Karl Prümm/ Hartmut Winkler (Hg.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg: Schüren 2000, S. 57-67. Beide, so Spielmann, bezeichneten eine Vermischung, wobei die Hybridisierung oder Hybridation die
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das Phänomen der Intermedialität in den Prozess einer allgemeinen Hybridisierung der Kultur und ihren Diskursen eingeordnet.15 Dabei wird interessanterweise eine Parallelisierung von Spezifizität und Spezies vorgenommen, auf das hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. In einzelnen Fällen lässt sich der Versuch einer Unterscheidung zwischen den Begriffen in Bezug auf den Einsatz digitaler Medien bzw. im Kontext einer unterschiedlichen Gewichtung des technisch-materiellen auf der einen und des ästhetisch-kulturwissenschaftlichen Potenzials der Medien auf der anderen Seite beobachten; eine Spaltung, die freilich nicht erst seit der Intermedialitätsforschung bekannt ist.16 In diesem Raum, d.h. zwischen begrifflicher Ineinssetzung und Analog-Digital-Differenzierung sowie zwischen der Kombination und Diversifi kation diskreter Einheiten und der kontinuierlichen Anpassungs- und Vermischungsprozesse wollen sich die folgenden Überlegungen einschreiben.
digitale Koppelung und gleichzeitig den Verlust der wahrnehmbaren Differenz zwischen den Medien bezeichne (S. 58). Diese Unterscheidung wird allerdings nicht nur in Spielmanns Aufsatz zuweilen offensichtlich verwischt … 15. Vgl. Irmela Schneider: »Hybridkultur. Eine Spurensuche«, in: Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Bildschirmmedien und Evolutionsformen der Künste. Annäherungen an ein interdisziplinäres Forschungsproblem, Arbeitshefte Bildschirmmedien Siegen 46 (1994), S. 9-24, hier S. 10-11: »Die Kategorie des Hybriden wird hier also nicht reserviert für die Vermischung von analogen und digitalen Techniken, sondern ich suche nach Vermischungen (und nenne sie Hybridisierungen), die sich als Folge der Etablierung von binären Unterscheidungen, Lebensformen und Kulturen herausgebildet haben. Durchmischen kann man nur, was getrennt war […].« 16. Vgl. z.B. Hartmut Winkler: »Die prekäre Rolle der Technik«, wwwcs.unipaderborn.de/~winkler//technik.html (14. Februar 2009), oder auch der bereits zitierte Ansatz Gumbrechts, der hier zwischen den Begriffen »meaning« und »materiality« unterscheidet. Spielmann greift hier auf Hans Ulrich Recks (Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München: Wilhelm Fink 2003) Unterscheidung zwischen semiotischer Medialisierung als kulturelle Dimension der Technifizierung und dem technisch-apparativen Zusammenhang der Mediatisierung zurück. Vgl. Y. Spielmann: »Aspekte einer ästhetischen Theorie der Intermedialität«, S. 58.
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Intermedialität ist tot, es lebe die Hybr idisierung? Einer der ersten Medienforscher, der das Potenzial der Hybridisierung im Kontext medialer Interaktionen ins Spiel brachte, ist wohl Marshall McLuhan und dessen Prophezeiung, dass »[d]urch Kreuzung oder Hybridisierung von Medien […] gewaltige neue Kräfte und Energien […]« 17 freigesetzt werden. Fast 30 Jahre später reagiert u.a. Irmela Schneider im Rahmen eines Teilprojektes Hybridkultur. Bildschirmmedien und Evolutionsformen der Künste18 auf das »innovationsorientierte und veränderbare Produktionsund Rezeptionsmodell« der Hybridisierung, das »flexibel genug ist, um die auftretenden Konflikte und die intendierten Brüche von paradoxiebehafteten Präsentationsformen und mehrdimensionalen kulturellen Selbstbeschreibungen thematisieren zu können«,19 mithin eine Art Zauberwort zur Beschreibung des komplexen, co-evolutionären Zusammenwirkens von (in erster Linie) Medientechnologien und Medienkunst. Wobei anzumerken ist, dass Schneider den Begriff explizit nicht (nur) auf Medien bezieht, sondern als ein allgemeines Kulturphänomen begreift, in dessen Kontext sich die Hybridisierung immer deutlicher als generelle Grenzziehungs- oder -verschiebungstaktik, als ökonomisch-ästhetische Marketingstrategie oder als Dissimulationspraxis verstehen ließe. Rainer Leschke zufolge liegt sowohl der Intermedialitäts- wie auch der Hybridisierungsforschung ein theoretisches Manko zugrunde. Ihre Materialorientiertheit und gleichzeitige ›Ortlosigkeit‹ werde durch »fortgesetzte[s] Aufschieben und Fortschreiben des Kategorienapparates« verwischt, die immer wieder »behauptete Bedeutsamkeit« aber »zumindest kategorial nicht eingelöst«.20 Letztlich decke man den steten Bedarf an materieller Innovation nur noch durch »Hybridbildungen oder intermediale Rück-
17. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf, Wien: Econ 1968, S. 65. 18. Am Teilprojekt C12 des Siegener SFBs ›Ästhetik, Geschichte und Pragmatik der Bildschirmmedien‹ waren neben Prof. Dr. Irmela Schneider noch Prof. Dr. Christian W. Thomsen und Prof. Dr. Peter Gendolla beteiligt. 19. Irmela Schneider: »Von der Vielsprachigkeit zur ›Kunst der Hybridation‹. Diskurse des Hybriden«, in: dies./Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln: Wienand 1997, S. 13-66; dies.: »Hybridisierung als Signatur der Zeit«, in: Caroline Y. Robertson/Carsten Winter (Hg.), Kulturwandel und Globalisierung, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 175-187, hier S. 175. 20. R. Leschke: Medientheorie, S. 316, 317.
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griffe«21 und in diesem Kontext liefere heutzutage besonders das »Integrationspotenzial des Computers« auf der Basis konkurrenzlos günstiger Digitalisierbarkeit notwendige ästhetische Belege.22 Ob diese nun durch »intermediale Rückgriffe« oder »Hybridbildunge[n]« entstehen, ist für Leschke irrelevant.23 Am Konzept der Intermedialität als Kernmodell für die »Interrelation neuer und alter Medien« will Yvonne Spielmann nach wie vor festhalten, doch wo die alten intermedialen Konstellationen ›alte‹ Medienspezifika erhellen, reichen »die meisten Simulationen [oder digitalen Remedialisierungen, B.O.] […] kaum weiter als die Manipulation intermedialer Relationstypen«24 und tragen zur Spezifi k des Digitalmediums nichts bei. Bereits 2002 wollte Edmond Couchot das Konzept der Intermedialität verabschieden, um unter dem Begriff der »hybridization« den Schwerpunkt auf die technologische Referenz zu legen.25 Bis zu diesem Moment scheint dies mit Spielmanns Ansatz vereinbar, tatsächlich aber öffnet Couchot seine Unterscheidung zwischen intermedial/analog und hybrid/digital in einem nur drei Jahre später veröffentlichten Vortrag mit dem Titel »Media Art. Hybridization and Autonomy« (2005) und postuliert nun, dass »[h]ybridization [is] not specific to Media Art, it could even be considered as a permanent and more or less assertive feature of art«.26 Die Innovation bestehe laut Couchot in einem seit dem Ende der 60er Jahre und aufgrund des Einsatzes digitaler Medien immer komplexer werdenden Typus 21. Ebd., S. 317. 22. Ebd., S. 318. 23. Y. Spielmann: »Intermedialität und Hybridisierung«, S. 78. 24. Ebd., S. 96. Vgl. hierzu auch die Äußerungen Florian Rötzers bezüglich der Innovationsdimension in der digitalen Medienkunst: »Mediales und Digitales. Zerstreute Bemerkungen und Hinweise eines irritierten informationsverarbeitenden Systems«, in: ders. (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 9-78. 25. Vgl. Edmond Couchot: »Digital Hybridisation. A Technique, an Aesthetic«, in: Convergence 8 (2002), S. 19-28, hier S. 27: »Once interest shifts to the analysis of digital media, the author proposes the term hybridisation.« Und weiter: »If the concept of media and its derivatives is to be retained, then hybridisation will have to be the reference technology of intermediality. Hybridisation becomes the digital extension of intermediality, its displacement in the field of automatic data processing and simulation: a bridge between media at the same time as it is a powerful transformer of them.« 26. Vgl. Edmond Couchot: »Media Art. Hybridization and Autonomy«, www.banffcentre.ca/bnmi/programs/archives/2005/refresh/docs/conferences/ Edmond_Couchot.pdf (14. Februar 2009).
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der Hybridisierung, der radikal mit traditionellen Techniken breche und ein »almost genetic level of organisation«27 ermögliche. In genetisch-globaler Dimension interessiert sich Couchot für die spezifische Ästhetik von Crossovers zwischen Kunst und Wissenschaft, die unterschiedliche Autonomien (und damit Grenzen) miteinander verschmelzen lasse, um sie miteinander zu konfrontieren und in wechselseitigen Kontakt treten zu lassen. Dies aber berührt letztlich eine andere Grenze, nämlich die Frage nach Ab- und Entgrenzungsstrategien im Kontext von Globalisierung, wie Couchots Forderung nach Autonomie zu verstehen gibt: »To conclude, I would add that the question of hybridization and autonomy is one of the most crucial questions arising today in our world. Cultures around the world attempt to maintain or reinforce their autonomy, while the globalisation of technology, of the economy and of political relationships, compells them to open up to other cultures and hybridize with them.« 28
Ebenfalls im Kontext einer globalen Kultur findet der Begriff der Hybridität, wie Bruno Latour in seinem in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Essay Nous n’avons jamais été modernes anmerkt, vom Management über die Natur- und Kulturwissenschaften bis zur Politik vielfältige Anwendung, wobei sich einerseits Mutationen planetaren Ausmaßes zeigen, diese Prozesse andererseits jedoch einer ebenso bemerkenswerten Uniformisierung und Vereinheitlichung unterliegen. Unter die von ihm beobachtete Proliferation des Hybriden fallen Erscheinungen wie Flussverschmutzungen, tiefgefrorene Embryonen, das HI-Virus, das Ozonloch ebenso wie unzählige fremde Objekte (»objets étranges«), die in unsere Welt eindringen.29 Wo – so die Frage Latours – sind diese zwischen Natur und Kultur bzw. Gesellschaft stehenden Phänomene zu verorten und welche Instanz ist für sie zuständig? Während Christophe Le Gac vermutet, dass diese neuen Vielheiten zu einer ›Implosion moderner Identitäten‹30 führen, so inaugurieren die digitalen Bildtechniken für den Bereich der Kunst eine neue visuelle Ordnung, die das Reale nicht mehr definiere (und dies verweist zumindest etymologisch auf Grenzziehungen), sondern simuliere.31 27. Ebd. 28. Ebd. 29. Vgl. Bruno Latour: Nous n’avons jamais été modernes: Essai d’anthropologie symétrique, Paris: Editions La Découverte 1994. 30. Vgl. Interview mit Christophe Le Gac, in: Parpaings (Paris 1999), www. new-territories.com/parpaing%201999.htm (1. August 2009). 31. Vgl. Edmont Couchot: L’art numérique, Paris: Flammarion 2003, S. 15: »[u]n nouvel ordre visuel, qui ne definit plus le réel, mais le simule.«
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Spätestens an dieser Stelle berühren die vorliegenden Überlegungen Fragen der Nachbildung oder Imitation von Vorgängen oder Abläufen durch geeignete Computerprogramme, was auch den Bereich der Simulakren und der Simulation öff net. Dabei tritt im Kontext der Digitalisierung nun u.E. weniger die Frage nach der Qualität der Nachbildung oder den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Welt in den Vordergrund; im Zentrum unseres Interesses steht die Kalkulierbarkeit der Simulakren und mithin die Kontrollierbarkeit simulierter Intermedialität. Sollte man denn tatsächlich von Meta-Intermedialität oder gar hybrider Vielfalt sprechen, wenn die Simulation der Medium-Form-Differenz(en) auf gerade nicht zur Erscheinung gebrachten uniformen rechnerischen Vorgängen basiert? Versteht man unter Hybridisierung die Bildung eines (neuen) Objektes durch eine Menge verschiedener Einzelelemente, so übersteigt die neue Kategorie diejenigen, bei denen die Anleihen getätigt wurden; es handelt sich also nicht um bloße Kombinatorik oder reine Überlagerung. Die hybriden Figuren (wie z.B. bei Elie Faure oder auch André Chastel für die Bereiche der mittelalterlichen und Renaissance-Kunst ausführlich thematisiert)32 verharren in der Schwebe zwischen Figuration und Abstraktion bzw. in der Potenzialität virtueller Welten. Nun darf aber Virtualität im Sinne nicht-aktualisierter Möglichkeiten nicht mit Simulation ineinsgesetzt werden, da erstere über die Eigenschaften der Simulation hinausgeht und nicht mehr auf die Unterscheidung von Zeichen und Referent bezogen werden kann. Ihr Zweck besteht vielmehr in der Schaff ung einer alternativen Realitätsdimension, für die die Frage nach der realen Realität gänzlich gleichgültig erscheint. Die digitale Simulation aber schaff t keine virtuellen hybriden Figurationen, vielmehr kodifiziert sie die morphogenetische Unberechenbarkeit göttlicher, teuflischer oder natürlicher Launen und kalkuliert sie auf der Basis von Algorithmen in stetig wiederholbaren Transformationen und Hybridisierungsformationen. Also eine Art ›sanktionsfreies‹ Spielfeld für Intermedialität? Während Mendels Genetik den Hybriden als phänotypisch zwischen den Eltern stehend ausweist, spricht die moderne Medizin von Hybridphänomenen bei Knochenmarkspenden, wo man mittlerweile das Immunsystem des Empfängers nicht mehr komplett auf Null fährt, sondern es parallel zum Spendermark existieren lässt. So reproduziert sich die Differenz zwischen ›eigen‹ und ›fremd‹ im eigenen Körper, dessen ›Eigenheit‹ gleichwohl durch die Transplantation nicht mehr rein ›eigen‹ ist. Während diese Art von Differenzreproduktion der hybriden Logik des Sowohl-(fremd)-alsauch-(eigen) intermedialer Konstellationen folgt, scheint sich im Kontext 32. Vgl. u.a. André Chastel: La grottesque, Paris: Le Promeneur 1988; Elie Faure: L’esprit des formes, Paris: Gallimard 1992.
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digitaler Intermedialität, wie z.B. von Jens Schröter beschrieben, ein neues (bemerkenswerterweise Analyse-)Modell zu offenbaren: »Mit der beginnenden Metaphorisierung und Funktionalisierung des Computers als ›Universalmedium‹ wird es möglich, die Spezifika der Medien unabhängig von ihrer technologischen Materialität zu beobachten. […] Es wäre sicher falsch anzunehmen, dass Intermedialität allererst mit Computern entsteht, […] [w]enigstens muss aber eingeräumt werden, dass Intermedialität sich historisch verändert, dass mit dem Computer eine neue, virtuelle Art derselben und in deren Gefolge erst der Begriff ›Intermedialität‹ auftaucht«.33
Die Spezifi k der Medien unabhängig von ihrer technologischen Materialität beobachtbar zu machen, erscheint im Kontext von Diskussionen, wie sie z.B. im Kontext des digitalen Filmes immer wieder diskutiert werden, zumindest problematisch. Schröter greift hier implizit auf die von Hans Ulrich Reck formulierte Differenzierung zwischen symbolisch-kultureller Medialisierung und technisch-apparativer Mediatisierung zurück respektive auf eine vorausgesetzte Spezifi k jenseits einer nicht hintergehbaren technologischen Materialität. Einige Forscher wie auch Regisseure jedoch gehen davon aus, dass es das Kino oder den Film – und damit ist in erster Linie eine ganz bestimmte technologische Materialität gemeint! – nicht gäbe bzw. auf eine übliche Auffassung von Film verweise, der durch die Kamera und später durch den Projektor laufe und damit auf eine Technologie aus dem Jahr 1895 verweise. »Man kann also«, so Peter Greenaway, »heutzutage sicher davon sprechen, daß Kino in physikalischer Hinsicht nicht mehr Film bedeutet, da so viele Filmemacher […] bei der Herstellung und Nachbearbeitung eigentlich Videokassetten benutzen.«34 Danach wird es – trotz offensichtlich besserer Bildqualität auf Zelluloid – auf Magnetband übertragen, ediert und »die meisten Leute sehen das Produkt auch nicht im Kino, sondern als Magnetband.«35 Wenn man nun in Anlehnung an Andrzej Gwódz vorschlägt, die Frage was ist Film der Frage wie oder wann erscheint etwas als Film unterzuordnen,36 kommt man nicht umhin, dieses wie erneut im Kontext der kollektiven Vorstellungen bezüglich der Medienspezi33. Jens Schröter: »Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine«, www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=46 (14. Februar 2009). 34. Manu Luksch: »Interview mit P. Greenaway«, in: Telepolis (1997), www. heise.de/tp/r4/artikel/6/6111/2.html (14. Februar 2009). 35. Ebd. 36. Andrzej Gwódz: »(Inter)Medialität als Gegenstand der Filmwissenschaft«, in: H.-B. Heller/M. Kraus/T. Meder/K. Prümm/H. Winkler (Hg.), Über Bilder Sprechen, S. 69-78, hier S. 71.
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fika aufzuzeigen, und damit modifiziert sich unsere Ausgangsfrage nach der Beobachtbarkeit medialer Spezifik im Kontext digitaler Simulationen: Das von Lev Manovich als Rückkehr zur Animation bezeichnete digitale Kino verändert die Bilder auf der Basis algorithmischer Bildverarbeitung und löst ihre indexikalische Beziehung zur Wirklichkeit, um sie als »elastische« oder – in Eisensteins Sinne – »plasmatische« zu simulieren:37 So entstehen digitale Filme in Kombination von auf gleiche Datenbasis umgerechnete »Filmaufnahmen + Malerei + Bildverarbeitung + Komposition + 2D-Animation + 3D-Computeranimation«.38 Diese Daten jedoch simulieren gleichermaßen die historischen Dimensionen und kalkulieren die verschiedenen Dispositive der bewegten Bilder ein. Mit dem zuvor zitierten Greenaway ist mithin zu konzidieren – und dies gilt gleichermaßen für die ›alte‹ wie auch die ›neue‹ Intermedialität –, dass es prinzipiell keine ontologischen, sondern sich aus historischen (Trans-)Formationen bildenden medialen (und dies im Sinne der Mediatisierung wie auch der Medialisierung) Spezifika gibt. Diese sind im kollektiven Bewusstsein verankert und markieren die skopisch-dispositiven Regime-Grenzen, bis zu denen ein Film als Film erscheint, und über die hinausgehend er nicht mehr als Film (wieder-)zuerkennen ist.39 Dies gilt freilich ebenso für die ›alte‹ Inter37. Vgl. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 2001. Dieses »plasmatische Potenzial« aber spiele erst mit dem Aufkommen der digitalen Medien eine filmgeschichtlich relevante Rolle (vgl. Ulrike Bergermann, die an dieser Stelle auf Lev Manovich verweist: »Morphing. Profile des Digitalen«, in: Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.), Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln: DuMont 2004, S. 250-274, hier S. 264). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt der von einer anderen theoretischen Warte aus argumentierende Bernard Stiegler: »Sont en effet concernées les simulations en physique, chimie et astrophysique, les simulations en apprentissage et en ergonomie, les mondes virtuels, les clones d’êtres réels, l’intelligence artificielle, la reconnaissance des formes, la vie artificielle, et la mort artificielle. Tout cela, c’est de l’animation.« [»Es geht dabei letztlich um Simulationen in der Physik, der Chemie, der Astrophysik, um Simulationen in der Ausbildung oder in der Ergonomie, um virtuelle Welten, um Klone realer Wesen, um künstliche Intelligenz, um die Wiedererkennbarkeit von Formen, um künstliches Leben, um den künstlichen Tod. Alles ist Animation.« (Übersetzung B.O.)] Vgl. Bernard Stiegler: »L’image discrète«, in: Jacques Derrida/Bernard Stiegler (Hg.), Échographies de la télévision. Entretiens filmés, Paris: Galilée 1996, S. 165-182, hier S. 167. 38. L. Manovich: The Language of New Media, S. 301. 39. Ein Aspekt, der in den Augen Greenaways die Kreativität vieler Filmemacher einschränkt, denn wer technologisch wie auch ästhetisch zu schnell voranschreite, riskiere sein Publikum. Vgl. M. Luksch: »Interview«.
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medialität, die von Joachim Paech im Rückgriff auf die systemtheoretische Medium-Form-Differenz Niklas Luhmanns als Erscheinung eines oder mehrerer Medien in der Form (Medium-in-Form) eines spezifisch anderen Mediums beschrieben wird. Wenn nun – wie Paech im Kontext des Films Blow up anreißt 40 – das Medium des Photographischen im Film erscheint, so handelt es sich selbstverständlich weder um eine Photographie noch um das reine Artefakt, sondern um das mediale System des Films, das eine spezifische, in diesem Fall photographische Medialität, evoziert. Der Unterschied zur digitalen Intermedialität liegt nun vielleicht weniger darin, dass hier »technologische Strukturen zu Formen verdampfen«, 41 vielmehr steht im Vordergrund, dass der Computer über kein spezifisch mediales System zu verfügen scheint. Wo es nun aber – wie in diesem Falle – keine Spezifik gibt, da entsteht zuallererst die Möglichkeit (oder Notwendigkeit!), andere Spezifi ka an der Oberfläche zu simulieren. Dies aber bedeutet, dass eine intermediale Unterscheidung nicht in einer bereits bestehenden Medium-Form-Differenz erscheint, sondern auf einheitlicher, rechnerisch-binärer Basis auf der Oberfläche simuliert wird. Intermedialität wird – das vermutete bereits Friedrich Kittler42 – zum bloßen, trotzdem wohlkalkulierten Effekt! Das Attraktive an diesen (co-)evolutionären Modellierungen, wie z.B. im Zusammenwirken von Medienkunst und Medientechnologie, besteht darin, dass man den Prozess der Formengenerierung darstellbar machen kann, und mithin die Form nicht als endgültiges Ergebnis eines klassischen Entwurfs, sondern als ein Durchgangsstadium versteht. Digital realisiert in der Simulation, verlangt diese abstrakteste Form der Repräsentation diskrete Einheiten; »der reale Prozeß muß in Mathematik abgebildet werden, um dann mittels Algorithmen im Rechner simuliert werden zu können.« 43 40. Vgl. J. Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial«; Beate Ochsner: »L’entre des images ou les stratégies intermédiatiques dans Blow up de Michelangelo Antonioni«, in: Jean-Louis Déotte (Hg.), Appareils et formes de la sensibilité, Paris: L’Harmattan 2005, S. 201-215. 41. J. Schröter: »Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine«, www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=46 (14. Februar 2009). 42. Vgl. Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 7: Kittler spricht von »Oberfl ächeneffekten«. 43. Helmut Neunzert: »Mathematik und Computersimulation. Modelle, Algorithmen, Bilder«, in: Valentin Braitenberg/Inga Hosp (Hg.), Simulation. Computer zwischen Experiment und Theorie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 44. Zu den verschiedenen Formen von Computersimulation vgl. Michael M. Woolfson/Geoffrey J. Pert: An Introduction to Computer Simulation, Oxford [u.a.]: Oxford University Press 1999.
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Doch ersetze die Simulation das Simulierte nicht, und so schlägt Winkler vor, die Simulation respektive ihren »kalkulierten Effekt als einen Modus der Repräsentation« zu begreifen, »womit alle Probleme der Referenz, der Gültigkeit von Zeichen und ihrer Differenz zum Bezeichneten wiederkehren« und, darüber hinaus, die digitale Dimension wieder »verschmutzt« werde. 44 Ein interessanter Ausdruck, der freilich wiederum auf die Reinheits- bzw. Unreinheitsdiskussion verweist, wie sie zu verschiedenen Zeitpunkten der Mediengeschichte auftauchen und von Mitchell als Phantasie entlarvt werden: »Die Reinheit von Medien ist daher umso mehr eine Phantasie, weil sie dem jeweiligen Medium seinen Gebrauchswert entziehen will: Die Frage der Reinheit von Medien taucht auf, wenn ein Medium selbstreferenziell wird und sich seiner Funktion als Kommunikations- oder Repräsentationsmittel verweigert. An diesem Punkt werden bestimmte exemplarische Bilder des Mediums dahingehend kanonisiert, das innere Wesen des Mediums […] als solchem zu verkörpern.«45
Doch ist der Computer überhaupt ein Medium? Denn wenn das Medium als Objekt bzw. Material begriffen wird, durch das etwas anderes als es selbst in Erscheinung tritt, dann muss – mit Winkler – konstatiert werden, dass Computer nichts erscheinen lassen. Vielmehr simulieren sie alle anderen Medien und mithin auch deren intermediale Relationen. Kann man nun sagen, die Modellierung fi ktionaler Objekte, die »so tun, als ob sie etwas anderes wären«, vernichte deren Spezifizität, oder aber sollte man davon ausgehen, dass der katachrestische »Als-ob«-Charakter des Computers eine neue Stufe intermedialer Analysen eröff net? Eine MetaIntermedialität, die sich, da kalkulierbar, auch auf jeder Stufe als transformierbar erweist. Mag die digitale Präsenz von Bildern und Tönen auf Computerbildschirmen und in Synthesizerlautsprechern zwar vorgängige analoge Einschreibungen – bzw. deren Synthese – suggerieren, so handelt es sich tatsächlich um eine digitale Sinnesdatenverarbeitung auf der Grundlage binärer Codierungen und mithin um eine Analyse. Und so wird in einer mit kunstsprachlichen Befehlen gesteuerten Maschine sinnlich Erfahrbares in seine unsinnlichen Einzelteile zerlegt, um auf dem
44. Hartmut Winkler: Vortrag in der Reihe Understanding New Media, Heinz-Nixdorf-Forum Paderborn, 19.02.2003, www.uni-paderborn.de/~winkler/ compmed2.html (29. Januar 2008). 45. William J.T. Mitchell: »Der Mehrwert von Bildern«, in: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, Köln: DuMont 2001, S. 158-184, hier S. 159.
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Bildschirm als vorgebliche Spur einer analogen Einschreibung, eines ça a été, zu erscheinen (!). 46
Ausblick Abschließend möchte ich erneut die Frage nach dem Phänomen der Grenze im Kontext ästhetischer Theorie stellen, denn erst die Analyse der Beschaffenheit der Grenzen sowie ihrer Transgressionen erlaubt es, intermediale (gleich ob analog oder digital) Interaktionen zu diskutieren und zu verhandeln: Ob es um das Dazwischen geht oder um die Verschmelzung, ob Schwellenzustände oder Überschreitungen markiert werden, immer liegt ein Bezug auf diejenigen Grenzen vor, die die oben beschriebenen Prozesse erfahrbar machen sollen. Und will man das Da-Zwischen im aristotelischen Sinne medial begreifen, so stellt sich gleichermaßen die Frage nach der Funktion des Mediums, das im Modus der Überschreitung erst durch die Kunst erfahrbar gemacht wird. Diese häufi g zitierten intermedialen Begegnungen oder hybriden Verschmelzungen finden nun laut Bernhard Waldenfels bevorzugt in so genannten vor-diskursiven Schwellenbereichen oder Schnittstellen statt, die – so die Defi nition der Gemeinwelt – sowohl zu Identität wie auch zu Alterität querstehen: third spaces. Dabei geht Waldenfels davon aus, dass hier Grenzen »überschritten werden können, ohne sie zu überwinden«, handelt es sich mithin um Räume, die »weder Verschmelzung im Sinne einer Nichtunterschiedenheit noch Trennung im Sinne einer Wohlunterschiedenheit [bedeuten], sondern eine Form der Abhebung im gemeinsamen Feld«. 47 In medientheoretischer und auf das Phänomen der Zeit (anstelle des Raumes) zielender Übertragung könnte man hier von jenen Zwischenzeiten sprechen, wie sie sich zwischen einer Form und einem in dieser Form zur Erscheinung gebrachten fremden Medium ereignen. 48 In beiden Fällen werden aus festen Standpunkten relationale Felder der Differenz, wobei die intermedial-(selbst-) reflexive Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen die (momen46. Friedrich A. Kittler: »Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Ma-
schine«, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 58-80, hier S. 73. 47. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 65. 48. Vgl. Beate Ochsner: »Foto/Filme oder: Filmische (Re-)Animation des fotografischen Stillstandes«, in: Marijana Erstić/Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.), Körper in Bewegung. Impulse und Modelle der italienischen Avantgarde, Bielefeld: transcript 2009, S. 221-238.
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tane) Erscheinung eines hybriden Zustandes ermöglicht. Die osmotische Qualität sowie die Zeitlichkeit dieser Phänomene erscheinen umso wichtiger, als es gleichermaßen um die Reinstantiierung bestehender Grenzen geht, wie auch, im Prozess ihrer Transgression, um deren – im besten Falle – Flexibilisierung ohne neuerliche Einschreibung anderer Grenzen. Funktioniert das Modell, so handelt es sich – wie so oft im Hybriditätsdiskurs beschwört – um eine reflexionsorientierte Komplexitätssteigerung; wo es ›versagt‹, werden kalkulierte und mithin kontrollierbare Grenzen verdeckt, und es handelt sich um eine Komplexitätsreduktion. Zum einen scheint die Simulation intermedialer Verschiebungen auf der Oberfläche des Rechners dessen Eigenheit zu leugnen, zum anderen ermöglicht die Reinstantiierung medialer Spezifi ka die Sichtbarmachung von Momenten des Medienwechsels – gleichzeitig aber werden neue, unsichtbare Grenzen instauriert. Diese Überlegungen mögen auch im Kontext mit der von Bolter und Grusin getroffenen Differenzierung zwischen »hypermediacy« und »intermediacy« stehen, besonders wenn man unter »hypermediacy« die Exponierung intermedialer Strukturen auf der Oberfläche versteht, die jedoch gleichzeitig die eigenen Grenzen bzw. Spezifi ka verdecken 49 – was jedoch am Analysepotenzial von Intermedialität oder auch Meta-Intermedialität wohl kaum etwas ändert … Dieser Artikel ist bereits in gekürzter Form in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft, Heft 4/2008 erschienen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Schüren Verlags.
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Beate Ochsner
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Intermedialität und Kapitalismus in der Kunst Jens Schröter
Der Titel dieses Aufsatzes mag irritieren. Was hat das Phänomen der Verbindung von Medien – Intermedialität (im allgemeinsten Sinne1) – mit der politisch-ökonomischen Verfasstheit der Gesellschaft zu tun? Es gibt Hinweise darauf, dass die Fragen nach a. den ›Monomedien‹ und ihrer ›Spezifi k‹ – und d.h. immer nach den Verfahren ihrer ›Reinigung‹, um sie aus einer primordialen Intermedialität herauszulösen (genau das ist zentrales Problem eines wichtigen Stranges der Geschichte der modernen Kunst); b. den Formen und Strategien der Verbindung von (zuvor gereinigten?) Monomedien zu einer (sekundären?) ›Intermedialität‹ und folglich c. den Beziehungen zwischen a.) und b.) keineswegs rein theoretische oder ästhetische Fragen sind. Vielmehr sind sie schon seit längerer Zeit mit massiven politischen Konnotationen behaftet. Ein prominenter Hinweis darauf findet sich z.B. in der jüngeren Arbeit von Rosalind Krauss. So verweist sie am Ende ihres Bändchens A Voyage on the North Sea. Art in the Age of the Post-Medium Condition auf die »international fashion of installation and intermedia work, in which art finds
1. Vorschläge zur Differenzierung des oft etwas diffusen Begriffs der Intermedialität gibt es einige, es sei verwiesen auf Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 7 (1998), S. 129-154; Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002; und die verschiedenen Vorschläge in Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität Analog/Digital. Theorien, Methoden, Analysen, München: Wilhelm Fink 2008.
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itself complicit with a globalization of the image in the service of capital«.2 Gerade die Strategien der installativen und/oder intermedialen Kunst werden also als verbündet mit einer ›Globalisierung des Bildes im Dienste des Kapitals‹ beschrieben. Krauss kritisiert dies scharf. Im Folgenden möchte ich diesem Hinweis nachgehen. In 1) geht es um die Darstellung der Kontexte, in denen Krauss diese Äußerung gemacht hat. Was kritisiert Krauss genau und welche Alternativen schlägt sie vor? 2) Zweitens muss in den Blick geraten, dass die Frage, inwiefern ›Monomedien‹ oder ›Intermedialität‹ politische Implikationen besitzen, nicht ganz neu ist. In gewisser Weise hat es im 19. Jahrhundert schon eine solche Diskussion gegeben – die sich im 20. Jahrhundert fortsetzt, dabei aber von der in 1) diskutierten Linie zu unterscheiden ist. 3) Was folgt daraus für die theoretischen wie historischen Diskussionen der ›Intermedialität‹? Wäre es nicht an der Zeit – jetzt3, wo wieder einmal eine tiefe Krise der kapitalistischen Reproduktion die Welt erschüttert –, die politischen Implikationen des eigenen Diskurses über die Intermedialität zu befragen? Wenn die Frage nach der Intermedialität eine relevante Frage der Medienwissenschaft bleiben soll, dann muss sie auch die Frage nach der Politik des Medialen mitberücksichtigen. Die Frage nach der Intermedialität ist zu etabliert, um die Frage nach ihrer Politik nicht stellen zu können. Heute muss sie gestellt werden. Dieser Beitrag kann nur ein erster Schritt sein.
1. Intermedialität als Kapitulation vor dem Spektakel Der zitierte Passus von Rosalind Krauss stammt, wie erwähnt, aus einem kleinem Buch mit dem Untertitel Art in the Age of the Post-Medium Condition. Was ist die ›Post-Medium Condition‹? Einen Einstieg in dieses bei Krauss nicht immer ganz einfach verständliche Problem kann man über den theoretisch ganz anders orientierten Lev Manovich fi nden: »In the last third of the twentieth century, various cultural and technological developments have together rendered meaningless one of the key concepts of modern art – that of a medium. However, no new topology of art practice came to replace media-based typology which divides art into painting, works on paper, sculpture, film, video, and so on. The assumption that artistic prac2. Rosalind Krauss: A Voyage on the North Sea. Art in the Age of the PostMedium Condition, London: Thames & Hudson 2000, S. 56. 3. Ende 2008/Anfang 2009.
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tice can be neatly organized into a small set of distinct mediums has continued to structure the organization of museums, art schools, funding agencies and other cultural institutions – even though this assumption no longer reflected the actual functioning of culture.«4
Die Schwächung des Medienbegriffs, die Manovich hier konstatiert, mag zunächst verwundern angesichts der – zumindest in der Bundesrepublik Deutschland – sich geradezu inflationär ausbreitenden Medienwissenschaften. An späterer Stelle bemerkt er, dass der Medienbegriff zwar in gewisser Weise obsolet geworden sei, aber zugleich aus »sheer inertia« weiterverwendet werde. Es sei eben schwierig, neue Weisen der Konzeptualisierung an seine Stelle zu setzen: »So rather than getting rid of media typology altogether, we keep adding more and more categories.«5 Also kann gerade die Ausbreitung und -weitung des Medienbegriffs auf immer mehr Objekte, Phänomene, Ensembles und die damit einhergehende Unsicherheit, wie ›Medium‹ eigentlich zu definieren ist, als Teil des Problems verstanden werden, das – wie Manovich ja deutlich macht – vor allem für die Kunst entsteht. Manovich führt im Folgenden verschiedene historische Gründe für die Schwächung des Medienbegriffs an. Neben der Ausbreitung sowohl von Video- als auch digitalen, programmierbaren und daher wenig ›spezifischen‹ Technologien verweist er vor allem auf die Ausbreitung neuer Kunstformen in den 1960er Jahren, die mit der Vorstellung einer medienspezifischen Begründung der Kunst gebrochen hätten – u.a. die Installation. In der Tat ist diese Entwicklung auch für Krauss zentral, die selbst aus einer Tradition kommt, welche ein klar eingegrenztes ›Medium‹ für künstlerische Praxis als grundlegend ansah. Sie war Schülerin von Clement Greenberg, dem – wohl ohne Übertreibung – wichtigsten Kunstkritiker in New York in den 1950er und 1960er Jahren. Er hat den Begriff des Mediums in der Kunstkritik prominent gemacht. »[F]rom the ’60s on, to utter the word ›medium‹ meant invoking ›Greenberg‹.«6 Die zentrale Rolle des Medienbegriffs bei Greenberg besteht darin, dass ›Kunst‹ als der Prozess der Reflexion und damit Reinigung des jeweils verwendeten Mediums bestimmt wird. Modernistische Malerei – so auch der Titel eines bekannten Aufsatzes des Kunstkritikers – wäre also eine solche, die die Spezifi k des Mediums Malerei – Farbe, Fläche, Rahmung – refl exiv in den Mittelpunkt
4. Lev Manovich: »Post-media Aesthetics«, www.manovich.net/DOCS/Post_ media_aesthetics1.doc (10. Januar 2009). 5. Ebd. 6. R. Krauss: A Voyage, S. 6.
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stellt und mithin die Malerei von allen intermedialen Kontaminationen (etwa durch das Skulpturale oder Literarische) reinigt: »Das Wesen des Modernismus liegt, soweit ich sehe, darin, die charakteristischen Methoden einer Disziplin anzuwenden, um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren – nicht um sie zu untergraben, sondern um ihre Position innerhalb ihres Gegenstandsbereichs zu stärken. […] Es wurde bald deutlich, daß der eigene und eigentliche Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist. Die Aufgabe der Selbstkritik war es folglich, aus den spezifischen Effekten einer Kunst all jenes herauszufiltern, was eventuell auch von dem Medium einer anderen Kunst – oder an das Medium einer anderen Kunst – entliehen werden könnte. So würden die einzelnen Künste ›gereinigt‹ und könnten in ihrer ›Reinheit‹ die Garantie für ihre Qualitätsmaßstäbe und ihre Eigenständigkeit finden.«7
Es sei hier gar nicht ausführlicher auf Greenbergs Konzept, dessen Meriten und Probleme eingegangen.8 Es ist nur hervorzuheben, dass ab den 1960er Jahren – wie Manovich zu Recht betont – die Hegemonie seines Konzepts verblasste und die bis dahin dominierenden und von ihm favorisierten und geförderten Kunstformen wie der ›abstrakte Expressionismus‹ an Bedeutung verloren.9 Es etablierten sich u.a. intermediale und installative Kunstformen,10 die die Idee einer Medienreflexion – zumindest im strikten und engen Sinne Greenbergs – verwarfen. Es ist wenig über-
7. Clement Greenberg: »Modernistische Malerei« (1960), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 265-278, hier S. 265, 267. Greenbergs Rede von der ›Reinigung‹ setzt voraus, dass es eine primordiale Intermedialität gibt. 8. Vgl. als gute Einführung Karlheinz Lüdeking: »Vorwort«, in: C. Greenberg, Die Essenz der Moderne, S. 9-28. 9. Einer der Gründe für das Ermatten seines Ansatzes war, dass Greenberg die Reflexion auf das Medium mit seiner Reinigung im Sinne der Reduktion auf das Wesenhafte gleichsetzte. Bald schon drohte diese Reinigung zur reductio ad absurdum zu werden, was Greenberg selbst zur Aufgabe seines Ansatzes zwang und dessen Plausibilität erschütterte, vgl. Lüdeking: »Vorwort«, S. 18-20 und Thierry de Duve: Kant nach Duchamp, München: Klaus Boer 1993, S. 193-276. 10. Natürlich muss eine installative Kunst nicht zwingend intermedial sein (und umgekehrt) – beide Begriffe beziehen sich auf deutlich verschiedene Aspekte, historisch gingen diese beiden Eigenschaften aber in der Regel miteinander einher. Vgl. als grundlegende Einführung Claire Bishop: Installation Art. A Critical History, London: Tate 2005.
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raschend, dass Greenberg diesen intermedialen Strategien gar nichts abgewinnen konnte. 1981 schrieb er: »Es beunruhigt, daß der Niedergang des Geschmacks heute erstmals droht, sich in der Kunst selbst durchzusetzen. In der ›intermedialen‹ Kunst und der damit einhergehenden schrankenlosen Akzeptanz sehe ich ein Symptom dafür. […] Gute Kunst kann von überall herkommen, doch von ›Intermedia‹ und ähnlichen Dingen ist sie bislang nicht gekommen.«11
Obwohl Rosalind Krauss (und auch Michael Fried) Greenberg in vielen Punkten kritisierten (insbesondere hinsichtlich der Frage nach dem ›Medium‹12), blieben sie seiner Grundintention treu, »derzufolge es ästhetische Autonomie nur dann geben kann, wenn die Kunst einen eigenen Gegenstandsbereich definiert, was nur mit Bezug auf die den einzelnen Künsten zugrunde liegenden Darstellungsmittel gelingen kann.« 13 Denn nur durch die in der Beschränkung auf den eigenen Gegenstandsbereich erreichbare Kompetenz kann es gelingen, der Beliebigkeit und damit der auf äußerliche Attraktionen zielenden Effekthascherei zu entkommen. Denn wenn Kunst bloß noch in der Produktion beliebiger Sinnesreize bestünde, wäre ihr Unterschied zur Aufmerksamkeitsproduktion der massenmedialen 11. Clement Greenberg: »Intermedia« (1981), in: ders., Die Essenz der Moderne, S. 446-455, hier S. 454. 12. Während Greenberg den Begriff des Mediums sehr eng an die konkrete Materialität und die Verfahren ihrer Bearbeitung anlehnte (diese Nähe zur ›Produktion‹ der Kunst kann laut Lüdeking: »Vorwort«, S. 10/11 als eine Spur seiner früheren marxistischen, näherhin trotzkistischen, Überzeugungen verstanden werden), ziehen Fried und Krauss noch die sedimentierte Geschichte der in einem Medium etablierten Konventionen dazu. 13. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 87. Man sollte an dieser Stelle erwähnen, dass Fried in seiner ebenso berühmten wie harschen, aber auch scharfsichtigen Kritik der proto-installativen Minimal Art von 1967 Intermedialität außerordentlich kritisch einstufte: »Die Konzepte der Qualität und des Werts – und insoweit diese für die Kunst von zentraler Wichtigkeit sind, auch das Konzept der Kunst selbst – haben eine Bedeutung, oder haben ihre volle Bedeutung nur innerhalb der einzelnen Künste. Was zwischen den Künsten liegt, ist Theater.« (Michael Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst 1995, S. 334-374, hier S. 361; Hervorhebung wie im Original.) Vgl. zur Abwertung des ›intermedialen‹ Theaters historisch auch Jonas A. Barish: The Antitheatrical Prejudice, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1981. Theater und Spektakel stehen dicht beieinander.
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Kulturindustrie, die mit Überrumpelungen auf allen Sinneskanälen Subjekten Bedürfnisse aufzwingt, verwischt. Intermediale Inszenierungen sind dann nicht zu unterscheiden von anderen Produkt- und Event-Inszenierungen.14 So erscheint das »Phänomen der Intermedialität […] als Ausdruck eines Bruchs mit dem modernen Projekt zugunsten einer, um es in der Sprache der zeitgenössischen Kunstkritik zu sagen, Affi rmation der Verhältnisse unter den Bedingungen der Spektakelkultur«.15 Mit ›Spektakelkultur‹ wird auf Guy Debords Diagnose angespielt, zumindest die westlichen Gesellschaften seien nunmehr ›Gesellschaften des Spektakels‹. Die »Massenkommunikationsmittel« als »erdrückendste Oberflächenerscheinung« dieser Kultur hätten alles an sich gerissen: »Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, daß es zum Bild wird.« 16 Zwar spricht Debord meistens von Bildern, allerdings sind die erwähnten ›Massenkommunikationsmittel‹ in der Regel audiovisuell, sodass sein ›Spektakel‹ wohl als intermedial verstanden werden kann.17 Debord verbindet seine Diagnose explizit mit dem Begriff des Kapitals (ähnlich wie in der eingangs zitierten Äußerung von Krauss). In kritischem Rückbezug auch auf die Tendenz (intermedialer, installativer) künstlerischer Avantgarden, ›Kunstfertigkeiten‹ zu opfern, schreibt Rosalind Krauss: »Mit der Absage an die Kunstfertigkeit […] gerät man in eine gefährliche Konkurrenz zu
14. Vgl. Sven Lütticken: »Undead Media«, in: Afterimage 31 (2004),
S. 12/13, hier S. 13: »Installation art certainly shares a practice of impure ›remediation‹ with today’s media culture, which we have described as the apotheosis of the commercial Gesamtkunstwerk; various objects and media can be combined at will in installation art, and the result often resembles a showroom.« Tatsächlich gibt es Künstler wie Guillaume Bijl, dessen installative Arbeiten kaum mehr von einem normalen Geschäft zu unterscheiden sind. Natürlich sind derartige Installationen kritisch gedacht, etwa als Befragung des musealen Raums und seiner Funktionen. Man kann solche Installationen aber ebenso als Auflösung der Grenze zwischen Kunst und kommerzieller Kultur verstehen. Vgl. für einen Überblick den Ausstellungskatalog von Max Hollein/Christoph Grunenberg (Hg.): Shopping: 100 Jahre Kunst und Konsum, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002. 15. J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 83/84. 16. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat 1996, S. 22, 27. 17. Vgl. G. Debord: Gesellschaft, S. 32, wo er von der »spektakulären Sprache« schreibt. Vgl. auch kritisch zu Debord Juliane Rebentisch: »Spektakel«, in: Texte zur Kunst 66 (2007), S. 120-122.
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eben jenen Mächten der Gedankenkontrolle, der Manipulation und der Unterdrückung, gegen die man angetreten ist.« 18 Nochmal: Diese Position sieht in der Intermedialität eine Kapitulation der Kunst vor der kapitalistischen Spektakelkultur. Ihre ›Autonomie‹, versteht man darunter den durch mediale Reflexivität und Reinigung, mithin durch ›Selbstdefinition‹ abgegrenzten Bereich spezieller Kompetenzen, geht verloren. Denn was könnte sonst der Zweck sein, Medien zu verbinden, außer einen von ihrer jeweiligen Spezifi k – immer vorausgesetzt, man akzeptiert diesen schwierigen Begriff – verschiedenen, also allgemeinen Effekt zu erzielen? Und dieser abstrakte Effekt kann in kapitalistischen Gesellschaften nur auf die Vermehrung des Abstraktesten zielen – auf das Geld. Die »tödliche Umarmung des Allgemeinen«19 würde so gesehen bedeuten, dass Medien nur mehr für einen von ihnen prinzipiell verschiedenen Effekt kombiniert werden, ohne dass ihre heterogenen konkreten sinnlichen Spezifi ken, Gesetzmäßigkeiten noch erscheinen dürften. In dieser Hinsicht würden intermediale Inszenierungen – ebenso wie die Idee des ›Gesamtkunstwerks‹ (s.u.) – regressiv und in heteronomer Unterordnung unter das Geld die Ausdifferenzierungen der verschiedenen Künste aufzuheben suchen.20 Auf einen ganz ähnlichen Punkt insistiert de Duve: »Stil, 18. Rosalind Krauss: »Der Tod der Fachkenntnisse und Kunstfertigkeiten«, in: Texte zur Kunst 5 (1995), S. 61-67, hier S. 66. Rosalind Krauss und andere haben in diesem Zusammenhang auch harsche Kritik an der Ersetzung klassischer Disziplinen durch ›Cultural‹ und ›Visual Studies‹ geübt, vgl. auch Hal Foster: »Das Archiv ohne Museen«, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 428-457. Auch dort findet sich zumindest eine implizite Kritik an der Intermedialität. So sei die »Medienspezifik in der Kunst der Moderne« nun hinfällig: »Unter dem Druck künstlerischer Überschreitungen, theoretischer Kritik, politischer Erfordernisse und technologischer Zwänge sind diese alten institutionellen Vereinbarungen in die Brüche gegangen; und in ihre Bresche wird nun die Visual Culture geworfen.« Und jene ist »möglicherweise, von einer digitalen Logik beherrscht, die andere Wort- und Bildlogiken einschmilzt« (S. 430/431, 451). Greenbergs Kritik an »›Intermedia‹, ›Multimedia‹ und de[m] ganzen Rest« (Intermedia, S. 450) ist hier noch zu hören. 19. Rosalind Krauss: »Die Neuerfindung der Fotografie«, in: Luminita Sabau (Hg.), Das Versprechen der Fotografie, München, London, New York: Prestel 1998, S. 34-42, hier S. 42. 20. Dies wäre die Kritik, die etwa Adorno gegen das ›Gesamtkunstwerk‹ hervorgebracht hat, obwohl er der ›Verfransung‹ der Künste in den 1960er Jahren nicht prinzipiell feindlich gegenüberstand. Vgl. dazu J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 101-145. Sie bezieht sich dabei kritisch auf Christine
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Manier, Form, Medium, alles ist aus- und vertauschbar. Alles steht allem gegenüber, ohne sich jedoch zu widersprechen und ist weniger Ideologien denn Waren vergleichbar. Die Malerei, die sich heute gut verkauft, besonders die figürliche, war noch nie zuvor derart abstrakt. Sie hat die Abstraktion des Geldes angenommen.«21 Allerdings wäre es für die in diesem Abschnitt zitierten Kritiker der Intermedialität keine Lösung, wenn man einfach wieder – in einem retour a l’ordre – zu den konventionellen Medien der Tradition zurückginge. Auf das Spektakel hätte die Kunst vielmehr mit einem »spectacle of decomposition«22 zu antworten, wie Clark in einem etwas anderen Zusammenhang formulierte. Oder wie Krauss schreibt: »Vielmehr betriff t es die Idee des Mediums als solcher, eines Mediums gleichbedeutend mit einer bestimmten Anzahl von Konventionen, die aus den materiellen Bedingungen eines gegebenen technischen Bildträgers abgeleitet (aber nicht mit ihnen identisch) sind, Konventionen, aus denen eine Form von Expressivität entwickelt werden sollte, die sowohl projektiv als auch mnemonisch sein kann.«23 Krauss plädiert dafür, dass Künstler, statt beliebige Medien wahllos zu kombinieren oder regressiv traditionell zu werden, sich selbst ein Medium schaffen sollten, d.h. ein Möglichkeitsfeld, welches sie dann systematisch ausleuchten. Dabei spielt eine besondere Rolle, dass die Künstler, die sie diesbezüglich als vorbildlich einschätzt – z.B. James Coleman oder William Kentridge – sich gerade technischer Mittel bedienen, die erstens eine lange Phase ihrer Nutzung durch die Spektakelindustrie schon hinter sich haben und zweitens technologisch mittlerweile obsolet sind. Weil die Techniken bereits ihre Karriere als kommerzielle Technologien hinter sich haben – und mithin nicht gefährdet sind, jemals wieder von der kapitalistischen Kulturindustrie zur Erzielung spektakulärer Effekte herangezogen zu werden –, können sie nun zum Ausgangspunkt einer alternativen, projektiven wie mnemonischen,24 Inszenierung werden, die sich außerEichel: Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste. Perspektiven einer interdisziplinären Ästhetik im Spätwerk Theodor W. Adornos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Vgl. zum Problem der Ausdifferenzierung der Künste grundsätzlich auch Jean-Luc Nancy: »Warum gibt es viele Künste und nicht nur eine einzige Kunst?«, in: ders., Die Musen, Stuttgart: Legueil 1999, S. 9-62. 21. T. de Duve: Kant nach Duchamp, S. 339. 22. T.J. Clark: »Arguments about Modernism: A Reply to Michael Fried«, in: Francis Frascina (Hg.), Pollock and After. The Critical Debate, New York: Harper & Row 1985, S. 81-88, hier S. 83. 23. R. Krauss: Neuerfindung, S. 38. 24. Eine instruktive Analyse, wie man Krauss’ Bestimmung einer projektiven wie mnemonischen Absetzung von und Auseinandersetzung mit dem Spek-
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halb und gegen das Spektakel verortet: »Denn wenn sich Coleman dem inzwischen antiquierten Low-Tech-Bildträger der Werbe-Diaprojektion oder dem korrumpierten Massenkultur-Vehikel des Fotoromans zuwendet, so […] [um] seine eigenen Konventionen auszuschöpfen […]. [Dies] kündet von einer Fähigkeit zur Imagination, die in diesem technischen Bildträger gespeichert ist und plötzlich in jenem Moment wiedererlangbar gemacht wird, in dem die Armierung der Technologie unter der Macht ihrer eigenen Obsoleszenz zusammenbricht.«25 Krauss’ Vorschlag ist manchmal dunkel und vielleicht problematisch.26 Festzuhalten bleibt hier nur, dass ›Intermedialität‹ – genauer: Formen synthetischer wie transmedialer Intermedialität27 – als Symptom einer Kapitulation ästhetischer Strategien vor den Inszenierungsstrategien des kapitalistischen Spektakels interpretiert wird.
2. Intermedialität als Rettung vor der kapitalistischen Arbeitsteilung In diesem zweiten Abschnitt soll eine andere Diskussion skizziert werden, die Intermedialität ebenfalls auf die kapitalistische Moderne bezieht, dabei aber andere Gewichtungen setzt und zu anderen Wertungen kommt. Die hierher gehörigen Texte28 assoziieren Intermedialität auch mit künstlerischen Strömungen der 60er Jahre, also jenen Entwicklungen (oder Teilen davon), die für Greenberg und Krauss gerade zum Zeichen für takel konkretisieren kann, liefert z.B. Benjamin H.D. Buchloh an einem Künstler, den auch Krauss als Beispiel heranzieht: »Memory Lessons and History Tableaux: James Coleman’s Archaeology of Spectacle«, in: ders., Neo-Avantgarde and Culture Industry: Essays on Eurpoean and American Art from 1955 to 1975, Cambridge/Mass.: MIT Press 2000, S. 141-178. 25. R. Krauss: Neuerfindung, S. 40/41. 26. Vgl. J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 89 und 99, sowie S. Lütticken: »Undead Media« zur Kritik. 27. Vgl. J. Schröter: »Intermedialität. Facetten eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«. 28. Vgl. mindestens Udo Kultermann: Leben und Kunst. Zur Funktion der Intermedia, Tübingen: Wasmuth 1970; Jud Yalkut: »Understanding Intermedia«, in: Gottfried Schlemmer (Hg.), Avantgardistischer Film 1951-1971. Theorie, München: Hanser 1973, S. 92-95; Peter Frank: Intermedia. Die Verschmelzung der Künste, Bern: Benteli Verlag 1987; Dick Higgins: Horizons. The Poetics and Theory of the Intermedia, Carbondale/Illinois: Southern Illinois University Press 1984.
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die Kapitulation vor dem Spektakel zu werden drohten. Doch die Wertung ist ganz anders. Die damals häufig formulierte Vorstellung, die Spaltung zwischen ›Kunst‹ und ›Leben‹ durch die intermedialen Kunstformen aufheben zu können, wird positiv bewertet. In gewisser Weise steht diese Strömung in der Tradition Wagners und seiner Zürcher Schriften: mithin also in der genealogischen Linie des Gesamtkunstwerks. Diese Linie darf aber nicht einfach mit der oben skizzierten Linie der intermedialen Installation gleichgesetzt werden, denn es handelt sich um einen anders pointierten Diskurs,29 für welchen mindestens zwei Momente charakteristisch sind: a. Die Verurteilung der ›Monomedien‹ als Form gesellschaftlicher und ästhetischer Entfremdung; b. damit verbunden ein revolutionär-utopischer Gestus, der in der Überwindung der ›Monomedien‹ (zumindest die Vorstufe) eine(r) gesellschaftliche(n) Befreiung von der kapitalistischen Arbeitsteilung sieht.30 Higgins fordert von avantgardistischer Kunst, dass sie »holistische mentale Erfahrungen«31 vermitteln solle. Er begreift diesen Prozess als eine Form kathartischer Grenzerfahrung, durch die die konventionalisierten Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster des so genannten ›alltäglichen Lebens‹ verändert und bereichert werden. Das Potenzial derartiger ›fusions‹ sieht er insbesondere in den ›new arts‹ – damit ist vornehmlich Fluxus gemeint – angelegt: »[A]nother characteristic of many of them is that they are intermedial, that is, they fall conceptually between established or traditional media.«32 Da diese Fusionierung neu ist, wird sie als lustvolle, erfrischende und erneuernde Verschiebung der eigenen Horizonte erfahren – bis erneut die ›Automatisierung‹ (im Sinne Sklovskijs) greift und die neuen Intermedia »with familiarity« ihren verfremdenden (»defamiliarizing«) Effekt verlieren: »[B]ut we should look to intermedial works for the new possibilities of fusion, which they afford.«33 Oder wie 1964 McLuhan formulierte: »Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen.«34 Für Higgins bedeutet Interme29. Vgl. J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 104. 30. Die von mir andernorts diskutierte Problematik der Abgrenzung der ›intermedia‹ von den ›mixed media‹ sei hier ausgeklammert. 31. D. Higgins: Horizons, S. 1. 32. Ebd., S. 15 (Hervorhebung J.S.). 33. Ebd., S. 17. 34. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle/Understanding Media, Dresden: Verlag der Kunst 1994 (1964), S. 95.
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dialität gerade die Durchbrechung habitualisierter (und mithin auch kommerziell anschlussfähiger) Wahrnehmungsformen – und keineswegs ihre Verdoppelung, wie es Krauss sieht. Diese Überzeugung verbindet ihn mit Autoren wie Kultermann und Frank. Higgins versucht seine Position historisch zu begründen: »The concept of the separation between media arose in the Renaissance.«35 Er beschreibt die Renaissance als eine gesellschaftliche Phase, in der die gesellschaftliche Aufspaltung in verschiedene Stände die Purifizierung von Medien begünstigte. Frank präzisiert diesen Punkt, indem er argumentiert, dass die Errichtungen von Kunstakademien im Frankreich des 17. Jahrhunderts »jene Entwicklung der Trennung der Künste«36 kennzeichnet. Demzufolge ist die im 20. Jahrhundert einsetzende Tendenz zum Intermedialen mehr eine ›Wieder-Vereinigung‹ als ein ganz neuartiger Prozess. Sowohl Frank als auch Higgins sehen in ähnlichen gesellschaftlichen Verschiebungen den Grund für diese Entwicklung. Während laut Frank »das Zeitalter der Spezialisierung« seinen Einfluss verliert und die »Gleichzeitigkeit«37 unser Jahrhundert präge, bemerkt Higgins: »We are approaching the dawn of a classless society, to which separation into rigid categories is absolutely irrelevant.«38 Die Überwindung der Arbeitsteilung, Spezialisierung in rigiden Kategorien, in der klassenlosen Gesellschaft ist eine der Ideen des in den 1960er Jahren relativ starken traditionellen39 Marxismus, der die Arbeitsteilung als abzuschaffende ›Entfremdung‹ verstand. 40 Die Intermedien erscheinen so gesehen als die Vorwegnahme jener Überwindung im Bereich des Künstlerischen, als konkret gewordene Utopie. 41 Ähnlich wie 35. D. Higgins: Horizons, S. 18. 36. P. Frank: Intermedia, S. 6. 37. Ebd., S. 4. In McLuhans in den 1960ern populärem mediengeschichtlichen Modell ist eine Tendenz angelegt, die zu dem in 2) skizzierten politischen Verständnis von Intermedialität passt. Seine Mediengeschichte ist nämlich auch zunächst eine Verfallsgeschichte – die Schrift spaltet und zerteilt die Welt, ähnlich den Spaltungen und Zerteilungen der Arbeitsteilungen – bis schließlich die neue Welt der Elektrizität zu einem neuen Holismus führt, vgl. Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg: Boer 1997, S. 54-80. 38. D. Higgins: Horizons, S. 18. 39. ›Traditionell‹ in Differenz zu den heute vieldiskutierten ›post-operaistischen‹ und ›wert(abspaltungs)kritischen‹ Tendenzen, s.u. 40. Vgl. aus der umfangreichen Literatur nur: Friedrich Tomberg: »Der Begriff der Entfremdung in den ›Grundrissen‹ von Karl Marx«, in: ders., Basis und Überbau. Sozialphilosophische Studien, Neuwied: Luchterhand 1969, S. 131181. 41. Vgl. kritisch zu solchen Ansprüchen Thierry de Duve: »Die kritische Funk-
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in teleologischen Lesarten der Marxschen Theorie, nach denen die kommunistische Gesellschaft (›classless society‹) die Wiederkehr der Urgesellschaft auf höherer Ebene ist, taucht die verlorene ursprüngliche Einheit der Medien mit jener Gesellschaft wieder auf. In dieser Hinsicht knüpft dieser Diskurs an jenen des ›Gesamtkunstwerks‹ an. Eine von Wagners programmatischen ästhetischen Schriften heißt Die Kunst und die Revolution. Dort spricht Wagner von der ›großen Menschheitsrevolution‹, die einen neuen Gesellschaftszustand hervorbringen soll, welcher an die griechische Antike und ihr ›Gesamtkunstwerk der Tragödie‹ anschließt. 42 Weiterhin heißt es zu Wagner: »Die Vereinzelung und Autonomisierung der Künste entspricht dem modernen gesellschaftlichen ›Egoismus‹ wie ihre Einheit dem ›Kommunismus‹ als dem an der griechischen Polis orientierten und dem Kunstwerk der Zukunft vorgeschriebenen gesellschaftlichen Ideal.«43 Wagner schreibt selbst über die Auflösung des »athenischen Staats«: »Wie sich der Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte, löste sich auch das große Gesamtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandteile auf. […] Das Drama löste sich in seine Bestandteile auf: Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik usw. verließen den Reigen, in dem sie vereint sich bewegt hatten, um nun jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbstständig, aber einsam, egoistisch fortzubilden.«44 tion der Kunst und das Projekt der Emanzipation«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kunst – Fortschritt – Geschichte, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2006, S. 21-39. 42. Vgl. Richard Wagner: »Die Kunst und die Revolution«, in: ders., Die Kunst und die Revolution. Das Judentum in der Musik. Was ist deutsch?, hg. v. Tibor Kneif, München: Rogner und Bernhard 1975, S. 7-50. Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee, Dichtung, Wirkung, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1982, S. 63-74. 43. D. Borchmeyer: Theater, S. 69. Obwohl Wagner Marx wohl kannte, darf die begriffliche Nähe nicht dazu verführen, in Wagner einen Marxisten zu sehen. Sein Kommunismus war eher am Vorbild der griechischen Polis orientiert und sein Antikapitalismus (vgl. R. Wagner: »Die Kunst«, S. 33: »[U]nser Gott aber ist das Geld, unsere Religion der Gelderwerb«) trägt oft antisemitische Züge: Wagner bekommt nicht die systemischen Probleme kapitalistischer Vergesellschaftung in den Blick, sondern halluziniert die ›Juden‹ als Urheber dieser. Zur Politik des Gesamtkunstwerks vgl. Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerkes. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a.M.: Fischer 1994. 44. R. Wagner: »Die Kunst«, S. 14 und 34.
