Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung: Vermittlungschancen zwischen Handarbeit und Technisierung 9783839446874

The chances of textiles in educational contexts lie in the tension between omnipresence and exteriorization.

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German Pages 258 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Dank
1 Der textile Spannungsbogen
2 Das textile Gedächtnis
2.1 Evolution textil – eine Beziehung entsteht
2.2 Textil schafft Struktur
2.3 Das schöpferische und kreative Potential des Textilen
2.4 Bündeln
3 Die textile Hand
Einführung
3.1 Die Hand in Evolution, Kulturalisierung und Technisierung
3.2 Hand anlegen – der Zusammenhang von Hand und Gehirn
3.3 Kreativ-textile Handarbeit
3.4 Bündeln
4 Die textile Schere
5 Textile Bildung unter Spannung diskutiert
5.1 Historische Entwicklung textiler Bildung
5.2 Fachdidaktische Konzepte und Projekte im textilen Spannungsfeld
5.3 Aktuelle Bildungsanforderungen und Textiles kann ...
5.4 Bündeln
6 Das textile (Bildungs-)Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung: Vermittlungschancen zwischen Handarbeit und Technisierung
 9783839446874

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Sybille Wiescholek Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung

Pädagogik

Sybille Wiescholek (Dr.), geb. 1988, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst/Musik/Textil (Fach Textil) der Universität Paderborn und lehrt in den Bereichen Textilgestaltung und Mode, Textil, Design und ihre Didaktik bzw. Vermittlung. Sie promovierte an der Universität Paderborn bei Iris Kolhoff-Kahl zu textilen Bildungschancen. Für ihre Arbeit erhielt sie den Nachwuchspreis des Fachverbandes ...textil... e.V. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Chancen des Textilen in aktuellen Bildungskontexten, Textil und Inklusion sowie Textil und ästhetische Bildung.

Sybille Wiescholek

Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung Vermittlungschancen zwischen Handarbeit und Technisierung

Dissertation an der Universität Paderborn, Fakultät für Kulturwissenschaften, 2018, u.d.T. »Textile Bildungschancen zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung« Begutachtet durch Prof. Dr. Iris Kolhoff-Kahl und Prof. Dr. Jutta Ströter-Bender

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Sybille Wiescholek, Roter Faden, 2018, © Sybille Wiescholek Korrektorat: Daniel Bonanati Satz: Michael Karzellek Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4687-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4687-4 https://doi.org/10.14361/9783839446874 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 7 1

Der textile Spannungsbogen | 9

2

Das textile Gedächtnis | 21

2.1 2.2 2.3 2.4

Evolution textil – eine Beziehung entsteht | 23 Textil schafft Struktur | 41 Das schöpferische und kreative Potential des Textilen | 58 Bündeln | 84

3

Die textile Hand | 87

3.1 3.2 3.3 3.4

Die Hand in Evolution, Kulturalisierung und Technisierung | 94 Hand anlegen – der Zusammenhang von Hand und Gehirn | 112 Kreativ-textile Handarbeit | 129 Bündeln | 138

4

Die textile Schere | 143

Textile Bildung unter Spannung diskutiert | 155 5.1 Historische Entwicklung textiler Bildung | 157 5.2 Fachdidaktische Konzepte und Projekte im textilen Spannungsfeld | 172 5.3 Aktuelle Bildungsanforderungen und Textiles kann ... | 196 5.4 Bündeln | 222 5

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Das textile (Bildungs-)Fazit | 229

Literaturverzeichnis | 239 Abbildungsverzeichnis | 255

Dank

Die vorliegende Publikation wurde im Wintersemester 2018 unter dem Titel Textile Bildungschancen zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung vom Fachbereich Textil der Universität Paderborn angenommen. Viele Menschen haben mich während meiner Promotionszeit begleitet und unterstützt. An dieser Stelle möchte ich mich bei all diesen Menschen von ganzem Herzen für die Unterstützung bedanken. An erster Stelle möchte ich meiner Betreuerin Prof. Dr. Iris Kolhoff-Kahl für das mir entgegengebrachte Vertrauen, die stets offene Tür, die produktive Kritik sowie für die ehrliche und immer angenehme Arbeitsatmosphäre und Zusammenarbeit danken. Außerdem danke ich Prof. Dr. Jutta Ströter-Bender für die Übernahme des Zweitgutachtens. Herzlichen Dank gebührt auch den beiden weiteren Mitgliedern der Kommission Prof. Dr. Rebekka Schmidt und Dr. Claudia Mahs für die Begutachtung. Besonderer Dank gilt meinen Kolleginnen, die mich nicht nur fachlich, sondern auch freundschaftlich in jeglicher Hinsicht unterstützt haben. Ich danke meiner Familie, die stets Verständnis für jegliche Gefühlslagen aufbrachten und mir so einen starken Rückhalt boten. Abschließend danke ich Michael, der mir zu jeder Zeit (Tag und Nacht) zur Seite stand, kritisch meine Ideen hinterfragte und mich zugleich motivierte.

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Der textile Spannungsbogen

Das Textile erzeugt Spannung, es ist spannend, das Textile spannt, im Textilen wird der Faden gespannt, es gibt (textile) Spannungsbögen, einen spannenden roten Faden, Bogenspannung durch den Faden oder an den Enden eines Fadens wird gezogen und dadurch entsteht Spannung. Maria Abramovic und Ulay zeigen, wie brisant der textile Spannungsbogen sein kann – hält man ihn unter Spannung, bedeutet dies Leben, lässt man allerdings locker, deutet die Performance Sterben an. Abbildung 1: Maria Abramovic und Ulay, Rest Energy (1980)

Das Textile befindet sich in einer binären Opposition, spaltet sich auf in zwei Pole, die folgend mit textiler Omnipräsenz und textiler Exteriorisierung betitelt werden. Zwischen diesen beiden Polen herrscht Spannung. Beide Pole sind aufgeladen mit

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gegensätzlichen Bedeutungszuweisungen und sie stoßen sich zu gleichen Teilen ab, wie sie sich anziehen und gegenseitig bedingen. Dem Textilen, obwohl omnipräsent im Alltag der Menschen vorhanden, dementsprechend für sie bedeutsam und mit ihnen eng verbunden, haftet eine Selbstverständlichkeit und eine daraus resultierende Unsichtbarkeit an. In der Allgemeinheit, in der Wissenschaft und insbesondere auch in Bildungskontexten ist die Anerkennung und der Stellenwert des Textilen niedrig (Barber, 1994; Gordon, 2011; Mentges, 2005). Das Textile wird marginalisiert und Textilgestaltung1 als Unterrichtsfach ist betroffen von Kürzungen oder wird komplett aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen (Becker, 2007d). Das Fach steht seit den 1970er Jahren unter einem kontinuierlich ansteigenden Legitimationsdruck. Der Legitimation des Textilen in Erziehung, Bildung und Unterricht wendet sich auch diese Arbeit zu. Denn vor dem Hintergrund aktueller Bildungsanforderungen, die beispielsweise im Rahmen inklusiver oder digitaler Bildung diskutiert werden, scheint das Textile, textile Aktivität, Handeln mit dem Textilen, textile Dinge, eine Reflexion des Textilen wichtiger und eine textile Bildung sinnvoller denn je. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich zu einem Großteil mit dem Herausarbeiten und der Diskussion von Potentialen und Chancen für das Textile in Erziehung, Bildung und Unterricht. Damit nimmt sie Teil am Diskurs der textilen Fachdidaktik und Geschichte des Textilunterrichts. Darüber hinaus nimmt sie auch Bezug auf andere Disziplinen und ausgewählte Theorien, um den Blick für die Potentiale des Textilen zu erweitern. So wird Bezug genommen auf fachwissenschaftliche Diskurse wie die Kulturanthropologie des Textilen (Mentges, 2005) oder Modetheorien (Flügel, 1986; Loschek, 2007; Lehnert, 2013), auf Aspekte einer kulturellen und technischen Evolution (Leroi-Gourhan, 1988), auf den Forschungskomplex Hand und Gehirn (Wilson, 2001; Weinmann, 2005; Grundwald, 2012; Spitzer, 2005), um die Verbindung zwischen Mensch und Textilem auszuloten, und zudem auf Ausführungen zum Handwerk (Sennett, 2014). Ferner werden einzelne Theorieansätze in Überlegungen zum Textilen in Erziehung, Bildung und Unterricht eingeflochten, wie Tim Ingolds (2010; 2014) Thesen zur Forschungsrichtung des New Materialism oder Rainer M. HolmHadullas (2010; 2011) Theorie zur Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung.

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Für den Textilunterricht gibt es innerhalb Deutschlands diverse Bezeichnungen. Wenn es folgend um das Unterrichtsfach geht, wird entweder die allgemeine Bezeichnung Textilunterricht oder die in Nordrhein-Westfalen übliche Bezeichnung Textilgestaltung verwendet.

Der textile Spannungsbogen | 11

Grundlage für das Herausstellen möglicher Potentiale bildet ein Konstrukt. In der Performanz von Abramovic und Ulay (Abbildung 1) zeigt sich das Konstrukt als ein durch das Textile/den Faden gespannter Bogen, mit dem sowohl zwei Bereiche als auch die Beziehung zwischen diesen Bereichen dargestellt wird. Dieser textile Spannungsbogen wird folgend textiles Spannungsfeld genannt. Bei dem textilen Spannungsfeld handelt es sich um eine vorgeschaltete Idee/Hypothese, mit der versucht wird, das Textile und seine Beziehung zum Menschen zu bestimmen und zu charakterisieren, um daraus Schlussfolgerungen, Erklärungsansätze und weitere Thesen für den geringen Stellenwert des Textilen zu finden. Das Textile unter (kultur-)anthropologischer und evolutiver Perspektive zu betrachten, hilft dabei, deduktiv das Spannungsfeld herzuleiten und zu begründen. Die Ergebnisse der Herleitung dienen dann im zweiten Teil der Arbeit als Spiegel bzw. Analyseinstrument für ein Hinterfragen textiler Bildung, fachdidaktischer Konzeptionen und Ideen für den Textilunterricht. Auch hier wird unter anderem das Ziel verfolgt, Erklärungsansätze für den geringen Stellenwert des Textilen in Bildungskontexten zu finden. Darüber hinaus dient das textile Spannungsfeld als Hilfestellung, um bestehende Konzeptionen zu bewerten und gerade in Bezug auf die dem Textilen innewohnende Spannung Chancen und Potentiale des Textilen in Bildung weiterzuentwickeln und gegebenenfalls fachdidaktische Ummodellierung bzw. Neukonzeptionierung vorzubereiten. So wird innerhalb der vorliegenden Arbeit hermeneutisch und phänomenologisch vorgegangen. Hermeneutisch, weil ein anderes Verstehen bzw. ein „AndersVerstehen“ (Danner, 2006, S. 73) in Bezug auf das Textile und textile Bildung generiert werden soll. Dieses Anders-Verstehen ist aufgrund der Marginalisierung des Textilen und der Kürzungen des Textilen in Schule sinnvoll. Beide Punkte stellen ein Problem dar, dem ein Interesse zur Veränderung beiwohnt. Das hermeneutische Vorgehen ist zudem passend, weil ihm gerade auch das Verstehen der Beziehungen zwischen dem Menschen und seinen Erzeugnissen zu Grunde liegt. Genauso ein Beziehungsgeflecht steht im Mittelpunkt dieser Arbeit – es ist die Beziehung zwischen Mensch und Textilem. Aus dem Beziehungsgeflecht und der Problemstellung des Textilen ergibt sich eine Hypothese/ein Konstrukt für das Textile in Verbindung zum Menschen – das Textile stehe zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung unter Spannung, es existiere ein textiles Spannungsfeld. Hier anknüpfend müssen bezüglich des methodischen Hintergrundes Aspekte der Phänomenologie hinzugezogen werden, denn beide Vorgehen gehen ineinander über (Danner, 2006, S. 134). Phänomene liefern dem hermeneutischen Verstehen die Substanz. In der Phänomenologie geht es darum, „zu den Sachen selbst“ (S. 132) zu finden und diese zu beschreiben. Es ist möglich, an einem neuen bzw. anderen Anfang anzusetzen. Obwohl innerhalb dieser Arbeit nicht davon ausgegangen

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werden kann, z.B. zu den Ursprüngen des Textilen vorzudringen, läuft nichtsdestotrotz die Maxime der Phänomenologie mit und hilft dabei, sich nicht auf die Traditionen und Vorurteile des Textilen und textiler Bildung zu konzentrieren, sondern über diese hinaus zu gehen. Ein phänomenologisches Vorgehen ist im Kontext textiler Bildungschancen relevant, da eine vorurteilsfreie Einstellung und Beschreibung einem Phänomen gegenüber angestrebt wird. Weil sich innerhalb dieser Methodik, anders als in der Empirie, auch auf Einmaligkeit, Vorstellungen und Erinnerungen, auf Individuelles und Ganzes bezogen werden kann, ist dieses Vorgehen in Kombination mit der Hermeneutik prädestiniert, da das Textile als Forschungsfeld noch ein relativ junges ist (Mentges, 2005) und aufgrund der textilen Materialität nur wenige Artefakte vorhanden sind (Barber, 1994). Deswegen wird folgend zum Teil auch auf künstlerische und textil-künstlerische Arbeiten Bezug genommen. Zwar tauchen textile Sachverhalte in künstlerischen Arbeiten in der Regel verdichtet auf (McFadden, 2007, S. 11), eine Beschreibung und Einbindung fördert allerdings das Verstehen, Anders-Verstehen des Textilen und Unsagbares wird sagbar (Singer, 2002, S. 222f). Den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit, wenn Hermeneutik und Phänomenologie noch einmal zusammengenommen werden, liegen mit Bezug zum textilen Spannungsfeld als Konstrukt die Tätigkeiten des Beschreibens, Verstehens und Erklärens zu Grunde (Danner, 2006, S. 171). Das Textile im Spannungsfeld In der Betrachtung des Textilen, von seinen ersten überlieferten Erscheinungsformen bis heute, kristallisiert sich ein Spannungsfeld heraus, an dessen Enden zwei Pole bzw. Bereiche liegen, die in binärer Opposition zueinanderstehen: eine textile Omnipräsenz und eine textile Exteriorisierung. Dieses Spannungsfeld erscheint aus dem Textilen selbst erzeugt und dementsprechend paradox, denn beide Pole an sich beschreiben und charakterisieren das Textile in seiner jeweiligen Entwicklung, in seiner Erscheinungsform sowie in seinen positiven und negativen Ausprägungen. Bevor das textile Spannungsfeld als Kernstück dieser Arbeit einleitend erläutert wird, soll vorerst der Begriff des Textilen umrissen werden. In Anlehnung an Mentges (2005) liegt er dieser Arbeit zu Grunde, damit sich auf ein weites Bedeutungsfeld des Textilen bezogen werden kann. Der Begriff intendiert diese Weite und lässt es zu, auf mannigfaltige Ebenen des Textilen zu schauen. Vor dem Hintergrund einer traditions- und vorurteilsbehafteten textilen Bildung ist es auf der Suche nach Chancen und Potentialen sinnvoll, diese weite Perspektive einzunehmen.

Der textile Spannungsbogen | 13

Textil leitet sich unter anderem vom lateinischen Wort texo ab, welches diverse Bedeutungen aufweist: „Weben/flechten/bauen/verfertigen/zustande bringen“ (Mentges, 2005, S. 15). Die Wortherleitung lässt auf mehrere Bedeutungsebenen des Textilen schließen, die im weiteren Verlauf relevant sein werden: auf textiles Material; textiles Material, das bearbeitet wird; auf den Menschen, der innerhalb dieser Bearbeitung in eine aktive Beziehung mit dem Textilen tritt; auf Dinge, die geschaffen werden; auf Handlungen mit den hergestellten Dingen. Eine Beziehung zwischen Mensch und Textilem ist demnach gekennzeichnet durch Aktivität. Gordon (2011) verwendet hierfür passend die Bezeichnung „textile activities“ (S. 60), in welcher der performative Charakter des Textilen noch mehr zur Geltung kommt. Wird im Folgenden die Bezeichnung textile Aktivität in Anlehnung an Gordon verwendet, wird entweder Bezug genommen auf das Ausführen textiler Techniken, auf Handlungen mit textilen Dingen oder auf beide Aspekte. Das nachstehende Cluster (Abbildung 2) zeigt eine Sammlung der meisten Bedeutungsfelder, die unter dem Begriff des Textilen hier gefasst und zum Teil im Verlauf der Arbeit noch näher besprochen und, wenn nötig, eingegrenzt werden: Abbildung 2: Bedeutungsfelder des Textilen innerhalb der vorliegenden Arbeit

Das Textile innerhalb dieser Bedeutungsfelder und in Bezug auf eine Verbindung zum Menschen, die so auch nach der Begriffsherleitung immer da ist, teilt sich auf in zwei Bereiche bzw. Pole: Omnipräsenz und Exteriorisierung (Abbildung 3).

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Im Bereich der Omnipräsenz ist das Textile dem Menschen besonders nah. Thesenhaft formuliert existieren der Mensch und das Textile symbiotisch miteinander. Omnipräsent textil ist beispielsweise die Bettdecke, die einen jede Nacht umhüllt, der Rollkragenpullover, der mit dem Körper verschmilzt, aber auch die simple Tätigkeit des Schuhe Zubindens, die jedes Mal, wenn eingeübt, automatisch vollzogen wird. Mit der Omnipräsenz einher gehen verschiedene Eigenschaften, die das Textile in diesem Bereich beschreiben: nah und symbiotisch, weich, warm, sinnlich, taktil, handlich, anschmiegsam, einverleibt, persönlich, individuell, flexibel, fokussiert, gefühlvoll, emotional. In dieser Nähe des Textilen zum Menschen besitzt das Textile viele bildende Momente im kulturellen und sozialen, emotionalen und biografischen und auch im kognitiven, lerntheoretischen und handlungsorientierten Feld. Im Bereich der Omnipräsenz schwingen aber auch negative Konnotationen mit, aus denen Begründungen für die Marginalisierung des Textilen und textiler Bildung abgeleitet werden können. Wenn das Textile dem Menschen nah und einverleibt ist, ist es zum Teil selbstverständlich und unsichtbar. In der Allgegenwärtigkeit des Textilen liegt ein eingeübter Umgang gerade mit textilen Erzeugnissen wie der Kleidung, die zwar bedeutend für Ich-Konstruktionen ist, aber selten bewusst reflektiert wird. Textiles ist im westlichen Kulturkreis selbstverständlich verfügbar, Produktionsprozesse sind ausgelagert, kaum einsehbar und spielen für Handlungen mit dem Textilen keine primäre Rolle. Demzufolge ist der Blick auf die Eigenschaften handlich und analog unter Umständen ein antiquierter. Analog mit der Hand ausgeführte textile Techniken werden dem häuslichen Raum und damit – bezieht man Frauen und Mädchen als die handarbeitende Gruppe in der Geschichte des Textilen mit ein – dem Weiblichen zugeordnet. Im Mittelpunkt des anderen Pols stehen Prozesse der Exteriorisierung des Textilen, d.h. der Auslagerung. Die Auslagerung des Textilen findet auf unterschiedlichen Ebenen statt – in der Beziehung des Textilen zum Menschen, räumlich, symbolisch und technisch-fortschreitend. Das Textile bewegt sich also fort. In der Begriffsherleitung findet sich schon ein Indiz dafür. Die Beziehung zwischen Mensch und Textilem ist aktiv, löst Prozesse und Veränderungen aus. Sie ist kreativ und schöpferisch. Im Textilen erscheinen Dynamik, Prozesshaftigkeit und Weiterentwicklung. Das textile Material oder die textile Faser wird zu einem Faden verarbeitet. Aus dem Faden wiederum entsteht zum Beispiel mit der Technik des Strickens eine textile Fläche, aus der Fläche wird ein textiles Ding, ein Kleidungsstück, konstruiert. Das Kleidungsstück wird von einem Menschen getragen, getragen in einem bestimmten Kontext, zu einer bestimmten Gelegenheit, d.h. in einer Gesellschaft, in einer Kultur – Vereinbarungen, Bedeutungszuweisungen, Codes entstehen. So finden sich in dem

Der textile Spannungsbogen | 15

beschriebenen Prozessverlauf zwei konstruktive Momente, die hier noch auf der Ebene der Primärtechniken stehen. Zum einen ist es die Konstruktion eines textilen Dinges durch den Menschen. Zum anderen liegt eine Konstruktion von Kultur mit Hilfe des textilen Entstehungsprozesses und des textilen Dinges vor – in diesen Prozessen entstehen jeweils Strukturen. Die Primärtechniken bilden im Rahmen ihres schöpferischen Potentials einen Raum oder eine Basis für Erfindung und Expansion, vor allem im technischen Bereich, aber auch im Symbolischen. In diesem Zusammenhang prägt André Leroi-Gourhan (1988, S. 302f) den Begriff der Exteriorisierung, der im Rahmen dieser Arbeit verwendet und in Bezug auf das Textile weiterentwickelt wird. Ausgangspunkt für Leroi-Gourhan ist der Mensch und sein Gebrauch der Hand. Die Exteriorisierung betrifft dementsprechend die Hand, deren Tätigkeitsfelder durch den Gebrauch von Werkzeug erweitert werden. Ein gutes Beispiel aus dem Bereich des Textilen ist die Technik des Webens: begonnen beim Verkreuzen mehrerer Fäden mit der Hand über das Handweben mit einfachen Webrahmen, zum Weben an einem Webstuhl und weiterführend zum mechanisierten Webstuhl und bzw. oder zum durch Lochkarten gesteuerten Jacquardwebstuhl, dessen Prinzip der gelochten und nicht gelochten Stellen sich in der binären Programmiersprache (Programmieren im System von Nullen und Einsen) wiederfindet. In diesem einleitenden Beispiel wird das konstruktive, kreative und strukturierende Potenzial einer Primärtechnik angedeutet – ein Potenzial, das mit den Adjektiven aktiv, beweglich, entwickelnd und fortschreitend weiter beschrieben werden kann. Das Textile in seiner omnipräsenten Beziehung zum Menschen wird aufgrund der aktiven Beziehung exteriorisiert. Aspekte, die ihren Ursprung in der Beziehung Mensch-Textiles, sich allerdings durch diese verändert und weiterentwickelt haben, werden folgend als exteriorisiert beschrieben. Exteriorisierung beschreibt also zum einen eine Entwicklung bzw. einen Prozess und zum anderen wird der Begriff hier auch für einen Zustand verwendet. So ist die Entwicklung vom Handweben bis zum binären Programmiersystem ein Exteriorisierungsprozess und die dadurch entstandenen Entwicklungen, wie beispielsweise Computer und Internet, exteriorisiert, dem Bereich der Exteriorisierung zugehörig. Zu diesem Bereich gehören demnach komplexe und in der Regel auch technische Prozesse, deren Verständnis sich teilweise nur auf ein kleines Fachpublikum beschränkt oder, von einer anderen Perspektive aus gesehen, sich der breiten Masse nicht auf Anhieb erschließt. Mit dieser Problemstellung ergeben sich auch für diesen textilen Bereich negative Zuweisungen. In der Exteriorisierung kann das Textile demnach fern, abstrakt, unverständlich, anonym, distanziert und unsichtbar sein – mit dem Blick auf eine technische Ausprägung auch kalt. Wenn die Akteure

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dieser Entwicklung miteinbezogen werden, ergibt sich zudem eine Tendenz zum Männlichen. Abbildung 3: Das textile Spannungsfeld

Ein Auseinandersetzen mit der Beziehung zwischen Mensch und Textilem und die damit verbundene Herleitung des textilen Spannungsfeldes stehen im Mittelpunkt der ersten beiden Kapitel. Ziel ist es, eine Basis zu schaffen und mit Hilfe des hypothetisch konstruierten Spannungsfeldes ein Anders-Verstehen des Textilen zu fördern. So rückt im zweiten Kapitel ein textiles Gedächtnis, das sich in der Beziehung zwischen Mensch und Textilem bildet, in den Vordergrund. Diese Beziehung existiert schon seit Jahrtausenden, obwohl sich die Nachvollziehbarkeit bzw. Nachprüfbarkeit einer solchen Verbindung aufgrund der textilen Materialeigenschaften als schwierig gestaltet. Nichtsdestotrotz können mit Hilfe einzelner, seltener Artefakte und unter Berücksichtigung anderer Quellen Schlüsse gezogen werden. Mit der Theorie einer String Revolution deutet Elisabeth Baber (1994) an, dass das Textile maßgeblich an einer kulturellen Evolution, an Prozessen der Menschwerdung beteiligt sei. Es ergibt sich folgend die These, das Textile wirke strukturschaffend. Diese These wird erarbeitet auf der Ebene der Materialität des Textilen und unter Betrachtung der textilen Primärtechniken (Stricken, Häkeln, Knoten, Weben), auf der Ebene textiler Musterbildungsprozesse, die sich in Ordnungsmustern des Menschen widerspiegeln, und auf der Ebene einer textilen Symbolik, welche sich beispielsweise offenbart in Metaphern des Netzwerks oder in einem vestimentären Zeichensystem. Textiles strukturiert und systematisiert, nur wie? Die Beziehung

Der textile Spannungsbogen | 17

Textiles-Mensch ist gekennzeichnet durch eine Korrespondenz, eine gegenseitige Beeinflussung, die nicht nur vom Menschen ausgeht, sondern auch vom Textilen (material engagement). In dieser Korrespondenz zeigt sich ein kreatives und schöpferisches Potential. Textil aktiv bewegt sich der Mensch immer zwischen den beiden Feldern von Kreativität: creare (bewusst etwas schaffen) und crescere (etwas geschehen lassen). Darüber hinaus wirkt sich das Textile grundlegend auf kreative Prozesse aus. Es schafft für sie eine Basis. Mit dem Textilen in seiner flexiblen, weichen, bindenden und umhüllenden Funktion entstehen sowohl Selbstsicherheit bzw. -vertrauen als auch Sicherheit vor Umwelteinflüssen. Um kreativ tätig zu sein, sind diese Sicherheiten fundamental bedeutsam. Letztendlich ist auch die textile Materialität kreativ aufgeladen, denn ihre Flexibilität und ihre Fragilität, das sich zersetzende Textile, stellen einen enormen Spielraum für Umformungen dar. Diese Aspekte regen zu einer immer wieder stattfindenden Neukonstruktion an. Das Textile steht zwischen den von Rainer M. Holm-Hadulla (2011) herausgestellten kreativen Momenten Schöpfung und Zerstörung. Es wird sich zeigen, dass die Nähe und die Omnipräsenz des Textilen zum Menschen ausschlaggebend und fundamental für Kreativität sind und die Möglichkeit, mit dem Textilen kreativ zu handeln, Exteriorisierung auslöst. In der Beziehung Textiles-Mensch nimmt eine Komponente eine besondere Position ein: die Hand. Über die Hand stehen Mensch und Textiles in Verbindung, sie ist das Zwischenglied in einem kreativen Kreislauf. Auch im dritten Kapitel wird vorerst zu den Ursprüngen zurückgegangen. Die Hand im Geflecht TextilesMensch wird unter evolutiven Aspekten betrachtet und ein Blick in eine Technikentwicklung geworfen (Leroi-Gourhan, 1988), welche durch evolutive Veränderungen der Hand (eine gesteigerte Handkontrolle) und eine nun mögliche Korrespondenz mit textilem Material einen Nährboden findet. Über eine Technikentwicklung hinaus werden zudem Bezüge zu einer kulturellen Evolution des Menschen hergestellt, denn der greifende und begreifende Mensch entwickelt sich zu einem Individuum mit „reflektierter Intelligenz“ (S. 140). Aus dieser evolutiven Perspektive ergeben sich Indizien für eine besondere Verbindung zwischen dem Gehirn des Menschen und seinen tätigen Händen, die auch heute noch relevant ist. Taktile und haptische Wahrnehmung wird demnach eingeordnet in den Kontext der Selbst- und Fremdwahrnehmung, in eine Erschließung der Wirklichkeit. Hiermit wird zudem ein entwicklungspsychologisches Feld angeschnitten, in dem das Textile wiederum eine fundamentale und kreativitätsfördernde Rolle einnimmt – das Textile ist gerade für Kleinkinder das bevorzugte Übergangsobjekt

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(Winnicott, 2015). Die Herleitung des Spannungsfeldes baut sich mit Bezugnahme auf die Hand aus. Die gesteigerte Handkontrolle kann als Initialzünder für das textile Spannungsfeld und für die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung herausgearbeitet werden. Mit der Hand baut der Mensch zugleich Nähe (Bereich der Omnipräsenz) zum Textilen auf und die Hand als Kernstück in der Korrespondenz zwischen Textilem und Mensch animiert Exteriorisierung. Beide Pole wirken in ihren Ursprüngen unter einer passenden Spannung, d.h. gleichberechtigt und wechselseitig. Die kreative Spannung ist allerdings wesentlich an einem Auseinanderscheren der Bereiche Omnipräsenz und Exteriorisierung beteiligt. Allegorisch wird für das Phänomen des Auseinandergleitens die Schere benutzt, die im Öffnen und Schließen kreativ ist, aber in einem stillstehenden geöffneten Zustand ihre Funktion verliert – genau dies passiert mit der Beziehung zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung. Konsequenzen für das Textile und seinen gegenwärtigen Stellenwert stehen vor diesem Hintergrund in einer Diskussion, mit der übergeleitet wird zu einer Reflexion des Textilen in Erziehung, Bildung und Unterricht. Kapitel vier nimmt somit auch eine Brückenfunktion ein und leitet über zu einer Erörterung textiler Bildungsaspekte. Inwiefern sich das textile Spannungsfeld, die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung sowie das Auseinanderscheren dieser im Rahmen textiler Bildung wiederfinden und welche Konsequenzen und neue/andere Thesen sich mit Hilfe eines Vergleichs ergeben, steht im Fokus des fünften Kapitels. Der These, Textiles in Erziehung, Bildung und Unterricht seit den ersten textilen Bildungsideen/-konzepten sei eher verankert im Bereich der Omnipräsenz und begründe sich aus diesem, wird mit Rückbezug auf die Geschichte textiler Bildung nachgegangen, deren Anfänge in Konzepten der Mädchenerziehung liegen. Zwei aktuelle fachdidaktische Konzepte und zwei schul- bzw. unterrichtsorientierte Projekte herausgreifend wird weiterführend das Verhältnis dieser zur textilen Omnipräsenz und Exteriorisierung überprüft. Damit wird zum einen versucht, eine neue Begründungsidee für den Stellenwert und die immer noch anhaltende Legitimationsproblematik vorzustellen – das Textile kann in Erziehung, Bildung und Unterricht nicht erfolgreich sein, wenn es sich lediglich aus einem der Pole begründet. Es ist erfolgreich, wenn die Spannung zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung aufrechterhalten wird, wenn Textiles auch in Bildungskontexten wechselseitig wirken kann bzw. wenn der Zusammenhang zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung konstruktiv für Bildung genutzt wird. Die textile Spannung und wechselseitige Polarität soll zuletzt auf zwei gegenwärtig diskutierte Anforderungen an

Der textile Spannungsbogen | 19

Bildung, Erziehung und Unterricht, Inklusion und Digitalisierung, übertragen werden. Potentiale und Chancen hervorhebend kann das Textile auf diese Anforderungen reagieren und das Erfüllen der Anforderung unterstützen. Den Kapiteln zwei, drei und fünf sind jeweils Teilzusammenfassungen angehängt. Im Bündeln, um an das Textile im Sprachgebrauch des Menschen anzuschließen und um an die textile Tätigkeit des Zusammenfassens von mehreren Fäden zu erinnern, werden die wichtigsten Aspekte herausgestellt. Pointiert werden in Kapitel sechs die Potentiale und Chancen des Textilen und des Textilen in Erziehung, Bildung und Unterricht mit Bezug auf die textile Omnipräsenz und Exteriorisierung zusammengefasst. Einen Reißverschluss zwischen den Polen einnähend dient das textile (Bildungs-)Fazit zudem dafür, aus einer Reflexion der einzelnen Teilkomponenten dieser Arbeit heraus (die Beziehung/Verbindung zwischen Textilem, Mensch und Hand, die textile Schere und die fachdidaktischen Konzepte und Beispiele mit den unterschiedlichen Tendenzen zu Omnipräsenz oder/und Exteriorisierung), Ideen für eine veränderte Ausrichtung des Textilen in Erziehung, Bildung und Unterricht aufzuwerfen sowie eine fachdidaktische Umstrukturierung vorzuschlagen. Das Fazit steht als Zusammenfassung und Reflexion demnach in Anlehnung an den Künstler Ursus Wehrli, der Kunst aufräumt, unter dem Motto, Textiles und textile Bildung aufzuräumen. Darüber hinaus wird es, in Anlehnung an ein material engagement und ein digital engagement, ein textile engagement einfordern.

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Das textile Gedächtnis

Mehrere Frauen sitzen gemeinsam in einem Raum. Jede von ihnen hat verschiedene Stoffstücke vorbereitet – gemusterte oder mit Figuren und Symbolen versehene Stoffstücke. Gemeinsam nähen sie in akribischer Handarbeit aus den einzelnen Teilen eine zusammenhängende Fläche, einen Hochzeitsquilt. Dabei erzählen sie sich ihre Lebensgeschichten, diskutieren und streiten über ihre Vorlieben und Eigenheiten, setzen sich handarbeitend mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander. Stich für Stich verbinden sich ihre Geschichten, Erfahrungen und Gefühle mit dem Quilt und untereinander. Der Quilt wächst und entwickelt sich. Gleichzeitig wachsen im Zusammensein, im Austausch mit den Anderen, im gemeinsamen Arbeiten und in einer Korrespondenz mit dem Quilt die Frauen zu einer Gemeinschaft zusammen. So bilden Quilt und Frauen ein gemeinsames Gedächtnis, das an Folgegenerationen weitergereicht wird. Die zukünftige Braut trägt den Quilt mit in ihr zukünftiges Leben. Dabei bietet er ihr Schutz und Geborgenheit als umhüllende und wärmende Decke und als aufgeladener Träger der Erinnerungen, Kenntnisse und Fähigkeiten seiner Macherinnen (Whitney, 1991). Der Quilt verweist ebenso auf ein allgemeineres, größeres textiles Gedächtnis. Folgend wird sich auf ein textiles Gedächtnis bezogen und nicht etwa auf eine textile Geschichte, denn im Gedächtnis, das auch Verbindung bedeutet (Assmann, 2009, S. 132f), liegt die Beziehung zwischen Textilem und Mensch, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht. Nach Aleida Assmann (2009), die die Gedächtnisformen einer Kultur ausdifferenziert, kann das textile Gedächtnis zwischen den von ihr unterschiedenen Gedächtnisformen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis stehen. Das textile Gedächtnis, wie eben durch den Quilt repräsentiert, gibt einen Einblick in längst vergangene Lebens- und Wissensbereiche und gleichzeitig in erinnerbare Bedeutungen, Handlungen, zwischenmenschliche Beziehungen etc. Wird also folgend ein textiles Gedächtnis in den Mittelpunkt ge-

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stellt, wird ein kultureller Speicherort aufgegriffen, der sich zwischen kommuniziertem und lebendigem Wissen sowie stillstehendem und festgeschriebenem Wissen bewegt (Assmann, 2009, S. 134). So findet sich in der Konkretisierung eines textilen Gedächtnisses ein Aspekt wieder, den Assmann bezüglich Speicherund Funktionsgedächtnis herausstellt – beide existieren nicht abgekoppelt voneinander, sondern sind miteinander verschränkt und differenzieren Kultur aus (S. 142). Es geht um einen textilen Speicherort, der im Grunde schon seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte gefüllt wird, denn dem Textilen ist ein sich entwickelndes, evolutionsähnliches, Veränderungen antreibendes Moment eigen. Stoffstück an Stoffstück nähend entwickelt sich der Quilt. Aber auch eine einzelne Faser, um mit der kleinsten textilen Einheit zu beginnen, bleibt nie alleine. Gesteuert oder nicht gesteuert verbindet sie sich mit anderen Fasern, verändert dadurch ihr Aussehen, ihre Eigenschaften und ihre Funktion. Aus einem Einzeller wird ein Mensch – aus einer Faser, dem Stofflichen wird in der Kommunikation etwas Virtuelles. Durch ihre Beschaffenheit (flexibel, weich, biegsam und zugleich mit winzigen Widerhaken versehen) ist sie auf Entwicklung, Wachstum und Fortschritt ausgerichtet. Das textile Gedächtnis hervorhebend wird aufgezeigt, wie sich das Textile im Zusammenhang mit der (kulturellen) Evolution des Menschen entwickelt. Die Anfänge einer Beziehung zwischen dem Menschen und dem Textilen werden betrachtet und das Textile als ein Element, dass kulturschaffend wirkt, analysiert. Die Beziehung zwischen Textilem und Mensch ordnet sich zudem ein in Jürg Willis (2007; 2016) Theorie zur Koevolution zwischen Partnern, denn das Textile und der Mensch gehen nicht nur eine Beziehung ein, sondern bestreiten gemeinsam einen anhaltenden Beziehungsprozess, der in einem Ideenprozess mündet. In diesem Zusammenhang werden die ersten Aspekte auffallen und auch herausgestellt werden, die das Textile als ein durch schöpferisches und kreatives Potential aufgeladenes Phänomen kennzeichnen. Unter der Annahme, das Textile besitze schöpferisches Potential und wirke bei der Entstehung und Festigung von Kulturen mit, wird ferner der Aspekt herausgearbeitet, dass das Textile strukturschaffend ist. Aufbauend darauf sollen die textilen Strukturen mit dem menschlichen Denken verglichen werden. Denn die These, dass sich das menschliche Denken in Strukturen des Textilen widerspiegelt und umgekehrt, dass sich textile Strukturen in menschlichen Denkprozessen zeigen, wird untersucht und überprüft werden. Der Gedanke, dass dem Textilen schöpferisches und kreatives Potential innewohnt, wird weiterverfolgt und im Zusammenhang mit den Primärtechniken erläutert. Weiterführend wird der Fokus abgewandt von den Primärtechniken und das Textile als Ausgangspunkt/als Motivator für kreative Prozesse analysiert.

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Dementsprechend wird Bezug genommen auf die Entwicklung und auch Erfindung bestimmter Hilfsmittel, Werkzeuge, Maschinen und Programmierungen, die ihren Ursprung im Textilen haben. Der Blick verschiebt sich also von einer menschlichen Evolution mit dem Textilen zu einer textilen Evolutions- bzw. Entwicklungsbetrachtung. Im textilen Gedächtnis, in dem die Verbindung Textiles-Mensch verankert ist, findet sich dementsprechend auch das textile Spannungsfeld wieder, welches aus dieser Verbindung erwächst. Die Herleitung des textilen Spannungsfeldes läuft im gesamten Kapitel mit und orientiert sich an folgenden Fragen: • Ab wann und wieso (unter welchen Bedingungen), wird ein textiles Spannungs-

feld sichtbar? • Kann ein Zeitpunkt mit einer besonderen Gegebenheit festgemacht werden, der

bzw. die das Entstehen eines Spannungsfeldes einleitet? • Wann und wieso kristallisieren sich die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung in Bezug auf das Textile heraus? Läuft die Entwicklung für beide Pole parallel ab oder gibt es Unterschiede?

2.1 EVOLUTION TEXTIL – EINE BEZIEHUNG ENTSTEHT Der Faden steht, entnommen aus der griechischen Mythologie, für das menschliche Leben. Die Länge des Fadens repräsentiert die Lebensdauer eines Menschen. Das Erstellen des Fadens im Akt des Spinnens, des Verdrehens einzelner Fasern zu etwas Zusammenhängendem, das Abmessen und Abschneiden des Fadens werden gleichbedeutend verstandenen mit den menschlichen Lebensabschnitten wie der Zeugung, der Geburt und dem Tod (Lösel, 1998, S. 17). Auch Redensarten und Sprichwörter verdeutlichen eine Verbindung zwischen dem Faden und dem menschlichen Leben, denn manchmal hängt das Leben am kostbaren, seidenen Faden (Schnatmeyer, 2016, S. 43f). Das Textile hängt mit dem Menschen und seiner polygenetischen Entwicklung zusammen. Aus kulturanthropologischer Perspektive verhalten sich Textiles und Mensch koevolutiv (Willi, 2007) zueinander und stehen in einer wechselwirkenden Korrespondenz (Ingold, 2014). Auf diese beiden Thesen wird im weiteren Verlauf des Kapitels eingegangen und die enge Beziehung Textiles-Mensch mit ihnen diskutiert und begründet. Beide Thesen spiegeln unter anderem Fortschritt und Kreativität wider. Die enge Beziehung zwischen dem Textilem und dem Menschen wird folgend betrachtet und die Fragen bearbeitet, seit wann und wieso von so einer starken Verbindung ausgegangen

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werden kann. So wird herausgestellt, dass das Textile sich evolutiv mit dem Menschen bewegt und dementsprechend im Umkehrschluss die Evolution und auch die weitere Entwicklung des Menschen beeinflusst. Es muss in diesem Kapitel zudem darauf hingewiesen werden, wie schwierig es ist, die enge Beziehung Textiles-Mensch wissenschaftlich korrekt nachzuweisen, denn der Materialität des Textilen ist neben dem Schöpferischen (vgl. Kapitel 2.3) etwas Zerstörerisches eigen. Gegenüber vereinzelten und seltenen textilen Artefakten bleiben manchmal nur Mythen, Geschichten, Märchen oder Redewendungen übrig, um die Beziehung zwischen Textilem und Mensch herzuleiten und nachzuvollziehen. 2.1.1 Evolution und textile Kultur – Begriffsbestimmung und -einordnung Wenn in diesem Kapitel von einer textilen Evolution gesprochen und das Textile in einen Zusammenhang mit der kulturellen Evolution des Menschen gestellt wird, ist es zunächst wichtig, auszudifferenzieren, welchen Begriff, welche Einordung von Evolution, kultureller Evolution und Kultur in diesem Abschnitt verfolgt wird. Evolution sei in ihrem Kern „ein lang anhaltendes Geschehen (ein bis in die Gegenwart nicht abgeschlossener Vorgang) in der Natur.“ (Toepfer, 2013, S. 7). Die Kernbedeutung erweitert Toepfer um vier für dieses Kapitel wichtige Aspekte. Ein evolutives Geschehen ist ein klar angebbarer und empirisch nachvollziehbarer Mechanismus. Trotzdem liegt in diesem Mechanismus „eine grenzenlose Dynamik, die in eine offene Zukunft läuft und dabei immer wieder neue, nicht prognostizierbare Formen hervorbringt.“ (S. 7) Wenn Evolution also dynamisch, konstruierend und schaffend ist, ist sie auch geprägt durch kreative Momente, Geschehnisse, Prozesse und durch „Transformationsschritte“ (S. 17), die wiederum kreative Handlungen miteinschließen. Die Handlungen, die Handelnden und die daraus entstehenden Erzeugnisse fokussierend gehen evolutive Prozesse2 über den Bereich der Natur und Biologie hinaus und erstrecken sich auch „auf den Bereich der Kultur“ (S. 7). In diesem Zusammenhang wird von einer kulturellen Evolution gesprochen. Die kulturelle Evolution wird kontrovers besprochen. Tim Ingold (1986) fragt sich im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit einer möglichen Evolution von Kultur zurecht: „Do societies, or cultures, evolve?“ (S. 1). Eine weit ver-

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An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht nur von der Evolution gesprochen werden kann, sondern durchaus verschiedene bzw. verschieden ausgeprägte evolutive Prozesse nebeneinander oder auch verknüpft miteinander stattfinden können.