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Die von Higgins immer wieder beschworene Metapher der Fusion gewinnt – so betrachtet – noch eine andere Komponente: Sie konnotiert auch die Wieder-Vereinigung des durch Spezialisierung und Lohnarbeit von sich und seiner Arbeit entfremdeten Individuums mit seinen (bisher) verkümmerten Möglichkeiten. Das »wunderbar natürliche […] Ineinandergreifen von menschlichem Individuum und Umwelt«45 kann so als Telos intermedial arbeitender Künstler(gruppen) bestimmt werden. Konsequenterweise kann Higgins somit den ›puren‹ Medien, insbesondere der Malerei vorwerfen, ›ornamentale Objekte für die Wände der Reichen‹46 zu sein. Nachdem er sich spöttisch über die Kommerzialisierung und Vermarktung von Kunst in Galerien ausgelassen hat, folgert er: »It is absolutely natural to (and inevitable in) the concept of the pure medium, the painting or precious object of any kind. That is the way such objects are marketed since that is the world to which they relate.« 47 Hier zeigt sich, dass Higgins das Konzept des ›pure medium‹ unmittelbar verbunden sieht mit der Welt, die Kunst in die Warenzirkulation einschließt – die arbeitsteilige Welt des Kapitalismus. Offenkundig ist kaum ein größerer Kontrast zu der in 1) skizzierten Position vorstellbar. Hier in 2) führen die Prozesse der ›Reinigung‹, die in der Regel notwendig sind, um ein Exempel eines ›pure medium‹ zu generieren, 48 gerade nicht zu einem Feld, welches von jenem des Kapitals abgegrenzt wäre, sondern dieser Prozess ist gerade umgekehrt Mimikry an die kapitalistische Arbeitsteilung. Die dagegengesetzte Aufhebung der Differenz zwischen ›Kunst‹ und ›Leben‹ ist in Bezug auf die Kunstströmungen von Happening und Fluxus, denen auch Higgins’ eigene künstlerische Arbeit zugehört, geradezu ein Klischee. Higgins führt in diesem Zusammenhang eine intensive Kritik der proszenischen Bühne durch, 49 die für ihn symptomatisch eine verschwindende Sozialordnung repräsentiert und ebenso wie Kultermann die Trennungen zwischen Werk und Publikum als »der bürgerlichen Gesellschaft angehörige […] Rituale«50 betrachtet. Schon Wagner stellte dem Gegenüber von Zuschauer und Bühnenraum das Amphitheater entgegen, da es eine Fusion von Künstlern und Rezipienten ermögliche: »In der vom Amphitheater fast vollständig umgebenen antiken Orchestra stand der tra45. J. Yalkut: »Understanding Intermedia«, S. 94. 46. Vgl. D. Higgins: Horizons, S. 18. 47. Ebd., S. 19. 48. Vgl. Jens Schröter: »Das ur-intermediale Netzwerk und die (Neu-)Erfindung des Mediums im (digitalen) Modernismus. Ein Versuch«, in: J. Paech/J. Schröter: Intermedialität Analog/Digital, S. 579-601, hier S. 595. 49. D. Higgins: Horizons, S. 20/21. 50. U. Kultermann: Leben und Kunst, S. 101.
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gische Chor wie im Herzen des Publikums.«51 Eine intermediale Inszenierung in diesem Sinne müsste also die Grenzen zwischen Künstler und Publikum, Kunst und Leben auflösen. Demzufolge ist es nur konsequent, wenn Higgins sogar Duchamps Ready-mades für intermedial hält:52 »The ready-made or found object, in a sense an intermedium since it was not intended to conform to the pure medium, usually suggests this, and therefore suggests a location in the field between the general area of art media and those of life media.«53 Das Ready-made oder die Skulpturen Oldenburgs erscheinen also als intermedial, weil ein Gegenstand aus dem alltäglichen Leben, ein life medium, in die ›general area‹ der Kunst überführt, gleichsam Kunst und Leben, High und Low – die bei Greenberg und Krauss unbedingt voneinander abgesetzt werden müssen (s.u.) – ineinander verschränkt werden. Der Begriff der life media verlangt nach Erklärung. Da Higgins in diesem 1965 erschienenen Aufsatz, in Zusammenhang mit Arbeiten von Claes Oldenburg, Schuhe offenbar als Medium betrachtet, suggeriert diese Passage eine konzeptionelle Nähe zu dem schon genannten, 1964 erschienenen und schnell berühmt gewordenen Buch Understanding Media von Marshall McLuhan. Es ist sicher kein Zufall, dass Jud Yalkut (ebenfalls ein Fluxus-Künstler der 60er Jahre) sein Manifest Understanding Intermedia genannt hat.54 McLuhan betrachtet alle Medien als Ausweitungen des Menschen, und deswegen kann bei ihm auch die Kleidung – die ›erweiterte Haut‹ – als Medium begriffen werden.55 D.h. im verfremdenden Zugriff auf die ›life media‹ durch die ›art media‹ werden Erstere zu ästhetischen Formen überhöht, die die Grenze zwischen ›art media‹ und ›life media‹ generell in Frage stellen. Erneut wird die Differenz zu der in 1) dargestellten Kritik deutlich. Intermedialität bezieht sich hier auf einen sehr weiten Medienbegriff, der potenziell jeden Gegenstand umfassen kann und damit in der Tradition Duchamps steht – eine Tradition, die Clement Greenberg gerade zurückweisen musste, um seinen Medienbegriff (weitgehend) auf die traditionell ›Gattungen‹ genannten Medien der Kunst einzuengen.56 Festzuhalten 51. R. Wagner, zitiert in Borchmeyer: Theater, S. 64. Der Satz ist korrekt
zitiert. 52. Zu Duchamp bemerkt P. Frank: Intermedia, S. 13: »Duchamps Ästhetik der ›infra-mince‹ betonte die Kluft zwischen Kunst und Leben, um gleichzeitig ihre Nähe zu demonstrieren und zu bekräftigen.« 53. D. Higgins: Horizons, S. 20 (Hervorhebung J.S.). 54. Vgl. J. Yalkut: Intermedia. 55. M. McLuhan: Magische Kanäle, S. 15 und 186-190. 56. Vgl. Clement Greenberg: »Gegen-Avantgarde« (1971), in: ders., Die Essenz der Moderne, S. 385-408, hier S. 398-400. Zu Duchamps Dekonstruktion
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bleibt, dass Intermedialität in der in 2) skizzierten Position gerade Vorschein der Überwindungen jener Spaltungen ist, zu denen kapitalistische Vergesellschaftung die Individuen zwingt.
3. Politiken der Intermedialität Der vorliegende Aufsatz versucht zu zeigen, dass der Begriff der ›Intermedialität‹ immer schon politische Dimensionen (und damit normative Implikationen) hat. Dabei gibt es mindestens zwei Varianten: 1. Intermedialität ist ›schlecht‹: Intermediale Inszenierungen in der Kunst können sich nicht mehr durch mediale Selbstreflexion ›spezifisch‹ abgrenzen, wenn sie qua Intermedialität gar kein Medium mehr zu benennen in der Lage sind, dessen Reflexion sie von den reflexionsfreien Inszenierungen des kapitalistischen Spektakels, das bloß auf unspezifische Effekte im Dienste der Reproduktion des abstrakten Geldes zielt, unterscheiden soll. Hier hilft dann nur noch Krauss’ Appell an Künstlerinnen und Künstler, ein ›Medium zu erfinden‹, wobei kommerziell korrumpierte Verfahren nach ihrer technologischen Obsoleszenz zu neuen Quellen von projektiven wie mnemonischen Formbildungen werden sollen. 2. Intermedialität ist ›gut‹, insofern es darum geht, die qua kapitalistischer Arbeitsteilung als je spezifische Felder definierten – gereinigten – ›Monomedien‹ (wiederzu-)vereinigen. Die Monomedien reproduzieren gerade in ihrer ›Spezifik‹ die Arbeitsteilung, die es in post-kapitalistischen Gesellschaften zu überwinden gilt. Die intermedialen – und performativen – Inszenierungen nehmen eine gesellschaftliche Ordnung modellhaft vorweg, in der die Arbeitsteilung aufgehoben ist. Hier hilft dann nur noch der Appell an Künstlerinnen und Künstler, die Spaltung von Kunst und Leben zu überwinden, damit anschließend diese exemplarische Aufhebung der Arbeitsteilung (wie auch immer) auf die Gesellschaft übertragen werden kann. Nun schließt sich an diese Beobachtungen zunächst eine Frage an: Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Wertungen? Zunächst kann man darauf verweisen, dass es in der Geschichte der Moderne immer schon zwei Strömungen gegeben hat, die Lütticken ›Laokoonismus‹ und das ›Gesamtkunstwerk‹ genannt hat.57 Erstere plädieren für die Nutzung der ›Speder traditionellen Kunst-Medien am Beispiel der Farbtube siehe auch T. de Duve: Kant nach Duchamp, S. 133-192. Zu ›Medium‹ und ›Gattung‹ in der Nachfolge Greenbergs bei Krauss vgl. J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 89. 57. Vgl. S. Lütticken: »Undead Media«, S. 12. Mir scheint, dass diese beiden Linien nicht identisch sind mit den Linien des ›Spezifischen‹ und ›Generischen‹, die de Duve: Kant nach Duchamp, Teil II in der Moderne unterscheidet, wiewohl
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zifi k‹ in der Kunst (in Anlehnung an Lessings Laokoon), Letztere für die Kombination der Künste. Das ist richtig, beantwortet aber die Frage nicht wirklich, da das Plädoyer für Spezifik vs. Gesamtkunstwerk ja dezidiert mit Fragen der gesellschaftlichen Struktur, näherhin nach ihrer kapitalistischen Verfasstheit verbunden ist. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Frage, ob Spezifi k oder Intermedialität zu bevorzugen seien, davon abhängt, was man an kapitalistischer Vergesellschaftung vorrangig für problematisch hält. Die hier in 1) skizzierte Position setzt sich vor allem von dem ab, was Rosalind Krauss ›Gedankenkontrolle‹ oder manchmal das ›Spektakel‹ nennt. Die Kritik zielt also vor allem auf das, was man (in einem eher traditionellen Verständnis) ›ideologischer Überbau‹ genannt hätte. Die Wurzeln dafür liegen wieder klar bei Clement Greenberg, der 1939 in seinem einflussreichen Aufsatz »Avantgarde und Kitsch« eben den ›Kitsch‹ als negative Kontrastfolie benannt hatte. ›Kitsch‹ ist schon in diesem frühen Text dezidiert als intermedial gekennzeichnet: Er ist verbunden mit »Vierfarbendrucken, Zeitschriftentitelbildern, Illustrationen, Werbeanzeigen, Groschenromanen, Comics, Schlagermusik, Steptanz, Hollywood-Filmen etc. etc.«58 Der Kitsch hat laut Greenberg die Funktion, den »städtischen Massen […] eine für ihren Bedarf geeignete Art von Kultur zu bieten«, um ihnen »Zerstreuung«59 zu ermöglichen. Intermedialer ›Kitsch‹ hat also eine ideologische Beruhigungs- und Kontrollfunktion – eben ›Gedankenkontrolle‹, wie Krauss sich später ausdrücken wird.60 Demgegenüber wendet sich der Künstler »vom Gegenstand der allgemeinen Erfahrung« ab und konzentriert sich auf das »Medium seines eigenen Metiers«.61 Und zu einer Zeit, als die Selbstbezeichnung revolutionärer Arbeiterparteien als ›Avantgarde‹ noch nicht so verdächtig war wie heute, endet Greenberg mit einer Berufung auf Marx: Krauss diese 2x2-Linien engzuführen scheint. Soweit ich sehen kann, ist die Aufgabe, diese beiden Unterscheidungen systematisch wie historisch aufeinander zu beziehen, noch nicht geleistet. 58. Clement Greenberg: »Avantgarde und Kitsch« (1939), in: ders., Die Essenz der Moderne, S. 29-55, hier S. 38. 59. Ebd., S. 39/40. Die Anklänge an Benjamin hier wären eigens zu diskutieren. 60. Offenkundig thematisiert Greenberg damit einen Befund, den fast zeitgleich und auf ähnliche Weise Adorno und Horkheimer in ihrer berühmten Beschreibung der Kulturindustrie thematisiert haben. Vgl. Gregor Schwering: »Kulturindustrie«, in: Jens Schröter/Gregor Schwering/Urs Stäheli (Hg.), Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript 2006, S. 357-366. 61. C. Greenberg: »Avantgarde und Kitsch«, S. 34.
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»Hier, wie in allen Fragen, ist es heute vonnöten, sich Wort für Wort auf Marx zu berufen. Heute erhoffen wir vom Sozialismus nicht mehr eine neue Kultur – die unvermeidlich kommen wird, sobald wir den Sozialismus haben. Heute blicken wir auf den Sozialismus in der bloßen Hoffnung, daß erhalten bleibt, was wir an lebendiger Kultur derzeit noch besitzen.«62
Dass Greenberg 1939 auf einen kommenden Sozialismus hoff t, macht seine (zu dieser Zeit) trotzkistische Ausrichtung deutlich, wurde die damals hochstalinistische UdSSR doch von den Trotzkisten nicht als sozialistisch, sondern vielmehr als ›bürokratisch degeneriert‹ interpretiert – überdies war Trotzki den künstlerischen Avantgarden gegenüber aufgeschlossener als die kleinkarierten Stalinisten.63 Die künstlerische Avantgarde hat – ähnlich wie die politische Avantgarde in diesem Sinne – die Aufgabe, den ideologischen – und intermedialen – Manipulationen des ›Kitsches‹ und seiner ›Gedankenkontrolle‹ zu widerstehen, um die Kultur zu retten und darauf auf bauend eine neue zu entwickeln.64 Beide Avantgarden werden damit zum Vorschein einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Menschen ihre gesellschaftlichen Beziehungen bewusst gestalten können (auch wenn diese Emphase in der heutigen Position von Rosalind Krauss höchstens noch implizit zu finden ist). Die hier in 2) skizzierte Position schließt an einen anderen Befund an – sie leitet sich letztlich von Wagner her, der im 19. Jahrhundert die »Industrie«65 und die mit ihr einhergehende Arbeitsteilung problematisiert. Ebenso wird in dieser Position an die vor allem beim frühen Marx66 anzutreffende Kritik an der ›Entfremdung‹ angeschlossen. Dieses Konzept hat eine lange und komplizierte Geschichte, auch bei Marx, die hier nicht referiert werden kann und soll.67 In der ›Intermedia‹-Diskussion der 1960er Jahre wird der Begriff offensichtlich so verstanden, dass die ›Spezialisierung‹ in einzelne Künste ein Vorgang ist, der verglichen werden kann mit 62. Ebd., S. 55. Vgl. T.J. Clark: »More on the Differences between Comrade Greenberg and Ourselves«, in: Benjamin H.D. Buchloh/Serge Guilbaut/David Solkin (Hg.), Modernism and Modernity. The Vancouver Conference Papers, Halifax: The Press of the Nova Scotia College of Art and Design 2004, S. 169-187. 63. Vgl. Ernest Mandel: Trotzki als Alternative, Berlin: Dietz Verlag 1992. 64. Vgl. erneut T. de Duve: »Die kritische Funktion der Kunst«. 65. R. Wagner: »Die Kunst«, S. 21. 66. Hier sind vor allem die »Ökonomisch-philosophische[n] Manuskripte aus dem Jahre 1844«, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 40, Berlin: Dietz Verlag, 1968, S. 465-590 (insbes. S. 510ff.) zu nennen. 67. Vgl. István Mészáros: Der Entfremdungsbegriff bei Marx, München: List 1973.
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der Kritik daran, dass Menschen ihren Arbeitsprozessen und den daraus hervorgehenden Produkten als fremd gegenübertreten. Die Rezeption dieses Konzepts variierte von sehr schlichten Formen – ›Fabrikarbeiter haben immer nur einzelne Schritte der Produktion im Blick‹ – bis zu elaborierten Konstrukten, die bereits der Fetischkritik bei Marx ähneln und wo es um das allgemeinere Phänomen geht, dass in kapitalistischen Gesellschaften der gesellschaftliche Zusammenhang den Menschen als etwas Fremdes und Äußerliches gegenübertritt. Auch Adorno hat das ›Gesamtkunstwerk‹ Wagnerscher Prägung als Versuch der Überwindung des »Prinzips der Arbeitsteilung, das nicht nur die Menschen voneinander trennt, sondern jeden Einzelnen in sich nochmals zerlegt« beschrieben – aber eben daher kritisiert, da es ein romantisch-illusionärer Versuch sei, in vormoderne Strukturen zurückzuspringen und so in der »Form der falschen Identität« verharre. Es kann sich so nur ein »äußerliches Additionsprinzip disparater Verfahrungsweisen« ergeben.68 Beide Positionen problematisieren unterschiedliche Aspekte an der kapitalistischen Moderne und leiten daraus verschiedene Positionen zur ›Intermedialität‹ ab. Die abschließende Frage müsste also sein, was man denn heute – Anfang 2009, gerade stecken wir in einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise, das Problem kapitalistischer Vergesellschaftung bleibt also virulent, um nicht zu sagen akut – als besonders ›problematisch‹ an kapitalistischer Vergesellschaftung ansieht69 und welche Stellungnahme zur Intermedialität daraus folgt. Gibt es heute eine avancierte Perspektive, um zu verstehen, was ›Kapitalismus‹ ist – ein Begriff, der einerseits immer noch ständig verwendet wird, andererseits seit 1989/1990 merkwürdig leer anmutet? Ja, es gibt eine ganze Reihe von verschiedenen Ansätzen, die versuchen, an die Marxschen Analysen anzuknüpfen und für ein Verständnis des Kapitalismus im 21. Jahrhundert fruchtbar zu machen. Zu nennen wären vor allem der Post-Operaismus, sehr bekannt geworden durch das Buch Empire70, 68. Theodor W. Adorno: »Versuch über Wagner«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 13: Die musikalischen Monographien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 7-148, hier S. 99. 69. Natürlich kann man sich immer auf die Seite der Anpassung und Affirmation stellen und sagen, dass nichts problematisch sei. Doch abgesehen davon, dass eine solche Position offenkundig mit den Gegebenheiten nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist, verdrängte sie die schlichte Beobachtung, dass der Diskurs der Intermedialität historisch allzu oft mit solchen Problematisierungen verbunden war. 70. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2000. Vgl. Martin Birkner/Robert Foltin: (Post-)Operaismus.
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und ein stark binnendifferenziertes Feld, welches man am besten mit dem Überbegriff ›Wertkritik‹ (oder in manchen Formen auch: ›Wertabspaltungskritik‹) umreißen kann.71 Hier ist nicht der Platz, beide Ansätze oder gar ihre Binnendifferenzierungen systematisch wie historisch zu entwickeln. Aber es wäre eine lohnende Aufgabe, diese beiden Felder daraufhin zu befragen, welches Verständnis oder welche Kritik von Intermedialität aus ihnen abzuleiten wäre. Der vorliegende Beitrag sollte zunächst nur zeigen, dass diese Fragestellung historisch existiert hat – und heute noch möglich und nötig ist.
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Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis, Stuttgart: Schmetterling 2006. 71. Vgl. als luzide Einführung in eine bestimmte Variante der Wertkritik Anselm Jappe: Die Abenteuer der Ware. Für eine neue Wertkritik, Münster: Unrast 2005. Vgl. für eine etwas anders gelagerte Perspektive Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart: Schmetterling 2005.
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Halifax: The Press of the Nova Scotia College of Art and Design 2004, S. 169-187. Clark, T.J.: »Arguments about Modernism: A Reply to Michael Fried«, in: Francis Frascina (Hg.), Pollock and After. The Critical Debate, New York: Harper & Row 1985, S. 81-88. de Duve, Thierry: »Die kritische Funktion der Kunst und das Projekt der Emanzipation«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kunst – Fortschritt – Geschichte, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2006, S. 2139. de Duve, Thierry: Kant nach Duchamp, München: Klaus Boer 1993. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat 1996. Eichel, Christine: Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste. Perspektiven einer interdisziplinären Ästhetik im Spätwerk Theodor W. Adornos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Foster, Hal: »Das Archiv ohne Museen«, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 428-457. Frank, Peter: Intermedia. Die Verschmelzung der Künste, Bern: Benteli Verlag 1987. Fried, Michael: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst 1995, S. 334-374. Greenberg, Clement: »Intermedia« (1981), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 446-455. Greenberg, Clement: »Gegen-Avantgarde« (1971), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 385-408. Greenberg, Clement: »Modernistische Malerei« (1960), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 265-278. Greenberg, Clement: »Avantgarde und Kitsch« (1939), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 29-55. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2000. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart: Schmetterling 2005. Higgins, Dick: Horizons. The Poetics and Theory of the Intermedia, Carbondale/Illinois: Southern Illinois University Press 1984.
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Inframedialität – Per formation als Transformation Michael Wetzel
Jedermann kennt das Möbius-Band, eine paradoxe Figur, die es uns erlaubt, von der einen Seite einer Oberfläche auf deren Rückseite zu gelangen, ohne einen Sprung, Schnitt oder Wechsel vollziehen zu müssen. Aber wer kennt die Klein’sche Flasche (vgl. Abb. 1)? Es geht auch bei ihr um ein kompliziertes topologisches Problem der Umstülpung von Oberflächen, der Torsion eines Torus, welche die Geometrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu faszinieren begann und die auch die Künstler in ihrer Raumerfahrung in den Bann schlug. Aber kann man auch Theorien umstülpen? Darauf versucht die Idee der Infra-Medialität eine Antwort zu geben. Abbildung 1: Schematische Darstellung der Klein’schen Flasche und des Möbius-Bandes
Der Neologismus Inframedialität ist gebildet aus dem Begriff Intermedialität als Verweis eines Einzelmediums auf ein anderes oder Passage zwischen verschiedenen Medien und aus dem Konzept des »inframince« bei 83
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Marcel Duchamp, das eine hauchdünne Differenz zwischen einer Gegebenheit und ihrer Wiederholung, ihrer potenziellen Variation oder ihrem Gegensatz bezeichnet. Duchamp hat dieses Konzept der hauchdünnen Differenz über Jahre in einer Reihe von Notizen entwickelt, die aber erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden.1 Das Präfi x »infra-« bezieht sich dabei ebenso auf das physikalische Modell einer impliziten, aber unmerklichen und nicht-wahrnehmbaren thermischen Strahlung (die z.B. als Infrarot apparativ nachgewiesen werden kann) wie auf die geometrische Komplikation einer topologischen Binnenstruktur oder Verwindung, wird aber z.B. im Französischen auch für die interne Verweisung in einem Textkorpus (»weiter unten«) gebraucht. Das Epitheton »mince« (dünn, schmal, winzig, gering) schließt an die mathematischen Erkenntnisse infinitesimaler Bestimmung von Intervallen zwischen Zahlen an, die eine höhere »Mächtigkeit« (im Sinne Cantors) der Mengen und die Möglichkeit eines Unendlichkleinen offenbaren, und markiert zugleich eine Wahrnehmungsschwelle nanophysischer Mikrowelten. In diesem Sinne ist der historische Einsatzort dieses Denkens einer paradoxen Zwischenwelt die Grundlagenkrise der Euklid’schen Geometrie im 19. Jahrhundert, die mit der Formulierung des Riemann’schen Raumes einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit den Weg bahnte für die Relativitätstheorie Einsteins. Populär sind solche topologischen Paradoxa wie das Möbius-Band oder die aus der Torsion eines Torus sich ergebende invertierte Flasche von Felix Klein, alles Beispiele der Faltung und Umstülpung von Oberflächen, bei denen die Ordnung von Oben und Unten, Innen und Außen, aber auch von Aus- und Abdruck, Form und Abguss aufgehoben wird. Wendet man nun diese Figur der Umkehrung, Umstülpung oder Invagination auf das Thema der Inframedialität an, so ergibt sich eine Fragestellung, die das intermediale Dazwischen-Sein der Medialität im Bezug eines Einzelmediums auf ein anderes in ein transzendentales Verhältnis der Bedingung der Möglichkeit verwandelt. Ein typisches Beispiel für Intermedialität wie etwa der Bezug auf Photographie bzw. das Zitieren des Mediums Photographie im Medium Film würde dann die Frage danach stellen, wie schon im Medium der Photographie fi lmische Elemente latent angelegt, enthalten sind. Der intermediale Außenbezug wird so in den internen Konstitutionsprozess der Medien selbst als Bedingung verlagert, der im autoreferenziellen Markieren eines Selbst- oder Eigen-Begriffs schon auf den Niederschlag des Bezugs zum Anderen als Aneignung stößt: sozusagen ein im Innern eingeschlossenes, antizipiertes Außen. Das Phänomen der nicht-logischen Differenz eines Hauchdünnen oder einer unterschwelligen Kippfigur mit seiner Verschränkung von Doppelung und 1. Vgl. Marcel Duchamp: Notes, Paris: Flammarion 1999.
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Separation verweist genau auf diese virtuellen Einschlüsse und vor allem die Stratifi kationen und Latenzen ihrer Implikationen, und so stellt sich zunächst einmal ganz grundsätzlich für eine inframediale Perspektive auf Mediengeschichte die Frage danach, inwieweit die interne Infrastruktur medialer Konfigurationen – die im genannten Sinne immer auch eine Tiefenstruktur ist – den Bezug auf andere präfiguriert und nicht zuletzt pluralisiert bzw. diversifiziert. Georges Perec hat sich der Figur des »infra« bereits 1973 bedient, um mit dem Topos des »infra-ordinaire« auf die unmerklichen, verschwindend geringen und unscheinbaren Verschiebungen hinzuweisen, die er dem »extra-ordinaire« gegenüberstellt.2 Gegen das Spektakuläre, Außergewöhnliche, Ereignishafte und »Chockhafte« fordert er eine Aufmerksamkeit für die nahezu unsichtbaren Veränderungen oder Wandlungen des Gewöhnlichen, Alltäglichen, die nicht Gegenstand der Nachrichten, der Erlebnisse im Sinne Benjamins sind. Paul Virilio hat 1980 in seiner Ésthetique de la disparition diese Idee wiederaufgegriffen und auf den Banalitätseffekt der Malerei Magrittes angewandt, die ebenfalls die vertrauten Dinge durch eine leichte Verschiebung oder Umgestaltung zu etwas Anderem, Unheimlichen werden lässt, indem sie das »Infra-Gewöhnliche« zum Vorschein bringt.3 In diesem Sinne will auch der Ansatz der Inframedialität den Blick schärfen für die minimalen Verschiebungen oder Umgestaltungen (Transformationen) der Medien in ihrer technisch-apparativen wie ›medien-aisthetischen‹ Entwicklung und nicht Schwellen/Brüche der Geschichte, sondern Berührungen, Metamorphosen, Passagen und Fugen markieren. Die im Begriff »infra« enthaltene Idee impliziert also eine gewisse Metastabilität, ein Gleiten oder Changieren, das mit einer veränderten Einstellung zur Vorstellung von Zeit zu tun hat. Zeit wird nicht mehr als linearer Fortschritt gedacht, sondern als spiralförmige Bewegung des In-sich-Zurückkehrens und Aus-sich-Herausgehens einer Entwicklung, die niemals abgeschlossen ist. Dabei wird vor allem eins für unseren Kontext deutlich, dass nämlich Medien nichts Fertiges, keine vollendeten Tatsachen (faits accomplis) sind oder einer seriellen Gleichförmigkeit technischer Reproduktion (tout fait) gehorchen, sondern als experimentelle Anordnungen hinsichtlich des Aspekts der Innovation, des kreativen oder schöpferischen Werdens nach Maß (à mésure) operieren, indem sie als szientifische Gebilde durchaus mit artifizieller Wissenschaft und Kunst übereinstimmen. Derjenige, der diesen Gegensatz als erster aufs schärfste herausgearbeitet hat und dessen Begriffe im französischen Original bereits anklangen, war Henri Bergson, der neben Henri Poincaré zuerst auf die epistemologischen 2. Vgl. Georges Perec: L’infra-ordinaire, Paris: Editions du Seuil 1989. 3. Vgl. Paul Virilio: Ésthetique de la disparition, Paris: Balland 1980, S. 37.
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Umbrüche der naturwissenschaftlichen Grundlagenkrisen mit philosophischen/meta-physischen Konsequenzen reagiert hat. Der Gegensatz von »tout fait« und »à mésure«4, der sich seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich als Gegensatz von massenhafter Konfektionsware und individuell angefertigter Qualitätsware eingebürgert hat, dient ihm zu einer temporalontologischen Vertiefung, die im Wesentlichen auf einen fundamentalen Angriff auf die positiven Wissenschaften hinausläuft. Sie sind laut Bergson unfähig, Zeit als Zeit, d.h. als fortlaufendes Werden zu denken, sondern reduzieren sie immer wieder auf schablonenhafte Fertigteile eines chronologischen Mechanismus. Zeit, die Bergson in ihrer Kontinuität als »Dauer« benennt, ist aber nicht mit gleich bleibendem Sein zu verwechseln, sondern schließt Veränderung ein, ist ein ständiger Fluss des Werdens mit unmerklichen Übergängen, Passagen, Mutationen, ohne markierte Grenzen oder extensive Räumlichkeiten.5 Entweder habe man geglaubt, »sich in das Zeitlose erheben« zu müssen, oder man habe Zeit verstandesmäßig erfasst, die »gleich Raum ist«.6 Zeit als Zeit denken heißt dann überhaupt, auf ihre Verräumlichung zu verzichten, sie als Grad und nicht als Ausdehnung zu begreifen und in diesem Sinne an die Stelle des »tout fait« das »se fait«7 zu setzen, und so Zeit als Bewegung von Innen her und in ihrer Tendenz des Wechsels, d.h. ihrer mobilen Kontinuität aufzurollen. Daher unterscheidet Bergson genau zwischen Bewegung (»mouvement«) als Folge von Augenblicken (»série de positions«, »moments du temps«, »des instantanés«)8 und Beweglichkeit (»mobilité«), wobei er Letztere mit »fluidité« und »durée« in Verbindung bringt. In dieser Beweglichkeit steckt also der Weg, den es zu bahnen gilt, aber dieses Bahnen bringt den Raum erst hervor und findet ihn nicht schon vor. Im Englischen wird dieser Gegensatz auch an den Begriffen »movement« (Bewegungshandlung) und »motion« (Antrieb) demonstriert. Damit kommt schon ein weiterer Topos Bergsons ins Spiel, nämlich der »élan vital«, der im Kontext der Kreativität des Werdens zum Tragen kommt. Mit ihm wird auch noch einmal deutlich, warum Bergson technische Medien wie die Photographie, die Chronophotographie und schließlich den Film als adäquate Zeitmedien ablehnen und eher in die Ecke der Zenon’schen Paradoxa und ihres Missverständnisses von Bewegung abdrängen musste: Die Projektion des Kinematographen zeige uns auf der Leinwand nur »die unbeweglichen Momentaufnahmen, die im Film nebeneinandergereiht sind«, in Bewegung, »die sich im Apparat vollzieht«9. 4. Vgl. Henri Bergson: La pensée et le mouvant, Paris: PUF 1987, S. 196f. 5. Vgl. Henri Bergson: L’évolution créatrice, Paris: PUF 2003. 6. Vgl. H. Bergson: La pensée, S. 40. 7. Ebd., S. 214. 8. Ebd., S. 7 und 9. 9. Ebd., S. 25.
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Zeit als intensive Zeit des Werdens und nicht als extensive Zeit der Verräumlichung denken, heißt dagegen, in ihr das Potenzial einer schöpferischen Möglichkeit als virtuell mitgegeben anerkennen, ein qualitatives Moment affektiv-affizierender Antrieb-Kraft, das gerade von mechanistischen Modellen nicht nachvollziehbar ist. Mit einer Addition von noch so vielen konfektionellen Zeitschnitten (»arrêts«) lässt sich dieses Potenzial nicht erreichen (Kant hätte hier von Aggregat-Einheit statt System-Einheit gesprochen), es geht vielmehr um die Erweiterung des – übertragen gesprochen – Spielraums der Zeit in eine weitere Dimension, nämlich die 4. Dimension des Nicht-Euklid’schen Raum-Zeit-Kontinuums. Für eine inframediale Perspektive formuliert, geht es also um die Reintegration einer 4. Dimension von medialer Entwicklungsgeschichte als Sichtbarmachung einer fruchtbaren Spannung zwischen dem apparativen Zeit-Schnitt einer hardware (sozusagen als Etablierung einer Technologie) und den impliziten Entwicklungs-Tendenzen einer software als darüber hinaus verweisende Potenzialität oder virtuelle Antizipation eines Andersseins der Materialien, der Apparate, nicht zuletzt aber der Codes von Datenverarbeitung.10 Auf dieser Ebene geht es nicht mehr um die Frage nach der Form, deren Fixierung vielmehr eine retroaktive Arretierung von Entwicklung darstellt, sondern um Per-Formation als ständige Trans-Formation: »Es gibt keine Form, da Form ein Unbewegtes ist, Wirklichkeit aber Bewegung. Real ist einzig die kontinuierliche Formveränderung; Form ist nur eine von einem Sich-Wandeln genommene Momentaufnahme.«11 Bergson gesteht hier zu, mit seinem Gegensatz von Intuition und Analyse bewusst in eine poetisch-künstlerische Sprache überzuwechseln und spricht von der Sprengung der Form als Körperhülle am Beispiel der Chrysalide des verpuppten Schmetterlings: »Détachons, au contraire, l’enveloppe. Réveillons la chrysalide.«12 Ein Unternehmen, das Jacques Derrida 70 Jahre später in seinem Buch La dissémination (Paris 1972) am Beispiel der hymenalen Struktur der »double marque« durchführen wird, indem er, ausgehend von Mallarmé, die paradoxe Doppeldeutigkeit dieser zugleich verhüllenden und durchscheinen lassenden Trennwand entfaltet, deren Durchquerung/ Überschreitung zugleich ihre Bestätigung ist – ähnlich wie bei der Repräsentation von Zeit als Gegenwart.13 10. Vgl. zu dieser Dreiteilung Michael Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei, München: Wilhelm Fink 1997, S. 39ff. 11. Vgl. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Zürich: Coron-Verlag o.J., S. 300. 12. H. Bergson: La pensée, S. 9. 13. Vgl. Jacques Derrida: »La double séance«, in: ders., La dissémination, Paris: Editions du Seuil 1972, S. 215-347, hier S. 124.
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Abbildung 2: Marcel Duchamp, »Akt eine Treppe heruntersteigend«
Marcel Duchamp war mit den philosophischen Entwicklungen des Zeitbegriffs seiner Epoche nicht nur überhaupt als Teilnehmender am kulturellen Prozess der Hauptstadt Paris, sondern auch als Teilnehmender der Diskussionen und Rezeptionen Bergsons durch die kubistischen Kreise seiner Brüder in Puteaux wohl vertraut. Sein frühes und berühmtes Werk »Akt eine Treppe heruntersteigend« (vgl. Abb. 2), das die verschiedenen Momente eines Bewegungsablaufes in der ›unmöglichen‹ Form eines Nebeneinanders (also als Verräumlichung der Zeit) darstellt, kann als direkte Reaktion darauf gelesen werden und zeugt natürlich auch unmittelbar vom Einfluss 88
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der Chronophotographie Mareys. Man kann dabei seine Darstellungsstrategie als anti-bergsonistische Parodie des kubistischen Bewegungs-Vitalismus lesen, wenn man sich auf Duchamps wiederholt deklarierte Abwendung von der futuristischen Bewegungssuggestion oder Delaunays Simultaneität der Bewegung bezieht: »Mon but était la représentation statique du mouvement – une composition statique d’indications statiques des positions diverses prises par une forme en mouvement – sans essayer de créer par la peinture des effets cinématiques.«14 Aber zum einen referiert Duchamp damit nur die Position von Bergson selbst und seine Ablehnung des Kinos als bloße Illusion der Bewegung durch die apparative Addition unbeweglicher Einzelbilder; zum anderen betont er die Nähe zur kubistischen Idee einer »décomposition des formes«, d.h. einer Anerkennung der Temporal-Tatsache, dass ein Werden in aller Konsequenz keine Formen mehr respektieren kann, die selbst wieder retroaktive Stillstellungen von Transformationen sind oder nur als Spuren einer gewesenen, aber nicht sichtbaren Intention fungieren, dass also die radikale Aleatorik des Werdens auf Defiguration hinausläuft und nicht auf die zeitliche Bewegung von doch wieder fi xen Figuren. Ein entscheidender Hinweis zur Überwindung dieser Aporie liegt in der berüchtigten Polemik Duchamps gegen den retinalen Effekt der Malerei, den er beharrlich an Courbet festmacht, um voller Begeisterung über industrielle Produkte wie z.B. Flugzeugpropeller das »Ende« der Malerei zu verkünden.15 Die Konsequenz wäre, dass überhaupt in der Malerei (en peinture) keine Wahrheit der Dinge als durée wiederzugeben ist, sondern in ihr nur tout-fait-Effekte dominieren, die er ins Englische übersetzt als ready-made. Vulgär-deutsch im Jargon gewisser Fußballtrainer hieße dies, dass jede Darstellung »schon fertig hat« bzw. im Sinne von Bruno Latours neuer Etymologie nur Fetische als »Faitiche«, also als Gemachtes produziert;16 der Sprung in die höhere Dimension intensiver Zeitlichkeit aber kann dann nur im Verlassen der Physis in Richtung der Meta-Physis gelingen. Daher Duchamps Appell an die »matière grise«17 intellektueller Anspielungen oder diskursiver Doppeldeutigkeiten, überhaupt die Integration des Kommentars als Werden der Bedeutung in den Prozess des Kunstwerks selbst, um als letztes Ziel einer Revision der Malerei nämlich eines zu erreichen: »remettre la peinture au service de l’esprit«18, wobei daran erinnert sei, dass »esprit« (z.B. im Ausdruck mot d’esprit) auch Witz heißt. 14. Vgl. Marcel Duchamp: Duchamp du signe. Ecrits, Paris: Flammarion 1994, S. 171. 15. Ebd., S. 242. 16. Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 334ff. 17. Vgl. M. Duchamp: Duchamp du signe, S. 183. 18. Ebd., S. 141.
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Dies spielt sich bei Duchamp auf verschiedenen Ebenen ab: den Ready-mades selbst, die als zunächst parodistische Negativbeispiele einer »falschen«, quantifizierenden Zeitvorstellung fungieren, als diese standardisierten Gebrauchsgegenstände einer seriellen Industrieware aber gerade wieder der Anschaulichkeit entzogen werden. So sind viele Ready-mades mit der Aura eines Mythos umgeben, die sie als Sprengung des musealen Raums glorifiziert, obwohl dies als Faktum nicht nachweisbar ist. Oft existieren sie nur als Photos, als nachträgliche Spur, wie das legendäre »Urinoir«, von dem es nur eine Aufnahme durch Stieglitz gibt, um durch ihren Entzug in eine »visuelle Indifferenz«19 Anlass zu einer diskursiv assoziativen Überexistenz (Surrealität) zu bieten, um im mythologischen System (à la Roland Barthes) fetischistische Ansprüche genuin immaterieller Intelligibilität zu bedienen. Des Weiteren wären pseudo-szientifische Experimente Abbildung 3: Marcel Duchamp, »3 stoppages étalon«
19. Ebd., S. 191.
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wie »3 stoppages étalon« (vgl. Abb. 3). zu nennen, die – abgesehen von der Vortäuschung statistischer Genauigkeit der beim Fallen gebildeten Formen der drei angeblich genau 1 Meter langen Fäden (während Molderings anhand der Vernähung der Fäden auf der Rückseite der so genannten »Gemälde« Abbildung 4: Marcel Duchamp, »Das Große Glas«
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ganz andere Längenmaße nachweisen konnte20) – das positivistische Ideal einer Stetigkeit gerade dem Prinzip des Zufalls opfern. Ironisch könnte man fragen, warum es nur 3 stoppages sind, wo doch laut Mallarmé schon »un coup de dé«, also ein einziger Würfelwurf dafür sorgt, dass der Zufall nicht abgeschaff t wird. Demonstriert werden soll die Einsicht Bergsons, dass man mit noch so vielen arrêts/stoppages keine Mobilität erreichen kann. Wieder kippt das Sichtbare der Zuhandenheit in latent vorhandene Referenzen auf Folgen, Wirkungen, Abweichungen etc. um. Und schließlich kommen alle diese Strategien im Opus Magnum, dem »Großen Glas« (vgl. Abb. 4) zusammen, das als gläserner Aufschub, als »retard en verre« alle Dimensionen der Sichtbarkeit in den unabschließbaren Prozess der Transformation von ironischen, parodistischen Assoziationen mentaler Zeitspielräume höherer Dimension überführt. Neben dem zeitlichen Aufschub, der den Entstehungsprozess des unvollendet gebliebenen Werks ebenso wie seine Rezeption als transparentes, den Raum seiner Ausstellung integrierendes Medium meint und in seiner differenziellen Unhintergehbarkeit an Derridas Konzept der différance erinnert, berührt der Rahmen auch die Sekundärebene, die Duchamp mit den »boxes/boîtes en valise«, Schachteln mit Reproduktionen und Notizzetteln, eröff net, in denen sowohl die Baupläne als auch die Assoziationen/Textspiele zum ›Bild‹ bzw. seinen einzelnen ›Ausschnitten‹ oder ›Elementen‹ enthalten sind. Wenn man in der Doppelung des oberen und des unteren, in der Mitte durch eine Trennlinie klar abgegrenzten Teils des »Großen Glases« entsprechend der Benennungen Duchamps von Brautsphäre und Junggesellensphäre, also von konjugalem Versprechen (auch im Sinne eines prokreativen Wachstums) und sterilem Mechanismus unfruchtbarer Wiederholung mit Antliff/Leighten auch eine Satire auf den »élan vital« Bergsons erkennen kann,21 so ist diese dem Satire- bzw. Humor-Konzept Bergsons selbst getreu. Dieser hat in dem von Duchamp hoch geschätzten Buch über Das Lachen gerade in der Konfrontation von mechanischen Vorgängen mit der Vorstellung freier Willenhandlungen die Quelle des Ridikülen ausgemacht. Und lächerlich sind die mechanistischen Handlungen der Junggesellen-Maschinen im unteren Teil mit ihren zölibatär-sterilen Onanie-Ritualen, die als Parodie einer männlichen Vorstellung mechanistisch-zölibatärer Konstruktion von mutterlos geborenen Tochterfrauen als Androiden wirken, während sich im 20. Vgl. generell Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 Kunststopf-Normalmaße«, München: Deutscher Kunstverlag 2006. 21. Vgl. Mark Antliff/Patricia Leighten: Cubism and Culture, London: Thames and Hudson 2001, S. 85ff.; vgl. auch Marc Antliff: Inventing Bergson. Culture Politics and the Parisian Avant-Garde, New York: Princeton University Press 1993.
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oberen Teil die »Braut« (wie entomologisch auch der verpuppte Schmetterling bezeichnet wird), in ihrer Chrysalide die Entpuppung aufschiebend, als dauerhaftes »épanouissement cinématique«22 entzieht: Die Entblößung bleibt aufgeschoben und kommt nur in »Etant donnés«, der letzten, erst nach seinem Tode bekannt gewordenen Installation Duchamps als Nachträglichkeit eines selbst wieder undarstellbaren Ereignisses im wahrsten ikonographischen Sinne des Wortes einer Allegorie auf die Vergänglichkeit (ähnlich dem barocken »Et in arcadia ego«) zu einer sentimentalischen Repräsentanz. Die ewig rotierenden Junggesellenmaschinen symbolisieren so im Zeitalter technischer Reproduktion auch die vergebliche, sterile Wirklichkeitserzeugung der visuellen Medien, deren Bewegungsgesetz der Rotation Duchamp schon vom ersten Ready-made an, nämlich dem auf einen Schemel geschraubten Vorderrad eines Fahrrads, fasziniert hat und das er auch in seiner Bild-Arbeit integrieren wollte: »faire un tableau comme on enroule une bobine de film-cinéma«,23 heißt es stellvertretend für viele andere ähnlich ausgerichtete Spekulationen, und die Elemente des »Großen Glases« versuchen so auch immer durch ihr perspektivisch angedeutetes Drehmoment aus der Zweidimensionalität auszubrechen (vgl. Abb. 5). Aber noch gelingt ihnen als Dispositiv der Reproduktionstechnologie nicht der Sprung, und vor allem nicht in die 4. Dimension eines »Zeit-Bildes«, das im Sinne von Gilles Deleuze die darstellungstechnischen Probleme des Bergson’schen »Bewegungs-Bildes« überwindet. Abbildung 5: Schematische Darstellung der Bewegungsrichtungen der Elemente im unteren Teil des »Großen Glases«
22. Vgl. M. Antliff: Inventing Bergson, S. 62. 23. Ebd., S. 107.
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All diese Überlegungen zum Schaffen werden von Duchamp ab einem gewissen Zeitpunkt unter dem Stichwort des inframince gebündelt, das am Übergang von der Reproduktion zur Simulation eines Virtuellen, eines nicht als Gegensatz zum Unmöglichen oder Unwahrscheinlichen gedachten »Möglichen« arbeitet.24 In diesem Konzept kommt noch einmal Bergsons Konzept des Humors zum Tragen: als spaltender Keil einer dazwischentretenden Abweichung vom gewohnten Ablauf, der einen neuen, kreativen Abstand schaff t zwischen Gegebenem und Innovativem/Einfallartigem. Im Konzept des Inframince wird evident, dass der Kunstwerkbegriff Duchamps sich als Operation einer Trennung, Differenz, eines Zwischenraums oder einer Nahtstelle versteht, einer trennenden Operation, an der die Funktion des Künstlers zugleich benennbar und dekonstruierbar wird. Dies machen dann die Ausführungen zum kreativen Akt deutlich, indem sie naturwissenschaftliche Modelle der Osmose und der mit Eliot formulierten Funktion einer gasförmigen Transformation oder Transfiguration eines Mediums in ein anderes qua Diskretion benutzen. Doch dazu gleich mehr. Abbildung 6: Umschlagseiten der Zeitschrift »View«
Duchamp benutzt den Begriff inframince zum ersten Mal 1945 im Zusammenhang der ihm gewidmeten Nummer V der Zeitschrift »View«, für die er die beiden Umschlagseiten mit einer Photomontage und einer Textcollage gestaltet (vgl. Abb. 6). Letztere, die aus verschiedenen Drucktypen zusammengesetzt ist, benennt das Phänomen des inframince als Vermählung zweier Gerüche, wobei der Tabakrauch auch schon auf der Vorderseite eine wichtige visibilisierende Rolle als Signal der kreativen Energie spielt. Jean 24. Ebd., S. 104.
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Clair hat darauf hingewiesen, dass in dieser Photomontage alle Elemente des »Großen Glases« wiederkehren, insofern auch die sterile, chronometrische Arretierung – wie in den Rauchbildern Mareys (vgl. Abb. 7) – und die bewegende, den Augenblick transzendierende, über ihn hinausdrängende Sphäre des Aufschubs zur Geltung kommen. In einem kurz nach Erscheinen der Zeitschrift geführten Interview mit de Rougemont nennt Duchamp inframince Abbildung 7: Etienne-Jules Marey, »Mouvements de l’air«
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auch einen affektiven Begriff, der im Gegensatz zum präzisen Maß der Laboratorien stehe, appelliert also an e-motionale Momente, die als bewegend übersetzt werden können. Im Sinne von Bewegung oder Affektion als Anregung/Impuls-Gabe oder Reiz-Übertragung (im elektromagnetischen Sinne) kommt der »kreative Prozess« zunächst als medial vermittelnder Prozess zwischen Künstler und Betrachter/Rezipienten ins Spiel. Übertragen auf das Analysemodell einer Inframedialität wird damit eine Dimension eröffnet, die – so lässt sich als Resümee formulieren – grundsätzlich zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden hat: zwischen der Manifestation des kreativen Potenzials eines Dispositivs, das vom Künstler als »mediumnistische[s] Wesen«25 nur übertragen wird, und zwar an der als Schnittstelle figurierenden Materialität des Kunstwerks, die als Performativ des künstlerischen Aktes aber nur nachträglich bestimmbar ist; und zwischen der latenten Ebene eines Transferts (der ästhetischen Osmose) zum Betrachter als nicht erfüllter, sondern immer wieder aufgegebener Horizont.26 Duchamp formuliert diese Differenz (des Aufschubs) auch als die zwischen Intention und Realisierung, wobei der vermittelnde inframediale Faktor als »Kunstkoeffizient«27 bezeichnet wird, dessen Fortleben auch als Raffinement durch die Rezeption oder als »Transsubstantiation« bezeichnet wird. Dieser inframince-Umschlag der fortlaufenden oder andauernden Transformation (d.h. Performation als Deformation im Werden)28 lässt sich auch an der künstlerischen Strategie der artifiziellen Erzeugung von konfektioneller Ware in Form von Ready-mades beobachten. Ihre alltäglich festgestellte Form wird auratisch verflüchtigt, der materielle Körper löst sich in immaterielle Referenzen auf. So wie das »Große Glas« als RaumZeit-Installation in seiner Konfiguration immer wieder neu durch die »Notes« konstelliert wird, werden auch diese Alltagsgegenstände durch Inszenierungen buchstäblich entstellt, und d.h. auch entzogen/entwendet. Mit Freges Unterscheidung kann man die Materialität der Ready-mades auch in ihrer Art und Weise des Gegebenseins als Sinn verstehen, während die Immaterialität der Zeichenkontexte, Kommentare, Parodien, Wortwitze, Spiegelungen, Konstruktionszeichnungen, diskursiven Interventionen und Aberrationen als über das Gegebene hinaus verweisende Bedeutung sich abzeichnen. Dies lässt sich inframedial auch auf die Betrachtung von Medien übertragen, die ebenfalls die beiden Seiten ihrer Gegebenheit als 25. Ebd., S. 187. 26. Ebd., S. 188. 27. Ebd., S. 189. 28. Vgl. Jean-François Lyotard: Die TRANSformatoren DUCHAMP, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz 1986.
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funktionierende Apparate und ihres Potenzials der Innovation haben. Gerade am Computer lässt sich am besten demonstrieren, wie jede im klassischen Sinne formulierte ›Maschine‹ schon die Herausforderung einer besseren ist, ein Problem, das auf der Software-Ebene durch die Technik der allerdings auch wieder chronologisch getakteten backups behandelt wird. Aus dem einen Kontext des Funktionierens wird das Verstehen/Erleben aber herausgerissen durch einen künstlerischen Akt als paradoxen Akt einer Performanz, die etymologisch an Ereignis und an Leistung erinnert, aber auch an eine Leistungskraft der potenziellen Bedeutung, die nur durch Störung oder Missbrauch sichtbar wird. Hier haben Künstler als Archetypen des Ingenieurs oder ›Erfinders‹ ihre selbst im Experimentalsystem der Hardsciences angestammte Revelatoren-Rolle, indem sie das Unerwartete erscheinen lassen, die Unvorhersehbarkeit des Werdens im strengen Sinne von Möglichkeit auch des Unmöglichen möglich machen: weil sie wissen, dass alles auch ganz anders sein kann.
Bibliographie Antliff, Mark: Inventing Bergson. Culture Politics and the Parisian AvantGarde, New York: Princeton University Press 1993. Antliff, Mark/Leighten, Patricia: Cubism and Culture, London: Thames and Hudson 2001. Bergson, Henri: La pensée et le mouvant, Paris: PUF 1987. Bergson, Henri: L’évolution créatrice, Paris: PUF 2003. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Zürich: Coron-Verlag o. J. Derrida, Jacques: »La double séance«, in: ders., La dissémination, Paris: Editions du Seuil 1972, 215-347. Duchamp, Marcel: Duchamp du signe. Ecrits, Paris: Flammarion 1994. Duchamp, Marcel: Notes, Paris: Flammarion 1999. Molderings, Herbert: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 Kunststopf-Normalmaße«, München: Deutscher Kunstverlag 2006. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Lyotard, Jean-François: Die TRANSformatoren DUCHAMP, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz 1986. Perec, Georges: L’infra-ordinaire, Paris: Editions du Seuil 1989. Virilio, Paul: Ésthetique de la disparition, Paris: Balland 1980. Wetzel, Michael: Die Wahrheit nach der Malerei, München: Wilhelm Fink 1997.
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: »Ruban de Möbius« und »Dessin de la bouteille de Klein«, aus Jean Clair: Sur Marcel Duchamp et la fin de l’art, Paris: Gallimard 2000, S. 167. Abbildung 2: Marcel Duchamp: »Nu descendant un escalier No. 2« (1912), Philadelphia Museum of Art, Arensberg Collection. Abbildung 3: Marcel Duchamp: »3 stoppages étalon« (1913-14), The Museum of Modern Art NY (K.S. Dreier Bequest). Abbildung 4: Marcel Duchamp: »La mariée mise à nu par ses célibataires, même«, »The Large Glass« (1915-1923), Philadelphia Museum of Art (K.S. Dreier Bequest). Abbildung 5: »The solipsistic machine«, aus Juan Antonio Ramirez: Duchamp. Love and Death, even, London: Reaktion Books 1998, S. 82. Abbildung 6: Marcel Duchamp: Cover für »View No. V, 1« (1945), Collection Ronny Van de Velde, Antwerpen. Abbildung 7: Etienne-Jules Marey: »Mouvement de l’air XXI«, aus Georges Didi-Huberman/Laurent Mannoni: Mouvements de l’air. Etienne-Jules Marey, photographe des fluides, Paris: Gallimard 2004, S. 120.
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Netzkunst, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Eine Methodensuche Gunther Reisinger
Um den Analysezugang zur Netzkunst werden seit ihrer Wahrnehmung in kunstwissenschaftlichen Kreisen rege disziplinäre Diskussionen geführt: Die dabei teils vorgenommene Einordnung in den alleinigen Zuständigkeitsbereich der Kunstgeschichte kann zumindest als diskutierenswert bezeichnet werden. Methodisch greif bare werkanalytische Zugänge zu Medienkunst im Allgemeinen sind innerhalb der Kunstgeschichte nach wie vor rar gesät bzw. befinden sich derzeit erst in ihrer Entwicklung. Die Sprachwissenschaft, die Theaterwissenschaft und eben die Kunstgeschichte haben in den vergangenen Jahren versucht, sich der Netzkunst analytisch anzunehmen, warum soll mit der Musikwissenschaft – wie im Titel angedeutet – also noch ein weiterer Zugang in diese durchaus schwierige Greif barmachung eingebracht werden? Soll überhaupt disziplinäres Denken in dieser Form Platz greifen oder sollte man dem medienkünstlerischen Phänomen Netzkunst mit einer Methoden-Mischung begegnen, um es werkgerecht analysieren und beschreiben zu können? Es ist nicht Ziel des Artikels, diese Fragen letztgültig zu beantworten, zu jung ist sowohl die Kunstform selbst als auch die methodische Auseinandersetzung damit. Vielmehr soll versucht werden, sich den dienbaren Methoden in spezifischer Weise anzunähern und ihre Möglichkeiten hinsichtlich einer werkanalytischen Symbiose auszuloten.
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Werkgerechtigkeit Die Zielrichtung jeder Werkanalyse und Werkbeschreibung sollte Werkgerechtigkeit sein, verstanden als die Notwendigkeit, das Kunstwerk sowohl in dem dahinterliegenden Kunstwollen als auch in seiner Erscheinung (in diesem Fall tatsächlich im Sinne des Wortes »erscheinen« auf einem Bildschirm) möglichst adäquat textuell zu erfassen. Netzkünstlerische Arbeiten stellen dem Kunsthistoriker bereits auf dieser sehr basalen Ebene einige Hürden in den Weg. Die höchsten sind wohl terminologischer Art, die niedrigeren definieren sich beispielsweise über rezeptionsästhetische Problematiken jeglicher zeitbasierter Kunst in Zusammenhang mit kunsthistorischer Methodik.
Def initionsversuch Was wird in diesem Text unter Netzkunst verstanden? Im Rahmen des dem Artikel zugrundeliegenden Forschungsprojekts1 wird mit einer weiteren, wie auch mit einer engeren Definition gearbeitet: Die weitere dieser beiden Varianten umfasst jegliche künstlerische Ausdrucksform, die sich des Netzes bedient, sich aber nicht unbedingt über die Nutzung netzimmanenter Eigenschaften als künstlerischen Inhalt definiert. Eine engere Definition befasst sich mit künstlerischen Arbeiten, die das Netz und dessen technische Immanenzen zum künstlerischen Inhalt haben und mit diesen Eigenschaften als künstlerischem Material arbeiten.2 Diese Kunstwerke definieren sich über eine künstlerische Nutzung bestimmter medialer Spezifi ka und existieren demnach nur im WWW, sind also weder verort- und medial transformierbar noch speicherbar im herkömmlichen Sinn. Nachdem sich innerhalb des hier gesetzten Volumens nicht beide Varianten behandeln lassen, sollen sich die Ausführungen an der engeren Definition orientieren: Gemeint sind damit Arbeiten mit Werkcharakter, die nur im Netz existieren, vom Künstler auch dort verortet wurden und ihr künstlerisches Material über die Nutzung netzimmanenter Eigenschaften beziehen. Beispiele aus jüngerer Zeit wären die Arbeiten von Espenschied/ Freude oder von textz.com; einige ältere und mittlerweile – zu Recht oder
1. Vgl. Ludwig Boltzmann Institut Medien.Kunst.Forschung, Linz: http:// media.lbg.ac.at (22. April 2009). 2. Vgl. Monika Wagner: Die Materialien der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: C.H. Beck Verlag 2001.
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zu Unrecht – kanonisierte Arbeiten stammen von Alexei Shulgin, Heath Bunting, Vuk Cosic oder Olia Lialina.
Methodenanalyse | Kunstgeschichte Als Hinführung zu der Methodenebene soll ein kurzer Abriss über relevante Teilbereiche der bei Analysevorgängen von Netzkunst zu konsultierenden Disziplinen vorausgeschickt werden. Es wird hierzu bewusst eine Unterscheidung zwischen Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft getroffen: Letztere kann in hier gestelltem Zusammenhang als eine Metaebene der sich mit künstlerischen Belangen beschäftigenden Disziplinen verstanden werden. Dies ist insofern von Belang, als sich die vorgestellten Überlegungen zu einem Gutteil aus einem Projekt zu angewandter Grundlagenforschung generieren und die Aufmerksamkeit demnach auf dem Abgleich zwischen Theorie und Praxis unterschiedlicher Disziplinen liegt. Die traditionelle, bildzentrierte Kunstgeschichte arbeitet mit der ihr eigenen Methode der formalen Bildanalyse: Auf rund zwölf Kriterien aufbauend werden standardisiert bestimmte formale Eigenschaften eines künstlerischen Bildes analysiert. Erst auf Basis dieser formalen Analyse wird versucht, dem Werk auf inhaltlicher Ebene habhaft zu werden, es textuell zu beschreiben und letztlich zu interpretieren, auszulegen und einzuordnen (ikonographische und ikonologische Methode).
Methodenanalyse | Kunstgeschichte | Hermeneutik Hinsichtlich der kunsthistorischen Hermeneutik schreibt Oskar Bätschmann 1984: »[…] [D]ie Methode und Praxis des Auslegens von Kunstwerken […], ist erst ein Projekt, noch kein Haus. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass es offen ist, veränderbar und korrigierbar, dass es Beteiligung braucht und Aktivität.« 3
Ähnlich wie bei Werken bildender Kunst sollte der Betrachter von Netzkunst demnach ebenfalls eine »durchschnittliche Erfahrung« (wie dieser Status des Wissensstandes von Bätschmann genannt wird) mitbringen, 3. Vgl. Oskar Bätschmann: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988 (1984).
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allerdings weniger im Sinn des traditionellen Phänomensinns (also der dargestellten Inhalte), sondern mehr in einem »prozessualen« Sinn. In jedem Fall sollte hier die von Bätschmann eingeforderte Praxis des Auslegens von Werken in kritischer Relation zur Theorie und den Methoden angewandt werden und damit wieder der eingangs bereits geforderten Adaptierung genau jener Relation von Theorie und Praxis Rechnung getragen werden. Die kunsthistorische Methode der Ikonologie wurde seit Aby Warburg von Erwin Panofsky um inhaltliche Punkte erweitert:
Tabelle 1: Umschrift des von Panofsky 1939 erstmals veröffentlichten Schemas4
4. Erwin Panofsky: »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance«, in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont Schauberg 2002, S. 36-67, hier S. 50.