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breitete und vielen Theorien zugrundeliegende Denkweise in Bezug auf die Kulturgeschichte der Menschen widerspricht in ihrem Kern der Idee, auch Kultur und nicht nur Natur könne evolutiv sein. Innerhalb dieser Denkweise, geprägt durch den Marxismus, macht „der Mensch seine Geschichte selbst und [bricht] aus den Gesetzen der Evolution aus“ (Fuchs, 2012, S. 36). Hier zeigt sich auch Revolutionäres, das insbesondere Barber (1994) im Kontext des Textilen bespricht. Fuchs (2012) zweifelt nichtsdestotrotz die Unabhängigkeit des Menschen von evolutiven Prozessen im Zuge einer Kulturalisierung an. Er fragt berechtigt danach, „wie sich die Fähigkeiten des Menschen, seine Geschichte selbst machen zu können, entwickelt haben, welches also die naturgeschichtlichen Grundlagen von Kultur sind.“ (Fuchs, 2012, S. 36) An diese Aussage schließen sich schon hier Ingolds (2014) Gedanken zu einer Korrespondenz zwischen Macher und Material (vgl. Kapitel 2.1.3) an, wenn das Material zuerst als etwas Naturgegebenes definiert wird, sich in seiner Beziehung zum Macher, aber wechselseitig mit dem Macher gemeinsam weiterentwickelt. Aus so einem Zusammenspiel würde demnach Kultur entstehen. Die Konkretisierung des Begriffes Evolution und der Einblick in die Kontroverse zur kulturellen Evolution geben nun Eingrenzungsdimensionen für das Textile und seine Analyse unter evolutiven und kulturschaffenden Aspekten. Es wird sowohl auf textile Inhalte, Aktivitäten und Dinge aus dem Bereich einer kulturellen Veränderung (Evolution) als auch aus dem Feld einer biologischen Evolution zurückgegriffen. Zum Teil werden textile Artefakte, die als Beispiele herangezogen werden, vordergründig aus einer kulturellen Entwicklungsperspektive betrachtet. In Kapitel drei wird dann erst schwerpunktmäßig auch der Bogen zu einer biologischen Entwicklungsperspektive gespannt, um zu versuchen, das Textile mit der evolutionsbedingten Veränderung der Hand in Bezug zu setzen. Das heißt konkret, dass in dieser Arbeit das Textile zwischen einer kulturellen Evolution und einer biologischen Evolution der Hand betrachtet wird. 2.1.2 Nachvollziehbarkeit des Textilen in der Evolution des Menschen Um nachvollziehen zu können, inwiefern und wie sich das Textile in der kulturellen Evolution des Menschen verortet bzw. wiederfindet, muss zunächst kurz der Frage nachgegangen werden, wie, d.h. mit welchen Mitteln, sich generell die Evo-

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lution des Menschen nachvollziehen lässt bzw. in der Vergangenheit nachvollziehen ließ.3 Im Mittelpunkt werden ausgewählte textile Artefakte stehen. Abgesehen von einer übergeordneten Perspektive, die im Folgenden immer wieder eingenommen wird, wird innerhalb dieses Abschnitts die urgeschichtliche Zeitperiode ausgehend vom Paläolithikum fokussiert, da diese aufgrund des Aufkommens besonderer textiler Erscheinungsformen und Entwicklungen im Zusammenhang mit der Evolution und Kulturalisierung des Menschen ausschlaggebend zu sein scheint. Zur Übersicht der verschiedenen Zeitperioden vor Christus dient Elizabeth Barbers (1994, S. 26) Grafik, denn an Barber wird sich auch hinsichtlich der zeitlichen Eingrenzung angelehnt (Abbildung 4). Zrzavý et al. (2013, S. 16) geben einen Hinweis darauf, wie gerade das Textile in der Evolution/Veränderung des Menschen nachvollzogen werden kann. Das Textile als ein evolutiver Untersuchungsgegenstand zeigt sich unter anderem in Überresten, in Artefakten aus vergangenen Epochen oder in archäologischen Funden. Fuchs (2012, S. 40) stellt zudem als Untersuchungsgegenstand für eine Evolution und Kulturalisierung die Symbole in den Mittelpunkt und damit auch das materielle Ding, welches als eine Art Speichermedium untersucht werden muss, um den Menschen in seinen Veränderungen auch auf gruppenbildender Ebene nachvollziehen zu können: „Hinter dem materiellen Ding, das zudem sehr unterschiedlich aussehen und aus verschiedenen Materialien [auch textilen Materialien] hergestellt sein kann, steckt eine nicht sichtbare, aber im Bewusstsein der Menschen vorhandene Bedeutung. Das materielle Ding repräsentiert diese, macht sie kommunizierbar, organisiert Diskurse und soziale Gruppierungen und transportiert die Bedeutung über Raum und Zeit.“ (S. 40)

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Im naturwissenschaftlichen Bereich erforschten Wissenschaftler/-innen vor allem die Mannigfaltigkeit des Tier- und Pflanzenreichs immer mit dem Bestreben, „ein Ordnungssystem für die verschiedenen Arten zu finden (Taxonomie).“ (Tomiuk & Loeschcke, 2017, S. 2) Zrzavý et al. (2013) konkretisieren allerdings, dass das Sammeln und Ordnen von Daten z.B. aus der Vielfalt des Tier- und Pflanzenreichs nicht nur im Gegenwärtigen stattfindet: „Die Ähnlichkeit zwischen der Evolution der Organismen und der Geschichte der Menschheit ist nicht zufällig. Beides können wir nicht direkt beobachten, beides müssen wir retrospektiv anhand von Überresten rekonstruieren, wobei wir davon ausgehen, dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart irgendeine feste und plausible Verbindung existiert.“ (S. 16)

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Abbildung 4: Chronologischer Überblick über die urgeschichtlichen Zeitperioden

Wenn nun textile Überreste und materielle Dinge aus Textilien in diesem Kapitel im Fokus stehen, um über eine textile Evolution zu diskutieren, ergibt sich eines der ersten und auch grundlegendsten Probleme des Textilen – in der Textilforschung finden sich kaum Überreste. Das Textile bzw. textile Dinge sind gekennzeichnet durch ihre Vergänglichkeit und „Fragilität“ (Mentges, 2005, S. 30), durch die Vergänglichkeit textiler Faserstoffe und Materialien. „Textilien bestehen fast ausschließlich aus organischen Materialien, d.h. pflanzlichen und tierischen Fasern, die von Beginn ihrer Verwendung an einem natürlichen Zersetzungsprozess ausgesetzt sind. Dieser kann durch Umwelteinflüsse (Klima und Tiere/Bakterien) noch beschleunigt werden.“ (Biermann, 2005, S. 323) Die Fragilität der Faserstoffe erklärt die schwierige Quellenlage des Textilen, wenn es in

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evolutiven und kulturellen Prozessen nachvollzogen werden soll. So können Thesen meist nur mit Hilfe einzelner realer Artefakte hergeleitet werden, wenn diese überhaupt vorhanden sind, oder es muss Bezug genommen werden auf Abbildungen des Textilen in anderen Medien (z.B. Figuren und Statuen; Gemälde, Malereien und Porträts; rekonstruierte Herstellungsverfahren, reproduzierte textile Dinge, nachempfundene Handlungen, Sprache und etymologische Wortherleitungen) (Barber, 1994, S. 22, 46, 66). Wenn im weiteren Verlauf auch noch Bezüge zu Aspekten der Kreativität hergestellt werden, geht es in diesem Zusammenhang oft nicht mehr nur um Artefakte, sondern um den Nachvollzug eines Entstehungsprozesses, der noch flüchtiger und vergänglicher ist, da er zum Teil im fertigen Produkt/Objekt erlischt. Diese schwierige Quellenlage wird im Folgenden an der ein oder anderen Stelle ein etwas ungenaues, undeutliches Vorgehen unvermeidbar machen. So muss man annehmen, dass Textilien, textile Dinge und textile Materialien im Alltag der Menschen omnipräsent und allgegenwärtig waren. Diese Allgegenwärtigkeit ist aber aufgrund der Fragilität des Textilen schwer nachweisbar. In diesem Dilemma, das bei unseren Vorfahren ansetzt, kristallisiert sich die Problematik des Textilen heraus. Das Textile wertet sich durch seine Beschaffenheit im Grunde selbst ab. Indem es sich kontinuierlich und immer wieder von Neuem zersetzt, marginalisiert es sich und verschwindet. 2.1.3 Eine Jahrtausende alte Beziehung zwischen Mensch und Textil Das Textile und der Mensch hängen zusammen. Seit Jahrtausenden führen sie sozusagen eine Liebesbeziehung, die gekennzeichnet ist durch gegenseitige kreative Unterstützung und eine gemeinsame und individuelle Entwicklung. Es existiert eine Art Koevolution zwischen Textilem und Mensch. Der Begriff Koevolution ist geprägt durch Jürg Willi (2007; 2016). Er stellt den Menschen als ein Beziehungswesen heraus, „das mit seiner Umwelt vernetzt ist.“ (Willi, 2007, S. 11) Aus dieser Verbindung entsteht ein Beziehungsnetz, welches sich ständig in einer fortlaufenden Korrespondenz zwischen Mensch und Umwelt verändert. „Jeder Mensch ist eine Artikulationsstätte von Ideenprozessen, die sich in ihm ausformulieren. Er nimmt die Anregungen dieser Ideen von außen auf, verarbeitet sie und gibt sie wieder in veränderter, persönlich geprägter Form an seine Beziehungsumwelt ab.“ (Willi, 2007, S. 9) Begreift man Textiles und Mensch als koevolutiv zusammengehörig, entwickelt der Mensch sich in Kooperation mit dem Textilen. Das Textile kann anregend sein und Ideen im Menschen generieren. In der Bearbeitung ist es Spiegel und Zeugnis dieser Ideenprozesse, die nicht nur von einer

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einzelnen Person wahrgenommen werden, sondern weiterführende kulturelle Entwicklungsprozesse zwischen Mensch und Mensch und wiederum Mensch und Textilem beeinflussen. Auch Textiles und Mensch befinden sich in einem Beziehungsgeflecht, nach Willi (2007, S. 212f) in einem Beziehungsprozess. Dieser Prozess entsteht, weil Textiles und Mensch seit jeher aufeinandertreffen. Das Textile umgibt den Menschen in Form von stofflichem (tierischem und pflanzlichem) Material (Gordon, 2011, S. 60). Willis (2007, S. 213) Rahmenbedingungen für einen Beziehungsprozess werden nicht nur in Punkt a, dem Aufeinandertreffen in Zeit und Raum, erfüllt. Das Textile als leicht zu formendes Material und der Mensch, der in der Lage ist, zu formen, sind sich gegenüber aufgeschlossen und ansprechbar (Teil b der Rahmenbedingung). Die Hand (vgl. Kapitel 3) dient in diesem Kontext als Vermittler zwischen Mensch und Textilem. Durch sie entsteht eine Sprache und Kommunikation (Rahmenbedingung c). Im handwerklich-technischem Schaffen und in den unterschiedlichen Produkten, die immer wieder überarbeitet werden, erfüllen sich Willis Rahmenbedingung d und e für einen Beziehungsprozess – „ein gemeinsames Thema [wird etabliert und eignet] sich zur dialektischen Auseinanderdifferenzierung.“ (S. 213) Die Grundvoraussetzungen für eine enge, langanhaltende, funktionierende und kreative Beziehung sind also gegeben. Das Beziehungsnetz zwischen Textilem und Mensch wächst. Neben den neuen Verbindungen, die entstehen, zeichnet sich das Beziehungsnetz oder -system auch durch das Trennen von Verbindungen aus (Willi, 2007, S. 111). Trennung ist für Willi unter anderem positiv, denn sie stellt eine Chance dar, andere, neue Verbindungen zu knüpfen. Verbinden und Trennen sind infolgedessen zwei Tätigkeiten, die im Umgang mit dem Textilen omnipräsent sind. Um einen Knopf an eine Jacke anzunähen (eine neue Verbindung schaffen), bedarf es eines abgeschnittenen Fadens (eine bestehende Verbindung muss getrennt werden). Auf Willis Theorie der Koevolution wird weiterführend Bezug genommen, um die Beziehung Textiles und Mensch zu verdeutlichen. Für einen allgemeinen Überblick hinsichtlich der engen Beziehung zwischen Textilem und Mensch wird zuerst Beverly Gordon (2011) angeführt, die herausstellt, dass das Textile den Menschen schon seit Jahrtausenden begleitet und in einigen Situationen bedeutsam für die Veränderung bestehender menschlicher Konstellationen zu sein scheint.4 Vertiefend wird ferner Bezug genommen auf Elizabeth

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Die Bedeutsamkeit des Textilen in evolutiven Prozessen wird selbstverständlich auch aus einer kritischen Perspektive betrachtet. An einigen im Folgenden genannten Punk-

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Barber (1994) und ihre Theorie über eine String Revolution. In dieser Theorie, ausgehend von ihren Forschungen an prähistorischen Textilien/textilen Artefakten, stellt sie den Faden in den Mittelpunkt von Überlegungen zur kulturellen Evolution des Menschen. Erweitert werden ihre Ideen mit den Ausführungen von Anna Döpfner (1998), die, etwas anders als Barber, nicht den Faden, sondern Tragbehältnisse wie Netze, Beutel und Taschen als bedeutsame textile Dinge und Erzeugnisse in der Menschheitsentwicklung herausarbeitet. Anknüpfend an die Analysen Barbers und Döpfners kann dargelegt werden, inwiefern und auch seit wann das Textile kulturschaffend wirkt und die Evolution einer Kultur, den Zusammenschluss und das Zusammenleben von Menschen in einer Gruppe und Gesellschaft begünstigt – koevolutiv ist. Der Mensch ist – nachweisbar mit Hilfe textiler Artefakte – schon seit ungefähr 30.000 Jahren, vielleicht auch schon eher, textil aktiv. Eine Beziehung zwischen Mensch und Textilem baut sich zu diesem Zeitpunkt auf. Textil aktiv bedeutet in diesem Kontext, dass der Mensch textile Dinge aus Faserstoffen (pflanzlich und tierisch), die er in seiner unmittelbaren Umgebung findet, herstellt, in seinem Alltag benutzt und symbolisch auflädt. Gordon (2011, S. 60) stellt heraus, dass schon relativ zu Beginn der Menschheitsgeschichte der Mensch und das Textile in einer engen Beziehung zueinandergestanden haben müssen, da mit dem Textilen ein Bereich unter anderen Bereichen abgedeckt wird, der den Menschen in seiner (kulturellen) Veränderung und Entwicklung unterstützt und fördert. Textiles gibt dem Menschen physiologische und psychologische Sicherheit und trägt nicht nur zum Überleben eines Menschen, sondern einer Gruppe von Menschen bei. Die Beziehung Textiles-Mensch ist der Beziehung Mensch-Mensch ähnlich. Diese zeichnet sich durch Charakteristika wie Verbundenheit, Begleitung, Unterstützung, Herausforderung und kritische Auseinandersetzung aus (Willi, 2016, S. 328). Auf die Beziehung Textiles-Mensch sind die Charakteristika übertragbar.

ten wird vielleicht fälschlicherweise der Eindruck entstehen, das Textile sei die besondere Instanz bzw. der besondere und einzige Motor in der Veränderung menschlicher Strukturen. Innerhalb dieser Fußnote soll allerdings explizit einmal darauf hingewiesen werden, dass die Betonung des Textilen in einem evolutiven Kontext, natürlich unter dem Fokus des Forschungsgegenstandes dieser Arbeit, unvermeidbar und auch eines von mehreren Zielen dieser Arbeit ist. Es ist vor allem ein Ziel, wenn über die Marginalisierung des Textilen diskutiert wird. Trotzdem muss hier unterstrichen werden, dass, wenn so vorgegangen wird wie geschildert, es sich innerhalb eines spekulativen Feldes (Fuchs, 2012, S. 37) bezüglich der Ursachen für Veränderungsprozesse in der Menschheitsgeschichte bewegt wird.

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Ausgehend von der Feststellung Gordons (2011), dass schon seit Jahrtausenden eine enge Beziehung zwischen dem Menschen und dem Textilen existiert, wird nun zum einen erläutert, wie der Mensch dazu kam, Textilien herzustellen. Zum anderen wird ausgearbeitet, warum und inwiefern insbesondere das Textile ein Element innerhalb der kulturellen Menschwerdung war, das zum Schutz und Überleben des Menschen beitrug und heute noch beiträgt. Hierzu nennt Gordon mehrere grundlegende Aspekte, die diese Beziehung verdeutlichen. Da innerhalb dieses Kapitels aber der Fokus auf den evolutiven und kulturschaffenden Aspekten des Textilen in Verbindung mit dem Menschen liegt, werden drei Punkte hervorgehoben: • Der Mensch steht seit Jahrtausenden in einer engen Verbindung mit dem Tex-

tilen, da es ihm Schutz bietet (Gordon, 2011, S. 74). • Ferner existiert diese enge Verbindung, weil das Textile als Hilfsmittel für die

Nahrungssuche, den -transport und die -lagerung diente (bzw. heute immer noch dient) (Gordon, 2011, S. 82). • Das Textile wird durch den Menschen aufgeladen mit Bedeutungen, ist Zeichenträger, Symbol und Code in Verständigungsprozessen untereinander (S. 104). An dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden folgende Punkte: • das Textile als Transport- und Reisemittel (S. 91) • das Textile als Einkommensquelle für eine große Bevölkerungsschicht (S. 96)

Textilien entstanden, so Gordon (2011, S. 60), aus der engen Verbindung des Menschen mit seiner Umwelt. Der Mensch setzte sich mit den ihn umgebenden Materialien auseinander, die tierisch bzw. pflanzlich waren oder aus dem Bereich der Mineralien stammten. Im Laufe der Menschwerdung lernten die Menschen so den Umgang mit den Materialien. Der Umgang des Menschen mit Material kann weiter ausdifferenziert werden. Tim Ingold (2014) stellt heraus, dass der Mensch oder auch der Macher und das Material sich in einem Kreislauf der Korrespondenz befinden. Was Willi (2007) im Kern mit dem Begriff Koevolution beschreibt, fasst Ingold (2014) in einem Kreislauf zusammen als „Intuition in Aktion“ (S. 69).

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Abbildung 5: Korrespondenz zwischen Material und Macher (angelehnt an T. Ingold, 2014)

Mit der Idee einer Korrespondenz zwischen Macher und Material widerspricht er dem „hylemorphische[n] Modell“ (Ingold, 2014, S. 67), in dem der Mensch einem Material eine erdachte Form aufzwingt. Abbildung 6: Hylemorphisches Modell

Ingolds (2010; 2014) Konzept zu folgen und es genauso wie das Konzept der Koevolution immer wieder in Bezug zu textilen, textiltechnischen und menschlichen Veränderungen zu setzen, scheint für diese Arbeit sinnvoll, da dadurch die gegenseitige Bedingtheit von Textil und Mensch in den Fokus rückt. Nicht zu Unrecht bezeichnet Ingold (2010) auch das, was zwischen Macher und Material passiert, als „the textility of making“ (S. 91). Mit dieser textilen Beschreibung versucht er also, das Machen zu konkretisieren und es ist annehmbar, dass das, was dem Textilen und insbesondere der textilen Materialität eigen ist – etwas Flexibles, sich Verbindendes und Wachendes, das Machen und Schaffen am besten charakterisiert. So vergleicht Ingold (2010) seine Theorie mit dem Spinnen eines Fadens, in dessen Herstellungsprozess alle Eigenheiten des Machens zum Ausdruck kommen:

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„In the turn from spinning a thread to stretching it from point to point lies the ‚hinge‘ between bodily movement and abstract reason, between the textilic and the architectonic, between the haptic and the optical, between improvisation and abduction, and between becoming and being. Perhaps the key to the ontology of making is to be found in a length of twine.“ (S. 100)

So ergibt sich gerade auch auf das Textile bezogen ein nicht endender Prozess der Veränderung und Entwicklung, der mit einem weiteren Beispiel untermauert wird. Eine Korrespondenz und Wechselbeziehung zwischen Mensch und Material wird auch in dem Bestreben der Menschen deutlich, hergestellte Textilien zu färben: „Even a ‚primitive‘ coloring process involved complex interactions and a thorough understanding of the environment.“ (Gordon, 2011, S. 73) Beim Färben mit natürlichen Farbstoffen steht ein andauerndes Ausprobieren und Testen im Mittelpunkt des Tuns. Bis der Macher seine Idee von der bestimmten Farbe auf einem bestimmten Stück Textilie/Stoff umgesetzt hat, durchläuft er in Wechselwirkung mit den verschiedenen Farbstoffen ein ‚hin und her‘ zwischen Erfolg und Scheitern. Bei jedem neuen Anlauf und Versuch wird der Macher von den Eigenschaften und der Beschaffenheit des Materials sowie den Möglichkeiten und den Grenzen im Tun beeinflusst – genauso wie er wiederum das Material beeinflusst. Dieses Beispiel nimmt nicht nur Bezug auf eine textile Evolution als einen nicht enden wollenden Veränderungsprozess, es wirft zudem den Blick auf ein dem Textilen innewohnendes kreatives und schöpferisches Potential (vgl. Kapitel 2.2 und 2.3). Schutz ist eines der Elemente, mit denen Gordon (2011) die enge Verbindung zwischen Mensch und Textil begründet. Textilien seien schon immer für das Überleben des Menschen wichtig gewesen. Mit dem Textilen kann der Mensch sich vor seiner Umwelt, den ihn bedrohenden Naturgewalten schützen: „Garments can provide ‚micro environments‘ to protect against extreme cold, heat, sun, wind, or excessive moisture.“ (S. 74) Auch in diesem Bereich gibt es zahlreiche textile Beispiele (Dinge, Erzeugnisse etc.), die auf eine lange Mensch-Textil-Beziehungssgeschichte zurückgehen und von denen vermutet werden kann, dass schon die Menschen vor Jahrtausenden diese Textilien herstellten und benutzten. Das Tragen von Tüchern in der Wüste, um damit den Körper oder das Gesicht zu bedecken, ist so ein Beispiel, denn das Tuch schützt vor Sand, Wind und Sonne. Ingrid Loschek (1994, S. 425, 458) verweist hinsichtlich des Tuches auch generell auf den Stoff und auf das Gewebe und datiert die ersten Erzeugnisse, die auf fundierte Kenntnisse des Spinnens und Webens rückführbar sind, auf das 7. und 6.

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Jahrtausend vor Christus. Die Mesopotamier stellten also zu dieser Zeit auf ähnliche Weise, wie die heute noch bekannte, ein Stück Stoff her, das vielfältig als Kleidung eingesetzt wurde – vor allem aber auch, „bedingt durch die schroffen klimatischen Gegensätze [dieser Zeitperiode], [als] eine mehr oder weniger vollkommene Verhüllung des Körpers, auch [der] Arme und Beine“ (S. 11). Den Aspekt des Schutzes durch das Textile weiterverfolgend führt Gordon (2011, S. 74) zudem aus, dass, wenn mit dem Textilen Bedürfnisse des Schützens erfüllt werden, sich beim Menschen in der Beziehung mit dem Textilen ein Sicherheitsgefühl und somit Wohlbefinden einstellt. In dieser Feststellung wird deutlich, dass das Textile dazu beiträgt die Grundbedürfnisse oder, wie Maslow (2016) sie auch nennt, die „niedrigeren Bedürfnisse“ (S. 127) zu befriedigen. Die Bedürfnisbefriedigung durch das Textile geschieht nicht nur in vergangenen Zeiten, sondern auch heute noch. In Bezug auf das hier aufgestellte textile Spannungsfeld könnte allerdings vermutet werden, dass durch die Omnipräsenz von Kleidung und Textilien die schützende Funktion des Textilen in der Allgemeinheit nur unbewusst wahrgenommen und kaum als lebensnotwendig beschrieben werden würde. Nichtsdestotrotz sind Grundbedürfnisse des Menschen zum Teil mit Hilfe des Textilen erfüllt, sodass der Mensch, verfolgt man die Maslowsche Bedürfnishierarchie weiter, sich neue weiterführende Aufgaben stellt und der Befriedigung „höherer Bedürfnisse“ (S. 127) nachgehen kann. Den physiologischen Bedürfnissen und dem Sicherheitsbedürfnis folgen dann „Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe“ (S. 70) sowie „Bedürfnisse nach Achtung“ (S. 72). In beiden Fällen handelt es sich hier um Bedürfnisse, die nur innerhalb einer Gruppe, einer Gesellschaft bzw. im Zusammenleben mehrerer Menschen erfüllt werden können. Somit wirkt das Textile, wenn es dem Menschen Schutz bietet und sich mit ihm im Nahen und Omnipräsenten verbindet, gleichzeitig gruppenbildend, gesellschaftsschaffend und formt eine Grundlage für ein kulturelles Zusammenleben. Die „String Revolution“ (Barber, 1994, S. 42) Das Textile ist wichtig für den Menschen, da er es als Hilfsmittel nutzt, um Nahrung zu beschaffen, zu transportieren und zu lagern (Gordon, 2011, S. 82). Textilen Dingen werden zudem bestimmte Bedeutungen zugewiesen, mit denen die Menschen untereinander kommunizieren (S. 104). Im Zusammenhang mit diesen

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beiden Punkten tritt ein textiles Erzeugnis besonders in den Vordergrund. Vielleicht könnte dieses textile Produkt auch als das Ur-Textile bezeichnet werden. Es handelt sich hier um die einfache Schnur, das Band, einen Strang, den Faden.5 Die Archäologin Elizabeth Barber (1994) stellt zu eben dieser einfachen Schnur eine These auf, welche sie mit „String Revolution“ (S. 42), betitelt. Um die These einer String Revolution herzuleiten, fokussiert sie einen ganz bestimmten Zeitraum in der Menschheitsgeschichte, der sich vor allem in Bezug auf bestimmte Veränderungen und Schlüsselereignisse hervortut. Barber bespricht ihre String Revolution vordergründig im Rahmen der letzten Phase der Altsteinzeit bzw. ausgehend von dieser letzten Phase (Altpaläolithikum). Diese Zeit ist bedeutsam, da sich etwas im Handeln, im Tun und im Leben der Menschen dieser Zeitperiode verändert: „Human beings began to act very differently form the way they ever had before. For some two million years they had fashioned simple stone tools, and for half a million they had controlled fire and hunted cooperatively in groups. But forty thousand years ago, as the great ice sheets that had covered the northern continents retreated by fits and starts, humans started to invent and make new things at a tremendous rate […].“ (Barber, 1994, S. 42)

Unter vielen anderen Erfindungen wird vermutet, dass die Schnur bzw. der Faden und damit verbunden die Technik des Verdrehens von Fasern, das Nähen und als Werkzeug die Nadel innerhalb dieser Zeitperiode entwickelt werden: „During this vast time needles become common, and beads of shell, tooth, and bone turn up with increasingly small holes.“ (S. 43) An anderer Stelle bezieht sich Barber auf das Verdrehen und Verzwirnen pflanzlicher Fasern, sodass ein Strang, ein Stück Faden entsteht: „While others were painting caves or knapping fancy flints, some genius hit upon the principle of twisting handfuls of little weak fibers together into long, strong thread.“ (S. 43) Diese Zeitperiode mit ihren vielen Veränderungen und Erfindungen nimmt Barber als Ausgangspunkt für die von ihr so bezeichnete String Revolution. Es ist

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Gordon (2011) und Barber (1994) benutzen in ihren englischsprachigen Ausführungen das Wort string. Direkt übersetzt müsste im Deutschen dafür das Wort Schnur verwendet werden. Das Wort Schnur ist allerdings nicht mit dem Bedeutungsumfang des Wortes string gleichzusetzen. Demzufolge werden immer mehrere Wörter für string angeführt, um der mannigfaltigen Bedeutung und dem weiten Spektrum des string’s nachzukommen.

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das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass ein Faden im Rahmen einer archäologisch-wissenschaftlichen Verifizierung auftaucht.6 Diese Schnur, dieses Band nehme eine revolutionäre Stellung in der Weiterentwicklung und Veränderung der Menschheit ein: „So powerful, in fact, is simple string in taming the world to human will and ingenuity that I suspect it to be the unseen weapon that allowed the human race to conquer the earth, that enabled us to move out into every econiche on the globe during the Upper Paleolithic. We could call it the String Revolution.“ (S. 45)

Die koevolutive Beziehung Textil-Mensch startet im Bereich der Omnipräsenz. Die Verbindung muss nah gewesen sein und das Textile als Material interessant. Weich und biegsam, aber dennoch durch die Flexibilität haptisch interessant beginnt die Beziehung zwischen Textilem und Mensch in einer analogen, persönlichen und individuellen Korrespondenz. Erst an diesem Punkt entsteht das, was im Rahmen dieser Arbeit als Exteriorisierung bezeichnet wird: eine Auslagerung, Weiterentwicklung des Textilen, Technisierung und Symbolisierung. Die String Revolution kann demnach als einer der ersten textilen Exteriorisierungsprozesse benannt werden. Ausgangspunkt ist aber all das, was in den Bereich der Omnipräsenz fällt. Die Schnur und ihre vielfältige Einsetzbarkeit verschafft der Menschheit also eine bis dahin noch nie dagewesene Bewegungsfreiheit – die Möglichkeit, sich von einem Ort zu entfernen, weiterzuziehen, neue Gebiete zu entdecken, zu besiedeln und zu bevölkern sowie sich auszubreiten. Aber wieso besitzt eine Schnur, ein Band eine solche freiheitsschenkende, unabhängig machende Macht, dass Barber das Band sogar mit einer Waffe gleichsetzt? Für diese Frage scheint es zwei Antworten zu geben – eine, die sich direkt auf den Aspekt der Bewegungsfreiheit beziehen lässt, und eine weitere, die eher in einem übertragenen Sinne passt.

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Barber (1994) unterlegt und begründet ihre These zur String Revolution mit einigen der bedeutendsten gefundenen und am ältesten datierten Artefakte für den textilen Bereich. Zum einen bespricht sie in diesem Zusammenhang ein versteinertes Stück Kordel (Fossil) (Abbildung 7), das in den Höhlen von Lascaux, die für ihre Höhlenmalereien bekannt sind, gefunden wurde. Diese versteinerte Kordel ist ca. 17.000 Jahre alt. Zum anderen greift Barber auf gefundene und aus der Steinzeit stammende kleine Frauenfiguren (Abbildung 9) zurück, um ihre These herzuleiten. Die kleinen Frauenfirguren, gefertigt aus Stein, Knochen oder Elfenbein und auch bezeichnet als Venusfiguren, wecken ihr Interesse, da einige von ihnen ein ganz bestimmtes Kleidungsstück tragen, den „string skirt“ (S. 55).

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Abbildung 7: Skizze einer versteinerten Kordel, gefunden in den Höhlen von Lascaux, Frankreich (ca. 15.000 v. Chr.)

Mit der Schnur oder einem Strang und daraus weiterentwickelten textilen Dingen ist es dem Menschen möglich, effizienter Nahrung zu sammeln und zu jagen. Darüber hinaus kann die gesammelte Nahrung für längere Zeiträume eingelagert werden, da sie z.B. in Behältnissen verstaut hochgebunden und vor Nässe und Fäulnis geschützt wird. Das Anbinden und Hochbinden der Nahrung mit Schnüren und Behältnissen ermöglichte ferner den Transport einer großen Menge Lebensmittel über weite Strecken, sodass nicht nur einzelne Menschen, sondern eine Gruppe von Menschen (Frauen und ihre Kinder sowie ältere und gebrechlichere Mitglieder einer Gemeinschaft) gemeinsam von einem Ort zu einem anderen ziehen können. Das Textile und der Mensch verbinden sich und darüber verbinden sich die Menschen untereinander. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Anna Döpfner (1998) im Gegensatz zu Barber (1994) dem Behälter (einem Tragebehältnis, einer Art Beutel, einem Netz) die Rolle zuweist, die Barber der Schnur im Zusammenhang mit der Menschheitsgeschichte gibt. Auch Döpfners Argumentation für den Behälter als den Initialzünder in der kulturellen Evolution des Menschen ist textil und nachvollziehbar, da die Argumentation doch ähnlich wie die Barbers verläuft. Allerdings finden sich bei Döpfner (1998) einige Widersprüche und Uneindeutigkeiten:

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„Das erste Textil geht über die Schnur, den Faden hinaus. Der gedrehte Faden kann schon benutzt worden sein, um ‚Hausrat‘ zusammenzubinden, wenn eine Gruppe unserer frühen Vorfahren auf ihrer nomadischen Wanderung zu einem neuen Rastplatz weiterzog. Zur textilen Struktur wird der Faden erst als Masche oder Geflecht. Beide Strukturen sind in den ‚primitiven‘ Transportbehältern noch heute sichtbar.“ (S. 10)

In dieser Aussage scheint ihre Argumentation für den Behälter unklar und es stellt sich die Frage, ob nicht doch die Schnur das erste ausschlaggebende Textil ist, gerade weil es dann durch andere Techniken, wie das Weben oder Flechten, zu einer textilen Fläche wächst, die wiederum noch breiter eingesetzt werden kann als das Ur-Textile die Schnur. Aus der Gegenüberstellung von Barbers (1994) und Döpfners (1998) Thesen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass jedes textile Ding, jedes Gewebe, jedes textile Produkt rückführbar ist auf den Faden, auf die Schnur bestehend aus miteinander verdrehten Fasern. Das Verdrehen der Fasern zu einem Faden, einer Schnur ist wiederum Ausgangspunkt für Tätigkeiten der Entwicklung, des Schaffens, der Konstruktionen und für Momente des Wachsens (vgl. Kapitel 2.2 und 2.3). Die Schnur revolutionierte somit das Bewegungsverhalten Vieler und begünstigte dementsprechend den Zusammenhalt einer Gruppe. Die Schnur bzw. das Band hat nicht nur die Funktion etwas, einen Gegenstand, festzubinden, damit dieser Gegenstand nicht herunterfällt o. Ä. Das Band verbindet im übertragenen Sinne auch Menschen miteinander. Textiles steht nicht nur in enger Verbindung zum Menschen, es sei an Gordons (2011, S. 82) Thesen zur engen Beziehung zwischen dem Menschen und dem Textilen erinnert. Das Textile verbindet darüber hinaus die Menschen. Ähnlich argumentiert auch Kolhoff-Kahl (2015b), die nicht alle Bändertypen/-arten, sondern nur das Armband und seine Bedeutung für den Menschen herausarbeitet. „All diese ‚enchanted objects‘ [das Armband fokussierend] leisten zwischenmenschliche Beziehungsarbeit, verbinden die Gemüter oder lassen sich im schlimmsten Fall zerreißen.“ (S. 122) Mit dem Band setzt also Inklusion und Exklusion gleichermaßen ein – Kultur wird geschaffen. Die Macht der Schnur liegt in den Verbindungen, die mit ihr geschaffen werden können. Durch diese Funktion wirkt sie, die Schnur, noch auf eine weitere Weise koevolutiv und revolutionär. Zur Zeit des Paläolithikums, so Baber (1994, S. 55, 59), trugen und fertigten Frauen ein besonderes Kleidungstück an, das sich aufgrund seiner Beschaffenheit grundsätzlich von den sonst von Menschen dieser Zeitperiode getragenen Kleidungsstücken, die ihnen hauptsächlich als Schutz vor besonderen Wettereinflüssen dienten, unterschied.

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Abbildung 8: Konservierter ‚string skirt‘ aus Wolle (ca. 14.000 v. Chr.)

Barber (1994) bezieht sich hier auf den „string skirt“ (S. 55). Dieser Rock bestand aus einem um die Hüfte gebundenen Band, an dem die Frauen dieser Zeit viele herunterhängende Schnüre, Kordeln bzw. Bänder befestigten. Den string skirt entdeckte man unter anderem als Kleidungsstück an den Venusfiguren, was eine Besonderheit darstellt, da diese Figuren meist nackte Frauen darstellen. Anhand dieser Figuren konnten ferner unterschiedliche Formen und Tragweisen des string skirts abgelesen werden. Die Venus von Gagarino beispielsweise, datiert auf ca. 20.000 v. Chr., trägt die Schnüre und Bänder des Rockes vor ihrem Schambereich. Das Gesäß bleibt nackt. Bei anderen Venusfiguren können die Schnüre wiederum das Gesäß bedeckend erkannt werden und die Scham bleibt unbedeckt. Eine Frage scheint hinsichtlich des string skirts, abgesehen von den unterschiedlichen Formen und Tragweisen, und gerade in Bezug auf die schützende Funktion von Kleidung, von besonderer Wichtigkeit zu sein: „Why did people who owned so little go to all the trouble of making and wearing a garment that was so nonfunctional?“ (Barber, 1994, S. 55) Doch der string skirt wirkt nur auf den ersten Blick dysfunktional. Seine Funktion steckt in der Bedeutung, die ihm die Frauen und Männer des Paläolithikums zuwiesen. Trug eine Frau einen string skirt, wusste die Gruppe, in der sie lebte, dass sie aus physischer Perspektive reif

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war, Kinder zu gebären, und dementsprechend für einen Partner bereit war. Der Aufwand, um so einen Rock zu fertigen, war folglich nicht ungerechtfertigt. Der Unterschied zum Anfertigen von Kleidungsstücken, die in erster Linie schützen sollten, liegt nur darin, dass sich die Funktion und Wichtigkeit des string skirts auf einer impliziten anstatt expliziten/unmittelbaren Ebene erschließt. Nichtsdestotrotz scheint der Rock für den Erhalt der eigenen Spezies genauso wichtig, wie eine Decke oder ein Fell, die vor Kälte schützen, denn der Rock suggeriert und beeinflusst die Fortpflanzung (Barber, 1994, S. 59). Abbildung 9: Zeichnungen weiblicher Steinfiguren, die einen ‚string skirt‘ tragen (ca. zwischen 20.000 bis 3.000 v. Chr.)

Um den Bogen zur String Revolution zu schlagen, finden sich im string skirt zwei machtvolle Funktionen. Zum einen verbindet der Rock die Menschen auf rein physische Weise. Er beeinflusst eine sexuelle und auch emotionale Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann. Weitergedacht verbindet der Rock zum anderen eine ganze Gruppe von Menschen, da er als Kommunikationsmittel untereinander eingesetzt wird. Eine Gruppe von Menschen verständigt sich über die Bedeutung des Rockes als Zeichen für Fruchtbarkeit, Leben, Vitalität, Kraft, Gesundheit und Fortpflanzung. So wird der Rock zu einem Zeichenträger, die Menschen schaffen über die Bedeutungszuweisung eine Symbolisierung und treiben mit einer textilen Technik und einem textilen Ding kulturelle Evolution an. Über die Symbolisierung des Textilen wird Kultur geschaffen. Ernst Cassirer (2007, S. 339) beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit dem Menschen und der Kultur einen Aspekt, der hier in der Korrespondenz des Menschen und des Textilen sichtbar wird. Dinge mit symbolischen Bedeutungen zu versehen, sei eine Methode des Menschen, die im Grunde Kultur ausmache, denn mit Hilfe der Dinge und Symbolisierungen stabilisiere der Mensch sein Tun und führe das Tun über sich selbst als Individuum hinaus. „Er kann sein Leben nicht

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leben, ohne es zum Ausdruck zu bringen. Die verschiedenen Arten dieses Ausdrucks bilden eine neue Sphäre.“ (Cassirer, 2007, S. 339) In einem textilen Ausdruck, einer Symbolisierung wie dem string skirt zeigt sich ausgehend vom Sinnlichen-Allgegenwärtigen durch den verdichteten, neuen, abstrakten Gehalt das Feld der Exteriorisierung. Mensch und Textiles sind eng verbunden und können nicht unabhängig voreinander gedacht werden. Das Textile existiert nicht ohne den Menschen und der Mensch nicht ohne das Textile. Aus dieser Liebesbeziehung heraus, in der kommuniziert und korrespondiert wird, entstehen Strukturen und Systematiken, die wiederum Mensch und Textiles omnipräsent und exteriorisiert prägen. Die These, Textil schafft Struktur, wird weiterführend bearbeitet.

2.2 TEXTIL SCHAFFT STRUKTUR Die Menschen des Paläolithikums fanden in ihrer Umgebung Tier- und Pflanzenfasern, nahmen sie in die Hand und traten in einen kommunikativen Austausch, gingen eine Beziehung mit dem Textilen ein. Dieser Austausch bringt bis heute Strukturen auf unterschiedlichen Ebenen hervor: strukturierte Abläufe, technische, gesellschaftliche, systematische, systemische, hierarchische Strukturen, Ordnungen, Regeln, Muster, abstrakte, symbolische und metaphorische Strukturen, ganz klar durch Wiederholung gegliederte oder auf scheinbarer Zufälligkeit beruhende Strukturen. Strukturen sind in der Auseinandersetzung mit dem Textilen gleichermaßen omnipräsent wie exteriorisiert. Morgens die Schuhe mit einer Schleife zubinden stellt eine routinierte, strukturierte textile Tätigkeit dar. Ist sie erlernt und eingeübt, findet sie automatisch, alltäglich und allgegenwärtig statt. Im Schuhe Zubinden finden sich aber auch ausgelagerte strukturierte Bereiche, wie die Produktion der Schnürsenkel und der Schuhe selbst, vereinbarte gesellschaftliche Regeln, die besagen, dass überhaupt Schuhe getragen werden sollen, oder die Strukturen im Gehirn, die aufgebaut werden mussten, um eine für die Hand durchaus komplizierte Handlung ausführen zu können. Das folgende Unterkapitel setzt sich mit der Strukturierungsaffinität des Textilen auseinander. Es wird betrachtet, inwiefern im textil-technischen Strukturen entstehen, wie sich dies auf Muster im Textilen sowie im Handeln und Denken überträgt und sich dann im Abstrakten wiederfindet.

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2.2.1 Struktur in den textilen Techniken „Die Herstellung eines Gewebes verlangt die Zusammenführung von einzelnen Elementen, den Fäden, zu einer zusammenhängenden strukturierten Fläche.“ (Mentges, 2005, S. 33) In jeder der textilen Techniken ist eine Struktur vorhanden. Mentges (2005) umreißt diesen strukturellen Aspekt in dem ausgewählten Zitat für das Gewebe, stellvertretend für alle anderen textilen Flächengebilde. Inwiefern steht das Textile in Verbindung mit strukturellen Merkmalen und inwiefern trägt es Struktur in sich? Ferner wird es aber auch um das Ausarbeiten der Frage und der These gehen, ob und inwiefern das Textile selbst beteiligt ist, Struktur zu schaffen. Für die Erarbeitung dieser beiden Fragenkomplexe soll nicht das Textile in seiner Gesamtheit herangezogen werden. Das Themenfeld wird eingeschränkt auf textile Techniken bzw. textile Grundtechniken und die aus ihnen resultierenden Strukturen. Was ist eine Struktur (eine Ordnung, ein System)? Diese Frage stellt sich und die Begriffe müssen zuerst kurz erläutert und umrissen werden, um die Definitionen bzw. Eingrenzungen auf die textilen Grundtechniken zu übertragen und darzustellen, inwiefern die Grundtechniken als Inbegriff von Struktur bzw. Strukturierung gelten können. Struktur, System und Ordnung Das Wort Struktur ist dem lateinischen Wort strūctūra entlehnt und bedeutet übersetzt Zusammenfügung, Bauart und Ordnung. Damit einher geht das Verb struere (lat.) mit den Bedeutungen aneinanderfügen, schichten, zuarbeiten und ordnen (Kluge & Seebold, 2002, S. 892f). Schmid (1973), aus dem sprachwissenschaftlichen Kontext stammend, grenzt den Begriff Struktur bzw. die Wissenschaftsbezeichnung Strukturalismus wie folgt ein: „Unter dem Begriff Strukturalismus seien hier alle diejenigen methodischen Ansätze zusammengefaßt, die die Beziehung von Elementen eines vorgegebenen Ganzen untereinander und zu diesem Ganzen in den Vordergrund stellen und dementsprechend zu beschreiben suchen.“ (S. 43) Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive wird der Begriff Struktur unter anderem im Rahmen einer Eingrenzung der Kunst, des Kunstwerks oder des Kunstschaffens auf wenige die Gestaltung bedingende Prinzipien, die wiederum Vergleiche, Schlussfolgerungen und das Ziehen von Verbindungen zulassen, benutzt (Einem, 1973, S. 11). Interessant ist ferner die psychologische Sichtweise auf den Strukturbegriff, die Einem (1973) aufgreift, indem er Wilhelm Dilthey zitiert: „‚Die Struktur [...] ist eine Anordnung, in welcher psychische Tatsachen durch innere Beziehungen miteinander verknüpft sind; jede der so aufeinander bezogenen Tatsachen ist ein Teil des Strukturzusammenhanges; so besteht hier

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die Regelmäßigkeit in der Beziehung der Teile in einem Ganzen‘“ (Dilthey zit. in Einem, 1973, S. 5). Ferner führt Einem (1973) synonym zu verwendende Begriffe auf, wie „Gesetzlichkeit, Gefüge, Gestalt [...] Organismus“ (S. 7). Aus diesen sich im Kern ähnelnden Perspektiven und Definitionen ergibt sich folgende Grundlage in Bezug auf den Begriff Struktur, mit der im Weiteren gearbeitet wird: Struktur ist etwas, das das Aneinanderfügen, Ordnen, Zusammenfassen mehrerer Einzelteile, Elemente auf eine bestimmte Art und Weise beschreibt bzw. in sich trägt. Dieses Zusammenfügen geschieht, entlehnt aus Diltheys Definiton, in einer Regelmäßigkeit. Das Wort System stellt in Bezug auf seine Wortherleitung einen ähnlichen Sachverhalt dar. System ist dem lateinischen Wort systēma entlehnt, das wiederum zurückgeführt wird auf das griechische Wort sýstēma und Zusammenstellung bedeutet (Kluge & Seebold, 2002, S. 901). Das System ist demnach ein zusammengestelltes, aufgestelltes Konstrukt bzw. eine Struktur bestehend aus mehreren in Verbindung stehenden Elementen. Textile Techniken weisen Strukturen auf und sind systematisch, d.h., es wird nach bestimmten Regeln, einer vereinbarten Reihenfolge vorgegangen. Im Sinne Luhmanns (2004, S. 120) sind sie demnach auch systemisch. Sie weisen spezifische Strukturen auf. Textile Techniken sind ein System, das aus einer eigenen Systemsprache besteht. Innerhalb des Systems werden die Kommunikation, das Programm, die Regeln entwickelt. In der Kommunikation wird die Komplexität der Informationen des Systems reduziert. So entwickeln sich in Bezug auf die textile Technik Regeln, Routinen, Handlungsabläufe, Vorgehensweisen, die einen Zusammenhang darstellen. „Alles andere wird weggefiltert.“ (Stiegler, 2015, S. 126) Betrachtet man die Grundtechniken des Handarbeitens bzw. die textilen Techniken, die in ihren Grundformen mit der Hand und wenigen Werkzeugen ausgeführt werden – Schneider (2007, S. 41f) begrenzt die Grundtechniken auf das Stricken und Häkeln, das Knoten und das Weben7 – werden strukturelle, systematische und systemische Merkmale offensichtlich. Die folgende Grafik (Abbildung 10) gibt einen Überblick über die Grundtechniken, die jeweiligen Prinzipien der mit ihnen

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In diesem Zusammenhang bespricht Schneider (2007) auch das Filzen als eine der grundlegenden Techniken. Im selben Moment separiert sie allerdings das Filzen von den anderen drei Techniken, da sich ein gefilztes Flächengebilde in seiner Zusammensetzung und der strukturellen Ausrichtung der tierischen Fasern anders verhält. Gerade aufgrund des Unterschiedes kann es im weiteren Verlauf der Arbeit trotzdem interessant sein, das Filzen unter dem Aspekt einer zufälligen Struktur zu untersuchen (vgl. Kapitel 5.3.1).

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ausgeführten Tätigkeiten, die Besonderheiten in Bezug auf das Entstehen eines Flächengebildes sowie die Flächengebilde an sich mit ihren spezifischen Eigenschaften. Darüber hinaus gibt die Grafik Aufschluss über Beziehungen, Verwandtschaften und Gegensätzlichkeiten unter den Grundtechniken. Abbildung 10: Textile Grundtechniken (angelehnt an Schneider, 2007)

Alle drei Grundtechniken weisen spezifische Strukturen auf, da in ihrer Ausführung mehrere einzelne, sonst alleine stehende Elemente auf eine bestimmte Weise verbunden werden. Beim Stricken und Häkeln entsteht ein Zusammenhang, eine Verbindung, indem immer wieder, d.h. in einer regelmäßigen Wiederholung eines Prinzips, des Umschlingens, mit einem Faden Maschen gebildet werden, die in der Fortsetzung ein Ganzes, ein Gewirke abbilden. Das Gewirke, also die Einheit, entsteht aus dem Faden, der sich mit sich selbst zu neuen Beziehungen verschlingt. Im Stricken und Häkeln finden sich ergo alle Grundlagen einer Struktur und auch eines Systems wieder: einzelne Elemente gehen eine Verbindung ein, dadurch entstehen Beziehungen, die Beziehungen bilden einen Zusammenhang, etwas Ganzes ab, der Zusammenhang entsteht aufgrund von Wiederholung, Regelmäßigkeit und Ordnung – ein dem System eigener Code wird konstruiert.

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Die Technik des Knotens ist in ihrer Struktur dem Stricken und Häkeln ähnlich. Auch hier werden Schlingen aus einem Faden gebildet. Diese Schlingen werden allerdings nicht zu Maschen gearbeitet. Das Flächengebilde, in der Regel ein Netz, entsteht aus Verknüpfungen. Nicht nur das Herstellen des Flächengebildes an sich ist strukturell markant, auch die Tätigkeiten, die vor der Ausführung einer textilen Technik stattfinden, sind strukturell geordnet, müssen im Prinzip der Aufeinanderfolge stattfinden und gehen in der Aufeinanderfolge Beziehungen ein, die das Entstehen eines Ganzen beeinflussen. Würde einer der Schritte oder Handlungen ausgelassen oder zu Beginn anstatt am Ende des Herstellungsprozesses stattfinden, entstünde nicht das gewünschte Ergebnis. „Es ist nicht allein die Herstellung einer Fläche aus einzelnen Fäden, sondern es verbirgt sich dahinter eine Reihe grundlegender menschlicher Handlungen: die Gewinnung des Rohstoffes für textiles Arbeiten, die Herstellung des Fadens, darin eigebunden die Frage seiner Materialität und der an sie gebundenen Eigenschaften und die damit verbundenen Werkzeuge oder die gesamte Technologie.“ (Mentges, 2005, S. 34f)

Den Aspekt der Planung, der strukturierten Vorbereitung als wichtigen Garant um Strukturen, Zusammenhänge zu bilden, betont auch Ernst H. Gombrich (1982) in seinen Überlegungen zum Ordnungssinn des Menschen in Verbindung mit dekoraktiven Musterungen und Ornamenten. Er stellt heraus, dass „all diese typischen Vorteile der Standardisierung dem Menschen dienen [können], sobald er seine Tätigkeit schrittweise zu planen vermag [...]“ (S. 20). Der Begriff oder auch die Tätigkeit der Organisation/des Organisierens wird in diesem Rahmen genannt. Organisation kann der Gruppe Struktur, Ordnung und System hinzugefügt werden. Diese Planung oder die Fähigkeit, zu planen, ist zudem eine Vorform und Grundvoraussetzung für Automatisierung und Programmierung. Aufgrund der Planbarkeit können Arbeitsschritte an Maschinen weitergegeben werden. Um die Dinge bzw. die Stoffe zu beschreiben, die aus den Handarbeiten und ihren technologischen Weiterentwicklungen entstehen, verwendet nicht nur Schneider (2007, S. 41) das Wort Flächengebilde. Mit der Bezeichnung Flächengebilde wird auf architektonische Merkmale, die das Textile (Gewirke, Netze, Gewebe) innehat, verwiesen. Mentges (2005) führt diesbezüglich Gottfried Semper (2014) an und umreist die Verbindung einer Textilie und eines Hauses: „Die Konstruktion einer Fläche, wie wir sie bereits an dem Teppichbehang oder der Decke vorfinden, bildet den Ausgangspunkt für die Konstruktion von Hülle und Haus und leitet damit zu der für Semper maßgeblichen Architektur über.“ (Mentges, 2005, S. 34) Im Wort Flächengebilde, das charakteristisch für die Beschreibung

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des Textilen zu sein scheint, findet sich schon an sich ein Bezug auf die Bedeutung von Struktur, die weiter oben dargestellt wurde. Flächengebilde intendiert das Bilden und somit auch das Bauen eines Konstruktes. Die Überschneidung und Verbindung findet sich somit in der etymologischen Herleitung mit dem Wort Bauart, in dem sogar weiterführend mit dem Grundwort art des Kompositums der Zusammenhang zum Wie, d.h. zu Mechanismen und Vorgehensweisen der Herstellung gezogen werden kann. Struktur und Weben Das Weben soll folgend gesondert und ausführlicher unter der Berücksichtigung struktureller Merkmalen besprochen werden, da diese beim Weben – im Prozess, im Produkt und in den dazu verwendeten Werkzeugen, Hilfsmitteln und Maschinen – besonders deutlich werden, zugleich aber auch einen Grad an Komplexität erreichen, der im Vergleich mit den anderen Techniken heraussticht. Das einfache Prinzip von oben und unten, durch das beim Weben ein gekreuztes Flächengebilde entsteht, liefert eine Systemsprache, die weit über das Weben hinausgeht und zu etwas komplett Exteriorisiertem, der Programmierung wird. Harlizius-Klück (2009) stellt die Besonderheiten des Webens heraus. Sie nimmt dabei im Speziellen Bezug auf eine in den (Natur-)Wissenschaften oft genutzte Gewebemetaphorik, auf die weiter unten noch einmal genauer eingegangen wird. In ihrer Auseinandersetzung zählt sie allerdings viele Aspekte auf, die eingeordnet werden können in die Frage nach den strukturellen Merkmalen der textilen Techniken und die die Sonderstellung des Webens – sie fokussiert das Bildweben – in diesem Kontext verdeutlichen. Das Besondere der bild- oder auch mustererzeugenden Weberei sei die „systematische zählbare und messbare Struktur aus senkrechten und waagerechten Fäden“ (S. 205). Weiterhin betont sie: „Gewebe sind stets vollständig formalisierbar. In den oben gezeigten Beispielen [Beispiele aus den Bereichen Tapisserie, Doppel- und Damastgewebe] besteht jedes Bild aus einer abzählbaren Anzahl von Elementen (Fäden), die gemäß festgelegten Regeln verkreuzt werden. Und diese Regeln sind am fertigen Gewebe ablesbar.“ (S. 208)

Um die strukturelle Sonderstellung der Weberei darzustellen, muss vorerst noch gar nicht in die Komplexität der Bildweberei oder gar Lochkartenweberei eingedrungen werden. Die strukturellen Merkmale lassen sich auch anhand der einfachsten Möglichkeiten zu weben, z.B. mit einem Handwebrahmen, der Bildung nur eines Faches und somit simpelsten Bindungsart Leinwandbindung und mit den essentiellsten Werkzeugen, wie dem Webschiffchen oder der Webnadel, herausarbeiten. Im Gegensatz zum Stricken, Häkeln oder Knoten, bei dessen Ausführung

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ein Zusammenhang, eine Struktur aus einem Element, einem Faden geschaffen wird, entsteht beim Weben ein Ganzes bzw. das Flächengebilde aus mehreren Teilelementen, d.h. aus mehreren Fäden. Im Bereich der Kette, den waagerecht in den Webrahmen eingespannten Fäden, ist die Anzahl der Fäden generell unbegrenzt, variabel und lediglich abhängig von den gewünschten Maßen des Gewebes und Einschränkungen bedingt durch die zur Verfügung stehenden Webrahmen. Der Schuss ist der fortlaufende Faden, mit dem die Verbindungen zu den Kettfäden geschaffen werden. Hinsichtlich der Kette und des Schusses spricht man auch von zwei unterschiedlichen Fadensystemen bzw. Materialsystemen, die orthogonal zueinander liegen – die Kette ist passiv, der Schuss aktiv – und die aufgrund „der einfachen Binarität von ‚oben‘ und ‚unten‘, je nachdem ob ein Faden oberhalb oder unterhalb des anderen kreuzt“ (Schneider, 2007, S. 43), das Gewebe und damit die Einheit schaffen. So ist in der Weberei durch die zwei Systeme, Kette und Schuss, eine ganz klare Anordnung gegeben, die wiederum geordnet und systematisch durch ein regelmäßiges Wechselspiel von ‚oben‘ und ‚unten‘ bearbeitet wird. Im Verlauf entsteht durch Verkreuzungen und Verbindungen zwischen den beiden Systemen das Gewebe als Ganzes. Das Ganze spiegelt den formalisierten und dementsprechend strukturierten Herstellungsprozess wider, der zugleich an den entstandenen Verbindungen ablesbar und nachvollziehbar ist. Die nachvollziehbare und räumlich geordnete Struktur ist für Schneider (2007, S. 41) zudem besonders, weil auf sie nicht nur visuell geschlossen werden kann, sondern die Zusammenhänge der Struktur aufgrund der Materialität und der damit verbundenen Haptik auch taktil wahrgenommen werden können. Unabhängig von einer spezifischen Technik ist ein strukturelles Merkmal in jeder textilen Technik immanent. Beim Stricken, beim Häkeln, beim Weben etc. entstehen immer im Tun und im Ergebnis zwei Seiten – eine vordere und eine hintere, eine rechte und eine linke, eine visuell sichtbare und eine ‚nur‘ haptisch wahrnehmbare unsichtbare, eine omnipräsente und eine exteriorisierte Seite. Das textile Spannungsfeld ist also in den Grundtechniken des Textilen eingeschrieben. Ohne die zwei Seiten würden die Verbindungen und Zusammenhänge, die zu einer textilen flexiblen Fläche oder Umhüllung führen, nicht entstehen. Die Beziehung zwischen den Polen Omnipräsenz und Exteriorisierung kann in der Betrachtung der Grundtechniken noch weiter verknüpft werden. Die linke, nicht sichtbare, sozusagen ausgelagerte Seite ist im gleichen Maße allgegenwärtig wichtig wie die ohnehin sichtbare und präsente Seite. Im Drehen einer Strick- oder Häkelarbeit wechseln Omnipräsenz und Exteriorisierung sogar ständig. Die These, dass die textile Omnipräsenz und textile Exteriorisierung sich gleichermaßen widersprechen wie gegenseitig bedingen und anziehen wird in den Grundtechniken deutlich.

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Auch kann an dieser Stelle schon auf das kreative Potential des Textilen (vgl. Kapitel 2.3 und 3.3) geschlossen werden. Die nicht sichtbare Seite des Textilen, hier an der textilen Technik verdeutlicht, regt den Menschen zu einer erweiterten ästhetischen Wahrnehmung an. Der handarbeitende Mensch wird herausgefordert, gerade das nicht Sichtbare anders zu erschließen. Dadurch entsteht bei ihm eine Vorstellung, ein Code, eine Abstraktion von dem was dahinterliegt. Es sei hier noch einmal an Willis (2007) Rahmenbedingungen für einen Beziehungsprozess (vgl. Kapitel 2.1.3) erinnert, der dem Entwickeln von Ideen vorausgeht. Omnipräsenz und Exteriorisierung des Textilen unterstützen die Beziehung TextilesMensch. Durch die Spannung bleibt das Textile in der Korrespondenz zum Menschen weiterhin interessant. 2.2.2 Textile Strukturen und Muster Das Textile, egal ob Technik, Material oder Ding, ist gekennzeichnet durch eine allgegenwärtige Struktur bzw. Strukturierung. Das Prozesshafte, das vor allem in der Herstellung eines textilen Dinges liegt, ist also an der Strukturalisierung beteiligt. Textiles ist demnach nicht nur Struktur, sondern schafft diese gleichermaßen. Das Textile ist unter anderem strukturschaffend, indem immer wieder in der textilen Aktivität Muster/Ordnungen generiert werden und diesen Mustern dann gefolgt wird. Ähnlich wie die Struktur sei das Muster, so Kraft (2005, S. 449), ein textiles Grundphänomen. Oft werden die Begriffe Struktur, Muster und Ordnung im Textilen auch synonym verwendet, obwohl es doch in Bezug auf die Wortherleitungen Unterschiede vor allem im Vergleich zum Muster gibt. So leitet sich das Wort Muster aus dem italienischen Wort mostra ab, das übersetzt Probestück bedeutet. Ferner kann es auch zurückgeführt werden auf das lateinische Wort mōnstrāre, welches mit den Verben zeigen und weisen übersetzt wird (Kluge & Seebold, 2002, S. 640). Kraft (2005) betont die schwierige definitorische Eingrenzung des Wortes Muster, da es vielschichtig in unterschiedlichen Fächern Einsatz findet. Schlussendlich leitet Kraft (2005) folgende Definition ab: „Ein Muster besteht aus kleinsten zu isolierenden Einheiten, die gemäß der Wiederholungsvorschrift zu einem Ganzen, potentiell Unendlichen zusammengesetzt werden.“ (S. 450) Diese Definition ist ähnlich zu der in Kapitel 2.2.1 gegebenen Eingrenzung für das Wort Struktur. In der Definition von Struktur wird indessen der eine Aspekt, der sich aus dem lateinischen mōnstrāre ableitet, nicht mit aufgenommen. Die weisende und zeigende Funktion eines Musters scheint im Vergleich mit der reinen Struktur bedeutsam. Im Textilen finden sich Muster auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Ornamente, gedruckte, gewebte und gestickte Stoffmuster, Gewebemuster (Rapport),

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Strick- und Häkelmuster, Schnittmuster etc. Das Spannende an der Thematik des Musters übertragen auf das Textile ist, dass das Muster sich nicht nur im Materiellen, sondern, wie in der Eingrenzung des Wortes schon deutlich wird, in den Denk- und Lernprozessen und Handlungen des Menschen mit dem Textilen zeigt. Oder anders herum gedacht, offenbaren sich Denk- und Handlungsmuster des Menschen im Textilen. Muster beeinflussen die Handlungen und Handlungsabläufe des Menschen, leiten diese an, ordnen sie, bestimmen Reihenfolgen und Regelmäßigkeiten, immer mit dem Ziel, ein bestimmtes Ergebnis oder einen bestimmten Zusammenhang zu schaffen. Muster können als eine intentionale Kraft für die Strukturierung im Textilen angesehen werden. Die Funktionen des Musters, auf der einen Seite zusammenfassen und auf der anderen Seite zeigen und weisen, bilden einen Übergang zum Menschen, der menschlichen Wahrnehmung, Denk- und Lernprozessen sowie Handlungsweisen. Ordnungssinn und Wahrnehmung – Der Mensch als Muster-Macher Ernst H. Gombrich (1982) bezeichnet das eben Beschriebene auch als den Ordnungssinn des Menschen, der sich sowohl in der Natur als auch in den von Menschen geschaffenen Techniken und Dingen, also in den von Menschen konstruierten Mustern wiederfindet. In seinem Konzept eines dem Menschen innewohnenden Ordnungssinnes, welcher in Verbindung mit dem dekorativen Schaffen – dazu zählt er gleichermaßen künstlerisches, handwerkliches und kunst-handwerkliches Tun – steht, bezieht er sich vorzugsweise auf die Theorien zur Wahrnehmung und Erkenntnis von Karl Popper sowie den Vertretern der Gestalt-Theorie. Interessant ist auch für ihn die Frage, warum der Mensch seine Umwelt und die Dinge in seiner Umgebung auf eine für die Allgemeinheit augenscheinliche Art und Weise ordnet, systematisiert, strukturiert und mustert. Antworten auf diese Frage sucht und findet er in Konzepten zu Mechanismen der Wahrnehmung des Menschen: „Wir können keinen Eindruck sozusagen „rein“ sehen, weil die Tafel, auf der die Sinne ihre Mitteilungen niederschreiben, gewisse eingebaute Eigenschaften hat. Sie läßt die eintreffenden Reize durchaus nicht intakt, sondern steckt sie in vorbereitete Fächer. Unsere Wahrnehmung hat eine merkliche Vorliebe für elementare Formen, gerade Linien, Kreise und andere einfache Anordnungen, und wir haben die Neigung, dergleichen Regelmäßigkeiten schneller als die Zufälligkeiten in unseren Begegnungen mit der chaotischen Außenwelt zu sehen.“ (Gombrich, 1982, S. 16)

Ganz abgesehen davon, was der Mensch mit Hilfe seiner Sinneskanäle wahrnimmt, er selektiert und gruppiert, bildet Kategorien, Hierarchien und Stufen, die

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sich von neuem auf sein Handeln und Schaffen auswirken. So sind die Menschen aufgrund ihrer eigenen Konstitution ihre eigenen Muster-Macher. Die kategorisierten und musterhaften Denk- und Wissensstrukturen offenbaren sich laut Gombrich darüber hinaus in einem planvollen und durch Rhythmik gekennzeichneten Vorgehen des Menschen. Das Textile und insbesondere die textilen Techniken sind ein Paradebeispiel für das planvolle Vorgehen, eine Regelmäßigkeit und Rhythmik im menschlichen Handeln. Gombrich selbst benutzt als Beleg für seine Darstellung das Handwerk im Allgemeinen und die textilen Techniken im Speziellen: „Es gibt kein Handwerk, das nicht dieses Zerlegen der Fertigkeiten in Einzelvorgänge verlangt, die von dem größeren Zusammenhang organisiert werden: meisterhaftes Flechten, Weben, Sticken oder Schnitzen erfordert dieses Zusammenwirken von gewohnheitsmäßigem Können unter der Leitung eines bewußten Sinnes.“ (S. 23) Gordon (2013, S. 65) führt den Gedanken von Gombrich (1982) weiter und verweist explizit auf die Rhythmik und die Wiederholung bei textilen Arbeitsschritten und in textilen Arbeitsprozessen, die sich – und dieses Konstrukt würde Gombrich vor dem Hintergrund seiner Aussagen bejahen – entspannend und beruhigend auf den Menschen auswirken. Das Ausführen einer textilen Technik ist wie eine Befriedigung in der ständigen Suche des Menschen nach Mustern und Ordnungen. Ästhetische Muster-Bildungen – Der Mensch als Muster-Bildner Für den pädagogischen, (textil-)didaktischen und ästhetisch bildenden Kontext stellt insbesondere Iris Kolhoff-Kahl (2009) das Muster in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Mit Bezug auf den Konstruktivismus, die Philosophie, Psychologie und Neurologie arbeitet sie ein Konzept der Ästhetischen Muster-Bildungen8 heraus. Im Kontext dieser Arbeit, die zu einem Teil fachdidaktisch angelegt ist, kann Kolhoff-Kahls Konzept als Weiterführung und Vertiefung zu Gombrichs (1982) Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und dem Ordnungssinn des Menschen herangezogen werden. In Teilbereichen der Ästhetischen Muster-Bildungen finden sich Erklärungen auf die Frage, wieso der Mensch immer wieder Muster erzeugt bzw., mit Verweis auf Gombrich, ein Muster-Macher ist. So stellt Kolhoff-Kahl (2009) z.B. heraus, dass „unsere alltägliche Erkenntnissuche über die Wirklichkeit ständig darauf aus ist, Muster zu erkennen, weil sie das Leben erleichtern. Gleichzeitig bilden wir immer auf der Basis der alten Muster neue

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Unter fachdidaktischer Perspektive wird Kolhoff-Kahls (2009) Konzept in Kapitel 5.2.2 noch einmal aufgegriffen. Da ihre Arbeit aber stark an wahrnehmungstheoretischen Grundlagen orientiert ist mit der Betonung einer Affinität des Menschen zum Muster-Bilden, wird sie hier besprochen.

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Muster.“ (S. 15) Diese Muster-Bildungen, welche auf Selektion und Kontingenz beruhen, werden unter anderem mit Hilfe von Wahrnehmungstheorien erklärt: „Wenn wir wahrnehmen, dann erzeugen wir in uns kein getreues Abbild der äußeren Wirklichkeit, sondern wir nehmen das für wahr in uns auf, was vor dem Hintergrund unserer schon zuvor gemachten Musterbildung für unser Überleben Sinn macht. Es sind also Wirklichkeiten zweiter Ordnung, die wir autonom über Wahrnehmung konstituieren und die unser alltägliches Verhalten leiten. Sinnliches Wahrnehmen erzeugt keine Abbilder von Wirklichkeit, sondern ist ein hochkomplexer Denkprozess, indem sich verschiedene Informationen auf einander abgleichen und je mehr Quellen und Verarbeitungsprozesse ein Mensch heranziehen kann, desto komplexer und differenzierter werden seine für ‚wahr‘ genommenen Repräsentationsmuster.“ (Kolhoff-Kahl, 2009, S. 27)

Ein wichtiger Punkt im Rahmen dieses Kapitels ist, dass aufgrund dieser Muster unseres Gedächtnisses, der „mentalen Vorstellungen oder Repräsentationsmuster“ (S. 45) das menschliche Verhalten bzw. die alltäglichen Handlungen wie programmiert gesteuert werden. Die Musterhaftigkeit, Regelmäßigkeit und Strukturiertheit findet sich demnach wieder in den menschlichen Erzeugnissen. MusterBildungen sind somit nicht nur ein mentaler, undurchsichtiger Vorgang. Sie äußern sich auch aktiv, physisch und in einer Wechselwirkung mit dem Materiellen, mit Dingen, mit dem Textilen und mit der Umwelt. Dieser Argumentation folgend ist es nicht verwunderlich, dass die Weberei, um an die Aspekte aus Kapitel 2.2.1 anzuknüpfen, durchdrungen ist vom Muster. Beispielsweise beeinflussen einfache Gewebemuster den Weber/die Weberin insofern, dass er sein Vorgehen detailliert und genau planen muss (Schneider, 2007, S. 83). Das Weben von Mustern bedeutet aber auch Codierung und Encodierung, Verschlüsselung und Entschlüsselung – auch dieser Prozess, der in der Webereigeschichte und der Codierung von Webmustern im Lochkartensystem seinen Höhepunkt erreicht bis das in diesem Kontext entwickelte System von anderen technischen Disziplinen adaptiert wird – kann erneut gleichgesetzt werden mit der Art und Weise, wie der Mensch seine sinnliche Wahrnehmung zu mentalen Repräsentationsmustern verarbeitet. Auch hier bedingt sinnliche Omnipräsenz abstrakte Exteriorisierung und umgekehrt. 2.2.3 Strukturen werden geschaffen Textile Strukturen entstehen in Korrespondenz zwischen Textilem und Mensch. Sie ähneln demnach menschlichen Denk- und Repräsentationsmustern. Diese ähneln gleichwohl textilen Strukturen. In beiden Fällen wird aus einer Vielzahl von

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Elementen – in dem einen Fall die noch nicht selektierte Wahrnehmung, in dem anderen Fall die Fäden, die z.B. beim Weben die Kette bilden – ein Zusammenhang gebildet, sodass Strukturen, Ordnungen, Systeme, durchaus auch Hierarchien und Muster entstehen. Zudem wird die Wechselwirkung dieser beiden Strukturierungsprozesse betont. Wenn also Wissen, Erinnerungen, Fähigkeiten, Handlungsoptionen etc. im Gedächtnis gespeichert werden, überträgt der Mensch die in ihm verankerte Struktur logischerweise auch auf seine textilen Aktivitäten. Die textile Aktivität wiederum, auch geprägt durch Struktur, Regelmäßigkeit, Wiederholung und Muster, erzeugt beim Menschen neue Wahrnehmungen und somit gegebenenfalls die Verfestigung oder eine Erweiterung bestehender Repräsentationen im Gehirn (Spitzer, 2005). Infolgedessen schafft das Textile im Menschen Struktur und die textile Aktivität als handwerkliche Tätigkeit ist zugleich auch eine gedankliche Tätigkeit. Textiles und Mensch korrespondieren. „Das Weberschiffchen, das bei der Arbeit hin und her fliegt, die Bewegung der Füße, der Hände, des Körpers sowie die Gedanken im Kopf, die all diese Bewegungen koordinieren und im Voraus planen, gehören zum existentiellen Tun des Menschen.“ (Lösel, 1998, S. 19) Netze und Vernetzung Textile Techniken seien „Hirnvernetzer“, so bezeichnet Kolhoff-Kahl (2012) treffend die Verbindung zwischen den Strukturen des Textilen und des Menschen. Dabei geht sie auf das beidhändige Tun im Ausüben textiler Techniken ein, welches „positive Auswirkungen auf die Repräsentation der Hand im Gehirn und damit auf ihre Verwendbarkeit hat“ (S. 281f). Das Thema Hand und textile Aktivität wird weiterführend in Kapitel 3 behandelt. Das Netz, ein textiles Flächengebilde konstruiert mit den Prinzipien des Verschlingens und Verknotens, zieht sich allerdings weiter durch die Thematik, mit der versucht wird, schaffende Verbindungen und Strukturen zwischen dem Textilen und dem Menschen aufzuzeigen. In einer Betrachtung der künstlerischen Netzstrukturen Chiharu Shiotas (Abbildung 11) stellt beispielsweise Schneider (2013, S. 328f) die Ähnlichkeit zu elektronenmikroskopischen Darstellungen der menschlichen Gehirnstrukturen, der Verschaltung von Synapsen und Nervenbahnen heraus. Diese verblüffende Ähnlichkeit sticht darüber hinaus in Gordons (2011, S. 74f) Erläuterungen zur Gore-Tex-Membran – hier nicht wie bei Schneider (2007) aus einer künstlerischen, sondern aus einer textil-technologischen Perspektive – hervor. Legt man eine elektronenmikroskopische Aufnahme der Gore-Tex-Membran (Abbildung 12) neben eine elektronenmikroskopische Aufnahme einer

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menschlichen Nervenzelle (Abbildung 13), ist die rein optische Deckung, die auch in Analogie zum Netz gestellt werden kann, erstaunlich. Abbildung 11: Chiharu Shiota, After the Dream (2011)

Dem Netz als textiles Produkt werden, neben der Ähnlichkeit zu den menschlichen Nerven- und Gehirnstrukturen, ferner auch metaphorische Bedeutungen zugesprochen: „Das Netz avancierte im Verlauf der letzten knapp zweihundert Jahre zur universellen Metapher einer dominanten Grundstruktur, in der sich heute äußerst heterogene Vorstellung von technischen Wirklichkeiten, Geist und Gedächtnis, Geschichte sowie Sozialem unauflöslich miteinander verbunden haben. Wir ‚leben in der Metapher‘ des Netzes, sie strukturiert unser Denken und Handeln.“ (Schneider, 2013, S. 329)

Textiles schafft Struktur und textile Strukturen sind verknüpft mit menschlichen Strukturen. Es sind die sprachlichen Bilder, die Metaphern, die die Verbindung zwischen Textil, Struktur und Mensch besonders verdeutlichen. Vor- und Darstellungen, Repräsentationen, mit denen der Mensch handelnd und kommunizierend umgeht, befinden sich folglich auch auf der Ebene des Textilen, sind ihm entlehnt bzw. ähneln ihm.

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Abbildung 12: Abbildung 13: Elektronenmikroskopische Aufnahme Elektronenmikroskopische Aufnahme der Gore-Tex-Membran eines Netzwerks aus Nervenzellen

Metaphern, Zeichen und Symbole „Textile Strukturen fungieren kulturhistorisch als eine „poetologische Metapher, die im Text immer reflexiv auf seine Produktion und Produziertheit verweist“. Diese Vorstellung einer Verwandtschaft von Text- und Gewebeproduktion ist bis heute in vielen Redewendungen erhalten. Begriffe wie ‚Leitfaden‘, ‚vernetzen‘, ‚einflechten‘, ‚verknüpfen‘ und ‚verbinden‘ bilden textile Techniken direkt auf Gedanken- und Textstrukturen ab.“ (Schneider, 2013, S. 330) Das Textile durchzieht also auf der Ebene der Kultur oder kultureller Techniken Sprache, Schrift und Text aufgrund seiner Ordnung, Musterhaftigkeit, des Prozesshaften in den Herstellungsschritten und bedingt und beeinflusst somit die Verstehensprozesse des Menschen. Nicht nur Birgit Schneider (2013) geht diesem omnipräsenten Phänomen, ausgehend von der Netzwerkmetapher, nach. Viele andere, ob Textilwissenschaftler/-innen, Kulturwissenschaftler/-innen, Philosophen und Philosophinnen oder Sprachwissenschaftler/-innen, stellen sich die Frage, wieso gerade das Textile so häufig in gesprochener und geschriebener Sprache verwendet wird. Wieder andere Wissenschaftszweige, wie die Naturwissenschaft, Physik oder Mathematik, stellen sich zwar nicht die eben genannte Frage, benutzen aber gerade in ihrer Wissenschaftssprache mehr oder weniger bewusst durchgängig eine textile Metaphorik. Das Textile, sowohl die textilen Techniken, die Materialität des Textilen als auch die textilen Produkte, werden also dazu genutzt, um sich Sachverhalte, durchaus komplexe und schwierige, zu verdeutlichen, zu erklären und diese zu verstehen. Die Verknüpfung des Textilen mit Verstehensprozessen verweist auch auf die Bedeutung des Textilen in dem Schaffen von Strukturen und Zusammenhängen in Kultur, die auf einer Vielzahl von vereinbarten Strukturen, Zeichen und

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Symbolen beruht. Wenn am kulturellen Aspekt angesetzt wird, wirkt es fast paradox, wenn Ernst Cassirer (2007) in seinen Auseinandersetzungen mit dem und Gedanken zum Menschen und seiner Fähigkeit, abstrakte Zusammenhänge, Symbole und Zeichen zu bilden, auf die Netzmetapher zurückgreift, um die Besonderheit des Menschen in seinen Denkstrukturen im Vergleich zum Tier herauszustellen: „Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode entdeckt, sich an seine Umgebung anzupassen. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als Symbolnetz oder Symbolsystem bezeichnen können.“ (S. 49) Wieso also nun diese Affinität zum Textilen, die die Verbindung des Textilen mit dem Menschen und die strukturierenden Charakteristika so verdeutlichen? Dieses Phänomen versucht Martens (1991) zu Beginn seiner philosophischen Erarbeitung textiler Metaphern mit der Bedeutung der Metapher an sich zu erklären: „Metaphern beruhen auf realen, wenn auch häufig vergessenen oder verdrängten Erfahrungen; auch können sie unser Denken und Handeln als recht plausible Vorstellungen leiten. [...] Wir benutzen nicht nur bildliche Ausdrücke [...], sondern denken und handeln tatsächlich weitgehend nach den darin ausgedrückten Erfahrungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit.“ (S. 7)

In seiner Erklärung findet sich das Textile als ein den Menschen allgegenwärtig Umgebendes wieder. Und diese umgebende Omnipräsenz existiert schon seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte (vgl. Kapitel 2.1). An dieser Stelle kann noch einmal auf die Ideen Gottfried Sempers (2014, S. 12) verwiesen werden, der das Textile bzw. textile Aktivitäten, ob das Herstellen von Textilien, der Umgang mit Textilien oder der abstrahierte Akt des Umhüllens und Umkleidens gemeint ist, als Urkunst des Menschen bezeichnet – als einen grundlegenden Umgang mit Material aus der unmittelbaren Umgebung des Menschen, der sich überträgt auf andere Schaffensprozesse des Menschen. Wenn die Menschen das Textile in ihrer Sprache und Kommunikation untereinander nutzen, befinden sie sich also heutzutage auf der Ebene der Zeichen zum Teil in einem unfassbar textilen Bereich, welcher, obwohl er durch das System Sprache abstrahiert wurde, das Verstehen und Handeln beeinflussen kann. Der Mensch nimmt also im übertragenen Sinne Bezug auf Grundformen und -techniken (Urkünste) seines Tuns, ganz abgesehen davon, ob er diese beherrscht, und adaptiert diese, um komplexe Konstrukte zu verstehen (Harlizius-Klück, 2009, S. 201). Harlizius-Klück (2009) führt diesen Gedankengang weiter aus, indem sie sich der Frage nähert, warum gerade textile Metaphern in wissenschaftlichen Kontexten genutzt werden, um Komplexitäten verständlich zu machen. Als Beispiele aus

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diesen Wissenschaftsfeldern führt sie zum einen die Superstringtheorie an, in dessen Titel allein schon der textile Begriff string einen Marker setzt. Zum anderen benennt sie verschiedene Erklärungsansätze zum Universum, in denen immer wieder das Universum gleichgesetzt wird mit einem Gewebe. Diese Allgegenwärtigkeit der textilen Metaphern im wissenschaftlichen Sprachgebrauch erklärt Harlizius-Klück folgendermaßen: „Die textilen Metaphern ersetzen auf diese Weise das Nicht-Wissen über den Vorgang der Transformation nicht nur von der mikrokosmischen zur makrokosmischen Struktur, sondern auch vom Denken zu dessen Manifestation in der Welt. Und sie halten dabei die Suggestion aufrecht, dass es sich um einen prinzipiell mechanischen und damit beschreibbaren Vorgang handelt.“ (S. 205)

Textile Metaphern ermöglichen es also, Unsagbares, Exteriorisiertes, zum Teil auch noch Hypothetisches oder etwas, das nur ganz wenige, aber nicht die breite Masse versteht, sagbar und kommunizierbar zu machen. Diesen Begründungsstrang führt sie weiter aus, indem sie grade auf die strukturellen Besonderheiten des Textilen verweist – das Regelmäßige, Prozesshafte, Abzähl- und Messbare, das, was ständig wiederholt wird und somit besonders für den Menschen erfahrbar und fassbar (auch haptisch) ist. In der Omnipräsenz, in der Nähe des Textilen liegt also durch die Interaktion mit dem Körper und im Speziellen mit der Hand ein positiver Faktor des Textilen bzw. der Omnipräsenz des Textilen. Der direkte Kontakt und eine geschulte sinnliche Wahrnehmung textiler Materialität, textiler Dinge, textiler Techniken fördert Verstehensprozesse abstrakter Art, d.h. aus dem Bereich der Exteriorisierung. Und dies wird unter anderem sichtbar in der häufigen Verwendung textiler Metaphern in wissenschaftlichen Kontexten. Neben Metaphern im Sprachgebrauch des Menschen, in denen das Textile sichtbar wird in Strukturen menschlicher Kultur, sind es Zeichen, Codes und Symbole, die das kulturschaffende Potential des Textilen verdeutlichen. Aus technischer Perspektive wurde dieser Bereich beispielhaft im Weben bereits angerissen (vgl. Kapitel 2.2.1). Durch den technischen Fortschritt bedingt entstanden aus der Musterweberei und aus dem Drang diese Gewebemuster festzuhalten, Abstraktionen, bildliche Darstellungen, Musterzeichnungen und -bücher, sprich ein eigenes Zeichensystem, eine eigene Codierung der Gewebemuster, die sich wiederum auf die Entwicklung des Lochkartensystems und noch weitergehend auf Ansätze der Computerprogrammierung auswirkte (Schneider, 2007, S. 58).

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Zeichen, Codes und Symbole sind darüber hinaus zahlreich auf der Ebene der Kleidung vorhanden. An dieser Stelle sei noch einmal auf den von Elisabeth Barber (1994) aufgearbeiteten archäologischen textilen Fund, den string skirt, verwiesen, welcher als Zeichen für die Fruchtbarkeit einer Frau stand und somit Beziehungen zwischen den Menschen schuf, ordnete und strukturierte. So ist Kleidung oder auch Mode (die beiden Begriffe werden hier bewusst nicht ausdifferenziert) immer auch ein soziales System. Mit Kleidung werden also Beziehungsgeflechte und Hierarchien unter den Menschen strukturiert, festgelegt und weitergetragen (Loschek, 2007, S. 29f). So regelten Kleiderordnungen beispielsweise, wer bzw. welche Schicht oder Gruppe welches Kleidungsstück oder Accessoire wie tragen durfte: „Die Bauern Frankreichs und der Niederlande durften im Mittelalter angeblich nur Holzschuhe tragen, die in Frankreich Sabots, in den Niederlanden Klompen genannt wurden. Wollte sich ein Bauer an seinem Herrn rächen, leistete er hintertriebene Zerstörung, sogenannte Sabotage, indem er die Felder mit seinen Sabots zertrampelte.“ (Loschek, 1993, S. 30)

Auch in diesem Beispiel, und es finden sich zahlreiche weitere dieser Art in der Kulturgeschichte des Menschen, steckt zugleich wieder die Übertragung eines textilen Sachverhalts in den Sprachgebrauch des Menschen – vom textilen Ding dem Schuh (Sabot) zur menschlichen Tätigkeit der Sabotage. Zudem findet sich im Kontext Kleidung auch wieder ein Wechselspiel zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung angetrieben durch eine kreative, schaffende Hand. Die Omnipräsenz wird sichtbar in den zahlreichen alltäglichen Handlungen, die mit Kleidung durchgeführt, aber oft nicht wahrgenommen werden – Kleidung fungiert als Haut des Menschen, eine zweite Haut. Sich schnell wandelnde Moden, experimentelle Kleidschöpfungen, aber auch Kleidung als Mittel zur Selbstdarstellung finden sich in ihren starken, abstrakten, abweichenden Silhouetten und Schnitten, die neue Zeichen und Kommunikation generieren, im Feld der Exteriorisierung wieder (vgl. Kapitel 2.3 und 3.3). Textile Techniken bzw. die Grundtechniken zeigen par excellence struktur- und systembildende Elemente auf. Gewebe, Gewirke oder Netze entstehen aus dem Zusammenfügen eines oder mehrerer Elemente auf eine bestimmte, geplante und regelmäßige Art und Weise. So zeigt sich auch in der Art und Weise, d.h. in der Aktivität und im Handeln des Menschen (vgl. Kapitel 3), unter anderem auch vor dem eigentlichen Herstellungsprozess, eine Struktur, Ordnung und Planung in den

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Arbeitsabläufen, in der jegliche Arbeitsschritte in Beziehung und Verknüpfung mit dem Davor und Danach stehen. Das Textile schafft Struktur, da die Strukturen in den fertigen textilen Dingen nicht von vornherein da sind. Sie werden in einer Prozesshaftigkeit Schritt für Schritt gewirkt, geknotet, gewebt, konstruiert und gebaut. Ferner werden Strukturen geschaffen, da mit dem Textilen Muster erzeugt werden. Diese Muster des Textilen finden sich sowohl auf rein textiler Ebene (Ornamente, Druckmuster, Gewebemuster etc.) als auch im Denken und Handeln des Menschen. Gleichwohl agieren die Musterungen, indem sie im Wechsel sowohl auf den Menschen als auch auf das Textile wirken. Textile Strukturen sind zudem omnipräsent im menschlichen Sprachgebrauch (in Sprache, Schrift und Text) vorhanden und bedingen so das Verstehen und Begreifen komplexer Sachverhalte. Sie zeigen überdies auf, inwiefern das Textile mit seinen Strukturen in die Organisation einer Kultur eindringt. Das Textile wird so zum einen über den Sprachgebrauch in kulturellen Strukturen sichtbar und wirkt sich auch auf diese aus. Zum anderen bewirken auch textile Zeichen, Codes und Symbole, dass das Textile an Kulturalisierung beteiligt ist. Als Beispiel wird das Zeichensystem der Kleidung und Mode (Barthes, 2014) angeführt, welches Gruppen ordnet und Personen gesellschaftlichen Schichten zuweist. Textiles und Mensch, die omnipräsent und exteriorisiert miteinander korrespondieren, bilden ein eigenes System unter dem Diktum der Autopoiesis (Luhmann, 2004, S. 120). Im Wechselwirken von Omnipräsenz und Exteriorisierung entsteht Strukturentwicklung, die sich aus sich selbst heraus schafft. So kann schlussendlich über die Aspekte des Schaffens, die im Textilen liegen, übergeleitet werden zu den schöpferischen und kreativen Potentialen des Textilen.