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Selbstverständlich für bildende Kunst und hier vordringlich für das Genre »Malerei« entwickelt, bietet dieses Konzept jedoch methodische Anhaltspunkte zur Analyse jedweder Kunst. Bezogen auf Netzkunst werfen freilich alle vier Schritte vorerst grundlegende Fragen auf: Was ist genaugenommen der Gegenstand der Interpretation, worin liegt im Fall der Netzkunst der Akt der Interpretation? Hier besonders augenfällig: Worin besteht die Ausrüstung für die Interpretation? Und nicht zuletzt: Worin kann derzeit ein etwaiges Korrektiv der Interpretation festgemacht werden? Nachdem Werke »immer nur die Fragen beantworten, die wir ihnen stellen«,5 wie Hans Belting in seiner Revision vom Ende der Kunstgeschichte 1995 schreibt, kann es also als erster Schritt einer methodisch validen Annäherung an Netzkunst seitens der Kunstgeschichte erachtet werden, die richtigen Fragen an diese Kunstform zu stellen. Verstanden wiederum als vergleichende Herangehensweise und auch, um etwaige Referenzen auf vorangegangene Kunstformen erkennbar zu machen. Versucht man Antworten auf diese Fragen zu finden, stößt man alsbald auf die angesprochenen methodischen Hürden und die Notwendigkeiten, etwa Strukturen zur Analyse zeitbasierter Kunst einzubinden. Auch wird die Frage nach der Code-Bedingtheit (und damit nach der medial-technischen Konstitution) virulent.
Methodenanalyse | Musikw issenschaf t Um den Überblick über die unterschiedlichen Theoriegebäude im Sinne Bätschmanns weiterzuführen, soll anhand der Musikwissenschaft zu einer Disziplin übergegangen werden, die es sich seit ihrer Gründung (1898) zur Aufgabe gesetzt hat, mit der Musik eine ebenso ephemere und zeitbasierte Kunstform wie es Netzkunst ist, formal, vergleichend und ästhetisch zu analysieren und zu beschreiben. Erich Moritz von Hornbostel schrieb dereinst, es handle sich um die Einführung einer bestimmten Betrachtungsweise, welche »die Analyse und genaue Beschreibung der Einzelerscheinung« ermöglichen soll.6 Kontra-induktiv wiederum interessant, spricht Hornbostel hier über Musik und verwendet dazu die Termini Betrachtungsweise und Erscheinung, also durchaus visuell konnotierte Begrifflichkeiten. Die Disziplin selbst wurde 5. Vgl. Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München: C.H. Beck Verlag 1995, S. 150. 6. Erich Moritz von Hornbostel: »Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft«, in: Zeitschrift der Internationalen Musikwissenschaft 07 (19051906), S. 85-97, hier S. 85.
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1885 mit der Quellenschrift »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft« von Guido Adler grundgelegt und 1898 an der Universität Wien erstmals institutionell verankert. Die der Musikwissenschaft eigene Methode der musikalischen Analyse geht ähnlich vor, wie es die Bildanalyse tut: Anhand bestehender Regelwerke wird die Struktur eines Musikstücks auf formaler – vorerst nicht-ästhetischer Ebene – aufgeschlüsselt. Der Unterschied zur Analyse bildender Kunst liegt in der code-basierten Notation des analysierten Kunstwerks; eine Partitur ist sozusagen der Quellcode einer Musikaufführung. Obwohl formal analysiert, ist der Rückschluss auf ästhetische Intentionen des Komponisten anhand dieses Analyseschritts bereits möglich (beispielsweise anhand des erkennbaren Wechsels in die parallele Molltonart). In diesem Zusammenhang soll auch auf die musiktheoretische Subdisziplin der »Auff ührungspraxis« verwiesen werden: Versteht man Netzkunst als grundsätzlich performative Kunstform,7 dann sind etwa Fragen zu Interpretation oder werkgetreuer Auff ührung durchaus mit musiktheoretischen Topoi zu vergleichen. Auch in Bezug auf restauratorische und re-präsentative Fragen erscheint eine Annäherung der beschriebenen Methoden hinsichtlich der Interpretation eines festgeschriebenen Codes als durchaus naheliegend.
Methodenanalyse | Informatik Es liegt nahe, die Informatik als die technische Basis-Diziplin als drittes Fach einzubinden. Die unter der URL 8 rezipierbare Arbeit zeigt genaugenommen keine Netzkunst, sondern das Software-Art-Werk »code profi les« (2003) von Brad Paley. Eine Arbeit, die sich nach Definition des Künstlers selbst kommentiert, indem sie den Prozess ihrer selbst als das eigentliche Kunstwerk zeigt. Was mit diesem Beispiel vereinfacht veranschaulicht wird, ist die Zeitund Prozessorientierung jeglichen Programmcodes, der – ähnlich der Musikauff ührung auf Basis einer Partitur – in der Zeit abläuft, wenn auch viel schneller, als Musik das meist tut. In informationstechnischen Bereichen wird diese Performanz deshalb selten als zeitbasiert wahrgenommen, in 7. Vgl. Brenda Laurel oder Nina Kahnwald (theaterwissenschaftlicher Approach) oder den sprachwissenschaftlichen Ansatz, vertreten u.a. durch Florian Cramer. 8. Vgl. www.whitney.org/arport/commissions/codedoc/Paley/CodeProfiles_ 800x600.htm (22. April 2009).
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keinem Fall jedoch in dem von Bätschmann erwähnten Phänomensinn Panofskys. Deutlich wird diese Parallele anhand des netzkünstlerischen Subgenres der Browser-Art (hier wiederum besonders an den bekannten Arbeiten von jodi oder von I/O/D).
Zw ischenresümee Es kann daran gezeigt werden, dass sich Musik und Netzkunst in ihrer Grundstruktur durchaus ähnlich sind: Beide Kunstformen sind zeitbasiert, sind in codierten und interpretierbaren Zeichensystemen notiert und beide Kunstformen sind in sich ephemeren Charakters. Dies wurde in Bezug auf allgemein-medienphilosophische Fragestellungen bereits von Wolfgang Ernst Ende 2005 angedacht,9 ebenso hat Hans Dieter Huber die Termini Partitur und Auff ührung in diesen Zusammenhang gebracht.10 Eine gezielte methodische Einbindung der Musikwissenschaft in den Gesamtdiskurs blieb bislang allerdings aus, ebenso wie ein nicht ausgrenzender, sondern zusammenführender Ansatz dieser unterschiedlichen Herangehensweisen.
Methodensymbiose? Die zu diskutierende interdisziplinäre Symbiose wird in ihrer Grundstruktur also von der Kombination geisteswissenschaftlicher Ansätze mit der technisch konstituierenden Fachinformatik getragen: Ähnlich der Notwendigkeit, innerhalb der kunsthistorischen Klassifi kation Malerei beispielsweise zwischen Ölmalerei und Freskotechnik zu unterscheiden, ist es bei Netzkunst von Belang, ob sich der Künstler mit der Manipulation der Software am individuellen Rechner des Users beschäftigt (z.B. das erwähnte Subgenre Browser-Art mit Werken von jodi, Mark Napier oder I/O/D) oder ob die genuine technische Basis des World Wide Web (z.B. das Server-Client-Prinzip) als künstlerisches Material gesehen wird (z.B. die Surveillance Art von Espenschied/Freude oder Vuk Cosic).
9. Vgl. Wolfgang Ernst: »›Merely the Medium‹? Die operative Verschränkung von Logik und Materie«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 158-184. 10. Vgl. Hans Dieter Huber: »Digging the Net – Materialien zu einer Geschichte der Kunst im Netz«, www.hgb-leipzig.de/ARTNINE/huber/aufsaetze/ digging.html (22. April 2009).
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Methodische Symbiose | Informatik Die Informatik muss demnach in ihrer Kompetenz als konstitutive Instanz des künstlerischen Trägermediums in den analytischen und beschreibenden Vorgang aufgenommen werden. Das Werk wird dadurch sowohl in seiner immateriellen Konstitution (Software und Code) als auch in seiner tatsächlichen Materialität (also jegliche Hardware, beispielsweise Bildschirme) beschrieben. Die Einschätzung der Rückwirkungen auf den künstlerischen Schaffensprozess wie der partizipativen Möglichkeiten und Notwendigkeiten seitens des Kunstrezipienten (also des Users) sind oftmals nur über diesen Weg möglich. Darüber hinaus sind die vorwiegend zur Restaurierung, Archivierung und Re-Präsentation notwendigen technischen Metadaten von dieser Seite der disziplinären Trias zu leisten: Im Sinne der derzeit vieldiskutierten Langzeitarchivierung von Born-digital-Ressourcen (wie es Netzkunst ist) werden hier die Grundlagen einer medien- und werkgerechten Terminologie geleistet.
Methodische Symbiose | Kunstgeschichte Die Kunstgeschichte kann im Sinne der gezeigten umfassenden Befragungsmethodik als Basisdisziplin der Auseinandersetzungen gesehen werden und wird innerhalb dieses Forschungsansatzes durch eine Adaptierung der ikonologischen Werkanalyse hinzugezogen. Gerade die in ihrer Frühzeit durchaus bildkritische net.art (als personell eingrenzbarer und von der dereinst bekannten Mailinglist nettime teils kanonisierter Bereich der Netzkunst im engeren Sinn der Definition) ist durchaus über einen kritisch-instrumentellen Bildgebrauch definierbar und teils stark auf Werke der bildenden Kunst referenzierend.
Methodische Symbiosen | Musikw issenschaf t Die Anschlussfähigkeit der Musikwissenschaft an die Methodendiskussion zu Medienkunst im Allgemeinen, die beispielsweise Rolf Grossmann »weniger in ihrem Zentrum« als mehr in den Randbereichen wie Instrumentenkunde, Musikethnologie oder Musikpsychologie und Musiksoziologie sieht, wäre im Fall der Netzkunst aufgrund der von Grossmann erwähnten »arbiträr codierte[n] Kommunikation«11 also methodisch durchaus auch 11. Vgl. Rolf Grossmann: »Audiowissenschaft = Musikwissenschaft + Me-
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zentral gegeben. In seinen Überlegungen weiter geht Werner Jauk, wenn er derzeitige Herangehensweisen der Analyse von Medienkunst in Richtung einer Hinzunahme auditiver Paradigmen erweitert. Jauk schreibt: »Als digitale Kunst begibt sich die bildende Kunst auf die Ebene der Codes, derer sich Musik bedient, um ihre Flüchtigkeit zu überwinden … Damit ist das Konzept des von der Materialität abgekoppelten Werkes denkbar geworden. Die bildende Kunst hat als digitale Kunst Gestaltungsweisen und Existenzformen der Musik angenommen […]«,12
und er schließt daraus, dass »die Musik ein Modell neuer Künste [ist], weil sie in ihrer Schriftlichkeit über den willkürlichen Code als immaterielles Werk existiert; sie ist damit Vorreiterin der Immaterialität des Digitalen.«13
Werner Jauk öffnet mit seinem Ansatz demnach methodische Türen, die selbstverständlich nicht nur die Netzkunst, sondern das Feld der Analyse von Medienkunst im Allgemeinen erweitern könnten. Musikalische Notationssysteme lösen darüber hinaus seit jeher die Forderung nach systemisch offenen Auszeichnungen ein (beispielsweise barocke Trillernotationen und deren Interpretation unterschiedlicher Pianisten, ebenso die Auffassungen von Timecodes unterschiedlicher musikhistorischer Epochen). Der Akt der Auff ührung fällt bei bildender Kunst weg.14 Nicht so bei Medienkunst, die sich in ihrer Werkstruktur ebenso zeitbasiert darstellt, wie es Musik tut. Insofern unterliegt die meiste Medienkunst auff ührungspraktischen Variablen, speziell weich-codierte mediale Kunstformen (wie Netzkunst) sind aufgrund ihrer bewusst ephemeren und entorteten Anlage genuin variabel und damit vom Setting des aufführenden Users abhängig. In diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen ist der Begriff der Interpretation, weil er sowohl in der Musik als auch in der Informatik als ein stehender Terminus gebraucht wird: Daten werden von der Hard- und Software ebenso interpretiert wie ein notiertes Musikstück von den Musikern. dienwissenschaft? Überlegungen zur universitären Integration eines vernachlässigten Feldes«, www.uni-lueneburg.de/uni/fileadmin/user_upload/rmz/rgtexte/ grossmann_audiowissenschaft.pdf (22. April 2009). 12. Werner Jauk: Der musikalisierte Alltag der Digital Culture, Habil., Graz 2005, S. IV. 13. Ebd., S. 31. 14. Ich erwähne den Topos der »Verortung der Bilder« oder Hans Beltings »Bildanthropologie«.
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Die musikalische Analyse setzt sich mit dem Code (also der Partitur) auseinander, unternimmt auf einer textuellen Ebene eine Analyse des aufzuführenden Musikstückes. Auff ührungspraktische Fragen wiederum beschäftigen sich mit der vom Künstler intendierten Interpretation dieses Codes. Wollte man diese Systematik auf die ebenfalls code- und zeitbasierte Netzkunst anwenden, könnte man mit einer noch genauer zu entwickelnden, auf den unterschiedlichen Notationspraxen (also html, xhtml, xml oder diversen Scriptsprachen) basierenden Analyse des Source-Codes zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie die musikalische Analyse. Erste Ansätze dazu werden am Ludwig Boltzmann Institut (LBI) derzeit mittels einer semantischen Indizierung und darauffolgenden IT-gestützten Auswertung dieses HTML-Codes anhand bestimmter Fallbeispiele netzkünstlerischer Arbeiten im engeren Sinn der Definition erprobt. Auff ührungspraktische Eigenheiten des Netzkunstwerkes sind wiederum an möglichst authentischen Quellen zu ergründen, im speziellen Fall der Netzkunst stehen die Künstler in den meisten Fällen noch zur Befragung ihrer diesbezüglichen Intentionen zur Verfügung. Auch sind hier in Form von Fragebögen retrospektiv Erhebungen möglich (wie dies im Fall von Installationskunst am Guggenheim in New York im Rahmen des »Variable-Media«-Projekts durchgeführt wurde): im Sinn des derzeit vieldiskutierten, hier jedoch durchaus kritisch gesehenen re-enactment ein sicherlich fruchtbarer Gedanke. Die Theorie der Medienkünste wurde einst aus den bildenden Künsten heraus entwickelt, die daraus resultierende Formalisierung der visuellen Wahrnehmung demnach als statisch und abbildend gewertet. Die nunmehrige Erkenntnis der unzureichenden Analyse-Methodik hinsichtlich beispielsweise des Genres Netzkunst erfordert letztlich einen Paradigmenwechsel, um »körperliche Interaktionen mit einer dynamisierten und durch Codes geschaffenen Umwelt adäquat beschreiben bzw. erklären zu können«.15 In Kenntnis sowohl der musikwissenschaftlichen als auch der kunstgeschichtlichen Analyse-Methodiken kann diesem Argument von Werner Jauk gefolgt werden. Auch wenn Methodensymbiosen immer die Gefahren der wissenschaftlichen Unschärfe in sich bergen, ist es für dieses spezielle Genre der Medienkunst in jedem Fall und für eine allgemeine Theorie der Medienkünste in den meisten Fällen wohl unerlässlich, die disziplinär abgesteckten Claims zu verlassen und den Austausch und die Zusammenarbeit auf einer tatsächlich interdisziplinären Ebene zu suchen. Die Geisteswissenschaften unter sich würden dieser Forderung bekanntlich nicht genügen. 15. Vgl. W. Jauk: Der musikalisierte Alltag der Digital Culture, S. 31.
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Rückw irkungen Wie sehen nun Rückwirkungen dieser theoretischen Überlegungen auf die bei umfassenden historischen Werkerfassungen noch hinzukommenden praktischen Ebenen der Restaurierung, der Archivierung oder der RePräsentation dieser medienkünstlerischen Spielart aus? Wenn beschreibend über Netzkunst gesprochen wird, wird in den wenigsten Fällen auf das tatsächliche Werk zurückgegriffen (weil dieses oftmals nicht mehr verfügbar ist), sondern es wird entweder mit Dokumentationen oder mit Sekundärquellen (z.B. Offl ine-Materialien) gearbeitet. Innerhalb des Forschungsprojekts wird versucht, den entgegengesetzten Weg zu gehen und anhand bestimmter Fallbeispiele auch die Methodiken der Restaurierung, der Archivierung und der Re-Präsentation netzkünstlerischer Arbeiten im engeren und im weiteren Sinn der Defi nition zu erarbeiten. Hierzu wurde bewusst eine Selektion getroffen und versucht, frühe und für das Genre maßgebliche Arbeiten, die nicht mehr zugänglich sind oder waren, in Zusammenarbeit mit den Künstlern wiederherzustellen und zu weiteren Forschungen am Objekt (also am Kunstwerk selbst) im werkeigenen Medium zu re-präsentieren. Auch bei diesen Arbeitsschritten stellen sich ähnliche Hürden ein, wie sie bereits bei der Methode der kunstwissenschaftlichen Werkbeschreibung kurz aufgezeigt wurden: Wie kann man ein zeit- und codebasiertes Werk werkgerecht restaurieren, sodass es auch künftigen Wissenschaftlern als valide Quelle zur Verfügung steht (um beschreiben zu können)? Und: Wie archiviert man unter einem Paradigma, diese Kunstform eigentlich gar nicht archivieren zu können?16 Und letztlich: Wie re-präsentiert man restaurierte Werke, sodass sie in ihrem werkeigenen Medium einen authentischen Blick auf das zu Beginn der Ausführungen erwähnte einstige Kunstwollen ermöglichen? Auch diese Felder sind mit traditionellen Zugängen kaum mehr analysierbar, auch die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine Adaptierung der Methoden: Beispielsweise könnte man sich die sowohl terminologische wie prozessuale Frage stellen, ob man ein Netzkunstwerk besser aufzeichnen als speichern sollte oder ob ein restauratorischer Eingriff in den Quellcode (um die Arbeit überhaupt wieder sehen zu können) gerechtfertigt und sinnvoll ist. Weiter stellt sich die Frage, wie man diese Eingriffe in das Werk dokumentiert und – ähnlich wie bei traditionellen Restaurierungs-Techniken – diese auch kenntlich macht. Auch wäre zu hinterfragen, wie weit man gehen 16. Es stellt sich dazu allerdings die wissenschaftliche Notwendigkeit, weil das Werk sonst dem umgreifenden Datensterben anheimfällt.
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sollte, um ein zeitbasiertes und – wie ja jedes Kunstwerk – in seiner Zeit verhaftetes Werk überhaupt wieder zugänglich zu machen? Auch wäre zu thematisieren, ob es nicht werkgerechter wäre, die Arbeit nicht mehr zu repräsentieren, sondern bewusst und auch begründet mit der Dokumentation des Werkes zu arbeiten. Nicht in allen Fällen ist es demnach möglich, einstige Settings wiederherzustellen oder die einstige rezeptionelle Zielsetzung wieder zu erreichen (z.B. unterschiedliche Medienimmanzen und ihre Rückwirkung auf den einstigen Nutzer des Mediums Internet betreffend). In diesem Punkt der großteils erfolgenden Interaktion mit dem Kunstwerk besteht bekanntlich ein wichtiger Unterschied zur musikalischen Auff ührungs- und Rezeptionspraxis. Zusammenfassend kann gesagt werden: • Netzkunst in ihrer engeren Definition ist über herkömmliche kunstwissenschaftliche Terminologien nicht werkgerecht beschreibbar. • Es besteht eine Zuordnungsproblematik im Bereich der bildenden Künste, weil Netzkunst als eine genuin zeitbasierte Kunstform zu verstehen ist. • Netzkunst ist wie Musik code-basiert, wird ebenso (variabel) aufgeführt, d.h. es gibt eine durchgehende medial bedingte Variabilität der Aufführungspraxen. • Es geschieht eine Inszenierung über die Hardware und eine Interpretation über unterschiedliche Software (z.B. Browser-Typen). • Die Kunstgeschichte muss als vermeintliches historisches Bezugssystem kritisch gesehen werden, wenngleich viele Netzkünstler darauf referenzieren. • Methoden zur Beschreibung statischer Kunstwerke sind aufgrund der medialen Konstitution der verwendeten künstlerischen Materialien wenig zielführend (vorzuziehen wäre eine zeitbezogene Analyse). • Der Originalitätsbegriff ist – wie generell in digitalen Kunstformen – in der Schwebe, das Werk nur im Moment seiner Auff ührung am Schirm als solches wahrnehmbar. Es kann also von einem durchgehend performativen Grundkonzept gesprochen werden. Einige der innerhalb des Textes verwendeten Termini wie: notiert | aufgeführt | inszeniert | zeitbezogen | interpretiert | kontextualisiert | performativ | variabel aber trotzdem: bildbasiert ergeben hiermit ein methodisches Paradoxon, das es zu lösen gilt: Eine integrative Methodendiskussion zwischen Kunstgeschichte, Musikwissen110
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schaft, Informatik und all den anderen anverwandten Disziplinen erscheint unerlässlich. Fragen sowohl zur Beschreibung als auch der – bei historisch motivierter Forschung – chronologisch voranzustellenden Restaurierung, Archivierung und Re-Inszenierung netzbasierter Kunstformen sind demnach interdisziplinärer Natur und harren nach wie vor ihrer gemeinschaftlichen Beantwortung.
Bibliographie Bätschmann, Oskar: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988 (1984). Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München: C.H. Beck Verlag 1995. Ernst, Wolfgang: »›Merely the Medium‹? Die operative Verschränkung von Logik und Materie«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 158-184. Grossmann, Rolf: »Audiowissenschaft = Musikwissenschaft + Medienwissenschaft? Überlegungen zur universitären Integration eines vernachlässigten Feldes«, www.uni-lueneburg.de/uni/fi leadmin/user_upload/ rmz/rgtexte/grossmann_audiowissenschaft.pdf (22. April 2009). Huber, Hans Dieter: »Digging the Net – Materialien zu einer Geschichte der Kunst im Netz«, www.hgb-leipzig.de/ARTNINE/huber/aufsaetze/ digging.html (22. April 2009). Jauk, Werner: Der musikalisierte Alltag der Digital Culture, Habil., Graz 2005. Panofsky, Erwin: »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance«, in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont Schauberg 2002, S. 36-67. Wagner, Monika: Die Materialien der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: C.H. Beck Verlag 2001. von Hornbostel, Erich Moritz: »Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft«, in: Zeitschrift der Internationalen Musikwissenschaft 07 (1905-1906), S. 85-97.
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Fallstudien und ästhetische Reflexionen
Guy Debord : kein Recht auf Einsicht Vincent Kaufmann
1. Theor ie und Autobiographie Als aktiver Mitgestalter einer geschichtlichen Periode, die das Theoretische besonders schätzte, hat sich Guy Debord, der oft selbst als wichtiger Theoretiker genannt wurde, immer gegen solch ein Bild gewehrt: »Zunächst einmal muss ich die unwahrste aller Legenden zurückweisen, nach der ich eine Art Revolutionstheoretiker sein soll. Im Moment glauben diese Wichte anscheinend, ich wäre die Dinge von der theoretischen Seite her angegangen, ich sei ein Erbauer von Theorien, von einer ausgetüftelten Architektur, in die man nur noch einzuziehen braucht, sowie man die Adresse kennt; und an der man gar eine oder zwei Voraussetzungen ein wenig modifizieren könnte, zehn Jahre später, und indem man drei Blätter Papier von hier nach da legt, um zu definitiver Vollkommenheit der Theorie zu gelangen, die deren Heil hervorbringen würde. Aber Theorien sind nur dazu da, um im Krieg der Zeit zu fallen.« 1 Endgültige Verurteilung? So einfach ist es nicht. Weiter unten fügt Debord hinzu, dass die Theorie »ein Spiel, ein Konfl ikt, eine Reise«2 sei. Da man weiß, dass er viel und die verschiedensten Spiele spielte, oft reiste und Konfl ikte und Kämpfe liebte, kann man schlussfolgern, dass er auch die Theorie liebte und sich ihr intensiv widmete – daran wird kein Leser der Gesellschaft des Spektakels zweifeln. Daher genügt es vielleicht, sich 1. Guy Debord: In girum imus nocte et consumimur igni. Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Filmskript, Berlin: Tiamat 1985 (1978); Guy Debord: Œuvres cinématograhiques complètes, Paris: Champ Libre 1978, zit. in Vincent Kaufmann: Guy Debord: Die Revolution im Dienste der Poesie, Berlin: Tiamat 2004, Übers. Wolfgang Kukulies, S. 100-101. 2. V. Kaufmann: Guy Debord, S. 101.
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die Frage nach dem Stellenwert des Theoretischen bei Debord zu stellen, um sich darüber klar zu werden, dass die vor 30 oder 40 Jahren so hoch gepriesene Theorie ein schwammiger, ambivalenter Begriff war, der davon profitierte, mit dem einen Fuß im akademischen Betrieb und mit dem anderen im politischen Kampf zu stehen. Viele konnten sich diese Ambivalenz zu Nutze machen, indem sie locker von der politischen in die akademische Sphäre hinüberwechselten (freilich weniger oft aus letzterer wieder in die erste zurück) und so die eine durch die andere zu legitimieren vermochten. Debord gehört sicherlich nicht zu diesen Menschen, wie es seine brillante akademische Karriere zeigt – sein letztes Diplom ist ein Abitur, das er mit 20 Jahren erhielt. Wenn er trotzdem gelegentlich als Theoretiker schrieb, vergaß er nie, sich als persönliches Beispiel mit aller Kraft einzusetzen oder sich um die Inkarnation der Theorie in seiner Praxis zu bemühen. Sein Hauptkritikpunkt an der Theorie war alles in allem, dass sie Theorie bleibt und nie in Gelebtes einmündet: »Genau deshalb enthalten sich gewöhnlich Leute, die uns ihre jeweiligen Gedanken über die Revolution darlegen, jeder Mitteilung über ihr eigenes Leben.«3 Das heißt, dass ein Buch wie Die Gesellschaft des Spektakels weniger nah am zeitgenössischen Für Marx eines Louis Althusser ist (der übrigens nicht wirklich für die Inkarnation der Theorie in die Praxis talentiert war) als am Manifest des Surrealismus eines André Breton. Die Forderung nach einem persönlichen Einsatz durchzieht jedenfalls die ganze Geschichte der Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Man könnte diesen Anspruch und die verschiedenen Formen, die er im Laufe des Jahrhunderts annahm, sogar als Ausgangspunkt für eine Geschichte der Avantgarden nehmen: Die Surrealisten fänden darin einen Platz, aber auch Artaud, Leiris, Bataille, ferner natürlich die Situationisten und ein bisschen später sogar die Gruppe »Tel Quel«, welche nach der ›Durchquerung des Strukturalismus‹ und der ›Wissenschaft des Texts‹ via Bataille und Artaud zu einer Problematik des Subjekts und der Erfahrung zurückkehrte. Debord kommt tatsächlich aus dieser avantgardistischen Tradition und blieb dieser sogar immer treu, insofern als ihn die Sorge nicht etwa um die Poesie, sondern um das Poetische nie verlassen hat, selbst dann nicht, als nur der politische Anspruch übrig zu bleiben schien. 4 Dies ist der Grund, weshalb die Theorie bei ihm in eine autobiographische Problematik kippt. Es ist bei ihm wie bei vielen anderen: Die logische Konsequenz des Anspruchs, sich mit voller Kraft einzusetzen, ist ein autobiographischer Im-
3. Ebd. 4. Vgl. V. Kaufmann: Guy Debord.
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perativ. Man muss mit Leib und Leben für diesen Anspruch einstehen; es wäre aber sinnlos es zu tun, ohne es zu sagen. Das Theoretische ist vielleicht grundsätzlich instabil: Es kippt entweder seitens der Autobiographie oder seitens einer akademischen Vorgehensweise.5 Und nirgends in der modernen Geschichte des zeitgenössischen Denkens – oder der Literatur, das ist die Frage – ist das Umschwenken in das autobiographische Register so deutlich, ja sogar zur Schau getragen wie bei Debord. Dies ist auch der Grund, weshalb dieser immer wieder die theoretische Anwendung der Theorie ablehnt, wiewohl er theoretische Texte schreibt. Die Relevanz einer Theorie liege nicht etwa in der Kohäsion ihrer »komplexen Architektur«, sondern im Leben derer, die sie erfänden. Sie müsse daher außer sich sein, sie hebe sich in dem Moment auf, in dem sie denen übermittelt werde, die das Theoretische durch den Anspruch eines auf Höhe der Theorie Erlebten ersetzten. Diese Umschwenkung ist in Debords letztem Film In girum imus nocte et consumimur igni beispielhaft dargestellt. Debord kündigt sofort an, dass er in diesem Werk »keinerlei Konzessionen an das Publikum machen« wird.6 Diese mangelnde Konzession wird u.a. darin bestehen, dem Publikum, das er verachtet, weil es sich nicht von dem in der Theorie gesuchten Trost befreien konnte, die Geschichte seines beispielhaften und einzigartigen Lebens aufzuzwingen: »Aber ich, der ich all jenen nicht gleiche, kann meinerseits nur singen von ›Damen, Kavalieren, Waffen, Liebe, Unterhaltsamkeiten und waghalsigen Unternehmungen‹ einer einzigartigen Zeit.«7 Anstatt der Theorie wird die exemplarische Erzählung eines Lebens vorgeführt, die man genauso gut als wahrhaft verkörperte Theorie definieren kann, umso mehr, als Debord uns nicht den kleinsten Zugriff zu etwas wie seiner Intimität erlauben möchte. Auch wenn es nicht eine von Debords Referenzen ist und er sie anscheinend nicht schätzte, drängt sich hier der Verweis auf Rousseaus Präambel seiner Bekenntnisse auf, in welcher er »une entreprise qui n’eut jamais d’exemples et qui n’aura point d’imitateurs« ankündigt. Erstens oszilliert auch Rousseau zwischen Autobiographie – einer Gattung, die er für die Moderne wiederentdeckt 5. Das ändert nichts daran, dass die Autobiographie auch in bestimmten,
anscheinend sehr akademischen Vorgehensweisen wie beispielsweise die eines Foucault oder eines Barthes präsent ist. Aber im Gegensatz zu dem, was im avantgardistischen Projekt geschieht, bleibt diese autobiographische Dimension implizit oder wird geleugnet. Es ist kein Zufall, wenn das einst berühmte und prestigeträchtige Konzept vom »Tod des Autors« dank Foucault und Barthes in den (post-)strukturalistischen Kreisen salonfähig geworden ist. 6. V. Kaufmann: Guy Debord, S. 305. 7. Ebd., S. 291.
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– und »Theorie« – es genügt, an die zwei Essais sowie an Émile und den Contrat Social zu denken. Die großen Autobiographen neigen dazu, große Theoretiker zu sein. Aber es ist nicht nur eine Frage der Oszillation: Wie bei Debord sind Theorie und Autobiographie bei Rousseau nur Varianten desselben Diskurses oder derselben Problematik.8 Vor allem gibt es bei Rousseau wie bei Debord das »Ich allein«, die unnachahmliche Eigenschaft eines Subjekts, das ›sich selbst erzählt‹, um seinen einzigartigen Charakter zu demonstrieren, anders gesagt: eine negative Beispielhaftigkeit. Rousseau wie Debord sind nicht nur einzigartig, sie können (oder wollen) auch nicht nachgeahmt werden – somit kehren beide das ursprüngliche, religiöse autobiographische Modell um, das auf einem positiven Leitbild beruht. Ich schreibe weder, um Gefolgschaft zu haben, noch um nachgeahmt zu werden. Dies ist meine Einzigartigkeit gegen die menschliche Gattung, ihr seid nicht meinesgleichen. Die theoretische Melancholie geht in das autobiographische Register über und erhält eine paranoische Dimension, insofern als ihre tiefsinnigste Funktion vielleicht darin besteht, die Beziehung zu anderen zu konfliktualisieren. Wie bei Rousseau gibt es bei Debord eine Strategie des »Feindes der Menschheit«: »Eine anti-spektakuläre Notorietät ist etwas höchst Seltenes geworden. Ich selber gehöre zu den letzten Lebenden, die eine solche besitzen, die nie eine andere besessen haben. Doch auch dies ist äußerst suspekt geworden. Die Gesellschaft hat sich offiziell als spektakulär proklamiert und außerhalb spektakulärer Beziehungen bekannt zu sein, heißt bereits, soviel wie ein Feind der Gesellschaft zu sein.«9
8. In dieser Perspektive ist es besonders bemerkenswert, dass die ersten Bücher der Bekenntnisse, wie die zwei Essais, ihre Wurzeln in demselben Mythos eines (wie immer verlorenen) goldenen Zeitalters haben; siehe dazu Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München: Hanser 1988 sowie Philippe Lejeune: Der strukturierende Charakter des Mythos des goldenen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Es handelt sich nicht um ein beliebiges Thema, und nicht zufällig findet man denselben Mythos in Debords Problematik der verlorenen Paradiese: eine Gesellschaft ohne Handel, ein nicht-spektakuläres, souveränes Florenz, ja in theoretischer Hinsicht sogar eine nomadenhafte Gesellschaft, ein goldenes lettristisches Zeitalter in einem autobiographisch abhanden gekommenen Paris. Und wenn die Theorie im Wesentlichen eine melancholische Position einnähme? 9. Guy Debord: »Commentaires sur la société du spectacle«, in: ders., Œuvres, zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 340.
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2. Schr if t und Strategie Strategie: Ich habe diesen Begriff soeben benutzt, um Debords Konfl iktualisierung der Beziehungen zu anderen anzusprechen. Eigentlich müsste man sogar von rein strategischen Beziehungen sprechen, wenn man davon ausgeht, dass eine Strategie dazu da ist, den Feind zu besiegen oder zu vernichten – stellt man sich eine freundschaftliche Strategie vor? Es wäre keine Strategie mehr. Das Interesse Guy Debords an Strategien und Strategen ist wohl bekannt und gut dokumentiert. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich nur damit, die Wirkung dieses Interesses auf sein Schreiben, die Adressaten und die Aussagen zu messen, und dies sowohl in autobiographischer als auch in theoretischer Hinsicht: Es ist gerade die Frage der Strategie, die die Überschneidung dieser beiden Diskurse beinhaltet. Was passiert mit der Schrift, mit der Literatur, mit dem Film und der Theorie, wenn der Schriftsteller eine Affinität zu Cardinal de Retz, Machiavelli, Sun-Tse, Clausewitz oder Balthasar Gracian aufweist? Zu dieser Frage soll eine Antwort gefunden werden, die folgendermaßen ausdifferenziert werden kann: kein Recht auf Einsicht, Bildersturm, Widerlegung und zuletzt Ausschluss. A)
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Debord spricht der Gesellschaft ein Einsichtsrecht ihm gegenüber ab. Er weist die geringste Aufforderung, im Spektakel zu erscheinen, zurück und lehnt ebenso jegliche damit verbundene Funktion oder Rolle ab: Dies ist bei Debord wesentlich. Man kann die Ursprünge des Spektakel-Begriffs bei Nietzsche, in Äußerungen des jungen Marx über Feuerbach und bei anderen suchen. Dies heißt jedoch nicht, dass bei ihm dieser Begriff nicht auch von einer gelebten Erfahrung kommt – eine Bestärkung dafür habe ich kürzlich in seiner Korrespondenz gefunden, wo man Folgendes liest: »Zu diesem Konzept bin ich durch reale, wenn auch sehr ›avantgardistische‹ Erfahrungen der revolutionären Bewegung in den 50er und 60er Jahren gekommen – das Phänomen gibt es aber schon viel länger.« 10 Den Namen »Spektakel« hat Debord dem gegeben, was er tagtäglich, seit seiner Jugend ablehnt: Es handelt sich um einen zu bekämpfenden, zu zerstörenden Feind, der eines Tages den Namen Spektakel angenommen haben wird – der Begriff entspringt alles in allem einem revoltierenden Geist und sogar einer gelebten Revolte. Diese negative Formulierung, der 10. Guy Debord: Correspondance 4. Années 1969-1972, Paris: Fayard 2004, S. 455. Übers. Maria Dieterle.
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Gesellschaft oder dem Anderen nicht das geringste Einsichtsrecht zu gewähren, entspricht bei Debord auch einem Wunsch nach absoluter Freiheit, für den er nie den kleinsten Kompromiss eingegangen wäre. Darauf folgt eine Praxis des Untergrunds, empfunden seit den lettristischen Jahren, verfeinert in der Zeit der »Lettristischen Internationale«, der einzigen Avantgarde, die sich jegliche Form der Ausstellung verbot, und radikalisiert im Moment der Auflösung der »Situationistischen Internationale«. Ich denke hier an die berühmte Schlussfolgerung von Die wirkliche Spaltung in der Internationalen: »Und nun, da wir uns rühmen können, bei dieser Kanaille skandalöseste Berühmtheit erlangt zu haben, werden wir noch unzugänglicher, noch klandestiner werden. Je berühmter unsere Thesen sein werden, desto obskurer werden wir selbst sein.« 11 Man muss betonen, dass der hier und andernorts von Debord angestrebte Untergrund dialektisch ist, d.h. offensiv, öffentlich, als solcher zur Schau getragen. Es handelt sich nicht um einen Rückzug oder ein Ausweichmanöver, sondern um eine Forderung. Ziel ist es, das durch das Spektakel dominierte Territorium zurückzuerobern und innerhalb des Spektakels »zollfreie« Zonen oder Freiräume zu schaffen, die dieses neutralisieren. Der von Debord geführte Kampf gegen die Gesellschaft des Spektakels war manchmal konkret, manchmal theoretisch, aber immer auch symbolisch, und im Hinblick darauf hat er immer das Wort ergriffen oder eine je nachdem filmische, literarische oder theoretische Schrift eingesetzt, die tatsächlich oder sogar ausschließlich ein strategisches Ziel hatte. Es gibt eine Anekdote, die diese Dimension der Strategie Debords gut illustriert. Als sein Freund Gérard Lebovici im Jahr 1984 ermordet wird, bedrängt ihn die Presse, die in unausstehlicher Weise auf seine mögliche Verstrickung im nie gelösten Fall spekuliert. Debord weicht natürlich jedem Kontakt mit der Presse aus – nicht ohne Erfolg, denn nur ein einziger Journalist schaff t es, ihn von Weitem, aus einem Nachbarhaus und mit Hilfe eines Teleobjektivs für Paris Match zu photographieren. Debord reagierte, indem er einfach ein »offizielles Foto« an alle Redaktionen schickte, sauber, korrekt, selbst wenn er darauf nicht besonders gut gelaunt zu sein scheint. Die Herausforderung: sich nicht zu verstecken, sondern den Blicken und Teleobjektiven des Schauspiels seinen eigenen Blick oder eigene Bilder entgegenzuhalten – dies wird später der ganze Sinn des zweiten Bands des Panegyrikus sein, worauf ich noch zurückkommen werde. Allgemeiner gesehen hat diese Anekdote einen fast allegorischen Wert in Bezug auf die strategische und autobiographische Dimension von Debords Schreiben. Dieser hat Zeit seines Lebens den von anderen ausgesuchten oder gemachten Bildern seine eigenen entgegengesetzt. Stets musste 11. G. Debord: Œuvres, zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 250.
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man ihn anschauen, so wie er sich entschloss, gesehen werden zu wollen, also wenig. Mir scheint, dass dies ein Schlüssel zu seinen autobiographischen Werken ist. Wieso vervielfacht Debord die Autoporträts und autobiographischen Berichte? Um Herr seines eigenen Bildes zu bleiben, um seinem Projekt gerecht zu werden, dem Feind das Einsichtsrecht zu verwehren, seinem Blick zuvorzukommen und zu disqualifizieren. Debord ist heute jemand, den jeder sehen möchte – die vielen Biographien beweisen dies – und gleichzeitig muss man sich daran gewöhnen, ihn nur so zu sehen, wie er es wollte. Aus dieser Perspektive stellt ein Text wie Panegyrikus eine unglaubliche Herausforderung für das Spektakel oder allgemeiner: für den Blick des Anderen dar. Das ist beispielsweise spürbar, wenn Debord schreibt: »Und ebenso wird man sich, glaube ich, mit der Geschichte, die ich jetzt erzählen werde, zufrieden geben müssen. Denn lange Zeit wird sich niemand erdreisten, in irgendeinem Punkt das Gegenteil dessen beweisen zu wollen, was ich sagen werde – ob nun versucht werden sollte, eine auch noch so geringfügige Ungenauigkeit in den Fakten zu entdecken oder ihnen gegenüber einen anderen Standpunkt einzunehmen.«12 Von solch einer Aussage ausgehend muss man auch die Reichweite des zweiten Bands des Panegyrikus verstehen, der sich wie ein Bilderbuch, ein Album – ein Familienalbum, könnte man sagen, hätte Debord eine Familie gehabt – präsentiert. Genauso wie man sich bei seiner Geschichte an die im ersten Band des Panegyrikus erzählte halten muss, ist es notwendig, sich bei Debords Bildern an den von ihm ausgesuchten und hinterlassenen zu orientieren. Um welche Bilder handelt es sich? Sind es die, die man im Panegyrikus, aber auch in manchen seiner Filme wie beispielsweise in In girum imus, der am explizitesten autobiographisch ist, findet? Alle ähneln sich, indem sie an einen jenseits des öffentlichen Raums liegenden Bereich verweisen, der für Abenteuer, Freundschaften, Liebschaften gemacht ist, von denen man nur erfährt, dass sie stattfanden. Etwas wurde erlebt, davon bleiben unter anderem visuelle Spuren übrig, aber es gibt kaum eine Chance, eines Tages mehr zu erfahren. Die Bilder Debords unterstehen einer verbotenen Intimität für all die, die nicht daran teilhaben konnten, d.h. für fast alle. B)
B ILDER S T URM
Kein Einsichtsrecht: Solch ein Veto impliziert eine spezifische autobiographische Politik, aber es handelt sich auch um einen beinahe wörtlich zu verstehenden Ausdruck, insofern er in eine spezifische Politik des Bildes 12. Guy Debord: Panégyrique. Tome premier, Paris: Fayard 1997; ders.: Œuvres, zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 301.
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mündet. Immerhin ist es kein Zufall, wenn die einzige Berufsbezeichnung, die Debord akzeptierte, die des Filmemachers war (eher noch als die des Schriftstellers oder Theoretikers). Man weiß, dass man sich davor hüten soll, den Begriff des Spektakels auf eine Problematik des Bildes zu reduzieren. Trotzdem hat das Bild als solches oder genauer gesagt dessen Ablehnung oder Zerstörung bei Debord einen strategischen Stellenwert. Debord ist erkennbar ein Ikonoklast wie Marx, den er natürlich genau gelesen hat, wie Nietzsche, den manche Kommentatoren als Quelle des Begriffs der »Gesellschaft des Spektakels« identifiziert haben; wie Freud, den Debord immer wieder versuchte zu entprivatisieren (ich denke hier insbesondere an die Psychogeographie, die in der Zeitschrift Internationale Situationniste als eine Form kollektiver Psychoanalyse definiert wurde), aber auch Rousseau, der, wie man weiß, sich für das Verbot des Genfer Theaters ausgesprochen hat und der allgemein einer der radikalsten Kritiker jeglicher Form der Repräsentation, der Erscheinung und des Bildes war. Auch Debord ist Ikonoklast, und sogar hauptsächlich als Filmemacher. Das Kino erkennt er schnell als strategisches Medium, das man gegen die Gesellschaft des Spektakels wenden muss. Diesen Punkt gilt es zu betonen: Im Gegensatz zur »post-strukturalistischen« Avantgarde, emblematisch vertreten durch einen Roland Barthes oder einen Jacques Derrida, gab es bei Debord nicht die geringste Nostalgie für das Buch, die Schrift oder die Autorität des durch die Verordnung seines Todes hypostasierten Schriftstellers. Debord sieht ganz im Gegenteil in den 1950er bis 1970er Jahren sehr gut, dass man in die Videosphäre kippt, dass sich alles im Bereich des Bildes, des Fernsehers und des Kinos abspielt. Unter diesem Gesichtspunkt gehört er wirklich zur Generation der Dreamers, um den Titel des Films von Bertolucci aufzunehmen, die Generation derer, für die um 1968 die Revolte auf die eine oder andere Art untrennbar von der Leidenschaft für das Kino ist. Mit dem Unterschied, dass ihn diese Leidenschaft auf Anhieb zur radikalsten Wandlung führt: zum leeren Bildschirm und den berühmten 24 lautlosen Minuten der schwarzen Leinwand in Geheul für Sade aus dem Jahr 1952. Ein radikaler Eröffnungsakt, den alle folgenden Filme zu wiederholen versuchen werden, ohne ihn einfach nachzubilden (Debord hat systematisch vermieden, mehrere Male das gleiche Verfahren anzuwenden). Es ist mir hier nicht möglich, auf die Details der fi lmischen Bildersymbolik Debords einzugehen. Aber zusammenfassend würde ich sagen: 1. Diese muss in den Kategorien des falschen Bildes, des versetzten Bildes, der »Deckerinnerung« und natürlich des entwendeten Bildes verstanden werden. Die Bilder, aus denen Debords Filme bestehen, sind beinahe ausnahmslos »falsche« Bilder, deren Beziehung zu dem sie begleitenden Text oft auf den ersten Blick willkürlich erscheinen. Sie 122
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werden unentwegt entwertet insofern, als niemand den Ernst und die Kohärenz des textuellen Teils von Debords Filmen anzweifeln kann. 2. Diese Charakteristiken bedeuten trotz des Anscheins keineswegs, dass es sich um sinnlose Bilder handelt. Diese verweisen insbesondere, wobei oft über Anspielungen, auf den Lebenszusammenhang. Es handelt sich um das oben schon erwähnte »Etwas wurde erlebt«. Die Bilder sind verschlüsselt: Sie deuten eine Intimität an, die uns allerdings entwischt, wie letztlich Debord selbst, der mit solchen Bildern die Identifi kationsmöglichkeiten und Masken vervielfältigt. Wo soll man Debord suchen? Soll man sich eher mit Johnny Guitar oder mit Arkady identifizieren? Mit Lacenaire oder mit dem Teufel in Die Nacht mit dem Teufel (Visiteurs du Soir)? Wer diese Fragen aufwirft, wird sich eingestehen müssen, dass offensichtlich keine Wahrheit in Debords Bildern zu finden ist. 3. Der Status dieser Bilder lässt sich nicht trennen von dem, was sich in allen Filmen gegen sie stellt, nämlich von der Off-Stimme Debords selbst, die zwar nicht als Repräsentantin einer göttlichen Wahrheit dient, aber doch zumindest für die unwiderlegbare Gewissheit eines absolut einzigartigen selbstverantwortlichen Individuums steht, dessen wichtigste Eigenschaft genau darin besteht, sich durch kein Bild gefangen nehmen zu lassen, sich nur durch eine von allen anderen abhebende Stimme zu behaupten. Nichts ist Debord fremder als die von Derrida entfaltete »Kritik des Phonozentrismus«. Er ist nicht auf der Seite der »différance«, der durch die Schrift bewirkten unendlichen Mediation, sondern auf der Seite der Unmittelbarkeit, oder zumindest einer durch die Stimme erzielten Wirkung der Unmittelbarkeit – übrigens in Übereinstimmung mit seinen politischen Einstellungen. In den als permanente demokratische Foren errichteten autonomen Arbeiterräten ist kein anderes Medium als die Stimme notwendig. Eine zusätzliche Bemerkung zum Bildersturm: Ich weiß nicht, ob jener von Debord – oder jener von Marx, dessen Messianismus seit langem bekannt ist – noch religiöser Natur sind, d.h. ob sie letztendlich auf eine nicht darstellbare Wahrheit des Göttlichen verweisen. Aber ich bemerke trotzdem in seinen Schriften insgesamt, deutlicher jedoch in den postmarxistischen und insbesondere in den Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels aus dem Jahr 1988, dass die »Wahrheit«, die man als Wahrheit über die Gesellschaft, über ihr Funktionieren verstehen muss, fast per Definition eine versteckte Wahrheit ist, weil sie immer mehr die Form eines Komplotts annimmt. Die Gesellschaft des Spektakels aus dem Jahr 1967 geht noch von der Effektivität der theoretischen Arbeit als Mittel der Erkenntnis aus. 20 Jahre später gibt Debord diese theoretische Haltung auf zugunsten des einzigartigen und außergewöhnlichen Individuums, das die spekta123
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kuläre Gesellschaft bekämpft, auf dem Laufenden über die angestifteten Komplotte ist und sich als guter Stratege davor hütet, all seine Karten zu zeigen. Es ist nicht mehr Gott, der nicht darstellbar ist, sondern der Teufel. Wahrscheinlich könnte man alle Paradoxe von Debords Bildersturm ausgehend von dieser Umkehrung her begreifen. Denn trotz allem mochte er Bilder sehr und inszenierte sich selbst wie ein Gesandter des Teufels, insbesondere mit der Entwendung von Marcel Carnés Die Nacht mit dem Teufel in In girum imus. C)
W IDERLEGUNG
Ein anderer Aspekt desselben strategischen Projekts: nicht mehr den Blick des Feindes widerlegen, sondern ihn erst gar nicht zur Sprache kommen lassen, ihn als Gesprächspartner disqualifizieren, ihn zurückweisen, keinerlei Konzessionen an das Publikum machen, wie es Debord in der Einführung von In girum imus ankündigt, während Bilder von Zuschauern in einem Kinosaal zu sehen sind, die somit auf sich selbst verwiesen werden. Dies würde ich als Widerlegungs- oder Unwiderlegbarkeitsstrategie definieren, die im Titel von Debords vorletztem Film explizit ist: Widerlegung aller bislang zum Film »Die Gesellschaft des Spektakels« geäußerten lobenden und feindseligen Urteile. Die Widerlegung ist auch in vielen anderen Texten am Werk: natürlich in Gedanken über die Ermordung von Gérard Lebovici oder in Cette mauvaise réputation (Dieser schlechte Ruf ), der dasselbe Prozedere mehrere Jahre später wiederaufnimmt: nämlich den bitteren, ironischen, manchmal verletzenden Kommentar derer, die es wagten, über den Autor zu sprechen. Es ist eine Polemik im ganzen Sinne des Wortes, durch die Debord sich als symbolischer Feind der Gesellschaft und wahrscheinlich als realer Feind von manchen konstituiert. Die Widerlegung ist dabei vielmehr eine Frage des Prinzips als die eines spezifischen Inhalts. Im Film Widerlegung aller Urteile weist z.B. nichts darauf hin, welche Urteile über den vorhergehenden Film widerlegt werden und wie. Ordures et décombres (Müll und Schutt), nach der Veröffentlichung des Films In girum imus publiziert, vereint eine Serie von Artikeln, die während der Premiere des Films entstanden und von denen manche nicht nur positiv, sondern sogar von einer bemerkenswerten Intelligenz sind. Nichts zu sehen, zu sagen, zu wünschen übrig lassen, den anderen disqualifizieren oder wenigstens jeden, der das Spektakel nicht wie Debord selber in Schach oder auf Distanz zu halten wusste oder es wollte. Die Konsequenz einer solchen Strategie wird auch die Unnachgiebigkeit Debords mit dem definitiven Charakter seiner Werke sein, denen nichts hinzugefügt oder an denen nichts verändert werden könnte (das folgende Zitat von Panegyrikus geht ebenfalls in diese Richtung: »[M]an wird sich 124
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damit zufriedengeben müssen«).13 Ein Grund, alle Kommentatoren, aber auch alle Übersetzer arbeitslos zu melden, die mit dem unwiderlegbar klaren Sinn frei umgehen würden, an den sie sich zu halten haben. Es ist kein Zufall, dass man im Vorwort zur vierten italienischen Ausgabe von Die Gesellschaft des Spektakels – eigentlich die vierte, laut Debord endlich korrekte Übersetzung – Folgendes liest: »Kein Wort ist zu ändern in diesem Buch, an dem nichts korrigiert wurde im Laufe der Dutzend Neuauflagen, die es in Frankreich erlebte, abgesehen von drei oder vier Druckfehlern. Ich rühme mich, eines der äußerst seltenen zeitgenössischen Beispiele von jemandem zu sein, der geschrieben hat, ohne von den Ereignissen sofort widerlegt zu werden, und ich spreche nicht von hundert- oder tausendfacher Widerlegung wie bei den anderen, sondern von keiner einzigen. Ich zweifle nicht daran, dass die Bestätigung, auf die alle meine Thesen stoßen, bis zum Ende des Jahrhunderts und selbst darüber hinaus anhalten wird.« 14 Wir befinden uns dort, in diesem »darüber hinaus«, und es stimmt, dass die in Die Gesellschaft des Spektakels entwickelten Thesen wahrscheinlich heute nicht widerlegbarer sind als vor 40 Jahren. Die Strategie der Widerlegung ist auch eine Strategie der Totalisierung, des »Alles-ist-Gesagt«. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man sogar sagen, dass Die Gesellschaft des Spektakels Debord als Ersatz für das ›totale‹ Buch dient, wenn man hinzufügt, dass es diesen Status nur aufgrund des ganzen Rests erlangt. Dieser Rest, Filme und Texte, dient dazu, das Buch sofort oder im Voraus als das letzte erscheinen zu lassen, als das, mit dem alles gesagt wurde. Und man wird diesbezüglich auch feststellen, dass Debord mit der Aussicht eines totalen Buches tatsächlicher Erbe der Avantgardisten und derer, die seit dem 19. Jahrhundert das literarische Feld im Hinblick auf einen solchen Anspruch konfigurierten, ist (von Mallarmé bis Wagner, mehrmals in der Zeit der Lettristen erwähnt, bis zu den Utopisten). Die Avantgarden sind in dieser Perspektive nicht von der hegelschen-marxistischen Totalisierung trennbar. Sie existieren nur, wenn sie sich auf so etwas wie den Sinn der Geschichte stützen können, ohne den sie sich in die Postmoderne auflösen. D)
A US SCHLUS S
Die Frage der Totalisierung, des »Alles-Sagens« oder des »Alles-ist-Gesagt«, und wenn möglich von allem, führt mich zu meinem letzten Punkt: dem Ausschluss. Eine Strategie der Widerlegung ist auch eine Strategie 13. G. Debord: Panégyrique, S. 19. 14. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud, Hamburg: Nautilus 1978, zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 290.
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des Ausschlusses. Eine der Aporien, oder zumindest eine der Merkmale des totalen Werks war immer zu postulieren, dass, falls es dieses gäbe, es niemand mehr lesen würde, es keine Adressaten mehr gäbe, insoweit, als es unmöglich ist, ein »Alles-Sagen« anders als durch ein »Durch-Alle-Gesagt« zu konstituieren. Diese Aporie ist übrigens auch im Zentrum des situationistischen Projekts einer teilnehmenden Kunst, die nur dann wahrhaftig dem Spektakel abgezogen wird, wenn es keinen Zuschauer mehr gibt, wenn jeder sozusagen der Ausführende seines eigenen wiedererfundenen Lebens wird. Dies ist die Utopie einer authentisch kommunistischen Poetik, realisierbar allein in der Revolution, unter der Bedingung, dass diese anhält, ohne dass irgendeine avantgardistische Partei sie zurückholt. Weshalb waren die Situationisten den Auff ührungskünsten und allgemein jeglicher partizipierender Kunst (Performances usw.) so feindlich gegenüber eingestellt? Weil diese nie partizipierend genug ist und weil sie damit in das Spektakel zurückfällt. Die einzig wahrhaftig partizipierende Kunst ist die Revolution, aber nur diejenige, an der jeder teilnimmt, unauf hörlich und ohne dass irgendwelche Befugnisse an Vertreter oder an irgendeine Avantgarde abgegeben werden. Sich auf Vertreter zu verlassen, das bedeutet, sich Repräsentationen, fast schon Erscheinungen oder Darstellungen anzuvertrauen. Anders gesagt, wird eine Strategie der Totalisierung in letzter Instanz immer eine Strategie des Auschlusses des Lesers oder des Zuschauers sein, was beim post-situationistischen Debord immer expliziter wird. Man kann hier eine andere Textstelle des Vorworts zur vierten italienischen Ausgabe zitieren: »Offen gestanden glaube ich wirklich, dass es niemanden in der Welt gibt, der fähig ist, sich für mein Buch zu interessieren, außer jenen, die Feinde der bestehenden sozialen Ordnung sind und die tatsächlich aufgrund dieser Situation handeln.« 15 Oder ein bisschen weiter: »Dagegen hat meines Wissens dieses Buch in den Fabriken Italiens im Augenblick seine besten Leser gefunden. Die italienischen Arbeiter, die, was ihren Absentismus, ihre wilden Streiks, die kein besonderes Teilzugeständnis befriedigt, ihre klarsichtige Verweigerung der Arbeit, ihre Verachtung des Gesetzes und aller staatstreuen politischen Parteien angeht, heute ihren Genossen aller Länder als Beispiel angeführt werden können, kennen den Gegenstand dieses Buches durch die Praxis gut genug, um Nutzen aus den Thesen der Gesellschaft des Spektakels ziehen zu können, selbst wenn sie nur mangelhafte Übersetzungen lesen konnten.« 16 Es gibt also einerseits die Leser-Zuschauer, an die ein solches Buch nicht adressiert ist, und anderer15. G. Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 332. 16. Ebd.
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seits Nicht-Leser, italienische Arbeiter, die von vornherein die Herausforderungen verstehen, so dass die schlechten, Debords Wut hervorrufenden Übersetzungen ausreichen. Man findet denselben Gedankengang im Film Widerlegung aller Urteile: »Es gibt Leute, die verstehen und andere, die nicht verstehen, dass der Klassenkampf in Portugal zuerst und vor allem beherrscht wurde vom direkten Zusammenstoß zwischen den in autonomen Versammlungen organisierten revolutionären Arbeitern und der stalinistischen Bürokratie, unterstützt von sich in heilloser Flucht befindlichen Generälen. Diejenigen, die dies verstehen, sind die, die meinen Film verstehen können; ich mache keine Filme für die, die das nicht verstehen oder so tun, als würden sie es nicht verstehen.«17 ›Ich mache nur Filme für diejenigen, die es nicht brauchen, die schon verstanden haben.‹ Oder, um es noch einmal wie am Anfang von In girum imus zu sagen, »[i]ch werde in diesem Film keinerlei Konzessionen an das Publikum machen.« 18 Heuchlerischer Leser, du bist nicht meinesgleichen und noch weniger mein Bruder. Das, was ich geschrieben habe, lässt nichts zu wünschen übrig, nichts, worüber man übereinkommen, nichts, mit dem man sich identifizieren könnte. Übrigens schreibt Debord woanders: »Ich habe mich durchweg nur mit mir selbst identifiziert«19 – eine Behauptung, die weit geht, wenn man sich die Mühe gibt, sie wortwörtlich zu verstehen: Ich habe mich nur mit mir selbst identifiziert, es gibt für mich kein anderes Bild von mir als mich selbst. Ich bin kein anderer. Debord gegen Rimbaud. Vielleicht ist dies die ultimative Lektion Debords. Der menschliche Austausch besteht aus Bildern und genau diese wollte er nicht: weder geschäftigen Austausch noch Bilder. Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Maria Dieterle.
17. »Réfutation de tous les jugements…«, in: G. Debord: Œuvres, zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 308. Diese Aussage hängt anscheinend mit den Ereignissen in Portugal der Jahre 1973-74 zusammen. Sie hat aber auch eine viel allgemeinere, fast emblematische Tragweite, allein schon, weil der betreffende Film kein Film über Portugal ist. 18. Ebd., zit. in V. Kaufmann: Guy Debord, S. 305. 19. »Cette mauvaise réputation…«, in: G. Debord: Œuvres, zit. in V. Kaufmann, Guy Debord, S. 300.
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Bibliographie Debord, Guy: Correspondance 4. Années 1969-1972, Paris: Fayard 2004. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud, Hamburg: Nautilus 1978. Debord, Guy: Œuvres cinématograhiques complètes, Paris: Champ Libre 1978. Debord, Guy: Panégyrique. Tome premier, Paris: Fayard 1997. Debord, Guy: In girum imus nocte et consumimur igni. Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Filmskript, Berlin: Tiamat 1985 (1978). Kaufmann, Vincent: Guy Debord. Die Revolution im Dienste der Poesie, Berlin: Tiamat 2004. Lejeune, Philippe: Der strukturierende Charakter des Mythos des Goldenen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München: Hanser 1988.
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Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ausgerechnet Guy Debord, der Kritiker der Gesellschaft des Spektakels, das audio-visuelle Medium Film als eines seiner Sprachrohre auswählt. Erstaunen deshalb, weil seiner Auffassung gemäß das Spektakel »das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation [ist], dass es zum Bild wird«,1 aber auch »nicht ein Ganzes von Bildern [darstellt], sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen«.2 Ausgerechnet der Autor dieser im akademischen Bereich jüngst häufig anzutreffenden Bekräftigungen setzt sich mit Bildern auseinander und bezeichnet sich offiziell als »réalisateur de quelques fi lms hors-circuit«.3 Trotz der Kraft, welche in seinen Augen Bildern innewohnt, arbeitet er mit Bildern und produziert Filme, auch wenn er sich einst geschworen hat, nie seine Arbeitskraft einzusetzen, um etwas zu produzieren. 4 Es ist heute unumgänglich geworden: Das Denken ist ohne eine Orientierung an und mit Bildern undenkbar. Gleichzeitig sind wir allgegenwärtigen Bilder-Tsunamis ausgesetzt, die vorgeblich der Information dienen. Verschiedene Künstler nehmen auf diesen Umstand Bezug, versuchen die1. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, These 34, vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud, Hamburg: Nautilus 1978, S. 16. 2. Ebd., These 4, S. 6. 3. Vgl. die Kurzbeschreibung des Autors auf dem Buchumschlag von Guy Debord: La société du spectacle, Paris: Buchet-Chastel 1967. 4. Gemeint ist hier das Graffito »Ne travaillez jamais«, das von Debord 1953 in Saint-Germain-des-Prés, in der Rue Seine, auf eine Mauer eingeschrieben wurde.