2.3 DAS SCHÖPFERISCHE UND KREATIVE POTENTIAL DES TEXTILEN Das Textile hat, wie gerade diskutiert, strukturbildenden Charakter, ist Struktur, schafft Struktur und hängt zusammen mit dem Bedürfnis des Menschen nach Struktur und Kohärenz. Der Mensch muss, um Ordnungen, Strukturen, Zusammenhänge oder/und Kohärenz zu schaffen, kreativ und produktiv sein. Es handelt sich nicht einfach darum, Strukturen zu bilden, es ist vielmehr eine „kreative Strukturbildung“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 135), die schon in der frühsten Kindheit beginnt. An die kreative Strukturbildung, von der Holm-Hadulla (2010) spricht, soll nun angeknüpft werden, um zu zeigen, dass gerade aus dem Strukturieren heraus insbesondere im Textilen und in textilen Aktivitäten Potential für

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Kreativität, Produktivität und schöpferisches Tun liegt. Das Textile, so Schoeser (2013), sei aufgeladen durch Momente, Eigenschaften und Bedingungen von Kreativität: „Von den Textilien der Frühzeit bis zu jenen des 21. Jh. zieht sich eine Geschichte der Kreativität wie ein Band, über Generationen sich verlängernd, immer wieder neue Ideen anregend und mit jedem fertiggestellten Stück sich verstärkend.“ (S. 11) Die Kreativität von der Schoeser spricht zeigt sich nicht nur in den textilen Produkten, die sie an den Anfang stellt. Wenn versucht wird, zu beschreiben, in welchen Bereichen Kreativität ausgehend vom Textilen sichtbar wird, werden schnell Grenzen aufgrund einer immensen Komplexität und Verschränkung vor allem der Bereiche Textil, Handwerk, Kunst und Technik mit weiteren Unterkategorien und Bezugsfeldern deutlich. So gestaltet sich die Herleitung der Zusammenhänge von Kreativität und dem Textilen als nicht einfach, da sowohl das Textile als auch die Kreativität bzw. der Forschungsdiskurs zur Kreativität vielschichtig sind.9

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Vertreter der Kreativitätsforschung, wie Mihaly Csikszentmihalyi (2012; 2015) und Rainer M. Holm-Hadulla (2010; 2011), auf die sich im Folgenden schwerpunktmäßig bezogen wird, betonen die Schwierigkeiten des Forschungsfeldes zur Kreativität, aber auch (und dieser Punkt ist weitaus wichtiger, soll sich adäquat auf Kreativität bezogen werden) die Schwierigkeiten in Bezug auf den Begriff Kreativität, die Eingrenzung und die Übertragung sowie in Bezug auf die unterschiedlichen Meinungen zur Kreativität oder zu kreativen Personen (Csikszentmihalyi, 2015, S. 43-46). Wenn die Bedeutung von Kreativität erfasst werden soll, befinde man sich in einer „bemerkenswerte[n] Unklarheit“ (Holm-Hadulla, 2011, S. 7). Gestritten wird sich ferner immer noch um die Frage, wann, wie und unter welchen Umständen Kreativität stattfindet bzw. existiert oder auch darum, wer überhaupt kreativ ist: In der Vielfalt der derzeit herrschenden Kreativitätsvorstellungen ist es kaum möglich, einen verbindenden Faden zu finden. Ist denn alles, was wir tun, kreativ? Verliert man bei einer solchen allgemeinen Auffassung nicht die Besonderheiten von talentierten und kreativen Persönlichkeiten aus dem Blick? Ist die Nivellierung der vielfältigen Aspekte der Kreativität nicht eine Resignation vor der Aufgabe, Kreativität wirklich zu verstehen? (Holm-Hadulla, 2010, S. 10) Ferner setzt die Forschung zur Kreativität oft, wie auch bei den beiden in den Fokus gesetzten Wissenschaftlern, aber auch in den Anfängen der Kreativitätsforschung z.B. bei Guilford (1964, zit. in Kolhoff-Kahl, 2005a, S. 123f), an der Erforschung einer umfassenden Betrachtung und Analyse von als ‚kreativ‘ eingestuften Persönlichkeiten an. Würde an dieser Stelle diesem Vorgehen gefolgt, müsste nach besonderen und die Prämisse ‚kreativ‘ erfüllenden Personen gesucht werden, die zudem in textilen Bereichen tätig sind und dort Außerordentliches leisten. Joseph Marie Jacquard, französischer Geschäftsmann und Erfinder der Lochkarten-Technik im Rahmen der

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Abbildung 14: Mindmap – das schöpferische, produktive und kreative Potential des Textilen

Das Textile und ausgewählte Konzepte zur Kreativität werden folgend fokussiert. Es werden Aspekte von Kreativität angesprochen, in denen das Textile an sich besonders hervortritt, Kreativität bzw. das Verständnis von Kreativität durch das Textile unterstützt wird und Parallelen in kreativen und textilen Handlungsprozessen erkennbar sind. Zwischen dem weitläufigen und vielschichtigen Feld der Kreativität und dem des Textilen ergibt sich so ein Sammelsurium an Verbindungspunkten, welches aufgrund der Mannigfaltigkeit beider Bereiche nicht auf Vollständigkeit beruht. Die Einblicke und ausgewählten Beispiele können allerdings auf einer exemplarischen Ebene ein vorhandenes kreatives, produktives und

Weberei (Schneider, 2007, S. 263), für einen technischen und wirtschaftlichen Bereich, und Gunta Stölzl, sowohl Künstlerin im Bereich des Webens als auch Entwicklerin innovativer Gewebe aus Chemiefasern (Droste M., 1988), könnten für eine Analyse in der Tradition von Csikszentmihalyi und Holm-Hadulla ausgewählt werden. Schlussendlich würde in diesem Vorgehen allerdings kein neuer Erkenntnisgewinn liegen. Die textilen kreativen Persönlichkeiten würden mit ihren Eigenschaften, Charakterzügen, ihrem Umfeld, ihren Arbeitsweisen und -prozessen sowie ihren Errungenschaften die bisherigen Forschungsergebnisse nur bestätigen und diese würden damit nur wiederholt werden. Das Vorgehen wäre eine stupide Übertragung bestehender Erkenntnisse, die umfangreich dokumentiert sind, auf Personen des textilen Feldes.

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schöpferisches Potential des Textilen begründen. Folgende Mindmap (Abbildung 14) dient im Sammelsurium der Verbindungspunkte von Kreativität und dem Textilen als Unterstützung zur Übersicht und Nachvollziehbarkeit. 2.3.1 Den Faden entstehen lassen – Kreativität zwischen creare und crescere Der Begriff Kreativität kann eingegrenzt werden mit Hilfe der zwei lateinischen Wörter creare und crescere. Creare bedeutet „schaffen, erzeugen, gestalten“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 22). Crescere leitet sich von creare ab und bedeutet „werden, gedeihen, wachsen lassen“ (S. 22). Mit diesen zwei Wortbedeutungen werden zwei Richtungen beschrieben, die im Vergleich widersprüchlich erscheinen, aber beide gemeinsam Kreativität ausmachen und unter anderem auch im kreativen Prozess10 sichtbar werden. Beide Richtungen bzw. Aspekte sind für die Erklärung und das Verständnis von Kreativität von Bedeutung. Kreativität ist zum einen „das bewusste Schaffen des Neuen [und zum anderen] das Wachsenlassen unbewusster Potentiale“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 22). Im Zusammenschluss der beiden Richtungen beschreibt Holm-Hadulla Kreativität weiter als Bedürfnis des Menschen zur Gestaltung bzw. als einen „menschlichen Gestaltungsdrang“ (S. 22). Dahinter steckt sowohl, und damit wird wieder Bezug auf die Verben creare und crescere genommen, der Wille und die Motivation des Menschen, etwas zu schaffen (creare), aber auch ein unbewusster Drang, Dinge und Neues entstehen und werden zu lassen (crescere). Beide Richtungen finden sich auch im Textilen und in der textilen Aktivität wieder. Eine Übertragung auf den Aspekt des intentionalen Schaffens und des unbewussten Geschehen lassens soll am Beispiel der Entwicklung des Fadens (vgl. Kapitel 2.1) stattfinden. Die Arbeit mit dem Textilen bzw. mit textilen Materialien ist darauf ausgelegt, etwas zu schaffen. In erster Linie geht es immer, wenn mit dem Textilen gearbeitet wird, um das Schaffen, Produzieren und Verarbeiten. Diese intentionale und be-

10 Der kreative Prozess wird im Rahmen dieser Arbeit nicht gesondert und explizit besprochen. Als Verständnisgrundlage sei hier angefügt, dass der kreative Prozess sich aus fünf Phasen zusammensetzt, die zwar chronologisch von oben nach unten gelesen werden können, aber nicht zwingend in dieser hierarchischen Abfolge stattfinden. Die Abfolge der einzelnen Phasen – Präparation/Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Realisierung und Verifikation – ist eher gekennzeichnet durch ein vor und zurück und eine gegenseitige Bezugnahme, sie „durchdringen sich gegenseitig in einem Rückkopplungskreis.“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 57f)

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wusste Verarbeitung wird schon auf der untersten Ebene der Erzeugung von Textilien deutlich, dem Verdrehen und Verzwirnen von pflanzlichen, tierischen, aber auch, vom Prinzip her, chemisch erzeugten Fasern. In einem prozesshaften Vorgehen werden Faserstränge geglättet oder gekämmt, nebeneinandergelegt und durch ein Verdrehen und Verzwirnen zu einem Faden verbunden (Barber, 1994, S. 34-36). Der Faden stellt das Neue und auch das Zusammenhängende dar. Er ist also ein kreatives Produkt. In der Fadenbildung kommt der Mensch seinem Bedürfnis nach Kreativität und damit einhergehend seinem Bedürfnis/Drang nach Kohärenzbildung, die immer auch kreativ ist, nach (Holm-Hadulla, 2010, S. 130f). Es kann bezüglich des Fadens natürlich angezweifelt werden, ob dieser unter einer aktuellen und zeitgemäßen Perspektive eine neue Erfindung oder Entdeckung11 darstellt. Sind der Faden und der dahinterliegende Schaffensprozess nun kreativ? Sicher nicht mehr in den Domänen und Feldern des 21. Jahrhunderts, dahingegen aber, wie in Kapitel 2.1 beschrieben, für die Menschen des Paläolithikums: „String seems such a simple, almost inevitable invention, yet its appearance was a momentous step down the road of technology. Invented early, it was known worldwide.“ (Barber, 1994, S. 70) Die Entwicklung und Erfindung des Fadens, eines zusammenhängenden Stranges war neu und bedeutsam, vor allem auch, da mit diesem Entwicklungsschritt weitere Prozesse in Gang gesetzt wurden, wie z.B. die Entwicklung der Spindel oder des Spinnrads (S. 36f). Aus der kleinsten textilen Einheit, den Fasern – man könnte sie auch Texeme nennen – werden neue Informationseinheiten, Meme, gebildet, die ausschlaggebend sind für die kreative Weiterentwicklung des Menschen, denn kreativ kann nur gehandelt werden, wenn Wissen über die bestimmten Meme einer Domäne vorhanden ist. Die zweite Richtung bzw. Ausprägung von Kreativität ist generell und in Bezug auf das Textile etwas schwerer zu fassen, da es sich bezüglich des Verbs crescere um Aspekte von Kreativität handelt, die eher im Unbewussten, im Geschehen lassen passieren: „Der schöpferische Mensch verhält sich wie ein Medium, das sich einem unbewussten Prozess anvertraut.“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 26) Momente von crescere sind auch in der Entwicklung des Fadens erkennbar. Zum Aspekt des Werdens leitet beispielsweise die Frage hin, wie es überhaupt dazu

11 Neue Erfindungen, Entdeckungen und Produkte können über die Wortherleitungen von Kreativität hinaus einer Definition und Eingrenzung des Themenfeldes Kreativität angefügt werden, denn der Status neu oder originell (zur Originalität folgen weitere Erläuterungen) in Verbindung mit einem Produkt oder auch nur einer Idee verweist auf Kreativität als „Fähigkeit etwas Neues zu schaffen“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 11). So können gerade neue Produkte oder Problemlösungen als Indikator für Kreativität dienen.

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gekommen ist, dass der Mensch aus mehreren Fasersträngen einen einzigen Faden erzeugte. Der Prozess zur Fadenherstellung könnte durch einen zum Teil unbewussten Umgang mit den Dingen der menschlichen Umgebung, wozu Fasern oder Faserreste von Pflanzen und Tieren gehörten, die gefunden und in die Hand genommen wurden, eingesetzt haben. „The fibers that go into cloth are made from the very substances of the planet, and throughout human history textile-making has been one of the ways in which we have directly connected with its animal, vegetable, and mineral kingdoms.“ (Gordon, 2011, S. 60) Mit dem in die Hand Nehmen geht auch ein unbewusstes Machen einher. Es wird taktil und haptisch wahrgenommen. Die Faser wird abgetastet und somit die Eigenschaft der Faser, also das Formbare, das Biegsame und das Flexible begriffen. Mit der Faser zwischen den Fingern wird unbewusst gespielt. Ihre Eigenschaften werden im Umgang mit ihr erforscht und ausprobiert. Somit werden Informationen (Meme) über die Faser erzeugt und abgespeichert. Mit der beschriebenen Handhabung der Faser wird also genau auf den Aspekt, den das Verb crescere beschreibt, verwiesen. „Die Einbettung in das natürliche Werden und Vergehen führt den Wissenschaftler und Künstler [oder auch wie im Beispiel des Fadens die Menschen der Altsteinzeit] zur höheren Einsicht.“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 30) Der Vollständigkeit halber – und hier wird dann auch wieder die Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit des Themas Kreativität sichtbar, da an jeden neu aufgeworfenen Aspekt ein weiterer angeknüpft werden kann – soll an das eben im Textilen dargelegte Werden lassen Bezug zum Kreativitätsprozess, genauer zur ersten und zweiten Phase des Prozesses, genommen werden. In der Phase der Präparation, also der Phase der „möglichst intensive[n], differenzierte[n] Vorbereitung“ (Groeben, 2013, S. 86), wirken wie am Beispiel der Entwicklung des Fadens verdeutlicht, beide Momente von Kreativität – die des zielgerichteten Schaffens (creare), aber auch die des unbewussten Geschehen lassens (crescere), mit dem das Sammeln ästhetischer Erfahrungen einhergeht (Holm-Hadulla, 2010, S. 131f). Das Geschehen lassen ist in der zweiten Phase des Kreativitätsprozesses, der Inkubation, noch präsenter: „Sich aus bisherigen Denkstrukturen und -gewohnheiten zu lösen, erfordert eine Art kognitives Loslassen, damit der Geist flexibel mit den zu verändernden Strukturen spielen kann.“ (Groeben, 2013, S. 92) Die sehr faserigen Blätter der Agave (Abbildung 15) beispielsweise müssen aus ihrem natürlichen Kontext heraus gedacht werden bis die Transformation zum Faden gelingt (Gordon, 2011, S. 69). Mit dem Moment des Geschehen lassens ergeben sich ferner Verweise und Bezüge zum Spielen als eine kreative Tätigkeit (Winnicott, 2015) und zum FLOW-Erleben (Csikszentmihalyi, 2012; 2015). Diese werden im weiteren Verlauf des Kapitels betrachtet (Abbildung 14).

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Abbildung 15: Fadenherstellung aus einer Agave, Mexico (2004)

FASZINATION Kreativität = FASZINATION textil Um den Komplex Kreativität noch besser umfassen und verstehen zu können, bildet Holm-Hadulla (2010) das Akronym FASZINATION für Kreativität. Er fasst damit die Bedeutung von Kreativität und gleichzeitig die mannigfaltigen Aspekte, die mit Kreativität zu tun haben, zusammen. In seinem Akronym bündelt und verbindet er die verschiedenen Voraussetzungen und Zustände, die mit „Begabung, Motivation, Persönlichkeit und Rahmenbedingungen“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 45) zusammenhängen, auf eine begrifflich neue Art und Weise. FASZINATION betrifft also folgende auf Kreativität bezogene Aspekte: Flexibilität Assoziatives Denken Selbstvertrauen Zielorientierung Intelligenz Nonkonformismus Authentizität Transzendenz Interesse Originalität Neugier

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Die einzelnen Aspekte, die unter die einzelnen Buchstaben von FASZINATION fallen, bezeichnet Holm-Hadulla auch als „Kardinaltugenden der kreativen Arbeit“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 122). Viele der aufgelisteten Aspekte lassen sich mit dem Textilen verbinden und auf textile Besonderheiten übertragen, sodass quasi auch von einer FASZINATION textil gesprochen werden kann. Der Aspekt Originalität wird folgend besprochen. Alle anderen ausgewählten Kreativitätstugenden finden sich wieder in den weiteren Bereichen der Mindmap (Abbildung 14) und werden im weiteren Verlauf des Kapitels entsprechend angemerkt. Der Punkt Originalität fällt in der Verbindung mit den ausgewählten anderen Bereichen etwas heraus, da mit Originalität nicht im Speziellen das Individuum oder der Prozess bezeichnet wird, sondern die Ergebnisse, Lösungen und Produkte kreativer Personen und Prozesse: „Originalität, das heißt Eigentümlichkeit, Ursprünglichkeit und Echtheit, ist eher ein Ergebnis als eine Voraussetzung der kreativen Arbeit.“ (S. 52) Es ist das Neue, das durch das ungewöhnliche, nicht typische Verbinden bestehender Wissensstrukturen entsteht. Deswegen ist es auch ursprünglich und echt. Ein gewisses Produkt oder eine besondere Lösung war in dieser Form noch nie da. Der Faden, aber auch die dahinterstehenden Techniken des Verdrehens und Verzwirnens, können mit der Prämisse originell versehen werden. Die Nähmaschinennadel bzw. die Position des Nadelöhrs in der Spitze der Nadel anstatt am Ende ist ein weiteres Beispiel für Originalität. Im Laufe der Geschichte der Nadel durchläuft diese immer wieder verschiedene Veränderungen, welche, vergleicht man die Knochennadeln der Altsteinzeit mit gegenwärtigen Nähnadeln, zwar auf den ersten Blick marginal erscheinen, auf den zweiten Blick allerdings aufgrund der scheinbaren Marginalisierung und Einfachheit Auslöser für enorme Entwicklungsprozesse gewesen sind. Um diese Entwicklungsprozesse zu betrachten und nachzuvollziehen, kann sich nur auf ein winziges, aber entscheidendes Element der Nadel, das Nadelöhr, konzentriert werden. Z.B. verschiebt sich die Position des Nadelöhrs mehrfach vom Ende der Nadel in die Mitte. Ferner wurden Nadeln mit zwei Nadelöhren genutzt, um gleichzeitig mit zwei Fäden nähen oder Sticken zu können. Es finden sich zudem Nadeln mit zwei Spitzen und dem Öhr in der Mitte. Damit wurde der Versuch unternommen, das Nähen effizienter bzw. schneller zu gestalten (Lammèr, 1983, S. 213). In der Aufzählung am Ende steht die Nähmaschinennadel mit dem Öhr in der Nadelspitze. Die Verschiebung des Öhrs in die Spitze war unter anderen beteiligten Erfindungen ausschlaggebend für die Entwicklung einer funktionstüchtig laufenden Nähmaschine – sie war originell. Die Erfinder entdeckten, dass, wenn die öhrspitzig eigefädelte Nadel durch den Stoff stach, sich eine Schlinge bildete. Dieses Prinzip der Schlingenbildung machten sie sich zu Nutze und schufen die Grundlage für das heutige

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maschinelle Nähen mit Ober- und Unterfaden (Bäckmann, 1991, S. 32f). Vor dem Hintergrund der Abkehr von den Vorstellungen, eine Nähmaschine zu konstruieren, die das Handnähen imitiert, ist die scheinbar kleine und originelle Innovation ungemein bedeutsam und kreativ. So ist die Tragweite der Entwicklung und Erfindung der Nähmaschine, unter anderem ausgelöst durch die Veränderung der sonst üblichen Nähnadel und die Abkehr vom Prinzip des Handnähens, enorm. Der Einsatz der Nähmaschine im industriellen Kontext ermöglichte das Herstellen textiler Produkte in Massenanfertigung und förderte sowohl die Produktion von Kleidung in Konfektionsgrößen als auch den Ausbau des Konfektionsgewerbes. Darüber hinaus diente die industrielle Produktion mit der Nähmaschine als Beispiel für weitere Entwicklungen im industriellen und technischen Sektor sowie im sozialen Feld, da sich die Arbeitsverhältnisse der Menschen und somit auch soziale Beziehungen, Eingebundenheit, Schicht- und Klassenzugehörigkeit sowie Strukturen veränderten (Dekorsy, 2000, S. 14f). Mit der Entwicklung der Nadel hin zur Nähmaschinennadel tritt ein ähnliches Phänomen auf, das Barber (1994) in Bezug auf den Faden als String Revolution bezeichnet. Es ist ein Phänomen, in dem textile Dinge Auslöser für weitreichende Folgeentwicklungen auf ökonomischen und gesellschaftlichen Ebenen sind. So könnte die Entwicklung, die mit dem Entstehen der Knochennadel einhergeht, auch als Needle Revolution bezeichnet werden. Sie ist ein textiler Exteriorisierungsprozess. Da „Originalität nicht nur als positiver Wert angesehen wird, sondern auch als eine Bedrohung des Gesicherten und Bewährten“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 52) soll abschließend noch kurz auf die Lochkartenweberei eingegangen werden, auch eine vorantreibende und originelle Entwicklung aus dem Textilen heraus (Punchcard Revolution). Bezüglich der Einführung der Lochkarte in die Weberei wird der Aspekt der Bedrohung und Angst, der in Verbindung mit dem Einführen origineller Entwicklungen steht, besonders deutlich. In den Dokumentationen über die Einführung der neuen Technik werden die Bedenken der Gesellschaft gegen das Neue präsent. Schneider (2007) spricht hier von einem „allgemeinen Zögern“ (S. 285) hinsichtlich eines Einsatzes der Lochkartentechnik in laufenden Produktionsprozessen. Es ist ein Zögern vor dem noch nicht Erprobten, d.h. ein noch fehlendes Vertrauen, das zudem begleitet wird durch bestehende Anforderungen der Domäne. Im Fall der Lochkartenweberei war dies beispielweise eine „durch die Kriege und die Wirtschaftsblockaden“ (S. 285) geprägte Zeit. Mit einer technisch revolutionären Entwicklung geht demnach oft auch eine gesellschaftliche Revolution und Veränderung in den Einstellungen der betroffenen Gruppen einher.

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System Kreativität An den eben genannten Aspekt – die Eingebundenheit origineller, kreativer Ergebnisse in ein entsprechendes Umfeld sowie ihre Bedeutung und Akzeptanz in diesem – schließt ein Punkt hinsichtlich des Verständnisses von Kreativität an, den Csikszentmihalyi (2015) betonend herausstellt. Csikszentmihalyi betrachtet Kreativität vor allem aus einer systemischen Perspektive. Kreativität entstehe nicht im Individuum allein oder sei nicht nur ein Prozess oder Ergebnis einer einzelnen Person. Sie entwickle und befinde sich immer in einem System aus drei Komponenten (S. 41, 47). Nur durch das Zusammenspiel der drei Komponenten – Domäne, Feld und Person12 – würden neue Ideen und Entwicklungen zu anerkannten kreativen Leistungen: „So gesehen entsteht Kreativität aus der Interaktion dreier Elemente, die gemeinsam ein System bilden: einer Kultur, die symbolische Regeln umfasst, einer Einzelperson, die etwas Neues in diese symbolische Domäne einbringt, und einem Feld von Experten, die diese Innovation anerkennen und bestätigen.“ (Csikszentmihalyi, 2015, S. 17)

In der systemischen Denkweise über Kreativität von Csikszentmihalyi finden sich Parallelen zu den Ergebnissen aus Kapitel 2.2, in dem festgestellt wurde, dass das Textile sowohl strukturierend und systematisch ist, durch die Kombination einzelner Elemente Systematiken schafft, diese Systematiken und Kohärenz auch in den menschlichen Denkstrukturen abgebildet sind bzw. sich die Denkstrukturen in den textilen Verbindungen zeigen. Gleichzeitig schlägt diese textile Strukturierung und Systematisierung über auf das Bilden von (textilen) Abstraktionen, Metaphern und Symbolisierungen. Kleidung wird aufgeladen mit Bedeutungen, Regeln und Zugehörigkeitsbestimmungen. Gerade in diesem Bereich bzw. auch im Bereich der Mode bildet sich ein großes System, das über die Meme weitergegeben, gelernt und internalisiert werden muss (Loschek, 2007, S. 33f). So bilden

12 Mit Domäne bezeichnet Csikszentmihalyi (2015) das Handlungsfeld mit allen seinen „symbolischen Regeln und Verfahrensweisen“ (S. 47). Diese müssen gewusst werden, um überhaupt kreative Leistungen hervorbringen zu können. Mit der Kompenente Feld fasst er die Personen zusammen, „die den Zugang zur Domäne überwachen“ (S. 47). Das Feld ist es, das entscheidet, ob eine neue Idee oder ein Produkt im Rahmen der Domäne als wertvolle Weiterentwicklung angenommen wird. Die letzte Komponente des Systems ist das Individuum, welches sich mit den Symbolen der Domäne auseinandersetzt und seine Ideen vom Feld beurteilen lässt. Nach Csikszentmihalyi funktioniert Kreativität nur in einer Wechselbeziehung dieser drei Komponenten.

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sich aus der systemischen Betrachtung einige Aspekte heraus, die als textiles Fundament für Kreativität erläutert werden können und somit im Umkehrschluss auf das kreative, produktive und schöpferische Potential des Textilen verweisen. 2.3.2 Textile Basis Sicherheit bildet eine Basis für Kreativität, in der das Textile fundamental wirksam ist. Sie ergibt sich aus dem System heraus, in dem Csikszentmihalyi (2015) Kreativität verortet. Ohne eine Sicherheit im Wissen über die Regeln und Symbole der Domänen und Felder des Systems können keine kreativen Leistungen entstehen. Sicherheit ist für das kreativ tätige, Veränderungen und Neues anstoßende Individuum von besonderer und elementarer Bedeutung, da das Individuum in seinen kreativen Prozessen genau diese Sicherheiten, die oft auch als das Gewohnte wahrgenommen werden, verlässt (Holm-Hadulla, 2010, S. 48). Wie wichtig Sicherheit für Kreativität ist, zeigt sich schon in der Kindheit. Von Bedingungen und Sicherheiten in der Kindheit hängen „zentrale Voraussetzungen der Kreativität wie Neugier, Interesse und Ehrgeiz sowie Hingabefähigkeit, Selbstvertrauen und Frustrationstoleranz“ (S. 38) ab. Unter anderem sind die Bezugspersonen, die positiv und wohlwollend begleiten, die Instanzen, die Sicherheit vermitteln. „Kinder, die Vertrauen und Sicherheit erleben, können später leichter hohe Anforderungen erfüllen.“ (S. 39) Es ist eine Stabilität in den persönlichen und innigen Beziehungen und Verbindungen von Kindern und ihren Bezugspersonen, die Stabilität in den Verhältnissen von Familien, ungeachtet dessen, wie diese genau aussehen, die als Nährboden für Kreativität dient. „Wenn ein Minimum an existenzieller Sicherheit gegeben ist, äußert sich eine ursprüngliche Kreativität, die in jedem Menschen mehr oder weniger angelegt ist.“ (S. 43) Sicherheit hängt nicht nur mit den das Individuum umgebenden Personen zusammen, sondern auch mit den Bedingungen der Umgebung des Individuums an sich. In diesem Kontext wird in der Regel von einer kreativitätsfördernden Umgebung anstatt von einer sicheren Umgebung gesprochen, die sich unter anderem aus eröffneten Möglichkeiten und Zugängen zu motivations- und talentgebundenen Arbeitsfeldern, aus „flexiblen Arbeitsformen“ und einem „offenen Kommunikationsklima“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 44) zusammensetzt. Im Folgenden sollen nun zwei Thesen weiterverfolgt werden, in denen das Textile in Verbindung tritt mit dem kreativitätsbeeinflussenden Aspekt der Sicherheit: • Das Textile schafft eine kreativitätsfördernde Umgebung und nimmt in dieser

eine fundamentale Position ein.

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• In der fundamentalen Position für Kreativität gibt das Textile dem Menschen

Selbstvertrauen (vgl. FASZINATION) und Selbstsicherheit wiederum für Kreativität. „Textiles are our constant companions through our journey. They help us relate to the Earth, to other people, to ourselves, and to something even larger than ourselves.“ (Gordon, 2011, S. 57) Passender könnte Gordon es nicht ausdrücken, wenn die oben genannten Punkte einer kreativitätsfördernden Umgebung mit ihrer Aussage verglichen werden. Sie stellt das Textile in einen Zusammenhang mit Maslows (2016) Konzept der Bedürfnishierarchie und arbeitet heraus, dass das Textile im Grunde nicht nur im Bereich der grundlegenden Bedürfnisse wichtig und sichernd ist (vgl. Kapitel 2.1). Indem sie das Textile als einen sicheren und konstanten Partner bezeichnet, der den Menschen auf allen Ebenen des Lebens und auf allen Stufen der Bedürfnishierarchie insbesondere in Form von Kleidung begleitet, kann das Textile fast gleichgesetzt werden mit der Position der wohlwollenden und positiv unterstützenden Bezugsperson. Aus dieser Theorie heraus wird sichtbar, welche Rolle das Textile und im Speziellen die Kleidung in Bezug auf Kreativität einnimmt. Noch deutlicher wird die Begründung der beiden oben aufgestellten Thesen ferner, wenn an Flügels (1986) Ergebnisse zur Psychologie der Kleidung angeknüpft wird. Flügels Argumentation kann an dieser Stelle passend angewandt werden, da er die Kleidung in einen Zusammenhang mit dem Körper und dem Menschen setzt und nicht wie viele andere den Komplex Mode miteinbezieht. Die Anknüpfung an modische bzw. modetheoretische Aspekte sowie der Vergleich von Mode und Kreativität ist auch lohnenswert, würde allerdings hier den Umfang übersteigen und kann ausführlich bei Ingrid Loschek (2007) nachgelesen werden, die die Mode mit ihren spezifischen Strukturen und Systematiken in den Kontext von Invention, Kreativität und dem Wunsch bzw. Drang des Menschen, etwas Neues zu schaffen, stellt. Flügel (1986) arbeitet, neben den schon hier erwähnten Bedürfnissen nach Maslow (2016), weitere Bedürfnisse heraus. Die Motive, wie Flügel (1986) sie nennt, sind grundlegend für das Erlangen von Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Er setzt sie in Beziehung mit einer oft als selbstverständlich wahrgenommenen Tätigkeit des Menschen, das sich Kleiden, bzw. der zweiten Haut des Menschen, der Kleidung. Mit Rückgriff und der Erläuterung der drei Hauptmotive des sich Kleidens – Schmuck, Scham und Schutz – betont er die Bedeutung der Kleidung für den Menschen im Zuge seiner eigenen Existenz: „Obwohl die Kleidung scheinbar eine unwesentliche Zugabe ist, prägt sie zutiefst unsere Existenz als gesellschaftliche Wesen.“ (S. 209) Alle drei Motive sind gleich-

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wertig relevant, obwohl die Wertigkeit oder auch eine Hierarchie unter den Motiven immer wieder diskutiert wird. Baut man allerdings eine Brücke zur Kreativität, kann Flügels Intention, die Motive in ihrer Wertigkeit auf eine Ebene zu stellen, nur bestätigt und weiterverfolgt werden. Folgende Dreieckkonstellation (Abbildung 16) mit den für Kreativität wichtigen Punkten Sicherheit, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit im Fokus und der Kleidung als die das Dreieck umhüllende Instanz kann dementsprechend aufgestellt werden: Dem Bild des Dreiecks folgend, das zudem die Bedingtheit der Motive untereinander verdeutlicht, muss ferner eine Tendenz zu einem ausbalancierten Miteinander unter den Motiven herausgestellt werden. „Kleider haben in der Tat als Objekte, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen sollen, den Charakter eines Kompromisses; sie sind ein raffiniertes Mittel zum Erzielen eines gewissen Ausgleichs zwischen einander widerstrebenden Interessen.“ (Flügel, 1986, S. 213) So ist Kleidung nicht nur Sicherheit und schafft Selbstvertrauen in der Auseinandersetzung des Menschen mit den drei Motiven. Kreativität existiert oder ist zudem gefordert in dem Drang, die Motive und Bedürfnisse mit passender und angemessener Kleidung zu befriedigen. Auch hier zeigt sich Kreativität wieder auf zwei Ebenen – einmal hinsichtlich der Bedingungen, die förderlich für sie sind, zum anderen als eine ständig mitlaufende Produktivität bzw. ein kontinuierlicher, nicht enden wollender Schaffensprozess. Mit Kleidung und dem Akt des sich Kleidens wird also Sicherheit erzeugt und somit Selbstvertrauen aufgebaut. Somit wird eine Basis für Kreativität im vestimentären Bereich geschaffen. Wird der Bogen geschlagen zum allgemein Textilen, also zu einer übergeordneten Ebene, existiert die Basis für Kreativität noch auf grundlegenderer Stufe. Ausgangspunkt sind die Eigenschaften des Textilen an sich: flexibel, formbar, weich etc. Kleidung als eine geformte und auf den menschlichen Körper mehr oder weniger angepasste Hülle entsteht auf der Grundlage der textilen Materialität und Technik, die die Eigenschaften flexibler Materialien nutzen oder technisch durch Knüpfen, Weben und Verschlingen erschaffen. So ist auch das Textile in Material und Technik fundamental wichtig für Kreativität.

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Abbildung 16: Dreieckskonstellation der Motive Schmuck, Scham und Schutz n. Flügels (1986) Konzept der Psychologie der Kleidung

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Mit den Überlegungen zum Textilen und zur Kleidung werden kreativitätsfördernde und -beeinflussende Aspekte angesprochen, die sich im Alltäglichen des Individuums befinden bzw. in der „alltäglichen Kreativität“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 119). Auch die textilen Beispiele, die Kreativität fördern und beeinflussen, sind Beispiele aus dem Bereich der Allgegenwärtigkeit und fallen somit im Rahmen der Idee eines textilen Spannungsfeldes dem Pol der Omnipräsenz zu. In Verbindung mit den Kreativitätstheorien, die Holm-Hadulla (2010) aufzeigt, verdeutlicht sich die Wichtigkeit des Textilen, d.h. hier konkret textiler Aktivitäten und der Eigenschaft des Textilen, zu schützen und Beziehungen zu bilden und zu festigen, im Zusammenhang mit einem Menschen, der kreativ und produktiv handelt und Neues entwickelt, Strukturen verändert. Die Omnipräsenz des Textilen ist im kreativitätsfördernden Kontext bedeutsam, denn nur durch seine Allgegenwärtigkeit, dadurch, dass man sich auf das textile als schützende oder auch schmückende Hülle verlassen kann, entsteht Sicherheit und Selbstvertrauen. Da diese Aspekte des Textilen aber wieder in den Beriech der Omnipräsenz fallen, wirken auch hier die Punkte aus dem Negativ-Feld des textilen Spannungsfeldes (Abbildung 3). Das Textile im Rahmen von Kreativität wird aus seiner omnipräsenten Position heraus gar nicht oder als selbstverständlich wahrgenommen, es wird marginalisiert und in seiner eigentlichen Bedeutung nicht wertgeschätzt. Aus den Überlegungen zum Positiv- und Negativ-Feld der Omnipräsenz entsteht indessen folgende These: Das Textile als Basis für Kreativität muss vielleicht unsichtbar und selbstverständlich sein. Es darf den Menschen nicht irritieren und stören, sonst würde es nicht schützen und Sicherheit gewährleisten oder die konstante Bezugsperson bzw. in diesem Fall Bezugsinstanz sein können, die es als zweite Haut nun mal ist. Erst im omnipräsenten Zustand kann auf Ungewissheiten reagiert werden und der Mensch kann sich einlassen auf das kreative Wechselspiel zwischen Ruhe und Chaos, Schöpfung und Zerstörung (vgl. Kapitel 2.3.3). Textile Aktivität Kreativität geht einher mit Produktivität. Holm-Hadulla (2010) ergänzt das Adjektiv kreativ kontinuierlich mit dem Adjektiv produktiv. Demnach lässt sich schlussfolgern, dass beide Bereiche, der Kreative und der Produktive, zusammenhängen. Ergründet man das Verb produzieren etymologisch, finden sich zum einen die Synonyme herstellen und hervorbringen und zum anderen die Entlehnung aus den lateinischen Wörtern prōdūcere und dūcere, die übersetzt werden mit vorwärtsführen, vorführen und ziehen (Kluge & Seebold, 2002, S. 721). Die Ähnlichkeit zu den Synonymen und zur Definition von kreativ oder dem Verb kreieren mit schöpfen und schaffen ist gegeben (Kluge & Seebold, 2002, S. 536f). So sind

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für Holm-Hadulla (2010, S. 39, 51) kreative Menschen vor allem auch produktive Menschen, die etwas Neues herstellen, hervorbringen bzw. schaffen. Das Produktive ist gerade in der textilen Aktivität, z.B. beim Ausführen textiler Techniken, omnipräsent. Egal welche Technik ausgeführt wird, immer begibt sich das jeweilige Individuum in einen zielorientierten (vgl. FASZINATION), produktiven und das heißt gleichzeitig auch kreativen Prozess. Joane Turney (2009) kommt in ihren Ausführungen zum Stricken immer wieder auf den Prozess des textilen Tuns zu sprechen, z.B. wenn sie mit den Ergebnissen und Schlussfolgerungen Tara Jon Mannings argumentiert, die das Stricken verbindet mit Konzentration, Fokussierung und Meditation: „The act of knitting is inherently built on the formation of a stitch, the creation of fabric. When we knit, we place our attention over and over again on the natural rhythm of creating fabric form yarn – insert needle, wrap yarn, pull through a new stitch, repeat. Following this simple repetitive action is the basis of contemplative practice. It continually reminds us to stay focused, to stay in the moment. When we knit with this attention, we have an almost indescribable feeling of satisfaction and content. This is knitting as meditation.“ (Manning 2004 zit. in Turney, 2009, S. 153)

Manning beschreibt mit der Tätigkeit des Strickens im Grunde auch genau die beiden Ausprägungen von Kreativität, mit denen zu Beginn dieses Kapitels Kreativität umrissen wird: creare und crescere. Zum einen ist der Strickende konzentriert und fokussiert durch die sich wiederholende Tätigkeit. Gleichzeitig ist das Ziel, die Fertigstellung eines Produktes, immer präsent (Zielorientierung). Der Strickende befindet sich in einem bewussten Schaffensprozess. Zum anderen löst diese bewusste, konzentrierte und strukturierte Vorgehensweise Momente der Meditation bzw. des sich in sich Kehrens aus, die vergleichbar sind mit kreativen Momenten des unbewussten Werden Lassens (crescere). Mit dem Aufgreifen meditativer Zustände im textilen Tun kann wiederum an Holm-Hadullas (2010) Kardinaltugenden der Kreativität angeknüpft werden. Es sind nicht nur meditative Zustände, die durch textiles Tun ausgelöst werden, sondern damit einhergehend auch Zustände von Transzendenz (vgl. FAZSINATION). Der meditative und konzentrierte Zustand im Handarbeiten bewirkt ein „‚Übersich-hinaus-sein‘ in einer Aufgabe oder einem Werk“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 51). Das produktive Individuum überschreitet im Zustand der Transzendenz bestehende Grenzen und ist in der Lage, Neues bzw. Originelles zu entwickeln. Die Aspekte Meditation und Transzendenz in Bezug auf das Handarbeiten werden heutzutage insbesondere in Ratgeberliteratur mit dem Fokus auf einen gesunden Lebensstil aufgegriffen (Crawford, 2010; Matthews, 2016; Heino, 2016; Corbett,

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2017). Hier wird Bezug genommen auf ein grundlegendes menschliches Bedürfnis bzw. Bestreben im Zusammenhang mit dem Handarbeiten oder Handwerkern. Sennett (2014) beschreibt das Bestreben als einen „Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen“ (S. 19). Der Wunsch und das Ausführen einer Tätigkeit nach dieser Prämisse erfüllt den Menschen wiederum mit Stolz auf das von ihm Produzierte und einem Gefühl von Glück. Mit dem Gefühl von Glück ist ein Erlebniszustand verbunden den Csikszentmihalyi (2015) als FLOW bezeichnet und der Kreativität begleitet bzw. im kreativen Prozess einsetzen kann. Das FLOW-Erleben als Begleitzustand von Kreativität filtert Csikszentmihalyi auf der Grundlage der Aussagen seiner Befragten heraus, die die Freude bei bestimmten Tätigkeiten als ein „Hochgefühl“ (S. 162) und „als einen nahezu spontanen, mühelosen und doch zugleich extrem konzentrierten Bewusstseinszustand“ (S. 162) beschreiben. In diesem Zustand erfährt das Individuum Glück und Freude, es ist erfüllt durch die Tätigkeit, die es ausübt. In kreativen Prozessen ist das FLOW-Erleben nicht nur ein schönes Beiwerk, sondern dient quasi als Belohnungssystem für die Anstrengung, Gewohntes zu verlassen sowie Neues zu entdecken und zu entwickeln. Anknüpfend an die meditativen Zustände beim textilen Handarbeiten, wie dem Stricken, wird demnach auch das FLOW-Erleben im Rahmen textiler Aktivität besonders gut sichtbar. Gale und Kaur (2002) nehmen direkt Bezug auf Csikszentmihalyis (2015) Beschreibung des FLOW-Erlebens und beziehen diese auf das Handarbeiten und die dem Handarbeiten innewohnenden Eigenschaften: „Given this, at the very heart of absorbing craft is a slow, contemplative process, it is rhythmic and the craftsperson finds enjoyment in the measured and calm pace of the work.“ (Gale & Kaur, 2002, S. 69) Deutlich wird die Verbindung von FLOW und Handarbeiten bzw. einer textilen Aktivität auch in den ersten beiden Hauptelementen13, mit denen Csikszentmihalyi (2015) das FLOW-Erleben näher beschreibt und zugleich die Bedingungen für das Entstehen des FLOWs eingrenzt. Die ersten beiden Hauptelemente sind grundlegend für die darauffolgenden und in der textilen Aktivität von vornherein vorhanden:

13 Folgende Hauptelemente für das FLOW-Erleben stellt Csikszentmihalyi (2015, S. 163166) auf: 1) „Jede Phase des Prozesses ist durch klare Ziele gekennzeichnet.“ 2) „Man erhält ein unmittelbares Feedback auf das eigene Handeln.“ 3) „Aufgaben und Fähigkeiten befinden sich im Gleichgewicht.“ 4) „Handeln und Bewußtheit bilden eine Einheit.“ 5) „Ablenkungen werden vom Bewußtsein ausgeschlossen.“ 6) „Man hat keine Versagensängste.“ 7) „Selbstvergessenheit.“ 8) „Das Zeitgefühl wird aufgehoben.“ 9) „Die Aktivität ist autotelisch.“

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1) „Jede Phase des Prozesses ist durch klare Ziele gekennzeichnet.“ (S. 163) Der Prozess, in dem das Individuum agiert, ist klar und nicht widersprüchlich organisiert und strukturiert. Abfolgen, Schritte, Ziele werden nach und nach bearbeitet und erreicht. Masche um Masche wird auf die gleiche Weise gestrickt, Reihe um Reihe entsteht auf der Grundlage eines vorher strukturierten Plans und konzipierten, konstruierten Musters. 2) „Man erhält ein unmittelbares Feedback für das eigene Handeln.“ (S. 163) Verliert man beim Stricken unabsichtlich nur eine einzige Masche, geht die Struktur des Gewirkes verloren. Fehler werden unmittelbar transparent, da das Gewirke sich aufribbelt und der Arbeitsprozess von neuem begonnen werden muss. Obwohl das textile Tun, erklärt durch die ersten beiden Hauptelemente, das FLOW-Erleben sehr gut herbeiführen kann, erfährt diese besondere Eigenschaft des Textilen, ähnlich wie die anderen Bereiche des Textilen, nicht die für sie angemessene Wertschätzung. Auch hierzu findet sich eine Erklärung bei Csikszentmihalyis (2015) Hauptelementen – nämlich im neunten Aspekt: „Die Aktivität wird autotelisch.“ (Csikszentmihalyi, 2015, S. 166) Ziel im Sinne des FLOW-Erlebens ist es, dass jede Aktivität autotelisch wird, d.h., dass sich das Ziel der Aktivität in der Aktivität selbst befindet. Csikszentmihalyi stellt allerdings einige Aktivitäten heraus, die a priori autotelisch sind, „wie Kunst, Musik und Sport“ (S. 166). Mittlerweile kann gerade auch die textile Aktivität im westlichen Kulturkreis dazu gezählt werden, obwohl, wie mit Barber (1994) und ihrer String Revolution schon erläutert, das Textile und seine Ursprünge mit der Überlebensfähigkeit des Menschen zusammenhängen. Textile Produktionsprozesse sind ausgelagert und Kleidung ist allgegenwärtig verfügbar. So ist die textile Aktivität im westlichen Kulturkreis mehr Freizeitbeschäftigung, was eine Argumentation für den Erhalt eines Unterrichtsfaches, das das Textile in Schule und Bildung vermittelt, nicht einfach macht. Einige aktuelle Studien und Arbeiten aus dem angloamerikanischen Raum stellen allerdings die textile Aktivität und das FLOW-Erleben in den Mittelpunkt ihrer Forschung (Futterman Collier & Károlyi, 2014; Futterman Collier, Wayment, & Birkett, 2016; Futterman Collier & Wayment, 2017; Garlock, 2016; Conner, DeYoung, & Silvia, 2016; Conner & J. Silvia, 2015). Für Futterman Collier und Károlyi (2014) beispielsweise sind zwei wichtige Aspekte des FLOWErlebens Engagement und Erregung. In ihrer Studie zeigten sie, dass gerade diese beiden Aspekte in einem positiven Zusammenhang mit dem Ausführen textiler

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Techniken stehen. Dabei wurden unter den Befragten „mixed media, surface design, quliting, weaving, spinning, and dyeing“ (S. 475) als besonders erholsam wahrgenommen. Exotelische Aspekte des Textilen, die das Schaffen mit dem Textilen oder das mühsame Erlernen einer textilen Technik für die Allgemeinheit oder z.B. aus ökonomischen Gründen sinnvoll und nachvollziehbar machen, sind im westeuropäischen Kulturkreis ausgelagert und auf zwei Ebenen exteriorisiert. Zum einen übernehmen Maschinen textile Herstellungsprozesse und stellen fast ohne menschliches Zutun textile Flächengebilde her. Zum anderen werden die Herstellungsschritte, die noch mit der Hand oder teilweise mit der Hand ausgeführt werden müssen, in Billiglohnländer ausgelagert (Gehlen & Grundmeier, 2014, S. 3f). Primäre kindliche Kreativität Mit kindlicher Kreativität wird auf einen Bereich von Kreativität Bezug genommen, der etwas Abseits zu den anderen Bereichen steht, da das kreative Tun eines Kindes bzw. Kleinkindes sich vom kreativen Tun eines Erwachsenen unterscheidet. Gleichzeitig ist die kindliche Kreativität aber grundlegend für kreatives Handeln im Erwachsenenalter. Was ist nun kindliche Kreativität, inwiefern hängt diese mit dem Textilen zusammen und inwiefern ist diese bildend? Kindliche Kreativität ist gekennzeichnet durch die Entwicklung der Fähigkeit, Symbole und Illusionen zu schaffen und diese gleichzeitig im Spiegel der Realität zu prüfen und zu objektivieren. Die Kreativität im Kindesalter beschreibt im Prinzip ein Verhandeln von innerpsychischen Fantasien und Bedürfnissen mit äußeren Anforderungen und Wahrnehmungen. Das Verhandeln geschieht in einem intermediären Bereich, so Winnicott (2015): „Der intermediäre Bereich, von dem ich hier spreche, ist jener Bereich, der dem Kind zwischen primärer Kreativität und auf Realitätsprüfung beruhender, objektiver Wahrnehmung zugesprochen wird.“ (S. 21) In diesem intermediären Raum handelt das Kind kreativ oder, wie Winnicott seine Überlegungen weiterführt, es spielt. Dem Spielen als kreative Handlung kommt eine besondere Bedeutung zu, da es eine Tätigkeit ist, die zweckfrei und um ihrer Selbstwillen vollzogen wird. Dementsprechend lässt sich insbesondere FLOW-Erleben im Spielen beobachten. Neue und andere Realitäten risikofrei zu schaffen, auszutesten und sich selbst in diesen geschaffenen Realitäten auszuprobieren und sich die eigene Existenz zu vergegenwärtigen sind Chancen, die im Spielen liegen, bevor eine Prüfung durch die tatsächliche Realität erfolgt (Oerter, 1997, S. 5-7). Das Kind lernt im Spielen zu unterscheiden zwischen dem Ich und Dingen als „Nicht-ich“-Objekte (Winnicott, 2015, S. 12) (vgl. Kapitel 3.2.2, 3.3.1).

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Objekte, Dinge, Gegenstände spielen demnach im Rahmen der kindlichen Kreativität, im intermediären Bereich, eine wichtige Rolle. Winnicott (2015) bezeichnet diese Objekte als Übergangsobjekte und das, was in der Interaktion zwischen Individuum und Übergangsobjekt passiert, als Übergangsphänomen. Die Nicht-ich-Objekte sind in der Regel der erste Besitz eines Kindes, an dem das Kind sowohl seine autoerotischen Bedürfnisse befriedigt als auch sich selbst wahrnimmt, da ihm mit dem Nicht-ich-Objekt das Andere, das Fremde gegenübersteht. So gehören „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene in den Bereich der Illusion, die den Anfang jeder Erfahrung bildet.“ (Winnicott, 2015, S. 24) Holm-Hadulla (2010) schließt sich Winnicotts (2015) Überlegungen zum Übergangsobjekt an, zieht den Bogen zur Gegenwart und betont somit seine Bedeutung: „Durch die moderne Entwicklungspsychologie werden Winnicotts Beobachtungen bestätigt, dass fast alle Kinder die Fähigkeit besitzen, ein totes Objekt mit Leben zu füllen, sie verfügen über eine primäre Kreativität. [...] Das Spielen der Kinder setzt sich im Erwachsenenalter fort: Wissenschaft, Kunst und Religion entwickeln sich aus der spielerischen Selbstverständigung des Kindes in seiner Umwelt. Die Quintessenz der psychoanalytischen Erkenntnisse ist, dass ein geradezu biologisches Bedürfnis nach Kreativität existiert.“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 134)

Inwiefern spielt das Textile nun im Zusammenhang mit kindlicher Kreativität, dem intermediären Bereich und dem Übergangsobjekt eine Rolle? Als Beispiele für Übergangsobjekte führen Holm-Hadulla (2010) und insbesondere Winnicott (2015) zahlreiche Dinge aus dem textilen Bereich an: Zipfel von Decken, Tücher und Kissen, Windeln, Fäden, Wolle, Teddybären oder Puppen (S. 13f). Folgende Frage stellt sich in Bezug auf die häufigen Nennungen des Textilen: Wieso scheint gerade das Textile für ein Übergangsobjekt prädestiniert zu sein? Ohne wirklich direkt Bezug auf das Textile zu nehmen, beantwortet Winnicott die Frage in Ansätzen selbst, indem er die Eigenschaften eines Übergangsobjektes beschreibt und festlegt. So muss das Übergangsobjekt für ein Kind handhabbar sein, festgehalten und geformt werden können. Dementsprechend charakterisiert er das Übergangsobjekt weiter mit den Eigenschaften weich und bequem. Welche Materialität würde sich folglich besser für ein Übergangsobjekt eignen als die textile Materialität? Das Textile erfüllt all die Voraussetzungen, die für ein Übergangsobjekt wichtig sind. Es ist weich, warm, handlich, anschmiegsam, formbar, biegsam und flexibel. So kann an dieser Stelle an die zuvor gemachten Überlegungen angeknüpft werden und das Textile als fundamental für Kreativität – mit dem Übergangsobjekt schon in der frühsten Kindheit – eingestuft werden. Diese Einstufung

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impliziert darüber hinaus, dass im Textilen schöpferisches, produktives und kreatives Potential liegt. Im Fortschreiten der kindlichen Entwicklung stellt Winnicott (2015) eine Tendenz zu Dingen aus härterem Material fest, wie Puppen oder Spielfiguren. Diese Feststellung fügt sich in die Diskussion um die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung ein und unterstützt die These, dass, wenn entwickelnde, fortschreitende Phänomene betrachtet werden, sich vom Weichen und Omnipräsenten abgewendet wird. Aus Winnicotts Beobachtungen und Schlussfolgerungen kann allerdings die Erkenntnis gezogen werden, dass dem weichen, formbaren Textilen umso mehr Bedeutung als Grundlage für Entwicklung und Bildung zugesprochen werden muss. 2.3.3 Flexibilität – die besondere textil-kreative Materialität Schöpfung und Zerstörung Bis jetzt wird Kreativität als etwas Voranschreitendes beschrieben und gleichgesetzt mit dem Schöpferischen und dem Produktiven. Holm-Hadulla (2011) stellt in der Weiterführung seiner Überlegungen zur Kreativität ein Konzept auf, in dem er dem Schöpferischen einen Gegenpol gegenüberstellt – die Zerstörung. Damit fokussiert er im Rahmen von Kreativität ein Wechselspiel zwischen „Schöpfung und Zerstörung, Ordnung und Chaos, Konstruktion und Dekonstruktion“ (S. 7). Dieses Wechselspiel tauche in allen Forschungsfeldern zur Kreativität, wie im Religiösen und Mythischen, in der Philosophie, in der (Neuro-)Biologie und in der Psychologie, auf. Antrieb für das beschriebene Wechselspiel ist der Drang des Menschen nach Kohärenzbildung bzw. der Wunsch des Menschen nach Kohärenz. Der Weg zur Kohärenz ist gekennzeichnet durch „ihre Auflösung und beständige Neuformierung“ (Holm-Hadulla, 2011, S. 7). Wenn etwas Neues geschaffen wird, geht im Zuge dessen etwas Altes oder Bestehendes kaputt oder das Bestehende wird umgeformt und verändert. Ähnlich wie Holm-Hadulla sieht auch Buttlar (1977), der Gottfried Sempers Ideen und Überlegungen zu Kunst und Ästhetik zusammenfasst, Kreativität in einem Spannungsfeld „zwischen dem Chaos, dem Zufälligen, Ungereimten, Absurden, das uns auf jedem Schritte der irdischen Bahn begegnet, und dem kosmischen Instinkt des Menschen, der sich in seinen Produkten eine kosmische Welt im Kleinen schafft.“ (Buttlar, 1977, S. 3) Die Tugend der Flexibilität (vgl. FASZINATION) spielt zwischen Schöpfung und Zerstörung eine besondere Rolle, denn sie ist einmal „Fähigkeit und Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen“ (Holm-Hadulla, 2010, S. 45) und zum anderen ist ein flexibler Mensch im Stande, Ungewissheiten, Leerstellen und das,

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was zwischen Schöpfung und Zerstörung passiert, auszuhalten (S. 46). Die materiellen Eigenschaften des Textilen, wie Flexibilität, Vernetztheit, Struktur, Vergänglichkeit und Fragilität (vgl. Kapitel 2.1) decken sich mit Holm-Hadullas (2011) Konzept von Schöpfung und Zerstörung, Kohärenzbildung und Flexibilität. Dementsprechend ergibt sich ein letzter zu besprechender Aspekt hinsichtlich des kreativen, schöpferischen und produktiven Potentials des Textilen. Die grundlegende Beschaffenheit textiler Materialien und Erzeugnisse ist ausgelegt auf Kreativität und Produktivität (vgl. Kapitel 2.3.2). Harlizius-Klück, Hülsenbeck und Mentges (2002) bezeichnen das Textile treffend als „hinfälliges Medium“ (S. 237). Gerade die Eigenschaft der Hinfälligkeit oder die der Vergänglichkeit, mit der die drei Textilwissenschafterinnen das Textile weiter eingrenzen, ist das ausschlaggebende Moment, welches Neubildungen motiviert und provoziert. Die Vergänglichkeit des Textilen äußert sich beispielsweise „im Verschmutzen der Kleider, ihrem Kaputtgehen, ihrem Altmodischwerden“ (S. 243). So findet sich eine kreative Neukombination auf zwei Ebenen motiviert aus dem Bedürfnis sich zu bedecken, ganz abgesehen von welchen Motiven, Schmuck, Scham oder Schutz, begleitet. Auf der einen Seite können aufgelöste Fasern und Fäden neu zusammengesetzt werden. Die Designer SchmidtTakahashi kreieren beispielsweise aus Altkleidern neue, ganz individuelle Mode. SchmidtTakahashis Mode bleibt zudem nicht anonym. Sie trägt ihre Vorgeschichte als QR-Code mit, sodass der kreative und persönliche textile Prozess nachvollzogen werden kann (SchmidtTakahashi, 2017). Was zuvor beispielsweise ein T-Shirt war, wird aufgrund der materiellen Vergänglichkeit und Flexibilität zu etwas Anderem. Auch SchmidtTakahashi arbeiten mit den Polen Schöpfung und Zerstörung. Auf der anderen Seite sprechen Harlizius-Klück, Hülsenbeck und Mentges (2002) ein kulturell geprägtes Phänomen an. Das Textile, insbesondere Kleidung, lässt sich je nach Anforderung, Funktion und Kontext neu kombinieren, anpassen. Die Anpassung wird angetrieben von gesellschaftlichen Regeln und Konventionen, persönlichen und individuellen Vorlieben, dem Wunsch, mit Kleidung sein Ich zu konstruieren, und technologischen Weiterentwicklungen (Craik, 2005, S. 292; Mink, 2007, S. 279f). Dass die Materialität des Textilen eine gute Grundvoraussetzung für Kreativität darstellt, kann auch Loscheks (2007) Beschreibung der textilen Materie entnommen werden. Interessant bei ihr ist, dass sie dem Textilen die Begrifflichkeit des „Unmateriellen“ (Loschek, 2007, S. 24) zuordnet. Ähnlich beschreibt auch Tim Ingold (2013) Material im Allgemeinen, wenn er es mit dem Attribut rätselhaft versieht. „Materials are ineffable.“ (S. 31) Das Rätselhafte löst sich erst dann auf, wenn sich der Mensch auf das Material einlässt (engagement). Die Flexibilität und Strukturiertheit des Textilen begünstigen zugleich ein Sich-Einlassen. Das

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Unmaterielle im Textilen sei gekennzeichnet „durch seine extreme Anpassung und vielseitigen Formzustände als Fläche, Falte oder plastische Form sowie seine multiplen Eigenschaften als starr (starre Seide) oder bewegt (wehend, schwingend), dicht (undurchsichtig) oder dünn (durchsichtig).“ (Loschek, 2007, S. 24) Mit Hilfe dieser Aufzählung wird die Flexibilität und Veränderbarkeit im Rahmen einer kreativen Schöpfung verdeutlicht. Folgt man weiter Loscheks Beschreibung der textilen Materialität, findet sich ein Punkt in der Ökologie des Textilen, der auf Holm-Hadullas (2011) Konzept von Schöpfung und Zerstörung übertragen werden kann: „Ökologisch verweist das Textile auf das Erneuerbare (Wolle), aber auch auf das Sterbliche (Naturseide).“ (Loschek, 2007, S. 24) Jedes textile Material sei totes Material, so hingegen Lehnert (2016, S. 27). Im Vorhinein müsse Lebendiges sterben, zerstört werden, um z.B. Kleidung zu schaffen, die dann wiederum am Körper getragen lebendig wird. Mit dem Vergehen und Entstehen des Textilen im Kontext von Kreativität wird über Holm-Hadullas (2011) Überlegungen hinaus angeknüpft an die Forschungsrichtung um Prozesse des material engagement (Renfrew, 2014, S. 111), der materiellen Involviertheit, und des New Materialism (Witzgall, 2014, S. 14). Diese Richtung und vor allem der Begriff material engagement unterstützen die in diesem Kapitel verfolgte These, dass ein kreatives und schöpferisches Potential auch vom Textilen oder wie eben dargelegt von der textilen Materie ausgehe und nicht nur im Individuum vorhanden sei. Renfrew (2014) betont dies. Eine kulturelle, d.h. auch kreative Weiterentwicklung fände dann statt, wenn Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, den Materialien seiner Umwelt entstünden. Dies sei „ein kreativer und zugleich gesellschaftlicher Prozess“ (S. 111), der auch durch eine natürliche Zerstörung, auf die der Mensch wiederum reagieren müsse, vorangetrieben wird. Das Textile und damit auch die Textilschaffenden sind also immer wieder dazu gezwungen, sich selbst bzw. das Textile neu zu erfinden. Subversion und Radikalität durch flexible textile Materialität Textil-künstlerische Arbeiten machen die kreative Flexibilität des Textilen besonders deutlich. Hier kommt das eben beschriebene kreative Potential der textilen Materialität als Ausdrucksmittel zur Geltung. McFadden (2007) betont die Manipulierbarkeit textiler Faserstoffe sowie die dadurch entstehende Möglichkeit zur Kombination mit anderen Materialien. Aufgrund dieser Eigenschaften können im künstlerischen Tun neue Verbindungen geknüpft, Kontraste gesetzt oder Pertubationen erzeugt werden. Die Materialität des Textilen ist ein Grund, warum McFadden das Textile (Faser, Technik, Objekt) als subversiv und radikal klassifiziert: „Complexity, structure, materials, process, form, and content all join forces in

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these works to pursue the exploration of beauty through radical and sometimes subversive actions.“ (S. 11) Ein weiterer Grund für ein subversives und damit kreatives künstlerisches Handeln mit dem Textilen liegt in der Marginalisierung und der Verharmlosung der textilen Handarbeiten. Die Marginalisierung und Verharmlosung kommt dem Aspekt der Zerstörung, den Holm-Hadulla (2011) beschreibt, gleich. So entstehe aus der Zerstörung heraus eine Neubewertung des Textilen. „First and foremost has been a re-valution of hand making as a means of recapturing the sensuality and tactility of sculpture. In a world where the clinical and impersonal nature of digital technologies may perplex and discourage us […], what can restore our connection to community, to our history, and to our shared aspirations is the sense of hand – i.e., of making something from start to finish by manual labor.“ (McFadden, 2007, S. 8)

Alle Aspekte, die McFadden aufzählt – Verbindung zur Gesellschaft und zum kulturellen Gedächtnis, Sinnlichkeit und Handarbeit sowie die Stärkung des Selbstkonzeptes beim Arbeiten an einem Produkt – werden deutlich in den Arbeiten von Kaoru Hirano, die folgend als Künstlerin beispielhaft angeführt wird. Hirano verfolgt das Konzept der Dekonstruktion von Textilem. Dabei entfernt sie die Schussfäden aus Kleidung (Hemden, T-Shirts, Schuhe, Unterwäsche) oder ribbelt diese komplett auf. Zum Teil tragen die von ihr verwendeten Kleidungsstücke persönliche Geschichten mit sich, da die Künstlerin die Personen kannte, denen das entsprechende Kleidungsstück gehörte, wie in einer Arbeit mit Kleidungsstücken einer Berliner Familie (Abbildung 17). Hirano verwendet für ihre Arbeiten aber auch entpersonalisierte, nicht individuell zuzuordnende Kleidungsstücke, die sie aus der Masse heraus kauft (Abbildung 18). Diese Arbeiten verweisen wiederum auf die Gesamtgesellschaft oder eine bestimmte Kultur. Im Akt der Dekonstruktion macht sie auf Vorlieben der Gesellschaft oder Massenphänomene aufmerksam. Die aufgetrennten NikeSchuhe machen diesen Aspekt besonders deutlich (Abbildung 19). Ganzes und Kohärentes, das Leben der Menschen in der Gesamtheit, das Universum oder auch auf Kultur und ein Vernetzt-Sein (Murr, 2016, S. H8-H10). Kaoru Hirano nimmt künstlerisch sowohl auf die technischen Aspekte des Textilen als auch auf die ganz persönlichen textilen Bereiche Bezug. Beispielhaft für diese allumfassende Herangehensweise sind die Arbeiten Kugel #1 bis Kugel #5 (2012) (Abbildung 20).

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Abbildung 17: Kaoru Hirano, Abbildung 18: Kaoru Hirano, untitled -Berliner family-, Polo-Shirt, untitled -lingerie- (2008) Minirock (Tochter) (2011)

Abbildung 19: Kaoru Hirano, untitled -red NIKE- (2009)

In dem Prozess der Dekonstruktion und Zerstörung entstehen bei Hirano neue Verbindungen, Rekonstruktion, Konstruktion und vor allem Verweise auf etwas

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Ein Paar Boxershorts, ein T-Shirt, die linke und rechte Socke sowie eine ChinoHose trennt sie bis auf die einzelnen Fäden auf. Die einzelnen Fäden verbindet sie dann wieder zu einem zusammenhängenden Strang, den sie zu nahezu perfekten Kugeln aufwickelt. Jede der fünf Kugeln besteht demnach aus einem Kleidungsstück. Die neue Struktur und Anordnung verweist einmal auf Übergeordnetes – die Kugelkonstellation ähnelt dem Universum mit seinen Planetenanordnungen. Zum anderen verweist sie auf Untergeordnetes – die Kugeln ähneln Wollknäueln und spiegeln somit die Produktionsgeschichte der Kleidungsstücke wider. Darüber hinaus geht durch die dem Werk hinzugefügten Informationen die Individualgeschichte der Kleidungsstücke nicht verloren – eine Person, die die Kleidung trägt, bleibt vorstellbar. Abbildung 20: Kaoru Hirano, Kugel #1 (Boxer short), Kugel #2 (T-Shirt), Kugel #3 (Socke), Kugel #4 (Socke), Kugel #5 (Chino-Hose) (2012)

Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem Verweis von Elke Gaugele (2011, S. 14) auf Foucault, der den Mythos vom Faden der Ariadne kreativ umschreibt und mit der Überschrift „Der Ariadnefaden ist gerissen“ (Foucault, 1977, S. 7) versieht. Eine bessere Analogie für die Potentiale des Textilen im kreativen Tun lässt sich nicht finden. Foucault spinnt die Geschichte um: Ariadne erhängt sich mit ihrem eigenen Faden, der Faden reißt in diesem Akt der Zerstörung, Theseus kann nicht mehr auf ihn zurückgreifen, um einen Ausweg aus dem Labyrinth zu finden – eine an einem Faden hängende Verbindung wird zerstört, im selben Zuge muss Theseus nun einen neuen Weg suchen, umdenken, neuanknüpfen, kreativ handeln zwischen Zerstörung und Schöpfung.

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2.4 BÜNDELN Das textile Gedächtnis ist vernetzt, vernetzt mit einem Endlosfaden. Endlosfäden entstehen nicht wie ein aus unterschiedlich langen Wollfasern gesponnenes Garn, sondern aus einer chemisch erzeugten zähflüssigen Spinnmasse, die zu vielen feinen endlosen Filamenten gezogen und zu einem einzigen Faden verbunden wird. Dieser chemisch hergestellte Faden kann theoretisch unendlich sein. Obwohl im Prozess der Fadenherstellung ein Mensch kaum mehr tatsächlich, d.h. mit seinen Händen, die die einzelnen Fasern zu einem Faden verdrehen, beteiligt ist, ist trotzdem über die Techniken des Verdrehens, Verzwirnens und Verspinnens, die weiterhin angewandt werden, und über alles was im Nachhinein mit dem Faden geschieht, eine Beziehung zum Ausgangspunkt, der Korrespondenz von Textilem und Mensch, nachvollziehbar. Der sich vernetzende Endlosfaden steht nicht nur stellvertretend für eine Jahrtausende alte Technikgeschichte, die von einer Verbindung zwischen Textilem und Mensch zeugt, sondern auch symbolisch für die Jahrtausende alte, schier endlos scheinende Beziehung zwischen Mensch und Textilem – für das textile Gedächtnis. Das Textile und der Mensch bilden seit dem Beginn einer wechselwirkenden Korrespondenz ein autopoietisches System, denn in der Korrespondenz erschaffen sie sich wechselseitig selbst. Im Faden liegt die Geburtsstunde der engen und insbesondere auch kreativen Beziehung TextilMensch. Der Mensch verheddert sich so gesehen in dem Faden und kann sich bis heute nicht mehr aus dem Fadengewirr befreien – ein Beziehungs- und Ideenprozess zwischen Textilem und Mensch beginnt (Willi, 2007). Einen Faden aus Tieroder Pflanzenfasern herzustellen und diesen entsprechend zielorientiert einzusetzen, unterstützt das Überleben nicht nur eines einzelnen Menschen, sondern einer Gruppe. Ein Faden, mit dem Lebensmittel hochgebunden, geschützt, transportiert und gelagert, mit dem Neugeborene um den Körper der Mutter befestigt und so mitgetragen werden können, wirkt sich essentiell auf die evolutive und kulturelle Entwicklung des Menschen aus. Textiles und Mensch stehen unterstützend, koevolutiv zueinander. Die Koevolution begünstigt Gruppenbildung, Kulturalisierungsprozesse setzen an, Zeichensysteme, auch textile, entstehen. Eine String Revolution (Barber, 1994) findet statt. Das Textile in seiner Beziehung zum Mensch ist revolutionär, denn in ihm bilden sich Strukturen und Muster des menschlichen Denkens ab. Auf gleiche Weise beeinflusst das Textile in seiner Strukturiertheit menschliches Denken und Handeln. Die Bearbeitung textiler Materialität ist gekennzeichnet durch strukturiertes, systematisches, planvolles Handeln. Die zu wiederholenden Arbeitsschritte beim Stricken oder die Musterhaftigkeit eines Gewebes verdeutlichen die Struktur des Textilen. Aus einer textil-strukturierten Tätigkeit, mit der auch die

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haptisch-handliche Durchführung der Grundtechniken zusammenhängt, entstehen Übertragungen des Textilen in andere, abstrakte, symbolische, metaphorische und digitale Bereiche. Das Textile in der menschlichen Sprache hilft z.B. dabei, komplexe Sachverhalte vorstellbar zu machen. Die Binarität des Webprozesses ist grundlegend für digitale Prozesse, indem das Prinzip oben-unten, gelocht-ungelocht (Bezug zur Lochkartensystematik), Nullen-Einsen einfließt in eine der ersten Programmiersprachen und insbesondere Charles Babbage bei der Weiterentwicklung seiner Rechenmaschine inspirierte (Plant, 1998, S. 23f). Die Fähigkeit, mit dem Textilen Muster zu bilden, Informationen genauso wie Fäden zusammenzufassen, aufgrund einer Reduktion Zusammenhänge zu erkennen, ist die grundlegendste Errungenschaft des Systems Textiles-Mensch. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die textile Musterhaftigkeit seit der String Revolution auch im Gesellschaftlichen, in der Strukturierung und Organisation von Gruppen niederschlägt. Kleidung stellt durch ihre Aufgeladenheit mit Bedeutungen das Mittel für gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsprozesse dar. Wieso einen endlosen Faden herstellen? Wie kommt es zu der Motivation diesen schaffen zu wollen? Wieso entstehen aus dem Textilen heraus die textileigenen und übertragbaren, erweiterten Strukturen, die gesellschaftliche und technische Entwicklung motivieren? Das Textile ist in seiner Beziehung zum bzw. Korrespondenz mit dem Menschen aufgeladen mit schöpferischem, produktivem und kreativem Potential. Wer sich auf textiles Material, textile Technik oder textile Dinge einlässt und in eine Auseinandersetzung mit ihnen tritt, bewegt sich innerhalb der beiden Bedeutungsfelder von Kreativität – creare (bewusst etwas schaffen) und crescere (etwas unbewusst werden lassen) (Holm-Hadulla, 2010, S. 22). Das Textile ist sowohl Basis für Kreativität als auch aktiver Impulsgeber für kreative Prozesse. Das umhüllende, schützende Textile befriedigt die Grundbedürfnisse des Menschen (Maslow, 2016). Durch seine Flexibilität verschmilzt es mit dem Menschen und unterstützt ihn dabei, auf die äußeren und inneren Motive einer Konfrontation mit der Umwelt, Schmuck, Scham und Schutz (Flügel, 1986), zu reagieren. Sicherheit und Selbstvertrauen als unverzichtbare Instanzen in kreativen Prozessen werden aufgebaut. Eine Steigerung des Selbstvertrauens findet darüber hinaus in der textilen Aktivität an sich statt. Das rhythmische, durch Wiederholung geprägte Vorgehen, eine Zielorientierung und ein optimales Maß an Über- und Unterforderung im Handarbeiten und Selbermachen versetzen die textil-schaffende Person in den Zustand des FLOWs (Csikszentmihalyi, 2015). Das FLOW-Erleben wird begleitet durch ein starkes Glücksempfinden. Dass das Textile fundamental für Kreativität ist, zeigt sich zudem im kreativen Spielen von Kindern. Hier ist das Textile als Bettzipfel oder Kuscheltier schon in den ersten

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Lebensphasen das bevorzugte Übergangsobjekt und unterstützt das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Realität (Winnicott, 2015). Obwohl ein Endlosfaden scheinbar unendlich ist, kann dieser reißen oder absichtlich durchtrennt werden. Die grundlegende Materialität des Textilen ist ausgelegt auf Kreativität und Produktivität. Flexibel und formbar passt sich das Textile Ideen an und reagiert auf Neues. Die Flexibilität macht das Textile gleichzeitig zu einem fragilen, sich zersetzenden Material. Zerstörung und Vergänglichkeit ist der textilen Materialität eingeschrieben. Zerstörung findet indes nie ohne den Gegenpart Schöpfung statt und im Wechselspiel dieser beiden Extreme entstehen kreative Prozesse (Holm-Hadulla, 2011). Neben dem kreativen Wechselspiel zwischen Schöpfung und Zerstörung besitzt das Textile eine eigene sich wechselseitig bedingende Polarität. Es steht zwischen den Bereichen Omnipräsenz und Exteriorisierung unter Spannung (vgl. Abbildung 3). In diesem Kapitel wurde aufgezeigt, wie die Beziehung zwischen Textilem und Mensch in einer nahen, allgegenwärtigen und sinnlichen Korrespondenz ihren Ausgangspunkt findet. Das kreative Potential dieser Korrespondenz lässt infolgedessen den Gegenpol, die Exteriorisierung, das fortschreitende, abstrakte Textile entstehen. Im Bereich der Omnipräsenz liegt eine Tendenz zur Marginalisierung des Textilen, die vor dem Hintergrund der Exteriorisierung noch verstärkt wird. Hier zeigt sich ganz deutlich das Dilemma, in welchem sich das Textile befindet. Es ist paradox, dass gerade der Bereich der Exteriorisierung die Grundkonstanten der textilen Omnipräsenz benötigt, um weiterhin aktiv und kreativ wirken zu können. Die Hand ist ein weiterer wichtiger Faktor in der Beziehung/im System Textiles-Mensch. Sie kann als Bindeglied betrachtet werden. Inwiefern sie ausschlaggebend ist für die Entwicklung des Textilen und des Menschen aus evolutiver Perspektive, inwiefern textil-handliches Tun immer noch zusammenhängt mit Prozessen des Denkens und der Konstruktion von Netzwerkstrukturen im Gehirn und wie sich das Konglomerat Textiles-Mensch-Hand hinsichtlich einer textilen Kreativität verhält, wird im folgenden Kapitel besprochen.

3

Die textile Hand

Die Betrachtung der Verbindung zwischen dem Menschen und dem Textilen wäre unvollständig, wenn nicht auch ein Blick auf die Hand geworfen würde, denn ihr kommt im Zusammenspiel von Mensch und Textil eine besondere Bedeutung zu. Ohne die Hand wäre der Mensch nicht in der Lage gewesen, einen Faden, eine textile Fläche oder Hülle, zu erschaffen. Die Hand und ihr Einsatz kann in diesem Zusammenspiel zum einen als Mittler (Abbildung 21) zwischen dem Textilen und dem Menschen, zum anderen aber auch als antreibender Motor bezeichnet werden (Abbildung 22). Abbildung 21: Hand als Bindeglied/Medium/Mittler zwischen Textilem und Mensch

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Von der Grafik ausgehend, in der die Hand in einem Kreislauf zwischen dem Menschen und dem Textilen steht (Abbildung 22), werden in Kapitel drei verschiedene Aspekte betrachtet, die die Bedeutung der Hand in Bezug auf den Menschen und das Textile herausstellen und unterstreichen. Abbildung 22: Kreativer Kreislauf zwischen Textilem, Hand und Mensch

Auch bei der Erarbeitung und Erläuterung einer textilen Hand schwingt die These der Arbeit, sprich das textile Spannungsfeld mit den Polen Omnipräsenz und Exteriorisierung (Abbildung 3), mit. So wird in der Auseinandersetzung innerhalb der Teilkapitel auch eine Polarisierung in Bezug auf die Hand deutlich. Mit einer Entwicklung von der Hand ausgehend über das Werkzeug als Hilfsmittel für die Hand hin zur Digitalisierung14, einer Minimalnutzung der Hand, wird eine Tendenz zur Exteriorisierung festgestellt. Den Fokus auch auf den Bereich der Omnipräsenz lenkend ist ferner die Diskussion folgender Fragen in diesem Kontext interessant: Was passiert mit den dem Menschen ganz nahen, sinnlichen Prozessen,

14 Digital stammt vom lateinischen Wort digitus. Digitus bedeutet Finger bzw. den Finger betreffend, mit dem Finger (Lösel, 2005, S. 375). Etymologisch ist im Wort digital also noch die Verbdinung zwischen Hand, Technik und Digitalisierung erkennbar. In der Entwicklung des Menschen wird die Hand bzw. der Finger „mechanisiert und zur Bezeichnung von Apparaten. Jetzt ist es die Ziffer bzw. Stelle in der Anzeige eines elektronischen Gerätes.“ (S. 375)

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bei denen die Hand als Tastorgan eine wichtige Rolle spielt? Zieht die Exteriorisierung der Hand eine Verarmung des taktilen und haptischen Wahrnehmens mit sich? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Die Konsequenzen eines Auseinandergleitens der Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung werden in Kapitel 1 weiter ausdifferenziert. Wie in Kapitel 1 schon angedeutet, wird die Hand im Zusammenhang mit der Evolution des Menschen betrachtet. Festgestellt wird hier, dass die Hand im Zuge von evolutionär bedingten Veränderungen maßgeblich auch an der Entwicklung des menschlichen Gehirns beteiligt ist. Aus diesen evolutionsbedingten Veränderungen, die eine Verbindung von Hand und Gehirn offenlegen, ergeben sich Grundlagen für ein soziales Zusammenleben in einer Gruppe, also eine Basis für das Entstehen von Kultur und somit auch Grundlagen für Technisierungsprozesse mit dem Ziel, das Zusammenleben zu erleichtern und zu fördern. Aus der evolutionsorientierten Betrachtung heraus ergeben sich folgende Fragen: Inwiefern ist die Nutzung der Hand beteiligt an Lernprozessen, Gehirn-Gedächtnisprozessen, an dem Werden eines textilen Gedächtnisses? Welche Rolle spielt die Hand beim Lernen? Es wird im Rahmen dieses Kapitels also zudem der Zusammenhang zwischen Hand und Gehirn aufgezeigt. Dies wird aus unterschiedlichen, sich aber bedingenden Perspektiven geschehen. Basierend auf Forschungen zum sinnlichen Wahrnehmen und im Speziellen zum taktilen und haptischen Wahrnehmen werden die Auswirkungen einer Förderung dieser angesprochenen Wahrnehmungsbereiche auf Lernen und Gehirnstrukturen aufgearbeitet. In diesem Feld muss auch die Perspektive auf neurologische und neurodidaktische Kontexte gelenkt werden, um schließlich in der Verknüpfung von Hand und Gehirn Schlüsse auf lerntheoretischer und lernförderlicher Basis ziehen zu können. Damit werden zudem Grundlagen aufgearbeitet, die das Entstehen eines textilen Gedächtnisses, der Verbindung Textiles-Mensch begünstigen. Ein textiles Gedächtnis konnte nur über die sinnliche Wahrnehmung und über die Hand entstehen. Kreativität ist in diesem Beziehungsgeflecht eine implizite Notwendigkeit. Philip Treacy, britischer Hutdesigner, bringt in der Beschreibung seiner Arbeit in einem Interview einen Aspekt in dem Zusammenspiel Textil-Mensch-Hand auf den Punkt: „Mit der Hand etwas zu erschaffen ist aufregend. Man kann etwas erfinden.“ (Treacy, 2007) So soll in einem abschließenden Unterkapitel und unter Heranziehung der Ergebnisse aus den vorherigen Ausführungen die Nutzung der Hand in einen Zusammenhang mit Kreativität und kreativen Prozessen gesetzt werden. Die Aufarbeitung und Begründung der These, dass eine durch die Hand bedingte textile Kreativität existiert, steht im Mittelpunkt. Dazu kann gefragt werden: Inwiefern ist die Hand an kreativen Prozessen beteiligt und welche Bedeutung kommt ihr zu? Inwiefern ist das Textile an einer handgreiflichen Kreativität

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beteiligt? Wie wirkt sich die Verbindung Hand-Kreativität-Textiles, die in diesem Unterkapitel hergeleitet wird, auf den Menschen aus? Auch für diesen eben beschriebenen Bereich, in dem das Textile in Verbindung gesetzt wird mit der Hand und Aspekten von Kreativität, kann wiederum geprüft werden, inwieweit sich die erarbeiteten Ergebnisse und Sachverhalte im textilen Spannungsfeld, in der textilen Polarität verorten. Es ist zu vermuten, dass sich gerade in der Verbindung Hand-Kreativität-Textiles eine Tendenz zum Bereich der Omnipräsenz herausstellt (vgl. Kapitel 1). Das komplexe Forschungsfeld ‚Hand‘ Das Forschungsfeld zur Hand, hoch komplex und vielfältig, ist prädestiniert für eine Betrachtung von Kreativität, Entwicklung und Überraschungen im Sinne von unerwarteten Erneuerungen. Deswegen sollen der Diskurs im Folgenden kurz aufgegriffen und dargestellt werden. Dies ist unter anderem auch wichtig, da sich aus dem Diskurs zur Hand vor allem in Verbindung zum Gehirn/Kopf Thesen ergeben, mit denen die Stellung des Textilen in der Gesellschaft und in dem hier konstruierten Spannungsfeld erklärt, hergeleitet und begründet werden kann. Marco Wehr (2005) bringt die Kontroverse zur Hand auf den Punkt, wenn er sagt, die Stellung der Hand in Gesellschaft und Wissenschaft sei durch Ignoranz geprägt. Die Ignoranz, die der Hand und ihrer Bedeutung im Zusammenspiel mit der Evolution des Menschen, dem menschlichen Körper und dem Denken entgegengebracht wird, erreicht für ihn einen hohen Grad an Widersprüchlichkeit, denn, so Wehr, „die Liaison von Hand und Hirn stellt nicht nur eine anatomische Besonderheit dar. Sie hat in allen Bereichen menschlicher Kultur ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen. Hierzu gehören die Mathematik, die Philosophie, natürlich das Handwerk, die Sprache und die verschiedenen Künste. Da diese Zusammenhänge jedoch gerne übersehen werden beziehungsweise in Vergessenheit geraten sind, müssen sie wieder ans Licht geholt werden.“ (Wehr, 2005, S. 12)

Diese Einordnung der Hand wirkt deckungsgleich mit den zahlreichen Einstufungen des Textilen in alltägliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontexte. So ist für Barber (1994, S. 45) das Textile die nicht gesehene oder übersehene Waffe in der Entwicklung, sowohl technisch als auch gesellschaftlich, des Menschen. Lisbeth Freiß (2007, S. 99) wiederum betont die Marginalisierung des Textilen im Kontext der handarbeitenden Frau. Aus diesen ähnlichen Einordnungen ergibt sich die Idee eines Zusammenhangs zwischen dem Übersehen der Hand

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und dem Nicht-Beachten und der Marginalisierung des Textilen. Erfährt das Textile als hand- und körperfokussiertes Themen- und Aktionsfeld auch heute noch so eine Geringschätzung, weil die Hand an sich und ihre Bedeutung im eben dargelegten Kontext bis dato ignoriert wird? Auf diese Frage wird im weiteren Verlauf des Kapitels immer wieder Bezug genommen. Ein weiterer Punkt, der die Stellung der Hand verdeutlicht, findet sich in der Fixiertheit auf den Kopf und das Gehirn, die es allerdings, so Wilson (2001, S. 72) und Weinmann (2005, S. 19), zu überdenken gilt. Weinmann betont eine evolutive Perspektive: „Denn auch entwicklungsgeschichtlich stehen beide Organe [Hand und Gehirn] in enger gegenseitiger Abhängigkeit, und vielleicht wird am Beispiel der Hand auch deutlich werden, daß man den Körper nicht länger als bloßes Gefäß unseres Gehirns geringschätzen sollte.“ (S. 19) Mit dieser Aussage nimmt er Bezug auf ein Zitat Platons, das Wehr (2005) zur Diskussion stellt: „Der Köper ist das Grab der Seele.“ (Platon zit. in Wehr, 2005, S. 12) Hier wird deutlich, wie alt und wie tief verwurzelt die Diskussion über Körper, Hand, Geist und Gehirn sowie um die Hierarchisierung oder die Trennung von Hand und Gehirn ist. Eine Trennung von Hand und Denken bzw. Theoriebildung finde vorzugsweise in der Philosophie statt, so Janich (2005), der diese Trennung bildlich als „Amputation“ (S. 271) beschreibt und sich somit auch kritisch gegen diese Dichotomie stellt. Er ist der Meinung, dass gedanklich aufgestellte Theorien und Konstrukte im Prinzip nur durch ein handwerkliches Tun, ein tatsächlich körperorientiertes Erproben und Ausprobieren in ihrer Gänze erfahren, verstanden und geprüft werden können. Die alltäglichen Handhabungen und Handlungen sind für ihn essentiell für Theoriebildung. Davon abgesehen könne sich kein Theoretiker dem Körperlichen oder auch der Benutzung der Hand entziehen, auch wenn der Theoretiker oder, wie Janich ihn bezeichnet, Mundwerker noch so stark eine Trennung oder Wertung anstrebt. „Dabei findet der kleine, tägliche Verrat unausweichlich bei den Mundwerkern selbst statt. Von ihnen wurde noch kein einziger gesichtet, der nicht sein tägliches Leben dadurch fristen würde, daß er, wenigstens ganz selten, ein Glas an den Mund setzt, etwas Eßbares in den Mund schiebt, ein Kleidungsstück an- oder ablegt oder sonst etwas mit den Händen tut, das ihm die handhabbare Umgebung zum Leben zu nutzen erlaubt. Hier wird nicht nur geredet, hier werden, auch von Mundwerkern, unerläßliche Handgriffe vollzogen.“ (Janich, 2005, S. 281)

Markant an seiner Aussage ist der Bezug zur Kleidung, zum Textilen im alltäglichen und somit wichtigen Gebrauch des Menschen. Insbesondere Flügel (1986),

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aber auch Craik (2005) und Lehnert (2013) betonen die enge Verbindung des Menschen mit seiner Kleidung. Lehnert (2013, S. 51) erwähnt sogar die haptische Bedeutung von Kleidung für den Menschen. Das Zusammenspiel von Körper und Kleid bildet zum einen Identität, zum anderen schafft es in zahlreichen kreativen Prozessen Mode, die sich als äußere Hülle wiederum auf den Köper, auf den Menschen auswirkt. In der Verdingung von Kleidung und Mensch finden sich Aspekte der Selbstwahrnehmung, die in Kapitel 3.2.2 weiter erläutert werden. Darüber hinaus betont Flügel (1986, S. 209) für den Bereich der Kleidung bzw. des Textilen ähnlich wie Janich (2005), der für die Hand spricht, dass die Bedeutung und Wertung dieser beiden Bereiche – Textiles und Hand – im Alltäglichen verschwimmt. Ferner spricht Wehr (2005) eine weitere Schwierigkeit im Forschungsdiskurs zur Hand an, die unter Umständen erklärt, warum es in der Geschichte zur Fokussierung auf den Kopf und das Denken, zur Ignoranz der Hand und des Körpers sowie der Verbindung von Hand und Kopf kam. Gerade im Bereich der evolutiven und stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen betritt man aufgrund der schwierigen und unsicheren Quellenlage oft den Bereich der Spekulation. „In diesem Zusammenhang darf mit Fug und Recht darüber spekuliert werden, ob der typisch menschliche Handgebrauch neurologische Strukturen notwendig machte, die dann auch anderweitig genutzt werden konnten, etwa bei der Entwicklung der gesprochenen Sprache. Vielleicht stand am Anfang nicht das Wort, sondern die Handlung! Zugegebenermaßen steckt die Forschung auf diesem Gebiet noch in den Kinderschuhen.“ (Wehr, 2005, S. 14)

Reill (2005) ergänzt den Aspekt der Schwierigkeiten in der Erforschung der Zusammenhänge zwischen Hand und Gehirn aus aktueller medizinischer und neurologischer Perspektive: „Eine direkte Untersuchung von Steuerungsfunktionen zwischen Gehirn und Hand ist beim Menschen bisher nur begrenzt möglich. Auch die altgediente Handchirurgie muß sich derzeit damit zufrieden geben, daß die unglaubliche Vielfalt derzeit vor allem biomechanisch zu beschreiben ist.“ (S. 72) So seien die ersten Ergebnisse auf diesem Gebiet zwar bescheiden, lassen aber Deutungen und Interpretationen für einen Zusammenhang von Gehirn und Hand zu. Hier entsteht eine Forschungslücke, die die Hand bzw. den gesamten Körper im Vergleich zum Kopf (Gehirn, Denken, zum Abstrakten und zur Sprache) gleichwertig und in einem bedeutenden Zusammenhang erforschbar macht. Aus phänomenologischer Perspektive betrachtet Merleau-Ponty (1966) diesen Zusammenhang zwischen Körper und Gehirn, zwischen den nur durch den Körper möglichen Empfindungen, mit denen der Mensch im Stande ist, sich ein Abbild seiner

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Umgebung zu machen oder seine Umgebung als solche zu erfahren. Gleichzeitig ist der Mensch aber auch in der Lage, sich selbst zu berühren und diese Berührung taktil und haptisch wahrzunehmen und sich dadurch selbst zu begreifen. In diesem Sinne spricht Merleau-Ponty von einer doppelten Empfindung: „Drücke ich beide Hände zusammen, so erfahre ich nicht etwa zweierlei Empfindungen in eins, so wie ich zwei nebeneinanderliegende Gegenstände wahrnehme, sondern eine zweideutige Organisation, in der beide Hände in der Funktion der ‚berührten‘ oder ‚berührenden‘ zu alternieren vermögen.“ (Merleau-Ponty, 1966, S. 118) In der Selbstberührung „zeichnet sich also ‚eine Art Reflexion‘ auf sich selbst“ (S. 118) ab (vgl. Kapitel 3.2.2). Aus der textilen und textil-pädagogischen Perspektive verwiesen z.B. Bombek (2007) und Kolhoff-Kahl (2012) auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. Bombek (2007, S. 234f) betont hier den Austausch des Individuums mit dem Textil-Materiellen, dem Stofflichen, welches das Individuum kognitiv und sozial fördere. Kolhoff-Kahl (2012, S. 282) verbindet das Konzept der Leibwahrnehmung mit dem des ästhetischen Denkens und stellt die Potentiale eines ästhetisch umfassenden Tuns für Kreativität und Selbstverwirklichung heraus. Aus dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs zur Hand ergibt sich unweigerlich, ähnlich wie beim Diskurs zum Textilen, eine Einordnung in das Spannungsfeld zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung (Abbildung 3). So lässt sich die Hand ähnlich leicht einordnen in das Spannungsfeld wie das Textile. Ferner ergibt sich durch die Einordnung eine weitere Parallele zum Textilen. Auch die Hand wird in ihrer Stellung in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur, in ihrer Bedeutung für den Menschen und seine Entwicklung (evolutiv und entwicklungspsychologisch gesehen) marginalisiert bzw. die Bedeutung und der Wert der Hand werden von der Allgemeinheit nicht realisiert. Gut erklärt werden kann dieser Aspekt und eine Einordnung ins Spannungsfeld mit den Wörtern greifen und begreifen. Das Greifen als eine ständig ausgeführte Tätigkeit ist omnipräsent, sichtbar und nachfühlbar. Es ist möglich, sich selbst bei Handbewegungen und -tätigkeiten zu beobachten, diese gezielt zu steuern. Gleichzeitig ist alles, was im Greifen zusammenfällt, einverleibt und dem Menschen, dem Individuum auf natürliche Art und Weise nah. Im Greifen zeigt sich aber auch das Negativ-Feld der Omnipräsenz. Vieles, dass mit der Hand getan wird, geschieht unbewusst. Es sind vor allem als Erwachsener eingeübte selbstverständliche Tätigkeiten, die kaum von Bedeutung sind, da sie automatisiert ablaufen. Mit dem Wort begreifen wird der Bereich der Exteriorisierung angesprochen. Die Wurzel des Wortes liegt zwar in der Omnipräsenz, beim Tatsächlichen, das Wort begreifen drückt aber eine gedankliche Tätigkeit aus, etwas, dass sinnlich

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nicht gefasst werden kann, ein Abstraktum. Vom Greifen zum Begreifen findet also eine Exteriorisierung, eine Auslagerung, eine Abwendung vom Sinnlichen statt. Das Sprache ein Indiz für Exteriorisierung sein kann wird in Kapitel 3.1.3 weiter ausgeführt.