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se Situation zu thematisieren und im selben Zug dem Bild ein kritisches Potenzial anzurechnen. Einer dieser Künstler ist für mich Guy Debord. Seine Erzeugnisse sind immer vom Standpunkt eines avantgardistischen Künstlers hergestellt, auch wenn er sich dagegen wehrt und seine künstlerischen Produktionen nie als solche bezeichnet hätte. Debord sieht sich selber vielmehr als Krieger, Stratege, erstaunlicherweise als Filmemacher, vor allem aber als jemand, der direkt und mit beiden Beinen im Alltagsleben steht. Dies ist das ausgewählte Aktionsfeld von Debord und seinen Komplizen, die sich 1957 zur avantgardistischen Tendenz Situationistische Internationale (SI) zusammenschließen. Im alltäglichen Bereich des wahrhaftig gelebten Lebens gilt es zu intervenieren, nicht in einer Kunstgalerie. Demzufolge sollen keine Produkte angefertigt werden, die unproblematisch in die Warenzirkulation aufgenommen werden können. Vielmehr geht es darum, diese so auszulegen, dass sie sich unter die Leute mischen, die Unterscheidung zwischen Kunst und Alltag unterlaufen und gleichzeitig gegen das Spektakel auf begehren. Gilles Deleuze formuliert eine nützliche Differenzierung zwischen Kunst und Information. Er rechnet hierbei dem künstlerischen Schaffen die Verwandtschaft mit einem Akt des Widerstands zu: »Mettons que l’information ce soit cela, le système contrôlé des mots d’ordre qui ont cours dans une société donnée. Qu’est-ce que l’œuvre d’art peut avoir à faire avec cela? Ne parlons pas d’œuvre d’art, mais disons au moins qu’il y a de la contre-information. […] Ce qu’il faut constater, c’est que la contre-information n’a jamais suffi à faire quoi que ce soit. […] Sauf dans un cas. Quel est le cas? C’est là que c’est important. La seule réponse serait que la contre-information ne devient effectivement efficace que lorsqu’elle est – et elle l’est par nature – ou devient acte de résistance. Et l’acte de résistance n’est ni information ni contre-information. La contre-information n’est effective que lorsqu’elle devient un acte de résistance. Quel est le rapport de l’œuvre d’art avec la communication? Aucun. L’œuvre d’art n’est pas un instrument de communication. L’œuvre d’art n’a rien à faire avec la communication. L’œuvre d’art ne contient strictement pas la moindre information. En revanche, il y a une affinité fondamentale entre l’œuvre d’art et l’acte de résistance.«5
Kunst hat somit keinen informativen Gehalt, sondern gründet unter anderem ihre Funktion auf der Tatsache, dass sie sich querstellt und nicht reibungslos zu einem kommerziellen Konsumgut gemacht werden kann. Die5. Gilles Deleuze: »Qu’est-ce que l’acte de création?«, in: David Lapoujade (Hg.), Deux régimes de fous. Textes et entretiens, Paris: Éditions de minuit 2003, S. 291-304, hier S. 300.
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ser Aspekt scheint mir für die Debord’sche Kunstproduktion zentral und der Ausgangspunkt für die Annäherung an seine Produkte zu sein. Insbesondere seine Filme sind als Widerstandsakte gegen die Informations-, Show- 6 und Spektakelgesellschaft aufzufassen. Sie stellen Kunstwerke der Gegeninformation dar, die eine Widerstandsfähigkeit entfalten und sich analog zu Debords Buch Mémoires7 verhalten: Der Buchumschlag der ersten Ausgabe dieser Memoiren ist aus Schleifpapier. Dies hat zur Folge, dass dieses Buch sich nicht ohne Weiteres in ein Bücherregal stellen lässt. Es reibt sich an den Nachbarbüchern und reibt diese auf. Es greift sie an und beschädigt ihre Umschläge. So die Filme Debords: Als strategische Züge gegen die Zerstreuungsgüter des Spektakels reiben sie sich an ihren Nebenprodukten. Diese Vorgehensweise ist eng an die situationistische Tradition des Potlatch gekoppelt, der besonders Debord immer treu geblieben ist. Mit der Realisierung von Filmen in der Gesellschaft des Spektakels bietet Debord eine ostentative Überbietung an. Anstatt seine Leistungskraft nur für die Konstruktion von ephemeren Situationen einzusetzen, dem zentralen Vorhaben der Situationisten, wendet er sich dem einflussreichsten und kompromittierendsten Medium des Spektakels zu. Er weicht nicht auf ein anderes Medium aus, sondern stellt sich auf diese Weise seinem Gegner. Wie er dabei vorgeht und welche Art einer kinematographischen Poetik er einsetzt, soll an dieser Stelle befragt werden. Dabei möchte ich die bisherigen Tendenzen bei der Behandlung der Filme Guy Debords umkehren. Andere Analysen stützen sich auf die schriftlichen Dokumente von Debord,8 um diesen eigensinnigen Produkten näher zu kommen. Stattdes6. Die Bezeichnung der Gesellschaft von Spektakel als Showgesellschaft stammt von Jörn Etzold: »Melancholie des Spektakels. Guy Debord«, in: Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin: Theater der Zeit 2007, S. 230-257, hier S. 232. 7. Dieses Buch wurde mit dem Künstler Asger Jorn verfertigt und 1958 veröffentlicht. 8. Für die Behandlung der Filme Debords wird gerne auf sein Buch La sociéte du spectacle (1967) zurückgegriffen. Das erste Kapitel »La séparation achevée«, das sich mit der Funktion des Bildes in der Gesellschaft des Spektakels auseinandersetzt, scheint dafür einen geeigneten Anhaltspunkt zu liefern. Zu unterstreichen ist an dieser Stelle auch, dass Debord seine Filme im April 1984, nach der mysteriösen und ungeklärten Ermordung seines Mäzenen Gérard Lebovici, aus dem Verkehr zog und die Projektion der Kopien weltweit untersagte. Erst nach zehn Jahren und knapp zwei Monate nach Debords Freitod am 30. November 1994 strahlt der französische Privatsender Canal+ spätabends den letzten Film aus, der zwar von Debord signiert ist, jedoch von Brigitte Cornand realisiert wurde. Nach Guy Debord, son art, son temps (1994) wurden dann auch Debords
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sen soll der Debord’sche Bildeinsatz und die Bildverwendung untersucht werden. Dafür wird seinem dritten Film Critique de la séparation9 Vorrang gegeben, da er die Einsatzmittel, die zu Debords Filmsprache gehören, in höchstem Maße ausreizt und an die Grenzen treibt.
Debord’sche Bildver wer tung Das erste, was bei der Betrachtung der Filme von Guy Debord auff ällt ist, dass er sich als offizieller Filmemacher äußerst selten hinter die Kamera begibt und fi lmt. Um sich gegen die Welt des Spektakels fi lmisch zur Wehr zu setzen, greift Debord vorwiegend auf Bilder des Spektakels selbst zurück. Das Bildmaterial, das er einsetzt, ist entwendet. Aus der Überfülle vorfabrizierter Elemente, diesem zur Verfügung stehenden Bilder-Labyrinth, das die Massenmedien zügellos produzieren, wählt er aus, als ob es nicht nötig wäre, noch mehr Bilder herzustellen. Diese Vorgehensweise geht auf ein von Guy Debord und Gil Wolman 1956 als Gebrauchsanweisung ausformuliertes Verfahren zurück.10 Die Technik des détournement basiert auf der Grundannahme, dass einerseits vierter Film La société du spectacle (1973) und der fünfte Réfutations de tous les jugements, tant élogieux qu’hostiles qui ont été portés sur le film »La société du spectacle« (1978) gezeigt. 2001 fand im Rahmen der Mostra in Venedig erstmals die integrale Retrospektive der Filme Debords statt und seit 2005 sind alle seine Filme als DVD Edition (Gaumont) zugänglich. Wenn man sich bis vor kurzem mit den Filmen von Guy Debord auseinandersetzen wollte, blieb einem nichts anderes übrig, als auf die unspektakulären Drehbücher zurückzugreifen, die im selben Jahr wie Debords letzter Film In girum imus nocte et consumimur igni (1978) mit dem Titel Œuvres cinématographiques complètes veröffentlicht wurden. Der einzige Film, der nach diesem Rückzug für Forschungszwecke eingesehen werden konnte, ist Critique de la séparation (1961), der im Besitz des dänischen Silkeborg Kunstmuseums ist. 9. Der erste Film von Debord ist Hurlements en faveur de Sade (1952), der zweite Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps (1959). 10. Vgl. Guy Debord/Gil Wolman: »Mode d’emploi du détournement« (1956), in: Gérard Berreby (Hg.), Documents rélatifs à la fondation de l’Internationale Situationniste, Paris: Allia 1985, S. 302-309. Dieser Text wurde vor der Zeit der Situationistischen Internationalen (1957-1972) geschrieben und in Les lèvres nues 8 veröffentlicht. Wolman und Debord gehörten 1956 noch der Lettristischen Internationalen an, einer der Gründungsgruppen der SI. In diesem Artikel wird der Einfachheit halber keine Differenzierung der Bewegungen vorgenom-
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das Plagiat, also die Wiederaneignung von mit Urheberrechten oder Copyright belegten kulturellen Produkten sich angesichts der herrschenden Produktionsbedingungen aufdränge. Als Kompositionsprinzip wird das détournement seitens der Situationisten für plastische Collagen und auch für die Verfassung theoretischer Schriften eingesetzt. Fremde Referenzen werden dabei aufgenommen, ohne die Quellen zu zitieren, und für situationistische Zwecke verdreht. Andererseits beinhaltet das détournement ebenfalls die Überzeugung, dass, wenn heterogene Elemente zusammengefügt werden, zwangsläufig eine neue Beziehung entsteht. »Tous les éléments, pris n’importe où, peuvent faire l’objet de rapprochements nouveaux. La découverte de la poésie moderne sur la structure analogique de l’image démontrent qu’entre deux éléments, d’origine aussi étrangères qu’il est possible, un rapport s’établit toujours. […] L’interférence de deux mondes sentimentaux, la mise en présence de deux expressions indépendantes, dépassent leurs éléments primitifs pour donner une organisation synthétique d’une efficacité superieure. Tout peut servir.«11
Das détournement stellt kein willkürliches Zusammenfügen dar. Elemente, die ihrem primären Kontext entrissen und somit ihres ursprünglichen Sinns beraubt wurden, werden in einen neuen semantischen und syntaktischen Zusammenhang gebracht. Dem Film wird nicht nur in Bezug auf das détournement, sondern auch bei der Konstruktion von Situationen eine große Wirkungskraft zugerechnet. Gemäß den Situationisten kann mit dem détournement im Film seine größte Schönheit erreicht werden12 und für die zu konstruierenden Situationen wird die direkte Verwendung des Films als konstitutives Element verstanden.13 Eine Tradition der Avantgarde-Bewegungen ist es, der konkreten künstlerischen Umsetzung ihrer Ideen zunächst die eigenständige Theoretisierung vorauszuschicken. Meistens geschieht dies in Form von Manifesten. Die Situationistische Internationale verzichtet weitgehend darauf und zieht der Verfassung von Manifesten die Ausformulierung ihrer Ideen anhand von Gebrauchsanleitungen vor. Die spielerische Einfachheit der Anleitung zum détournement regt zur Aneignung und Nachahmung an. Die Absicht ist eindeutig, die situationistischen Ideen in Umlauf zu bringen und zur men und von der Situationistischen Internationalen oder den Situationisten gesprochen. 11. Ebd., S. 302/303. 12. Ebd., S. 306. 13. Vgl. »Avec et contre le cinéma« in: internationale situationiste 1 (1958), S. 8.
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Vervielfältigung anzuregen. Die vorgeschlagene Technik soll sich auf diese Art und Weise frei entfalten können. Die spärlichen Werke, welche die Situationisten hergestellt haben, sollen bloß eine der unzähligen Anwendungsmöglichkeiten darstellen. Mittels Einsatz des détournement im Film kann die dominante Sprache des spektakulären Systems manipuliert werden. Durch die Aneignung bereits hergestellter, ästhetischer und industrieller Produkte spricht Debord ihnen ihren Wert ab und komponiert sie zu einer Kritik gegen sich selber um. Debord greift in Critique de la séparation, wie in all seinen Filmproduktionen, vorzugsweise auf gefundene Filmstreifen zurück. Er wählt unterschiedliche Ausschnitte aus der Sphäre der bewegten Bilder der audiovisuellen Kommunikation aus, wie beispielsweise das Kino oder Wochenschauen. Er benutzt aber auch unbewegtes Material wie Photographien oder Filmstills. Dabei wird keine Unterscheidung oder Wertung der Bilder vorgenommen. Eigens aufgenommene Bilder werden gleich behandelt wie das found footage.14 Anders als andere Experimentalfi lmer, die sich in die Tradition des found footage einschreiben und den gefundenen Filmstreifen direkt bearbeiten, indem sie ihn zerkratzen, mit Chemikalien verätzen oder die Abspulzeit verändern, lässt Debord die pellicule intakt. Sein Bildersturm liegt in der Art und Weise, wie er mit den gefundenen Bildern umgeht und sie einsetzt. Dabei können drei verschiedene ikonoklastische Ebenen unterschieden werden, die zugleich den drei grundlegenden Charakteristika der Filmproduktion entsprechen: Die Bildeinstellung oder Kadrierung, die Beweglichkeit der Kamera und die Montage.
Kadr ierung André Bazin spricht dem Film irrtümlicherweise die Eigenschaft zu, ein geöffnetes Fenster zur Welt zu sein. Diese These wird seit geraumer Zeit widerlegt und kritisiert. Beim Film handelt es sich nicht um eine umfassende und alles einschließende Perspektive, sondern immer um eine gerahmte. Die ausgewählte Bildeinstellung enthält immer nur den gewählten Ausschnitt. Alles andere fällt aus dem Rahmen, wird davon ausgeschlossen und bleibt unsichtbar. Was durch die Kadrierung abgeschnitten wird, das kann man sich zwar vorstellen, es ist aber nicht im Bild enthalten. 14. Eine andere Bildkategorie stellen die Aufnahmen der Mitglieder der SI selber dar, welche an dieser Stelle nicht einzeln betrachtet werden, denn mit diesen Bildern wird auf gleiche Weise umgegangen.
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Die Möglichkeit, durch die fi lmische – oder photographische – Bildeinstellung etwas zu fokussieren, unterstreicht Debord in seinem Film. In Critique de la séparation werden immer wieder unbewegte Bilder wie Standbilder, Filmstills, Photographien oder Comicstrips eingesetzt. Diese Bilder werden direkt mit der Kamera abgefi lmt, entsprechend in vierundzwanzig Bilder pro Sekunde übersetzt und in Photogramme verwandelt. Debord belässt es aber nicht bei der simplen Vervielfältigung der bestehenden Kadrierung, sondern bearbeitet die Bilder weiter: Er rahmt gerahmte Bilder mit der Kamera neu, mit dem Zoom visiert er ein Detail eines Bildes an oder er tastet es mittels der Bewegung der Kamera ab. Mit diesem nahezu sinnlich anmutenden Umgang behandelt er beispielsweise ein entwendetes Bild, das einen prägnanten Moment darstellt: Zwei Ritter in pompöser Kleidung und Armatur richten ihre großen Schwerter gegeneinander. Im Hintergrund, von der Kampfszene durch einen langen Tisch getrennt, starren die weiteren Versammelten auf die Szene. Einer der Beobachter erhebt mit einer mahnenden Geste und besorgtem Ausdruck Einwand, doch es scheint dafür schon zu spät. Konzentriert blicken die Ritter einander an und sind bereits auf den gleich beginnenden Kampf eingestellt. Das Bild wird an verschiedenen Stellen im Film Critique de la séparation eingesetzt, es wird angezoomt, mit einem Travelling bearbeitet und auf die Profi laufnahme des einen Kämpfers beschnitten.
Beweglichkeit der Kamera Des Weiteren wird in Critique de la séparation sehr häufig mit der Beweglichkeit der Kamera gespielt. Durch Travellings und Panoramaeinstellungen wird unbewegtes Bildmaterial einerseits in Bewegung versetzt, andererseits die Beweglichkeit der Kamera laufend für die eigens gedrehten Sequenzen benutzt. Dabei scheint die beliebteste Richtung die Leserichtung von links nach rechts zu sein. Bei den Aufnahmen der Stadt, die ebenfalls vorwiegend Kamerafahrten darstellen, aus dem Heck eines Wagens oder aus der Vogelperspektive, werden des Weiteren auch die Grenzen zwischen found footage und den von Debord eigens gedrehten Einstellungen verwischt. Neben den Travellings findet sich in Critique de la séparation eine vollständige Panoramaeinstellung. Diese von Debord eigenhändig gedrehte Einstellung, die alles einschließt und sogar den Betrachter mit ins Bild zu ziehen vermag, wird sogleich dekonstruiert. Ein Untertitel begleitet den Beginn dieser Panoramafahrt. Es handelt sich um den Einleitungsgesang von Dantes Divina Commedia, welcher darauf verweist, dass der Autor vom rechten Weg abgekommen sei und sich in der Sünde verirrt habe. Zusätz135
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lich setzt ein extradiegetischer Kommentar ein, der die Funktion des Kinos erläutert. Laut dem Kommentar ist diese davon gekennzeichnet, eine falsche und isolierte Kohärenz zu zeigen, ob nun eine dramatische oder dokumentarische, und diese als Stellvertreter für eine abwesende Kommunikation und Aktivität einzusetzen.15 Genau das zeigt dann, trotz der Panoramafahrt, die Kamera. Obwohl sie sich um ihre eigene Achse dreht, kann sie immer nur einen Ausschnitt nach dem anderen aufnehmen. Indem sie gleichmäßig weiterdreht, gerät immer etwas Neues in den Fokus und etwas Anderes aus dem Bild. Wie der Radfahrer, der zu Beginn der Einstellung ins Bild fährt, dann vermeintlich von der Kamera verfolgt wird und sich plötzlich verliert, weil eine Knabengruppe ins Objektiv und somit ins Visier gerät. Der Kommentar fährt weiter: Um das Dokumentarkino zu entmystifizieren, müsse das aufgelöst werden, was man Sujet nenne.16 Und genau in diesem Augenblick bückt sich der Knabe und verschwindet aus dem Bild. Die Panoramaeinstellung findet schließlich in Begleitung von Barockmusik wieder zu ihrem Ausgangspunkt. Nach der Panoramaeinstellung folgt ein Comicstrip, der einen Taucher darstellt, der unter Wasser denkt: »[…] Si seulement je pouvais me libérer de ces plombs …« Währenddessen werden weiterhin Feststellungen zum Kino aus dem hors champ geäußert. Diese weisen darauf hin, dass ein gut etabliertes Rezept besage, dass in einem Film alles, was anders als mittels Bildern gesagt werde, wiederholt werden müsse, da dem Zuschauer ansonsten der Sinn entwische.17 Muss sich die Kinematographie von diesen alteingesessenen Rezepten, die als Ballast fungieren, befreien? Anscheinend, denn Debord geht in seinem Film genau umgekehrt vor, er wiederholt unentwegt dieselben Bilder, kombiniert sie, versetzt sie in Bewegung und bearbeitet sie. In Critique de la séparation finden sich immer wieder das bereits erwähnte Bild der Ritter, Aufnahmen der Mitglieder der Situ15. Vgl. Guy Debord: Œuvres cinématographiques complètes, Paris: Champ Libre 1978, S. 39/40: »La fonction du cinéma est de présenter une fausse cohérence isolée, dramatique ou documentaire, comme remplacement d’une communication et d’une activité absentes.« 16. Vgl. ebd., S. 40: »Pour démystifier le cinéma documentaire, il faut dissoudre ce que l’on appelle son sujet.« Sujet kann sowohl Thema als auch Subjekt im Sinne einer Hauptfigur bedeuten. Eine »Hauptfigur« (Caroline Rittener) taucht in Critique de la séparation immer wieder auf, wir erfahren jedoch nur folgendes über sie: »Par exemple, je ne parle pas d’elle. Faux visage. Faux rapport.« 17. Vgl. ebd., S. 40: »Une recette bien établie fait savoir que, dans un film, tout ce qui est dit autrement que par l’image doit être répété, sinon le sens en échappera aux spectateurs.«
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ationistischen Internationalen, Bilder des spontanen Aufstands der Bevölkerung gegen die Kolonialmächte im Kongo und immer wieder Bilder von Paris, aus der Vogelperspektive, vom Auto oder von der Straße aus gefi lmt. Mit dieser exzessiven Wiederholung und In-Bewegung-Setzung der immergleichen Bilder drängt sich in Anlehnung an Lyotard die Frage auf, ob es sich dabei effektiv um simple Wiederholungen handelt, oder ob diese ewige Wiederkehr bereits benutzter Bilder nicht auf ein anderes Raumund Zeitgefüge verweist als jenem der simplen Wiederholung.18 Mit dieser Verwertung und diesem Einsatz der Bilder scheint Debord nicht nur die Bilder als Bilder auszustellen, wie Giorgio Agamben in seinem Vortrag »Le cinéma de Guy Debord«19 1995 meint. Meines Erachtens geht er noch einen Schritt weiter. Indem er mit seinem sanften Ikonoklasmus den Fetisch Bild kunstgerecht behandelt, verhindert er, dass sich in seinen verdrehten Bildern ein gesellschaftliches Verhältnis zum Kapital akkumuliert. Durch diese Debord’sche Bearbeitung der Bilder wird eine Korrektur angestrebt und aufgezeigt, dass ein offensiver Bildersturm im Zeitalter des Spektakels sein Ziel verfehlt. Stattdessen wird ausgestellt, dass das durch Bilder vermittelte gesellschaftliche Verhältnis zwischen Personen im Spektakel auf wackeligen Beinen steht. Debord führt vor, dass darin eingegriffen werden kann und dass dies prinzipiell jedermann tun kann.
Montagef ilm Wie bereits vorgreifend anhand der Panoramafahrt und den darauf folgenden Einstellungen beschrieben wurde, werden die eingesetzten Bilder und Sequenzen von Debord in seinem Film Critique de la séparation auf eine spezifische Weise geschnitten. Die Aufnahmen, die von ihm selber aufgenommen wurden, prallen mit bearbeiteten Standbildern und entwendetem Material zusammen. In Debords Film wird so ein weiterer Aspekt der Filmproduktion pointiert: die Montage. Im Labor der fi lmischen Postproduktion werden die eingesetzten Bilder bearbeitet und zusammengeklebt. Dabei fällt im Gegensatz zu den Montagefi lmen der russischen Konstruktivisten auf, dass Debord die Aufmerksamkeit auf die Schnittstelle zwischen den benutzten 18. Vgl. Jean-François Lyotard: »L’acinéma«, in: Révue d’esthétique 2/3/4 (1973), S. 357-369, hier S. 361. Lyotard nimmt für diese Darlegung Bezug auf Freud. 19. Vgl. Giorgio Agamben: »Le cinéma de Guy Debord«, in: ders., Image et mémoire, Paris: Carré, Hoëbeke 1998, S. 65-76, hier S. 75.
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Bildern legt. Eisenstein und Vertov, die bekanntesten Vertreter des Montagefi lms, legen eine außerordentliche Präzision und Reflexion bezüglich der Aufnahmen an den Tag und bauen in der Einstellung selber eine Spannung auf, welche dann mit weiteren Einstellungen in Verbindung gebracht wird, die auf dieselbe Weise konstituiert worden sind. Debord bedient sich einerseits bereits angefertigten Materials, das eine solche interne Aufgeladenheit als Punctum oder Attraktion enthalten kann. Andererseits setzt er auch absolut undramatische stock-shots ein, die im ursprünglichen Kontext bloß eine bestimmte Atmosphäre generierten. Er verlegt somit im Gegensatz zu Eisenstein und Vertov die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Nahtstelle zwischen den Bildern und versucht mittels der Montage, die in den Bildern eingeschriebene, spektakuläre Struktur zu enthüllen. In seiner Aneinanderreihung wird die simple interne Bedeutung der eingesetzten Bilder oder Sequenzen durch ein anderes Niveau ersetzt. Es geht um die Wirkung, welche das angebotene Arrangement herbeiführen kann. Die Wahrnehmung oszilliert in Critique de la séparation hin und her: Zwischen den Bildern, die man bereits gesehen hat, ob nun durch die Wiederholungen im Film selber oder anderswo, sowie zwischen den Textkomponenten und dem Kommentar und der gegenseitigen Bezugnahme der Fragmente. Da immer wieder Verweise zwischen den heterogenen Elementen auftauchen, sollen Neugier und Aufmerksamkeit stimuliert werden. Der Betrachter führt Gedankenoperationen aus, indem er kombiniert und verknüpft. Der in keiner anderen Kunstform so stark an seinen Sessel gefesselte, von der Projektion eingefangene und im abgedunkelten Saal eingeschlossene Zuschauer kann sich nicht passiv seiner Schaulust hingeben. Stattdessen muss er seine Erinnerungs- und Vorstellungskraft einbringen. Er muss eigenständig und aktiv daran arbeiten, aus der Kollision der Komponenten eine mentale Szene zu konstruieren, um dem Gedächtnis und seiner Vorstellungskraft Raum zu geben.20 Den einzelnen Bildern, Einstellungen und Sequenzen wird so im selben Zug ihre Wirkung als Bilder genommen. Sie werden als fabrizierte, manipulierte und manipulierbare Bilder ausgestellt.
20. Es handelt sich dabei um einen Wahrnehmungsprozess, der dem Theater näher kommt als dem Film. Vgl. hierfür die Unterscheidung zwischen Spektakel und Theater und die Analyse von Debords bilderlosem Film Hurlements en faveur de Sade von Helga Finter: »Theater in a Society of Spectacle«, in: Eckart VoigtsVirchow (Hg.), Mediated Drama, Dramatized Media, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2000, S. 43-55.
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Monolog von außen Wie in keinem anderen seiner Filme reizt Debord in Critique de la séparation den Einsatz und die Vermengung von Bild- und Textelementen aus. Er benutzt bearbeitete und zusammengeschnittene Bilder und Filmsequenzen, Untertitel, Zwischentitel und Comicstrips. Die verwendeten Textfragmente werden im Filmschnitt nicht ordentlich nacheinander, sondern übereinander zusammengestellt. Dies hat eine Überbelastung und Überreizung der Sinne zur Folge, von der Debord meint: »Le rapport entre les images, le commentaire et les sous-titres n’est ni complémentaire ni indifférent. Il vise lui-même à être critique.«21 Der Bildzusammenschnitt und die Textelemente werden des Weiteren von einem mehr oder weniger konstanten Kommentar begleitet, der extradiegetisch, aus dem hors champ, hinzugefügt ist und eindeutig den Leitfaden des fi lmischen Diskurses darstellt. Dabei behält sich Debord ab seinem dritten Film Critique de la séparation vor, persönlich das Wort zu ergreifen. Mit seiner eigenen Stimme verliest er das von ihm verfasste Drehbuch und legt seinen Kommentar über, unter und zwischen die montierten Bilder. Alle anderen Stimmen, Aussagen, Geräusche oder Musik – die intradiegetischen Originaltöne der benutzten Ausschnitte – sind gelöscht. Die Klangfarbe seiner Stimme ist einseitig und gleichförmig trocken. Es werden keine rhetorischen Mittel eingesetzt, keine Emphase, keine Betonung. Der Text wird heruntergeleiert und nur von der barocken Musik begleitet oder unterbrochen. Die Verbindung von Bild, Schrift und Sprache kann zu einem Vergleich mit der Emblematik und ihrem dreiteiligen Auf bau (pictura, inscriptio, subscriptio) verleiten. Die Filme von Guy Debord erhalten demnach Bezeichnungen wie Rätsel, Knacknüsse, Rebusse oder allegorische Filme. Diese Leseweise wird meiner Ansicht nach dem Schaffen Debords nicht gerecht. Denn sie kommt zum dekonstruktiv-destruktiven Resultat, dass die Filmsprache Debords auf Zerstörungen und Zertrümmerungen ausgerichtet sei. Der Kommentar von außen wird als Element verstanden, der das Ziel verfolge, die Bilder »abzutöten, sie zu mortifizieren und so zu beherrschen, […] bis nichts von ihnen bleibt, außer dass sie Chiffren für das ›Spektakel‹ sind.«22 Er richte sich gegen die Erinnerung, traktiere die 21. Fiche technique von Critique de la séparation, vgl. Asger Jorn: Guy Debord. Contre le cinéma, Aarhus: Bibliothèque d’Alexandrie, Secrétariat de l’Institut Scandinave de Vandalisme Comparé 1964. 22. Vgl. J. Etzold: »Melancholie des Spektakels«, S. 252. Zu unterstreichen ist an dieser Stelle, dass sich Etzolds Artikel auf den letzten Film In girum imus von Debord bezieht.
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Bilder, bis jedes Leben aus ihnen gewichen sei und setze ihnen eine andere Bedeutung ein: den Tod.23 Für diese Rezeption ist der Zerstörungswille Debords hinsichtlich der spektakulären Sachlage zentral. Dass diese Filmproduktionen auch eine Rekonstruktion vornehmen, die das Potenzial haben, sich dem Spektakel zur Wehr zu setzen, wird nicht beachtet. Meiner Ansicht nach findet diese Rekonstruktion statt und sie ist mit einer Sinnstiftung verbunden, die sich nicht dem Tod verschreibt. Als künstlerische Widerstandsakte widerstreben Debords Filme dem Tod.24 Auch wendet sich Debord nicht gegen die Erinnerung, sondern arbeitet gerade mit ihr. Mit der beharrlichen Wiederholung entwendeter Bilder wird ein Appell an die Erinnerung gerichtet. Durch das détournement und mittels Einsatzes von found footage wird auf ein Nachleben der Bilder, im Sinne Aby Warburgs verwiesen. Der Zuschauer wird aufgerufen, durch individuelle Assoziation seinen eigenen Sinn zu produzieren. Er muss die Bilder im neuen Kontext situieren, für sich neu aufleben lassen und sich erinnernd auf verkettende Gedankenspiele einlassen. Die Debord’sche Verschlüsselung lässt sich vielmehr als Verweigerung verstehen: Seine Produkte können nicht reibungslos von der Gesellschaft des Spektakels übernommen und zu ihrem Nutzen missbraucht werden. Durch den Einsatz von Bild, Sprache und Schrift wird eine Vielstimmigkeit aufgebaut, die zu einer Vieldeutigkeit führt. Die einzelnen Komponenten verhalten sich zuweilen eigenständig und gleichzeitig können sie sich sinnvoll aufeinander beziehen: die Stimme zu dem, was gezeigt wird und die Kommentare aus dem hors champ zu den Untertiteln oder zu den Inhalten der Comic-Sprechblasen. Jeder Zuschauer setzt sich somit einen anderen Film zusammen, richtet seine Aufmerksamkeit auf etwas und übersieht oder überhört dabei etwas anderes. Er wird dazu aufgefordert, die Kollision der eingesetzten Fragmente kreativ mittels seiner Imagination, seiner persönlichen Seherfahrungen und Erinnerungen zusammenzufügen, trotz der Überreizung der Sinne. Darüber hinaus erfährt er sich selber als Zuschauer mit seinen spezifischen Sehgewohnheiten. Worauf richtet sich sein Blick? Wovon bleibt er gefangen? Welchen Satz verfolgt er weiter? Wo fällt er raus? Währenddessen spult die Maschine Kino weiter und wird als Maschine spürbar, als materielle Filmrolle, die sich abspult, unhaltbar, vierundzwanzig Bilder pro Sekunde, Photogramm um Photogramm. 23. Vgl. ders.: »Maskenhafte Neubelebung Debords In girum imus nocte et consumimur igni«, in: Schnitt, das Filmmagazin 50 (2008), S. 18-22, hier S. 20. 24. Vgl. G. Deleuze: »Qu’est-ce que l’acte de création?«, S. 301: »On pourrait dire alors, […] que l’art est ce qui résiste, même si ce n’est pas la seule chose qui résiste. […] Seul l’acte de résistance résiste à la mort, soit sous la forme d’un œuvre d’art soit sous la forme d’une lutte des hommes.«
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Trotz des Einsatzes einer Fülle von Elementen in Debords Film Critique de la séparation bleibt auf dem Filmstreifen eine Leerstelle. Die aufgezeichnete Stimme Debords, die als Kommentar dem Bildzusammenschnitt als unabhängiges Audioelement hinzugefügt wurde, besetzt nur eine der zwei verfügbaren Tonspuren auf dem 35mm Filmstreifen. Die zweite Tonspur ist leer. Diese zweite Tonspur muss vom Zuschauer durch seine Teilnahme und Dialogbereitschaft gefüllt werden. Er wird aufgefordert, den Aufruf des Untertitels »M’entendez-vous? M’entendez-vous? Répondez, répondez …«25 zu replizieren. Damit Critique de la séparation zu einem Stereo-Tonfi lm werden kann, braucht es die Teilnahme des Zuschauers.
Untrennbarkeit als Generationspr inzip eines f ilmischen Raums Der Titel des Films ist Programm. Die Situationisten wehren sich gegen eine Teilung in eine politische und eine künstlerische Sphäre. Sie wenden sich gegen jegliche Aufsplitterung in Spezialisten auf allen möglichen Gebieten und die damit einhergehende Arbeitsteilung. Sie weisen die Idee, dass die Realität sich ins Bild verflüchtigt hat und die Bilder zur Realität werden,26 entschieden zurück, ebenso wie die Idee einer Spaltung zwischen Theorie und Praxis. Entsprechend ist der Film Critique de la séparation nicht in einzelne Teile zerlegbar. Selbst Anfang und Ende entgleiten jeglichen Konventionen. Zwar gibt es einen Vorspann, dieser entspricht allerdings der Form eines Trailers: Auf eine Photographie, welche der Zeitschrift der Situationisten entnommen ist,27 erscheint als Zwischentitel die Ankündigung: »Bientôt sur cet écran«, gefolgt von einigen Einstellungen, die man im Film tatsächlich wiederfindet. Eine weibliche Stimme kündigt dann den Titel und die Namen der Beteiligten an der Filmproduktion an. Diese Informationen erscheinen sogleich als klassischer Vorspann auf Bildebene, gefolgt von einem weiteren Zwischentitel: »Un des plus grands anti-fi lms de tous le temps!« Der eigentliche Beginn des Films ist mit dem Vorspann verwoben, der einen Trailer darstellt. Der Schluss des Filmes und der Abspann sind ebenfalls nicht klar gesetzt. Nach einer Photographie eines Mitgliedes der Situationistischen Internationalen, der allmählich die Schärfe genommen wird, klingt die ba25. Vgl. G. Debord: Œuvres, S. 40. 26. Vgl. Giorgio Agamben: »Violenza e speranza nell’ultimo spettacolo«, in: Guy Debord/Gianfranco Sanguinetti, I situazionisti e la loro storia, Rom: Manifestolibri 1998, S. 9-14, hier S. 9. 27. Siehe internationale situationniste 1 (1958), S. 26.
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rocke Musik langsam aus und eine Buchseite von Debords Mémoires wird anhand einer kurzen Panoramaeinstellung abgefi lmt.28 Alles scheint auf das Ende des Films hinzuweisen, doch dann wird wieder fortgefahren. Nach Aufnahmen vom Aufstand im Kongo folgen bereits gesehene Photographien der Mitglieder der SI, unter anderem Jorn und Debord selber, dazu folgender Kommentar: »C’est un fi lm qui s’interrompt, mais qui ne s’achève pas.«29 Begleitet werden die Bilder und der Kommentar an dieser Stelle von einem ironischen Untertitel: »Moi, je n’ai pas tout compris.«30 Der Film läuft letztlich ohne Abspann aus und endet mit einer Öffnung: »À suivre«. Wie der Vor- und Abspann nicht ausfi ndig gemacht werden können, so ist es des Weiteren unmöglich, den gesamten Film in Sequenzen einzuteilen. Er ist unzerlegbar. Dagegen lässt sich aber eine klare Disjunktion zwischen der Ebene der Bilder und der Stimme ausmachen. Letztere gibt eindeutig den Ton an und dominiert die Bildebene. Doch woher kommt diese Stimme eigentlich? Wie könnte man sie lokalisieren? Üblicherweise geht man für die Bestimmung einer Off-Stimme, die von außen kommt, von einem fi lmischen Raum aus, einem In. Einem fi lmischen Raum, der durch einen Handlungsstrang, durch eine Kontinuität oder auch durch eine Diskontinuität der fi lmischen Schauplätze aufgebaut wird: kurzum mittels einer Inszenierung. In Critique de la séparation gibt es keine Inszenierung, in welche die Repräsentation sich verflüchtigen könnte. Die Bühne, der Grund und Boden, auf dem eine Inszenierung normalerweise stattfindet, wird dem Zuschauer entzogen. Die Aneinanderreihung gefundener Filmausschnitte, in Bewegung gesetzter Standbilder und mit der Kamera durchstreifter Stadtteile kreieren keinen fi lmischen Raum. Die Vorgehensweise, die Debords Filmsprache ausmacht, ist davon gekennzeichnet. Seine Montagefi lme generieren keinen normativen fi lmischen Raum, sondern alles wird in einen Schwebezustand versetzt. Dieses Kompositionsprinzip erinnert an die Stadtpläne von Guy Debord, seine Guides psychogéographiques. Offizielle Stadtpläne werden auseinandergeschnitten und zu neuen, jedoch fragmentierten und modifizierten Stadtkarten zusammengefügt. Isolierte, neu gerahmte und angezoomte Gebiete der Stadt werden auf einen weißen, neutralen Hintergrund geklebt. Der Stadtplan für diese neu gestaltete Stadt in der Stadt kennt analog zu den Filmen Debords keine Grenzen und Limitierungen. Sie ist zu allen Seiten hin offen und unendlich erweiterbar. Die ausgewählten neuralgi28. Der Text lautet: »le vin de la vie est tiré, et la lie seule reste à cette cave pompeuse«. 29. G. Debord: Œuvres, S. 52. 30. Ebd.
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schen Knotenpunkte der Stadt sind als schwebende Inseln angelegt, ohne Grund und Boden. Die Taktik des Kartographierens, welche der Konzeption dieser Stadtpläne zugrunde liegt, ist die situationistische dérive. Als Praxis der Streifzüge, des Abdriftens und Umherlungerns experimentiert sie mit dem städtischen Raum. Die Stadt ist für die Situationisten ein Konfliktraum, der sich negativ auf das Gemüt auswirkt und die Normen des Denkens fi xiert.31 Mittels der dérive kann hier eingegriffen werden, indem die Stadt durch hastige und flüchtige, nicht fi xierbare und lokalisierbare Transitionen besetzt wird. Gewohnte Verhaltensmuster werden während einer dérive zurückgewiesen, die Beschaffenheit der Stadt und ihr funktionaler Urbanismus spielerisch umgenutzt, verdreht und abgelehnt. Die Teilnehmer einer dérive gehen so die Bereitschaft ein, die subjektive Erfahrungsdimension, Raumempfindung und Wahrnehmung aufs Spiel zu setzen, um die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Diese Taktik ist vom Wunsch begleitet, immer neu »an seinem eigenen Ort anders zu sein und dem Anderen begegnen zu können«.32 Diese Wahrnehmung wird vom Teilnehmer einer dérive, vom Leser eines situationistischen Stadtplans wie auch vom Filmzuschauer gefordert. Im losen Netzwerk dieser frei schwebenden Inseln muss sich der Leser zurechtfinden, sich die eingezeichneten Vektoren als Passagen von einem Punkt zum nächsten vorstellen und sich virtuell in die Stadt hineinprojizieren. Die Zwischenräume und Lücken, in den Stadtkarten verbildlicht durch rote Pfeile, klaffen in Debords Montagefi lm Critique de la séparation ebenfalls auf. Trotz der Linearität und Horizontalität der Montage wird ein fi lmischer Raum generiert, der im steten Übergang begriffen und der als unendlicher und offener Raum angelegt ist. Dabei spielt der extradiegetische Kommentar eine zentrale Rolle. Die aufgezeichnete Stimme des Autors und Regisseurs kann nicht verortet werden. Die Quelle der Stimme ist nicht lokalisierbar. Sie befindet sich als entkörperte Stimme oberhalb der präsentierten filmischen Welt, schwebt abgelöst über ihr und tritt zugleich als Over-Kommentar mit ihr in Interaktion. Dieser Over-Kommentar fungiert im fi lmischen Dispositiv als anwesende, aufgezeichnete Stimme, dessen Erzähler jedoch abwesend, ungreif bar und unauffi ndbar ist. Aus 31. Vgl. Guy Debord: »Théorie de la dérive« (1956), in: G. Berreby (Hg.), Documents rélatifs à la fondation de l’Internationale Situationiste, S. 312-316. 32. Vgl. Hanno Ehrlicher: »L’espace de la dérive. Die Kunst des Situationismus als Raum-Bewegung«, in: Franck Hofman/Jens E. Sennewald/Stavros Lazaris (Hg.), Raum-Dynamik/dynamique de l’espace. Beiträge zu einer Praxis des Raums/contributions aux pratiques de l’espace, Bielefeld: transcript 2004, S. 269-290, hier S. 270.
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diesem Paradox von anwesend-abwesend, gegenwärtig-vergangen33 konstituiert sich ein filmischer Raum, in welchem bis auf die Inszenierung der Stimme keine weiteren Anhaltspunkte gegeben sind. Das zeitliche und räumliche Gefüge des Films bleibt undefiniert und unabgeschlossen. Dem Blick wird fortwährend die gewohnte zeitliche und räumliche Einheit einer kohärenten kinematographischen Komposition entzogen. Er wird stimuliert und gestört, auf keinen Fall aber in Ruhe gelassen. Unterstrichen wird dies durch die stetige Dynamisierung der eingesetzten Komponenten. Da alles unentwegt in Bewegung versetzt wird, fällt eine konventionelle Vermittlungszone zwischen dem Film und dem Betrachter weg. Der Zuschauer hängt in der Luft, hat keinen Halt mehr und muss seine individuelle Erfahrungsdimension ins Spiel bringen, um sich auf eine experimentelle Öffnung der eigenen Wahrnehmung einzulassen.
A(u) revoir Obwohl sich Guy Debord als arbeitsfauler Antagonist der Gesellschaft des Spektakels ausgibt, hat er immerhin sieben Filme produziert. Neben seiner emsigen Schreibtätigkeit steht die fi lmische Umsetzung im Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Selbst wenn er zu Beginn seiner Lauf bahn als Filmemacher meint, »le cinéma est à détruire […]«34 oder »le cinéma est mort«,35 so kehrt Debord doch immer wieder zum Medium Film zurück. Diese relevante Entscheidung, nicht nur mit Worten seinen Dissens zu äußern, sondern ein Medium zu benutzen, in welchem Bild, Schrift und Sprache kombiniert werden können, ist für diese Analyse zentral. Durch die Umkehrung der bisherigen Forschungstendenzen in Bezug auf die Filme und der Infragestellung der fi lmischen Verfahren sollte aufgezeigt werden, dass es sich nicht um ein destruktives, sondern um ein sinnstiftendes Vorhaben handelt. Durch die Destabilisierung einer zeit-räumlichen Abgeschlossenheit und durch beständige Bewegungssensationen, die der Film Critique de la séparation verursacht, wird die Zuschauerposition ins Wanken gebracht und eine multiple Interpretation der Filme ermöglicht. Mithilfe eigenhändig aneinandergeklebter, entwendeter und gefundener Bildmaterialien kreiert der Filmemacher Guy Debord einen instabilen fi lmischen Raum. 33. Vgl. Alain Boillat: Du bonimenteur à la voix-over. Voix-attraction et voix-narration au cinéma, Lausanne: Antipodes 2007, S. 326-328. 34. Vgl. G. Debord: Œuvres, S. 31, Zitat aus Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps (1959). 35. Vgl. ebd., S. 7, Zitat aus Hurlements en faveur de Sade (1952).
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Als Stratege benutzt er hierfür das von der Gesellschaft des Spektakels auferlegte Material, nimmt es in Beschlag und verdreht es auf verquere und ironische Weise. Als Verfechter des Potlatch bietet er fi lmische Widerstandsakte, die nicht auf eine direkte Konfrontation und Zerstörung seines Gegners ausgerichtet sind, sondern das Spielfeld des Anderen durch listige Standhaftigkeit besetzen.
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Simona Travaglianti
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›A technique for the focused erasure.‹ Intermediale Inszenierungen zwischen Film und Computer in Eternal Sunshine of the Spotless Mind Doris Gassert
Wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Kinematographen1 der Brüder Lumière das photographisch-mechanische Abbild revolutionär in Bewegung versetzt, so sollte die ursprünglich konzipierte »machine à refaire la vie« – so seine Patentschrift – schon bald über sich selbst hinauswachsen. In einem geschickten Zusammenspiel der Komponenten ›Realitätseindruck‹, wie sie die Filmpioniere Lumière zum Auftrag des Films erklärten, den illusionistisch-fantastischen Trickspielereien in der Manier des Zauber- und Varietékünstlers Georges Méliès und den frühesten fi lmisch-narrativen Inszenierungsstrategien eines Edwin S. Porter wurde das hybride Potenzial des Kinos seither zur ›Siebenten Kunst‹ herauf beschworen oder zur ›Kinoseuche‹ herabgewürdigt.2 In diesem Spannungsfeld erscheint das Kino zwar als »überheblich, vermessen, masslos«3 mit seiner großflä1. ›Cinématographe‹ heißt ›Bewegungsschreiber‹. 2. So sprechen etwa Adolf Sellmann (1912) oder Roland (1913) von »Schundfilm« und einer »gegenwärtig grassierenden Kinoseuche«, wohingegen Riciotto Canudo (1911/1923) das Kino als »Septième Art« bestärkte. Vgl. Helmut H. Diederichs: Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg, Habilitationsschrift 1996, Publikation im Internet 2001, http://fhdo.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2002/6/ (1. August 2009), bes. S. 152ff., S. 210. 3. Dies ist die griechische Bedeutung von hybrid. Vgl. Georg Christoph Tho-
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chigen Projektion und Wirklichkeitssuggestion, aber dennoch als (inter-) mediales, hybrides System überwältigend in der Generierung einer neuen symbolischen Form. Dass Medien immer Manifestierung und Ausdruck kulturell-historisch organisierter Sinneswahrnehmung sind, pointierte bereits Walter Benjamin in seiner Auseinandersetzung mit dem technisch reproduzierbaren Bild. 4 Dabei war er sich des mentalen (wie physischen) Einflusses – der Chockwirkung – der ›Illusionsmaschinerie‹ Kino bewusst, als er den französischen Schriftsteller Georges Duhamel zitierte: »Je ne peux déjà plus penser ce que je veux. Les images mouvantes se substituent à mes propres pensées.«5 Kinoraum und Gedächtnisraum durchdringen, bedingen und be-spielen einander durch die ›magische Macht‹ der Filmbilder: »Film geschieht zwischen Bildern, zwischen Fotogrammen, zwischen Einstellungen – und diese spielen sich zwischen Projektor und Leinwand in der Blackbox unseres Kopfes ab: in unserem ›Inter-esse‹, in unserem buchstäblichen ›Dazwischen-Sein‹.«6 Dies nicht zuletzt dadurch, dass das Dispositiv des Kinos den Zuschauer in einen paradoxen Zustand versetzt: Im abgedunkelten Raum erfährt er eine visuell-kognitive zeitliche wie räumliche Mobilisierung unter gleichzeitiger Einschränkung der körperlichen Mobilität. Das Kino eröffnet dadurch, nach Heike Klippel, »einen ›ZwischenRaum‹ für das diff use Erleben eines Zustandes des Bei-sich-Selbst-Seins und Selbstvergessens zugleich«.7 So entfaltete das Kino seine Transparenzillusion, um sich als »Simulationsmaschine« zu konfigurieren, lange bevor der Computer diese Termini für sich beanspruchte.8 Dass das intermediale Spannungsfeld zwischen den Medien Film und Computer dadurch len: »Dazwischen. Zeit, Raum und Bild in der intermedialen Performance«, in: Harald Hillgärtner/Thomas Küpper (Hg.), Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld: transcript 2003, S. 275-291, hier S. 275. 4. Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 7-44. 5. Georges Duhamel, zitiert in W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 39. 6. Bettina Grossenbacher/Hansmartin Siegrist: Les Visiteurs du Soir. Pariser Projektionen, Basel: Christoph Merian Verlag 2007. Die Texte von Hansmartin Siegrist kommentieren das Fotobuch, ohne Seitenangaben. 7. Heike Klippel: »Das Kinematographische Gedächtnis«, in: Ernst Karpf/ Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.), Once upon a time … Film und Gedächtnis, Marburg: Schüren 1998, S. 39-56, hier S. 53. 8. Im Rahmen der Apparatusdebatte wurde das Kino bereits von Jean-Louis Baudry (1975) und Jean-Louis Comolli als ›Simulationsmaschine‹ verhandelt.
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von Anbeginn gesetzt ist, zeigt sich in einem fortwährenden Austausch aus konkurrenzierenden Abgrenzungen und »medien(r)evolutionären« Grenzverschiebungen, welche das Kino, nach Gundolf S. Freyermuth, medienhistorisch in die dritte Krise geführt und den digitalen Film als neue »kategoriale Differenz« zu markieren bzw. konfigurieren scheinen.9 Etablierte sich das Kino alsbald zum Leitmedium des 20. Jahrhunderts, um im Zuge »die auf ihm basierende audiovisuelle Narration zum ästhetischen Vorbild«10 zu erheben, so durchläuft das Filmische selbst unter dem Vorzeichen der Digitalisierung eine dynamische, mediale Transformation. Die technische wie kulturelle, alle ›alten‹ Medien umfassende Umwälzung von analog zu digital zeichnet sich im Kino und am Film besonders stark ab: So beschwor man um den Jahrhundertwechsel »die hundertjährige Herrschaft des Zelluloids [als] gebrochen; der Film war tot, die Digitalisierung hatte gesiegt.«11 »The end of the reel world«12 – ein Ende, das sich zudem bis jetzt noch nicht durchgesetzt hat – erwies sich als doppeldeutige Wortspielerei: der prognostizierte Tod des analogen Films ging einher mit der postmodernen Verlustrhetorik, die sich im Verschwinden des Realen durch das Digital-Werden des Bildes formuliert. Dass dadurch die neuen, hybriden Bewegtbilder oftmals lediglich als »defizitäre Derivate des fotografischen Films«13 betrachtet werden, signalisiert eine unzulängliche Umgangsweise mit digitalen Bildern, die sich ebenso in Bezug auf die Sinneserfahrung ihrer ästhetischen Umstrukturierung nur allzuschnell in 9. Gundolf S. Freyermuth: »Digitale Lektionen: Medien(r)evolution in Film und Kino«, in: FILM-DIENST 02 (2009), S. 6-9, hier S. 7f.; die erste Krise entstand durch die Konkurrenz des Fernsehens in den 50er Jahren, die zweite kam mit dem Videorecorder in den 80er Jahren. Freyermuth sieht in der dritten, durch die Digitalisierung entstandene Krise einen entscheidenden Unterschied im Vergleich zu den vorherigen: »Die Digitalisierung jedoch bedeutet mehr als äußere Konkurrenz […] Der Film selbst ist nun betroffen: Er wird von einem Hardware- zu einem Softwaremedium und verändert sich damit kategorial.« (S. 8) 10. Gundolf S. Freyermuth: »Cinema Revisited – Vor und nach dem Kino: Audiovisualität in der Neuzeit«, in: Daniela Kloock (Hg.), Zukunft Kino. The End of the Reel World, Marburg: Schüren 2008, S. 15-40, hier S. 24. 11. John Belton: »Das digitale Kino – eine Scheinrevolution«, in: montage/av 12 (2003), S. 6-27, hier S. 11. 12. Vgl. D. Kloock (Hg.): Zukunft Kino. 13. Sebastian Richter: Digitaler Realismus. Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik im Spielfilm, Bielefeld: transcript 2008, S. 15.
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einem Negativ-Stigma des ›Kinos des Spektakels‹ beläuft. Hier würde, so die gängige Kritik, vor allem durch die ›maßlose Infi ltrierung‹ des Computers auf der bildästhetischen Ebene der Film »zum hirnlosen Spektakel mutieren und seine erzählerische Funktion aufgeben«.14 Aus dieser Perspektive gilt in Bezug auf digital erzeugte Effekte, wie Shilo T. McClean in Digital Storytelling. The Narrative Power of Visual Effects in Film bemerkt, gemeinhin noch die leicht paradoxe Meinung, »that digital image creation is somehow exceptional, distinct from ›real‹ fi lmmaking«.15 Speed Racer (USA 2008) mag ein solch ›spektakuläres‹ Beispiel verkörperlichen, zeichnet sich doch sein Streben nach neuen ästhetischen Formen mittels digitaler Techniken in einer übermäßigen Zurschaustellung digitaler Effekte ab; gleichsam exponieren diese hybriden, ›maßlosen‹ Bilder die experimentelle Euphorie einer neuen Potenzialität des Computers als filmisches, den Film modulierendes und modellierendes Werkzeug: nach einer sukzessiven analog-digitalen Hybridisierung der fi lmischen Produktion16 wird nun auch das Filmbild zunehmend von innen heraus re-strukturiert,17 wobei die Vermischung medialer Bilder und Bildsprachen in einem Spiel ›hybriden Framings und Samplings‹ eine neue (intermediale) Dynamik der fi lmischen Bildsprache generiert. Während das Kino seit Ende der 1970er Jahre das Potenzial digitaler, ästhetischer Ausdrucksmittel vor allem im Bereich des Science-FictionGenres verhandelt und durch Exponierung des ›Digitalen‹ das maßlose Hybridisierungspotenzial des Computers erst sicht- und fassbar zum Ausdruck bringt, 18 zeigt sich gerade im Bereich des Realfi lms, der nach Lev Manovich im Zeitalter der Digitalisierung nur noch eine Option unter vielen im Spielfi lmbereich darstellt, 19 eine Spaltung zwischen Sicht- und 14. So pointiert Barbara Flückiger die exordialtopische Polemik, die mit den zeitgenössischen ›Digital-Effects‹-Filmen einhergeht. Barbara Flückiger: Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer, Marburg: Schüren 2008, S. 13. 15. Shilo T. McClean: Digital Storytelling. The Narrative Power of Visual Effects in Film, Cambridge/Mass.: MIT Press 2007, S. 8. 16. Vgl. z.B. G.S. Freyermuth: »Digitale Lektionen«. 17. Vgl. S. Richter: Digitaler Realismus. 18. Vgl. Scott Bukatman: »Zooming Out: The End of Offscreen Space«, in: Jon Lewis (Hg.), The New American Cinema, Durham & London: Duke University Press 1998, S. 248-272. Dabei diene die Science Fiction, so Bukatman, nicht nur als Auseinandersetzung, als »mediat[ion] between human vision and the wide and growing range of technological enhancements« (S. 255), sondern darüber hinaus auch als »partly a showcase for new cinematic technologies« (S. 249). 19. Nach Lev Manovich ist »digital film = live action material + painting
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Unsichtbarkeit digitaler Ästhetik(en).20 Durch die ›seamless integration‹, also die nahtlose Kombination von computergenerierten und Live-ActionBildern, entsteht ein ›digitaler Realismus‹, in welchem, nach Sebastian Richter, fi lmische Blick- und Raumkonstellationen subversiv unterlaufen werden.21 Auch die fi lmischen Narrationsmuster des (postmodernen) Mainstream-Kinos, welche mit den Konventionen des klassischen Erzählkinos brechen, um durch die Fokussierung auf das ›Wie‹ des fi lmischen Erzählens das Erzählen selbst als Konstrukt(ion) zu exponieren,22 können als Zeichen für die kulturelle Transformationsleistung gelesen werden, die mit dem Computer als neuem medialen System und der daraus resultierenden Erzeugung neuer ästhetischer Erfahrungen einhergeht.23 So könnten die immer komplexer werdenden, zeitlich verschachtelten und sich dem Sinn verwehrenden Erzählstrategien des Gegenwartskinos durchaus eine kinematographische Reaktion auf das (durch die Digitalisierung verbreitete) ästhetische Begehren nach Interaktivität sein. Dies äußert sich insbesondere in der zunehmenden Anzahl der sog. ›Mind-Game‹- oder ›Mindfuck‹-Filmen, welche seit kurzem als zeitgenössisches ›Phänomen‹ diskutiert oder gar schon als neues (postmodernes) Genre des Mainstream-Kinos verhandelt werden.24 Ins Zentrum des fi lmischen Erlebnis+ image processing + compositing + 2-D computer animation + 3-D computer animation«. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge/Mass.: MIT Press 2001, S. 301. 20. Einerseits die ›ausgestellten‹ digitalen Effekte wie z.B. das ›Morphing‹ in Terminator 2: Judgment Day (USA 1991) als Sichtbarmachung des neuesten Standes digitaler Technologien in der Filmproduktion; andererseits die Möglichkeiten einer unsichtbaren, von Lev Manovich als »elastic reality« bezeichneten digitalen Manipulation, die, wie der animierte Federflug aus Forrest Gump (USA 1994) eine ›visuelle Täuschung‹ herbeiführe, »which looks exactly as if it could have happened, although it really could not«. Vgl. L. Manovich: The Language of New Media, S. 301. 21. S. Richter: Digitaler Realismus. Vgl. vor allem das Kapitel »Realistische Bildwelten jenseits des Kamerablicks«, S. 83-168. 22. Zum postmodernen Kino vgl. z.B. die Ansätze in Jürgen Felix: Die Postmoderne im Kino. Ein Reader, Marburg: Schüren 2002. 23. Vgl. ausführlicher z.B. Susanne Weingarten: »Patchwork der Pixel. Zu den Folgen der Digitalisierung für die Filmästhetik«, in: D. Kloock (Hg.), Zukunft Kino, S. 222-235. 24. Vgl. Thomas Elsaesser: »The Mind-Game Film«, in: Warren Buckland (Hg.), Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema, Malden/ Mass.: Wiley-Blackwell 2009, S. 13-41; und Alexander Geimer: »Der Mindfuck
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ses gerät dabei der spielerische Charakter: Der Film wird zum ›Irritationsspiel‹25, indem sich unkonventionelle filmische Darstellungsweisen und Narrationsmuster als mentale (mediale) Manipulation entlarven, welche eine kinematographische ›Interaktivität‹ insofern mit einkalkuliert, als sie dem Zuschauer eine neue Art von »kognitiver Performanz« abverlangt.26 Dadurch, dass das Kino dem Zuschauer seine sinnstiftende Wirkung (zumindest bei der ersten Visualisierung) verwehrt, kann sich eine Auflösung im traditionellen Sinne, wenn überhaupt,27 dann erst in der nachträglichen (mentalen) Re-Konstruktion ergeben: So verlagert sich das Kino nach dem Kino nicht nur in das digitale Nachleben des Films in Form der DVD – deren Kauf sich dadurch als umso lohnenswerter erweist28 – sondern gleichsam in den Kopf jedes Zuschauers. Hier muss alsdann die Geschichte, im Prozess des Zerlegens und Wiederaufrollens, individuell oder kollektiv neu verhandelt und (chronologisch) erzählt werden.29 Zudem reflektieren ›Mindfuck‹-Filme gerne und oft die medialen Abbildungs- und Sichtweials Postmodernes Spielfilm-Genre. Ästhetisches Irritationspotenzial und dessen subjektive Aneignung untersucht anhand des Films THE OTHERS«, in: Jump Cut. Kritiken und Analysen zum Film (2006), www.jump-cut.de/mindfuck1.html (1. August 2009). 25. Alexander Geimer: »Der Mindfuck als Postmodernes Spielfilm-Genre«. 26. Der Ausdruck »cognitive performance« findet sich bei Bruno Lessard: »Digital Technologies and the Poetics of Performance«, in: Nicholas Rombes (Hg.), New Punk Cinema, Edinburgh: Edinburgh University Press 2005, S. 102112, hier S. 103. Lessard bemerkt dazu: »This cognitive performance is the notion I adopt to replace the controversial concept of ›interactivity‹ so much discussed in the field of digital media.« Er meint damit allerdings nicht nur die erforderte kognitive Performanz seitens des Zuschauers, sondern erweitert den Begriff v.a. mit Bezug auf Filme der Dogma-95-Bewegung auf die »performance that the digital technologies offer as spectacle and the actors’ performance in the narrative« (ebd.). 27. Besonders Filme wie Mulholland Drive (USA 2001), eXistenZ (USA 1999), Donnie Darko (2001), Stay (USA 2005), Memento (USA 2000) oder The Butterfly Effect (USA 2004) verwehren dem Zuschauer eine eindeutige Auflösung. Dadurch verlangen sie nach einem mehrmaligen, aufmerksamen Schauen und regen zu langen Gedankenspielen und Diskussionen an. 28. Vgl. auch T. Elsaesser: »The Mind-Game Film«. Er bezeichnet die Filme als »›DVD-enabled‹, […] a film that requires multiple viewings«, S. 38. 29. Wobei sich die individuelle Auslegung aufgrund der Offenheit – und der damit einhergehenden Vielzahl von virtuellen Potenzialitäten – ganz verschiedenartig gestalten kann, da es zu einer Reihe möglicher Interpretationen anregt.