3.1 DIE HAND IN EVOLUTION, KULTURALISIERUNG UND TECHNISIERUNG Wenn die Hand unter einer evolutiven Perspektive betrachtet wird, steht ein Problem im Mittelpunkt, das vorab umrissen und geklärt werden muss. Die folgende Frage bringt dieses Problem zum Ausdruck: Wo soll begonnen werden? Theoretisch könnte dieser Bereich bzw. die Entwicklung der Hand im Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen an sich schon im Rahmen des Entstehens der ersten Lebewesen auf der Erde betrachtet werden. So ähnlich geht André LeroiGourhan (1988) in seinem Werk Hand und Wort vor. Sich zeitlich an Leroi-Gourhan zu orientieren, würde allerdings mit dem Hintergrund des Textilen und textiler Bildungschancen zu weit gehen. Eine gewisse Nachvollziehbarkeit wird über Artefakte und Realobjekte hergestellt. Da das Textile sich allerdings auch durch seine Vergänglichkeit, seine morbide Struktur kennzeichnet, ist die Quellenlage und somit die Nachvollziehbarkeit besonders schwierig (vgl. Kapitel 2.1), wenn man einen ähnlich allumfassenden Blick auf evolutive Kontexte lenkt wie LeroiGourhan. Dementsprechend wird sich beschränkt auf die wichtigsten evolutiven Veränderungen im Zusammenhang zwischen Hand und Gehirn. Durch diese ‚lockere‘ Fokussierung kann es dazu kommen, dass manches im Kontext von Evolution nur angeschnitten, sehr vereinfacht und verkürzt dargestellt wird. Eine weitere Schwierigkeit in diesem Kapitel wird das Abgrenzen der Aspekte Hand, Gehirn, Handwerk, Technik, Gesellschaft und Kultur sein. Diese Themenfelder bedingen sich grundsätzlich und sind nur mit Vorbehalt voneinander getrennt bearbeitbar. Eine Trennung, gerade in Bezug auf die Hand, ist aber hinsichtlich der Komplexität der einzelnen Teilbereiche unerlässlich. So wird innerhalb dieses Kapitels, wie auch bei Sennett (2014) und Leroi-Gourhan (1988), der Eindruck eines Verschwimmens der einzelnen Teilbereiche entstehen, vielleicht gepaart mit dem Eindruck, nicht jedem Punkt in seiner Gänze Genüge zu tun. Zudem schließt sich diesem verschwimmenden Konglomerat die Perspektive auf das Textile an. Dieses Vorgehen bringt eine neue und im Sinne der Hermeneutik eine auf Thesen fokussierte Sichtweise mit sich.

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Zeitliche Eingrenzung Eine genaue zeitliche Eingrenzung ist schwierig. Dementsprechend wird sich an der rezipierten Literatur orientiert, in der allerdings durchaus zeitlich sehr unterschiedlich vorgegangen wird. Leroi-Gourhan (1988) macht den größten zeitlichen Rahmen auf, um die Entwicklung der Hand im evolutionären Kontext nachzuzeichnen und nachzuvollziehen. Er beginnt bei der Entwicklung der Lebewesen bzw. zieht den Entwicklungsstrang vom Fisch zum Menschen nach. Klix (2005) beschränkt sich in seiner Betrachtung der Hand sowie des Werkzeuggebrauchs des Menschen nur auf die Gruppe der Hominiden, also auf die menschenartigen Vorfahren des Homo sapiens. Dabei fokussiert er insbesondere die stattfindenden Veränderungen zwischen den Australopithecinen, dem Homo habilis, welchen er als „ersten Werkzeugmacher“ (S. 233) klassifiziert, und schließlich dem Homo sapiens. Zeitlich noch enger geht Wilson (2001, S. 66, 71) in Teilen seiner Arbeit vor, vor allem, wenn er versucht, die Zusammenhänge zwischen Evolution (biologisch, hier auch Bezug zur Hand) und Sprachentwicklung zu ergründen. Er beschränkt sich auf den Zeitraum bzw. die Veränderungen zwischen dem Homo erectus und dem Homo sapiens.15 Interessant in Bezug auf das Nachvollziehen der Entwicklungsschritte der Hand hin zur Technik, zum Werkzeug, zur Handhabung des Werkzeugs bis zur Symbolisierungsfähigkeit des Menschen, der diese nutzt, um Beziehungen, Gruppen, Kulturen zu organisieren, sind die Eingrenzungen die Klix (2005) und Wilson (2001) treffen. An diesen wird sich folgend orientiert. Dabei kommt es nicht auf eine zeitliche Genauigkeit an, sondern auf die paläontologisch, biologisch, archäologisch und sozialwissenschaftlich festgestellten markanten Veränderungen des Beziehungsgeflechts Hand, Mensch, Gehirn, Technik, Werkzeug, Gruppe, Kultur. Hieraus ergeben sich drei Schwerpunkte16 bezüglich Entwicklung, Veränderung und Evolution, mit denen das Kapitel untergliedert wird:

15 Eine zeitliche Eingrenzung wird ferner von dem Aspekt erschwert, dass sich die eben genannten Wissenschaftler nicht auf eine Analyse unserer Vorfahren beschränken. Der Vergleich mit dem Tier und insbesondere mit dem Affen, hier vorzugsweise dem Schimpansen, bietet sich aufgrund der biologisch, evolutionären Verwandtschaft an. Dieser Vergleich soll allerdings im Rahmen dieser Arbeit größtenteils ausgespart werden. 16 Wichtig hinsichtlich dieser Gliederung ist, dass zwischen den einzelnen Punkten keine scharfen Grenzen gezogen werden dürfen. Die Punkte sind nicht hierarchisch zu betrachten und auch eine Chronologie ist nur bedingt sichtbar. Vieles innerhalb der drei Bereich passiert gleichzeitig, beeinflusst sich oder geht fließend ineinander über.

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• Hand und Evolution • Technik, Werkzeug und Evolution • Kultur, Sprache und Evolution

3.1.1 Hand und Evolution Am Ende der evolutiven menschlichen Entwicklung steht ein Individuum mit „reflektierter Intelligenz“, so Leroi-Gourhan (1988, S. 140), der die reflektierte Intelligenz als das Merkmal des Homo sapiens herausarbeitet. Mit reflektierter Intelligenz gehen mehrere Prozesse einher, in denen Leroi-Gourhan die Besonderheit des Menschen herausstellt: „Die reflektierte Intelligenz, die den Zusammenhang zwischen den Erscheinungen nicht nur ergreift, sondern ihn auch in einem symbolischen Schema nach außen zu wenden vermag, ist mit Sicherheit die späteste Errungenschaft der Wirbeltiere, und erst auf dem Niveau der Anthropinen ist sie vorstellbar. Sie setzt eine Gehirnorganisation voraus, deren Ursprung mit der Befreiung der Hand zusammenfällt und die ihre Blüte in einem Augenblick erlebt, der mit der Erscheinung des homo sapiens zusammenfällt.“ (S. 140)

In der reflektierten Intelligenz kennzeichnen sich auch schon zuvor herausgearbeitete Aspekte, die vor einem textilen Hintergrund analysiert worden sind, wie Struktur, Strukturierfähigkeit, Systematisierung und die Fähigkeit des Menschen zur Symbolisierung (vgl. Kapitel 2.2). Die Fähigkeit, Symbole bilden zu können, kennzeichnet für Cassirer (2007) den Menschen, der so in der Lage ist, Beziehungen untereinander einzugehen, in Gruppen zu leben, eine Zivilisation aufzubauen, Kultur zu schaffen. So definiert er den Menschen auch als „animal symbolicum“ (S. 51). Mit dem Bezug zum Tier, ‚animal‘, finden sich bei ihm also auch Bezüge zu den Ursprüngen des Menschen. Leroi-Gourhan (1988) geht hier allerdings noch weiter und ist deswegen im Rahmen dieses Kapitels interessanter. Für ihn bildet die Hand in ihrer Weiterentwicklung und in Korrespondenz mit dem Gehirn und der Umgebung, d.h. auch dem Textilen, den Ausgangspunkt für eine Technikund Werkzeugentwicklung, die wiederum die Entwicklung von Strukturier- und Symbolisierungsfähigkeit bedingt. Gerade in den Bereichen der Hand- und Technikentwicklung kann die textile Aktivität eine bedeutende Rolle gespielt haben. Grundlegende textile Strukturen sind Basis für bahnbrechende wissenschaftliche Entwicklungen. Die Stringtheorie ist nur ein Beispiel, in dem die textile Ordnung/Struktur grundlegend wirkt und vor allem im Sprachlichen, in der Kommunikation als Verständigungsmittel und auch als Mittel zum Verstehen komplexer Sachverhalte genutzt wird:

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„Laut Superstringtheorie besteht jedes Teilchen aus einem winzigen Energiefaden, rund hundert Milliarden mal kleiner als einzelner Atomkern [...] und wie eine winzige Saite geformt. Genau wie eine Violinsaite verschiedene Schwingraster aufweisen kann, deren jedes einem anderen Ton entspricht, so weisen auch die Fäden der Superstringtheorie verschiedene Schwingmuster auf.“ (Greene, 2006 zit. in Harlizius-Klück, 2009, S. 199)

Um sich das theoretische Konstrukt besser vorstellen zu können, bedient sich Greene der Metapher eines gespannten Fadens, welcher sich in Schwingung befindend Muster erzeugt. Das Abstrakte und Komplexe wird nachvollziehbar, weil es anknüpft an einen textilen Gegenstand. Dieser textile Gegenstand ist, auch wenn nur in der Vorstellung, haptisch nachfühlbar. Auch in diesem Beispiel tritt wieder ein Phänomen des Spannungsfeldes auf (Abbildung 3). Die Stringtheorie ist an und für sich weit entfernt vom textilen Medium oder von einer textilen Aktivität, von der Nutzung und Arbeit mit der Hand in ihren Grundzügen. Sie steht am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses der Auslagerung, der Exteriorisierung. Die Benutzung textiler Metaphern in diesen in erster Linie naturwissenschaftlichen und physikalischen Kontexten, die Harlizius-Klück (2009) herausarbeitet, verweist aber auf Ursprünge in der textilen Materialität und Aktivität, die darüber hinaus in den Bereich der Omnipräsenz fallen. Das Textile wird auf der omnipräsenten Ebene sowohl taktil als auch haptisch wahrgenommen und hinterlässt eindrückliche Spuren und Strukturen im Gehirn (vgl. Kapitel 3.2.1), die für die kognitive Entwicklung des Menschen bedeutsam sind. In dem hier gewählten Beispiel wird wieder deutlich, dass vor allem das Negativ-Feld der Exteriorisierung, das sich auszeichnet durch ferne, abstrakte, anonymisierte und auch unverständliche Sachverhalte, Entwicklungen und Theorien, den positiven Bereich der Omnipräsenz benötigt, um nachvollzogen/begriffen werden zu können. Im Nachvollziehen und Verstehen spielt die besondere Verbindung von Hand und Kopf eine wichtige Rolle. „Der Leitfaden ist dem Menschen von Kant an die Hand gegeben, um die Verknüpfung zu verstehen, die er zwischen den Hirngespinsten rationalistischer Begriffskonstruktionen und dem auf Erfahrung bezogenen Denken der Empiristen schafft.“ (Lösel, 1998, S. 14) Lösel verbindet alle folgenden Teilbereiche: Mensch, Hand, Denken, Kreativität und das Textile als leitendes, führendes Element in Form des Fadens. Die Hand ist ein Mittel, welches nicht nur den Anderen er- bzw. begreifen kann, sondern über das Tun auch Verknüpfungen herstellt – im Gehirn, im Material, zwischen den Menschen als kulturelles Bindeglied. Der Zusammenhang zwischen Hand und Gehirn wird neben der evolutiven Betrachtung, was eine Betrachtung der Polygenese, der Stammesgeschichte des Menschen miteinschließt, auch ontogenetisch erforscht und untersucht. Hier wird

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sich die Frage gestellt, inwiefern die Hand in der Individualentwicklung des Menschen von Bedeutung ist. Michaelis (2005, S. 210) betont den Zusammenhang auf evolutiver und polygenetischer Ebene, welche im Folgenden im Fokus stehen wird. Im Bereich der Ontogenese verhält es sich etwas anders: „Das Erkunden der Welt mit den Händen ist zweifelsohne von großer Wichtigkeit. Entfällt diese Möglichkeit jedoch, ist der Mensch flexibel genug, andere Sinnesmodalitäten zu nutzen und damit zu verfeinern.“ (Michaelis, 2005, S. 209) Der Zusammenhang von Hand und Gehirn mit Bezug auf die Ontogenese wird in Kapitel 3.2 weiter ausgearbeitet. Wie entwickelte sich nun die menschliche Hand in Verbindung mit dem Gehirn? Sowohl Leroi-Gourhan (1988) als auch Wilson (2001) und Michaelis (2005) machen deutlich, dass die Voraussetzung für die Entwicklung eines Menschen mit reflektierter Intelligenz nicht allein in der Hand, ihrer Veränderung und ihrer Nutzung zu finden ist. Es ist eher die Veränderung des Körperbaus und der Körperhaltung, die ein Zusammenwirken von Hand und Gehirn ermöglichten. So kritisiert Michaelis (2005) zurecht die Bemerkung oder Betitelung anderer, die Hand sei ein bzw. der Geniestreich der Evolution. Für Michaelis ist der Geniestreich die Veränderung des Fußes zu einem Gehfuß: „Zusammenfassend läßt sich über das Handwerkszeug des Menschen sagen, daß der ‚Geniestreich‘ der Evolution weniger in der Ausformung und Funktion der Hand besteht als vielmehr in der Umbildung des Greiffußes zu einem Gehfuß und in der Entstehung und Entwicklung eines hochkomplexen neuronalen Speicher- und Kontrollsystems im Gehirn, das die extrem präzisen motorischen und feinmotorischen Fähigkeiten der menschlichen Hand steuert.“ (S. 214)

Leroi-Gourhan (1988) geht ähnlich und doch mit einer etwas anderen Schwerpunktsetzung an diesen Aspekt heran. Dabei stellt er nicht die Veränderung des Gehirns in den Mittelpunkt, sondern Veränderungen im Bereich der Mobilität des Menschen. Für ihn ist die Entwicklung der Mobilität das entscheidende Merkmal der Evolution. Somit rückt er weg von einer Fixierung auf Intelligenz und Denken und stellt die Veränderung und Anpassung des Bewegungsapparates, darunter selbstverständlich auch die Hand und die daraus folgenden Auswirkungen auf das Gehirn, in den Vordergrund. „Die zerebralistische Sicht der Evolution erscheint heute ungenau, dagegen scheinen genügend Belege dafür vorzuliegen, daß die Fortschritte in der Anpassung des Bewegungsapparates eher dem Gehirn genützt haben, als daß sie von diesem hervorgerufen worden wären.“ (S. 43) Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen knüpft er an den Gedanken der Mobilität an und

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zieht den Schluss, dass es einen Zusammenhang zwischen der veränderten Fortbewegung, der Körperhaltung und dem Greifen gibt. Das Greifen sei „von den Merkmalen der Fortbewegung abhängig.“ (Leroi-Gourhan, 1988, S. 77) Zusammenfassend stellt er fest, „daß die Entwicklung der immer effektiveren Oppositionsstellung des Daumens einer Fortbewegung entspricht, die immer stärker auf einer Vorrangstellung der Hand gegenüber dem Fuß beim Greifen gründet, auf einer mehr und mehr aufgerichteten Sitzhaltung, einem immer kürzeren Gebiß, immer komplexeren manuellen Operationen und einem immer weiter entwickelten Gehirn.“ (S. 77)

So beginnt in der Veränderung der Fortbewegung und Körperhaltung eine „erstaunliche Karriere des Handareals“ (Weinmann, 2005, S. 35). „Der aufrechte Gang bedeutet für die vorderen Gliedmaßen bisher nie gekannte Freiheiten. Entbunden von ihren Pflichten im Dienst der Fortbewegung konnten sie neue Fertigkeiten wie Greifen, Manipulieren und auch das Werfen von Gegenständen entwickeln.“ (S. 46) Dabei bleibt es allerdings nicht, denn die eben benannten Freiheiten bezüglich der Hand wirken sich koevolutiv auf das Gehirn aus. So sind auch für Wilson (2001) die neuen Freiheiten, die der Hand zukommen, und eine daraus resultierende erweiterte Handkontrolle ausschlaggebende Punkte. Bezüglich der sich entwickelnden Handkontrolle bezieht sich Wilson auf den Psychologen Merlin Donald (1991), welcher zu ergründen versucht, wie und inwiefern der Mensch zu seinem heutigen Gehirnzustand gekommen ist. Dabei sind für Donald auch Veränderungen im Körperbau und somit auch im Verhalten kennzeichnend. Er merkt an, „daß die Handkontrolle zum ersten Mal in der Evolution die Vereinigung visueller, taktiler und propriozeptiver Rückmeldungen in einem Handlungssystem bedeutet.“ (Donald zit. in Wilson, 2001, S. 58) Die neuen Möglichkeiten der Hand bedingen die kognitiven Möglichkeiten des Gehirns. Schlussendlich brauchte das Gehirn „eine neue Methode, das Verhalten von Objekten zu registrieren und zu repräsentieren, die sich unter dem Einfluß der Hand bewegten und veränderten.“ (Wilson, 2001, S. 72) Die veränderte Körperhaltung und Fortbewegung sind also die Türöffner für ein handfokussiertes Entdecken und Begreifen der Umwelt, welche sich im Vergleich zu den tierischen Bewegungsspielräumen unterscheidet. Der Mensch nimmt die Fasern seiner Umgebung in die Hand, untersucht sie, dreht sie zwischen seinen Fingern, verbindet, verschlingt, verknüpft sie miteinander und baut durch sein Handeln neue Bezugssysteme für seine Umgebung und sich selbst auf (Hirnvolumen nimmt zu). Technik- und Kulturentwicklung werden gleichermaßen angetrieben (Petruschat, 1998, S. 4). Sich in diesem Prozess befindend

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unterstützt das Textile zudem die neu erlangte Mobilität des Menschen durch textil-technische Entwicklungen. Tragnetzte und Körbe werden geflochten, um Nahrung zu lagern und zu transportieren. Die Bewegungsfreiheit des Menschen nimmt durch die gesteigerte Handkontrolle, die ein bearbeiten textiler Materialien möglich macht, zu (Döpfner, 1998, S. 9). Worin bestehen nun die genauen Veränderungen der Hand, die eine Koevolution mit dem Gehirn anregten? Eine dieser Veränderungen betrifft im Speziellen den Daumen und seine Beweglichkeit bzw. die Möglichkeit zur Oppositionsstellung. Mit Opposition ist „eine kraftvolle Gegenüberstellung des Daumens gegen die Handfläche und die Fingerkuppen“ (Reill, 2005, S. 63) gemeint. Die Veränderung des Daumens, seiner Beweglichkeit und der Stellung zu den anderen Fingern ermöglicht dem Menschen „die einzigartige körperliche Erfahrung des Greifens.“ (Sennett, 2014, S. 203) So gehört auch das Greifen zu einer der evolutiv geprägten bedeutsamen Veränderungen und nimmt eine Sonderstellung als bewusst ausgeführte Handlung ein, zu der es sowohl Vorüberlegungen als auch eine Verarbeitung des Wahrgenommenen geben muss. Sennett (2014, S. 203) bezieht sich hier auf die Ethnologin Mary Marzke (1992), die in diesem Zusammenhang drei Formen des Greifens herausstellt: 1) Kleine Gegenstände können zwischen „die Spitze des Daumens und die Innenseite des Zeigefingers“ (Sennett, 2014, S. 203) genommen werden. 2) Ein Gegenstand kann in der Handfläche liegend gewogen und „mit stoßenden und massierenden Bewegungen des Daumens und der übrigen Finger“ (S. 203) bewegt werden. 3) Mit den Daumen und den anderen Fingern halten wir im Korbgriff einen Gegenstand im Hohlraum der Handfläche fest. Währenddessen kann dieser Gegenstand beispielsweise „mit der anderen Hand bearbeitet werden.“ (Sennett, 2014, S. 203) Die drei Formen des Greifens sind omnipräsent in textiler Aktivität. Die folgenden Beispiele und Bilder sind MacKenzies (1991) Forschung zu textilen Behältern, Taschen und Netzen eines Ureinwohnerstammes aus Neuguinea entnommen. Sie eignen sich zur Übertragung, da die Stammesmitglieder ursprüngliche Materialien, Techniken und Werkzeuge verwenden, von denen vermutet werden kann, dass unsere gemeinsamen Vorfahren Ähnliches zur Verfügung hatten, verwendeten und ähnliche Techniken anwandten.

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1) Die erste Form des Greifens ist z.B. beim Herstellen eines Fadens bedeutsam. Die einzelnen Fasern eines Naturmaterials, wie Bast, werden zwischen Daumen und Zeigefinder zusammengefasst, fixiert und durch das Aneinanderreiben der Innenseiten von Daumen und Zeigefinder zum Teil miteinander verdreht (Abbildung 23). Das Verdrehen der Faserstränge geschieht darüber hinaus durch den Einsatz der Handinnenfläche der anderen Hand, die hier auch durch einen kontrollierten Krafteinsatz mit Vor- und Rückbewegung und Reibung am Oberschenkel einen zusammenhängenden Faden produziert. Abbildung 23: Verdrehen von Bastfasern zu einem Faden

2) In Abbildung 24 ist in etwa die Greifform erkennbar, die Marzke unter Punkt zwei zusammenfasst. In der Handinnenfläche liegt das aufgewickelte Garn. Ohne die Kooperation, das Zusammenspiel mit dem Daumen und dem kleinen Finger, wäre ein Zusammenfassen des Garns, welches für weitere Verarbeitungsschritte wichtig ist, nicht möglich.

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Abbildung 24: Aufwickeln eines Fadens Abbildung 25: Verzwirnen mehrerer für den weiteren Gebrauch, Telefolmin Faserstränge zu einem stabilen Seil, (1984) East Sepik Provinz, 1982

3) Mit der dritten Form des Greifens beschreibt Marzke eine Grundform, die in zahlreichen Varianten im textilen Handarbeiten angewandt wird (Abbildung 25, allerdings wird hier nicht direkt etwas im Hohlraum der Hand gehalten, sondern mit diesem bearbeitet). Auf Abbildung 25 ist erkennbar, dass sowohl der Hohlraum der Hand als auch das Agieren des Daumens und der anderen Finger (die einzelnen Fäden werden wie in einer Art Korbgriff zusammengehalten) für das Verzwirnen einzelner Stränge zu einem widerstandfähigeren Strang wichtig sind. Das Festhalten ist ausschlaggebend für den gesamten Arbeitsprozess und das Agieren der anderen Hand, die auf Abbildung 25 leider nicht zu sehen ist, aber mit Hilfe eines Spitzgriffs die Rotation und somit die Verdrehung der Fäden motiviert und steuert. Mit diesen drei Grundformen des Greifens führt Marzke in den nächsten Aspekt ein, bei dem die Bedeutung des Werkzeugs und des Werkzeuggebrauchs im Zusammenhang mit der Entwicklung der Hand und weiterführend der Kultur im Mittelpunkt steht (Marzke & Marzke, 2000, S. 121). Setzt man noch einmal bei Sennett (2014) an, der das Greifen herausstellt als „willentliche Handlung, Ergebnis einer Entscheidung und keine unwillkürliche Bewegung“ (S. 203), kann hier hinzugefügt werden, dass im Bewegungsumfang des Greifens motorische Sequenzen geplant werden müssen. Diese Planung ist insbesondere wichtig, weil Korrekturen aufgrund der physischen und neuronalen Grundbedingungen des Menschen kaum möglich sind. „Unterhalb einer Achtelsekunde sind Rückkopplungskorrekturen weitgehend wirkungslos, weil die Nervenleitgeschwindigkeit zu gering ist und die Reaktionszeiten zu lang sind.“ (Weinmann, 2005, S. 56) Weinmann schließt daraus, dass die motorische Planung „eine Pionierfunktion bei der Weiterentwicklung einer allgemeinen mentalen Fähigkeit des Planens von längeren Sequenzen

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übernommen“ (S. 57) hat. So sei die motorische Planung der Handbewegung Ursprung der strukturierten Handlungen und Tätigkeiten des Menschen, also auch der textilen Aktivität, und findet sich in diesen sozusagen spiegelbildlich wieder. Bei allen drei Greifformen nach Marzke und in der Übertragung auf das textile Tun sind Koordination, Kooperation, Rhythmik, Wiederholung und der Krafteinsatz oder nach Sennett (2014) der „minimale Kraftaufwand“ (S. 222) von großer Bedeutung. Dahinter steck unter anderem, auch bei der textilen Aktivität, das Ziel, etwas reproduzieren zu können. Soll dieses Ziel erreicht werden, muss nach dem Wie des Entstehungsprozesses gefragt werden. Im Reflektieren und Zurückgehen liegt demnach ein ungemein großer Erkenntnisgewinn und die wichtige Verbindung zwischen Hand, Gehirn und Textilem: „Die Fingerspitze ist hier kein bloßes Werkzeug. Bei dieser Art der Berührung sucht man den Rückweg von der Sinneswahrnehmung zum Vorgehen, von der Wirkung zur Ursache.“ (S. 211) Im Reflektieren wird also geplant und strukturiert. Zugleich ist die Verbindung von Omnipräsenz und Exteriorisierung ersichtlich. Die Handtätigkeit an sich ist nah und an den Menschen allgegenwärtig gebunden. In der Planung allerdings, d.h. auch nur im Einsatz eines gesteuerten geringen Kraftaufwandes entsteht Exteriorisierung. Je weniger Kraftaufwand, desto weiter der Fortschritt hin zur Exteriorisierung. 3.1.2 Werkzeug, Technik und Evolution Mit den drei Grundformen des Greifens und der motorischen Planung von Handlungsschritten wird im Rahmen der Analyse der evolutiven Entwicklung der Hand ein Element angesprochen, das sowohl die Weiterentwicklung der Hand, die technische Entwicklung der Menschen als auch einen Fortschritt auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene stark beeinflusst: das Werkzeug. Dementsprechend steht dieses hier auch in der Mitte, also zwischen einer Verbindung von Hand und Kultur. Mehrere Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang nicht nur, wie eben dargelegt, zwischen Hand und Gehirn (in Bezug auf die biologische Evolution des Menschen), sondern zwischen Hand, Gehirn und Werkzeug. Leroi-Gourhan (1988, S. 177f) und Michaelis (2005, S. 213) verweisen beide auf die Ergebnisse der Analysen gefundener menschlicher Skelette und gewisser Werkzeuge, die zum einen Rückschlüsse auf das Hirnvolumen und zum anderen auf die handwerklichen Tätigkeiten unserer Vorfahren zulassen. So kann auf der Grundlage dieser Funde eine Vergrößerung des Hirnvolumens mit zunehmendem Werkzeuggebrauch abgelesen werden. Gleichzeitig verbessern sich im Zusammenhang mit der Vergrößerung des Hirnvolumens die hergestellten Werkzeuge. Dies lässt wie-

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derum die Vermutung zu, dass sich auch die Herstellungsverfahren, also die Technik, die dahintersteckt, und somit auch die Fingerfertigkeit und das Geschick des Menschen verbesserten (Michaelis, 2005, S. 213). Folgende Darstellung (Abbildung 26) macht die Wechselwirkung zwischen den Punkten Hand, Gehirn und Werkzeug auf grafischer Ebene deutlich: Abbildung 26: Zusammenhang zwischen Hand, Gehirn und Werkzeug

Zu den Konsequenzen für die Hand und für das Gehirn: Man verlässt sich mit Kopf und Hand auf die Werkzeuge. Das hat (zusätzlich) zweierlei Auswirkungen: einerseits werden bestimmte handwerkliche und gedankliche Tätigkeiten nicht mehr ausgeführt, weil das Werkzeug dies für einen erledigt – es ist also eine bestimmte Form von Degradierung vorhanden, die – andererseits – auch fruchtbar sein kann, weil durch die Entlastung Raum und Kraft für neue Prozesse geschaffen werden. Leroi-Gourhan (1988) verdeutlicht den Zusammenhang von Hirnvolumen und Werkzeugentwicklung, indem er das Wachstum des Hirnvolumens vergleicht mit Veränderungen in der Länge von Schneiden17 und der Anzahl der gefundenen Werkzeugtypen.

17 Die Länge der Schneide gibt Aufschluss über den Herstellungsprozess und die dazu benötigten Fertigkeiten. Generell kann man sagen, je länger die Schneide ist, desto besser und ausgereifter ist die handwerkliche Fähigkeit und der Herstellungsprozess. Ein enormes manuelles Wissen, aber auch kulturelles Wissen muss erworben worden sein,

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Bis zu einem gewissen Zeitpunkt steigt die Entwicklung der drei genannten Bereiche nahezu exponentiell parallel an. Vor ca. 100.000 Jahren erreichte das Hirnvolumen dann den Stand des Hirnvolumens eines heute lebenden Menschen (Michaelis, 2005, S. 213). Dieser Zeitpunkt ist besonders interessant in Bezug auf die Weiterentwicklung der Werkzeuge, denn diese steigt ab diesem Zeitpunkt kontinuierlich linear an. Leroi-Gourhan (1988) zieht diesbezüglich folgendes Fazit: „Die Technik ist beim homo sapiens nicht mehr an den Zellfortschritt gebunden, sie scheint sich vielmehr vollständig davon zu lösen und in gewisser Weise ihr eigenes Leben zu führen.“ (S. 179) Deswegen führt er auch in diesem Kontext den Begriff der technischen Evolution ein und markiert somit auch sprachlich eine Trennung zur biologischen Evolution des Menschen. Dieser Punkt könnte als Geburtsstunde des hier herausgearbeiteten Spannungsfeldes bzw. des Auseinanderscherens der Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung (vgl. Kapitel 1) gelten, da sich die technischen Fähigkeiten des Menschen von seiner biologisch evolutiven Entwicklung trennen – das Feld des Fortschritts, der Entwicklung steht nicht mehr in Korrespondenz zum Feld des Körperlichen, Nahen, Omnipräsenten. Eine technische und kulturelle Exteriorisierung, Auslagerung setzt ein und die Entwicklung entfernt sich vom Menschen. Eine technische Evolution sei erst ab der Steinindustrie wirklich gut archäologisch nachvollziehbar. Aus diesem Zeitraum, dem Paläolithikum, sind genügend Artefakte gefunden worden und erhalten geblieben, sodass der Schluss naheliegt, eine technische Evolution setze mit der Steinindustrie an. Das in Kapitel 1 besprochene Problem des textilen Materials (weich, flexibel, organisch, fragil) wird im Vergleich zum Stein als Werkzeug wieder präsent. Die Fokussierung auf Steine und Steinwerkzeuge macht dementsprechend die Untersuchung des Textilen schwer, zumal kaum textile Artefakte gefunden wurden, geschweige denn erhalten geblieben sind. Gerade wegen der schwierigen Quellenlage textiler Artefakte, wegen des Textilen als natürliches, sich zersetzendes Material ist es möglich, für das Textile und seine Rolle in der Entwicklung des Menschen Hypothesen zu bilden. Es ist vorstellbar, dass das Textile schon vor der Steinbearbeitung existierte und somit Technik- und Kulturbildung maßgeblich mit beeinflusste, denn für den Umgang mit natürlichen Materialien Bedarf es, wie in der Tätigkeit auf Abbildung 24 erkennbar, keinerlei externer Werkzeuge. Die Hand und der Körper sind die Mittel zur Bearbeitung (vgl. Kapitel 2.1, Elisabeth Barber (1994) und die String Revolution).

um beispielsweise einen Stein so zu bearbeiten, dass er eine lange und möglichst schmale Schneide bildet (Leroi-Gourhan, 1988, S. 177).