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sen alter wie neuer Medien, wodurch sich ihr Fokus auf die Strukturen der Medialität als solcher richtet: eine Verschiebung, die durchaus mit der digitalen Codier- und Manipulierbarkeit des universellen Mediums Computer einhergeht.30 Auffallend oft werden dabei die Medien als Gedächtnismedien inszeniert, wobei die Medialität des Gedächtnisses (und damit die Medialität als solche) gerade in ihrem Verlust (intermedial) verhandelt wird.31 In diese Reihe bemerkenswerter filmischer Verhandlungen mit der zeitgenössischen, sich transformierenden Medienkultur gliedert sich auch Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (USA 2004). Auch hier wird mit den Konventionen des klassischen Erzählkinos gespielt, gebastelt und gebrochen, um den Zuschauer in zeitlich verschachtelten Erzählebenen in das Gedächtnis und durch die Erinnerungen des Protagonisten Joel Barish (Jim Carrey) zu führen, wobei uns diese Erinnerungen im Moment ihres Verschwindens in einer Szenerie aus analogen, digitalen und analog-digitalen surrealistischen Hybridbildern präsentiert werden. Das Löschen der Erinnerungen, manchmal als (un-)sichtbare Transformation, manchmal als klare analog-digitale Zäsur – jedoch durchweg stimmig und stimmungsvoll inszeniert –, entwickelt eine eigensinnige Dynamik des Geschehens und entlarvt den Eingriff und die Transformationsleistungen des Computers auf die ästhetische Beschaffenheit des Filmbildes mal als subtil, mal als gewaltsam eklatant. Eternal Sunshine präsentiert sich – in seiner nachträglichen chronologischen Rekonstruktion – als eine alltägliche Liebesgeschichte, deren Ausgangslage nicht simpler sein könnte: Der introvertierte Joel und die rastlose Clementine (Kate Winslet) verlieben sich, um sich zwei Jahre später, vom Alltag entfremdet, wieder zu trennen. Soweit das klassische 30. So schreibt Georg Christoph Tholen: »Erst mit der […] unübersehbar werdenden Verbreitung des Computers als einem universellen, die vormaligen Medien integrierenden Medium überlagert sich die Frage nach dem alltäglichen Gebrauch der Medien und ihrer Normen mit der nach der Struktur der Medialität als solcher.« Georg Christoph Tholen: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Wilhelm Fink 1999, S. 15-34, hier S. 15. 31. So wird z.B. der Gedächtnisverlust in Memento (USA 2000) mit (analogen) Polaroidphotos und Notizzetteln kompensiert, während sich die Narration, wie Torsten Meyer in seinem Vortrag »Wahn(-)und Wissensmanagement: Versuch über das Prinzip Database« (Universität Basel, 2009) eindrücklich veranschaulicht hat, nach dem »Prinzip Database« (Manovich) strukturiert.
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Muster, wäre da nicht die Firma Lacuna, die mittels einer invasiven, doch schmerzlosen ›Memory-Erasing‹-Prozedur durch den Computer das Ende aller Herzschmerzen verspricht und den Verlauf der Geschichte damit in drastische Bahnen lenkt. In ›Wie du mir, so ich dir‹-Manier lässt zuerst Clementine, dann Joel diese Prozedur über sich ergehen, um sich des Anderen vollkommen zu entledigen. Die Kunst bzw. Technik des Vergessens präsentierte sich noch nie so einfach und schmerzfrei, wie sie die brachiale Computertechnik in Eternal Sunshine verspricht: »Technically speaking«, meint Dr. Howard Mierzwiak (Tom Wilkinson), der die Prozedur einleiten wird, »the procedure is brain damage, but it’s on a par with a night of heavy drinking. Nothing you’ll miss.« Doch im Wiederauf- und -durchleben der Erinnerung an Clementine erkennt Joel ihre Bedeutsamkeit im konstitutiven Akt seiner persönlichen Identitätsentfaltung und somit ihren unverzichtbaren Wert. »Can you hear me? I don’t want this anymore. I want to call it off !« schreit er jedoch vergeblich, denn eine aktive Handlungsfähigkeit steht ihm nur – und dies auch nur begrenzt – in der virtuellen Welt seiner Erinnerungen zu. Bewusstlos, narkotisiert und immobilisiert liegt Joel ›head-wired‹, mit dem Computer verkabelt, auf seinem Bett, während Stan (Mark Ruffalo) den Löschprozess auf dem Computerbildschirm in Gang hält. Im rückwärtsgerichteten Löschverfahren – als Prozess des selbstinduzierten und vom Computer ausgeführten wortwörtlichen ›Mindfucks‹ – begleiten wir nun Joel auf seiner ›Kino im Kopf‹-anmutenden Reise durch die traum- und albtraumhafte Szenerie seiner (sich laufend selbst-›purgierenden‹) Erinnerungswelt, um am Schluss wieder am Ausgangspunkt, oder eben doch nicht ganz, anzukommen.32 Der ungewöhnliche erzählerische Verlauf wird bereits durch die unkonventionelle Umkehrung von fi lmischem Vorspann und Exposition antizipiert: Erst in der 17. Minute, nachdem sich eine Liebesgeschichte zwischen Joel und Clementine angebahnt hat, führt eine Schwarzblende in den Vorspann. Dieser fungiert somit nicht als klassischer fi lmischer Paratext, sondern als signalhaft brüchig inszenierter erzählerischer Übergang: Saß Joel gerade eben noch mit Clementine nach einer vielversprechenden Begegnung im Auto, so fährt er nun allein und verzweifelt durch die nächtliche Stadt. Der Zuschauer erfährt die erste Orientierungslosigkeit und Verwirrung; nur das emotional aufgeladene Bild und die Musik – Joels Tränen zu Becks Gesang »I need your lovin’ like the sunshine« – lassen erahnen, dass die Liebe wohl in dieser (unsichtbaren) Sekunde der Schwarzblende – die
32. Genau diese zeitlich-narrative Verschachtelung macht den Film für die Zuschauer zum ›Mind-Game‹.
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sich nun im Verlaufe des Films sichtbar, wenn auch nicht im ersten Moment erschließbar, entfalten wird – auf Abwege geraten sein muss. Diese Abwege präsentieren sich in Form einer nach innen modellierten Erinnerungswelt: als aneinandergereihte, zeitlich rückwärtsgerichtete Flashbacks, welche mal realistisch, mal surrealistisch inszeniert mit der Rahmenerzählung, der Außenwelt, verwoben sind. Eine visuelle Codierung der verschiedenen Erzählebenen ist dabei nicht stringent gegeben; so zeichnen sich vor allem die ersten zehn Minuten nach dem Vorspann durch ein diff us und desorientierend gehaltenes raum-zeitliches Gefühl aus, welches im Spannungsfeld von wirklich/real vs. imaginär/erinnert-surreal so lange verharrt, bis sowohl Protagonist wie Filmbild – und mit ihnen die Zuschauer – derart unter Hochspannung stehen, dass es in einem Beinahe-Kurzschluss (der elektronischen Computergeräte von Lacuna qua den Erinnerungsbildern von Joel qua dem filmischen Bewegtbild) kulminiert. So begleiten wir in diesen zehn Verwirrung stiftenden Minuten Joel, wie er nach Hause fährt, eine kurze Unterhaltung mit seinem Nachbarn führt und sich in seiner Wohnung eine Pille einwirft, um sogleich in Ohnmacht zu fallen. Stan und Patrick (Elijah Wood), zwei Mitarbeiter von Lacuna, betreten darauf hin die Wohnung. Die elektronischen Computergeräte werden hierbei nur kursorisch exponiert, bis eine erneute Schwarzblende auf eine weitere Abstraktionsebene führt: Nun sehen wir Joel in seinem Bett liegen, während sich, in einer Deleuze’schen ›Gehirn als Bildschirm‹-Metapher, die zuvor geführte Unterhaltung mit seinem Nachbarn wie auf einer Kinoleinwand vor ihm entfaltet. Das Geschehen wird dabei als Wiederholung, ergo als wieder-erlebte Erinnerung markiert durch die In-Differenz-Setzung in Form eines bildlichen wie akustischen – und damit analog inszenierten – Qualitätsverlustes. Mit einem kurzen elektronischen ›Pieps‹ im Hintergrund, durch welchen sich der Computer subtil bemerkbar macht – signalisierend, dass wir uns (eigentlich) schon mitten im Löschverfahren befinden – finden wir uns bereits in einer neuen Szene wieder, in welcher Joel seinen Freunden von der Trennung von Clementine erzählt. Auch hier jedoch in einer komplex verschachtelten narrativen Anordnung: Mal sehen wir Joel erzählen, mal wird seine Erzählung illustriert und von seinen Worten als voice-over begleitet, mal wird das Erzählte als Rückblende eingeschoben. Zeitebenen werden dabei räumlich durch- und überschritten: So marschiert Joel von einer Zeitebene (aus der erinnerten Vergangenheit) zur nächsten (der erzählerischen Gegenwart), während sich der räumliche Hintergrund analog zur zeitlichen Narrationsebene transformiert und modelliert. Nachdem Joels Freunde ihn mit der Notiz von Lacuna konfrontieren, dass »Clementine Kruczynski has had Joel Barish erased from her memory«, beschließt Joel, sich demselben Verfahren zu unterziehen. Doch gerade während den 155
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Vorbereitungen, als in einem Scanning-Verfahren Joels Hirnströme bzw. emotionale Schwingungen gemessen werden, um seine Erinnerungen an Clementine auf einer kognitiven ›brain map‹ zu lokalisieren, dämmert es diesem (und den Zuschauern): »Oh my god, déjà-vu, déjà-vu – I’m in my head already, aren’t I?« Wie sich in dieser ersten groben Abhandlung bereits abzeichnet, wird dem Computer in Eternal Sunshine gleich auf mehreren Ebenen eine wichtige modulierende Funktion zugesprochen. So wird der ›invasive Eingriff‹ und die damit einhergehende Transformationsleistung des Computers gleich mehrfach codiert. Einmal, wie wir bereits gesehen haben, indem der Computer innerhalb der Erzählung als instrumentelle Apparatur das Subjektivitätsempfinden von Joel und die damit einhergehende Unordnung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit durch das Löschen seiner Erinnerungen massiv beeinträchtigt; was sich wiederum im von Gondry gewählten komplexen Narrationsmuster artikuliert und widerspiegelt. Dabei zeigt sich vor allem in der effektvollen und trickreichen Inszenierung der Erinnerungsbilder im Moment ihres Verschwindens die Transformationsleistung des Computers auch hinsichtlich der Beschaffenheit des filmischen, hybriden Bewegtbildes. Die analogen wie digitalen Effekte werden dabei von Gondry spielerisch erforscht und virtuos kombiniert, sie untermauern geschickt die filmische Erzählung und unterstützen visuell ihre Dramatik: »Its effects present images«, so McClean, »that make powerful statements about memory and consciousness.«33 Die Inszenierung der (Gedächtnis-)Lücke in Eternal Sunshine figuriert somit gleich doppelt als Sichtbarmachung eines Verschwindens: nicht nur als das Löschen der Erinnerungen durch den sich in Joels Außenwelt befindenden Computer, sondern gleichsam als sukzessives Verschwinden des Computers in den Hintergrund des filmischen, nunmehr analogdigitalen Produktionsverfahrens, wo er sich zunehmend des analogen, filmischen Bewegtbildes ›bemächtigt‹, um neue, hybride Bildkonfigurationen hervorzubringen. Auf einer dritten Ebene wird alsbald auch der Status analoger wie digitaler Medien (und ihrer Bildwelten), ihre Aufzeichnungs- und Abbildungsverfahren, aber auch ihre Leistung als ›Erinnerungsmedien‹ kulturell verhandelt, indem das digitale Medium Computer als Löschapparatur zu den analogen Medien, welche in Eternal Sunshine klar als Gedächtnis- und Speichermedien konfiguriert sind, in Differenz gesetzt wird. Somit thematisiert Eternal Sunshine nicht nur die Neuverhandlung kulturell-historischer Vorstellungen von Erinnerung und Gedächtnis unter dem Aspekt der Digitalisierung, sondern exponiert ebenso durch die In-Differenz-Set-
33. S.T. McClean: Digital Storytelling, S. 93.
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zung von ›analog‹ und ›digital‹ die kulturell-historisch konfigurierten Vorstellungen von ›alten‹ bzw. ›neuen‹ Medientechnologien. Abbildung 1: Die brisante »technique for the focused erasure of troubling memories« wird sehr unspektakulär inszeniert: Scanner, brain maps und Verkabelung. Filmstills aus Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Michel Gondry, 2004)
Dass Michel Gondry in diesem Spannungsfeld von analog und digital für die motivische Inszenierung des Computers statt einer zukunftsträchtigen, monströsen Hightech-Installation alte Lowtech-Computer aus den frühen 90er Jahren verwendet,34 widerspiegelt nicht nur seinen diskreten, fokussierten Umgang mit digitalen Effekten auf der bildästhetischen Ebene,35 sondern gleichsam das immense mediale Potenzial der ›universellen Maschine‹, welches sich gerade hinter seiner (apparativen) Erscheinung verbirgt. Der Computer als Medium, so Georg Christoph Tholen, zeigt sich in der »mediale[n] Nicht-Koinzidenz des digitalen Mediums mit sich selbst«, wobei der »Spielraum von Als-ob-Bestimmungen […] dem digitalen Medium weder inhärent noch äusserlich« ist.36 Der Computer, der uns in Eternal Sunshine vorgeführt wird, verdeckt gerade dadurch, dass er nicht als phantasmatisch-futuristischer (und auch nicht als autonomer!) Supercomputer erscheint, die ihm eigene Un-heimlichkeit hinter einer Vertrautheit, die sich aus unserem alltäglichen Umgang mit digitalen Medientechnologien bereits entwickelt hat. Der Computer in seiner Inszenierung als nicht-autonome instrumentelle Apparatur steht dadurch in starker 34. Z.B. den Amstrad Portable Personal Computer, vgl. die »Trivia for Eternal Sunshine of the Spotless Mind« auf der Internet Movie Database: www.imdb. com/title/tt0338013/trivia (1. August 2009). 35. So bemerkt Barbara Flückiger, dass sich »die ungemein komplexe Verflechtung von Wahrnehmung und Erinnerung in Eternal Sunshine oftmals nur durch einfache Retuschen, durch Warping oder Diffusion, realisiert – digitale Technik zwar, aber mit Lowtech-Anspruch«. B. Flückiger: Visual Effects, S. 393. 36. Georg Christoph Tholen: »Einleitung«, in: Sigrid Schade/Thomas Sieber/Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel: Schwabe 2005, S. 1525, hier S. 23.
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Differenz zum gewaltsamen Potenzial seiner spezifischen – und somit medialen – Anwendung, die sich in Form des gewaltsamen Eingriffs in die Erinnerung und somit die Identität des Menschen manifestiert. Die ›science fiction‹ von Eternal Sunshine – und damit das fi ktional-futuristische Potenzial, welches mit dem Genre einhergeht (was zugleich kulturelle Visionen und Ängste reflektiert) – zeigt sich daher weder im Bild von »Joel’s head wired and plugged into the computer«, welches, so bemerkt José van Dijck, »does not look as alien as it should«,37 noch auf dem Bildschirm. Denn auch dort sehen wir nichts, was unser visuelles Verständnis übersteigt: vielmehr präsentiert Eternal Sunshine die (state-of-the-art-) Möglichkeit der »optischen Invasion«38 – den Blick ins Innere des Körpers und mithin die Inkorporierung der Schnittstelle – wie wir sie aus den computerbasierten Bildgebungsverfahren der Naturwissenschaften kennen. Wie bei der funktionellen Magnetresonanztomographie, wo durch »haemodynamische Kopplung« die Aktivität im Gehirn als Veränderung der Beeinflussung des Magnetfelds auf dem Computerbildschirm visualisiert werden kann,39 wird durch das Verfahren des Scannens von Joels Gehirn ein Abbild in Form einer kognitiven Karte auf dem Bildschirm erzeugt (vgl. Abb. 1). Die ›science fiction‹ verlagert sich also auf das mediale Potenzial des Computers und der daraus resultierenden Möglichkeit, nicht nur Hirnaktivitäten abzubilden, sondern sie als spezifische Erinnerungspunkte auf dem Bildschirm zu lokalisieren, die nun in ihrem emotionalen Kern angezielt und ebenso spezifisch aus dem Gedächtnis gelöscht werden können. 40 »However far-fetched it may appear«, so van Dijck, »manipulation of the mind as a result of computer processing is theoretically feasible.« 41 Und die nächstlogische Konsequenz, die zugleich 37. José van Dijck: Mediated Memories in the Digital Age, Stanford/Calif.: Stanford University Press 2007, S. 44. 38. Britta Schinzel: »Digitale Bilder: Körpervisualisierungen durch Bild gebende Verfahren in der Medizin«, in: Wolfgang Coy (Hg.), Bilder als technischwissenschaftliche Medien, Workshop der Alcatel-Stiftung und des Helmholtzzentrums der HU Berlin (2004), http://mod.iig.uni-freiburg.de/cms/fileadmin/publikationen/online-publikationen/koerpervisualisierungen.pdf (1. August 2009). 39. B. Schinzel: Digitale Bilder. 40. Diese gelingt jedoch nur bedingt: Ebenso wie beim Löschen im Computer immer Spuren auf der Festplatte zurückbleiben, so bleiben auch nach der Löschprozedur Spuren in Joels (unbewusster) Erinnerung zurück, die ihn dazu antreiben, nach Montauk zu fahren, wo er Clementine (wieder) trifft. Ebenso weist die verwirrte psychische Verfassung von Clementine auf latente Erinnerungsspuren hin, die durch den Löschprozess nicht ausgemerzt werden konnten. 41. J. van Dijck: Mediated Memories, S. 44.
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die damit einhergehenden ethischen Fragen aufwirft, verdichtet Eternal Sunshine zu seiner Prämisse: Warum soll man sich mit einer derart verfeinerten »technique for the focused erasure of troubling memories« 42 noch an eine zerstörte Liebesbeziehung erinnern? »In light of recent revisionist theory on memory formation, the question arises as how digital technologies may accomodate the ›matter‹ of both mind and media.« 43 So handelt Eternal Sunshine, wie auch José van Dijck in Mediated Memories in the Digital Age beobachtet, nicht nur vom Verschwinden der Erinnerungen, sondern auch vom Verschwinden der Medien im konvergenten ›Universalmedium‹ Computer; und somit von ultimativer Emergenz. Der Prozess der Digitalisierung von Erinnerungen zeigt sich auf den Bildschirmen von Lacuna nicht nur als einer der Entmaterialisierung, sondern auch der Entsubjektivierung. Um eine »map of Clementine in your brain« visualisieren zu können, wird Joel von Dr. Mierzwiak gebeten, alle Gegenstände mitzubringen, die ihn an Clementine erinnern. Erinnerungen in externalisierter Form also: Fotos, Kassetten, Zeichnungen, Tagebücher, Liebesbriefe – »mediated memory objects« 44 – scheinen dabei als ›alte‹ Medien noch eine ›Spur des Realen‹ und somit der Authentizität in sich zu tragen; sie zeugen als »imprints for lost moments«:45 Abdrücke also, in deren Materialität sich die Erinnerungen von Joel ein-geschrieben haben. Dieser Realitätsbezug verschwindet jedoch im Computer als medienintegrierendes Medium: Im Prozess der Entmaterialisierung, in der Übertragung in digitale, binäre Einheiten, verlieren die materialisierten Erinnerungen ihre Augenscheinlichkeit und somit ihren persönlichen Charakter; sie werden zu universellen, modulier- und manipulierbaren Daten, die zugleich auf dem Display als abstrakte Zahlencodes erscheinen. Allerdings präsentiert Eternal Sunshine die mit dem Computer einhergehende Medienkonvergenz nicht als Auslöschung der analogen Medien im Digitalen. Vielmehr eröffnet sich gerade im Aufeinandertreffen von klar abgegrenzten ›alten‹ und ›neuen‹ Medien im Spannungsfeld von analog/digital eine Auseinandersetzung ihrer Medialität, also »das, was uns vorausgeht oder dazwischenkommt«. 46 Denn »erst die Analyse und Beschaffenheit der Grenzen sowie ihrer Transgres42. So preist Dr. Howard Mierzwiak die von Lacuna entwickelte neue ›Vergessenstechnologie‹ an, sowohl im fingierten Werbespot (auf der DVD) wie auch auf der Website www.lacunainc.com (1. August 2009). 43. J. van Dijck: Mediated Memories, S. 29. 44. So beschreibt sie J. van Dijck in Mediated Memories, z.B. S. 28. 45. Ebd., S. 46. 46. G.C. Tholen: »Einleitung«, S. 20.
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sionen«, so Beate Ochsner, »erlaubt es, intermediale […] Interaktionen zu diskutieren und zu verhandeln.« 47 So erweist sich in einer prägnanten Szene48 Michel Gondrys intermediale Inszenierung als klar abgegrenzte Differenz zwischen alten (analogen) und neuen (digitalen) Medien: Wir sehen eine ältere Frau, heulend und mit schmerzverzerrtem Gesicht unter dem Scanner, während sich vor ihr auf einer Leinwand ein Amateurfi lm entfaltet, der einen Mann beim Tennisspielen zeigt. Neben ihrem Kopf und dem kalten, starren Scanner rattert die Filmrolle hektisch durch den Projektor. Die Kamera schwenkt durch den Raum auf die Computerbildschirme zu, auf welchen sich die ›brain maps‹ der lokalisierten Erinnerungen abbilden. Über den Bildschirmen, als markanter Kontrast, steht (wohl nicht zufälligerweise) ein antiquierter Plattenspieler, der ebenso nostalgisch anmutende JazzMusik spielt. Der Plattenspieler als Analogmedium wird deutlich als ›altes‹ Medium inszeniert; er ist zudem einer der »technische[n] Speicher«, so Jens Schröter, »die bestimmte Aspekte des Realen in seiner kontingenten Streuung permanent aufzeichnen«. 49 Das digitale Medium, welches still und starr den Digitalisierungsprozess unter der Oberfläche vollzieht, wird damit in Differenz gesetzt zum sicht- und hörbaren anachronistischen Rattern und Rauschen der Analogmedien; analoge Artefakte, die, nach Hansmartin Siegrist, zur »Ikone ihrer Medialität«50 geworden sind. So lassen nicht nur deren Medieninhalte emotionale Erinnerungen bei Lacunas Patientin auf kommen, sondern wecken gleichsam in ihrer Inszenierung als technisch überholte ›alte‹ Medien nostalgische Gefühle im Angesicht der ubiquitären (und zugleich ›uneigentlichen‹) Präsenz des Computers.51 47. Beate Ochsner: »Zur Frage der Grenze zwischen Intermedialität und Hybridisierung«, in diesem Band, S. 55. 48. Diese Szene wird auch benutzt, um im fingierten Werbespot von Lacuna (auf der DVD) die neue ›Technologie des Vergessens‹ auszustellen und anzupreisen. 49. Jens Schröter: »Notizen zu einer Geschichte des Löschens. Am Beispiel von Video und Robert Rauschenbergs ›Erased de Kooning-Drawing‹«, in: Doris Schumacher-Chilla (Hg.), Im Banne der Ungewissheit. Bilder zwischen Medien, Kunst und Menschen, Oberhausen: Athena 2004, S. 171-194, hier S. 173. 50. Hansmartin Siegrist: »›That unknown impurity‹ – Fehlerästhetik im Spielfilm«, in: Felix Philipp Ingold/Yvette Sanchez (Hg.), Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität, Göttingen: Wallstein 2008, S. 186-201, hier S. 200. 51. Der gleiche Effekt wird fernerhin auch dadurch erzeugt, dass die Patienten im Vorfeld bei Lacuna ihren Löscheingriff begründen müssen. Dabei wer-
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Eternal Sunshine nimmt somit eine klare relationale und differentielle Abgrenzung zwischen analogen/alten und digitalen/neuen Medien auf der Ebene der Inszenierung vor, um damit eine (ebenso fi ngierte) Grenze zwischen Erinnern und Vergessen zu ziehen. Dabei werden die Analogmedien als Gedächtnismedien, d.h. für die Erinnerung konzipierte Speichermedien konstituiert, wobei nun gerade das ›neue‹ des digitalen Mediums erfass- und erschließbar wird: nämlich die Ineinssetzung von Speichern und Löschen auf der Basis der digitalen Codierbarkeit – und die daraus resultierenden (realen oder imaginierten) Folgen der Manipulierbarkeit. Denn im Gegensatz zu den »unlöschbaren Fotografien und Filme[n] oder d[en] ebenso unlöschbaren Walzen, Schellack- und später Vinylplatten des Fonografen, Grammofons und Plattenspielers«52 fällt Speichern und Löschen im digitalen Medium durch die Reduktion auf algorithmische Befehle in einem Tastendruck zusammen. War die Möglichkeit von fingierten Medienerzeugnissen auch bereits den ›alten‹ Medien inhärent, konnten auch diese mithin vernichtet und ›gelöscht‹ werden – und dadurch manipulierend auf individuelle und kulturelle Mentalitäten wirken – so thematisiert Eternal Sunshine gerade die durch den Prozess der digitalen Entmaterialiserung neu dynamisierte und virulent gewordene Angst medialer Manipulation durch die ultimative digitale Möglichkeit, ›Dinge‹, mithin auch menschliche Erinnerungen, per Tastendruck zum Verschwinden zu bringen. Dabei reflektiert Eternal Sunshine zwar die im Computerzeitalter kulminierende Angst einer ›kulturellen Amnesie‹53, entzieht sich jedoch im Verlauf seiner Geschichte der postmodernen Verlustrhetorik einer Selbst- und Kulturvergessenheit, wie sie in der Baudrillard’schen ›Agonie des Realen‹ ihre prägnanteste Formulierung fand. In gleichem Zuge wird durch die in Eternal Sunshine als Opposition inszenierte Differenz von analogen und digitalen Medien das Begriffspaar jenseits seiner technischen Begriffserklärung »als ein analytisches Konstrukt« entlarvt, »eine Trennung zur Beschreibung verschiedener Zustände, die jedoch in der Praxis, in den Objekten und in den Bildern immer ineinander verwoben und aufeinander bezogen bleiben«.54 So bleibt der digitale, technische Eingriff gerade in Eternal Sunshines hybriden Bewegtden ihre Erzählungen auf Tonband aufgenommen und kommen als ›analoge files‹ ad acta, d.h. sie verbleiben als Dokumentationsmaterial, ergo als bewahrte ›mediated memories‹ (van Dijck) in den Aktenstapeln von Lacuna, während die digitalisierten Erinnerungen als ›digitale files‹ vom Computer gelöscht werden. 52. J. Schröter: »Notizen zu einer Geschichte des Löschens«, S. 173. 53. Vgl. z.B. Andreas Huyssen: Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia, New York: Routledge 1995. 54. Martina Hessler: »Von der doppelten Unsichtbarkeit digitaler Bilder«,
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bildern hinter der Oberfläche (meist) unsichtbar. In der Interferenz analoger und digitaler Medien, also der »Überlagerung von medialen Weisen der Sichtbarkeit«,55 markiert das Display des Computers als »technischdiskursives Hybrid«56 den Schwellenraum von Sicht- und Unsichtbarkeit, wobei in Eternal Sunshine das computertechnisch Abgebildete dem Imaginierten, fi lmisch Inszenierten gegenübergestellt wird. Die Grenzen und Grenzverschiebungen zwischen dem, was auf und dem, was hinter der Oberfläche (un-)sichtbar wird, erforscht Gondry durch die Inszenierung des Vergessens als Sichtbarmachung von Erinnerungen im Moment ihres Verschwindens. Er inszeniert damit fi lmisch-performativ – jedoch unter digitalem Vorzeichen – eine durch den Computer bis zur Annihilation paradox sichtbar gemachte Unsichtbarkeit. So macht Gondry die durch den Computer möglich gewordene ›optische Invasion‹ ins Gedächtnis nicht nur zum Inhalt seiner Erzählung, sondern gleichsam zur Prämisse seiner komplexen, narrativen Logik.57 Die Dynamik des Erinnerns wird damit in Eternal Sunshine gleich doppelt sichtbar gemacht – und als klare Diskrepanz gegeneinander ausgespielt: einmal als starres, ›objektiviertes‹ Bild in Form einer kognitiven Karte auf dem Bildschirm von Lacuna und einmal als in Bewegung versetzte, hybride (Film-)Bilder von Joels subjektiver Erinnerungswelt. Dabei erweist sich bereits das auf dem Bildschirm sichtbar gemachte Unsichtbare, nämlich die Visualisierung von Messdaten an sich nicht sichtbarer Phänomene wie Hirnströme als Abstraktion, die »in paradoxer Umkehrung« zwar »einen objektiven Blick auf den Körper« suggeriere, so Britta Schinzel,58 jedoch erst im Überwinden einer »doppelten Unsichtbarkeit«59 aussagekräftig und damit wissenschaftlich interpretationsfähig wird. Die im Zuge der Entwicklung moderner, neurowissenschaftlicher Visualisierungsmöglichkeiten errungenen Einblicke in das Gehirn und die in: zeitenblicke 5 (2006), www.zeitenblicke.de/2006/3/Hessler/index_html, (1. August 2009). 55. G.C. Tholen: »Überschneidungen«, S. 16. 56. Jens Schröter/Tristan Thielmann: »Display II: digital – Einleitung«, in: Navigationen 5 (2007), S. 7-12, hier S. 10. 57. Dabei wird Gondrys Inszenierung von einem Gedächtnismodell inspiriert, welches den aktuellsten neurologischen Erkenntnissen entspricht. So meint etwa Steven Johnson: »you can’t erase your boyfriend from your brain, but the movie gets the rest of it right«; vgl. ders.: »The Science of Eternal Sunshine«, in: Slate (2004), http://slate.msn.com/id/2097502/ (1. August 2009). 58. B. Schinzel: »Digitale Bilder«. 59. M. Hessler: »Von der doppelten Unsichtbarkeit«.
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daraus entwickelten wissenschaftlichen Erkenntnisse über Erinnern und Vergessen werden nun für Gondry zur Ausgangslage seiner fi lmischen Inszenierung. »Die Neurowissenschaften«, so Peter Matussek, »haben uns mittlerweile darüber aufgeklärt, dass auch die individuelle Erinnerung nicht ein Speicherabruf, sondern ein konstruktiver Prozess ist, bei dem Vergangenes, je nach der aktuellen persönlichen Situation, neu imaginiert und inszeniert wird. […] Es wird also immer auch die Vergangenheit von uns neu zur Auff ührung gebracht, neu performiert, je nach Massgabe aktueller Befindlichkeiten.«60 Dieser »Paradigmenwechsel von Speicher- zum Performanzmodell«61 äußert sich in Eternal Sunshine in der inszenierten medialen Differenz, also der spezifischen medialen Möglichkeiten der Sichtbarmachung von Film und Computer. Während der dynamische Prozess durch den Computer zwar überhaupt erst abgebildet und damit sichtbar gemacht werden kann, so verdeckt gerade sein statisches, abstraktes Bild das Performative, welches Gondry in den filmischen Raum verlegt: Die Virtualisierung des mentalen Vorgangs von Joels Reise durch seine Erinnerungswelt wird dabei als genuin filmisch figuriert – allerdings als filmisch durchaus unter digitalem Vorzeichen. Denn die nonlineare, assoziative und performative Struktur der Erinnerung, die dem Film in seiner Gestaltungsmöglichkeit durch Schnitt und Montage längst vor dem ›digital editing‹ schon immer eigen war, ihn durch die Manipulierung von Perspektiven und Betrachterwinkeln, durch Kamerabewegung, Regulierung der Tiefenschärfe, durch jump cuts, Ellipsen, Loops, Mehrfachbelichtung, Diff usion und Überblendungen räumlich wie zeitlich nahtlos zu verkleben und verschmelzen vermochte, ihn aber dennoch auch als brüchig hervortretend zur Erscheinung bringen konnte, erfährt durch den digitalen, präzisen und modulierbaren Eingriff des Computers eine in jedem Wortsinne hybride Dynamisierung. Denn mit den Möglichkeiten des digitalen Compositings kann jedes einzelne Filmbild von innen heraus, in grundsätzlich uneingeschränkter potenzieller Vielfalt, neu organisiert und schichtweise (re-)strukturiert werden: Jeder Pixel steht damit zur Disposition, wobei Grenzen dadurch umso elastischer, überschreib- und überschreitbarer werden. Dabei zeichnet sich jedoch kein Verschwinden des analogen Films im Digitalen ab. Genau das Gegenteil scheint in Eternal Sunshine der Fall zu sein: Durch die Inszenierung des meisterhaften Bricoleurs Michel Gon60. Peter Matussek: »Leerstellen als Erinnerungsanlässe. Interkulturelle, intermediale und interdisziplinäre Dimensionen eines literaturwissenschaftlichen Theorems«, in: Dogilmunhak, Koreanische Zeitschrift für Germanistik 90 (2004), S. 73-95, hier S. 75 (Hervorhebung wie im Original). 61. Ebd, S. 75.
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dry62 werden optische Kameratricks und (analoge) trompe l’oeil-Effekte63 virtuos mit digitalen, computergenerierten Effekten kombiniert und ihr technischer Bildherstellungsprozess im selben Zuge durch die einheitliche Anpassung an die »ästhetischen Eigenheiten des Film-Looks« subtil verschleiert. So zeigt sich in der von Michel Gondry geforderten »durchgängige[n] Präsenz von Staub und Korn«64 gerade wieder die ›Ikonizität des Analogen‹ (Siegrist), wobei diese ›analoge Verschleierung‹ die digitale Transformation nicht nur als technische, sondern gleichermaßen als philosophische und konzeptionelle (Medien-)Revolution exponiert. Der ›digitale‹ Film, wie auch immer er sich zukünftig als neue ›kategoriale Differenz‹ (Freyermuth) konfigurieren mag, entwickelt sich aus seinem analogen Vorgänger heraus, um diesen im gleichen Zuge als »technologisches, soziales, historisches und mentales Konstrukt« zu entlarven, dessen ›Wesen‹ mithin aus der jeweiligen »Begegnung von medialen Vorstellungen/Ideen/Imag(o)inationen« bestimmt wird.65 So verdeutlicht McCleans Feststellung, dass »in the case of Eternal Sunshine of the Spotless Mind, […] there is a perception that analog is ›real‹ but digital is not«,66 wie im Angesicht des ›neuen‹ Mediums die sich verbreitende Zuschreibung des ›alten‹, analogen Films als ›real‹ hauptsächlich an eine Verschiebung medialer Vorstellungen und deren diskursiver Verhandlungen gebunden ist. Denn Film vermittelte auch vor seinem durch den Computer herbeigeführten 62. William J. Mitchell bezeichnet das digitale Zeitalter als ›the age of electrobricollage‹. Ders.: The Reconfigured Eye: Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge/Mass.: MIT Press, 1994, S. 7. Michel Gondrys Affinität zum ›kreativen Basteln‹ zeigt sich bereits in seiner Regiearbeit zu Musikvideos für z.B. The White Stripes, Björk, The Chemical Brothers oder Kylie Minogue. Dabei erforscht er spielerisch das Spannungsfeld analoger und digitaler Tricks, schichtet, verklebt und verdichtet filmische Mittel auf kreative Weise. 63. Z.B.: In einer Szene versetzt sich Joel in eine Erinnerung zurück, in welcher er als kleines Kind (gespielt von Jim Carrey) in der Küche seiner Mutter unter dem Tisch sitzt. Dabei vollzieht sich die optische Illusion direkt vor der Kamera, indem durch verzerrte Größen- und Distanzrelationen eine ›erzwungene Perspektive‹ entsteht. Vgl. Michel Gondrys eigene kleine Demonstration unter www.youtube.com/watch?v=II0er7TmkS8&feature=related (1. August 2009). 64. Barbara Flückiger bemerkt dazu: »Dieses auffällige Spiel mit den ästhetischen Eigenheiten des Film-Looks widerspricht der weit verbreiteten Annahme, dass sich Medien auf eine zunehmende Transparenz hin bewegen«; B. Flückiger: Visual Effects, S. 341. 65. Jürgen E. Müller: »Intermedialität digital: Konzepte, Konfigurationen, Konflikte«, in diesem Band, S. 34. 66. S.T. McClean: Digital Storytelling, S. 5.
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indexikalischen Verlust nie die Realität, sondern lediglich dessen (konstruiertes) Abbild; das hybride Kino war bereits vor dem Computer, und nicht erst durch ihn, eine ›Simulationsmaschine‹. Obwohl die analog und digital erzeugten Effekte in Eternal Sunshine also meist nahtlos zu hybriden Filmbildern mit ›Als-ob-analog‹-Charakter verschmelzen, werden die digitalen Effekte vor allem dann als brüchige Störung akzentuiert,67 wenn sie den massiven Eingriff des Computers in Bezug auf Joels Erinnerung im Moment ihres Verschwindens versinnbildlichen. Dabei werden die analogen Darstellungsmöglichkeiten der räumlichen und zeitlichen Transformationen, die sich im Innern von Joels subjektiver Bilderwelt vollziehen, durch den digitalen Zugriff, welcher ebenso »unter der Oberfläche auf der Ebene der Kodierung statt[findet]«,68 verfeinert und erweitert. Die »technique for the focused erasure« bezeichnet also gleichermaßen die mit der digitalen Technologie ermöglichten präzisen, gezielten Eingriffe im Bereich der Filmherstellung, durch welche sich die fi lmische Diegese in Eternal Sunshine verdichtet und eine »wie so oft im Hybriditätsdiskurs beschwört[e] […] reflexionsorientierte Komplexitätssteigerung« herbeigeführt wird.69 Der technisch präzise Eingriff bleibt dabei zumindest in Eternal Sunshines Erzählung gänzlich hinter der Oberfläche unsichtbar: In der Transformation des von außen herbeigeführten Eingriffs des Computers auf die innere, subjektive Welt des Protagonisten figuriert der Computerbildschirm gerade nicht als Durchgangs-Fenster, sondern steht stoisch als ab-schirmende Instanz, wobei gerade die errungene Sichtbarkeit – die kognitive Karte von Joels Gedächtnis – als opake, maskierende Oberfläche sein Dahinter verbirgt. Er bleibt kalter, starrer Monitor; Überwacher des Geschehens, indem er allen, die auf seinen Bildschirm schauen, den Blick hinter seine Oberfläche verwehrt. Dass der simple Löschbefehl per Tastendruck in Wahrheit einen gewaltsamen Prozess verbirgt (und in sich birgt), der nicht nur die von Lacuna intendierte Zäsur auf mentaler Ebene bedeutet, sondern bis in die physische Sphäre als lebensbedrohliche Instanz durchzudringen vermag, bleibt gerade deswegen für Dr. Mierzwiak unverständlich.
67. Diese wurden paradoxerweise von vielen Filmkritikern nicht als digital wahrgenommen, was einerseits den von Gondry inszenierten ›analogen Schleier‹ auszeichnet, im gleichen Zuge aber auch die gängige Vorstellung von digitalen special effects als ›hirnloses Spektakel‹ entkräftigt. Vgl. S.T. McClean: Digital Storytelling, S. 4ff. 68. B. Flückiger: Visual Effects, S. 206. 69. B. Ochsner: »Zur Frage der Grenze«, S. 56.
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Doch gerade dies bietet Joel die Möglichkeit, sich der Logik des Computers zu bemächtigen, um ihn dadurch auszutricksen. Im Kampf darum, seine Erinnerungen vor dem digitalen Löscheingriff zu retten, versucht er in einer knapp 20-minütigen Sequenz, Clementine im ›copy-paste-Verfahren‹ in alte Erinnerungen zu deplatzieren, die sich außerhalb der kognitiven Karte und somit außerhalb der Gefahrenzone des Computers befinden. Ähnlich einem Regisseur re-arrangiert, montiert und manipuliert Joel seine Erinnerungsbilder zeitlich und räumlich in seinem Kopf, um Clementine in seinem Gedächtnis be-wahren zu können. Mittel dazu ist seine eigene ›kognitive Performanz‹; Grenze dabei bildet lediglich seine Einbildungskraft – und Dr. Mierzwiak, der ihm nach einiger Zeit auf die Schliche kommt. Abbildung 2: Am Ende verfällt alles dem – und durch den – ›algorithmischen Zugriff‹ (Nake). Filmstills aus Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Michel Gondry, 2004)
Gerade hier setzt alsdann eine mit Hilfe besonders von digitalen Effekten und computergenerierten Bildern70 dramatisch inszenierte Verfolgungsjagd ein: »You can run but you can’t hide«, meint Stan, und schon werden die Menschen, die in der Bahnhofshalle um Clementine und Joel herum stehen, wie magisch aus dem Bild gezappt. Pfahl um Pfahl, in rasender Geschwindigkeit, verschwindet der Zaun vor unseren Augen, entlang welchem das tragische Liebespaar vor dem Löscheingriff zu flüchten versucht; mal beginnt Clementine zu flimmern, dann löst sie sich wie ein Hologramm auf, und Joel hält nichts mehr in seinen Armen. Der tragische Ausgang der Erinnerungsreise, zugleich der abschließende Teil des Löschprozesses, gipfelt in einem zerfallenden, letztendlich in sich einstürzenden (computergenerierten) Haus am Meer,71 in welchem Clementine und Joel ihren zeitlich (buchstäblich!) zusammenfallenden ersten und letzten Moment zu70. Die eindrückliche Herstellung der computergenerierten Szenen kann auf der Website der Buzz Image Group angeschaut werden: www.buzzimage.com/ (1. August 2009). 71. Jody Duncan/Joe Fordham: »Random Access Memory«, in: Cinefex Week-
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sammen verbringen. In der Manier früher Stummfi lmgrotesken von Buster Keaton bis Mack Sennett wird auch hier die fi lmische Kulisse annihiliert – allerdings unter Beihilfe digitaler Mittel: so verfällt in Eternal Sunhsine am Ende alles, gerade weil es dem algorithmischen Zugriff verfällt 72 (vgl. Abb. 2). »Come back and make up a good-bye at least; let’s pretend we had one«, meint Clementine, während die Fassade des Hauses herunterbröckelt. Und mit ihrer letzten Aufforderung, »meet me in Montauk«, verstehen wir nun auch die Anfangssequenz des Films, in welcher Joel von einer ›unbewussten Macht‹ getrieben spontan nach Montauk statt zur Arbeit fährt, um dort Clementine – ein zweites Mal also – kennen zu lernen. In dieser Durchdringung von Film und Erinnerung erhält die eingangs erwähnte Aussage von Georges Duhamel, die fi lmischen Bewegtbilder seien so besitzergreifend, dass sie sich seiner Gedanken ›bemächtigen‹ würden, im Spannungsfeld der Digitalisierung eine affirmierende Umkehrung. So bringt vor allem die digitale Technologie die Möglichkeit mit sich, Filmisches nach den grenzenlosen Möglichkeiten unserer Imagination zu gestalten. Einzige (technisch-historisch-kulturell verhandelbare) Grenze bildet dabei die über hundertjährige Geschichte eines Mediums und die damit einhergehenden Vorstellungen, was den Film in seinem ›Wesen‹ ausmacht. Diese spezifischen Eigenheiten des Films seien, so Beate Ochsner, »im kollektiven Bewusstsein verankert und markieren die skopisch-dispositiven Regime-Grenzen, bis zu denen ein Film als Film erscheint, und über die hinausgehend er nicht mehr als Film (wieder) zu erkennen ist.«73 Der Siegeszug des Computers hinter der Leinwand muss genau deshalb nicht in einem »Tod des Kinos« oder »hirnlosen fi lmischen Spektakel« enden. Oberflächen-Spiel und darunterliegende Tiefe brauchen sich im Film eben gerade nicht abzuschirmen, sondern können subtil inszeniert und sichtbar offengelegt werden im Aufeinandertreffen zweier Medien und ihrer unterschiedlichen Art, die Welt abzubilden: »einmal als modellhaft abstraktes, aber beliebig manipulierbares Oberflächenspiel, einmal als mythisch geschlossene, überwältigende Identifi kationsmaschine«.74 ly Update 12 (2004), www.cinefex.com/weeklyupdate/mailings/12_04062004/ web.html (1. August 2009). 72. In dieser Formulierung schwingt Frieder Nakes bereits in der Einleitung dieses Bandes zitierte Aussage mit: »Am Ende verfällt alles dem algorithmischen Zugriff.« 73. B. Ochsner: »Zur Frage der Grenze«, S. 52f. 74. Georg Seeßlen: »Computer im Film: Die wahren Hauptdarsteller«, in: Die Zeit 11 (1997), www.zeit.de/1997/11/filmcomp.19970307.xml (1. August 2009).
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Präsenz und Präsentation – Intermediale Inszenierungen politischen Handelns Jürgen Raab
Ansatzpunkte einer soziologischen Anthropologie der Intermedialität Anders als es die aktuellen Debatten um den somatic turn, spatial turn oder visual turn gelegentlich nahelegen, sind Körper, Raum und Bild keine von der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung vollends vergessenen Themen. Auch mit Präsenz und Präsentation – die ich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, als konstitutive Elemente intermedialer Inszenierungen begreife – findet sich bei genauerem Hinsehen bereits eine frühe soziologische Auseinandersetzung. In seinem weitläufigen Werk fokussiert Georg Simmel wiederholt das Ineinandergreifen und die Wechselwirkungen zwischen Körper, Raum und Bild in ihrer Bedeutung für soziale Darstellungen, Wahrnehmungen und Deutungen. Genannt seien lediglich seine Arbeiten über die Soziologie der Sinne, über die Ästhetik des Gesichts oder das Problem des Portraits, über die Karikatur, den Schmuck, die Mode und nicht zuletzt seine Versuche über den Schauspieler. Besonders bedeutsam scheint mir aber eine Abhandlung zu sein, die man zunächst nicht unbedingt in diesem Zusammenhang vermuten mag: Simmels Ausführungen über das Geheimnis und die geheime Gesellschaft.1 So zitiert Erving Goff man eingangs seiner Untersuchungen über »The Presentation of Self in Everyday Life« aus diesem Text und – 1. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 383-455.
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dies ist für Goff man einmalig – wiederholt dieses Zitat an einer weiteren Stelle seines Œvres: »Um jeden Menschen liegt eine ideelle Sphäre, nach verschiedenen Richtungen, in die man nicht eindringen darf, ohne den Persönlichkeitswert eines Individuums zu zerstören. Denn es besteht ein innerer Zwang zum Distanzhalten, der selbst im intimen Verhältnis nicht ohne weiteres verschwindet.«2 Und in direktem Anschluss führt Goff man Emile Durkheim an: »Die menschliche Persönlichkeit ist etwas Heiliges; man verletzt sie nicht, obwohl gleichzeitig das höchste Gut die Gemeinschaft mit anderen ist.« 3 Das bei Simmel und Durkheim aufgeworfene Problem des kommunikativen Auspendelns von sozialer Nähe und Distanz wird bekanntermaßen zum Generalthema der Goff man’schen Soziologie als der Untersuchung und Beschreibung jenes ritualisierten Formen- und Regelwerks, über das die Handelnden in körperlicher Ko-Präsenz das Verhältnis aus Nähe und Distanz aushandeln und aktualisieren. Dieses Verhältnis ist zwar stets vorläufig, brüchig und reparaturbedürftig, doch die Allgemeinheit und relative Stabilität der Interaktionsordnung erlaubt es den Akteuren in kooperativer Arbeit die für den sozialen Austausch notwendigen Selbstbilder – ihre Images – auszugestalten, sie auf den Bühnen des Alltagshandelns vorzuführen, zu pflegen und zu schützen. 4 Von ganz anderer Seite und mit zunächst völlig anderem Akzent findet sich bei Helmuth Plessner eine frühe, nicht minder grundlegende und folgenreiche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Präsenz und Präsentation. Denn aus der Diskussion dieses Verhältnisses entwickelt Plessner eine anthropologische Begründung sozialer Darstellungs- und Handlungsformen. An zentraler Stelle der Ausarbeitung seiner philosophischen Anthropologie, nämlich bei der Formulierung des zweiten von drei anthropologischen Grundgesetzen, beschreibt Plessner die »vermittelte Unmittelbarkeit« als conditio humana.5 Wo das Tier ganz in der Aktualität des Hier und Jetzt aufgeht, ihm also das Sein selbst nicht gegen2. G. Simmel: Soziologie, S. 396. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 1969, S. 64 sowie Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 70. 3. »La personnalité humaine est chose sacrée; on n’ose la voiler, on se tient à distance de l’enceinte de la personne, en même temps que le bien par excellence, c’est la communion avec autrui«, Emile Durkheim: Sociologie et Philosophie, Paris: Alcan 1967, S. 41. Vgl. E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 64 sowie E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 82. 4. Vgl. Jürgen Raab: Erving Goffman, Klassiker der Wissenssoziologie Band 6, Konstanz: UVK 2008. 5. Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Ein-
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wärtig ist, da überschreitet der Mensch – und dieser Gedanke wird für meine nachfolgende Argumentation tragend sein – stets die räumlichen und zeitlichen Grenzen des Hier und Jetzt. Deshalb ist dem Menschen möglich, den eigenen Blick auch auf sich zu richten und sich in seinem Fühlen, Denken und Handeln zu beobachten, so dass er sich in seinem konkreten Sein erfassen kann und sich seiner selbst bewusst wird. Aber diese Selbst-Präsenz ist paradox, offenbart sie doch, dass wir uns bereits in unserer unmittelbaren Selbstgegenwart und Selbsterfahrung immer nur vermittelt, also abständig gegeben sind. Dieses anthropologische Grundverhältnis wird, wie Plessner am Beispiel von Lachen und Weinen zeigt, nur in den Grenzfällen von Krisensituationen desorganisiert – jedoch niemals aufgelöst. Denn auch wenn der Mensch nicht mehr aus der Distanz heraus antworten kann, wenn eine Situation ihm keine Sinnbezüge mehr erlaubt, wenn er also kein sinnschließendes Verhältnis zur Situation mehr hat, selbst dann gibt er sein Grundverhältnis nicht vollends aus der Hand, sondern, so die Wortwahl Plessners, »er verfällt ins Lachen und lässt sich fallen – ins Weinen«.6 Die mit dem anthropologischen Grundgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit umschriebene Doppelaspektivität von Körper-Sein und Körper-Haben, der gebrochene Selbstbezug des Menschen, geht sogleich mit einem gebrochenen Weltbezug einher.7 Insofern sich der Mensch in seinem Fühlen, Denken und Handeln selbst wahrnimmt, also auch sein Erleben erlebt und sich beim Ausdruck zuschaut und zuhört, und diesem Ausdruck zudem zugleich misstraut, muss er sich in sozialen Situationen körperlicher Ko-Präsenz verkörpern. In sozialen Situationen müssen wir uns darstellen und uns mithin eine Form geben, die einerseits unsere körperliche Direktheit, die wir mit dem Tier teilen, mildert, also unsere Unmittelbarkeit dämpft und unsere Eindeutigkeit umhüllt, die uns aber andererseits und zugleich eine scharf konturierte Gestalt und damit maximale Sichtbarkeit verleiht.8 Diese Möglichkeit des »Sich-von-sich-Unterleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 404ff. 6. Vgl. Helmuth Plessner: »Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens«, in: ders., Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 (1941), S. 201-387, hier S. 50. 7. Vgl. Walter Schulz: Der gebrochene Weltbezug. Aufsätze zur Geschichte der Philosophie und zur Analyse der Gegenwart, Stuttgart: Neske 1994. 8. Vgl. Helmuth Plessner: »Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus«, in: ders., Macht und menschliche Natur. Gesammelte Schriften V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 (1924), S. 7-133.
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scheidens« ist die Möglichkeit des Menschen, zum »Menschendarsteller« zu werden: zum Schauspieler.9 Zugleich konstituiert dieses sowohl gebrochene als auch gedoppelte, inter-mediale Verhältnis des Menschen zu sich selbst jene »künstliche Einheit«, aus der heraus wir unsere soziale Kompetenz als alltägliche Rollenspieler entwickeln.10 Die Dreieinheit von Körper-Sein, Körper-Haben und Kultur heißt bei Plessner denn auch nicht zufällig Person.11 Masken (lat. persona) sind ebenso wie Posen, wie Kleidung, Schmuck und wie die sozialen Verkehrsund Präsentationsweisen beispielsweise des Taktes und der Diplomatie eben jene kulturellen symbolischen Kommunikationsformen, die in der Unmittelbarkeit körperlicher Ko-Präsenz – notwendig – vermitteln, indem sie beides in einem leisten: sie enthüllen und verhüllen zugleich, und pendeln so die Antagonismen von Eitelkeit und Scham, von Zeigen und Verbergen, von Entfaltung und Verletzlichkeit aus. Dergestalt erzeugen und bewahren die kulturellen symbolischen und rituellen Formen – sowohl für die Darstellung eines Menschen wie auch in deren Deutung durch die sozialen anderen – selbst in nächster Nähe ein Zwischenreich der Distanz: einen Raum von Möglichkeiten, der über das hier und jetzt Präsente und Aktuelle hinausweist und hinausgreift. In ihm und durch ihn entzieht sich sowohl die Präsentation als auch die Deutung eines Handelnden der Stillstellung und Abschließbarkeit, und das Geheimnis der »ideellen Sphäre« (Simmel) respektive der »Heiligkeit der Persönlichkeit« (Durkheim) bleibt gewahrt.
2. Präsenzverlust in Sinndeutung und medialer Präsentation? Gegen den Descartes’schen Dualismus gewandt, betont Plessner also die unauflösliche Verschränkung von Geist und Körper, von Bewusstsein, Wahrnehmung und Ausdruck. Wenn nun Hans Ulrich Gumbrecht von der Präsenz als einem ästhetischen Erleben spricht, das sich nicht auf ein zeitliches, sondern auf ein räumliches Verhältnis zur Welt und ihren Objekten bezieht, das also unter Umgehung jeglicher sinngenerierenden Deutung unmittelbar auf die Sinne und auf das körperliche Erleben eines Wahrnehmenden wirkt, so scheint die jenem »Wunsch nach Präsenz, 9. Vgl. Helmuth Plessner: »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: ders., Gesammelte Schriften VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 (1948), S. 399-418, hier S. 416f. 10. Vgl. ebd. 11. Vgl. H. Plessner: »Grenzen der Gemeinschaft«, S. 82ff.
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nach Greif barkeit und Intensität« entspringende Entgegensetzung einer »Weltaneignung durch Begriffe« zu einer »Weltaneignung durch die Sinne«, mit ihrer Auseinanderdividierung von zeitlicher Erfahrung einerseits und räumlichem Erleben andererseits, das von Plessner formulierte anthropologische Grundgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit aufzukündigen und gewissermaßen durch die Hintertüre den Dualismus von Körper und Geist wieder einzuführen.12 Gumbrecht stellt seine These vom zunehmenden »Verlust der Präsenzdimension in unserer heutigen Kultur« der berühmten Formel Walter Benjamins vom »Verfall der Aura« in der Kontingenz und Schockartigkeit der sich entwickelnden Moderne an die Seite.13 Denn es sei ja gerade Benjamins Faszination für Eindrücke der Dingunmittelbarkeit, dessen Insistieren auf einer Dingwelt diesseits der Deutung und diesseits des Sinns, was sein Werk noch heute so anziehend mache.14 Diese Vereinseitigung und Verkürzung Benjamins, ebenso wie die scharfe Trennung von »Präsenzkulturen« einerseits und »Sinnkulturen« 15 andererseits, sowie nicht zuletzt die leidenschaftliche Parteinahme für erstere unter rational begründeter Zurückweisung letzterer – das alles irritiert und provoziert. Und als Auftakt platziert soll es das wohl auch. Denn im Verlaufe seiner Argumentation verlässt Gumbrecht die radikale Eröff nungsposition Stück für Stück und gelangt zur Formulierung seiner eigentlichen These. Diese Akzentverschiebung lässt sich auf drei eng miteinander in Verbindung stehenden Ebenen rekonstruieren. Erstens tauscht Gumbrecht die Begrifflichkeit aus und spricht nicht mehr wie eingangs von Präsenz- oder Sinnkulturen, sondern nur hinfort noch von »Präsenz- und Sinneffekten«.16 Zweitens überführt Gumbrecht seine zunächst binäre Gegenüberstellung in eine an Max Webers Modell des Idealtypus orientierte Konstruktion. Eine Konstruktion, die dann nicht mehr auf polaren Gegensätzen beruht, sondern die ein Oszillieren konstatiert und damit eine Simultaneität und 12. Hans Ulrich Gumbrecht: »Diesseits des Sinns. Die neue Sehnsucht nach Substantialität«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 9/10 (2005), S. 751-761, hier S. 756. 13. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 165. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 7-44, hier S. 15. 14. H.U. Gumbrecht: »Diesseits des Sinns«, S. 757. 15. H.U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 36. 16. Ebd., S. 127.
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ein Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Sinn zulässt. Denn so Gumbrecht nun: »Präsenzeffekte werden notwendig von Wolken oder Polstern des Sinns umgeben, umfangen und vielleicht sogar vermittelt.« 17 Für die Erfassung dieses Oszillierens zwischen Präsenz- und Sinneffekten in Situationen ästhetischen Erlebens gelte es denn auch, die entsprechenden Begriffe zu entwickeln. Und drittens schließlich verabschiedet sich Gumbrecht von der Vorstellung, die Substantialität und Intensität von Präsenz könnten einzig in der Greif barkeit des Hier und Jetzt, allein in der körperlich-räumlichen Unmittelbarkeit erlebt und erfahren werden – etwa, beispielsweise dann, was in der Rezeption vielfach belächelt wurde, wenn Gumbrecht sein Erleben angesichts einer in der Universitätsbibliothek vor ihm am Computer stehenden jungen Dame andeutet. Vielmehr könnten Präsenzeffekte – dies deutet Gumbrecht am Beispiel der Gedichte García Lorcas und am Beispiel der ›special effects‹ in der technisch-artifiziellen Kommunikation gleichfalls lediglich an – durchaus auch über mediale Artefakte und symbolische Präsentationsformen vermittelt und ausgelöst werden. Der Perspektivenwechsel rückt Gumbrechts Überlegungen zur Produktion von Präsenz augenscheinlich noch näher an Walter Benjamins Begriff der Aura heran – an jenes »sonderbare Gespinst von Raum und Zeit«18 – und diese Näherung lässt die eigene Konzeption wie eine Neuauflage Benjamins erscheinen. Mir ist jedoch daran gelegen, zu zeigen, dass die Adaption erstens eine besondere Lesart Benjamins impliziert, die zur Erhellung einer für die Sozial- und Kulturwissenschaften nach wie vor ebenso dunklen wie zentralen Metapher beizutragen vermag. Und dass zweitens – was anhand der vergleichenden Analyse zweier ausgewählter Beispiele für intermediale Inszenierungen politischen Handelns anschließend dargestellt werden soll (vgl. unten, Abschnitt 3 und 4) – Gumbrecht gleichfalls implizit eine Präzisierung des Aura-Begriffs vorlegt, die es zumindest heuristisch erlaubt, immerhin 70 Jahre nach Benjamin, auch und gerade aktuelle Erscheinungsformen der technisch-medialen Präsentation von Präsenz zu erfassen.19 Zunächst jedoch zu jenen drei Aspekten der impliziten, in Richtung der hier verfolgten Argumentation zugespitzten und erweiterten Lesart Benjamins durch Gumbrecht. 17. Ebd. 18. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 45-64, hier S. 57. 19. Vgl. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 33ff.
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1. In seiner wohl bekanntesten Definition exemplifiziert Benjamin die Aura anhand einer Naturerfahrung: »die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«; und er erörtert den Verfall dieser Erfahrung anhand des Kunstwerks.20 Allerdings wird sehr häufig übersehen, dass Benjamin den Aura-Begriff über einen überaus langen Zeitraum entwickelt, diskutiert und modelliert. Dies ist hier nicht im Detail nachzuzeichnen, allenfalls ist hervorzuheben, dass die frühesten, auf den Drogen-Experimenten beruhenden Beschreibungen21 ebenso wie die spätesten, im Aufsatz über Baudelaire dargelegten Bestimmungen, die Aura als eine Erfahrung schildern, die in der sozialen Face-to-face-Situation ihren Ursprungsort hat, denn »die Erfahrung der Aura beruht […] auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen.«22 2. Benjamin sieht den Verfall der Aura dort, wo das Kunstwerk aus seiner Einmaligkeit und seiner ursprünglich rituell-kultischen Verwendung herausgelöst und der massenhaften technischen Reproduktion zugeführt wird. Die technische Reproduktion verändere die Funktion, die Wahrnehmung und die Erfahrung des Kunstwerks, beraube es so seines »Kultwertes« und reduziere es auf den rein profanen »Ausstellungswert«. Doch Benjamin erkennt »die Entschälung des Gegenstandes aus der Hülle, die Zertrümmerung der Aura« auch dort, wo die menschliche Selbstdarstellung und die soziale Wahrnehmung von der Unmittelbarkeit der Face-to-faceSituation in die mediale Vermittlung übergehen.23 Mit seinem Erscheinen und seiner Präsentation in den technischen Medien, in der Photographie und insbesondere im Film, komme der Mensch, so Benjamin, »zum ersten Mal […] in die Lage zwar mit seiner gesamten lebendigen Person, aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen«.24 Der Verfall der Aura beruhe wesentlich auf der gesteigerten Tendenz des modernen Menschen, »die Dinge sich räumlich und menschlich näher zu bringen«, ihnen mit den Möglichkeiten der technischen Medien 20. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 15. 21. Vgl. Walter Benjamin: Über Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972. 22. Walter Benjamin: Charles Baudelaire, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 142f. 23. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 15. 24. Ebd., S. 25. Vgl. auch Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner: »Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen«, in: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 166-188.