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Die Nähe zum Menschen, die reine körperliche Aktivität, die im textilen Tun ohne Einsatz von Werkzeugen vorhanden ist, lässt folgende weitere Hypothese entstehen bzw. verfestigt schon zuvor angestellte Gedankengänge: Die textile Aktivität ist aufgrund ihrer Omnipräsenz, Körperlichkeit, Beziehung zu den Sinneswahrnehmungen und ihrer engen Verbindung zur Hand, denn diese ist die ausführende Kraft bei textilen Aktivitäten, nicht nur eng verknüpft mit einer technischen Evolution, sondern in erster Linie eng verknüpft mit der biologischen Evolution des Menschen. Das Textile steht also, da es ohne Werkzeuge und nur in der Verbindung bzw. Korrespondenz zwischen Mensch und Umwelt bzw. Macher und Material entstehen kann, vor allem technisch Harten. Die Wurzeln des Textilen, auch als technische und kulturelle Aktivität gedacht, liegen im Feld der Omnipräsenz. Diese Schlussfolgerung lässt der Omnipräsenz des Textilen ein Mehr an Bedeutung zukommen. Inwiefern diese Bedeutung genutzt werden kann, wird in Kapitel 5 diskutiert. Aber auch von der Nutzung und Handhabung der Steine und der daraus hergestellten Werkzeuge kann auf Textiles im Leben unserer Vorfahren geschlossen werden. In Leroi-Gourhans (1988) Schlussfolgerungen taucht das Textile oder auch die Textilherstellung immer wieder als Beispiel auf. So verweist er auf das Bauen von Zelten, das Anfertigen von Kleidung aus Fellen und Tierhäuten, auf das Herstellen von „Körperschmuck aus Ketten und Netzen“ (S. 137) oder auf das Weben und Flechten von Körben (S. 172). Es wird deutlich, dass die textile Entwicklung, obwohl kaum Artefakte zum Nachvollzug vorhanden sind, eng verbunden ist mit der technischen Evolution und so auch mit den harten Werkzeugen, wie Steine und Knochen. Das textile Spannungsfeld (Abbildung 3) fügt sich in diesem Kontext zusammen, sodass sich folgende These formulieren lässt: Das Weiche, Flexible (das Textile) benötigt das Harte (das Werkzeug) im Zuge einer technischen Weiterentwicklung, eines technischen Fortschritts. Im selben Zusammenhang ergibt sich aus dieser These wieder ein Rückschluss auf die marginalisierte Stellung des Textilen, die mit nachstehender Frage zum Ausdruck kommt: Rückt das weiche, flexible Textile aufgrund einer Bearbeitung mit dem als hart charakterisierten Werkzeug in den Hintergrund, da in vielen Fällen der Fokus nicht auf dem Textilen, sondern auf der Weiterentwicklung des Werkzeugs liegt (Exteriorisierung)? So kann, argumentiert mit Sennetts (2014) und Klix’ (2005) Überlegungen zum Handwerk im Allgemeinen und zum Werkzeug im Besonderen, das Handwerk und das handwerkliche Tun mit der Benutzung von Werkzeugen Fortschritt anregen und fördern. Das Werkzeug nimmt im Handwerk eine besondere Rolle ein, denn es verstärkt den Wirkungsgrad der Hand. Mit den ersten Werkzeugen „ließen

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sich Ziele erreichen, die mit bloßer Hand nicht oder nur viel schwerer hätten verwirklicht werden können.“ (Klix, 2005, S. 234) Folgt man dieser Feststellung ist im Werkzeug ein Grundelement von Kreativität, die Zielorientierung, vorhanden (vgl. Kapitel 2.3). Hier setzt auch Sennett (2014) an, für den das handwerkliche Tun und das Werkzeug bzw. die Beschäftigung mit dem Werkzeug an sich Lernen anregt. „Wie in allen handwerklichen Tätigkeiten entwickelte sich das Verständnis für das eigene Tun erst im Gefolge dieses Tuns.“ (S. 266) Arbeitet man handwerklich, befindet man sich also in einem ständigen Reflexionskreislauf angeregt durch das Tun als Versuchen und das Produkt als Spiegel der Verbesserung und des Irrtums. Selbst in der Verbindung Hand und Gehirn ist dieser Reflexionskreislauf bei der Benutzung der Hand ständig vorhanden, auch hier gekennzeichnet durch Versuch und Irrtum oder durch Planung und Kontrolle bzw. „Feedback- und Feedforward-Systeme zur Planung und Kontrolle ungeheuer rascher Bewegungsabläufe der Hand- und Fingermotorik.“ (Michaelis, 2005, S. 214) Für Sennett (2014) nimmt das Werkzeug eine Sonderstellung in Bezug auf den Anregungsgehalt für Lernprozesse ein. Mit seiner Erklärung dazu lässt sich auch Leroi-Gourhans (1988) Betonung der technischen Evolution im Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen untermauern. So stellen Werkzeuge auf mehreren Ebenen eine Herausforderung für den Menschen dar: • Herausforderung im Erfinden und Herstellen eines neuen Werkzeugs, • im Reparieren des Werkzeugs, • in der Handhabung (kennenlernen/erlernen der richtigen Handhabung, Flexibi-

lität in der Handhabung bei Werkzeugen, die nicht nur einem Zweck dienen) (Sennett, 2014, S. 259f) Bevor weiter auf die Besonderheiten des Werkzeugs im Allgemeinen eingegangen wird, soll vorerst ein Phänomen diskutiert werden, das eben in der Besprechung des Spannungsfelds (Anhang A) angeklungen ist. Um eine textile Fläche herzustellen, benötigt man bis zu vier Dinge: • • • •

Material (formbar, flexibel, weich) Technik (Systematik, Vorgehensweise, Muster, Struktur) (in der Regel) die Hand gegebenenfalls ein (spezifiziertes) Werkzeug

Im Textilen, d.h. in der textilen Aktivität und Materialität scheint gerade, wenn ein nicht körpereigenes Werkzeug hinzugezogen wird, eine Polarisierung a priori

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vorhanden zu sein. Das formbare, flexible und weiche, aber auch fragile und sich zersetzende Material steht im Bereich der Omnipräsenz. Selbst wenn es in HighTech-Form auftritt – hier sei nur am Rande auf Spezialfasern wie die Gore-TexMembran oder Aramid, aus dem schusssichere Westen hergestellt werden, verwiesen (Quinn, 2010, S. 44f) – ist das textile Material als Kleidung und Accessoire dem Menschen am nächsten. Die haptische Wahrnehmung der Kleidung ist, da seit der Geburt vorhanden, zur Normalität geworden, selbstverständlich und unsichtbar. Sobald eine Technik durch ein Werkzeug sich vom Körperlichen wegbewegt, werden weitreichende Entwicklungen angestoßen sowohl in der Bearbeitung als auch in der Weiterentwicklung der dafür benötigten Werkzeuge. So liegt eine Polarisierung im Textilen selbst. Und diese Polarisierung löst Spannung aus. Fasst man die Spannung, die zwischen den Polen existiert, positiv auf, ist sie der Motor für Fortschritt und aufgeladen mit kreativem Potential. Potential für kreative Prozesse spricht Sennett (2014) aber auch dem Werkzeug an sich zu. Inwiefern Werkzeug für Kreativität eine Rolle spielt wird weiter in Kapitel 3.3.2 erläutert. Mit Wilsons (2001) folgender Aussage kann für dieses Kapitel abschließend noch einmal der Bogen zur Hand geschlagen werden. Gleichzeitig öffnet Wilson aber das Feld für die zahlreichen Errungenschaften, die aus der Verbindung Hand, Gehirn, Werkzeug entstanden sind, „denn heute gibt es nur wenig, was diese Hand nicht tun kann – sie stellt Werkzeuge her, die Maschinen herstellen, die Computer herstellen, die Maschinen und Werkzeuge herstellen (und so fort).“ (2001, S. 41) 3.1.3 Kultur, Sprache und Evolution „Drei große Errungenschaften belegen die Veränderungen, die auf geistiger Ebene bei unseren Vorfahren vor sich gegangen sein müssen: die Werkzeuge, die Gestaltung von Zeichen und Symbolen und als Folge dieser beiden – die vollausgebildete menschliche Sprache mit ihren grammatischen Formbildungen.“ (Klix, 2005, S. 239)

Alle drei Elemente, die Klix (2005) aufzählt, sind Zeichen einer bestehenden Kultur. Inwiefern finden sich jetzt aber in den evolutiv bedingten Veränderungen von Hand und Gehirn Grundlagen für eine Kultur und ein soziales Zusammenleben? Die Frage, ob die im Zusammenhang stehenden evolutiv bedingten Veränderungen überhaupt eine Grundlage für (menschliche) Beziehungsgeflechte bilden, soll folgend beantwortet werden. Beide dieser Fragen sind aus zwei Perspektiven im Rahmen dieser Arbeit wichtig. Die Rückschau auf einen vermuteten Zusammenhang Hand, Gehirn,

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Technik und Kultur ist interessant, da sich in ihr Erklärungsansätze für den niedrigen Stellenwert der Hand in der Gesellschaft finden. Dies muss kurz erläutert werden, weil dieser Stellenwert paradox erscheint vor dem Hintergrund des angenommenen Zusammenhangs. Auch im Zuge des Textilen als handliche, manuelle und sinnliche Aktivität ist diese Betrachtung von Bedeutung, da der Stellenwert der Hand und des Textilen ähnlich niedrig diskutiert wird. Die andere Perspektive ist eher nach vorne, in die Zukunft gewandt. Wenn die Bedeutung der Hand im Rahmen kultureller und Menschen verbindender Prozesse geklärt ist, können daraus gegebenenfalls Thesen abgeleitet werden, die eine Idee davon vermitteln, inwiefern Handarbeit auch heute und in Zukunft förderlich für den Menschen ist. Bis jetzt wurde lediglich das Beziehungsgeflecht Hand, Gehirn, Werkzeug, Technik unter einer evolutiven Perspektive betrachtet. Nur am Rande finden sich Verweise auf eine Beziehung zur Entwicklung von Kultur. Das Beziehungsgeflecht wird in diesem Kapitel also um den Punkt Kultur erweitert. Somit wird auch die kulturelle Entwicklung in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der Hand, des Handwerks und der textilen Handarbeit gesehen. Dieser Zusammenhang wird an mehreren Aspekten, wie der Fähigkeit zur Kohärenzbildung, Symbolisierung und Abstraktion, die sich vor allem im menschlichen Zusammenleben und in der Sprache zeigt, deutlich. Wilson (2001) geht davon aus, dass sich „die Sprache und der Einsatz der Hände zur Herstellung und zum Gebrauch von Werkzeug parallel entwickelt haben“ (S. 44). Kultur ist hier ein Ergebnis beider Entwicklungsstränge, die sich gegenseitig bedingen. Leroi-Gourhan (1988, S. 172f) vertritt eine ähnliche Sichtweise. Er beschreibt den Einsatz von Techniken, Handwerk, den Umgang mit Werkzeug immer als eine Tätigkeit, einen Sachverhalt, die bzw. der nicht alleine, sondern in einer Gruppe stattfindet. So setzt er Technik, Handwerk, den Einsatz der Hand im Umgang mit Werkzeug gleich mit Kultur. Umso erstaunlicher ist es, dass die Stellung des Handwerks in den ersten Zivilisationen niedrig angesiedelt war, obwohl die handwerklichen Tätigkeiten allgegenwärtig in diesen Gruppen erschienen oder die Personen hinter den Tätigkeiten, die Handwerker, das Fundament für eine Zivilisation bildeten. „Seine Funktion [die des Handwerkers] nimmt unter den fundamentalen Funktionen eine Stelle ein, die noch mit der geringsten Ehre verbunden ist. Durch die ganze Geschichte hindurch und in allen Völkern steht er [...] im Hintergrund.“ (S. 221) Der Handwerker steht also genau genommen in der Hierarchie unter den Personen, die allein durch das Denken und die Sprache in einer Gesellschaft agieren. Mit einem aktuellen Beispiel verdeutlicht Leroi-Gourhan die niedrige Stellung des Handwerkers: Eine Person beispielsweise, die eine Rakete besteigt (für ihn ist es ein Soldat) erfährt mehr soziale Anerkennung und Prestige, als die Person, die die Rakete, das

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Fundament, konstruiert (hier der Ingenieur). In der Rückschau, die Leroi-Gourhan (1988) vornimmt, wird also eine fehlende Wertschätzung dem Handwerker gegenüber seit dem Bilden einer Gesellschaft/Kultur deutlich. Sennett (2014, S. 37f) konkretisiert den Einsatz der fehlenden Wertschätzung zeitlich und inhaltlich auf die Antike, in der nicht mehr nur ein praktisches Tun im Mittelpunkt des Zusammenlebens stand, sondern geistige Tätigkeiten mehr und mehr an Bedeutung gewannen. Mit diesem Umschwung verliert das Handwerk an Achtung. Trotz dieser negativen Tendenz ist es lohnenswert, den Handwerker bzw. das Handwerk, welches ein Fundament für eine Zivilisation bildet, kurz zu fokussieren. Die Aussage, das Handwerk bilde ein Fundament für eine Zivilisation, ist zwar richtig, aber noch unvollständig, denn auch an dieser Stelle zeigt sich eine parallele Entwicklung des Menschen hin zu einem mit anderen Menschen zusammenlebenden Individuum. So entstanden durch das Leben in einer Gruppe bestimmte Bedingungen, Nahrungs- und Fortpflanzungssicherheit, die den Menschen in dieser Gruppe wiederum Freiheiten z.B. in Form von Zeit und Sesshaftigkeit gewährten. Die Freiheiten wurden genutzt, um die technischen Tätigkeiten und Fähigkeiten weiterzuentwickeln, mit denen im Umkehrschluss Sicherheit für die Gruppe geschaffen wurde. Es ist also sowohl die Technik als auch die Gruppe, die einmal die technische Entwicklung und zum anderen das Zusammenleben in einer Gruppe fördert (Leroi-Gourhan, 1988, S. 218-220). Folgt man dieser Wechselwirkung, liegt es nahe, dass die Hand in einem Zusammenhang mit der Entstehung von symbolischem Denken gesehen wird (Wilson, 2001, S. 14). Dieser Zusammenhang kann von einer grundlegenderen Ebene erklärt und somit bestätigt werden. In einer Handbewegung oder einer Handlung werden verschiedene Sequenzen, Teilschritte miteinander verknüpft, Reihenfolgen entstehen, Kohärenz wird gebildet und ein Voraussehen, ein Planen, ein Konstruieren wird erst dadurch möglich. Das, was in der Handbewegung oder Handlung seinen Ursprung findet, setzt sich als Prinzip bzw. Strategie in der Sprache fort. Auch hier werden aus Morphemen lautliche Einheiten, aus diesen werden Wörter, Wörter werden zu Phrasen und aus Phrasen werden Sätze gebildet (Weinmann, 2005, S. 55). Auch bei der Herstellung einer textilen Fläche wird wie im Sprachlichen bei der kleinsten Einheit, der Faser, begonnen. Diese kleinste Einheit des Textilen könnte im Rahmen einer Wortneuschöpfung und in Anlehnung an das Morphem auch als Texem bezeichnet werden. Aus mehreren Texemen bildet sich in verschiedenen Verarbeitungsschritten die textile Fläche, für die es als solche unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten gibt, die in ihrer oder durch ihre jeweilige Funktion symbolisch aufgeladen wird. Sprache setzt sich also im Grunde wie Textiles zusammen und es ist nicht verwunderlich, dass so viele Wörter in ihrer Bedeutung ihren Ursprung in der textilen Aktivität haben.

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Die Bildung der Sprache ist also nichts anderes als ein abstrakter Konstruktionsprozess, welcher sich so auch in der Konstruktion von textilen Flächen und Werkzeugen zeigt. Das Besondere an dem Schaffen einer textilen Fläche und an der Konstruktion von Werkzeugen ist weiterführend, dass diese, zumindest bei unseren Vorfahren, immer mit der Hand und einer haptischen Wahrnehmung in Verbindung stand. Aber auch die Sprache ist nicht frei von der Hand, was sich in der Handschrift und in Gesten als Bedeutungsträgern zwischenmenschlicher Kommunikation zeigt (Klix, 2005, S. 240). Das Werkzeug, so Leroi-Gourhan (1988), existiere „real nur in der Geste, in der es technisch wirksam wird.“ (S. 296) In diesem Rahmen erwähnt er weiterführend ein Gedächtnis, das die Voraussetzung für den Zusammenhang Hand und Werkzeug, aber auch Sprache und Zusammenleben (soziales Gedächtnis) sei. „Die operative Synergie von Werkzeug und Geste setzen die Existenz eines Gedächtnisses voraus, in dem das Verhaltensprogramm niedergelegt ist.“ (S. 296) Sprache setzt sich zusammen aus Symbolen und ist somit ein Zeichen für Kultur. Dass die Hand im Zusammenhang mit Sprache und Kultur steht, zeigt sich nicht nur in der Handschrift und den Gesten, sondern auch in der Sprache selbst, in der Bedeutung vieler Wörter und Redewendungen. So zählt Wägenbauer (2005) viele Beispiele auf, in denen die Hand eine Rolle spielt. Mit Bezug auf die Brüder Grimm und ihr Deutsches Wörterbuch macht er hinsichtlich der ‚HandWörter‘ allerdings deutlich, dass diese in zwei Kategorien aufgeteilt werden können, die sich voneinander durch den Grad der Abstraktion unterscheiden. Sichtbar wird dies z.B. im Wort ‚vorhanden‘, in dem zum einen eine sinnliche Ebene erschlossen werden kann (Kategorie eins). Etymologisch ist das Adverbial ‚vorhanden‘ zurückzuführen auf Etwas, dass man tatsächlich vor den Händen hat, also berühren, anfassen und sinnlich wahrnehmen kann. In der üblichen adverbialen Form allerdings ist das Wort zum anderen unsinnlich und abstrakt (Kategorie zwei). Es ist ein Zeichen dafür, dass etwas da ist, auch wenn es weder gesehen noch erfühlt wird. Trotzdem nimmt der Mensch aufgrund der vereinbarten Wortbedeutung dieses Etwas als wahr auf (Wägenbauer, 2005, S. 294-297). Ähnlich verhält es sich mit vielen aus dem Textilen entlehnten Wörtern, die auch aufgrund der von Wägenbauer erläuterten Kategorisierung immer wieder der Hand oder bestimmten Handlungen zuzuordnen sind. Das Verb ‚verknüpfen‘ ist auf der einen Seite ein Beispiel für die tatsächlich mit den Händen ausführbare und gleichzeitig sinnlich wahrnehmbare Tätigkeit des Knoten Machens. Auf der anderen Seite ist ‚verknüpfen‘ ein abstrakter Ausdruck dafür, zwei gedankliche Gegenstandsbereiche in Verbindung zu bringen. Wägenbauer betont darüber hinaus, dass die Hand in der Sprache trotz des deutlichen Zusammenhangs – wie der Handwerker/das Handwerk in der Gesellschaft – kaum beachtet werde. Auch für diesen Aspekt

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ergibt sich also die Einordnung in das hier dargelegte Spannungsfeld. Die sinnliche Bedeutung solcher Wörter wird zum einen kaum erkannt, ist aber gleichzeitig in den menschlichen Handlungen omnipräsent. Zum anderen werden die Wortbedeutungen immer weiter exteriorisiert und abstrahiert, gleichzeitig folglich unsinnlich und fern für den Menschen. Im Zuge einer Technisierung und Kulturalisierung sind also viele Aspekte angesprochen worden, die die Hand in eine missachtete Stellung schieben. Wird die Hand befreit aus ihrer niedrigen Stellung und die in der menschlichen Entwicklungsgeschichte herausgestellte Bedeutung zwischen Hand, Gehirn, Werkzeug und Kultur gewürdigt und anerkannt, ergeben sich daraus auch Potentiale für die Zukunft. Wilson (2001) stellt dazu prägnant eine These auf, mit der dieses Teilkapitel abgeschlossen wird: „Wenn sich die Sprache und der Einsatz der Hände zur Herstellung und zum Gebrauch von Werkzeugen parallel entwickelt haben – wobei die Hominiden mit neuen Hirnfunktionen und geistigen Möglichkeiten ausgestattet wurden, die wir kollektiv als ‚menschliche Kognition‘ bezeichnen –, dann müßten wir entsprechende Verbindungen (oder Verstärkungseffekte) zwischen gezieltem Handeinsatz, Sprache und Kognition in der individuellen Lebensgeschichte heutiger Menschen entdecken. Bedenken Sie, was das heißt. Der ‚intelligente‘ Gebrauch der Hand wäre dann nicht bloß ein zufälliges Überbleibsel unseres Hominidenerbes, sondern – gemeinsam mit dem Sprachtrieb – eine elementare Kraft, die die Entstehung dessen, was wir ‚Verstand‘ nennen, vorantreibt und mit unserer Geburt aktiviert wird.“ (S. 44)

Das Textile kann sich in diese Überlegungen einreihen. Als ein strukturbildendes Element, das mit der Hand und Werkzeugen hergestellt wird, ist es der Inbegriff für einen intelligenten Gebrauch der Hand (Gross, 2013), steht quasi auf einer Stufe mit der Sprache und fördert im gleichen Maße kognitive Fähigkeiten.

3.2 HAND ANLEGEN – DER ZUSAMMENHANG VON HAND UND GEHIRN Die evolutiv bedingten Veränderungen der Hand und die daraus entstandenen erweiterten Möglichkeiten der Handnutzung stehen im Zusammenhang mit dem Wachstum des Hirnvolumens. Die gegenseitige Beeinflussung von Hand und Gehirn macht den Menschen zu einem Individuum mit reflektierter Intelligenz (Leroi-Gourhan, 1988, S. 140). Der Mensch erwirbt die Fähigkeit, Reihenfolgen

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zu bilden, Handlungsschritte zu planen, Verbindungen zu knüpfen, Vorauszusehen, Kohärenz zu schaffen, zu abstrahieren und zu symbolisieren. Diese Fähigkeiten schaffen für ihn die Grundlage einer handwerklichen, technischen und textilen sowie zwischenmenschlichen und kulturellen Weiterentwicklung, die sich wechselseitig bedingt und sich gegenseitig als Nährboden dient. Aus der evolutiven Perspektive heraus ergeben sich weitere Besonderheiten für den Zusammenhang Hand und Gehirn, die auch heute noch für jeden Menschen gerade im Zuge seiner individuellen Entwicklung und gewisser Lernprozesse von Bedeutung sind. In einem ersten Schritt wird also die Verbindung zwischen Hand und Gehirn betrachtet. Da dem Gehirn keine ‚realen‘ Abbilder der Wirklichkeit, „der physikalischen Ereignisse“ (Weinmann, 2005, S. 32) vorliegen, sondern nur selektierte und vorverarbeitete Informationen, ist es in diesem Kontext auch interessant zu bearbeiten, wie bzw. inwiefern die Hand im Gehirn repräsentiert wird. Manfred Spitzer (2015, S. 225) stellt prägnant heraus, dass die Hand sowohl Sinnesorgan als auch Werkzeug ist. Beides sind Aspekte der Hand, die schon in Kapitel 3.1 eine Erwähnung fanden, an dieser Stelle allerdings mit dem Fokus auf individuelle Entwicklungsaspekte und Lernen in zwei Unterkapiteln näher erläutert werden. Dass Wahrnehmung und Lernen auf der Grundlage aller Sinne und vor allem der Kombination verschiedener Sinneswahrnehmungen geschieht, wird diesem Kapitel vorweggenommen und ausgeklammert zu Gunsten der Konzentration auf die Hand18. 3.2.1 Ein „direkter Draht zum Großhirn“ Anders als beispielsweise bei der Beinmuskulatur besteht zwischen Großhirnrinde und Handmuskulatur ein direkter Austausch von Neuronen und Axonen. Die Verbindung zwischen Hand und Gehirn ist also auf biochemischer und biomechanischer Ebene um einiges ausgeprägter als bei anderen Gliedmaßen. Dieser „direkte

18 Wenn die Hand in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht, darf trotzdem nicht übersehen werden, dass z.B. die Kombination der Wahrnehmungen mit dem Auge und der Hand bedeutsam sein können bzw. sind. Ulbricht (2001) stellt hierzu beispielsweise heraus, dass „einerseits das Auge auf die Hand [wirkt], indem es Handlungsabläufe kontrolliert. [...] Andererseits wirkt die Hand auf das Auge: der nur angesehene Gegenstand besitzt anfangs keine Kontinuität.“ (S. 28) Diese Kontinuität stellt sich erst nach einer geübten Handhabung ein. Eigentlich existiere immer eine Vermischung der verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungskanäle und der daraus abstrahierten Informationen (vgl. Spitzer, 2015, S. 224).

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Draht“ (Weinmann, 2005, S. 48) bringt ferner oder gerade deswegen Besonderheiten für die Hand, aber auch für die Repräsentation der Hand im Gehirn mit, die auffällig sind und somit den engen Zusammenhang und die Bedeutung der Hand für das Gehirn und anders herum verdeutlichen und betonen. „Die Dominanz des direkten Einflusses des Cortex auf die Muskeln einzelner Finger und die Auflösung fixierter Koaktivierungsmuster größerer Gruppen von Muskeln ist die Basis der hohen Flexibilität der Hand und der relativ unabhängigen Bewegungen einzelner Finger.“ (S. 48) Nicht umsonst stellt Sennett (2014, S. 201) die Hand heraus als die beweglichste und bewusst lenkbare Instanz des Menschen. Schon allein auf der rein motorischen Ebene sind die Grundvoraussetzungen für die bewusste Kontrolle der Handbewegung vorhanden. Weitere Besonderheiten im Zusammenhang Hand und Gehirn ergeben sich, wenn aus neurologischer Perspektive die Großhirnrinde19 des Menschen betrachtet wird. Das sensorische Handareal ist in der Großhirnrinde deutlich überrepräsentiert. Eine ähnliche Überrepräsentation findet sich so nur noch im Gesicht, in den Lippen und in der Zunge wieder (Weinmann, 2005, S. 34f). Wieso erfährt gerade die Hand eine solche Überrepräsentation? Diese Frage findet ihre Antwort in der evolutionsgeschichtlichen Entwicklung des Menschen (vgl. Kapitel 3.1.1). Der aufrechte Gang bedingte die Möglichkeit, die Hand anders zu nutzen als zuvor. Die Hand veränderte sich dementsprechend strukturell. Vor allem die veränderte Stellung des Daumens zu den anderen Fingern machte neue, differenzierte und spezifizierte Greifbewegungen möglich. Neben den drei Greifformen von Marzke (vgl. Kapitel 3.1.1) wird der Spitzgriff bzw. der Drei-Punkte-Feingriff als die komplexeste Greifbewegung immer wieder in den Vordergrund gestellt. Der Spitzgriff ist von essentieller Bedeutung bei der Ausführung vieler textiler Techniken. Vom ‚simplen‘ Fadenfesthalten zwischen Daumen, Zeige- und Ringfinder bis zum Benutzen von Näh-, Häkeloder Stricknadel – der Spitzgriff ist beim textilen Handarbeiten allgegenwärtig. Ohne die Möglichkeit, etwas in der beschriebenen Form zu greifen, wären textile Handarbeiten in der bekannten Art und Weise im Umkehrschluss gar nicht möglich. So ist im Bild des sensorischen Homunculus (kleines Menschlein) auch erkennbar, dass im Verhältnis zur gesamten Hand und den einzelnen Fingern der Daumen extrem überrepräsentiert ist.

19 Das Großhirn ist im Zusammenhang mit der Hand von besonderer Bedeutung, denn es ist der Teil des Gehirns, „der eine Repräsentation – quasi eine (verzerrte) ‚Landkarte‘ – unserer sensiblen Köperflächen enthält.“ (Rüegg & Bertram, 2010, S. 4) Mit sensibler Körperfläche sind hier alle körperlichen Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung gemeint.

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Dass eine besondere Verbindung zwischen Hand und Gehirn besteht, wird ferner an der Anzahl der verschiedenen Rezeptoren deutlich, die sich im Handareal befinden und jeweils unterschiedliche Reize und somit Informationen an das Gehirn senden. Die Anzahl an sich ist auch heute noch schwer schätzbar und variiert stark in Abhängigkeit zur Untersuchungsmethodik, so Grundwald (2012, S. 100). Ferner betont er aber, dass „sicher ist, dass die räumliche Dichte, also die Anzahl der Rezeptoren pro Hautgebiet, unterschiedlich ist. Eine besonders hohe Rezeptordichte findet sich beim Menschen in Körpergebieten, die für die physische Umwelterkennung eine besondere Bedeutung haben. So sind die Hautgebiete der Innenhand, der Lippen und der Zunge mit einer auffällig hohen Anzahl tast- und berührungssensibler Rezeptoren ausgestattet.“ (Grundwald, 2012, S. 100)

Grundwald stellt die Hand also in Bezug auf ihre Rezeptordichte in eine Sonderposition hinsichtlich der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung des Menschen. Die Rezeptordichte kann darüber hinaus auch als Indiz für die Überrepräsentation der Hand in der Großhirnrinde angeführt werden. Textile Materialitäten werden in erster Linie mit der Hand wahrgenommen. Obwohl zum folgenden Aspekt bis jetzt keine bekannte empirische oder neurologische Forschung existiert, kann die These gebildet werden, dass das Textile aufgrund seiner Beschaffenheit (weich, warm, flauschig wie Kaschmir; rau und kratzig wie Wolle; glatt, kühl und leicht wie Seide) die Rezeptoren im besonderen Maße stimuliert. Sowohl das weiche und anschmiegsame als auch das raue und kratzige Textil kann anregende Empfindungen auslösen oder ein Wohlbefinden aufbauen. Diese These stützt sich auf die Beobachtungen Winnicotts (2015) von Kleinkindern und ihrem intensiven Umgang mit gewissen Dingen sowie seiner daraus erarbeiteten Theorie zum Übergangsobjekt (vgl. Kapitel 2.3.2, 3.2.2 und 3.2.3). Die von ihm beschriebenen Übergangsobjekte sind meistens aus textilem Material. Es sind textile Dinge. Auf die Funktion der Rezeptoren als „unabdingbare Voraussetzung für jede Form der Körperkommunikation und des direkten Werkzeuggebrauchs“ (Grundwald, 2012, S. 99) wird sich in Kapitel 3.2.2 noch einmal rückbezogen, wenn die Hand als das Organ der Wahrnehmung noch näher in den Mittelpunkt rückt. Aufgrund der hier dargelegten besonderen Verbindung zwischen Hand und Gehirn kann mit Bezug auf das eigentlich textile Spannungsfeld (Abbildung 3) auch eine Einordnung der Hand in das Konzept des Spannungsfeldes aus den Polen Omnipräsenz und Exteriorisierung vorgenommen werden. Die Hand ist im Gehirn omnipräsent und allgegenwärtig vertreten und wirkt in diesem Maße auf

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das Gehirn ein. Die Handbewegung oder auch die Handnutzung ist aber auch gekennzeichnet durch Sequenzierung, Planung und Systematisierung durch das Gehirn. Dies sind Aspekte, die eine Grundlage für Exteriorisierungsprozesse, Fortschritt und Auslagerung bilden (vgl. Kapitel 3.2.3). 3.2.2 Über die Hand und Textiles sich selbst und seine Umwelt wahrnehmen Die Hand und das Textile stehen im Zusammenhang mit der Umwelt und der Eigenwahrnehmung. Um diese beiden Aspekte zu verdeutlichen wählt Michaelis (2005, S. 220f) als Beispiel den Charakter Linus aus den Peanuts-Comics von Charles M. Schulz aus. Linus zeichnet sich zum einen aus durch seine Schmusedecke, die er ständig bei sich trägt, an sein Gesicht hält und dieses daran reibt. Zum anderen ist er das Paradebeispiel für einen typischen Daumenlutscher. Linus, sein Daumen und die Schmusedecke sind ein perfektes Beispiel, um die Bedeutung der Hand für den Menschen weiter auszuführen. Darüber hinaus findet sich mit der Schmusedecke ein textiler Gegenstand, mit dem der Zusammenhang Hand, Mensch, Textiles weiterführend erläutert und verdeutlicht werden kann. Den Daumen und die Schmusedecke als Übergangsobjekte begreifend wird mit Linus und dem Konglomerat Hand, Mensch, Textiles auch das Thema Kreativität berührt (vgl. Kapitel 2.3.2 und 3.3). In beiden Fällen, im Daumenlutschen und im Schmusen mit der Decke, verortet sich Linus mit seinem Körper im Allgemeinen und seiner Hand im Speziellen im Raum. An der Intensität und Heftigkeit, mit der Linus die zwei Handlungen ausführt, ist erkennbar, wie wichtig diese für ihn sind. Die Handlungen, der eigene Daumen und der nicht körpereigene Gegenstand (die Decke) stellen eine gewisse Sicherheit für ihn in der Konfrontation mit der Umwelt dar. So spielen im Fall ‚Linus‘ verschiedene Wahrnehmungsbereiche zusammen, die in der gegenseitigen Integration von Bedeutung sind: „Berührungssinn, Eigenwahrnehmung und Wahrnehmung der Eigenbewegung“ (Weinmann, 2005, S. 26). Der Zusammenschluss dieser drei Wahrnehmungsebenen ermöglicht es Linus auf der einen Seite, eine räumliche Vorstellung der ihn umgebenden Objekte, Subjekte, Gegenstände etc. aufzubauen. Auf der anderen Seite nimmt er sich selbst in Abgrenzung zu seiner Umgebung wahr. So wirken Daumen und Decke selbstvergewissernd, wobei der Daumen, da zum Körper gehörend, noch einmal gesondert betrachtet werden muss. Beim Daumenlutschen handelt es sich um eine intensive Form der Selbstberührung. Grundwald (2012) verweist diesbezüglich auf Wallbott (1979, 1982), der einen Zusammenhang zwischen „Erregungsniveau und der Selbstberührung“

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(Wallbott zit. in Grundwald, 2012, S. 118) vermutet: „danach würden Selbstberühungen bei geringer emotionaler und kognitiver Erregung eine Steigerung der Aktivität ermöglichen und gleichzeitig könnten sie bei einem zu hohen Erregungsniveu beruhigend wirken.“ (S. 118f) Wenn Lucy, Linus’ Schwester, sagt: „Du sollst nicht deinen Daumen lutschen!“ (Peanuts zit. in Michaelis, 2005, S. 221), verursacht sie bei Linus emotionalen Druck. Linus reguliert seine Emotion, z.B. Angst oder Stress, durch die Selbstberührung, das Daumenlutschen. Warum gerade der Daumen im Mund so beruhigend wirkt, kann beispielsweise mit der in Kapitel 3.2.1 angeführten hohen Rezeptordichte in gerade diesen Regionen erklärt werden. Die Reizwahrnehmung ist hier um einiges intensiver. Linus’ tatsächliches Alter ist unbekannt. Schätzungsweise ist er im Grundschulalter. Aufgrund seiner Affinität zu Daumen und Schmusedecke hänselt ihn seine Schwerster mit dem Spitznamen ‚Kleinkind‘. Ein Vergleich mit einem Kleinkind ist allerdings begründet, denn Tast- und Körpererfahrungen sind aus ontogenetischer Perspektive von großer Bedeutung für die Entwicklung eines Menschen. Diese Bedeutsamkeit ist wiederum ein Indiz für die enge Verbindung zwischen Hand und Gehirn. „Die erste Sensitivitätsreaktion eines Fötus auf externe Reize sei diejenige für Druckreize auf die Lippenhaut“ (Grundwald, 2012, S. 110). Zudem reagiert der Fötus ab der achten Schwangerschaftswoche auf diese taktile Wahrnehmung mit Eigenbewegung. Schon im Mutterleib wird also taktil und haptisch wahrgenommen und so gelernt, zwischen Fremdem und Eigenem zu unterscheiden. „Das Ungeborene entwickelt demnach lange, bevor die Reifung im Mutterleib durch die Geburt beendet wird, ein reichhaltiges und sehr komplexes Bewegungs- und haptisches Explorationsrepertoire, das es ihm ermöglicht explorativ-haptisch Informationen – auch über den eigenen Körper – zu erlangen (!) und zu verarbeiten.“ (S. 110f)

Das Ergebnis dieser frühen Tast- und Körpererfahrungen ist eine „basale neuronale Matrix im Gehirn des Neugeborenen, die ein zentraler Bezugspunkt für alle anderen, später ausreifenden sensorischen Systeme ist.“ (S. 111) Auch nach der Geburt ist taktile und haptische Wahrnehmung mit der Hand und auch mit dem Mund wichtig für den Entwicklungsprozess vom Säugling zum Kleinkind und so fort. „Durch die ständige Bewegung der Hände und Finger entwickelt sich die gezielte Motorik. Während die Finger anfangs nur im Verband wirken, differenziert sich in den ersten Monaten die Beweglichkeit einzelner Finger, im dritten Monat tritt der Daumen beim Greifen in

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Opposition. Allmählich erschließt sich dem Kind die ganze Bewegungsvielfalt, das Spreizen, das Zusammenballen, Bewegungen der einzelnen Fingerglieder sowie die Beweglichkeit der Hände zu- und miteinander. Ab dem 6. Monat beginnt das Kind vorsätzlich zu greifen, wobei der Gegenstand im Lauf der Zeit aus dem Inneren der Hand, mit dem er anfangs ergriffen wird, zu den Fingerspitzen, schließlich zwischen Zeigefinger und Daumen wandert. Allein das Erlernen dieses Ergreifens erstreckt sich über ein Jahr.“ (Ulbricht, 2001, S. 27)

Es ist also nicht verwunderlich, dass Manfred Spitzer (2015, S. 222) das Be-Greifen in einem Zusammenhang mit Denken und Lernen hervorhebt. Darüber hinaus fordert er, ein Lernen mit der Hand, insbesondere dem vollen Funktionsspielraum der Hand zwischen Motorik, haptischer und taktiler Wahrnehmung, zu fördern. Das Wischen mit den Fingern auf Tablets oder Smartphones reiche hier nicht aus bzw. komme dem Greifen als hoch komplexe Handlung nicht nach. Polemisch treibt Spitzer den Vergleich zwischen verschiedenen Greifformen – darunter auch das Halten einer Nadel – und dem Wischen auf einer Tabletoberfläche für Lernprozesse auf die Spitze: „Im Gegensatz dazu ist das Wischen über eine glatte und damit eigenschaftslose Oberfläche das Dümmste, was ein Kind tun kann [...]. Taktil vollkommen uninteressant, ohne jeglichen Zusammenhang des Tasteindrucks mit den Bildern auf dem Bildschirm und ohne jegliche andere begleitende interessante Erfahrung, verkommt das Wischen über Glas zu einem immer wieder gleichen Nicht-Erlebnis, aus dem das kleine Kind nicht sinnentnehmend lernen kann: Welche sinnvolle Verallgemeinerung sollte das Gehirn aus lauter Wisch-Erfahrungen lernen? Dass sich die ganze Welt gleich anfühlt und alles, egal wie es aussieht, gleich zu handhaben ist?“ (Spitzer, 2015, S. 225f)

Ein Wahrnehmen von sich selbst im Vergleich zur Umwelt wird bei solchen Tasterfahrungen komplett heruntergebrochen. Linus würde seine Decke nur noch als eindimensionales Objekt mit glatter Oberfläche (Glasoberfläche des Tablets) wahrnehmen, genauso wie alle anderen ihn umgebenden Dinge. Dahingegen ermöglicht das Textile, als Materialität und Aktivität, im Fühlen, Experimentieren, Be-Greifen oder im strukturierten Erlernen einer textilen Technik mannigfaltige und umfassende Greif-, Tast- und Körpererfahrungen. Linus’ tatsächliche Schmusedecke ist nämlich viel mehr als eine wischbare Simulation auf einem Tablet. Sie ist flexibel, faltbar, umhüllend und kann für ihn als bespielbares Objekt alles sein: Kommunikationspartner, der beste Freund, ein Superheldencape, eine Höhle, der wärmende und Sicherheit gebende Schutz etc. Die Schmusedecke ist das Übergangsobjekt (Winnicott, 2015), mit dem phantasiert und gespielt wird, mit dem

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Realitäten ausgetestet werden – für Winnicott sind dies Voraussetzungen für kreatives Handeln. Der Tastsinn bzw. die haptische Wahrnehmung20 ist also das Mittel oder Werkzeug zur Abgrenzung von der Umwelt und somit der Weg zur Selbsterkenntnis (Grundwald, 2012, S. 95). Mit Leroi-Gourhans (1988, S. 140) Worten befindet der Mensch sich hier im Bereich der reflektierten Intelligenz. Der Tastsinn ist Vermittler zwischen Innen und Außen. Er bzw. das gesamte Tastsinnessystem, „das größte und komplexeste Wahrnehmungssystem des Menschen“ (Grundwald, 2012, S. 106), ist noch mehr, nämlich „Akteur und Verwalter jeder Handlung und jedes Kontaktes zu uns selbst und zur äußeren Umwelt.“ (S. 97) Weinmann (2005) drückt diesen Sachverhalt noch etwas anders aus und baut aus den Überlegungen zur Wahrnehmung durch den Tastsinn einen Bezug zu einer zielgerichteten Handlung auf: „Das Wissen um die augenblickliche Position der Gliedmaßen und die Wahrnehmung der eigenen Bewegungen [...], sind notwendige Bedingungen für alle Formen zielgerichteter Handlungen.“ (S. 26) Mit der Hand, dem Daumen und der Decke übt Linus all diese Handlungen ein, setzt sich Ziele und kann austesten, inwieweit er sie erreicht. Im Kontext der Selbstwahrnehmung muss ein textiles Element hervorgehoben werden, denn es nimmt im Verhältnis von Körper und Umwelt zueinander eine besondere Position ein – die Kleidung und die sich aus ihr entwickelnde Mode21. Auch Linus’ Decke ist z.T. zugehörig zu diesem Bereich, denn auch sie kann im Spiel zu Mantel und Rock werden. In Matrin Margielas Duvet-Coat, einem Mantel aus einer weißen Daunenbettdecke, zeigt sich dieselbe Transformation nur im

20 Beim Tastsinnessystem wird zwischen zwei Formen der Wahrnehmung unterschieden – der taktilen und der haptischen Wahrnehmung. Das Individuum nimmt taktil wahr, wenn es sich einem Reiz passiv gegenüber verhält, z.B. wenn ein Gegenstand den eigenen Körper zufällig berührt. Haptisch wird wahrgenommen, wenn aktiv gehandelt wird. Dementsprechend ist die haptische Wahrnehmung in der Informationsverarbeitung um einiges komplexer. Viele verschiedene Informationen müssen während einer haptischen Wahrnehmung integriert werden: körpereigene Informationen im Zusammenschluss mit der Eigenaktivität, Lage- und Stellungsinformationen des Körpers, Informationen aus den verschiedenen Organen, Informationen aus dem direkten physischen Kontakt mit Objekten und Subjekten (Grundwald, 2012, S. 106f). 21 Der Begriff Mode soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter definiert werden. Um den Begriff zu verorten, wird sich auf Gertrud Lehnert (2013) bezogen, für die Mode aus einem „Zusammenspiel von Körper und Kleid“ (S. 7) entsteht, dynamisch ist und sich in Alltagspraktiken und Bedeutungszuschreibungen realisiert.

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Kontext des Modedesigns (Tietze, 2012) und nicht in der spielerischen Auseinandersetzung eines Kindes mit seiner Umwelt. Die Strategien für das ungewöhnliche, aber dadurch gerade kreative Design liegen indessen in der Leichtigkeit und Unbeschwertheit des kindlichen Spiels. Das Themenfeld Mode wird hier zum Teil auch angeschnitten, weil es, so Lehnert (2012), ein Ergebnis des Zusammenspiels von Körper und Kleidung ist und sich dann im Umkehrschluss wieder auf den Körper auswirkt: „Mode entsteht und lebt in einem Prozeß des unauflöslichen wechselseitigen Verhältnisses von Raum/ Räumen, Kleidern und Menschen.“ (S. 8) Das Textile berührt den Menschen sofort nach seiner Geburt. Gesäubert durch und eingewickelt in ein Tuch ist das Textile nach dem Körper der Mutter und/oder des Vaters eines der ersten materiellen Objekte der Umwelt, die das Neugeborene sensorisch wahrnimmt. So kann spekuliert werden, ob das Textile als die den Menschen omnipräsent umgebende Hülle zum Aufbau sensorischer Systeme im Gehirn beiträgt. „Körper und Kleid [werden] zu integralen Elementen der Wahrnehmung und Gestaltung von Raum.“ (Lehnert, 2012, S. 7) Zwischen Mensch/Körper und Textilem/Kleidung entsteht eine besondere Verbindung, Verschmelzung bzw. Nähe, die die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Körper und Umgebung verwischen lässt. Lehnert (2013) formuliert auf der Grundlage dieses Phänomens die These, es gäbe eigentlich keinen menschlichen Körper mehr, der nicht in Verbindung mit Kleidung und Mode stehe und sich durch die Verbindung selbst konstituiere. Dementsprechend führt sie den Begriff „Modekörper“ ein: „Zum einen bringt Mode spezifische Körpertechniken hervor, bzw. kann sie selbst als Körpertechnik bezeichnet werden. Zum andere schafft Mode, so meine These, grundsätzlich eigenständige Körper, die den anatomischen Körper gleichsam substituieren bzw. im Zusammenspiel mit ihm ein eigenständiges Drittes, den Modekörper, hervorbringen.“ (Lehnert, 2013, S. 10)

Mit einem Verweis auf Trosse (1994) betont sie, inwiefern die haptische Wahrnehmung des Textilen, der Stoffe an sich geprägt werde oder auch, inwiefern gerade Kleiderschnitte auf motorischer Ebene Bewegungen und Handlungen beeinflussen. „Jedes Material hat seine eigene haptische Qualität, die mehr als die visuelle auf das individuelle Selbstgefühl wirkt. Darüber hinaus sind es die Formen der Kleidung, die Körper zu bestimmten Bewegungen nötigen, andere verbieten, die befreien oder einengen, schützen oder exponieren.“ (Lehnert, 2013, S. 52) Schmelzer-Ziringer (2015) zeigt eine Darstellung (Abbildung 27), mit der sie Lehnerts Konzept des Modekörpers visualisiert. Hier wird zudem deutlich, dass ge-

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rade die taktile Wahrnehmung, die sowieso schon indirekt ist, in den meisten Fällen noch über die textile Hülle, die Kleidung läuft. Ein nicht körpereigenes Objekt berührt grundsätzlich nicht direkt den Körper bzw. die Haut, sondern zuerst das Textile, die Kleidung und über diese als Zwischenschicht den Köper. Die gängige Bezeichnung „zweite Haut“ für Kleidung ist folglich nachvollziehbar (Lehnert, 2013, S. 8). Reizwahrnehmung ist also gekoppelt mit der textilen Hülle, wird zum Teil abgeschwächt oder verstärkt je nach Beschaffenheit der textilen Materialität oder auch je nachdem wie viele Schichten Textil übereinander getragen werden. Abbildung 27: Verschmelzung von Körper und Textil

Das Textile, hier in Form von Kleidung und Mode, nimmt in Bezug auf die Selbstwahrnehmung eine Zwitterposition ein – es ist sowohl Umwelt als auch Körper. In der Hand liegt eine ähnliche Doppeldeutigkeit. Die Hand ist wie das Textile am Körper das wahrnehmende Organ zur Selbstvergewisserung. Zugleich ist die Hand ein handelndes, schaffendes Organ, ein Werkzeug, welches technische und gesellschaftliche Veränderungen bedingt. In ihr liegt, mit Verweis auf MerleauPonty (1966), eine doppelte Empfindung. Auch hier ähnelt sie in ihrem Wirkungs-

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grad der Kleidung, dem Textilen, mit dem sich in Kommunikationsprozessen kulturelle Zeichen und Bedeutungszuschreibungen bilden, die das Leben innerhalb einer Gruppe beeinflussen, regeln und prägen. Beide genannten Aspekte – Zugehörigkeit zum Körper und externes Element der Umwelt – sind in einem symbiotischen Konstrukt in der textilen Aktivität, im Handarbeiten bzw. im Selbermachen erkennbar und nachvollziehbar. Ein einfaches Beispiel verdeutlicht dies. Eine Person strickt einen Schal. Im Entstehungsprozess setzt sich diese Person über die tätige Hand mit sich selbst und der sie umgebenden Umwelt, auch in Form des Strickgarns, auseinander. Die strickende Person bekommt überdies im Prozess des Strickens, der Verarbeitung ihrer unmittelbaren Umwelt die Fortschritte ihres Tuns durch den an Länge zunehmenden Schal kontinuierlich widergespiegelt, arbeitet zielgerichtet und erkennt Erfolge und Misserfolge in direkter Rückkopplung. Folglich ergibt sich in der Symbiose von Hand, Handarbeit und Textilem ebenso ein sicheres Mittel zur Selbstwahrnehmung, -sicherheit und -vergewisserung. Alle drei Aspekte sind Basiselemente für kreatives Tun (vgl. Kapitel 2.3.3). In diesem Kontext verweist Freiß (2011) auf das Handarbeiten, welches im eigentlichen Sinne ein „selbstreferentielles System“ (S. 30) darstelle. Das Ziel einer Handarbeit erschließt sich demnach nicht nur in den Feldern Produktion und Konsumtion, sondern auch in sich selbst und in dem Mehrwert der Selbsterkenntnis für das textil-handarbeitende Individuum: „Die Sinnproduktion mancher in Häkel- und Strickarbeiten angefertigten Dinge entsteht erst aus dem textilen Handarbeiten selbst: als eine Produktionstechnik, die sich zu einem selbstreferentiellen, in sich selbst sinnstiftenden System entwickelt.“ (S. 30f) Eine Versinnbildlichung erfährt die Zwitterposition und die Symbiose des Textilen und der Hand in den künstlerischen Arbeiten The Birth of Us (Boy) (2006-2007) (Abbildung 28) und Cuirass (2005) (Abbildung 29) von Anders Kirsár. Kirsár erstellte zum einen ein Bild eines Torsos, auf dem die linke und rechte Hand als Abdruck auf dem Köper des Menschen, auf seiner nackten Haut zu sehen sind. Die beiden Handabdrücke sind deutlich erkennbar, nehmen in ihrer Größe und Anordnung fast den ganzen Torso ein und verweisen dadurch auf die Kraft und Bedeutung der Hand für den Menschen. Die Bedeutung der Verbindung Mensch und Hand auch im Zuge der Selbstwahrnehmung und -verortung wird mit Kirsárs Arbeit betont demonstriert. In der Arbeit Cuirass (2005) gleicht die Haut bzw. Oberfläche des Torsos einem textilen Gewebe, einer Leinwandbindung. Der Fokus wird zum einen auf die Technik der Weberei, dessen Verbindungssystem von oben und unten hervorsticht, zum anderen auf das Textile als zweite Haut, als Kleidung gelenkt. Dadurch, dass das Gewebe aus der menschlichen Haut hergestellt scheint, wird in

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diesem Torso die Verbindung Mensch, Hand und das Textile verlebendigt sowie gleichzeitig das Textile als Element der menschlichen Identifikation konkretisiert. Abbildung 28: Anders Kirsár, The Birth of Us (Boy) (2006-2007)

Abbildung 29: Anders Kirsár, Cuirass (2005)

Die Hand wurde weiter oben schon ins Spannungsfeld eingeordnet, das Konglomerat Kleidung/Mode und Körper/Mensch/Hand noch nicht. In diesem Zusammenschluss finden sich erneut beide Pole mit unterschiedlichen Ausprägungen wieder (Abbildung 3). Die Omnipräsenz stellt sich in der Nähe der Kleidung zum Körper ein. Infolgedessen tritt das Textile ein in den Bereich des Alltäglichen und wird im Rahmen von Alltagspraktiken zu einem nicht reflektierten, selbstverständlichen Gegenstandsbereich. Die Verbindung zwischen Mensch und Kleidung ist so stark, dass von einer Verschmelzung die Rede sein kann. Die Nähe und Verschmelzung ist ein Grund für die Marginalisierung des Textilen. Dieser Sachverhalt erscheint paradox, denn in keiner anderen Form ist das Textile, die Kleidung so belebt. „Denn dem Kleidungsstück, das man auf dem Körper trägt, mit dem man quasi eins wird, entkommt man nicht. Es ist sehr real, sehr materiell, es lässt die Trägerin fühlen: sich selbst und den Raum, der sie ist/den sie einnimmt und den Raum, in dem sie sich bewegt.“ (Lehnert, 2013, S. 52f)

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Auf der anderen Seite ist das Konglomerat Kleidung/Mode und Körper/Mensch/Hand entscheidend an Auslagerungsprozessen, an einer Exteriorisierung beteiligt. Dadurch, dass der Mensch versucht, sich durch Kleidung selbst und vor anderen zu vergewissern, entsteht ein komplexes Zeichensystem, das Kommunikation zwischen Menschen über Kleidung ermöglicht. Der gekleidete Mensch, der textile Mensch wird hier selbst zu einem Abstraktum, „das eine Fülle von (immateriellen) Bedeutungen und Möglichkeiten in sich birgt, die ihm nicht materialiter zu eigen sind. Es bringt deshalb die TrägerInnen in stete Bewegung zwischen materieller und immaterieller Welt.“ (S. 53) 3.2.3 Hand-Bewegung und Hand-Werken Hand-Bewegung „Man kann nicht nicht berühren“ (Grundwald, 2012, S. 97) und die Hand bewusst und zielgerichtet bewegen. Von der haptischen Wahrnehmung als aktive und bewusste Tätigkeit ausgehend, welche sich gerade dadurch von der taktilen Wahrnehmung, dem Wahrnehmen durch eine unabsichtliche Berührung unterscheidet, soll folgend ausgegangen werden. In der Möglichkeit, die Hand bewusst zu steuern, liegt, neben den schon genannten Punkten, ein weiterer Aspekt, mit dem die Bedeutung des Zusammenhangs von Hand und Gehirn deutlich wird. Ein aktives Bestasten, Berühren etc. durch die Hand oder eine aktive, zielgerichtete und geplante Bewegung der Hand löst eine komplexe Informationsverarbeitung im Gehirn aus (Grundwald, 2012, S. 106f). Dem bewussten, zielgerichteten Greifen muss eine Planung von einzelnen Sequenzen, Handlungsschritten vorausgehen (Weinmann, 2005, S. 56f; Sennett, 2014, S. 203). Die Möglichkeit, etwas bewusst zu greifen, verweist darauf, dass der Mensch dazu in der Lage ist, über eine Bewegung im Vorhinein nachzudenken, Teilschritte zusammenzufügen, Reihenfolgen, Systematiken, Strukturen zu bilden und auch zu erkennen, Kohärenz über sein Handeln hinaus herzustellen. So wird die Besonderheit des menschlichen Gehirns im Grunde sichtbar in der bewussten, zielgerichteten Handbewegung. Zudem wird sie sichtbar in den Strukturen und Vorgehensweisen der durch die Hand hergestellten Produkte. Wie ähnlich sich diese Strukturen auch rein optisch sein können, zeigt sich in einer Nebeneinanderstellung elektronenmikroskopischer Aufnahmen des Gehirns (Abbildung 30, Abbildung 31) und Abbildungen von Knüpfarbeiten (Abbildung 32).