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»aus nächster Nähe im Bild […] habhaft zu werden«.25 Wo die Malerei allein schon aufgrund ihrer Materialität noch »eine natürliche Distanz zum Gegebenen«26 wahre und die frühe Photographie die Aura über den Hauchkreis ovaler Bildausschnitte und einen mittels Retusche erzeugten »schummrigen Ton«27 wieder einfange, da dringen die Kameraleute und Cutter des Films gleich Chirurgen »tief ins Gewebe der Gegebenheit ein«.28 Die Positionierungen und die Bewegungen der Aufzeichnungsapparate, die Kadrierungen und die Großaufnahmen, vor allem aber der Schnitt und die Montage – sie isolieren und verknüpfen, verlangsamen und beschleunigen ausgewählte Haltungen und Bewegungsmomente. So fi xieren, vergrößern und betonen sie die ansonsten flüchtigen und versteckten Details der Physiognomie, des Verhaltens und des Outfits einer Person und unterwerfen sie, so Benjamin, »optischen Tests«.29 Der Film nimmt also beurteilend Stellung zu den freiwilligen und unfreiwilligen Momenten im Körperausdruck eines Menschen und bringt dem medialen Publikum »völlig neue Strukturbildungen zum Vorschein«.30 Gleichwohl, an keiner Stelle spricht Benjamin vom definitiven Verlust der Aura, sondern betont vielmehr den tendenziellen und prozessualen Charakter des Phänomens. Einige Benjamin-Interpreten messen diesem Vorbehalt in der Verfallsthese weniger Bedeutung bei;31 er führt aber hin zu einem dritten Aspekt. 3. Bekanntermaßen diskutiert Benjamin den Aura-Begriff im Kunstwerkaufsatz im Kontext des Politischen. Er führt ihn ein als Gegenbegriff zu den von den deutschen Faschisten zum Zwecke der Ästhetisierung des politischen Lebens verwendeten Termini wie »Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis«.32 Zwar beziehe sich der AuraBegriff auf dieselben Inhalte, er sei jedoch für die Zwecke der Faschisten gänzlich unbrauchbar und solle dem von Benjamin angestrebten, am Vorbild des sowjetischen Films orientierten ästhetischen Gegenpro-
25. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 15. 26. Ebd., S. 32. 27. W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, S. 56. 28. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 32. 29. Ebd., S. 24. 30. Ebd., S. 36. 31. Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 32. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 9 (Hervorhebung J.R.).
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gramms einer »Politisierung der Kunst« dienen.33 Diesseits der Begriffe und Visionen aber erkennt Benjamin die reale Gefahr, dass die »Vergewaltigung der Massen« durch die Nazis einhergehe insbesondere mit der Vereinnahmung und des Missbrauchs des Films zur Ästhetisierung der Politik – in Benjamins Worten: »die Vergewaltigung einer Apparatur, die er [der deutsche Faschismus, J.R.] der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht«.34
3. Fallbeispiel I : Die Versprechung der Einheit – Adolf Hitler in Triumph des Willens 35 1934 drehte Leni Riefenstahl ihren berühmt-berüchtigten Propagandafi lm über den Nürnberger Parteitag der Nationalsozialisten.36 Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1935, kam Triumph des Willens im Berliner Ufa-Palast zur Urauff ührung. Noch im selben Jahr erhielt er – was kaum verwundert – den Deutschen Filmpreis und wurde auf der Biennale in Venedig als bester ausländischer Dokumentarfi lm ausgezeichnet. Dass die Weltaus33. Ebd., S. 44. 34. Ebd., S. 42. 35. Die Vorgehensweise der Dateninterpretation beruht methodologisch auf der wissenssoziologischen Hermeneutik und methodisch auf dem Verfahren der Sequenzanalyse. Vgl. hierzu Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung, Konstanz: UVK 2004; Jürgen Raab/Dirk Tänzler: »Video Hermeneutics«, in: Hubert Knoblauch/Bernt Schnettler/Jürgen Raab/ Hans-Georg Soeffner (Hg.), Video Analysis. Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 2006, S. 85-97; Jürgen Raab: Visuelle Wissenssoziologie. Theoretische Konzeption und materiale Analysen, UVK: Konstanz 2008. Für die folgende Analyse vgl. auch Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner: »Politik im Film. Über die Präsentation der Macht und die Macht der Präsentation«, in: Markus Schroer (Hg.), Gesellschaft im Film, Konstanz: UVK 2008, S. 171-197. 36. Für frühere Analysen dieses Filmes vgl. Martin Loiperdinger: Rituale der Mobilmachung. Der Parteitagsfilm Triumph des Willens von Leni Riefenstahl, Opladen: Leske + Budrich 1987; Hans-Dieter König: »Hitler als charismatischer Massenführer. Tiefenhermeneutische Fallrekonstruktion zweier Sequenzen aus dem Film Triumph des Willens und ihre sozialisationstheoretische Bedeutung«, in: Zeitschrift für politische Psychologie 4 (1996), S. 7-42; Harro Segeberg: »Hitler und Riefenstahl. Anmerkungen zu Leni Riefenstahls Triumph des Willens«, in: Knut Hickethier (Hg.), Schauspielen und Montage. Schauspielkunst im Film, St. Augustin: Gardez 1999, S. 31-45.
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stellung in Paris den Film 1937 außerdem mit der Goldmedaille prämierte, mag von weiterreichender Bedeutung sein, denn bekanntermaßen verfasste und überarbeitete Walter Benjamin seinen Kunstwerkaufsatz zwischen 1935 und 1939 im Pariser Exil. Ob er Triumph des Willens je gesehen hat, ist – soweit ich rekonstruieren konnte – nicht verbürgt; nur schwer ist jedoch vorzustellen, dass er nicht zumindest um ihn wusste. Haben Kinozuschauer generell das Gefühl, sie werden in den Eigenraum der vom Medium vorgeführten Bilderwelten hineingezogen, so verstärkt die Eröff nungssequenz von Triumph des Willens durch eine Vielzahl ineinandergreifender Inszenierungsverfahren diesen Eindruck. Behutsam, aber bestimmt beginnt die Sogwirkung mit der Abfolge von fünf Texttafeln, die in heller, mit dem diff us-dunklen Hintergrund stark kontrastierender Frakturschrift einen Fließtext präsentieren.37 Dabei nutzt die Schrift auf den drei mittleren Tafeln nicht nur den gesamten Bildraum, sie weist auch dieselbe Bildeinteilung und darüber hinaus eine hohe inhaltliche Kohärenz auf (vgl. Abbildung 1): Auf die Angabe einer Zeitspanne (»20 Jahre«, »19 Monate«, »16 Jahre«) folgt der Hinweis auf eine Ursprungssituation (»Ausbruch«, »Beginn«, »Anfang«) und schließlich die Nennung eines die politische Einheit als Ganze berührenden Sachverhaltes (»Weltkrieg«, »Wiedergeburt«, »Leiden«). Den im erklärenden Einschub so mehrfach angezeigten, ästhetischen Drei-Zeilen-Fall vervollständigt die Spannungssteigerung des Countdowns, wobei der Dramaturgie offenbar eine übergeordnete Bedeutung zukommt, denn ihr zuliebe wird mit der ansonsten vollends geschlossenen Ästhetik gebrochen (»Jahre«, »Monate«, »Jahre«). Unweigerlich drängen die abfallenden Zahlenwerte zur Auflösung, die mit der vierten und letzten Texttafel – gleichsam den ersten Höhepunkt des Films markierend – denn auch eingelöst wird. So führt die Reihung der Zeitdaten, Ereignisse und Situationen den Zuschauer Bild für Bild und Schritt für Schritt an das Hier und Jetzt eines mit der ersten Texttafel bereits angezeigten, neuerlichen Anfangs heran. Der bruchlose Übergang von der letzten Tafel zum ersten Realbild (vgl. Abbildung 2) legt dem Zuschauer sogleich nahe, ja veranlasst ihn und drängt ihm mittels der als weiche Überblendung realisierten Verknüpfung von Text (»flog«, »Schau«, »über«) und Bild sogar geradezu auf, den noch gar nicht sichtbaren Hitler mitzuvergegenwärtigen.38 Noch mehr: 37. 1. »Am 5. September 1934«; 2. »20 Jahre nach dem Ausbruch des Weltkrieges«; 3. »19 Monate nach dem Beginn der deutschen Wiedergeburt«; 4. »16 Jahre nach dem Anfang des deutschen Leidens«; 5. »flog Adolf Hitler wiederum nach Nürnberg [sic!] um Heerschau abzuhalten über seinen Getreuen«. 38. An den Übergängen zwischen den einleitenden Texttafeln löst sich die
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Die zum Einsatz kommende subjektive Kamera steigert diesen Effekt, indem sie den Zuschauer in das vom Text angedeutete und nun in Teilansicht präsente Flugzeug platziert. Durch die Verschmelzung des Zuschauerblicks mit demjenigen einer anderen Person unterwirft die Dramaturgie den Zuschauer ihrer unbedingten Führung; ein Eindruck, den das bereits in Bewegung befindliche und sich fortdauernd mittels Schwenks und Neigungen weiterbewegende Kameraauge noch unterstützt. Doch auf die kaum mehr zu überbietende Überantwortung und Einbindung folgt die schrittweise Entgrenzung bis hin zur fi lmisch gleichfalls kaum mehr zu steigernden Enthebung des Betrachters von jeglichen ihm auferlegten Beschränkungen und Bindungen in einem ›entrahmten‹, ihn schließlich vollends in der neu geschaffenen Wirklichkeit aufgehen lassenden Panoramablick (vgl. Abbildung 3). Abbildungen 1-3: Filmstills aus Triumph des Willens (Leni Riefenstahl, 1935)
Zur Erweckung des Anscheins gänzlich entfesselten Sehens hat sich die subjektive Kamera übergangslos und somit kaum merklich in eine idealisierende Kamera gewandelt, die deshalb ›ideal‹ ist, weil sie mit – vom außermedialen Alltagssehen nicht einholbaren – außeralltäglichen Perspektiven und Ansichten zu faszinieren vermag. Allerdings, die Person, mit deren Augen der Zuschauer sah und die ihn zu dieser außeralltäglichen Wirklichkeitserfahrung verführte, ist bislang allein als Vorstellung gegenwärtig. Erst die im weiteren Verlauf der Eingangssequenz, mit Hitlers Einzug in Nürnberg Schrift zu einer wie auf den Zuschauer zukommenden, ihn gleichsam einhüllenden Nebelwolke auf, die sich dann wieder ›zurückzieht‹ und aus der heraus sich die Schrift erneut konkretisiert. Demgegenüber wird die Schrift in der Überblendung vom letzten Schrift- zum ersten Realbild zusehends unscharf und gibt den Platz an die alternierend an Schärfe gewinnende Ansicht frei. Die nachfolgenden Einstellungen der Eingangssequenz sind dann durchgängig mit geringer Brennweite und in hoher Tiefenschärfe gefilmt, wodurch sich der Eindruck gänzlich transparenter Ansichten einstellt.
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wiederholt einsetzenden Wechsel zwischen subjektiven und idealisierenden Kameraperspektiven geben sich zusehends erhärtende Hinweise nicht nur auf die Identität dieser Person, sondern auch und vor allem auf den von Triumph des Willens transportierten Sinnzusammenhang. In den knapp fünf Minuten vom Beginn der Fahrt bis zum die Eingangssequenz beschließenden Erscheinen Hitlers an einem Hotelfenster ist die Typik der Kameraarbeit von Triumph des Willens bereits vollständig realisiert. Sie konstituiert sich aus drei in Variationen durchgespielten Kameraperspektiven: einer den Blick Hitlers repräsentierenden subjektiven Kamera, einer den Blick aus dem Volk vorgebenden, gleichfalls subjektiven Kamera sowie – dominierend – die in ihrer spezifischen Typik bereits angesprochene idealisierte Kamera.39 Die besondere Bedeutung der idealisierten Kamera kommt nicht nur in deren quantitativem Vorrang gegenüber den beiden anderen Kameraperspektiven zum Ausdruck, sondern vor allem in ihrer bereits in der ›Flugsequenz‹ schon angezeigten und nun extensiv eingesetzten ästhetischen Doppelbefähigung: einerseits dem Zuschauer vom Normalsehen abgehobene Vorzugsansichten zu bieten und ihm dabei andererseits, zugleich und vor allem eine Art Rätselspiel zu eröffnen, indem sie fortwährend begrenzte Mehrdeutigkeiten eröffnet und damit immer wieder einer Deutung überantwortet, welche der drei Kameraperspektiven augenblicklich aktuell ist, mit wessen Augen der Betrachter also gerade sieht. Entscheidend aber ist: Das Dreigestirn der Perspektiven umreißt und strukturiert bildlich jenen Sinnbereich, in dem sich die Wahrnehmungen und Deutungen insbesondere derjenigen Zuschauer bewegen, auf deren kollektiven Wissenshaushalt die Inhalte der eingangs des Films dargebotenen Texttafeln rekurrieren. So wie der Schrifttext das Grundproblem der politischen Einheit als historisch-zeitlichen Symbol- und Sinnzusammenhang konstruiert oder aktualisiert, so präsentiert die Übersetzung der die Einheit tragenden und bestimmenden Grundidee in bewegte Bilder eine ebenso ge39. Allein aus Platzgründen vernachlässige ich an dieser Stelle nicht nur die auditive Inszenierungsebene, sondern verzichte auf die notwendige Ausdeutung der die Haltungen, Bewegungen und Blicke gezeigter Personen aufeinander abstimmenden Schnitt- und Montagetechnik, ebenso wie auf das von Riefenstahl verstärkt eingesetzte visuelle Gestaltungsmoment der Tiefenschärfe. Zu letzterer vgl. auch Ehrenspeck/Hackenberg, deren Deutung sich durchaus mit der hier vorgelegten Interpretation verträgt. Yvonne Ehrenspeck/Achim Hackenberg: »Zum performativen Charakter von Filmen. Das Beispiel des Geschichtsdramas ›Hitlers Frauen – Leni Riefenstahl‹«, in Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Ikonologie des Performativen, München: Wilhelm Fink 2005, S. 232245.
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schlossene, abgerundete und in sich kreisende Sinnfigur. Vor, hinter und neben dem symbolisch repräsentierten Relevanzsystem gibt es nichts (mehr) zu erfahren, denn es weist weder offene Stellen oder Widersprüche auf, noch lässt es Übertritte oder gar ein Ausscheren des Filmrezipienten zu. Hierfür sorgt neben der von Riefenstahl strukturell vermiedenen Selbstreferentialität des Mediums das alle präsentierten Ansichten erzeugende und verbindende, ergänzende und bestätigende ›Dreieck‹ der Kameraperspektiven. Fordert es doch unmittelbar dazu auf, die jeweils nicht dargestellten, aber vorausgegangenen, vorausgesetzten oder assoziierbaren Kontexte zu ›appräsentieren‹, auf die sich das medial konstruierte Kontinuum stützt. In der ›Retention‹, dem Wiedererkennen und Miterinnern vorheriger Perspektiven, Einstellungen und Bildfolgen, vollziehen sich die appräsentierenden, also mitvergegenwärtigenden Akte ebenso wie in der ›Protention‹, den Vorentwürfen auf das Erwartete oder Erwartbare. 40 Dabei besetzt, bindet und lenkt die außerordentliche Geschlossenheit der inneren Verweisstruktur auch die Potenziale der den Wahrnehmungsakt stets begleitenden primordialen Retentionen und Protentionen. So wirkt sie bis in das Vorbegriffl iche der Anschauung hinein, um – durch Wiederholungen, Rückkopplungen und Zitationsschleifen noch verstärkt – die individuellen Erfahrungen zu koordinieren und zu kollektivieren. Begreift man, wie Gehlen in Anschluss an Edmund Husserl und George H. Mead, Appräsentationen als die primären, Intersubjektivität stiftenden und Sozialität konstituierenden Erfahrungen, 41 so generiert und festigt die fi lmische Präsentation, was man eine Appräsentationsgemeinschaft nennen kann. Denn die Durchdringung und Auff üllung, Korrektur und Vervollständigung der aktuellen Sinneseindrücke mit abgelagerten Erinnerungen und vorausgreifenden Entwürfen bildet die Grundlage jener Sinnzuschreibungen, die den Glauben an die Geltung der außergewöhnlichen Botschaft – allgemein: die Faszination und das Charisma einer sozialen Wirklichkeitskonstruktion – erzeugen können. 40. »Das gehört zum Wesen der Wahrnehmung, dass sie nicht nur ein punktuelles Jetzt im Blick hat und nicht nur ein Ebengewesen aus dem Blick entlässt und in der eigentümlichen Weise des ›eben gewesen‹ doch ›noch bewusst‹ hat, sondern, dass sie von Jetzt zu Jetzt übergeht und ihm vorblickend entgegengeht«, Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 458. Vgl. hierzu auch Alfred Schütz: »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft«, in ders., Theorie der Lebenswelt 2. Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt, Konstanz: UVK 2003 (1964), S. 119197. 41. Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt, Wiebelsheim: Aula-Verlag 2000, S. 319ff.
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So vermag das für den Filmbetrachter in eine sinnlich erfahrbare Symbol- und Bildwelt übersetzte, transzendente Kosmion die Gemeinschaft zusammenzuführen, sie auf ihre Kernvorstellungen einzuschleifen und ihr die für sie favorisierte soziale Ordnung in überhöhter Idealgestalt als vollends transparente, klar gegliederte und festgefügte Figuration aus Führer und Gefolgschaft vor Augen zu führen. Pointiert gesagt: Die Analyse zeigt, wie Riefenstahl den Glauben der Gefolgschaft an das Charisma des politischen Führers fi lmisch präsentiert, indem sie eine Appräsentationsgemeinschaft erzeugt.
4. Fallbeispiel II : Das Faszinosum des Fragmentar ischen – Fidel Castro in Comandante Der Vergleichsfall wurde nach dem methodischen Prinzip der maximalen Kontrastierung gewählt. 42 Die vergleichende Analyse zu diesem Material erscheint deshalb besonders reizvoll, weil fast genau 70 Jahre zwischen Triumph des Willens und Comandante liegen, und diese Filme – soweit mir bekannt – den frühesten und einen letzten Vertreter dieser Gattung medialer Politikdarstellung repräsentieren, die man als ›Quasi-Politdokumentation‹ bezeichnen kann. Hinzu kommt, dass sowohl Leni Riefenstahl wie auch Oliver Stone aus dem Action- und Monumentalfilm-Kino stammen und beide Regisseure mit ihren ers ten Versuchen der ›Quasi-Politdokumentation‹ scheitern: Riefenstahl mit Sieg des Glaubens, den sie aufgrund ästhetischer Defizite zeitlebens am liebsten vergessen haben wollte, und Stone mit Persona non grata. Diesem Film über Yassir Arafat mangelt es nicht zuletzt daran, dass dem Regisseur kein Vordringen zum innersten Kreis der Palästinenserführung und dementsprechend kein Interview mit Arafat möglich war. Der zur Analyse bestimmten knapp vierminütigen Sequenz, die wiederum exemplarisch für die Machart der Produktion steht, liegt eine den Film eröff nende, etwa drei Minuten in Anspruch nehmende Bildfolge voraus. Von typisch kubanischen Rhythmen begleitet, präsentiert sie eine Mischung aus historischen Aufnahmen der Revolutionszeit und aktuellen, touristischen Ansichten vom Alltag auf den Straßen Havannas. Fidel Castro selbst ist dabei in kurzen, in Schwarz-Weiß oder vergilbter Farbe gehaltenen Einstellungen eher zu erahnen denn zu sehen. Dann markiert die einzige Schwarzblende des gesamten Films den Beginn der 42. Vgl. Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern, Göttingen: Haupt 1998.
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eigentlichen Handlung. So vorbereitet, taucht Castros Gesicht plötzlich, wie aus der Ferne und aus dem Nichts, in einer Großaufnahme auf; und da er mit der ihn aufzeichnenden Kamera kokettiert, blickt und spricht er den Zuschauer vermeintlich aus nächster Nähe an, so dass sich dieser der im Sinne Gumbrechts ephemeren Erscheinung 43 – zumal im Kino44 – kaum zu entziehen vermag (vgl. Abbildung 4). Doch sofort zieht sich Castro wieder zurück, denn die Kamera schwenkt und verreißt das Bild, nur um sogleich eine zweite Kamera, in deren kleinem Monitor und Linse sich Castro spiegelt, ins Bild zu nehmen (vgl. Abbildung 5). Das gleiche Muster – Plötzlichkeit des Erscheinens mit sofortigem Zurückweichen bei gleichzeitiger medialer Brechung – verwendet auch eine zweite Bildfolge. Völlig unvermittelt wird sie mit einer Detailaufnahme von Castros Gesicht eröff net, bei der die Kamera dem Auge des Diktators so nahe rückt, dass man mit Benjamin – siehe oben – sagen möchte, sie wolle tief ins Gewebe der materialen, personalen Gegebenheit eindringen (vgl. Abbildung 6). Das Zuschauerauge hat sich noch nicht eingestellt – was das selbst Ziel und Schärfe suchende Kameraauge noch erschwert –, da springt die Kamera schon zurück, bevor sie mit sichtbarer, das Bild verzerrender Zoombewegung den medialen Standardabstand herstellt – nur, um dieses Spiel aus Nähe und Distanz in der sich anschließenden Bildfolge sogleich von neuem zu beginnen. 43. Epiphanie umfasst für Gumbrecht drei Merkmale, »die die Art und Weise prägen, in der sich uns das Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Sinn präsentiert: erstens der Eindruck, dass das Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Sinn, sobald es eintritt, aus dem Nichts kommt; zweitens der Umstand, dass sich das Eintreten dieses Spannungsverhältnisses räumlich artikuliert, drittens, die Möglichkeit, die Zeitlichkeit dieses Verhältnisses als ›Ereignis‹ zu beschreiben«, H.U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 131f. 44. Stones Auftraggeber, der amerikanische Fernsehsender HBO, weigerte sich, den Film zu senden. Das von Castro gezeichnete Bild erschien zu positiv. Außerdem wurden zwei Monate, bevor Comandante im Mai 2003 ausgestrahlt werden sollte, nicht nur 75 kubanische Dissidenten festgenommen und zu teilweise 25-jährigen Gefängnisstrafen verurteilt, sondern auch drei Männer, die ein Fährschiff entführt hatten, nach einem Blitzverfahren hingerichtet. HBO schlug Stone vor, Castro in erneuten Interviews mit den Ereignissen zu konfrontieren und Gespräche mit politischen Dissidenten zu führen. Die daraus entstandene und schließlich auch gesendete Fernsehproduktion mit dem bezeichnenden Titel Looking for Fidel ist ein Zusammenschnitt aus Comandante und dem neu gedrehten Material. In den USA war Comandante lediglich auf dem Filmfestival von Sundance zu sehen, kam aber 2005 bundesweit in die deutschen Kinos.
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Abbildungen 4-6: Filmstills aus Comandante (Oliver Stone, 2003)
Dieser Typik der Kameraarbeit stellt Stone eine ebenso spezifische Typik von Schnitt und Montage zur Seite. In die Interviewsequenzen sind kurze Ausschnitte eingefügt, die Abwesendes zur Ansicht bringen und Vergangenes vergegenwärtigen und damit im Sinne Gumbrechts präsentifi katorisch wirken. Wenn sich Castro über die Kraft des gesprochenen Wortes auslässt und ihn eine kurze historische Aufnahme beim Reden zeigt, dann illustrieren, unterstützen und bestätigen die hinzumontierten Bildinhalte die Äußerungen des Interviewten. Allerdings können die Sinnverknüpfungen zwischen Wort und Bild auch brüchig werden und sogar so weit auseinandergehen, dass die Grenzen des Präsentifi katorischen berührt sind, wie beispielsweise in jener Szene, in der Castro von seinem Schreibstil berichtet und für zwei kurze Augenblicke eine Büste Abraham Lincolns auf blitzt (vgl. Abbildung 9). Das Wechselspiel aus Kohärenz und Inkohärenz setzt sich fort, wenn Castro von seinen früheren sportlichen Aktivitäten berichtet und die historische Schwarz-Weiß-Aufnahme eines Radrennfahrers ins Bild gerät, dessen Identität aufgrund des vom oberen Bildrand abgeschnittenen Kopfes aber im Ungewissen bleibt; oder wenn Castro die Motive für seine Barttracht offenbart und eine kubanische Straßenszene mit dem Stand eines Feuerzeugbefüllers dazwischenmontiert ist. Im Sinne Gumbrechts deiktisch wirken schließlich jene Bildfolgen, in denen die angesprochenen Typiken der Kameraarbeit, des Schnitts und der Montage ineinandergreifen und den Zuschauer über die so erreichte, vielfache mediale Brechung mit einem entsprechend erhöhten Maß an Komplexität konfrontieren. Deixis meint eine Dramaturgie des Zeigens, die weder Sinnbezüge vorgibt noch fi nale Sinnschlüsse vorstellt, sondern die allein über Andeutungen, die Sinnzuschreibungen nahelegen, dann aber auch wieder konterkarieren und ins Offene lenken, den Rezipienten in einen Schwebezustand zwischen Verlust und Wiedergewinnung von Kontrolle und Orientierung versetzen. Die entsprechenden Bildfolgen finden sich am Ende der untersuchten Sequenz und präsentieren Castro bei sportiven Gehübungen in seinen Büroräumen. Zuerst sind in die wandernden Schritte historische Aufnahmen eines – so lässt sich nur ver186
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muten – über seinen Acker laufenden Bauern in perfekter Passung eingefügt (vgl. Abbildung 7). In direktem Anschluss sehen wir erneut die Schuhe Castros, nun aber in einer Detailaufnahme, die inhaltlich und formal – man beachte die schwarz-weiß gehaltene Einstellung – an die vorausliegende Bildfolge anschließt (vgl. Abbildung 8). Zugleich bricht die Einstellung jedoch ironisch mit dem bisher Gesehenen und auch mit dem Image Castros, denn deutlich gibt sie den so genannten »Nike-Swoosh« zu erkennen, eines der bekanntesten Symbole des US-amerikanischen Wirtschaftsimperialismus. Unmittelbar darauf marschieren Soldaten: zunächst noch unbewaff net und über einen Acker auf den Zuschauer zu, schließlich vom Betrachter weg, mit geschultertem Gewehr in städtisch anmutender Umgebung. Abbildungen 7-8: Filmstills aus Comandante (Oliver Stone, 2003)
Gegenüber Triumph des Willens ist es Comandante augenscheinlich nicht daran gelegen, das Image des Politikers und die von ihm repräsentierte Wirklichkeit als bereits einheitlich ausgestaltete und nahtlos geschlossene zu präsentieren, um über die so bewirkte charismatische Aura eine gleichermaßen einheitliche und geschlossene, so dann auch zur Selbstcharismatisierung fähige Gefolgschaft herzustellen. Vielmehr scheint das handlungsleitende Motiv umgekehrt genau darin zu bestehen, das seit fast einem halben Jahrhundert scharf geschnittene und festgefügte Image Castros zumindest in Teilen ungewiss zu machen und ihm eine amorphe, verwischte Kontur zu verleihen, was einer hohen kommunikativen Investition sowohl des Rezipienten wie auch des Mediums bedarf. Dazu trägt entscheidend der dauerhafte Einsatz von mindestens fünf Videokameras bei, die ohne Unterlass, in scheinbar unkontrollierter Bewegung und ohne rationalen Plan aufzeichnen. Gerahmt ist diese Praxis von einer fast schon penetranten Selbstreferentialität: In der Orientierung auf das Abzubildende neigt sich das Medium auf sich selbst und auf den Modus der Abbildungs- und Inszenierungsarbeit zurück, was so weit geht, dass 187
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nicht nur Kameras, Kameraleute und Techniker, sondern auch der Regieanweisungen gebende und interviewende Stone selbst immer wieder im Bild erscheinen. In der medialen Nachbearbeitung schließlich zerteilt der Schnitt die so entstandenen Aufnahmen, bevor sie die – um historisches Archivmaterial angereicherte – Montage teils mit, teils ohne erkennbare Sinnstruktur zu einem bunten Form- und Farbenspiel vernäht (vgl. Abbildung 10). 45 Abbildungen 9-10: Filmstills aus Comandante (Oliver Stone, 2003)
Die so bewirkte ›Defiguration‹ des Castro-Images zu kaleidoskopisch wechselnden Wahrnehmungssplittern bringt das gestalthafte Zentrum denn auch zum Vibrieren und erzeugt an dessen Rändern tatsächlich »ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit«. 46 Metaphorisch weiter gesprochen: Die medial als Reizfläche eigenen Rechts konstruierte Wirklichkeit wirft Falten und öffnet sich, sie wird gewissermaßen leer und fern. Aber die Fragmentierung lässt den gestalthaften Kern nicht auseinanderfallen. Im Gegenteil, indem sie dem Zuschauer Freiräume zur appräsentativen Auffüllung geradezu aufnötigt, drängt sie umso mehr auf Sinn- und Gestaltschließung. Allerdings wird diese dem einzelnen Rezipienten auferlegt.
45. Abbildung 10, die eine selbst wie ein Standbild wirkende, zweisekün-
dige Bildfolge eröffnet, spiegelt die Interpretation in hochgradig verdichteter Form wider: Wie eine Art Selbstbildbeschreibung der Akteure repräsentiert sie Comandante idealtypisch. Zur visuellen Verdichtung und der Bild-durch-Bild Interpretation als methodischer Verfahrensweise der visuellen Soziologie vgl. Hans-Georg Soeffner: »Visual Sociology on the Basis of ›Visual Concentration‹«, in: H. Knoblauch/B. Schnettler/J. Raab/H.-G. Soeffner (Hg.), Video Analysis, S. 205-217. 46. W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, S. 57.
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Anders als bei Triumph des Willens kann beim Publikum von Comandante also kaum mehr von einer Appräsentationsgemeinschaft gesprochen werden. Zwar verstärken die rasante Beschleunigung und Vervielfältigung der Appräsentationsleistungen sowie die damit einhergehenden, labyrinthartigen Umlenkungen, Verzögerungen und Blockierungen der Sinnkonstitutionen den Antrieb zur Konstruktion einer geschlossenen Gestalt. Doch die rätselhaften und sich fortlaufend weiter verrätselnden Bildfolgen individualisieren die Erfahrung. Denn sie überantworten das Widersprüchliche und Undurchdringliche der subjektiven Auseinandersetzung und Aneignung, werfen so den Rezipienten auf sich selbst zurück und überlassen ihn den eigenen Reflexionen. Die sich möglicherweise einstellende Faszination resultiert daher nicht mehr wie bei Riefenstahl aus dem Sich-Einfinden, Versinken und Aufgehen in einer durch die mediale Kommunikation bereits in den ersten Bildern vollständig entwickelten und in der Folge mit gemäßigter Variation nur noch wiederholten, also hermetisch geschlossenen Repräsentation einer transzendenten Ordnung. Vielmehr entfaltet sich der Geheimnisschleier der Auratisierung und nährt sich das gegebenenfalls zugeschriebene Charisma aus einem über die Kommunikation hinausreichenden, weil fortgesetzt teil-offenen und teil-gesicherten Prozess der Sinnkonstitution. Denn die in Comandante sich gegenseitig umrandenden, stets nur halb bestätigenden Erfahrungen und mithin die fortdauernd als vorendgültig und zu bearbeitend erscheinende Wirklichkeit bergen das Faszinosum immer wieder neuer, kaum vorhersehbarer und – ›en état de surprise‹ – blitzartig sich einstellender Sinnschlüsse. 47 Die in Oliver Stones Film angezeigte soziale Figuration ist denn auch keine durch Transparenz und innere Schließung geprägte Bindung zwischen dem Politiker und seiner potenziell handlungsbereiten Gefolgschaft; sie gleicht eher jener von zu Kunstwerken stilisierten Medienstars, die unter den Bedingungen sich vervielfältigender Angebote, Konkurrenzen und Optionen bei einem ebenso anonymen wie heterogenen Konsumentenpublikum um die soziale Akzeptanz ihrer Images ringen. Im Unterschied zu Künstlern und Stars, die sich im Reich des Symbolischen verwirklichen, nutzen Politiker die Möglichkeiten symbolischer Ordnungen zur Durchsetzung ihrer Politik – den einen geht es um die Ästhetik, den anderen um die Pragmatik des Symbolischen. Wenn jedoch die hier vor47. Zur damit angesprochenen Problematik des ›abduktiven Schließens‹ vgl. Hans-Georg Soeffner: »Zur Soziologie des Symbols und des Rituals«, in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist: Velbrück 2000, S. 180-208 sowie Jo Reichertz: Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, Opladen: Leske + Budrich 2003.
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gestellten Fallbeispiele die Zentren politischer Macht in deren Selbstentfaltung ›dokumentieren‹, berühren sich die Intentionen und überkreuzt sich auf sinnfällige Weise die Präsentation der Macht mit der Macht der Präsentation.
5. Die intermediale Inszenierung f igurativer Politik – Schlussbemerkung und Ausblick Die materialen Analysen weisen darauf hin, dass Präsenz nichts Wesenhaftes und Essentielles ist, sondern in sozialen Prozessen theatraler Präsentationen und der Deutungen solcher Präsentationen sowie den daraus hervorgehenden Bedeutungszuschreibungen entsteht. Erst diese sozialen Prozesse machen ein Objekt, dessen Bedeutung keine in ihm versteckte Größe ist, zu einem Objekt der Erkenntnis und des Begehrens. Präsenz meint dann, wie Jean-Luc Nancy formuliert, »nichts anderes als dieses Entstehen, dieses ›Gebürtige‹, das keine Bedeutung ist, sondern das ZurWelt-Kommen einer Welt«. 48 Die hier vorgeschlagene begriffliche Unterscheidung von Präsenz und Präsentation zielt somit auf die Hervorhebung des Prozesshaften in dem von Helmut Plessner als Paradox beschriebenen anthropologischen Grundgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit. Darüber hinaus gestattet sie, vergleichbar der von Erving Goffman für Faceto-face-Situationen beschriebenen Interaktionsordnung, einen Zugang zur Analyse jener für theatrale Präsentationen in den technischen Medien entwickelten und sich entwickelnden symbolischen Kommunikationsformen. In solchen Analysen betont der hier vorgeschlagene Präsenz-Begriff diejenige Stelle, von der das soziale Handeln seinen Ausgang nimmt und auf die sich die Präsenz- und Sinneffekte in den Deutungen der sozialen anderen beziehen. 49 Die Erforschung der zunehmend medial-technischen Übersetzungsarbeiten zur kommunikativen Vermittlung des Präsentischen lässt Rückschlüsse darauf zu, wie individuelle Wahrnehmungen gesellschaftlich 48. Jean-Luc Nancy: »Entstehung zur Präsenz«, in: Christiaan L. Hart Nib-
brig (Hg.), Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 102-106, hier S. 106. 49. Vgl. Jürgen Raab: »Präsenz und mediale Präsentation. Zum Verhältnis von Körper und technischen Medien aus Perspektive der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie«, in: Jürgen Raab/Michaela Pfadenhauer/Peter Stegmeier/Jochen Dreher/Bernt Schnettler (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: VS-Verlag 2008, S. 233-242.
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kommuniziert und vor allem wie sie gesellschaftlich koordiniert werden. Die hierfür notwendigen Untersuchungen symbolischer Kommunikationsformen, ritueller Ordnungen und emblematischer Ausflaggungen vermögen – gerade in Hinsicht auf ihre je spezifischen, für intermediale Inszenierungen konstitutiven Verweisstrukturen und Kombinatoriken – Antworten auf die Grundfragen der Wissenssoziologie zu geben: Wie wird gesellschaftliches Wissen hergestellt, wie wird es tradiert und legitimiert, und welches sind die Prozesse, in denen sich dieses Wissen zu jenen selbstverständlichen Wirklichkeiten verfestigt, an denen Menschen ihr Handeln ausrichten?50 Die von Hans Ulrich Gumbrecht vorgeschlagene Unterscheidung von Präsenzeffekten in der Wahrnehmung einerseits und primordialen Sinnappräsentationen andererseits sowie jene für die Bestimmung deren jeweiliger Konfigurationen formulierten Begriffe können dabei als Heuristik dienen. Allerdings geschieht die konkrete materiale Analyse symbolischer Formen keineswegs diesseits der Hermeneutik. Denn die phänomenologisch begründete, hermeneutische Wissenssoziologie legt es in ihrer Methodologie und Methode darauf an, die Wahrnehmung und die Sinnappräsentationen gerade auch in deren Mehrdeutigkeit zu ihrem Recht kommen zu lassen. Nur so können die Konstitutionsprozesse jedes ›objektiven‹ Sinns im Sinne Max Webers deutend verstanden und ursächlich erklärt werden.51 Vor diesem Hintergrund schlage ich denn auch abschließend ein erweitertes Verständnis von »figurativer Politik« vor.52 Vorausgesetzt nämlich, die soziale Anerkennung und Akzeptanz eines jeden Machtstrebens beruht aus anthropologischen Gründen auf dessen Figuration, mithin auf symbolischen Darstellungen einerseits sowie aus den daraus hervorgehenden sozialen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen andererseits, ist davon auszugehen, dass die technischen Medien den Charakter des Symbolischen verändern und die Versinnbildlichung von Politik neue Realitäts- und Bewährungsakzente erhält. Insofern der Begriff »figurative Politik« historisch spezifische Akteurskonstellationen benennt, kann sich deren Untersuchung nicht auf das Verhältnis von Politik und 50. Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer 2004. 51. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1985, S. 1-20 und Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Jörg Strübing/Bernt Schnettler (Hg.), Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte, Konstanz: UVK/UTB 2004, S. 45-100. 52. Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.): Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen: Leske + Budrich 2002.
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Medien und den in dieser Konstellation ausgetragenen Kampf um Inszenierungsdominanz beschränken.53 Vielmehr muss sie – und auch darauf machen die obigen Fallanalysen aufmerksam – die in den medialen Weltdeutungen und Selbstbildpräsentationen stets mit zum Ausdruck kommenden Beziehungsverhältnisse zwischen den politischen Akteuren und deren potenzieller Gefolgschaft oder Wählerschaft mit mindestens gleicher Aufmerksamkeit berücksichtigen. Damit verweist die hier vorgestellte Analyse der audiovisuellen Vermittlungsebene zwischen politischen Ideen und deren sinnlicher Wahrnehmung – zumindest – auf ein weiteres Untersuchungsfeld intermedialer Inszenierungen politischen Handelns. Denn wenn Alfred Schütz im Zuge seiner phänomenologischen Präzisierung des Weber’schen Handlungsbegriffs darauf aufmerksam macht, dass »bei der Kommunikation gebrauchte Zeichen […] vom Kommunizierenden immer im Sinne der zu erwartenden Deutung durch den Adressaten vorgedeutet« werden, und der Kommunizierende deshalb das »Apperzeptions-, Appräsentations- und Verweisungsschema ins Auge fassen [muss], in das der Deutende die Mitteilung einsetzen wird, bevor er Zeichen hervorbringt«,54 dann erscheint es für die Erforschung sozialer Orientierung und sozialen Handelns in sich ausdifferenzierenden Gesellschaften angebracht und lohnend, das Augenmerk auf zielgruppen- und milieuspezifische Wahrnehmungserwartungen und Genussmuster in den Inszenierungsformen fi gurativer Politik zu richten.
Bibliographie Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 7-44. Benjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 4564.
53. Ronald Kurt: »Der Kampf um Inszenierungsdominanz. Gerhard Schröder im ADR-Politmagazin ZAK und Helmut Kohl in Boulevard Bio«, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 565-582. 54. A. Schütz: »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft«, S. 159.
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Präsenz und Präsentation
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Die lateinamer ikanische Telenovela als intermediale Gattungspassage Joachim Michael
Wege zum Glück Vom 01. November 2004 bis zum 24. Februar 2009 zeigte das Zweite Deutsche Fernsehen seinen Zuschauern Wege zum Glück. Diese Wege scheinen verworren gewesen zu sein. Bianca, Julia, Nina und Luisa brauchten jeweils über 200 Kapitel, um das Glück zu finden. Nora hingegen fand eine Abkürzung und war schon nach knapp 80 Kapiteln am Ziel. Bianca suchte ihr Glück noch in einer eigenen Sendung 1 – Julia, Nina, Luisa und Nora standen dazu nur unterschiedliche Staffeln einer fast viereinhalb Jahre langen Serie zur Verfügung.2 Seitdem folgt Alisa ihrem Herzen. Wie der Sender es im Augenblick noch will, wird es davon 240 Folgen geben.3 Die jungen, meist blonden Damen sind montags bis freitags jeden Tag 45 Minuten auf der Suche.
1. Der Sender hat seine Informationen zu Bianca – Wege zum Glück mittlerweile aus dem Netz genommen. Aber siehe die Fanseite zur »Ersten deutschen Telenovela«, www.bianca-wzg-fanpage.de/ und den Blog http://bwzg.blogg.de/ (beides vom 10. Juni 2009). 2. Zu Wege zum Glück siehe http://wegezumglueck.zdf.de/ZDFde/inhalt/ 1/0,1872,2362177,00.html?dr=1 (10. Juni 2009). 3. Es handelt sich um Alisa im Glück. Siehe den Internetauftritt der Serie: http://alisa.zdf.de/ZDFde/inhalt/7/0,1872,7503335,00.html?dr=1 (10. Juni 2009).
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Joachim Michael
Archäologie der Telenovela Die deutschen Telenovelas sind nicht der Gegenstand dieser Studie. Nur eines sei angemerkt: Die Telenovela ist kein Genre mehr, das nur das Fernsehen von lateinamerikanischen Schwellenländern prägt. Dies bedeutet nicht zwingend die Lateinamerikanisierung des deutschsprachigen Fernsehens. 4 Dies bedeutet vielmehr, dass die deutschsprachigen Telenovelas nicht identisch sind mit den lateinamerikanischen. Dass sich deutschsprachige Telenovelas deutlich von lateinamerikanischen unterscheiden, das ist allerdings bereits ein sehr typisches Merkmal der Telenovela. Eine Serie wie Verliebt in Berlin ist mehr als ein deutsches Remake des kolumbianischen Originals Yo soy Betty, la fea (Ich bin Betty, die Hässliche). Diese und andere deutschsprachige Telenovelas sind Ergebnis einer interkulturellen Passage, die mehr abwandelt, als dass sie bewahrt.5 Verliebt in Berlin ist ein Beispiel dafür, dass die deutsche Telenovela im Grunde als eine Mischung aus Telenovela und Daily Soap zu verstehen ist. Als Verliebt in Berlin am 28. Februar 2005 auf Sendung ging, waren nur ca. 250 Kapitel geplant. Der Erfolg der Serie veranlasste Sat.1, sie um ein halbes Jahr zu verlängern. Die Quote war bestens, und der Sender entschied sich für eine Verlängerung um ein weiteres Jahr, diesmal aber in Form einer neuen Staffel.6 Am 12. Oktober 2007 war jedoch nach insgesamt 645 Folgen
4. Zur Debatte über den Rückschlag der Peripherie auf das Zentrum bzw.
über die Brasilianisierung der hochentwickelten Industriegesellschaften in Europa und Nordamerika siehe bezüglich der Nomadisierung der Arbeitsverhältnisse Ulrich Beck: Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt, New York: Campus 1999, S. 94-95. Michael Lind beschreibt mit dem Begriff der Brasilianisierung die zunehmende soziale Spaltung in eine schmale weiße Elite und in die ausgeschlossene Bevölkerungsmehrheit. Vgl. Michael Lind: The Next American Nation. The New Nationalism and the Fourth American Revolution, New York: The Free Press 1995, S. 214-215. Franz Josef Rademacher erkennt gar in der weltweit zunehmenden Einkommenskonzentration eine »Brasilianisierung der Welt«. Vgl. Franz Josef Rademacher: »›Die Brasilianisierung der Welt‹. Interview mit Fritz Glunk«, in: Die Gazette 10 (2006), www.gazette.de/ Archiv2/Gazette10/Radermacher.html (10. Juni 2009). 5. Zur Telenovela in Deutschland vergleiche Martin Stadelmaier: »Kreativmaschinerie. Telenovelas und ihre billige Produzierbarkeit«, in: epd medien 92 (2005), S. 3-7 und Simone Spanio: Boom der deutschen Telenovelas. Merkmale, Ursachen und Vergleiche, Saarbrücken: VDM Verlag 2007. 6. Vgl. Klaudia Wick: »Leben in der Endlosschleife«, in: Berliner Zeitung vom 01.09.2006, www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/
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endgültig Schluss, nachdem der Marktanteil deutlich eingebrochen war.7 Sehr ähnlich ging auch das ZDF mit der schon erwähnten Telenovela Wege zum Glück um. Auf über vier Jahre streckte der Sender die Serie, wechselte jedoch im Gegensatz zu Verliebt in Berlin in jeder Staffel das Figurenarsenal und das Szenario aus. Diese Tendenzen, die Telenovela (beinahe willkürlich) zu strecken und sie im Nachmittags- und Vorabendprogramm unterzubringen, rücken sie in die Nähe der Soap. Von der endlosen Soap US-amerikanischer Prägung unterscheidet sich die lateinamerikanische Telenovela jedoch kategorial durch ihr Ende in der Regel nach ca. 200 Kapiteln, also nach etwa einem halben Jahr werktäglicher Ausstrahlung. Außerdem ist sie im Gegensatz zur Soap nicht auf ein rein weibliches Zielpublikum ausgerichtet und stellt das wichtigste Prime-time-Format Lateinamerikas dar (einschließlich der spanischsprachigen USA).8 Zudem gibt es vielfältige nationale Varianten, die jedoch mit der Markenidentität des produzierenden Senders verschwimmen. Beispielhaft soll im Folgenden auf die so genannten brasilianischen Telenovelas eingegangen werden, d.h. auf die novelas von Rede Globo. Festzuhalten wäre also, dass sich die brasilianische Telenovela von einer deutschsprachigen dadurch unterscheidet, dass deutsche Wege zum Glück viel zu lang für lateinamerikanische Telenovelas und zu stark auf ein jugendliches Publikum der Nachmittags- und Vorabendschiene zugeschnitten sind. Aber ist das der wesentliche Unterschied? Gibt es nicht auch in Brasilien Nachmittags-Telenovelas? Gibt es nicht auch in der Geschichte der brasilianischen Telenovelas sehr lange Serien? Die Frage, worin sich die Telenovela von anderen Genres unterscheidet, scheint übrigens einen gar nicht so unwichtigen Horizont zu eröffnen. Was macht die Telenovela aus? Worin unterscheidet sich die Telenovela vom Feuilletonroman? Ist sie nur verfi lmter Fortsetzungsroman? Worin unterscheidet sich die Telenovela von der Radionovela? Ist sie schlicht eine bebilderte Radionovela? Ist die Telenovela nur eine weitere Variante der immergleichen Formel, Serialität und Melodrama miteinander zu verkreuzen? Und tatsächlich wird die Telenovela in Brasilien von Spezialisten – also beinahe allen Zuschauerinnen und Zuschauern – als folhetim eletrônico, als elektronischer Feuil2006/0901/medien/0021/index.html (10. Juni 2009). Vgl. auch den offiziellen Webauftritt der Serie: www.sat1.de/vib/ (10. Juni 2009). 7. Siehe die Meldung auf Spiegel online vom 10.06.2007 auf www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/0,1518,487727,00.html (10. Juni 2009). 8. Zu den lateinamerikanischen Telenovelas im spanischsprachigen US-Fernsehen siehe Joachim Michael: »Border-crossings of a Genre. Telenovelas in the USA«, in: Anja Bandau/Marc Priewe (Hg.), Mobile Crossings. Representations of Chicana/o Cultures, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006, S. 33-47.
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letonroman bezeichnet. Über die Gattungsmerkmale der Telenovela wie Melodrama und Serialität (also andere Gattungen) kommt folglich höchstens andeutungsweise jenes in den Blick, was man als das Phänomen der Telenovela bezeichnen könnte. Aber wodurch zeichnet sich das Phänomen der Telenovela aus? Ganz offensichtlich ist die Telenovela in Lateinamerika eine hegemonische Gattung nicht nur des Fernsehens, sondern der Kultur ganz im Allgemeinen. Die Telenovela ließe sich, mit anderen Worten, als eine kulturelle Leitgattung beschreiben. Aber waren das die zuvor genannten Gattungen nicht auch? Man wird diese Frage zwar bejahen, jedoch einschränkend hinzufügen, dass Radionovela und Feuilletonroman ihre hegemonische Funktion in der brasilianischen Kultur völlig anders ausgeübt haben.9 Daraus folgt: Die Telenovela ist nicht schlicht mehr das Selbe. Trotz aller ihrer Anknüpfungspunkte zu den Gattungen, aus denen sie hervorgegangen ist, stellt sie etwas im Grunde radikal Neues dar und markiert somit einen kulturellen Umbruch. Ich schlage vor, diese Telenovela-Kultur mit dem Paradox der audiovisuellen Alphabetisierung zu umreißen. Mit der Telenovela triumphiert die Audiovision in den lateinamerikanischen Medienkulturen. So betrachtet lässt sich die Telenovela nicht mit dem Hinweis auf die Vorgeschichte verschiedener Gattungsmischungen erklären. Vielmehr ist die Herausbildung der Telenovela archäologisch als ein Wechselspiel von Kontinuität und Diskontinuität zu verstehen.
Intermediale Gattungspassagen Dienlich für eine solche Archäologie der Gattung ist ein Ansatz, den Markus Klaus Schäffauer und ich mit dem Begriff der »intermedialen Gattungspassage« bezeichnen. Das Konzept der »intermedialen Gattungspassage« besagt, dass eine Gattung in ihrer Transposition von einem Medium auf ein anderes zwar einen generischen Kontext fortbildet. Zugleich unterwirft sich diese Gattung jedoch einem grundlegenden Wandel. Die »intermediale Gat-
9. Zum Feuilletonroman siehe z.B. Marlyse Meyer: Folhetim. Uma história, São Paulo: Companhia das Letras 1996. Zur Radionovela siehe Alves Lourembergue: O rádio no tempo da radionovela, Cuiabá, MT: EdUFMT 1999. Zur Geschichte der Telenovela als Entwicklung vom Feuilletonroman bis zum Fernsehgenre siehe u.a. Renato Ortiz: »Evolução histórica da telenovela«, in: Renato Ortiz/ Silvia Helena Simões Borelli/José Mário Ortiz Ramos (Hg.), Telenovela. História e produção, São Paulo: Brasiliense 1991, S. 11-54.
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tungspassage«, mit anderen Worten, rettet eine Gattung nicht von einem Medium zum anderen, sondern stiftet Differenz und Alterität.10 Der Begriff ist in seiner Zweigliedrigkeit etwas näher zu bestimmen. Zunächst zur Gattung: Hat nicht schon die Moderne die Gattung als Korsett der Konventionen endgültig zertrümmert? Zweifellos hat die Gattung als Ordnungsbegriff und Systemvorstellung der Texte und Artefakte ausgedient. Aber eingedenk des kränkenden Eingeständnisses, dass das Subjekt nicht originär aus sich schöpft, dass sich also kein Nullpunkt ausmachen lässt, an dem es autonom zum Sprechen erster Dinge anheben könnte, erscheint die Idee der Gattung als ein sich fortbildender Kontext von Äußerungen weiterhin plausibel. Die Gattung erscheint in dieser Sicht als ein Raum enunziativer Verkettungen, in dem Äußerungen an vorangehende Aussagen anknüpfen – gleich, ob bestätigend oder verneinend. Identitätslos stimmt die Gattung nie mit sich überein, denn jede neue Anknüpfung schreibt sie fort und verändert sie, und alte Aussagen verschwinden im Dunkel des Vergessens. Eine solche Gattung ordnet nicht. Wie schon Michail Bachtin und Jean-François Lyotard angedeutet haben, ist sie unausweichlich, denn sie bildet nichts weniger als die Voraussetzung des Aussagens.11 Eine Äußerung entsteht in dieser Perspektive erst auf der Grundlage der Anknüpfung an andere Äußerungen. Sinn wird nicht gesetzt, sondern versteht sich mit Bernhard Waldenfels als Ergebnis von Koproduktion und entsteht differentiell zwischen den Aussagen.12 Ohne Gattung als einem generischen Anknüpfungskontext bildet sich keine Aussage. Aber ohne mediale ›Dazwischenkunft‹ und ›Mit-Teilung‹ kommt die Gattung nicht zustande. Erst das Medium rahmt, sich selbst entziehend, die Wahrnehmung einer Aussage. Zugleich ist kein Medium ohne sinnstiftende Fortbildung eines Anknüpfungskontextes. Ein Medium ohne Gattung ist bloßes Rauschen. Kurzum, Gattung und Medium bedingen sich gegenseitig. Daraus folgt, dass sich beim Wandel der Medien auch die Gattungen verändern. So fällt ein neues Licht auf die Rede von der kulturellen Zäsur im Hinblick auf die Ablösung des typographischen Zeitalters durch ein audiovisuelles bzw. digitales. Gemeint ist, dass die beschleunigte Medienentwicklung seit dem ersten Drittel des 19. Jh. einen 10. Vgl. Joachim Michael/Markus Klaus Schäffauer: »Die intermediale Passage der Gattungen«, in: dies. (Hg.), Massenmedien und Alterität, Frankfurt a.M.: Vervuert 2004, S. 247-296. 11. Vgl. Michail M. Bachtin: »Les genres du discours«, in: ders., Esthétique de la création verbale, Paris: Gallimard 1984, S. 263-308; Jean-François Lyotard: Le différend, Paris: Minuit 1983. 12. Vgl. Bernhard Waldenfels: »Der Sinn zwischen den Zeilen«, in: ders., Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 163-185.
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Umbruch der Gattungen zur Folge hat, der als kultureller Wandel in Erscheinung tritt. In diesem Sinne beschreibt das Konzept der intermedialen Gattungspassage nicht nur den Umbruch der Gattungen, sondern erhellt die mediale Umwälzung der Kultur. Zu klären bleibt jedoch, inwiefern jedes Medium eine Gattung umund neugestaltet. Enthält sich das Medium nicht seiner Botschaft? Geht es nicht in seiner Übertragung auf? Ist es nicht schlicht In-Differenz?13 Es liegt jedoch nahe, dass das Medium der Gattung als Performanz anhaftet.14 Diese mediale Performanz wohnt der Gattung als ein unscheinbarer Mehrwert einer Bedeutung bei, die nicht semiotisch ist und die Botschaft nicht berührt. Nicht dem Bereich der Repräsentation zugehörig, sondern dem der Präsentation, ist dieser Bedeutungsüberschuss dem Wahrnehmungsvorgang eingeschrieben.15 Meine These ist folglich, dass der performative Charakter des Mediums in seiner Wahrnehmungsanordnung begründet ist. Die mediale (An-)Ordnung der Wahrnehmung aber hat die Kinotheorie mit dem Begriff des Dispositivs beschrieben. Gemeint sind damit die Subjektivationen, denen die Zuschauer im Rezeptionsakt unterworfen werden.16 Zu folgern ist daher, dass in den Subjekt-Effekten des MedienDispositivs die mediale Performanz skizzierbar wird. Wohlgemerkt verstümmelt oder verformt das Dispositiv kein intaktes und in sich ruhendes Subjekt, sondern setzt just an der für den Menschen konstitutiven Subjektschwäche an. In dieser Sphäre des Mangels entfalten die technischen Medien ihre Bannkraft. So lässt sich folgern, dass in der intermedialen Gattungspassage der Wandel der medialen Performanz die Gattung vollständig rekonfiguriert 13. Zum Begriff der medialen In-Differenz als Dazwischenkunft, die teilt und verbindet, also mit-teilt, siehe Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 8. Siehe hierzu auch ders.: »Die Zäsur der Medien«, in: Winfried Nöth/Karin Wenz (Hg.), Medientheorie und die digitalen Medien, Kassel: Kassel University Press 1998, S. 61-88. 14. Zur Vorstellung, dass das Medium der Botschaft als Spur anhaftet, siehe Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: dies. (Hg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 73-94. 15. Siehe den Vorstoß von Krämer zu einem Konzept der Performativität der Medien: Sybille Krämer: »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität«, in: Paragrana Band 7, Heft 1 (1998), S. 33-57. 16. Siehe zum psychoanalytischen Begriff des Kinodispositivs Jean-Louis Baudry: »Le dispositif. Approches métapsychologiques de l’impression de réalité«, in : Psychanalyse et cinéma. Communications 23 (1975), S. 56-72.
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– auch bei gleichbleibender Botschaft. McLuhans Bemerkung, dass im Medium immer nur ein anderes Medium sichtbar wird, verweist darauf, dass Medien immer miteinander verwoben sind. Mit dem Begriff der intermedialen Gattungspassage wird jedoch deutlich, dass im Medium genau genommen Gattungen anderer Medien zum Vorschau kommen: nicht das Kino etwa wird im Fernsehen sichtbar, sondern der Film. Dies zeigt sich daran, dass ein Medium nicht an sich sein kann, sondern nur im unbeständigen Rahmen seiner Gattungen. Gattungen bewegen sich zwischen den Medien und verschränken sie miteinander.
Intermediale Bedingungen der Telenovela Wie gestaltet sich konkret das Zusammenspiel zwischen den Medien? Auch das Dispositiv eignet sich nicht als Identitätsdepot des Mediums. Denn – wie zu zeigen ist – bedingen sich die Mediendispositive gegenseitig. Auf der Suche nach den Voraussetzungen der Medienkultur in Lateinamerika stößt man schnell auf die Kategorie der Unterentwicklung. Wenn ich diesen Begriff unter Vorbehalt übernehme, will ich damit nicht die Imperialismuskritik der 1960er und 70er Jahre wiederbeleben.17 Es geht mir lediglich um das postkoloniale Phänomen einer eigentümlichen, historischen ›Binnenschuld‹, die sich nicht zuletzt in Entzug und Verweigerung der Gesellschaft gegenüber seiner Bevölkerung äußert. Vilém Flusser erkennt in der Unterentwicklung Brasiliens eine ›Bodenlosigkeit‹, die zuallererst das in ihren Abgrund zerrt, was die Wirklichkeit des Landes genannt werden könnte.18 Nicht also in seiner teleologischen Wendung als Mangel und Manko macht der Begriff weiterhin Sinn, sondern als Bezeichnung der kolonialen Hinterlassenschaft von Entbehrung und Ausgrenzung. Dieser Zustand gibt sich unter anderem im Inseldasein der Buchkultur zu erkennen. Deutlich wird dies, wenn man bedenkt, dass nur etwa ein Viertel der Bevölkerung vollständigen Zugang zur Schriftkultur besitzen. Zwar konnte die Analphabetismusrate von 65,3 % im Jahr 1900
17. Zu den lateinamerikanischen Theorien der Unterentwicklung siehe Horácio González: O que é subdesenvolvimento, São Paulo: Brasiliense 1985. 18. Vgl. Vilém Flusser: »Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Versuch über den Brasilianer«, in: ders., Schriften Bd. 5: Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung, Bensheim: Bollmann 1994, S. 19-22. Zu Flussers Begriff der Bodenlosigkeit siehe auch seine Autobiographie: Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf: Bollmann 1992.
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ein Jahrhundert später auf 13,6 % gesenkt werden.19 Aber weitere 31 % der brasilianischen Bevölkerung wurden 2001 als »rudimentäre« Alphabeten eingestuft, die lediglich einzelne Sätze lesen und schreiben können. 34 % galten als »einfache« Alphabeten, die imstande sind, einfache Texte zu verstehen und lediglich 26 % wurden als »volle« Alphabeten klassifiziert. So wird deutlich, dass drei Viertel der brasilianischen Gesellschaft von der regelmäßigen Buchlektüre ausgeschlossen ist. Im Durchschnitt liest ein Brasilianer pro Jahr 1,8 Bücher (in Frankreich sind es 7,0, in den USA 5,1). Dieser sehr niedrige Wert kommt dadurch zustande, dass nur etwa 20 % der alphabetisierten Bevölkerung Bücher kaufen. Auch geographisch lässt sich die Insel der Buchkultur ausmachen: Die Elite der Buchkäufer konzentriert sich in den großen urbanen Zentren im Südosten des Landes. Der Ausschlusscharakter der Lektüre wird auch daran deutlich, dass nur 8 % der gelesenen Bücher aus Bibliotheken stammen, nur 4 % aus Schulen. Dem entspricht, dass es in Brasilien lediglich 2400 Buchhandlungen gibt, die sich auf die Großstädte beschränken. 89 % der städtischen Gemeinden verfügen über keinen Buchladen. Bücher, mit anderen Worten, stehen nicht zur breiten Verfügung.20 Damit wird deutlich, dass die »kulturelle Schwäche« der (Buch-)Kultur, wie Antonio Candido es ausdrückt, nicht allein auf den Analphabetismus zurückzuführen ist, trotz dass dieser als »grundlegendes Merkmal der Unterentwicklung auf dem kulturellen Gebiet« gilt. Es kommt, so der Literaturwissenschaftler, zusätzlich zur Alphabetisierung auf die »Verbreitung von Kultur« an, womit die Infrastruktur angesprochen ist, die den Zugang zu den Büchern gewährleistet.21 Nur am Rande sei das brasilianische Kino erwähnt, das in seiner nationalen Ausprägung bereits in den 1940er Jahren von Hollywood weitgehend verdrängt wurde. Paulo Emilio Salles Gomes, der große Filmkritiker, nennt dies die »Unterentwicklung« des brasilianischen Kinos. »Unterentwicklung« – als »Zustand«, nicht als »Etappe« – meint nicht nur die Schwierigkeit der nationalen Kinomatographie, sich gegen 19. Dies bezieht sich auf das Jahr 2000. Im Jahr 2009 liegt diese Rate bei 10 Prozent. Vgl. die Untersuchung des Meinungsforschungsinstitutes IBOPE zum funktionalen Analphabetismus vom 15. Mai 2009 auf www.ibope.com.br (11. Juni 2009). 20. Die Angaben sind einer Studie des »Nationalen Plans des Buches und der Lektüre« (»Plano Nacional do Livro e Leitura«, PNLL) unter Federführung der brasilianischen Bundesregierung entnommen (vgl. www.pnll.gov.br/ vom 11. Juni 2009). 21. Vgl. Antonio Candido: »Literatura y subdesarrollo«, in: César Fernández Moreno (Hg.), América Latina en su literatura, México, D.F.: Siglo XXI 1996, S. 335-353, hier S. 338.
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das US-Monopol zu behaupten, sondern auch, sich kritisch mit Brasilien und seinen Bedingungen der Unterentwicklung auseinanderzusetzen.22 Die strukturelle Schwäche von Buchdruck, Kino, Theater und anderen Medien reißt eine kulturelle Leerstelle auf, die zunächst das Radio und später das Fernsehen sich anschicken zu besetzen. Damit ist gemeint, dass Radio und Fernsehen die Schriftkultur nicht ersetzen. Vielmehr ergibt eine historische Betrachtung der Medienkultur, dass sie sich gleichzeitig entwickeln. Das Paradox besteht darin, dass es selbstredend schon seit dem 19. Jh. Buchdruck und Theater und seit Beginn des 20. Jh. Kino in Brasilien gab, dass diese Medien aber erst in der Mitte des Jahrhunderts ihre Produktionsverhältnisse auf nationaler Grundlage zu konsolidieren beginnen. Dies ist jedoch just der Zeitpunkt der Einführung des Fernsehens, das mit TV Tupi im September 1950 in São Paulo erstmalig auf Sendung geht. Der Gründer des Senders war der Medienmogul Assis Chateaubriand, der auf dem Höhepunkt seiner Medienmacht Ende der 1950er Jahre über 34 Zeitungen, 18 Zeitschriften, 25 Radiosender und schließlich 18 Fernsehsender gebot.23 1951 nahm er einen Sender in Rio de Janeiro in Betrieb.24 Zweifelsohne erschwert das Übergewicht des Rundfunks die Entfaltung der Buchkultur. Das Fernsehen wird den gigantischen Äußerungsraum kaum wieder aufgeben wollen, der ihm als ein Medium zukommt, das als 22. Vgl. Paulo Emilio Salles Gomes: »Trayectoria en el subdesarrollo«, in: Paulo Antonio Paranaguá (Hg.), Brasil, entre modernismo y modernidad. Nr. 36, Archivos de la filmoteca (2000), S. 21-37. Die ursprüngliche portugiesische Fassung mit dem Titel »Cinema: trajetória no subdesenvolvimento« stammt aus dem Jahr 1973. 23. Vgl. Ricardo Xavier/Rogério Sacchi: Almanaque da TV, Rio de Janeiro: Objetiva 2000, S. 257. 24. Andere Unternehmen folgten schnell nach. TV Tupi in São Paulo erhielt Konkurrenz durch TV Paulista (1952) und TV Record (1953), in Rio gingen TV Rio (1955) und TV Continental (1959) auf Sendung. Chateaubriand errichtete in den folgenden Jahren in sieben weiteren Großstädten einen Sender (in Belo Horizonte, Salvador, Recife, Fortaleza, Porto Alegre, Belém und Brasília; vgl. R. Xavier/R. Sacchi: Almanaque, S. 229-238). Auch der Staat plante eine eigene Fernsehanstalt. Der staatliche Radiosender Rádio Nacional experimentierte schon 1946 mit Fernsehübertragungen, allerdings autorisierte die Bundesregierung erst zehn Jahre später den Sendebetrieb. Dass dieser jedoch nie zustande kam, könnte – so Maria Federico – mit dem Druck Chateaubriands auf den damaligen Präsidenten Kubitschek in Verbindung stehen. Der Medienmogul wünschte keine staatliche Konkurrenz und drohte mit einer Medienkampagne gegen die Regierung. Vgl. Maria Elvira Bonavita Federico: História da comunicação. Rádio e TV no Brasil, Petrópolis: Vozes 1982, hier S. 80.
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einziges die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit über alle geographischen, sozialen, ethnischen sowie alters- und genderbedingten Grenzen hinweg durchdringt. Die Unterentwicklung von Buchdruck, Kino und Theater, mit anderen Worten, befördert die Überentwicklung des Fernsehens. Aber wie begründet sich die Behauptung, dass ausgerechnet die Telenovela diesen gesellschaftlichen Äußerungsraum besetzt? Warum nicht ein anderes TV-Format oder gar eine Vielzahl von Formaten? Ein Verweis auf die für die Popularität der Gattung, die seit den 1960er Jahren ununterbrochen die höchsten Einschaltquoten erzielt, ist im Grunde zirkulär.25 Deutlich zu machen ist, dass die Telenovela sich den Status einer brasilianischen Leitgattung anmaßen kann, weil sie mittels unzähliger intergenerischer und intermedialer Passagen diskursive Funktionen an sich reißt, die anderswo von konkurrierenden Medien auf unterschiedlichste Weise wahrgenommen werden. Zunächst ist anzumerken, dass die Klassengegensätze zum diskursiven Herzstück der Telenovela gehören. Die Telenovela erzählt lange, sehr lange Geschichten, die das Melodrama der Moralität einer scheinbar ungerechten Welt unaufhörlich auf die postkoloniale Ungleichheit der brasilianischen Gesellschaft beziehen.26 Immer geht es um den Klassenhass, d.h. 25. Everett M. Rogers und Livia Antola belegen in ihrer Studie aus den achtziger Jahren eindrücklich die Erfolgsgeschichte der Telenovelas in Brasilien und Mexiko, die es ermöglicht hat, den Import von insbesondere US-amerikanischen Fernsehproduktionen stark zu reduzieren. Vgl. Everett M. Rogers/Livia Antola: »Telenovelas: a Latin American Success Story«, in: Journal of Communication. Bd. 35, Nr. 3 (1985), S. 24-35. In der brasilianischen Forschung wird meist darauf hingewiesen, dass es dem brasilianischen Fernsehen gelungen sei, die Telenovela-Schau zu einer alltäglichen Gewohnheit der Zuschauer zu machen. Zurückgeführt wird das auf die narrative Fülle ineinander verschlungener Multiplots, deren Gegenstand Liebesdramen, Geheimnisse, Abenteuer, Familiensagas und dergleichen mehr seien. Das wesentliche Argument dabei ist jedoch das der Brasilianität. Die Gattung sei eine »nationale Institution«, weil es ihr gelungen sei, eine »eigene, typisch brasilianische Sprache« zu entwickeln. Auf dieser Grundlage habe sie sich in »eine brasilianische Popularkunst« gewandelt. Vgl. Ismael Fernandes: Memória da telenovela brasileira, São Paulo: Brasiliense 1994, S. 19-21. 26. Peter Brooks hat gezeigt, dass das Melodrama als narrative Strategie zu verstehen ist, die Welt nach der Abschaffung des Gottesgnadentums in der Französischen Revolution zu resakralisieren. Das Melodrama beharrt auf der Existenz eines moralischen Universums, das sich jedoch nur noch im menschlichen Handeln äußert. Wie Brooks betont, ist das Melodrama nicht schlicht ein moralistisches Drama, sondern »das Drama der Moralität« selbst, das verzwei-
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um Verachtung und Erniedrigung der Armen durch die Reichen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Konfl ikt nur allegorisch ausgetragen wird oder in eine umfassende und konkrete Gesellschaftskritik mündet (was er nicht tut). Als Reminiszenz seiner früheren Ausrichtung auf ein weibliches Publikum stellt das Genre meist Frauen in den Mittelpunkt. Damit gehört die Rolle der Frau in der Gesellschaft zum Kern des Themenspektrums des Genres. Mit der Frage nach der Emanzipation der Frau wird, so lässt sich folgern, immer wieder von neuem das Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne diskutiert. Die formal-narrativen Voraussetzungen dieser – melodramatischen – Erörterungen gesellschaftlicher Konfliktlinien sind durch die finale Erzählstruktur der Gattung gegeben, die es erlauben, innerhalb von abgeschlossenen Geschichten und Handlungen immer wieder neue Themen und Szenarien aufzugreifen. Wenn auf diese Weise die »brasilianische« Telenovela beschrieben wird, so ist damit, wie bereits angedeutet, das Modell gemeint, das der Sender Rede Globo zwar nicht erfunden, so doch in seiner heutigen Erscheinung entscheidend mitgeprägt hat. Nicht zuletzt auf der Grundlage des Erfolgs dieser Gattung konnte Rede Globo seine marktbeherrschende Macht errichten.27 Die Strategie des Senders bestand zumindest seit Ende der sechziger Jahre in der konsequenten Nationalisierung des Programms.28 Im Kontext der kulturtheoretischen Debatten zur Unterentwicklung der felt versucht, die abgebrochene Verbindung zum Sakralen wiederherzustellen und in dieser Absicht geradezu obsessiv zu zeigen versucht, dass die Realität nur eine Maske des moralischen Kosmos ist, in dem das Gute und das Böse um die Oberherrschaft ringen. Vgl. Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, New Haven, London: Yale University Press 1976, S. 1-23. 27. Seit Anfang der 1970er Jahre dominiert der Sender die Einschaltquoten. Anfang der achtziger Jahre erreichte Globo 99 % aller Haushalte mit Fernsehgerät. Von diesen brachte der Sender damals in der Hauptsendezeit zwischen 20 und 22 Uhr bis zu 75 % dazu, sein Programm zu wählen. Vgl. Elizabeth Fox: Latin American Broadcasting. From Tango to Telenovela, Luton: University of Luton Press 1997, S. 60. 20 Jahre später fiel Globos Quote leicht auf 61 % (zwischen 18 und 24 Uhr) und wahrte damit einen gewaltigen Abstand zum nächsten Konkurrenten SBT mit 20 % im selben Zeitraum. Globos Durchschnittsquote lag bei 53 %, der nächstplatzierte Sender SBT bei 25 %. Vgl. IP (Hg.): Television 2000. European Key Facts, Köln: o.V. 2000, S. 128. 28. Zu einer kritischen Darstellung der Nationalisierung des Programms von Rede Globo siehe Maria Rita Kehl: »Eu vi um Brasil na TV«, in: Inimá F. Simões/ Alcir Henrique da Costa/Maria Rita Kehl (Hg.), Um país no ar. História da TV brasileira em três canais, São Paulo: Brasiliense 1986, S. 167-276.
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sechziger Jahre war das Genre selbstverständlich ein Problem, aber nur insofern, als es sich als Import aus dem hispanoamerikanischen Ausland bzw. als Ausblendung dessen zu erkennen gab, was es nun als »nationale Wirklichkeit« zu diskutieren galt. Entscheidend für die Ausgestaltung des brasilianischen Fernsehens und der Telenovela ist, dass die kulturkritische Kategorie der Entfremdung nicht primär auf das individuelle Subjekt und auf das Außerkraftsetzen seines Urteilsvermögens bezogen wird, was die Massenmedien im Sinne von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno durch den Schematismus und die Immergleichheit der kulturellen Ware betreiben.29 Vielmehr richtet sich im lateinamerikanischen Kontext der Unterentwicklung die Entfremdungsdebatte in erster Linie auf das kollektive Subjekt und gegen den (Neo-)Kolonialismus, der dieses Subjekt bedroht.30 Es ist das nationale Sein, dessen Integrität, ja Findung auf dem Spiel steht. Entfremdend ist die Telenovela, wenn sie der nationalen Emanzipation und Bewusstwerdung der brasilianischen Wirklichkeit entgegenwirkt. Dann ist sie nicht einmal Kultur, die zur Ware degradiert wird, sondern lediglich Werbeträgerin im Dienst der transnationalen Konsumgüterindustrie.31 Die Erfolgsstrategie für die brasilianische Telenovela 29. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: dies., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: Fischer 1998, S. 128-176, hier S. 133. 30. Es ist nur folgerichtig, in der Entfremdung gar einen Grundgedanken der Theorie der Unterentwicklung zu erkennen. Interessanterweise wurde diese Überlegung just auf dem Gebiet der Kulturtheorie ausgearbeitet. Roland Corbisier brachte die Diskussion auf den Punkt, indem er Entfremdung als das zentrale Merkmal des Kolonialismus bezeichnet. Gemeint ist, dass die koloniale Dominanz noch über die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie hinaus die nationale Bewusstwerdung blockiert: »Der Mangel an Nationalbewusstsein, der Mangel an kritischem Bewusstsein uns selbst gegenüber erklärt sich durch die Entfremdung, denn der Inhalt der Kolonie ist nicht die Kolonie selbst, sondern die Kolonialmacht.« Zitiert nach Renato Ortiz: Cultura brasileira e identidade nacional, São Paulo: Brasiliense 1994, S. 55. 31. Unter den Bedingungen der peripheren Moderne ist das Eintreten für das nationale Selbst nicht zwangsläufig konservativ, sondern nimmt im emanzipatorischen Sinne fortschrittliche Züge an. In der brasilianischen Debatte um die Telenovela werden daher die Begriffe der Brasilianisierung und der Modernisierung synonym gebraucht. Der Begriff der Brasilianisierung ist in der Forschung ein Allgemeinplatz. Als Beispiele unter vielen und neben dem bereits genannten Ismael Fernandes seien genannt: Silvia H. Simões Borelli/José Mário Ortiz Ramos: »A telenovela diária«, in: Renato Ortiz/Silvia Helena Simões Borelli/José Mário Ortiz Ramos (Hg.), Telenovela. História e produção, São Paulo:
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war, sich dieser Kritik anzunehmen und sich der emanzipatorischen Modernisierung des Landes zu verschreiben. »Realismus« wird damit zum Werbemerkmal der brasilianischein Telenovela. Der Verkaufsslogan von Véu de noiva (Brautschleier) aus dem Jahr 1969, einer der ersten Serien, mit denen Rede Globo auf den nationalen Trend aufspringt, bringt das bis heute gültige Programm zum Ausdruck: »In Véu de noiva geschieht alles wie im wirklichen Leben. Die Telenovela der Wahrheit.«32 Dass eine solche Entfremdungskritik – wie jeder Realismus – die Existenz einer vorgängigen Realität voraussetzt, nämlich die brasilianische, sei hier nur angedeutet. Der Realismus ist eine Erzählstrategie, die den melodramatischen Exzessen des Affekts Wahrscheinlichkeit und psychologische Kohärenz entgegensetzt. Illusionismus, Technizität und naturalistische Detailgenauigkeit übernimmt Rede Globo vom classical style Hollywoods,33 ohne jedoch jemals den inneren Konflikt mit dem Sentimentalismus überwinden zu können oder zu wollen. Die offensichtliche Problematik der Realitätsfrage, die dem Realismus eingeschrieben ist, kann hier lediglich Erwähnung finden. Entscheidend ist, dass aufgrund dieser intermedialen Gattungsmischung zwischen seriellem Fernsehmelodram und klassischem Hollywoodfi lm sehr konkrete gesellschaftliche Konflikte gestaltet werden können. Aus der Sicht der zum Teil sehr sozialkritischen Drehbuchautoren war dies insbesondere in den siebziger Jahren interessant, weil ihnen mit der Telenovela ein Genre zur Verfügung stand, mit dem sie das Inseldasein von Literatur und Theater zu überwinden hoff ten. In der Folge nahmen viele Serien Adaptionen von Theaterstücken, Romanen und Filmen zum Ausgangspunkt. Aus der Sicht der (mit der damaligen Militärdiktatur eng liierten) Unternehmensleitung ging es darum, im Sinne einer Spektakularisierung der Gattung, die Telenovela mit aufsehenerregenden Themen selbst zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit zu machen und in die Schlagzeilen der Printmedien zu bringen. In ihrem
Brasiliense 1991, S. 92-96 und Anamaria Fadul: »La telenovela brasileña y la búsqueda de las identidades nacionales«, in: Nora Mazziotti (Hg.), El espectáculo de la pasión. Las telenovelas latinoamericanas, Buenos Aires: Colihue 1993, S. 133-152. 32. Zitiert nach Artur Xexéo: Janete Clair. A usineira de sonhos, Rio de Janeiro: Relume Dumará 1996, S. 70. 33. Zum classical style siehe David Bordwell: »The Classical Hollywood Style, 1917-60«, in: ders./Janet Staiger/Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press 1985, S. 1-84.
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Kalkül eignet sich dazu die Telenovela am Besten, da kein anderes Format so rentabel ist.34 Mit ihrer technischen Infrastruktur ist die Gattung in der Lage, nahezu jeden Haushalt in dem riesigen Land zu erreichen und anzusprechen. Aufgrund ihrer medialen Performanz gelingt ihr dies zum großen Teil, wie noch zu zeigen ist. Die postkolonialen Strukturen der Ausgrenzung und Marginalisierung verwehren anderen technischen Medien diese Reichweite (das Radio ausgenommen). Als Unterhaltungsgenre ist daher die Telenovela für die Bevölkerungsmehrheit weitgehend konkurrenzlos. Aufgrund ihrer Geschichte von Überkreuzungen unterschiedlichster Gattungen verfügt sie über die narrativen Voraussetzungen, in jeder Serie mit möglichst brisanten Diskussionsgegenständen aufzuwarten. Nach einem halben Jahr ist die Produktion zu Ende, und die Folgesendung greift neue Stoffe auf. In ihrem Anspruch und ihrer Macht, sich als eine Art Zentralorgan der öffentlichen Diskussion zu präsentieren, wird die Strategie der Telenovela deutlich, die öffentliche Sphäre wie kein anderes Genre zu erweitern und zugleich auf sich zu reduzieren.
Tele-ImagiNation Ein Beispiel ist die Serie A favorita (Die Favoritin), die vom 02. Juni 2008 bis zum 16. Januar 2009 auf dem besten Sendeplatz um 21 Uhr in 197 Folgen ausgestrahlt wurde. Sie kam auf einen market share von 60 % bis 65 % und wurde durchschnittlich von 29 Millionen Menschen gesehen. Bezeichnend ist, dass ihre Publikumsanteile in allen Einkommensschichten in etwa gleich hoch waren. Im Laufe einer Woche erreichte sie ca. 70 % aller Haushalte.35
34. Über die Höhe von Kosten und Einnahmen des Senders gibt es nur sehr unterschiedliche und unverlässliche Angaben. Konsens herrscht jedoch darüber, dass sich eine Telenovela nach ca. drei Monaten bereits auszahlt. Dabei sind Zusatzeinnahmen durch product placements und Export noch nicht eingerechnet. Vgl. Sérgio Caparelli/Suzy dos Santos: »La televisión en Brasil«, in: Guillermo Orozco (Hg.), Historias de la televisión en América Latina, Barcelona: Ed. Gedisa 2002, S. 65-116; Renato Ortiz/José Mario Ortiz Ramos: »A produção industrial e cultural da telenovela«, in: R. Ortiz/S.H.S. Borelli/J.M.O. Ramos (Hg.), Telenovela. História e produção, S. 111-182; und José Marques de Melo: As telenovelas da Globo. Produção e exportação, São Paulo: Summus 1988. 35. Angaben der Vermarktungsabteilung (Direção Geral de Comercialização)
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Im Zentrum des Konfliktgewebes von A favorita steht die Feindschaft der beiden Protagonistinnen, die einst zusammen aufwuchsen und beste Freundinnen waren. Die Schurkin unter den beiden, die den Zuschauern lange Zeit unerkannt bleibt, schreckt vor keinem Kapitalverbrechen zurück, um Macht und Reichtum zu erlangen. Um die Kernhandlung herum spinnt sich eine Fülle von Konfliktlinien, aus dem ein Kosmos von Korruption, Habgier und Gewalt entsteht.36 Die Telenovela ist jedoch weit mehr als Diskurs und Diskussion. Sie inszeniert sich als ein Werk, das von einem Autor geschaffen worden ist. Im Vorspann zu A favorita erscheint an erster Stelle, unmittelbar zu Beginn: »Uma novela de João Emanuel Carneiro«, d.h. »Eine Telenovela von João Emanuel Carneiro«.37 Carneiro ist der Chefdrehbuchautor. Anschließend erscheinen die restlichen credits, allen voran die Namen der beiden Hauptdarstellerinnen. Erst am Ende des genau einminütigen Vorspanns, kurz vor der Regie, erscheint die Drehbuchequipe mit Namen. Abbildungen 1-3: Vorspann von A favorita
Die Rede von einem Autor der Telenovela kann angesichts des extrem arbeitsteiligen Produktionsprozesses selbst des Drehbuchs nur eine besonders ausgeprägte und eigene Fiktion sein. Dass es sich bei diesem fi ktiven Schöpfer nicht um den Regisseur, sondern um den Chef-Drehvon Rede Globo auf http://comercial.redeglobo.com.br/programacao_novela/ favorita_results.php (13. Juni 2009). 36. Zu A favorita und ihrem komplexen Handlungsgeflecht mit 57 Figuren (ohne Statisten) siehe den offiziellen Web-Auftritt auf den Seiten von Rede Globo http://afavorita.globo.com/Novela/Afavorita/Home/0,,15470,00.html und auch den Wikipedia-Eintrag auf http://pt.wikipedia.org/wiki/A_favorita (13. Juni 2009). 37. A favorita: Drehbuch: João Emanuel Carneiro, Denise Bandeira, Fausto Galvão, Marcia Prates, Vincent Villari. Regie: Ricardo Waddington, Gustavo Fernandez, Paulo Silvestrini, Pedro Vasconcelos, Roberto Naar, Roberto Vaz. TV Globo: Rio de Janeiro, gesendet vom 02. Juni 2008 bis zum 16. Januar 2009. Vgl. http://afavoritabr.blogspot.com/ (13. Juni 2009).
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buchautor handelt, mag ein Licht darauf werfen, wie wenig die Telenovela Film ist und wie viel Sprache. (Sie lässt weniger die Bilder sprechen als die Figuren reden und reden.) Offensichtlich verdeckt die Telenovela mit ihrer Autorfi ktion den Makel ihrer rationalisierten Akkordproduktion. In dieser Autorfi ktion kommt jedoch auch die Sehnsucht der Telenovela zum Ausdruck, ihre Gattung zu überwinden, ja ihr Medium hinter sich zu lassen – und Literatur zu sein: Literatur im Sinne der realistischen Gesellschaftsromane, die das Land und seine Probleme erfassen und vor den Augen des Publikums ausbreiten. In der Fiktion, Literatur zum Fern-Sehen zu sein, wünscht sich die Telenovela, den Makel des Analphabetismus zu überwinden und den Mangel der Unterentwicklung abzustreifen, denen sie sich verdankt. Die Telenovela inszeniert sich als großer Roman des Zuschauens – nicht des Lesens. Deutlich wird in dieser Werkfi ktion auch, wie sehr die Telenovela auf ein bodenloses Begehren antwortet, das nicht nur die Schöpfung der Nation zum Gegenstand hat. Aber was für ein Brasilien soll es sein? Die Frage wird weiter unten noch zu klären sein. Die Telenovela begehrt nicht nur danach, Literatur zu sein. Sie sehnt sich insbesondere danach, Kino zu sein. Viel hat sich die brasilianische Telenovela-Produktionsfirma Rede Globos von Hollywood geliehen: Darunter sind nicht nur der fi lmische Realismus und eine Unzahl narrativer Vorlagen und Motive, sondern auch das Star-System, der Ehrgeiz technischer Makellosigkeit, der Bau riesiger Film- bzw. Telenovelastädte usw. Ein ›brasilianisches Hollywood‹ soll das brasilianischste Fernsehgenre sein. Es soll ein bildtechnisch perfektes Brasilien zur Erscheinung bringen, ein Hollywood-Brasilien mit dem Appell einer ›schöner-als-schönen‹ Welt. Im Mittelpunkt dieser Welt steht immer der Super-Reichtum. Im Fall der erwähnten Serie ist es das Vermögen einer Unternehmerfamilie und ihr herrschaftliches Anwesen. Neuengland? Neubrasilien! Abbildungen 4-6: Herrensitz der Unternehmerfamilie Fontini in A favorita
Das andere Brasilien ist das gedemütigte Brasilien. Bei Rede Globo ist es das Brasilien, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss und keinen Privat-Helikopter zur Verfügung hat.
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Abbildungen 7-8: Das andere Brasilien in A favorita
Das Fernseh-Dispositiv konstituiert zwar einen abgelenkten und zerstreuten Zuschauer, dessen Blick über den Bildschirm beständig abzurutschen droht. Dennoch kriecht die Telenovela nach und nach in die Gedankenwelt der Zuschauer und entfaltet dort gewissermaßen ihr eigentliches Sein. Im Grunde kommt die Telenovela zustande, wenn sie vom Bildschirm verschwindet und in den Vorstellungsbezirk des Zuschauers emigriert. Dies liegt am Fortsetzungscharakter der Telenovela-Erzählung, die beständig Spannungsbögen produziert, aber regelmäßig vor dem Höhepunkt abbricht, um nach einer Erzählpause wieder von neuem einzusetzen. In diesem Erzählintervall wird der Zuschauer zum Mit-Autor der Geschichte, indem er sie in seinem Rest-Leben imaginierend fortspinnt. Mit zunehmender Vertrautheit der Charaktere und angestachelt durch die werktägliche Wiederkehr der Primär- und Sekundäridentifi kationen richten sich die Zuschauer in der Telenovela-Welt ein.38 Natürlich, dies ist nichts Neues, und schon der Feuilletonroman hat eine Erzählform perfektioniert, die den Lektürevorgang periodisch suspendiert. Das Fernseh-Dispositiv der Gattung jedoch installiert im Zuschauer ein Blickregime, das ihn unaufhörlich zurück an den Bildschirm zerrt. Fernsehen ist ein Privatmedium, das die unermessliche und unerschöpfliche Fülle der visuellen Welt in die Privatsphäre der Zuschauer spült. Aber es ist kein Fenster zur Welt, sondern ein Schlüsselloch, das die Welt auf dem Bildschirm fernanwesend werden lässt, d.h. zugleich nahebringt und entzieht. Die anwesende Abwesenheit des Sichtbaren reizt den Schautrieb des Zuschauers, dem das, was er zu sehen bekommt, immer 38. Auch der televisionäre Signifikant ist imaginär. Auch er löst neben sekundären Identifikationen mit dem Wahrgenommenen eigensinnige Primäridentifikationen mit dem ›Ich‹ der Wahrnehmung aus. Vgl. Christian Metz: »Le signifiant imaginaire«, in: Psychanalyse et cinéma. Communications 23 (1975), S. 3-55.
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schon genommen ist. Das Fernseh-Dispositiv ist per se voyeuristisch und ruft einen televisionären Blick auf, in dem das Gesehene ›realer-als-real‹ erscheint. Aus dem Subjektmangel schöpfen Vielfalt und Lust der Fernsehwahrnehmung. In dem eigenartig unterbrochenen und unbeständigen, zugleich aber wiederkehrenden und in seiner Regelmäßigkeit »alltagskonstituierenden«39 Fernsehblick vollzieht sich, mit anderen Worten, die mediale Performanz der Gattung. In das spezifische Blickregime der Telenovela interveniert jedoch zusätzlich etwas, was man approximativ als sozio-historische Determinanten bezeichnen könnte. Einerseits ist damit die bereits ausgeführte intermediale Bedingtheit der Telenovela und ihre nur historisch nachzuvollziehende kulturelle Alleinstellung angesprochen. Welches Genre formiert sich allabendlich ein Publikum von knapp 30 Millionen Brasilianern, an die es netto (die Werbeblöcke hinausgerechnet) einen 45minütigen und mit sozialen Problemen aufgeladenen Affektappell richtet? Andererseits wirkt ein gesellschaftliches Begehren in den Telenovelablick, das nicht anders als mit dem Wort ›postkolonial‹ zu bezeichnen ist. Es steigt aus einer – wie Flusser es bezeichnen würde – ›bodenlosen Nicht-Wirklichkeit des nationalen Seins‹ empor, das sich fortdauernd an nicht endenden Fremd- und Selbstkolonialismen verfehlt. Auf dieser Abgrundlage konfiguriert sich der Nationalappell der Telenovela als konstantes Gattungsmerkmal. Welcher Art ist aber die nationale Fülle, die sich über das unterentwickelte kollektive Selbst legen könnte? Sie erschöpft sich, so ist zu vermuten, nicht im Versprechen einer sich über alle Differenzen aufhebenden Gemeinschaft, die in der Brüderlichkeit die Gleichheit ihrer Mitglieder vollzieht, als sei sie eine »horizontale Kameradschaft«, in der alle für alle einstehen. 40 Die Telenovela imaginiert nicht nur den melodramatischen und späten Triumph über die Selbstverachtung der Nation im Klassenhass der Allmächtigen, die der Bevölkerung ihr gesellschaftliches Sein entziehen. Vielmehr geht sie – jenseits der Konstruktion symbolischer Phantasiewelten des Glücks – in Halluzinationen der Überfülle auf, in denen sich ein Begehren regt, das vom sozialen Nicht-Sein rührt. Denn was zeigt die Telenovela? Das Brasilien der Unterentwicklung? Dies tut sie höchstens allegorisch, kaum jedoch in nackter Gestalt. Vielmehr ist es das Neubrasi39. Gerade in der (regelhaften) Ausnahme von der Regel bekräftigt sich die Alltäglichkeit, die die Telenovela der Zeiterfahrung der Zuschauer überstülpt: Sonntags haben die Zuschauer telenovelafrei. 40. Dass eine solche nationale Gemeinschaft immer imaginiert ist, hat Benedict Anderson gezeigt. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1983, S. 1516.
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lien der prallen Üppigkeit. Kein Spiegel, sondern Schlüsselloch zur gated community der Superreichen und ihren Freuden und Tränen und Sorgen. Im Blick ist die abgesperrte Opulenz umso begehrenswerter, als sie zwar ansichtig wird, aber nie zur Verfügung steht. Die Performanz der Telenovela, mit anderen Worten, wird konturierbar in einem Blickregime, dessen Überentwicklung des Schautriebs mit der Unterentwicklung des sozialen Seins korrespondiert. Die ›Tele-ImagiNation‹ vollzieht sich im Schlüssellochblick auf ein ›Mehr-als-Brasilien‹, das erst in der verbotenen Prallheit des Superreichtums seine Vollendung erreicht. Immer wieder zeigt die Telenovela, was nicht zu sehen, aber umso heftiger zu imaginieren ist. Sie gewährt dem Spähblick der Zuschauer Einlass in den intimen Sperrbezirk der Edelsten. Zu sehen ist das alte Unternehmerehepaar. Sie gehen zu Bett und wälzen Familiensorgen: Hat die Schwiegertochter nun ihren Sohn ermordet oder nicht? Die Telenovela, so lässt sich resümieren, provoziert einen Blick, der sich dem Ausschluss verdankt: Der Patriarch schließt die Tür. Aber das Tele-Schlüsselloch ist offen. Abbildungen 9-12: Die Fontinis im Schlafgemach in A favorita
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Aber was geschieht im Intimbereich der Überfülle? Abbildungen 13-14: Die Fontinis im Schlafgemach in A favorita
Nichts. Die Figuren reden. Sie reden über Ereignisse, die dem handlungshungrigen Zuschauer in der Regel aufgrund der notwendigen Streckung der Erzählung auf knapp 200 Kapitel vorenthalten werden. Trost spenden hier nur gelegentliche parodistische Kontrapunkte. Dies also ist die ›tele-imaginierte‹ Nation: ein ›üppiger-als-üppiges‹ Schlüsselloch-Brasilien, das sich jedoch beständig vertagt: Vielleicht ereignet es sich im nächsten Kapitel, und wenn nicht, dann im übernächsten, und wenn nicht, dann in der Folgeserie.
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Die lateinamer ikanische Telenovela
Rogers, Everett M./Antola, Livia: »Telenovelas: a Latin American Success Story«, in: Journal of Communication. Bd. 35, Nr. 3 (1985), S. 24-35. Spanio, Simone: Boom der deutschen Telenovelas. Merkmale, Ursachen und Vergleiche, Saarbrücken: VDM Verlag 2007. Stadelmaier, Martin: »Kreativmaschinerie. Telenovelas und ihre billige Produzierbarkeit«, in: epd medien 92 (2005), S. 3-7. Tholen, Georg Christoph: »Die Zäsur der Medien«, in: Winfried Nöth/Karin Wenz (Hg.), Medientheorie und die digitalen Medien, Kassel: Kassel University Press 1998, S. 61-88. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Waldenfels, Bernhard: »Der Sinn zwischen den Zeilen«, in: ders., Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 163-185. Wick, Klaudia: »Leben in der Endlosschleife«, in: Berliner Zeitung vom 01.09.2006, www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump. fcgi/2006/0901/medien/0021/index.html (10. Juni 2009). Xavier, Ricardo/Sacchi, Rogério: Almanaque da TV, Rio de Janeiro: Objetiva 2000. Xexéo, Artur: Janete Clair. A usineira de sonhos, Rio de Janeiro: Relume Dumará 1996.
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Doku-Soap des eigenen Lebens – Photographische Selbstrepräsentation als intermediale Identitätsarbeit von Jugendlichen auf Social Networking Sites 1 Ulla Patricia Autenrieth
Wie die aktuelle JIM-Studie2 belegt, ist das Internet inzwischen das bedeutendste Medium für Jugendliche im Alter zwischen 12 und 19 Jahren und hat im Jahr 2008 somit zum ersten Mal das Fernsehen als wichtigstes Unterhaltungsmedium überholt. Ein immer größerer Teil der Freizeit wird folglich online verbracht, bei Mädchen wie bei Jungen. Als ein wesentlicher Bestandteil der Onlineaktivitäten in dieser Altersgruppe erwiesen sich sogenannte Social Networking Sites (SNS) wie Facebook, StudiVZ und SchülerVZ.3 Beinahe drei Viertel der 12- bis 19-Jährigen haben inzwischen 1. Herzlichen Dank an die Arbeitsgruppe »Jugendbilder im Netz« (Jörg Astheimer, Andreas Bänziger, Nina Hobi, Vanessa Kleinschnittger, Rahel Walser und Dominic Wirz) unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Neumann-Braun am Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel, für die konstruktiven Anregungen und wertvollen Hinweise zu diesem Text. 2. Die JIM-Studie (Jugend, Information, [Multi-]Media) untersucht als Langzeitstudie jährlich das sich wandelnde Medienverhalten von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren in Deutschland. Themenschwerpunkt ist dabei unter anderem die Internetnutzung dieser Altersgruppe. Vgl. www.mpfs.de/fileadmin/ JIM-pdf08/JIM-Studie_2008.pdf (5. Juni 2009). 3. Vgl. ebd.
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Erfahrungen mit Social Networking Sites, 41 Prozent besuchen solche Seiten täglich, weitere 16 Prozent immerhin noch mehrmals wöchentlich. 4 Somit ist davon auszugehen, dass diese Plattformen eine nicht zu unterschätzende Rolle im Identitätsbildungsprozess von heutigen Adoleszenten einnehmen. Diese webbasierten Angebote zeichnen sich dadurch aus, dass es den User/-n/-innen möglich ist, ein eigenes (teil-)öffentliches Profil innerhalb der jeweiligen Plattform einzurichten. Diese Profile erinnern an Steckbriefe von Partnerschaftsbörsen, die auch als die Anfänge dieser Seiten betrachtet werden können.5 Je nach Anbieter ist es möglich, dort persönliche Daten, Hobbys, Beziehungsstatus, politische Einstellung, Lieblingszitate etc. anzugeben, um die eigene Person näher zu beschreiben. Ein weiteres zentrales Merkmal besteht darin, dass sich die einzelnen User/-innen miteinander vernetzen können. Profilinhaber/-innen haben die Möglichkeit, andere User/-innen per Klick zu ihrer digitalen Freundesliste hinzuzufügen; stimmen die Angefragten zu, werden sie sich daraufhin wechselseitig als Freunde/Bekannte/Kontakte (die Bezeichnung variiert je nach SNS) angezeigt. Diese Profile und Beziehungslisten sind meistens sowohl für die jeweiligen Profilinhaber als auch für andere User/-innen sichtbar.6 Auf Social Networking Sites steht eine Vielzahl von Anwendungen zur Verfügung, die einzeln oder in anderen Zusammenhängen auch unter den Sammelbegriff »Social Software«7 fallen. Gemeint sind hiermit Blogs, E-Mail-Anwendungen, Instant Messaging, digitale Pinnwände, Statusanzeigen und Online-Photoalben, mittels derer User/-innen im Netz sozial interagieren können. Auf Seiten wie StudiVZ, SchülerVZ und Facebook haben Jugendliche die Möglichkeit, neben Profi lbildern, die als eine Art Ausweisbild fungieren, online Photo- bzw. Bilderalben zu erstellen und damit anderen User/-n/-innen, d.h. ihren Freund/-en/-innen und sonstigen 4. Vgl. www.mpfs.de/index.php?id=117 (5. Juni 2009). 5. Vgl. danah boyd/Nicole B. Ellison: »Social Network Sites. Definition, History, and Scholarship«, in: Journal of Computer-Mediated Communication 13 (1), Artikel 11 (2007), http://jcmc.indiana.edu/vol13/issue1/boyd.ellison.html (5. Juni 2009). 6. Vgl. danah boyd: Taken Out of Context. American Teen Sociality in Networked Publics. Dissertation University of California-Berkeley, School of Information 2007, www.danah.org/papers/TakenOutOfContext.pdf (5. Juni 2009), S. 94. 7. Vgl. danah boyd: »The Significance of Social Software«, in: Thomas N. Burg/Jan Schmidt (Hg.), BlogTalks Reloaded: Social Software Research & Cases, Norderstedt 2007, www.danah.org/papers/BlogTalksReloaded.pdf (5. Juni 2009), S. 15-30.
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Betrachter/-n/-innen, Einblicke in ihr Leben zu gewähren. Über das bloße Zeigen der Bilder hinaus können diese einzeln oder als Album von den Bildproduzent/-en/-innen mit einem Titel versehen werden und in Form einer Beschreibung den Betrachter/-n/-innen näher erläutert werden. Darüber hinaus besteht auf den meisten Social Networking Sites die Gelegenheit, durch Kommentare, die direkt unter den Bildern angezeigt werden, unmittelbar eine Rückmeldung oder Anmerkung zu verfassen und damit eine Art Bilddiskussion zu entfachen. Mit dem Aufkommen digitaler, online geführter Photoalben geht eine Veränderung einher: weg vom analogen Familienphotoalbum, in welches ausgewählte Photographien liebevoll eingeklebt und damit zu einem starren Repräsentations- und Erinnerungsobjekt wurden, hin zu einem intermedial8 inszenierten Kommunikationsgegenstand, der sich durch seine ständige Überarbeitung und die über ihn laufenden Diskurse als dynamisch auszeichnet. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene nutzen diese Plattformen, um mit Freunden und Bekannten in einen Dialog treten zu können. Eine weitere wichtige Funktion stellt das so genannte Verlinken oder »taggen« dar. Durch Verlinkungen können teilweise sowohl die Produzent/-en/-innen als auch die Rezipient/-en/-innen der einzelnen Bilder, sofern sie ein eigenes Profi l besitzen, ihren Namen auf einem Bild anbringen, wodurch ein direkter Link zu ihrem eigenen Profi l hergestellt wird. Vor allem unter den jüngsten User/-n/-innen von SchülerVZ und StudiVZ erfreut sich diese Praxis großer Beliebtheit.9
Social Networking Sites als Werkzeug zur Identitätsarbeit Die Herausbildung einer eigenen kohärenten Identität ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen während der Adoleszenz.10 Mit 8. Der Terminus »intermedial« wird hier gemäß Rajewsky als medienüberschreitendes Phänomen verstanden, das auf unterschiedliche Weise die Grenzen zwischen Medien überwindet. Hier sind dies Photographien, die von User/ -innen online gestellt werden. Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002, S. 12. 9. Vgl. www.SchülerVZ.de 10. Vgl. Heinz Abels: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 278ff.
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Identität respektive Identitätsarbeit ist hier eine Überbrückungsleistung gemeint, mit deren Hilfe Alltagserfahrungen verarbeitet werden, d.h. Identität wird »als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient«,11 begriffen. Während der Adoleszenz als Phase der Identitätssuche sind es vor allem Fragen wie »wer bin ich?« und »was macht mich aus?«,12 welche die Jugendlichen zunehmend beschäftigen. Die Suche nach der eigenen Identität muss dabei doppelt bewältigt werden: Zum einen ist die individuelle Identität von Relevanz, also welche Eigenschaften, Erfahrungen und Einstellungen die einzelnen Individuen letztlich voneinander unterscheiden. Zum anderen stellt sich die Frage nach der sozialen Identität, d.h. die Identifi kation mit Bezugsgruppen und sozialen Kategorien, beispielsweise Berufsgruppen und Geschlechtszugehörigkeit.13 Die Identitätssuche ist jedoch bei Jugendlichen nicht zwangsläufig ein bewusster Prozess. Vielmehr tritt sie durch Experimentieren mit verschiedenen Stilen, durch das Austesten von Identifi kationsmodellen, beispielsweise durch die Annäherung an eine Jugendkultur, oder durch das Nachahmen von Vorbildern in Erscheinung.14 Social Networking Sites mit ihren Möglichkeiten der Selbstcharakterisierung und -visualisierung sind für diese Aufgaben eine hervorragende Plattform. Von besonderem Interesse sind dabei die Photographien, die von den Jugendlichen selbst online gestellt werden. Allein auf Facebook werden jeden Monat mehr als 850 Millionen Bilder von den User/-n/-innen hochgeladen.15 Betrachtet man die Photoalben der Jugendlichen auf ihren OnlineProfi len, so ist zu vermuten, dass sie dort versuchen, durch ihre visuelle Selbstdarstellung Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen zu finden und entsprechendes Face-work16 zu betreiben. 11. Heiner Keupp/Thomas Ahbe/Wolfgang Gmür: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg: Rowohlt 2008, S. 60. 12. Vgl. Erik H. Erikson: Einsicht und Verantwortung. Die Rolle des Ethischen in der Psychoanalyse, Frankfurt a.M.: Fischer 1971, S. 77. 13. Vgl. Bernhard Schäfers/Albert Scherr: Jugendsoziologie. Einführung in Grundlagen und Theorien, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 91. 14. Vgl. ebd., S. 92. 15. Vgl. http://blog.facebook.com/blog.php?post=87157517130 (5. Juni 2009). 16. Erving Goffman: »Techniken der Imagepflege«, in: ders., Interaktions-
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In diesem Text soll gezeigt werden, welche Rolle die Visualisierung des eigenen Lebens auf Social Networking Sites als Teil der adoleszenten Identitätskonstruktion spielt. Neben »wer bin ich?« steht hier vor allem die Frage »wie präsentiere ich mich?« im Zentrum der Analyse. Dabei wird Selbstrepräsentation nicht als spontanes Ausdrucksverhalten, sondern im Habermas’schen Sinne als zuschauerbezogene Eindruckssteuerung17 verstanden. Social Networking Sites rücken damit als Ort der Selbstinszenierung in den Blickpunkt.
Online-Photoalben als Medium der selbstgesteuer ten Identitätsarbeit Die Möglichkeit, eigene Photos dem näheren und ferneren Bekanntenkreis zugänglich zu machen, eröffnet den Nutzer/-n/-innen von Social Networking Sites ein Forum zur biographischen Selbstdeutung. Hier haben sie die Chance, sich selbst auszudrücken und persönlich relevante Bildinhalte innerhalb ihrer jeweiligen Peer Group18 zu kommunizieren. Zur entsprechenden Wahrnehmung und Interpretation können über die reine Albenproduktion und Bilddarstellung hinaus wie bereits erwähnt Beschreibungen des Photoalbums, d.h. des Gezeigten, sowie einzelne Kommentare für jedes Bild verfasst werden. Dieses Vorgehen verstärkt die eigene Deutungshoheit über Inhalte und Ereignisse und reduziert gleichzeitig die Gefahr einer Fehlinterpretation durch die Rezipienten. Das Image bzw. das Bild von sich selbst, welches man nach außen vermitteln möchte, kann so noch gezielter gesteuert werden. Möglichkeiten der Kontrolle ergeben sich außerdem durch Einstellungen und Sperrungen. Wer darf welches Bild sehen? Wer darf wen auf welchen Photos verlinken? Damit kann die eigene Identität zumindest ein Stück weit geschützt werden, es wird der Eindruck eines klar umrissenen Raumes und damit einer abgeschirmten Privatsphäre erzeugt. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Diskussion in Wissenschaft und Medien jedoch, wie umstritten insbesondere die visuelle Selbstpräsentation auf Online-Plattformen ist und analysiert, wo die Risiken19 liegen. Auf die Aspekte der Entrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 3. Aufl age, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 10-53. 17. Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, Bd. 1, S. 128. 18. Vgl. Axel Schmidt: Doing peer-group. Die interaktive Konstitution jugendlicher Gruppenpraxis, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. 19. Vgl. Klaus Neumann-Braun/Axel Schmidt: »Unterhaltender Hass und ag-
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grenzung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie die daraus resultierenden Gefahren soll hier jedoch nicht eingegangen werden. Die auf Online-Communities gezeigten Photographien stellen aufgrund der Vielzahl an Schnappschüssen, die mit der Entwicklung der digitalen Photo-Technik erst ermöglicht wurde, meist nur eine kleine Auswahl an Bildern dar. Weiter ist zu beachten, dass nicht alles, was sich im täglichen Leben ereignet, photographiert wird und nicht alles, was photographiert wurde, später tatsächlich online gestellt wird. Damit kommt es letztendlich zu einer doppelten Selektion seitens der User/-innen. Weiterer Gestaltungsspielraum ergibt sich durch das Erstellen der Bildabfolge und darüber hinaus können durch das Beschriften und Kommentieren selbst Bedeutungszuweisungen vorgenommen werden. Was den Betrachter/ -n/-innen zuteil wird, ist somit eine bewusst getroffene Bildauswahl mit dramaturgischem Auf bau und vorgegebenen Interpretationshinweisen in Form von Beschreibungen und Bildüberschriften. Daraus schlussfolgernd kann das Produzieren und Präsentieren von persönlich relevantem Bildmaterial als Identitätsarbeit bzw. »impression management«20 angesehen werden. Im Folgenden sollen nun die Grundthemen der Online-Photoalben sowie deren zentrale Funktionen für die Identitätsarbeit ihrer Produzent/ -en/-innen auf der ausgewählten deutschen Social Networking Site SchülerVZ analysiert werden.
Selbstbeschreibung/-veror tung : Ich (und meine Freunde) Die für Jugendliche zentrale Frage nach dem »Wer bin ich?« spiegelt sich in den photographischen Statements, die sie auf Social Networking Sites abgeben, deutlich wider. Insbesondere bei SchülerVZ-User/-n/-innen ist der Anteil an Photoalben, die sich inhaltlich primär mit dem Abbild ihrer Besitzer auseinandersetzen, entsprechend hoch. Sie zeigen eine überwiegend homogene Titelauswahl im Spektrum von »ich«, »me«, »immer ich« oder »ich halt :D«, die den potenziellen Betrachter in eindeutiger Weise auf den zu erwartenden Inhalt hinweisen. Entsprechend sind die Aufnahmen gestaltet. Im Zentrum der Photos stehen folglich die Profi lbesitzer/ -innen, die sich in unterschiedlichen Posen an unterschiedlichen Orten, gressiver Humor in Web und Fernsehen«, in: Stephan Uhlig (Hg.), Was ist Hass? Phänomenologische, philosophische und sozialwissenschaftliche Studien, Berlin: Parodos 2008, S. 57-89. 20. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater, München: Piper 1983.
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oft jedoch zu Hause vor einem Spiegel, photographiert haben. Meist sind die Bilder mit Handy- oder PC-Kameras als Selbstportraits aufgenommen und zeigen die Person innerhalb ihres privaten Umfelds. Entgegen der technischen Intention, wonach Verlinkungen als Identitätsmarkierungen fungieren, werden auf diesen Bildern häufig zahlreiche Freunde verlinkt. Im ersten Moment ist dies ein erstaunliches Vorgehen, da die Verlinkungsfunktion ursprünglich dazu vorgesehen war, Photos, auf denen man selbst abgebildet war, mit dem eigenen Profi l zu verknüpfen. Die angesprochenen Photographien zeigen jedoch meist nur den Besitzer des Profi ls, der aber alle seine Freunde auf das eigene Bild verlinkt. Betrachtet man sowohl die Bilder als auch die Kommentare zu diesen, so wird ersichtlich, dass dies gewissermaßen einer Aufforderung, die gezeigten Bilder im Gegenzug zu kommentieren, entspricht. In den Kommentaren äußern sich die verlinkten Freunde dann meist positiv und geben eine wohlwollende Bewertung zum Bild ab, wodurch der Profi lbesitzer ein direktes Feedback zu seinem Auftritt erhält. Diese Rückmeldungen können zum Erhalt eines positiven Selbstbildes und zur Sicherung der eigenen Position innerhalb der Peer Group beitragen, wie die untenstehenden Beispiel-Kommentare aus dem Album eines ca. 14-jährigen SchülerVZ-Users illustrieren.21 Das Photo zeigt ihn vor dem Spiegel im Badezimmer posierend, während er sich selbst photographiert. »halloo?? das is voll hamma … fast noch toller als das mit der geilen brille;)« »das is gail …« »bizz voll HAMMA !!!« »das pic is sau G@il !!« »hehe sauu qeeiles piic :) wo bisse da? sieht iwie voll hamma aus :) ld kussi :)) :-*« »schönes piic =)« »biist echt hübsch =]«22
Das gezeigte Beispiel enthält sowohl Kommentare von weiblichen als auch männlichen Usern, die der gezeigten Person ihre soziale Anerkennung entgegenbringen – das »in«-Sein zuerkennen – und dabei ihre positive Wahrnehmung des Photos artikulieren. Aus dem Gesamtkontext des Profi ls des Users J. wird ersichtlich, dass ihm insbesondere die wohlwollenden Kommentare der weiblichen Nutzerinnen viel bedeuten. In seinem Fall
21. Aus Gründen des Datenschutzes werden die Namen der User im Folgenden nicht vollständig genannt. 22. Vgl. www.SchülerVZ.de (5. Juni 2009).
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nimmt die Geschlechterdimension über den allgemeinen Wunsch nach einem positiven Feedback hinaus einen hohen Stellenwert ein. Vergleichbare Kommentare finden sich unter vielen Photos auf SchülerVZ. Die weit verbreitete Produktion dieser Selbstportraits dokumentiert letztlich das Bedürfnis der Jugendlichen, der eigenen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen und hierfür innerhalb eines Peer-Review-Systems positive Rückmeldungen zu erhalten. Durch die kontinuierliche photographische Dokumentation des eigenen Aussehens als eine Art Längsschnittprojekt wird die eigene Entwicklung nachvollziehbar. Gleichzeitig kann so das momentane Selbstbild nach außen kommuniziert werden. Dies geht dabei häufig mit der impliziten Frage einher: »Wie fi ndet ihr mich?« Identitätssuche erfolgt daher also immer auch in Aushandlung mit der Außenwelt, der Peer Group. Wie in einer Art Testlauf werden Bilder des Selbst online gestellt, von den Freunden kommentiert und beurteilt. Die nachfolgende Auseinandersetzung des Users mit den erhaltenen Kommentaren wird daraufhin je nach Ergebnis als Bestätigung des Selbstbildes, d.h. der eigenen Identität, verarbeitet oder zum Anlass einer Revidierung dessen genommen. Es erfolgt eine Aushandlung der Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbild. Teilweise werden neben den Selbstbildern noch die engsten Freunde in diese Photoalben integriert und als wichtige Bezugspunkte beschrieben. Durch diese thematische Ausrichtung der Bilder dokumentieren sich außerdem der Ablösungsprozess der Jugendlichen von ihrer Herkunftsfamilie sowie der zunehmende Einfluss der Peer Group und enger Freunde in ihrem Leben. Im Zentrum des Gezeigten stehen nicht Eltern und Familie, sondern die Jugendlichen selbst und ihre jeweiligen Freunde.
Inszenierungen des Alltäglichen (Alltag) Die Darstellung von Alltäglichem nimmt ebenfalls großen Raum in den Photoalben auf Social Networking Sites ein. Nach dem Verständnis von Norbert Elias soll Alltag hier als »Ereignisbereich des täglichen Lebens«23 sowie des Privatlebens verstanden werden und steht damit im Gegensatz zum Fest- bzw. Feiertag, der sich nach Elias durch das Außergewöhnliche, Nicht-Routinisierte und Öffentliche auszeichnet.24 Zu sehen sind Szenen 23. Norbert Elias: »Zum Begriff des Alltags«, in: Kurt Hammerich/Michael Klein (Hg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Materialien zur Soziologie des Alltags, Sonderheft 20, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978, S. 26. 24. Ebd., S. 26.
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aus dem häuslichen Umfeld der Jugendlichen, etwa das gemeinsame Abhängen mit Freunden im eigenen Zimmer oder Aktivitäten im Sportverein. Mit der Darstellung dieser Inhalte vor einem (teil-)öffentlichen Publikum werden die Aktivitäten aus ihrer sonstigen Bedeutungslosigkeit herausgehoben und erhalten eine andere Wirkung. Hiermit geben die Adoleszenten ihrer Peer Group einen Einblick in ihr »wahres« Leben, zumindest in den Teil davon, den sie nach außen kommunizieren möchten. Derartige Bildinhalte können als Strategie der Authentifizierung verstanden werden. Gleichzeitig wird die Deutungshoheit über das eigene Leben erlangt, das durch seine Abbildung das User-Profi l in seiner Funktion der Selbstcharakterisierung visuell ergänzt. Das Zeigen eigener alltäglicher Lebensumstände ist somit ebenso Artikulationsmittel wie Werkzeug der adoleszenten Identitätssuche.
Vergegenwär tigung des Besonderen (Extension des Alltags) Neben den Bildern des Alltäglichen stehen besondere Erlebnisse im Fokus der Photodokumentationen. Diese markieren von den Jugendlichen als besonders wahrgenommene Ereignisse und haben oft eine konstituierende Funktion innerhalb der jeweiligen Peer Group. Zentrale Themen sind Klassenfahrten, Geburtstagspartys und Urlaubsreisen sowie gemeinsam mit Freunden besuchte Partys oder große Events, etwa Sportereignisse. Der Titel des Albums spielt auch hier eine zentrale Rolle und ermöglicht den Betrachter/-n/-innen bereits eine erste Rahmung dessen, was sie gleich zu sehen bekommen. Die gewählten Überschriften zeichnen sich dabei durch ihre kurze, prägnante Formulierung aus, die bereits das zentrale Ereignis bzw. den Ort benennt. Gängige Albumtitel sind die Destination, beispielsweise »Hogmanay in Glasgow«, »Flugwoche_Lüsen_08« bzw. »Tauchkurs auf Lanzarote« oder die direkte Benennung des Ereignisses wie etwa »Schwoof August 08«, »xMaiin verrüQTer B-DaYyYyYyYyxX)X) X)« oder schlicht »Klassenfahrt«. Inhaltlich und im Auf bau ähneln diese digitalen Photoalben am stärksten ihren analogen Vorgängern. Im Vordergrund steht die Dokumentation des jeweiligen Ereignisses, das außerhalb des gewohnten Alltags stattfindet. Hierfür wird je nach Absicht der besondere Ort oder das spezielle Ereignis photographisch dokumentiert. Vergleichbar mit jenen in klassischen Photoalben sind auch die jeweiligen Bildunterschriften, die neben dem Albumtitel dem Betrachter eine weitere Chance der Rahmung ermöglichen. Neu hingegen ist die Gelegenheit, die photographischen Dokumente einem potenziell breiteren Publikum zugänglich zu machen. 229
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Wurden Urlaubsbilder noch vor wenigen Jahren vor allem im näheren Bekanntenkreis gezeigt, so ist es nun über Social Networking Sites für eine wesentlich größere Anzahl an Interessierten möglich, entsprechende Photographien anzuschauen, gegebenenfalls zu kommentieren und weiterzuverwenden. Aus Sicht der Albenproduzent/-en/-innen besteht damit die Möglichkeit einer Art Beweisführung der eigenen Erlebnisse, die durch das (teil-)öffentliche Zeigen für andere erst nachvollziehbar und belegbar werden. Gleichzeitig haben die auf den Photos meist mitabgebildeten Freunde und Bekannten dadurch die Gelegenheit, die Erlebnisse noch einmal gemeinsam verarbeiten zu können. Die Besitzerin des Photoalbums »xMaiiN verrüQTer B-DaYyYyYyYyxX)X)X)« hat in der Beschreibung des Albums folgende Botschaft an ihre Freunde und Partygäste hinterlassen: »war einfach nur ein hamma tag mit euch! ihr seid mir alle voll wichtig.:) bin froh, dass ich euch habe … ihr seid einfach nur die besten freunde der welt ^^ dankee wirklichhhhh für allessssssss«25
Es wird deutlich, dass sie davon ausgeht, dass die Freunde, die auf ihrer Geburtstagsparty zu Gast waren, sich das von ihr erstellte Photoalbum mit insgesamt 23 Bildern ansehen werden. Um diesen Effekt zu verstärken, hat sie die abgebildeten Personen, die alle ebenfalls ein Profil auf SchülerVZ haben, auf den Bildern verlinkt. Im Gegenzug bedanken diese sich umgehend für das schöne Erlebnis und darüber hinaus für den gesetzten Link, der sie mit dieser Party in Verbindung bringt und damit als Teil des Freundeskreises zusätzlich ausweist: »war hamma tag gel selina heheh thx fürs verlinke«26
Weitere ähnliche Kommentare finden sich unter beinahe allen anderen Photos, beispielsweise zu einem Bild, auf welchem die Partygesellschaft gerade beim gemeinsamen Essen versammelt ist: »mhmmm …. das war lecker :):)«. 27 Die Darstellung besonderer Ereignisse und Erlebnisse in Photoalben auf Social Networking Sites erfüllt für Jugendliche somit mehrere Zwecke. Nach außen können sie so ihre Erlebnisse darstellen und ihr digitales Umfeld auf dem Laufenden halten, innerhalb ihrer Peer Group kann so die Er-
25. Vgl. www.SchülerVZ.de (5. Juni 2009). 26. Vgl. ebd. 27. Vgl. ebd.
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innerung an wichtige Momente erhalten und in den Kommentaren immer wieder neu ausgehandelt werden.
Einflüsse des Marktes (Medien und Marken) Bereits seit frühester Kindheit spielten Medien und Marken im Leben von heutigen Adoleszenten eine große Rolle.28 Neben den realen Bezugspersonen sind es mediale Vorbilder, vor allem Stars aus Sport, Musik, Film und TV, die Jugendlichen entweder durch Affirmation oder durch Distanzierung als Identifi kations- und Distinktionsangebote dienen. War noch bis vor ein paar Jahren entsprechendes Fan-Verhalten in Form von Bravo-Starschnitten auf das Kinderzimmer begrenzt, so zieren die entsprechenden Konterfeis von Tokio Hotel bis High School Musical inzwischen die Profi le und Photoalben auf SchülerVZ. In den Profi lbildern zeigt sich die Bedeutung der medialen Vorbilder für das mimetische Handeln29 der Jugendlichen: Beispielhaft findet sich dies in den wiederkehrenden Posen der Mädchen, die den Betrachter stark an Szenen aus Castingshows wie Germany’s Next Topmodel oder Auftritte von Paris Hilton erinnern, während bei den männlichen Usern eher posenhafte Annäherungen an Musikstars wie den Rapper Sido etc. erkennbar sind. Die Bedeutung von (Medien-)Marken und Produkten als Imagefolien wird ebenfalls in den weiteren Bilderalben ersichtlich. Neben den obligatorischen Profi langaben zu Lieblingsmusik, Lieblingsfilm etc. werden komplette Photoalben zu Lieblingsbands, Filmstars und Sportlern gestaltet. Neben Alben zu Stars und Sternchen stehen bei den Adoleszenten Marken und konkrete Produkte im Fokus der Aufmerksamkeit, deren Image die eigene Identitätssuche unterstützt. Dies sind vor allem »Klamottenlabels«, Turnschuhmarken und technische Geräte von Handy bis iPod. Illustrieren lässt sich der Aushandlungsprozess um die Akzeptanz des eigenen Modestils anhand eines User-Albums auf SchülerVZ. In einem Photoalbum mit dem Titel »Neue Sachen« hat ein etwa 14-jähriger User Bilder von Kleidungsstücken online gestellt, die er offensichtlich erst kurz zuvor erworben hat. Zu sehen sind drei T-Shirts, zwei Hosen, ein Kapuzen28. Vgl. Ingrid Paus-Hasebrink/Klaus Neumann-Braun/Uwe Hasebrink/Stefan Aufenanger: Medienkindheit – Markenkindheit. Untersuchung zur multimedialen Verwertung von Markenzeichen für Kinder. Schriftenreihe der Landesanstalt für privaten Rundfunk (LpR) Hessen, Band 18, München: KoPäd 2004. 29. Vgl. Gunther Gebauer/Christoph Wulf: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Hamburg: Rowohlt 1998, S. 209ff.
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pullover und ein Paar Schuhe, insgesamt sieben Photographien. Die jeweiligen Kleidungsstücke wurden auf dem Laminatboden des Zimmers ausgebreitet und sind in Nahaufnahme photographiert worden, so dass auch die jeweiligen Markenlogos für den Betrachter identifizierbar sind. Um den Kommentarfluss zusätzlich anzuregen, hat der Profi lbesitzer selbst einen Kommentar in Form einer Aufforderung zur Anschlusskommunikation unter seine Bilder geschrieben. Bei den Schuhen beispielsweise, die eindeutig der Marke Vans zugeordnet werden können, steht »Geile schuhe oder ???«.30 In den vier folgenden Kommentaren analysieren darauf hin seine Freund/-e/-innen den Erwerb und Style der Schuhe. Ähnlich verhält es sich bei den anderen Photos. Das Hinzufügen von Starbildern und Produkt- bzw. Markennamen ist somit Teil der Profi lgestaltung von Adoleszenten auf Social Networking Sites. Hierdurch können sie sich (Konsum-)Gruppen zuordnen bzw. von anderen abgrenzen und damit ihre Identitätsarbeit vorantreiben. Die Verortung innerhalb der Peer Group anhand von Marken und Produkten ist allerdings nichts SNS-spezifisch Neues, sondern erhält durch die erweiterten Kommunikationsfelder lediglich eine neue Qualität. Gleichgesinnten wird die Kontaktaufnahme erleichtert, die Aushandlung findet nicht mehr nur in der unmittelbaren Umgebung statt, sondern vor einem, zumindest theoretisch, globalen Publikum, praktisch jedoch nur Freundeskreis.
Fazit In Form ihres Handys haben Jugendliche heute fast immer eine Digitalkamera zur Hand. Damit ist es für sie ein Leichtes, sowohl Alltägliches als auch Außergewöhnliches photographisch festzuhalten und dank konvergenter Medientechnik in kürzester Zeit online zu stellen. Mit dem Aufkommen von Social Networking Sites haben sie außerdem die entsprechende Plattform, um ihre Aufnahmen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Von dieser Möglichkeit machen sie vermehrt Gebrauch. Identitätsarbeit findet im Rahmen der hier dokumentierten Beobachtungen in zunehmendem Maße visuell und online statt. Durch diese Auseinandersetzung mit sich selbst in Form von photographischen Portraits, dem eigenen Alltag, dem sozialen Umfeld sowie den eigenen Konsumvorlieben, dokumentiert mit dem Handy, präsentiert über das eigene SNS-Profi l, praktizieren Adoleszente intermediale Formen des Identitäts- und Beziehungsmanagements.31 In ihren Photoalben versuchen 30. Vgl. www.SchülerVZ.de (5. Juni 2009). 31. Vgl. Jan-Hinrik Schmidt/Ingrid Paus-Hasebrink/Uwe Hasebrink: Heran-
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die User/-innen zu zeigen, was ihr Leben ausmacht und was sie als Individuum definiert. Oberste Maxime dabei ist, möglichst authentisch zu wirken. Hierfür gehen Jugendliche meistens strategisch und gezielt vor, unterliegen gleichzeitig jedoch den Einflüssen ihrer Peer Group. D.h. sie präsentieren sich ihren Freunden und wollen Feedback und Anerkennung von diesen erhalten, etwa in Form von Verlinkungen und Kommentaren. Zugleich machen sich die starken Einflüsse des Marktes bemerkbar. Mit dem Zeigen von einzelnen Produkten und Markenlogos ordnen sich die Jugendlichen selbst Images zu und verorten sich damit innerhalb ihrer Peer Groups. Der Umfang, in dem Online-Communities von der Altersgruppe der 12- bis 19-Jährigen genutzt werden, zeigt wiederum, welchen Stellenwert diese inzwischen einnehmen. Auf Social Networking Sites spiegeln sich Praktiken des adoleszenten Identitäts- und Beziehungsmanagements wider und dokumentieren die Bedeutung, die die visuelle Selbstrepräsentation im Leben von heutigen Jugendlichen einnimmt. Gestaltungsvorlieben und Kommunikationsverhalten der Jugendlichen in Bezug auf OnlinePhotoalben erinnern an die Idee der Doku-Soap, welche hier jedoch nicht über laufende, sondern über stehende Bilder selbst inszeniert wird.
Bibliographie Abels, Heinz: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. boyd, danah/Ellison, Nicole B.: Social Network Sites. Definition, History, and Scholarship. Journal of Computer-Mediated Communication 13 (1), Artikel 11 (2007), http://jcmc.indiana.edu/vol13/issue1/boyd.ellison. html (5. Juni 2009). boyd, danah: »The Significance of Social Software«, in: Thomas N. Burg/ Jan Schmidt (Hg.), BlogTalks Reloaded: Social Software Research & Cases, Norderstedt 2007, www.danah.org/papers/BlogTalksReloaded.pdf (5. Juni 2009), S. 15-30. boyd, danah: Taken Out of Context. American Teen Sociality in Networked Publics, Dissertation University of California-Berkeley: School of Inforwachsen mit dem Social Web. Kurzfassung des Endberichts für die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM; 2009), www.hans-bredow-institut.de/web fm_send/367 (5. Juni 2009).
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Grenzen passieren : Heath Buntings »BorderXing Guide« im Kontext von Überlegungen zu Zeit, Politik, Medien und Per formanz Andy Blättler
1. Heath Buntings vielschichtiges Projekt »BorderXing Guide« (2001-2011), das wahlweise als Online-Datenbank, Manual, Langzeitarbeit, Archiv oder Ausstellungsplattform gelesen werden kann, präsentiert eine politischsoziale Unterwanderung des konstitutionellen Raumes Europas.1 Innerhalb eines Jahres (2001-2002) passierte Bunting unter Partizipation wechselnder Partner insgesamt 22 innereuropäische Grenzen und benutzte dabei Wege, die früher Illegale oder Papierlose wählten.2 Die in diesen 1. Vgl. www.irational.org/heath/borderxing/ (1. August 2009). Im Rahmen einer großen net.art-Ausstellung wurde »BorderXing Guide« im Juli 2002 auch auf der Webpage der Tate aufgeschaltet. Vgl. www.tate.org.uk/intermediaart/ borderxing.shtm (1. August 2009). Damals übrigens noch unter www.tate.org. uk/netart/borderxinguide.htm (heute nicht mehr existent) zu erreichen. Damit zeigt sich auch museal-politisch ein Trend weg von der strikt disziplinären Behandlung der Medien als Einzelmedien hin zur Untersuchung ihrer intermedialen Bedingungen und Verflechtungen. Etwas, was seit der Zäsur des digitalen Computers auch alle anderen Bereiche von Wissenschaft und Forschung in Richtung von mehr Interdisziplinarität drängt. 2. Abgeschlossen war und ist das Projekt mit diesen 22 Grenzübertritten freilich noch nicht: 2007 und 2008 hat Heath Bunting drei weitere Grenzen pas-
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Explorationen situativ gesammelten Informationen dokumentieren Strategien, Methoden und Routen, dank denen illegale Grenzüberschreitungen möglichst gefahrlos – und das heißt gespenstisch spurlos, ohne jede Entdeckung durch Polizei, Grenzschutz oder Zoll – durchgeführt werden können. Wiedergegeben wird in den Protokollen ein seltsam unaufgeregtes Bild dieser Grenz-Zonen. Unspektakuläre Impressionen dokumentieren unspektakuläre Orte und zeichnen deren terrains vagues auf lakonische Weise als unbestimmte und instabile Übergangsräume, als Passagen, als Räume des Unterwegs-Seins auf. Unter anderem finden sich hier visuelle Eindrücke einer Examination für einen von Anfang an zum Scheitern verurteilten Versuch, von Frankreich nach England durch den Tunnel des Eurostars zu gelangen, eines hochwinterlichen Grenzübertrittes zwischen Dänemark und Schweden über gefrorenes Eis, eines gemütlichen Spaziergangs am Strand zwischen Belgien und Holland (aufgrund der großen Gefahr, entdeckt zu werden, für einen Sans-Papier jedoch sehr heikel), einer völlig unproblematischen Passage zwischen Monaco und Frankreich innerhalb eines öffentlichen Parkings und von vielen Wanderungen quer durchs Gebirge, durch Wälder und Felder und über Flüsse – von Portugal nach Spanien nach Andorra nach Frankreich, von der Schweiz nach Italien oder von Ungarn nach Österreich. Ihrer idyllischen Ereignisarmut zum Trotz, die sich eben auch gerade in der banalen Harmlosigkeit der meisten Schnappschüsse manifestiert, stehen diese Traversen jedoch unter einem bestimmten Druck, der sich aus der explizit gesellschaftspolitischen Kontextualisierung und Zielrichtung dieses Projekts durch Heath Bunting ergibt. Denn implizit mitthematisiert sind in »BorderXing Guide« auch die migrationspolitischen Auswirkungen des Schengener Abkommens auf Aktivisten, Asylsucher, Menschen ohne Visa oder Papierlose. Besondere Augenfälligkeit besitzt dabei das Momentum der Grenze (und damit zugleich auch immer das Andere der Grenze), die nach einem Wort von Étienne Balibar prinzipiell von polysemer Natur ist.3 Hier kommt sie notabene im Titel »BorderXing Guide« ja selbst schon auf doppelte Weise, als anwesend Abwesende vor: Einmal semantisch als englischsprachiger Ausdruck »Border«, einmal graphisch als X (immer lesbar auch als ein chi), das als Kreuz, Kreuzung oder Verkreuzung situativ jeweils potentielle Übergänge, Über-Setzungen und Passagen an-
siert, 21 zusätzliche Grenzgänge sind als geplante markiert, bislang allerdings noch nicht durchgeführt worden. 3. Vgl. Étienne Balibar: »What is a border?«, in: ders., Politics and the Other Scene, London, New York: Verso 2002, S. 81.
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Grenzen passieren: Heath Buntings »BorderXing Guide«
spricht und in seiner vertrauten Funktion als leerer Platzhalter gleichzeitig auch Unaussprechbares oder Unauszusprechendes mitschwingen lässt. 4 In diesem Essay soll es nun darum gehen, anhand von »BorderXing Guide« dem Phänomen der Grenze als einer performativen Manifestation der wechselseitig hybriden und intermedialen Friktion von virtueller und physisch-territorialer Welt nachzuspüren. Leiten lasse ich mich von der Frage, wie die Grenze bzw. der durch sie markierte Zwischenraum zwischen politischen, intermedialen und zeitlichen Implikationen oszillierend jeweils Bilder, Phantasmen und Darstellungen stiftet und gibt. These ist: Grenzen figurieren als Ereignis-Maschinen, die – sich selbst immer wieder unterbrechend – ihre jeweiligen Setzungen aussetzen und versetzen und auf diese Weise Übersetzungen möglich machen. Die jeweiligen Übersetzungen können als Darstellungen von Zeit und als Zeit der Darstellung betrachtet werden. Intermedialität, so eine Anschlussthese, wird letztlich von dort gezeigt, wo sie sich entzieht, vom explizit politischen Moment der Grenze und also auch des Ereignisses her; in der subversiven, andauernden Ent-Eignung des Eigenen. Den Hintergrund zu den vorliegenden Überlegungen bildet ein Ereignisdiskurs, wie er sich in den Schriften von Jean-François Lyotard oder Jacques Derrida findet.
2. Angesprochen ist hier also ein intermedialer Themenkomplex der Grenze im Zusammenhang von Politik, Wahrnehmung, Darstellung und Zeit. Kants Konzept der ästhetischen Erhabenheit, in welchem sich etwas andeutet, das sich jeder eigenmächtigen Kontrolle durch ein sich selbst setzendes Bewusstsein entzieht, schreibt Jean-François Lyotard als eine Frage nach dem Ereignis und seiner Darstellbarkeit/Undarstellbarkeit fort. Eine Frage, die sich für ihn wesentlich als eine Fraglichkeit vor dem Ereignis als solchem, als »Abgrund einer ankommenden Zeit«,5 als eine Kluft oder ein Riss, darstellt. Diese Kluft beschreibt Derrida treffend in seinem Neologismus der différance gegen den Gedanken der Präsenz und damit gegen jede Idee von Einheit und Identität als eine grundsätzlich offene und seinsgenerierende Kraft der Differenz, des Aufschubs, der Nachträglichkeit oder Nicht-Ursprünglichkeit. Etwas also, »was jeder Identität, aber auch jeder 4. Implizit sei hier auch an die Blanchot’sche Formel erinnert, an das »x ohne x«, das vor jedem Abschluss und jeder Abgeltung etwas zum Ausdruck bringen will, was zuvorkommt, teilt, ohne sich je aussprechen zu können. 5. Vgl. Jean-François Lyotard: »Zeit heute«, in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien: Passagen 1989, S. 134.
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für sich festgehaltenen Differenz voraus liegt: die ursprüngliche Prozessualität und ursprüngliche Differenzierung«.6 Und genau diese Kehre von einer ontologisch gefassten Identität hin zu einer performativ prozessierenden Nicht-Identität eines ständigen Unterwegs-Seins verortet Jean-Luc Nancy wahrnehmungshistorisch als eine aisthetische Verlagerung vom Bild zum Ein-Bilden: »Zwischen Renaissance und 19. Jahrhundert verlagerte sich das europäische Denken (die sich verwestlichende, sich als ›Bild‹ vorstellende Welt) vom Gemälde auf den Projektionsschirm, von der Repräsentation auf die Präsentation, von der Idee auf das Bild oder, noch genauer, von der Phantasie bzw. vom Phantasma auf die Einbildungskraft. Man könnte es auch anders sagen: von der Ontologie auf die Phänomenologie, vom Sein auf das Erscheinen also, von der Form auf die Formbildung oder von der Materie auf die Kraft, von der Idee auf die Anwendung; mit einem zusammenfassenden Ausdruck: von der Sicht auf das Sehen.«7
3. Es wird also um Grenzen und Grenzziehungen gehen. Um den Zug von Linien, die in ihrer Separierung eines Innen und eines Außen gründende und stiftende Konsequenz haben. Die in diesem Zug allerdings nicht in sich selbst zu existieren scheinen, gleichwohl aber eine Spannung zwischen dem, was sie vom anderen trennt, generieren und dabei eine Passage eröffnen. Und die in diesem Intervall, gezeichnet von der doppelten Logik eines Markierens und Passierens, ereignen und darstellen. Gerade zwei markante weltpolitische Ereignisse der letzten 20 Jahre haben gezeigt, wie sehr Überschreitungen von Grenzen ein gewichtiges und durchaus phantasmatisches Bezugsmoment für die Organisation und Strukturierung gesellschaftlicher Ordnungen und Gemeinschaften darstellen. Die Rede ist vom Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 – Fanal des Auf bruchs in die fröhlichen 1990er Jahre, die geprägt von George W. Bushs »New World Order«-Erzählung sowie Francis Fukuyamas Doktrin vom »Ende der Geschichte« und zugleich digital beschleunigt und global vernetzt dank des von Al Gore so betitelten »Datenhighways« im Advent des World Wide Web den endgültigen Sieg der liberalen Demo6. Vgl. Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003, S. 248. 7. Vgl. Jean-Luc Nancy: »Die Einbildungskraft hinter der Maske«, in: ders., Am Grund der Bilder, Berlin: Diaphanes 2006, S. 135-163, hier S. 135.
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kratie und damit der Utopie einer globalen Welt als Marktgemeinschaft verwirklicht sahen – sowie dem Fall der Twin Towers am 11. September 2001, Ausgangspunkt einer neuen Ära des Mauernschichtens – zwischen Israel und Westjordanland, um die Europäische Union herum oder an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Grenzen oder Grenzregimes medialisieren und stiften also »von den äußersten Demarkationen der Welt und des Staats bis tief hinein in die Ordnung der lebenden Natur und des Mikrokosmos Mensch«8 bestimmte Bilder von Welt und zementieren diese zumeist in simplen bipolaren In-/Out- oder Heimisch-/Fremd-Unterscheidungen. Für Europa, dessen Bild nach Jacques Derrida stets durch die Gestalt des westlichen Kaps, durch die »Gestalt der Spitze als Endzweck«9 bestimmt und kultiviert worden ist, Avantgarde in einem spekulativen wie kumulativen Sinne (deutlich wird das vielleicht schon am alten mythischen Bild von den Säulen des Herakles, die an der Meerenge von Gibraltar die Grenzen und damit das »Non plus ultra« der bewohnbaren Welt markierten),10 war in dieser Hinsicht das 1990 in den Erstunterzeichnerstaaten in Kraft getretene Schengener Abkommen prägend. Dank diesem Abkommen wurden – auch nach 1990 immer mehr – die Grenzen innerhalb Europas weitestgehend abgeschaff t, allerdings unter dem Vorbehalt einer konsequenten Verstärkung und Abschottung seiner Außengrenzen. Damit wurde ein gemeinsamer wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Raum geschaffen. Als Effekt davon erhielt das alte Mythologem vom »Bollwerk Europa«, dem von Fluten fremder Völker bedrohten Abendland, verstärkte mediale Präsenz: Wir erinnern uns vielleicht noch an die einfache Erzählung von der Masse, die sich auf einem »Sturm auf Europa« 11 befindet, wie sie flächendeckend von den meisten europäischen Medien Ende September 2005 vermittelt worden ist.
8. Angela Fischel/Horst Bredekamp/Matthias Brun/Gabriele Werner (Hg.): »Editorial«, in: dies., Grenzbilder. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 6,2, Berlin: Akademie Verlag 2009, S. 7/8, hier S. 7. 9. Vgl. Jacques Derrida: Das Andere Kap. Die vertagte Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 23. Derrida führt weiter aus: »Wenn Heidegger den Ort* [sic] bestimmt, erinnert er daran, dass dieses Wort im Althochdeutschen die Spitze des Speers bedeutet; alle Kräfte treffen in der Spitze zusammen, weil sie das Ende, die Grenze ist, an der sich die Kräfte sammeln.« Vgl. ebd. S. 23. Siehe auch Fußnote 20. 10. A. Fischel/H. Bredekamp/M. Brun/G. Werner (Hg.): »Editorial«, S. 7. 11. Vgl. Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2006, S. 35.
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4. An diesen mit der Globalisierung virulent gewordenen Status einer inneren Entgrenzung unter äußerer Grenzziehung (zugleich gedoppelt von einer globalen Entgrenzung unter gleichzeitigen nach innen sich neu auff ächernden Grenzziselierungen) mit all seinen migrationspolitischen Implikationen rührt Heath Bunting mit »BorderXing Guide«, seinem zwischen territorialer und virtueller Welt intermedial vermittelnden und sie gleichzeitig performierenden net.art-Projekt. Ganz in der Tradition konzeptueller Arbeiten der Spatial Practice, die seit den 1990er Jahren versuchen, Raum »als praktizierten Ort bedingter Unvorhersehbarkeit« 12 zu entwerfen, akkumuliert und exponiert er in seiner auf dem Web zugänglichen Datenbank ephemere Informationen zu diversen Grenzüberschreitungen, die grundsätzlich jede Vorstellung einer geschlossenen und als authentisch konnotierten Präsenz attackieren. Formalisiert sind die minutiösen Verzeichnungen der BorderXings nach einem immer gleich bleibenden Kriterienkatalog: Unter dem Titel, der Start- und Zielland mit jeweiligem Ort explizit als Passage fasst (z.B. BorderXing between Hungary [Kormend] and Austria [Passing]), folgen Datum, eine Bewertung der Schwierigkeitsstufe (Grad von 1-5), Typ der Grenze (das BorderXing-Symbol in verschiedenen Farben: grün für Wald, blau für Wasser, schwarz für Tunnel sowie weiß für Parking), Typ des Terrains, das durchquert werden soll, und eine detaillierte Aufl istung der bei diesem Trip verwendeten Ausrüstung (Kleider, Nahrung, Schuhe, Kompass usw.). Darauf folgt die eigentliche tagebuchartige Dokumentation der Passage, eine rohe und knapp gehaltene Informations-Sammlung: Praktische, zum Teil mit Uhrzeiten versehene Informationen zu Start- und Ankunftsort, zu Mahlzeiteinnahmen oder wichtigen Örtlichkeiten (wie Hütten zum Übernachten; Maisfelder zum Verstecken usw.) wechseln sich mit Digitalphotos ab. 13 Die Photos – Porträtaufnahmen der 12. Vgl. Sigrid Adorf/Sabine Gebhardt Fink/Sigrid Schade/Steffen Schmidt: »Einleitung. Today is the tomorrow you were promised yesterday«, in: dies. (Hg.), Is it now? – Gegenwart in den Künsten, Zürich: Hochschule für Gestaltung 2007, S. 10-17, hier S. 14. 13. Für den BorderXing zwischen Kormend und Passing liest es sich so: »Spotted border police in train and surrounding countryside.//09:45 Left Kormend railway station.//(Photo HB in Kormend)//Walked north using watch compass method.//(Photo Watch Orientation)//(Photo Hunting Watchtower)//Used crops for cover when required.//(Photo Maize field)//(Photo stream crossing)// Used hunting watchtowers for reconnaissance.//14:30 Rested and ate lunch in sunflower field.//(Photo heath bunting sunflower Field)//15:30 Arrived at bor-
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beteiligten Personen und Landschaftsaufnahmen – erinnern in ihrer banalen Ästhetik an gewöhnliche Momentaufnahmen einer AllerweltsWanderung. Den Abschluss einer solchen BorderXing-Dokumentation bildet eine stichwortartig gehaltene Konklusion mit den wichtigsten Zusatzinformationen zur jeweiligen Grenzpassage: Preis- und Komfortangaben zu Kost und Logis, allgemeine Tipps zur Reduktion der Reiseausrüstung sowie präzise Tarnhinweise für besonders heikle Stellen der Passage zur Verringerung des Risikos einer Entdeckung durch die Grenzpolizei.14
5. Heath Buntings künstlerischer Einsatzpunkt in »BorderXing Guide« ist zunächst einmal sein ambiger Blick auf die Migrations- und Grenzproblematik unter globalen Bedingungen. Gründend auf den migrationspolitischen Effekten des Schengener Abkommens, auf dessen schwammigem Fundament sich in den letzten Jahren die Schärfe der Unterscheidung von Flüchtling, Migrant und Sans-Papier (und letztlich auch des Aktivisten) im Dickicht eines kaum mehr noch zu durchschauenden Systems von juridischen und politischen Provisorien nach und nach verloren hat, nimmt er in schwebender Aufmerksamkeit eine Doppelrolle ein anhand von Figuren, die in »BorderXing Guide« selbst unsichtbar bleiben. Einerseits spielt er die Rolle eines »Grenz-Beraters« oder »Kojoten«,15 eine Rolle, die im Horizont des von Schleuserbanden organisierten »huder.//(Photo gaas river ford watchtower ladder)//Crossed a dirty small river via a ford overlooked by unmanned watchtower.//(Photo gaas river ford)//16:00 Rested in maize field.//(Photo heath bunting gaas maize field)//16:30 Rested in vine field.//(Photo grape vine field gaas)//(Photo gaas horizon)//Walked to Strem and was offered lift to Gussing, which extended all the way to Vienna.//« Vgl. www.irational.org/heath/borderxing/ (1. August 2009). 14. Für diese Passage steht als Conclusion: »Learn to vary your speed as required. Move slowly and experience fast on the border – do not rush. Use tall crops for cover. Cross lines of drift (paths, rivers, roads) at 90 degrees using a high level of caution.« Vgl. www.irational.org/heath/borderxing/ (1. August 2009). 15. Florian Schneider schreibt in seinem auf der Webseite der Tate im Juni 2002 veröffentlichten Essay »Reverse Authentification« zu »BorderXing Guide«: »In the border area between the United States and Mexico the term coyote also refers to a very special type of human being: the traffickers in migrants, who for a fee offer their knowledge of how to cross a state border without the usual
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man cargo«16 durchaus negativ konnotiert erscheint. Indem er illegalen Grenzgängern eine komplette Informationsplattform auf dem Netz zur Verfügung stellt, strickt er mit an den Netzwerken, die sich vielfädig zwischen verschiedenen Communities über die diversen nationalen Grenzen hinweg entspannen können. Damit ist zugleich die Tendenz der jüngeren Migrationsverhältnisse in Richtung »Informalisierung und Privatisierung« mitreflektiert.17 Andererseits schlüpft Bunting selbst in die Rolle eines illegalen »Grenz-Gängers«, der auf seinen Passagen ganz genau auf sein körperliches Verhalten achten muss, auf seine Mimik, seinen Gang, immer einen Schritt schneller, just in time, um sich in der verstellenden Simulation eines »Einheimischen« dem Blick der Polizei täuschend zu entziehen. Der also als aufmerksamer Phänomenologe und genauer Beobachter seiner Umgebung nicht den Bedeutungen, sondern en passant und mimikryhaft den Differenzen kulturell verschieden gebrauchter Zeichen, Dingen oder Materialitäten nachspürt, um zu lernen, auf welche Weise sie in den jeweiligen Kontexten Bedeutungen sichtbar machen. Und der sich so ganz bewusst unwägbaren Situationen aussetzt, um provisorische Modellprofi le bestimmter Routen für potenzielle Wiedergänger vorzuspuren oder anzubahnen, die dann den ihnen auf ihren nachträglichen Nach-Bahnungen zukommenden Ungewissheiten von neuem ganz offen begegnen müssen – wo die Rolle des »Grenz-Gängers« folglich wieder in die Rolle des »Grenz-Beraters« umkippt et vice versa und so fort.
6. Mittels dieser Inszenierungsstrategie, eine eindeutige Grenz-Ziehung zwischen den beiden Rollen des »Grenz-Beraters« und des »Grenz-Gängers« jäh im Unentscheidbaren verlaufen zu lassen, rückt Bunting die Grenze selbst als verwischtes und uneindeutiges Phänomen in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. In den Spuren dieser intensiven performativen Passagen (denen es mehr um die intensive Passage des Dazwischen geht als um mögliche Endpunkte einer arché oder eines telos) und ihren singulär markierenden und remarkierenden Umschriften der jeweiligen Grenzen kommt also eine territoriale wie metaphorische Dekonstruktion der Idee einer paperwork.« Vgl. www.tate.org.uk/intermediaart/entry15468.shtm (1. August 2009). 16. Vgl. Caroline Moorehead: Human Cargo. A Journey Among Refugees, London: Henry Holt and Co. 2005. 17. Vgl. T. Holert/M. Terkessidis: Fliehkraft, S. 42.
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Präsenz der Grenze als solcher in den Blick: Grenzen erscheinen als höchst fragile Konstellationen nachträglich wiederholter Spuren, die weder eine eigentliche ontologische Präsenz noch eine fortwährende Gegenwärtigkeit besitzen, sondern sich ständig in einem Zustand des Aufschubs oder der Suspension befinden. Grenzen lassen sich demnach nicht versammeln oder verselben,18 sondern spielen als Ereignis der Eröff nung in Handlungsmöglichkeiten hinein: Eröffnen also iterativ als in-formative Prozesse, als sich selbst immer wieder entsetzende, auslassende und teilende Formationsbewegungen mögliche Akte, deren Fortsetzung offen bleiben muss. Diese ständige Suspension zeigt Heath Bunting in seinen diversen BorderXings, die sich zwar immer wieder um gesetzte Grenzen winden, zu ihnen Informationen sammeln, letztlich aber eben nicht eine Versammlung dieser Informationen als fi xe Gegen-Setzung propagieren, sondern als lose Handlungstaktiken Eröff nungen einer möglichen illegalen Passage anbahnen: – eben in-formieren, in die Form spielen, in-formativ sind, in-formierend passieren. Die aber in ihrer je eigenen Bahnung der Grenze wiederum auf ganz andere unkalkulierbare und unvorhersehbare Situationen treffen können – zur Unzeit, einen Takt zu früh oder zu spät. Mit Derrida könnte man sagen, dass sich die Grenze als eine eingestülpte Struktur gibt, die »das Außen im Innen einschließt, ohne es zu integrieren«.19
7. Genau ein solches eingestülptes Leben der Grenze hat der polnische Künstler Krysztof Wodizko mit seiner Installation »Guests«, Polens Beitrag 2009 18. »Dieses Risiko geht Heidegger trotz vieler Vorsichtsmaßnahmen ein, sobald er, wie er es immer tut, der Versammlung und dem Selben (Versammlung, Fuge, legein* [sic] usw.) den Vorrang gibt vor dem Bruch, den meine Hinwendung zum Anderen impliziert, vor der Unterbrechung, die der Respekt befiehlt und dem sie wiederum befiehlt, vor einer Differenz, deren Einzigartiges, disseminiert in die unzählbaren Funken des Absoluten, das sich unter die Asche mischt, sich niemals im Einen (dans l’Un) beruhigen wird. Welches übrigens niemals verfehlt auch einzutreffen, welches aber nur in der Spur dessen eintrifft, was anders eintreffen würde, und also auch, wie ein Gespenst, in dem es eintrifft, was nicht eintrifft.« Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 48. Siehe auch Fußnote 9. 19. Vgl. Jacques Derrida: »Als ob es möglich wäre, ›within such limits‹ …«, in: ders., Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, Wien: Passagen Verlag 2001, S. 261-291, hier S. 289.
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zur 53. Biennale in Venedig, in ein für meine Frage nach der Grenze als Ereignismaschine treffendes Bild-Ensemble gepackt.20 Mittels einer inwendig erscheinenden Projektion sind die Wände des polnischen Pavillons – einem fensterlosen Kubus modernistischer Prägung – selbst als liminale Zonen inszeniert, wo Immigranten und Papierlose in einem imaginären wie realen Inmitten zu residieren scheinen. Anwesend und doch nicht präsent, sichtbar und gleichzeitig phantomhaft unkenntlich, unter uns lebend, allerdings ohne politisch oder sozial integriert zu sein, sind diese Anderen unserer Gesellschaft genau auf der Schwelle des Wahrnehmbaren lokalisiert, in einer Ebene des Dazwischens, weder vollständig außerhalb noch innerhalb des Raumes, den der Besucher okkupiert. Was genau jenen Zustand begreiflich werden lässt, mit dem sie täglich konfrontiert sind: Suspension jeglicher Sicherheit in einem »System der erstarrten Bewegung«, das aufgrund Visa-Anforderungen, Familienvisiten oder Deportation unzählige Grenz-Passagen erfordert.21 Auf vertrackte Weise zeigt sich hier – und darauf kommt es mir an –, wie die bildlich an den Rand, an die Grenze, gar an die inwendig eingestülpten Ausmarchungen des Ausstellungsortes selbst Verdrängten trotz ihrer politischen, ökonomischen und sozialen Machtlosigkeit in einer paradoxen Wendung das Innere dieses Raumes unterbrechen und symbolisch mitzukonstituieren vermögen. In diesem winzigen Übergangsraum oder Interface zwischen Illusion und Wirklichkeit – Rahmen, Medium oder mit Derrida gesprochen: parergonaler Zone22 – scheint nämlich Wodizkos Bild-Ensemble das Wirkliche vorzuladen, indem es sich auf sich selbst 20. Entstanden ist diese Arbeit in enger Zusammenarbeit mit Immigranten in Polen und Italien, die aus verschiedenen Ländern wie Tschetschenien, der Ukraine, Vietnam, Rumänien, Sri Lanka, Libyen, Bangladesch, Pakistan oder Marokko stammen. Vgl. auch den Ausstellungskatalog: Bozena Czubak (Hg.): Guests/Goscie, 7.6.2009-22.11.2009, Warschau: Zacheta National Gallery of Art & Authors 2009. 21. »For a poor person from a poor country, however, the border tends to be something quite different: not only is it an obstacle which is very difficult to surmount, but it is a place he runs up against repeatedly, passing and repassing through it as and when he is expelled or allowed to rejoin his family, so that it becomes, in the end, a place where he resides.« Vgl. É. Balibar: »What is a border?«, S. 83. 22. »Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Aussen her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach aussen noch einfach innen […].« Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen Verlag 1992, S. 74.
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zurückwendet. In dieser Umwendung und der ereignishaften Begegnung zwischen Rahmen/Bild und Besucher wird letztlich der Besucher ins Bild gestellt. Evoziert werden in der ambivalenten Sphäre des Ausstellungsraums durch die gespenstisch hin- und her wuselnden, milchig-viskosen Schemen an den fensterlosen Wänden und der Decke unsere eigenen Projektionen von den Anderen, wie wir sie, die Anderen, sehen: Als unheimliche Inklusion einer Exklusion, weder wirklich drin noch draußen, die uns, plötzlich beängstigend nahe, selbst heimzusuchen scheinen. Herauf beschworen ist die konkrete Bedrohung, die sie darstellen: Die Gefahr eines Übergriffs, einer illegalen Grenz-Verletzung, was suggerieren würde, dass die Grenze selbst durchlässig wird und das Subjekt in seinem Innersten erschüttert und verletzt. Dieses würde dadurch unvermutet zu einem unfreiwilligen Gast seiner selbst. Die Grenze zeigt sich hier nicht bloß in ihrer metaphorischen Potenz, ein- und ausschließen zu können, sondern vor allem als ein Un-Ort, der – nie wirklich besetzbar und nie wirklich kontrollierbar – eine unheimlich konfigurierende Dynamik entwickelt. Etwas, was hinzukommt, sprengt immer schon den Horizont des Bestehenden. Die Immigranten, legal oder illegal, die Sans-Papiers, Papierlosen oder Aktivisten, die rechtslosen Grenzverletzer und so weiter erscheinen auf einmal als der Rahmen, aber wir … wir sind im Tableau.23
8. Die Grenze also als Ereignis-Maschine, wo Sichtbares aus Unsichtbarem und Verdrängtem konstituiert wird und diese Gründung in eben diesem Zug immer wieder verdeckt und ausstreicht? Durchaus. An der symptomatischen Gestalt des Sans-Papier, dem Papierlosen ohne Pass (und somit gewissermaßen ohne Recht zur Passage, zum Passieren und Geschehen: zur Ek-sistenz), bricht nun eine ganz andere Passage hervor, welche die Grenzen von »BorderXing Guide« und Europas nun in die tele-technologischen Bedingungen des World Wide Web einschreibt. Am komplexen Zusammenspiel von Kontrolle, Access und Web am ortslos einbildenden Ort des Interfaces wird ein hochgradig beschleunigter, hybrid und chiastisch ineinander verschlungener Medienumbruch deutlich. Denn Heath Buntings zweite inszenatorische Geste beruht auf einer behutsam kalkulierten Politik der Zugangskontrolle dieser Webseite, kombiniert mit einer auf Nachhaltigkeit basierenden Öffentlichkeitsarbeit. 23. »Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau.« Vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Band XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996 (1987), S. 102.
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Zugänglich ist »BorderXing Guide« bloß über eine »reverse authentification«.24 Jeder, der auf dem Web Access zu den hochsensitiven Daten der BorderXings sucht (diesem hochgeheimen Insiderwissen um illegale Grenzüberquerungen), wird auf eine weltweite Liste mit Kontakt-Namen verwiesen, die sich früher schon einmal um einen Zugang bemüht haben. Zugang erhält nur, wer jemanden dieser exklusiven Liste anfragt, über einen Einwahlpunkt eines sozialen Servers mit einer statischen IP-Adresse (Social Static Clients) verfügt (Universitäten, Caféterien von Museen etc.), sich außerhalb Europas befindet oder Heath Bunting selbst um Erlaubnis fragt.25 Paradigmatisch zeigt sich hier das Charakteristische am Interface, nämlich aus einem Dazwischen auf performative Weise Konnektivität herzustellen und so global verstreute und voneinander unabhängige Punkte (oder Daten oder Leute) unerwartet in einer davor ungedachten NetzwerkBeziehung adressierbar werden zu lassen.26 Geschickt spiegelt Bunting hier am bekannten Topos des Internets, »dass dessen Information unabhängig vom Ort des Netzzugangs von überall zugänglich ist«,27 die Frage der Legitimation, verdreht sie und stülpt dadurch »feststehende Machtkonzepte und Machtstrukturen in der Informationspolitik der Netzkultur um«.28 24. Vgl. Florian Schneider: »Reverse Authentification« (2002), www.tate. org.uk/intermediaart/entry15468.shtm (1. August 2009). 25. Die Frage des Zugangs ist aber nicht nur für die Rezeption zentral, sondern auch wichtiger Bestandteil der Produktion selber: Nach einer vollzogenen Grenzpassage sucht Heath Bunting genau diese Orte mit öffentlichem Netzzugang auf, um seine Fotoaufnahmen und Berichte ins Netz zu laden. 26. In einem Audio-Interview mit Matt Fuller bemerkt Heath Bunting zu seinem »Project X«: »I think that’s a good example of very very local and it doesn’t seem like a network; you’re just sitting in a toilet looking at the graffiti or walking down the street and you see some graffiti that looks a bit different to the others, and then that’s mixed with obviously the Internet. So you’re not really sure what it is and you come to the net and then you realise that there’s a whole network or potential network of people who have seen these things and have expressed an interest all around the world.« Vgl. www.irational.org/ irational/media/bbc_arts.txt (1. August 2009). 27. Vgl. Villö Huszai: »Paradoxien der Netzkunst. Anregungen zur medienwissenschaftlichen Selbstbeobachtung«, in: Sigrid Schade/Thomas Sieber/Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel: Schwabe 2005, S. 445-457, hier S. 454. 28. Vgl. Susanne Ackers/Inke Arns/Francis Hunger/Jacob Lillemose (Hg.): The Hartware Guide to irational. Handbuch zur Ausstellung The Wonderful World of irational.org. Tools, Techniques and Events 1996-2006, Frankfurt a.M.: Revolver 2006, S. 84.
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Unter der Voraussetzung, dass ein solcher Access immer wieder auch sich wandelnden Machtverhältnissen ausgesetzt ist, denen auch Heath Bunting selbst hilflos ausgeliefert ist – in Wien wurde 2008 der Zugang zu »BorderXing Guide« aus politischen Gründen gesperrt –, findet sich der potenzielle User plötzlich selbst in der Situation eines Sans-Papiers wieder. Und zwar da, vor dem Bildschirm des Computers.
9. Die Papierlosen: Jene also, die keine (respektive nicht alle notwendigen) schriftlichen Personaldokumente besitzen, um wie du und ich die europäischen oder anderen Grenzen auf legale Weise zu passieren. Die also auf eine gewisse Weise nicht ich sagen dürfen, keine Subjekte im rechtlichen Sinne sind und keinem gemeinschaftlichen Archiv angehören. Papier-los, ohne Papier: Was markiert und ereignet dieses meist dünne, in Form von Blättern vorliegende, organische Material, das in der Regel aus einem geleimten Brei von Pflanzenfasern hergestellt ist und dessen Mangel einen Menschen in den Status eines Sans-Papiers zu verdammen vermag, gewissermaßen organlos macht im politischen Sinne? »Wenn er seinen Pass an der Grenze ›repräsentiert‹, präsentiert der Passinhaber nicht wirklich sich selbst, sondern er präsentiert auch seine legitime Präsenz durch das Zeichen oder den Titel, der seine Präsenz autorisiert, erlaubt oder gar erzwingt«,29 hat Louis Marin einmal geschrieben. Präzise bestimmt ist damit an der Figur des Passinhabers die unhintergehbare mediale Bedingtheit, die jede Vorstellung einer scheinbar ursprünglichen und vorauseilenden körperlichen Präsenz eines Individuums ihrer vorgängigen sozialen Geteiltheit und Vermitteltheit demaskiert: Ein Pass bedeutet keine nachträgliche Darstellung eines zuvor bestehenden Selbst, sondern konstruiert und autorisiert es allererst mit, und zwar qua Wiederholung und Verdoppelung eines Zeichen oder Titels.30 Papier ist also nicht einfach Papier, sondern vielmehr von einer quasi magischen, beschwörenden – performativen – Kraft durchwaltet, die es erlaubt, im zeigenden Zeichen einzubilden, zu tun und auf diese Weise zu sein. So gesehen zeigt und »zeugt der Krieg gegen die Menschen ›ohne Papier‹ von dieser […] 29. Vgl. Louis Marin: Das Porträt des Königs, Berlin: Diaphanes 2005, S. 11. 30. »Die Repräsentation verbleibt hier im Element des Selben, das sie durch Verdoppelung intensiviert. In diesem Sinne ist sie dessen Reflexion, und Repräsentieren heisst dann immer sich als etwas repräsentierend zu präsentieren. Und eben damit konstituiert die Repräsentation ihr Subjekt.« Vgl. L. Marin: Das Porträt, S. 11.
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Inkorporation der Gesetzeskraft im Papier, in ›Akten‹ der Legalisierung, Legitimierung, Ermächtigung und Regularisierung, die mit dem Besitz von ›Papieren‹ verbunden sind.«31 Der Status des Sans-Papiers verweist also ex negativo auf eine viel abgründigere und urwüchsigere Konstellation von »Träger, Sujet, Oberfläche, Markierung, Spur, Gramme, Einschreibung, Falte«,32 als es die leichtgewichtige und vielseitig verfügbare Dinglichkeit des Papiers den Anschein macht oder verspricht. Denn im Papier verschichten und verdichten sich für den Menschen seit jeher palimpsestartig seine mannigfaltigen und unzugänglich bleibenden (juridischen, politischen, kulturellen etc.) Setzungen. Mit allen Sinnen und durch sämtliche Phantasmen hindurch ist sein Körper auf unheimlich symbiotische Weise mit diesem mitnichten bloßen und neutralen Kommunikationsmittel verbunden: Flaschenetiketten, Umschläge, Tickets, Zettel, Prospekte oder Taschentücher bis hin zu Verpackungen, Toilettenpapier, Einwickelpapier, Papiertapeten, Zigarettenpapier, sowie juridisch-politische Empfehlungs-, Legitimations-, Zeugnisschreiben; und natürlich: Geldnoten, Briefe, Bücher, Zeitungen, Aktien etc.: »[…] eine technische oder materielle Geschichte, eine symbolische Geschichte der Projektionen und Interpretationen, eine Geschichte, die mit der Entdeckung des menschlichen Körpers und der Menschwerdung verwoben ist«.33 Es ist somit die »Papier-Form des Wissens« oder die »Graphosphäre«34, aus der her wir letztlich agieren, einen Akt tun, achten und ächten und als Akten in Archiven landen, um dort als vergessene Spuren wieder verkörpert zu werden. Was uns bindet, ist das topologische Modell des Möbiusbandes, wo Vorder- und Rückseite eines Blattes ein und dieselbe Oberfläche entwickeln und unklar bleibt, bis zu welchem Punkt es eine Darstellung oder eine Figur ist.35 Wo also das Virtuelle eingeschlossen ist in das Territoriale und umgekehrt. Genau diese dergestalt durch das Papier geprägte Geschichte der Selbsterschließung als Subjekt (primärer Narzissmus: »das Papier bin ich«), der Rechtsprechung, der Legislation und der mit Zeugnissen, Chartas und Staatsverfassungen vollgestopften Archive steht hier symptomatisch mit der Figur des Sans-Papiers auf dem Spiel. Denn möglicherweise wird die31. Vgl. Jacques Derrida: »Das Papier oder ich, wissen sie … (Neue Spekulationen über einen Luxus der Armen)«, in: ders., Maschinen Papier, S. 221-249, hier S. 243. 32. Ebd., S. 221. 33. Ebd., S. 223. 34. Ebd., S. 229. 35. Ebd., S. 233.
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ser keineswegs geächtet, weil er keine Papiere hat, sondern weil sich vielmehr in ihm als Papierloser das Papier-lose selbst ankündet und artikuliert. Von so vielen Jacquard-, Babbage-, Hollerith-, Nièpce-, Talbot-, Edison-, Lumière- etc. Maschinen schon zermalmt und jetzt plötzlich nur noch eine: eine globale tele-technologisierte Welt voller elektronischer Codes, Chipund Plastikkarten, durchdrungen von vielfältigen Abbreviationen einer informationalisierten, computerisierten, digitalisierten und biometrisierten Gesellschaft. Mit diesem multimedialen Beben, diesem Umbruch von einer papiernen in eine hochgradig beschleunigte digitalisierte, elektronisierte und vernetzte Welt – strukturell gleichwohl immer noch heimgesucht und mitkonstituiert von den gewissermaßen sakralisierten oder magischen Normen und Gestalten des Papiers (Seite, Unterschrift etc.) – ist, wie Derrida mit Recht betont hat, »die Möglichkeit, einen historischen Kontext, einen Zeit-Raum, abzugrenzen«,36 in Frage gestellt und »an nichts Geringeres als das Wesen des Politischen und seine Verbundenheit mit der Kultur des Papiers«37 gerührt. Touchiert wird mit der Gestalt des Papier-losen somit die Grenze als darstellende Zeit/Zeit der Darstellung, wie sie im Medialen, Intermedialen oder Dazwischen Phänomenalität überhaupt erst zu vermitteln und zu organisieren vermag: »Sie berühren nicht nur die Grenze zwischen dem Öffentlichen und Privaten, dem politischen oder kulturellen Leben des Staatsbürgers und dem Geheimnis seines Innersten, ja das Geheimnis im allgemeinen; sie rühren an die Grenze im eigentlichen, engen Sinne des Wortes: zwischen dem Nationalen und dem Weltweiten (mondial), ja zwischen der Erde und dem Ausserirdischen, der Welt und dem Weltall – denn die Satelliten sind Teil dieses Dispositivs des ›Papierlosen‹.«38
In dieser auf brechenden digitalen Netzwerk-Zeit, wo ein Bildschirm zwar virtuell weiterhin die alte Form einer Buchseite zeigt, der Rhythmus des Medienwandels sich jedoch in seinen Abstraktionsgraden ungeheuer beschleunigt hat, sind wir, wie Derrida schreibt, in gewisser Hinsicht somit »alle bereits Menschen ›ohne Papiere‹.«39
36. Ebd., S. 243. 37. Ebd., S. 244. 38. Ebd., S. 239. 39. Ebd., S. 244.
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10. Die Generallinie von »BorderXing Guide« kann also als die einer ständigen Unterbrechung allgemeingültiger und geläufiger Identitäts-Vorstellungen und Versprechen der Grenze begriffen werden, deren implizierte Voraussetzungen es immer wieder auf sehr präzise Weise einer Dekonstruktion zuführt. Heath Bunting macht in dieser Arbeit Verkreuzungs-, Grenz- oder Schwellenbereiche – Strata des Dazwischen – sichtbar, die gewissermaßen temporale Möglichkeitsräume einer Erfahrung des WederNoch: des Weder-drin-noch-draußen-Seins ausformen. Äußerster und zugleich innerster Bezugspunkt ist die Grenze als territoriale, aber auch metaphorale Ereignis-Maschine. Sie erlaubt es, die diversen Verhältnisse von Innen und Außen, von Eigentlich und Uneigentlich, von Selbst und Anderem immer wieder erst auszudifferenzieren. Im pittoresken Durchlaufen einer solchen intensiv markierten Passage – sie kann im Passieren übrigens auch immer ganz anders werden, scheitern, crashen – entwickelt Bunting quasi eine andere Bahnung dieser Grenzen, belässt dabei aber zugleich deren gewaltsam-politische Setzung für seine Arbeit als konstitutiv. Damit sucht er nicht die Überschreitung der Grenze in Richtung auf ein Jenseits ursprünglichen Bedeutens, das mit einer wie auch immer gearteten Ankunft der Sinnsuche kalkulieren würde, sondern entblößt simpel deren Setzung. Aber was zeigt sich (oder zeigt sich nicht) im Moment des Verschwindens der innereuropäischen Grenzsetzungen? Was verdeckt sich im Gründungsakt des Schengener Raums? Was verdeckt das Interface als performative Schnittstelle von virtueller und physisch-territorialer Welt? Die vielfältig mediale Konstruktion des Papierlosen vielleicht? Denn von allem Anfang an hat sich Buntings Informationsdrehscheibe zielsicher verfehlt, hat sie ihre selbstpostulierten Zwecke unterlaufen: Weder würden Papierlose jemals von dieser Datenbank erfahren, noch würde es überhaupt Sinn machen, diese Passagen nachzubahnen, da die Grenzen ja unbesetzt sind. Und genau das zeigen (oder zeigen eben gerade nicht) die Fotos dieser Grenzpassagen: Unspektakuläre Impressionen einer gleichmütigen Natur, radikal unwirklich in ihrer idyllischen Wirklichkeit und meist ungezeichnet in einem politischen Grenzsinne. Und vor allen Dingen zeigen sie keine Papierlosen, sondern bloß Heath Bunting, Kayle Brandon oder andere Partner/-innen. Im Moment des Verschwindens der Grenze verschwindet somit zugleich auch die Figur des Papierlosen, selbst bloßer Effekt dieser Grenzsetzung. Was sichtbar wird in diesen medialen Effekten ist somit eine unentscheidbar bleibende Aporie, die genau jene unabdingbare und notwendige Bedingung der Produktion dieser politisch erwünschten Effekte ist. »BorderXing Guide« wird als eine Art unabgeschlossenes Archiv 250
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oder Gedächtnis lesbar, das in seinen inszenierten Spuren eine andere Geschichte der europäischen Gemeinschaft zugleich memoriert als auch neu erzählt. Ganz allgemein ließe sich seine Arbeit nun auch an eine alte Tradition des Hybriden anschließen, die in verschiedenen Figuren und Gestalten das innere Rumoren der Medien immer wieder neu erscheinen lassen will: Der alten Paragone von Malerei und Dichtkunst, wie sie zum Beispiel Philostratos in seinen Eikones-Ekphrasen im 2. Jahrhundert nach Christus so geschickt zwischen Fakt und Fiktion mäandrieren ließ, ohne jemals zu verraten, ob die beschriebenen Bilder dieser Galerie auf Neapel auch wirklich jemals existiert hatten. Den Überlegungen Michail Bachtins bezüglich des Hybriden als einer unreinen Verkreuzung. Marshall McLuhans energetische Bastarde, Medienkreuzungen mit gewaltig neuen Kräften und Energien. Oder die sich in den aporetischen Textlektüren Jacques Derridas ausbildenden neologischen Figuren der différance, der Iteration, des hantologischen Gespenstes oder des Maschinen-Ereignisses. Strategie ist dabei immer wieder eine ähnliche: Ein notwendig Unzeitgemäßes der Medien mittels intermedialer Blickbeziehungen offensichtlich zu machen. Eine Dazwischenkunft von Zeitzeichen im Moment ihres Verschwindens zu zeigen – dort, wo sich die Medien tummeln, kreuzen, verflechten und also immer wieder neu rahmen und entrahmen und ihre Medialität entgrenzen. Hier setzt Bunting mit seinen intermedialen Inszenierungsstrategien an, um in unserer heutigen stark mediatisierten Gesellschaft an der Schnittstelle von Virtuellem und Territorial/Physischem letztlich neue Blicke auf erstarrte Facetten unserer Gedächtnis- und Wissensformierungen zu werfen. Intermedialität zeichnet somit die Möglichkeit, aus Unterbrechungen, Abwesenheiten, Lücken oder Fragmenten ganz neue Konstellationen zu eröffnen, die scheinbar hermetisch abgesicherte Wissensensembles zerschellen lassen und so die Offenheit und Möglichkeit unmöglicher Entscheidungen propagieren. Bewusst wird das Faktische und Unreine aller Begrifflichkeiten und Wahrheiten. Und das ist ihre vielzählige Offenheit, ihr eminent politisches Potenzial, das es gegen Programme jedwelcher Art zu schützen gilt. Grenzen passieren, immer wieder.
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Bibliographie Ackers, Susanne/Arns, Inke/Hunger, Francis/Lillemose, Jacob (Hg.): The Hartware Guide to irational. Handbuch zur Ausstellung The Wonderful World of irational.org. Tools, Techniques and Events 1996-2006, Frankfurt a.M.: Revolver 2006. Adorf, Sigrid/Gebhardt Fink, Sabine/Schade, Sigrid/Schmidt, Steffen: »Einleitung. Today is the tomorrow you were promised yesterday«, in: dies. (Hg.), Is it now? – Gegenwart in den Künsten, Zürich: Hochschule für Gestaltung 2007, S. 10-17. Angehrn, Emil: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003. Balibar, Étienne: »What is a border?«, in: ders., Politics and the Other Scene, London, New York: Verso 2002, S. 75-86. Czubak, Bozena (Hg.): Guests/Goscie, 7.6.2009-22.11.2009, Warschau: Zacheta National Gallery of Art & Authors 2009. Derrida, Jacques: Das Andere Kap. Die vertagte Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Derrida, Jacques: Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen Verlag, 1992. Derrida, Jacques: »Das Papier oder ich, wissen sie … (Neue Spekulationen über einen Luxus der Armen)«, in: ders., Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, Wien: Passagen Verlag 2001, S. 221-249. Derrida, Jacques: »Als ob es möglich wäre, ›within such limits‹ …«, in: ders., Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, Wien: Passagen Verlag 2001, S. 261-291. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Fischel, Angela/Bredekamp, Horst/Brun, Matthias/Werner, Gabriele (Hg.): »Editorial«, in: dies., Grenzbilder. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 6,2, Berlin: Akademie Verlag 2009, S. 7-8. Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2006. Huszai, Villö: »Paradoxien der Netzkunst. Anregungen zur medienwissenschaftlichen Selbstbeobachtung«, in: Sigrid Schade/Thomas Sieber/ Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel: Schwabe 2005, S. 445-457. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Band XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996 (1987).
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Autor innen und Autoren Ulla Patricia Autenrieth, Dipl. Sozialwiss., studierte Sozialwissenschaften mit Fokus auf Medien- und Kommunikationssoziologie an den Universitäten Koblenz/Landau und Wien. Seit 2008 forscht sie zum Thema »Fotografische Privat-Bilder als Medium der fluiden Identitätsinszenierung von Jugendlichen in Netz- und Peer Group-Kommunikation« im Forschungsmodul »Intermediale Inszenierungen« im Rahmen des ProDoc-Graduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« an der Universität Basel. Andy Blättler, lic. phil., studierte Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Basel. Seit 2007 forscht er zum Thema »Risse im Zeitgefüge: Performative Inszenierungen in den Installationen von Dieter Roth, Jeff Wall und Heath Bunting« im Rahmen des ProDoc-Graduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« an der Universität Basel. Doris Gassert, lic. phil., studierte Anglistik, Medienwissenschaft und das Juristische 2. Nebenfach an der Universität Basel. Seit 2007 forscht sie zum Thema »Zwischen Film und Computer. Zur Dynamik intermedialer Bildsprachen« im Forschungsmodul »Intermediale Inszenierungen« im Rahmen des ProDoc-Graduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« an der Universität Basel. Vincent Kaufmann, Prof. Dr., Direktor am MCM-Institut, Universität St. Gallen (Lehrstuhl Medien und Kultur). Veröffentlichungen u.a.: L’Equivoque épistolaire, Paris 1990 (auf Englisch und Italienisch übersetzt); Poétique des groupes littéraires. Avant-gardes 1920-1970, Paris 1997; Guy Debord. La révolution au service de la poésie, Paris 2001 (auf Englisch und Deutsch übersetzt); Guy Debord. Oeuvres, présentation et introductions, Paris 2006; Ménage à trois. Littérature, médecine, religion, Lille 2007.
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Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung
Joachim Michael, Dr. phil., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Romanistik an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u.a.: Massenmedien und Alterität (2004); Fliegende Bilder, fliehende Texte. Identität und Alterität im Kontext von Gattung und Medium (2004) sowie Telenovelas. Intermediale Gattungspassagen und kulturelle Zäsur (2010, im Druck). Jürgen E. Müller, Prof. Dr., Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth. Herausgeber der Reihe Film und Medien in der Diskussion (Münster, Nodus). Veröffentlichungen u.a.: Texte et médialité (Hg., Mannheim 1987); Blick-Wechsel. Tendenzen im Spielfilm der 70er und 80er Jahre (mit M. Vorauer, Hg., Münster 1993); Semiohistory and the Media (mit E.W.B. Hess-Lüttich, Hg., Tübingen 1994); Towards a Pragmatics of the Audiovisual (Hg., 2 Bde., Münster 1994/5); Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation (Münster 1996); Culture – Sign – Space (mit E.W.B. HessLüttich & A. v. Zoest, Hg., Tübingen 1998); Quebek und Kino (mit Michel Larouche, Hg., Münster 2002); Intermédialité et Socialité (mit Marion Froger, Hg., Münster 2007); Media Encounters (Hg., Münster 2008). Beate Ochsner, Prof. Dr., Professorin für Medienwissenschaften an der Universität Konstanz; Veröffentlichungen u.a.: Hg. (zusammen mit Franziska Sick): Medium und Gedächtnis, Von der Überbietung der Grenze(n), Frankfurt a.M. (Peter Lang) 2004; DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, München (Synchron-Verlag) 2009. Zahlreiche Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Photographie, Intermedialität und Hypertext, z.B. «J’ai deux amours: la musique et le film …«. Intermediale Verschränkungen von Musik und Film in On connaît la chanson [1997] von Alain Resnais«, in: Susanne Schlünder; Scarlett Winter (Hg.), Körper – Ästhetik – Spiel. Zur filmischen écriture de Nouvelle Vague, München (Fink) 2004, S. 157-183. Susanna Parikka-Hug, M. Soc. Sc., ProDoc-Teaching Coordinator am Institut für Medienwissenschaft, studierte Internationale Beziehungen, Soziologie und Medienwissenschaft an den Universitäten Lappland, Kopenhagen und Genua. Seit 2006 forscht sie zum Thema »Mythologien des westlichen fi lmischen Blicks« im Rahmen des ProDoc-Graduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« an der Universität Basel. Jürgen Raab, Dr. rer. soc., apl. Professor am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz und Oberassistent am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Veröffentlichungen u.a.: Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung, Konstanz 256
Autor innen und Autoren
2001; Visuelle Wissenssoziologie. Theoretische Konzeption und materiale Analysen, Konstanz 2008; Erving Goff man. Klassiker der Wissenssoziologie, Konstanz 2008. Gunther Reisinger, Dr., Leiter des Forschungsprojekts zu Netzkunst und kunstwissenschaftlicher Quellenkritik am Ludwig Boltzmann Institut für Medien.Kunst.Forschung in Linz und Universitätsassistent am Institut für Kunstgeschichte der Universität Graz mit dem Forschungsschwerpunkt zur Entwicklung des künstlerischen Originalbegriffs im Digitalen. Veröffentlichungen zur Quellenkritik des Digitalen u.a.: »Das Internet als Predigt. Eine kunstwissenschaftliche Quellendiskussion vor dem Altar des Digitalen«, in: Walter Grond/Beat Mazenauer (Hg.), Das Wahre, Falsche, Schöne. Reality Show, Innsbruck/Zürich 2005; »The Digital Hijack – Etoy als Meilenstein der frühen Netzkunst«, in: Rudolf Frieling, Dieter Daniels (Hg.): Medien Kunst Netz, 2005 sowie Mitherausgeber von netpioneers 1.0. Contextualising early netbased art, Berlin/New York 2009. Miriam Ronsdorf, M.A., studierte Ägyptologie, Medienwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Basel und Berlin (TU). Seit 2007 forscht sie zum Thema »Das Alte Ägypten im populären Film der Postmoderne. Eine Fallstudie zur intermedialen Ästhetik« im Rahmen des ProDoc-Graduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« an der Universität Basel. Jens Schröter, Prof. Dr., Professor für Multimediale Systeme an der Universität Siegen. Veröffentlichungen u.a.: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004; Hg. (gem. mit Alexander Böhnke), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004; Hg. (gem. mit Gundolf Winter und Christian Spies), Skulptur – Zwischen Realität und Virtualität, München 2006; Hg. (gem. mit Gregor Schwering und Urs Stäheli), Media Marx – Ein Handbuch, Bielefeld 2006; Hg. (gem. mit Tristan Thielmann), Display I: Analog, Marburg 2006; Hg. (gem. mit Albert Kümmel), Äther. Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2007; Hg. (gem. mit Tristan Thielmann), Display II: Digital, Marburg 2007; Hg. (gem. mit Joachim Paech), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008; Hg. (gem. mit Manfred Bogen und Roland Kuck), Virtuelle Welten – Basistechnologie von Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2009; Hg. (gem. mit Gundolf Winter und Joanna Barck), Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen, München 2009; 3D. Zur Ge-
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Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung
schichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes, München 2009. Simona Travaglianti, lic. phil., studierte Theaterwissenschaft, Histoire et esthétique du cinéma und Kunstgeschichte an den Universitäten Bern und Lausanne. Seit 2007 forscht sie zum Thema »Intermedialer Situationismus – zur Genese performativer Räume aus der Site-Specific Art« im Forschungsmodul »Intermediale Inszenierungen« im Rahmen des ProDocGraduiertenprogramms »Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz« an der Universität Bern. Michael Wetzel, Prof. Dr., Professor für Literatur- und Filmwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2005 Leiter des Forschungsprojekts »Von der Intermedialität zur Inframedialität« am SFB Medien und gesellschaftliche Kommunikation der Universitäten Aachen, Bonn, Bochum und Köln. Veröffentlichungen u.a.: Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997; Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999. Demnächst erscheinen: Der Autor-Künstler, Frankfurt a.M. 2010 und eine Einführung in das Werk von Derrida, Stuttgart 2010.
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MedienAnalysen Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.) Theater des Fragments Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne 2009, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-999-2
Regine Buschauer Mobile Räume Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation Februar 2010, 364 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1246-2
André Eiermann Postspektakuläres Theater Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste 2009, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1219-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Till A. Heilmann Textverarbeitung Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine Juli 2010, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1333-9
Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res Medienkulturwissenschaftliche Positionen Juli 2010, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1181-6
Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik Juni 2010, 254 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1166-3
Dominik Landwehr Mythos Enigma Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt 2008, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-893-3
Joachim Michael Telenovelas und kulturelle Zäsur Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika Juli 2010, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1387-2
Anna Tuschling Klatsch im Chat Freuds Theorie des Dritten im Zeitalter elektronischer Kommunikation 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-952-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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