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Abbildung 30: Elektronenmikroskopische Aufnahme einer Nervenzelle

Abbildung 31: Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Netzwerks von Nervenzellen

Abbildung 32: Dehnbare textile Netzstruktur

In Kapitel 2.2 wird bereits eine elektronenmikroskopische Aufnahme einer Nervenzelle neben die Struktur der Gore-Tex-Membran gelegt mit dem Ergebnis einer verblüffenden Ähnlichkeit. Die Struktur eines geknüpften Netzes ist zwar viel einfacher, weist aber im Vergleich ähnliche Merkmale auf. Knotenpunkte, Verkreuzungen, Verbindungsstrecken etc. finden sich ebenso in den Milliarden Nervenzellen des Gehirns, den Neuronen. Hauptknotenpunkt ist hier der Zellkörper, die Verbindungstrecken sind die Axone und Dendriten, Synapsen verknüpfen und verkreuzen zudem Axone und Dendriten. Auch im Bereich der Nervenzellen des Gehirns nimmt die Motorik und somit auch die Hand eine Sonderstellung ein. „Zu den größten Neuronen zählen die sogenannten Pyramidenzellen im motorischen Kortex.“ (Rüegg & Bertram, 2010, S. 5f) Über Verbindungen des Marklagers, des Hirnstamms und des Rückenmarks bedingen die Pyramidenzellen die menschliche Bewegung. Abbildung 21, die zu Beginn des Kapitels den Zusammenhang Textiles, Mensch, Hand einleitet, kann vor den Hintergrund der Gehirn- bzw. Neuronenstruktur für dieses Unterkapitel etwas umgeändert werden (Abbildung 33): Abbildung 33: Ähnlichkeiten von textilen Strukturen und Gehirnstruktur wird durch die Hand erzeugt

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Es könnte angenommen werden, dass das Ausführen jedweder Bewegung den gleichen Einfluss auf die oben genannten Aspekte hat und somit eine Netzwerkbildung im Gehirn begünstige (Spitzer, 2005, S. 11). Der Handbewegung wird in diesem Zusammenhang allerdings eine besondere Position eingeräumt. „Die Steuerungsprogramme der Hand stehen in der Hierarchie motorischer Verantwortlichkeiten weit oben [...].“ (Weinmann, 2005, S. 43) Die Hierarchie motorischer Verantwortlichkeiten sieht in Anlehnung an Weinmann wie folgt aus: Abbildung 34: Hierarchie motorischer Verantwortlichkeiten in (angelehnt an Weinmann, 2005)

In Anlehnung an die Hierarchie motorischer Verantwortlichkeiten, in der die bewusste und zielgerichtete Bewegung der Hand an oberster Stelle steht, wird deutlich, dass gerade die Hand wechselwirkend mit dem Gehirn Strukturen und Systeme schafft. Dadurch, dass sie bewusst und zielgerichtet gelenkt werden kann, anders als bei anderen Bewegungsaufläufen, nimmt sie die besondere Stellung in der Wahrnehmung und Bearbeitung der Umwelt ein. Die textilen Techniken und die textilen Dinge in ihrer Konstruktion, Systematisierung und Strukturierung (vgl. Kapitel 2.2) sind Ausdruck und Beweis für die besondere Position der Hand und ihrer Verbindung zum Gehirn. So ist die Hand mit ihren Fähigkeiten und ihrer Stellung in der Hierarchie motorischer Verantwortlichkeiten der antreibende Motor oder auch Ausgangspunkt für Auslagerungs- bzw. Exteriorisierungsprozesse,

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obwohl die Hand in der Regel omnipräsent, auch in ihrem vielseitigen Bewegungsspielraum, für den Menschen ist. In dieser Herleitung und Feststellung wird, wie schon an anderen Stellen dieser Arbeit, ein Phänomen des Spannungsfeldes sichtbar. Die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung ziehen sich an, bedingen und beeinflussen sich, sind voneinander abhängig, obwohl sie sich von ihrer positiven und negativen Beschreibung her (Abbildung 3) unterscheiden und widersprechen. Da die textile Aktivität von ihren Ursprüngen ausgehend mit der Hand ausgeführt wird, ergibt sich diesbezüglich eine ähnliche Einordnung. Durch die Hand, die textil arbeitet und beispielsweise Wolle zu Garn verspinnt, ein Netz knotet etc. ist die textile Aktivität sehr körperlich und sinnlich geprägt, sie ist dem Menschen und seinen Empfindungen nah und z. T. allgegenwärtig. Gleichzeitig werden im textilen Tun mit der Hand aktive, fortschreitende, schöpferische und kreative Prozesse ausgelöst, die eine Exteriorisierung, eine Entwicklung weg vom Körperlichen anstoßen. Interessant ist, dass dieses Potential gerade für Entwicklung und Fortschritt sowohl im Forschungsfeld Hand als auch im Bereich des Textilen verkannt wird. Hand-Werken In jeder der aufgezählten Bewegungen findet sich also ein anderer mehr oder weniger komplexer Zugriff auf ein Steuerungssystem wieder. Erst ab der Ebene der Willkürbewegungen ist ein Zusammenhang mit der Großhirnrinde gegeben. Bei bewussten und gezielten Handbewegungen existiert die direkteste Verbindung zum Großhirn. Die bewusste und gezielte Handbewegung macht es dem Menschen möglich, Dinge, Objekte seiner Umgebung zu gebrauchen. Diese Dinge können aufgrund einer gezielten Handbewegung zu Werkzeugen werden. So ist die Hand direkt verknüpft mit dem Werkzeug. Binkofski und Menz (2012) interessiert, was auf neuronaler Ebene beim Werkzeuggebrauch passiert. Diesbezüglich verweisen sie auf Lewis (2006), welcher mit Hilfe von Bildgebungsstudien und Metaanalysen untersucht, welche Hirnareale beim Gebrauch von Werkzeug aktiv werden. Vor dem Hintergrund dieses Untersuchungsdesigns stellt er zwei wichtige Aspekte im Zuge eines Werkzeuggebrauchs heraus, bei denen im Gehirn zum Teil unterschiedliche Bereiche aktiviert werden: • „die Fähigkeit geschickt Werkzeug zu gerbrauchen“ (Binkofski & Menz, 2012,

S. 264) • „das semantische Wissen, das die Integration des Wissens über ein Werkzeug

mit dem Wissen über die durchzuführende Tätigkeit leistet“ (S. 264)

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Im ersten Fall wird ein „Netzwerk von motorischen Hirnarealen“ (S. 265) aktiv und koordiniert die gezielte Bewegung beim Werkzeuggebrauch. Im zweiten Fall müssen verschiedene Bereiche des Gehirns zusammenwirken. Deswegen wird angenommen, dass Konzepte von Werkzeugen bzw. Objekten „möglicherweise supramodal in unserem Hirn abgespeichert sind.“ (S. 265) Das heißt, das abstrakte Wissen bzw. das Konzept eines Werkzeuges setzt sich aus mehreren ineinander integrierten sensorischen Modalitäten zusammen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Werkzeuggebrauch erst dann erfolgreich ist, wenn nicht nur die Bewegung mit dem Werkzeug geübt und schließlich gekonnt wird, sondern auch das Konzept des Werkzeugs als Abstraktum abgespeichert und anwendbar ist. Ein passendes Beispiel aus dem textilen Werkzeugbestand ist die Nadel, die schon in Kapitel 2.3 unter der Perspektive des kreativen Potentials des Textilen als ein origineller Gegenstand Erwähnung fand. In Bezug auf Aspekt eins – „die Fähigkeit geschickt Werkzeug zu gebrauchen“ (Binkofski & Menz, 2012, S. 264) – können die Handlungen mit und die Handhabung einer Nähnadel exemplarisch durchgespielt werden. Gebraucht man eine Nähnadel in ihrem eigentlichen Sinne, mit der ihr grundsätzlich zugeordneten Technik, um das gewünschte und geplante Produkt herzustellen, sind zahlreiche Handlungsschritte für den ‚richtigen‘ Gebrauch der Nadel notwendig. Die verschiedenen Handlungsschritte schließen ein Wissen über sie sowie einen eingeübten Umgang mit ihr mit ein: • Die Nadel muss zwischen Daumen und Zeigefinger unter einem entsprechen-

den Krafteinsatz im Spitzgriff gehalten und mit Hilfe des Handgelenks, des Unterarms etc. geführt, gedreht und gelenkt werden. • Der Gebrauch der Nadel an sich funktioniert nicht ohne einen Faden. Das Einfädeln stellt eine besondere Herausforderung dar, da die Nadel in den Spitzgriff der linken Hand wandert. Die rechte Hand muss den Faden, auch im Spitzgriff, präzise durch das Nadelöhr führen. • Die Nähhandlung mit der Nadel für sich noch einmal gesondert betrachtet setzt sich wiederum aus zahlreichen Handlungsschritten zusammen. Die eingefädelte Nadel wird in einen Stoff eingestochen, durchgezogen, von der anderen, linken Seite des Stoffes, diesmal ‚blind‘, wieder eingestochen, durchgeschoben und -gezogen etc. Während des Arbeitsprozesses wandert die Nadel teilweise von der rechten in die linke Hand, Einstechabstände müssen relativ gleichmäßig eingehalten, der Stoff mit der jeweils freien Hand festgehalten und fixiert werden, und so fort.

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Der kurze Einblick in die Handhabung der Nähnadel, der noch detaillierter ausgeführt werden könnte, macht deutlich, wie komplex die Fähigkeit ein Werkzeug geschickt, also zielführend zu gebrauchen ist. Der zweite wichtige Aspekt, den Binkofski und Menz (2012) auflisten – ein semantisches Wissen über die Nadel, in dem das Wissen über die Nadel an sich mit dem Wissen über die Handhabung der Nadel vernetzt wird – ist interessant, da aus der Vernetzung heraus eine Übertragung auf andere Bezugssysteme und Handhabungen möglich wird. Die Nadel taucht im textilen Arbeiten in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen auf. Ob Häkeln, Stricken, Nähen oder Sticken, für jede Technik hat sich eine spezielle Nadelform entwickelt, die in Korrespondenz mit der jeweiligen Technik entsprechend anders zu führen, zu gebrauchen ist. Die Vielfältigkeit der Nadelform ist nur ein Beispiel für die Vernetzung des semantischen Wissens über die Nadel. Ein weiteres Beispiel zeigt sich im Heraustreten der Nadel aus ihrem textil-technischen Kontext. Ihre grundsätzlichen Eigenschaften, wie z.B. die Nadelspitze, werden in anderen Kontexten eingesetzt. Beispielsweise wird die Haut in der Chirurgie auch mit einer Nadel zusammengenäht – es werden also dieselben Techniken des Zusammenfügens für Textiles und den Körper benutzt. Ein weiteres Beispiel für so eine Kontextverschiebung ist die Nadel im Schallplattenspieler, die die Rillen auf der Schallplatte abtastet. Die Schwingung bzw. Vibration der Nadel wird folgend entzerrt und verstärkt, Töne können wiedergegeben werden. In einem Beispiel aus dem Alltag wird die Nadel als Werkzeug benutzt, um z.B. kleine Splitter aus dem Finger zu ziehen. In diesem Kontext ist die Nadel ein unvollkommenes Werkzeug, in dessen Unvollkommenheit kreatives Potential steckt (Sennett, 2014, S. 279) (vgl. Kapitel 3.3.2).

3.3 KREATIV-TEXTILE HANDARBEIT In der Arbeit mit der Hand und in der Handarbeit mit dem Textilen sind viele kreative Momente, Prozesse und Impulse vorhanden. Handarbeit erfordert unter anderem Engagement, Interesse, Konzentration, eine intensive und auch lange Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt und ein emotionales und geistiges sich Einlassen (Sennett, 2014, S. 231f). Mit diesen Punkten werden Aspekte von Kreativität angesprochen, die Holm-Hadulla (2010, S. 45) unter seinem Akronym FASZINATION zusammenfasst (vgl. Kapitel 2.3.1) und die sich im kreativen Zustand des FLOWs zeigen (Csikszentmihalyi, 2015). Die textile Aktivität als kreative und produktive Aktivität wird in Kapitel 2.3 ausführlich besprochen. Gerade das textile Handarbeiten wird fokussiert, konzentriert und strukturiert ausgeführt.

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In diesem Schaffensprozess zwischen creare und crescere sind meditative Zustände und das Erfahren von Stolz und Glück beim Selbermachen vorhanden. So ist gerade das FLOW-Erleben Ausdruck eines kreativen textilen Schaffensprozesses. Interessant im Rahmen des folgenden Kapitels ist, dass die kreativen Aspekte, die sich insbesondere in der textilen Aktivität zeigen, von der Hand auszugehen scheinen. Es ist zu vermuten, dass Kreativität in der Interaktion zwischen Hand und Textilem entsteht. In Abbildung 35 wird diese Thesen mit dem Fokus, etwas kreativ zu schaffen und zu schöpfen verdeutlicht. Die zu Beginn dieses Kapitels dargestellte Idee eines kreativen Kreislaufes zwischen Hand, Textilem und Mensch wird an dieser Stelle noch einmal aufgenommen. Abbildung 35: Kreislauf – Hand, Textiles, Mensch

Anders als in Kapitel 2.3, in dem das Textile unter einer kreativen Perspektive im Vordergrund steht, werden im Folgenden Aspekte der Hand fokussiert. Dabei tritt das Textile zwar etwas in den Hintergrund, nichtsdestotrotz werden auf der Grundlage der Interaktion zwischen Hand und Textilem immer wieder die Bezüge zum Textilen aufgezeigt. Kreativität setzt sich zusammen aus den Bedeutungsfeldern creare und crescere, einem bewussten Schaffen und Hervorbringen sowie einem unbewussten Geschehen und Wachsen lassen (Holm-Hadulla, 2010, S. 30). Wie im Textilen und in der textilen Aktivität finden sich auch in der Hand, sowohl in der Motorik und Feinmotorik als auch in der haptischen und taktilen Wahrnehmung, beide Bedeutungs-

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felder von Kreativität, z. T. auch wechselwirkend und sich gegenseitig beeinflussend. Mit dem Blick darauf, wie Kinder lernen, ihre Hand zu benutzen, Dinge ihrer Umgebung zu greifen, werden die kreativen Felder creare und crescere sowie die Beziehung der Felder zueinander deutlich. Ein Neugeborenes beispielsweise ergreift Dinge seiner Umgebung noch nicht bewusst, sondern eher zufällig und unbedarft. Die Greifhandlungen sind in diesem Entwicklungsstadium evolutiv bedingt reflexartig und unkontrolliert (Michaelis, 2005, S. 215). Trotzdem nimmt das Neugeborene durch diese unbewussten, unkontrollierten Handlungen seine Umwelt in erster Linie taktil wahr, lässt dabei etwas (zwar noch unbewusst) entstehen. Das Schaffen mit der Hand passiert hier im Speziellen auch in Rückkopplung mit der Konstruktion von Gehirnstrukturen, denn das Gehirn „lernt Allgemeines anhand von Einzelheiten“ und schafft dadurch „regelhafte Erfahrungen“ (Spitzer, 2015, S. 222). Regelhafte Erfahrungen sind später fürs Handarbeiten genauso wichtig wie für Kommunikation und Zusammenleben innerhalb einer Gruppe. In dem hier dargelegten Zusammenhang ist Kreativität also verortet in einer ganz frühen kindlichen Entwicklungsphase und zeigt sich aufgrund der Charakteristika einer unbewussten, unkontrollierten Handlung im Bedeutungsfeld crescere. Die Bedeutung unbewusster Greifhandlungen für die Möglichkeit, in Zukunft etwas bewusst schaffen zu können (creare) ist groß und grundlegend. Unbewusstes Tasten und Greifen kann also gleichgesetzt werden mit crescere, dem nicht zielgerichteten Laufen, Werden und Entstehen lassen im kreativen Tun. Im Entwicklungsverlauf des Kindes werden die Greifversuche (ca. ab dem vierten Monat) immer genauer und präziser (Michaelis, 2005, S. 215). Das Kind ist nun in der Lage, seine Umwelt, neben der fortlaufenden taktilen Wahrnehmung, auch haptisch wahrzunehmen, Dinge bewusst zu berühren und zu erkunden, sie zu drehen und zu wenden, zu betasten und gegebenenfalls auch zu verändern. Mit dieser Fähigkeit kann das Kind bzw. der Mensch mit seiner Hand etwas bewusst schaffen – creare ist also wie crescere in den Fähigkeiten der Hand, etwas zu greifen, verankert. Im Zusammenschluss von creare und crescere, die gerade auch durch ihre Verbindung kreative Leistungen ermöglichen, wird ein weiterer Punkt, der sich aus der Wortherleitung von Kreativität ergibt, wichtig. Mit diesem Punkt wird zugleich auch ein Problem für die Handarbeit und für Kreativität aufgeworfen. In Kreativität steckt neben creare und crescere noch das lateinische Wort vis. „Vis bedeutet Kraft, Stärke, Einfluss“ (Brunner, 2008, S. 6) und ist gerade in Bezug auf die Hand bedeutsam, um Kreativität und Kreativität, die von der Hand ausgeht, zu verstehen und zu erklären. Sowohl das Bedeutungsfeld creare als auch das Feld crescere bestehen nicht ohne vis. Will man mit der Hand etwas bewusst greifen,

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verändern und schaffen, benötigt man dafür Kraft und zwar nicht irgendeine beliebige Kraft, sondern einen gezielten, geplanten und bewusst eingesetzten Kraftaufwand. Sennett (2014) bezeichnet mit Blick auf die Kraft, die beim Greifen benötigt wird, diesen Prozess auch als „Berechnung des minimalen Kraftaufwandes“ (S. 223). In dem Gedanken alleine durch das Greifen sein Ziel zu erreichen, eventuell etwas zu schaffen, sieht Sennett ein Problem: „Es gibt indessen ein Problem mit dem Greifen, das besondere Bedeutung für Menschen besitzt, die ein hohes Maß an technischer Handfertigkeit entwickeln, die Frage nämlich, wie man loslässt.“ (S. 204) Möchte der Mensch also etwas greifen, im Griff haben, betasten, bearbeiten etc. (creare), muss er diesen Gegenstand auch loslassen können (crescere). Dieser Prozess wird im Rahmen von Handarbeit geübt. In jeder Handtätigkeit, -fertigkeit, -arbeit liegt ein Wechselspiel der Bedeutungsfelder von Kreativität creare, crescere und vis. In jeder Handarbeit liegt Kreativität. Von der Hand ausgehend kann der Prozess dann auch auf abstrakte Gegenstandsbereiche und Gedankenspiele übertragen werden, ohne die Hand tatsächlich einzusetzen oder den Griff zu lockern. „In ähnlicher Weise müssen wir uns zumindest zeitweise von einem Problem lösen, um es aus der Distanz zu betrachten und uns dann erneut an eine Lösung zu machen.“ (Sennett, 2014, S. 204) Die Bedeutungsfelder (creare, crescere und vis), die Kreativität erläutern und eingrenzen, werden in der Entwicklung der Handfertigkeit, die sich durch die Möglichkeit, Dinge auf mannigfaltige Weise zu greifen, zeigt, durchexerziert und quasi erlernt. Die Hand kann dementsprechend wie vermutet als Ausgangspunkt kreativer Leistungen gesehen werden. Die Hand und ihre besondere Verbindung zum Gehirn agiert dabei allerdings nie alleine, sondern immer in Korrespondenz mit ihrer Umwelt. Die Umwelt ist das Textile. Wenn Hand und Textiles miteinander korrespondieren, können kreative Leistungen geschaffen werden und entstehen. Eine Korrespondenz zwischen Macher und Material ist grundlegend für das Entstehen und Gestalten der menschlichen Umwelt und Kultur. Material und Macher stehen hier auf einer Ebene (Ingold, 2014). In der Handfertigkeit (Macher) liegt zwar eine Basis für kreative Leistungen, ohne eine Korrespondenz mit dem Material, hier dem Textilen, wären kreative Leistungen aber nicht möglich. Eine besondere und enge Beziehung besteht zwischen dem Menschen (Macher) und dem Textilen (Material) (vgl. Kapitel 1). Mit Bezug auf Ingold (2014) und die auf die Hand übertragenen Bedeutungsfelder der Kreativität kann weiterführend angenommen werden, die Hand mit ihren kreativen Eigenschaften stehe im Allgemeinen gerne in Korrespondenz mit jedwedem Material und im Speziellen mit Vorliebe in Korrespondenz mit der textilen Materialität. Evolutionstheoretisch kann diese These mit Barbers (1994, S. 42) Gedanken und Forschungsergebnissen zur String Revolution untermauert werden

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(vgl. Kapitel 2.1.3). Dass das Textile in einer engen kreativen Korrespondenz mit der Hand steht, kann ferner aus zwei weiteren Perspektiven, z. T. ontogenetisch und technisch, erläutert werden: • Die Hand steht in kreativer Korrespondenz mit dem textilen Übergangsobjekt. • Die Hand steht in kreativer Korrespondenz mit sich selbst bzw. mit unvollkom-

menen textilen Werkzeugen. 3.3.1 Die Hand in kreativer Korrespondenz mit dem textilen Übergangsobjekt Das Übergangsobjekt spielt insbesondere im Rahmen kindlicher Kreativität eine Rolle (vgl. Kapitel 2.3.2). Die kindliche Kreativität ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Kind mit Hilfe eines Übergangsobjektes bzw. Nicht-ich-Objektes einen intermediären Raum schafft, in dem es verschiedene Realitäten spielend erkundet und ausprobiert. Es ist der Raum, in dem phantasiert und geträumt werden kann. In der spielerischen Interaktion zwischen Kind und Übergangsobjekt liegen nicht nur kreative Momente, sondern auch ein Prozess der Selbstwahrnehmung und -vergewisserung (vgl. Kapitel 3.2.2). In diesem Prozess ist die Hand als Mittler zwischen Innen und Außen und quasi als Werkzeug zum Aufbau von Selbstvertrauen bedeutsam. Das Selbstvertrauen einer Person, das auch schon in der frühen Kindheit in handgesteuerten Interaktionsprozessen des Kindes mit seiner Umwelt aufgebaut wird, wird im Kontext von Kreativität herausgestellt. Selbstvertrauen ist eine der wichtigsten Eigenschaften einer kreativen Persönlichkeit. Das Selbstvertrauen nimmt dementsprechend auch einen Teil ein bzw. ist ein Buchstabe in HolmHadullas (2010, S. 47) Akronym FASZINATION zur Beschreibung und Eingrenzung von Kreativität. Selbstvertrauen in kreativen Prozessen ist wichtig, da „Kreativität, verbunden mit Flexibilität und assoziativem Denken, den Einzelnen vor Zerreißproben stellt. Das Verlassen des Gewohnten labilisiert oft das Selbstvertrauen, führt aber auch gern zu Überheblichkeit.“ (S. 47) Die Basis für dieses benötigte Selbstvertrauen, um auf einem kreativen, unbekannten und unsicheren Weg gehen zu können, entsteht in der frühen Interaktion der Hand mit der Umwelt, im handlichen Umgang mit dem Übergangsobjekt, im Spielen innerhalb eines intermediären Raums, in der kindlichen Kreativität. In Kapitel 2.3.2 und 3.2.2 sind Aspekte zum Übergangsobjekt und der damit zusammenhängenden Kreativität angesprochen worden. Betrachtet man allerdings die Hand noch einmal ganz konkret in Winnicotts (2015) Konzept des Übergangsobjekts ergeben sich zwei Phänomene:

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1) Die Hand kann selbst zum Übergangsobjekt werden. Ein Beispiel dafür ist der Daumen und das Daumenlutschen des Kindes. 2) Die Hand interagiert mit Nicht-ich-Objekten bzw. Übergangsobjekten. Insbesondere Michaelis (2005, S. 210) verweist darauf, dass die Hand selbst zum Übergangsobjekt werden kann. In diesem Rahmen hat die Hand, wie jedes andere Übergangsobjekt „psycho-emotionale Bedeutung“ (S. 210), wirkt demnach stabilisierend und vergewissernd. Die Bedeutung der Hand für den Menschen, seine Entwicklung und seine Möglichkeiten, kreativ zu schaffen, werden in diesem Kontext noch einmal besonders deutlich. „Die Hände und ihre Bedeutungs- und Ausdrucksmöglichkeiten sind essentieller Teil des physischen und psychischen Lebens eines Menschen.“ (S. 210) In den Händen als Übergangsobjekt beginnt diese Beziehung und setzt sich fort in allen Bereichen des Lebens: „Sie ermöglichen die Tätigkeiten des alltäglichen Lebens, eine emotional gesteuerte Gestik, die gestische Begleitung des Sprechens und das künstlerische, gestaltende Handwerken der Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker und Dirigenten“ (S. 210) sowie Textilschaffender. Was passiert, wenn die Hand nicht das Übergangsobjekt ist, sondern mit einem Übergangsobjekt, d.h. einem nicht körpereigenen Objekt interagiert? Mit Bezug auf Winnicott (2015), dem Begründer der Theorie zum Übergangsobjekt, ist bisher aufgefallen, dass gerade die Übergangsobjekte der frühen Kindheit textil sind: Zipfel von Decken, Tücher, Kissen, Windeln, Fäden, Wolle, Kuscheltiere etc. (vgl. Kapitel 2.3.2). Die Frage, wieso gerade das Textile prädestiniert für die Rolle des Übergangsobjekts zu sein scheint, steht in Kapitel 2.3.2 im Mittelpunkt. Mit der flexiblen und zugleich strukturierenden textilen Materialität, die sich immer wieder zwischen den nach Holm-Hadulla (2011) Kreativität provozierenden Feldern Schöpfung und Zerstörung bewegt, ist eine Antwort auf die gestellte Frage gegeben. Diese Antwort kann allerdings noch weitergeführt und weiter begründet werden, wenn die Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten der Hand mithinzugezogen werden. Das Textile ist gerade aufgrund seiner flexiblen Materialität in einem hohen Maße zugänglich für die Hand. Wie in den Beispielen MacKenzies (1991) (Abbildung 26-28, Kapitel 3.1.1) zum Verdrehen und Verzwirnen eines Faserstoffes zu einem Faden deutlich wird, kann das gesamte Bewegungsspektrum der Hand und die verschiedenen Formen des Greifens in der Korrespondenz zwischen Hand und Textilem ausgeschöpft und trainiert werden. Im Vergleich z.B. zu Materialien wie Holz oder Stein ist das Textile außerordentlich handfreundlich, denn, wenn die Hand in die von Ingold (2014) beschriebene wechselwirkende Beziehung mit

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dem Textilen als Material tritt, kann etwas Neues ohne die Hinzunahme eines externen Hilfsmittels, eines Werkzeugs entstehen. Hand und Textiles reichen aus, um neue Strukturen (vgl. Kapitel 2.2), Gewebe, Gewirke, Kleidung, Verbindungen, Symbole entstehen zu lassen. Ganz besonders wird dies in den textilen Übergangsobjekten sichtbar, an denen das Kleinkind durch die Hand sich selbst entdeckt, erste Erfahrungen macht, wie es mit der Hand etwas schaffen kann, indem es z.B. seine Kuscheldecke greift, zusammenknautscht, verknäult, faltet, an seinem Gesicht reibt etc. In der Technik des Filzens, so Helmhold (2003), würde sich der Einfluss der Bearbeitung textilen Materials auf die Hand bzw. den gesamten Körper manifestieren, denn eine textile Fläche entsteht hier nicht unter linear strukturierten und vor allem auch beobachtbaren Gesichtspunkten: „Der Verfilzungsprozess unterliegt einer Selbstorganisation der beteiligten Faktoren von Fasern, Wärme und Druck. Der Akteur, der Filzer, ist zwar derjenige, der alle Faktoren zusammenbringt, der Moment der Faserverfilzung jedoch ist ein autopoietischer Akt. Dies macht das Material ‚von selbst‘. Der Filzer kann diesen Moment in Annäherung herbeiführen – willentlich und planvoll ‚machen‘ kann er ihn nicht. Insofern ist das Filzen auch konkret eine ‚fuzzy-technique‘, ein sprunghafter Übergang von einem System in das andere. Das eine System sind lose Fasern und das andere System ist ein fester Faserverbund.“ (S. 9)

In dem Prozess des Filzens korrespondiert allein der Mensch über seine Hände mit textilem Material und neue Formen entstehen aus diesem direkten Zusammenspiel. Im Filzen ist zudem das Material innerhalb des kreativen Prozesses genauso involviert wie der Mensch bzw. die Hände (vgl. Kapitel 2.3.3, material engagement). Das Übergangsobjekts, das in dieser Arbeit in enger Verbindung mit der Hand, mit dem Textilen und mit Kreativität gesehen wird, verweist auf einen Gedanken Sennetts (2014, S. 213f). In der Korrespondenz zwischen Hand und Übergangsobjekt entwickele der Mensch Technik. Mit dieser Technikentwicklung geht Kreativität einher, allerdings auch, wenn man in dem hier dargelegten Spannungsfeld denkt, ein Exteriorisierungsprozess. Der Mensch bzw. das Kind verweilt nicht bei seinem textilen Übergangsobjekt: „In seiner weiteren Entwicklung verfügt das Kind allmählich über Teddybären, Puppen und Spielzeug aus hartem Material.“ (Winnicott, 2015, S. 14) Erlernte Techniken werden auf andere Gegenstandsbereiche transferiert. „Bei der Entwicklung der Technik verwandeln wir Übergangsobjekte in Definitionen, auf deren Grundlage wir dann Entscheidungen treffen.“

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(Sennett, 2014, S. 214) Auch hier kristallisiert sich ein Problem des Textilen heraus, welches im textilen Spannungsfeld deutlich wird. Das Textile scheint auf einer fundamentalen Ebene und in seinen Eigenschaften als omnipräsentes Medium bedeutsam zu sein für grundlegende Lernprozesse, kindliche Kreativität und anfängliche Technikentwicklung. Auf dieser wichtigen und fundamentalen Ebene stößt es Prozesse der Auslagerung an, die das Textile in einem Umkehrschluss unbedeutend und rückläufig erscheinen lassen. 3.3.2 Technik als kreatives Dazwischen „Bei der Entwicklung der Technik verwandeln wir Übergangsobjekte in Definitionen, auf deren Grundlage wir dann Entscheidungen treffen.“ (Sennett, 2014, S. 214) Sennett schneidet in der hier aufgegriffenen Aussage etwas an, das im kreativen Prozess zwischen Macher und Material, zwischen Hand und Textilem auch als ein Dazwischen bezeichnet werden kann. Das Dazwischen ist die Technik, mit der der Macher in Korrespondenz mit dem Material tritt. Nicht nur die entstandenen Ergebnisse aus dem Zusammenschluss von Macher und Material/Hand und Textilem sind kreativ und originell, auch das Dazwischen, die Technik, das Wie der Beziehung, in die Hand und Textiles eintreten, ist ein kreativer Prozess an sich und bringt allein in diesem Feld ein Spektrum an kreativen Entwicklungen hervor. So ist die Hand an sich in der kreativen Korrespondenz, die zugleich die Entwicklung einer Handfertigkeit, einer Technik darstellt, außergewöhnlich kreativ tätig. Mit dem in dieser Arbeit schon oft gewählten Beispiel der Fadenherstellung kann die Kreativität im Dazwischen auf einfacher Ebene erläutert werden. Die Hand tritt in Korrespondenz mit einem Faserstoff, z.B. Bast. Ein wechselseitiger Austausch zwischen der Hand und dem Bast entsteht. Die Hand betastet und erkundet den Bast unter Einsatz der ihr möglichen Greifformen. Der Bast als Material gibt z.T. nach, verformt sich oder stellt sich in seiner Beschaffenheit den Bewegungen der Hand entgegen. So liefert der Bast zahlreiche Informationen, auf die die Hand wiederum reagieren muss. Aber auch die Hand greift im Rückschluss mit Körper und Gehirn auf bereits gespeicherte Sinnesdaten und Informationen zurück. Dieser Vorgang nennt sich „Prehension“ (Sennett, 2014, S. 207). Mit der Zeit entwickelt sich eine Technik zwischen Hand und Bast, die gekennzeichnet ist durch ein „Wechselspiel zwischen korrektem Spiel und der Bereitschaft, zu experimentieren und dabei Fehler zu machen.“ (S. 215f) Die Technik (verdrehen, verzwirnen, verspinnen), die dabei entsteht, ist gleichermaßen ein kreatives Ergebnis wie der schlussendlich entstandene Faden. Auch die Entwicklung der Technik ordnet sich demnach in die Phasen des kreativen Prozesses ein (Holm-Hadulla, 2010, S. 54-58):

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• Vorbereitung: Informationsaustausch und -sammlung zwischen Hand und Bast • Inkubation: Informationsverarbeitung unter der Prämisse des Entstehen lassens

(crescere) • Illumination: Entwicklung einer Idee zur Bearbeitung des Basts – Technik • Realisierung und Verifikation: Erproben der Idee bzw. Technik, gegebenenfalls

Anpassung und Veränderung Interessanterweise beschreibt Sennett (2014, S. 217), ohne überhaupt das Wort Kreativität zu gebrauchen oder den kreativen Prozess zu erwähnen, das Entstehen einer Technik bzw. Handfertigkeit in ähnlichen Phasen: • Vorbereitung = Vorbereitung • Fehler erkunden = Inkubation, Realisierung, Verifikation • Form finden = Illumination, Realisierung und Verifikation

In seiner Wortwahl und dem Versuch einer Gegenüberstellung mit dem kreativen Prozess wird indessen sichtbar, wie verflochten die einzelnen Phasen miteinander sind und dass diese nicht nacheinander, sondern eher miteinander stattfinden. Die Ausbildung der Handfertigkeit, die Entwicklung einer Technik bzw. die Korrespondenz zwischen Macher und Material ist also kreativ. Blickt man noch genauer auf dieses Phänomen, stellt man fest, dass es zudem in einem hohen Maß kreativitätsanregend und -fördernd sein kann. Wird beispielsweise der Bast mit der Wolle eines Schafes ausgetauscht, ergibt sich eine z. T. neue Korrespondenz und Technikentwicklung, da auf die Besonderheiten des neuen Faserstoffes eingegangen werden muss. Das Material engagiert sich ebenso wie der Macher (material engagement) (Renfrew, 2014, S. 111). Auf der anderen Seite wird gleichzeitig auf die bereits erworbenen Informationseinheiten (Meme) zurückgegriffen. Nicht ganz von Neuem entsteht mit den leicht veränderten Akteuren der Korrespondenz ein neuer kreativer Prozess. Grundlage dafür ist, dass sowohl die Hand bzw. der Mensch und das Material/das Textile unvollkommen sind, zur selben Zeit aber immer das Vollkommene, das Zusammenhängende, eine Kohärenz angestrebt wird (Holm-Hadulla, 2011, S. 7). Im Zuge der fortwährenden Technikentwicklung entstehen zudem Hilfsmittel, die ebenso den Charakteristika von Kreativität entsprechen und in das kreative Wechselspiel von „Auflösung und beständiger Neuformatierung“ (Holm-Hadulla, 2011, S. 7) treten. Den Hilfsmitteln bzw. Werkzeugen, die auch im Dazwischen stehen, zwischen Macher und Material, spricht Sennett (2014, S. 279) aufgrund ihrer Unvollkommenheit Potential für kreative Prozesse zu. Ein unvollkommenes

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Werkzeug sei in einem hohen Grad anregend für die technische Weiterentwicklung und somit ungemein kreativitätsfördernd. In der Unvollkommenheit eines Werkzeugs, also in seiner gegebenenfalls bestehenden Fehlerhaftigkeit oder in der Mehrzweckverwendung liegt großes Potential für Lernen, da diese Zustände Veränderungen im Verhalten und direkt beim Werkzeug, Improvisation und ein Umdenken anregen (S. 260). Klix (2005, S. 240f) bezeichnet die Vorgänge, die in der Herstellung und Interaktion mit Werkzeugen entstehen, als kombinatorisches Denken, bei dem, angeregt durch ein übergeordnetes Handlungsziel, verschiedene und durchaus nicht zusammenhängende Bereiche miteinander verknüpft werden. Neu kombiniert und über feststehende Bereiche hinausgegangen wird auch beim Reparieren. Das Reparieren stellt eine Sonderhandlung mit Werkzeugen dar, da im Reparieren (gleichzeitig immer auch neu herstellen) Gesamtzusammenhänge erst gesehen werden. Ein dynamisches Reparieren steht neben einem statischen Reparieren, wobei dem dynamischen Reparieren mehr Anregungspotential zukommt. „Dynamisches Reparieren verändert dagegen das reparierte Teil in Form und Funktion“ (Sennett, 2014, S. 267) und Mehrfachnutzung sowie die Verschiebung in einen anderen Nutzungsbereich werden möglich. Die Entwicklungen und Erfindungen im Rahmen des Webstuhls, insbesondere das Prinzip der Lochkarten, sind ein Beispiel für das Potential dynamischer Reparaturen und daraus entstehender Kontextverschiebungen.

3.4 BÜNDELN In seinen Anfängen konnte der Mensch noch keinen Endlosfaden herstellen. Aufrecht gehend auf einem langen Weg zum Endlosfaden nimmt die Hand bzw. nehmen die Hände eine ganz besondere Rolle ein. Sie sind die Verbindung zwischen Mensch und Textilem und überbrücken das Dazwischen in kreativer Aufgeladenheit. Die Hand hat im System Textiles-Mensch eine Doppelrolle. Sie beeinflusst wechselseitig die Entwicklung des Menschen und des Textilen auf kulturell-evolutiver Ebene und im Rahmen der Ontogenese des Menschen. Evolutiv bedingte Veränderungen in der Körperhaltung des Menschen wirken sich auf die Hand aus. Sie wird zu einem spezialisierten Greiforgan. Zeitgleich vergrößert sich das Hirnvolumen des Menschen. Insbesondere Leroi-Gourhan (1988) geht hier von wechselwirkenden Prozessen aus. Die Hand wird durch die Möglichkeit, Dinge ihrer Umgebung bewusst und unbewusst zu berühren, sie anzufassen, sie auch zu verändern, zu einem wichtigen Organ der menschlichen Wahrnehmung. Informationseinheiten werden aufgebaut. Der Mensch erkennt

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sich selbst im Vergleich zur Umwelt aufgrund haptischer Wahrnehmung und zielgerichteter Handlungen, mit denen er zugleich etwas schaffen und verändern kann. In kreativer Korrespondenz mit den Dingen, den Materialien, die ihn umgeben, den dazugewonnenen Greifformen, dem vergrößerten Bewegungsspektrum der Hand und dem vergrößerten Hirnvolumen erstellt der Mensch seinen ersten Faden. Fast beiläufig, aber ebenso wichtig, entsteht im Zusammenspiel der genannten Komponenten Technik. Die Technik ist wichtig, denn in ihr offenbaren sich Grundstrukturen und Funktionsweisen des Gehirns, indem Handlungsschritte sequenziert und vorausgeplant werden. Gehirn- und Neuronenstrukturen werden geschaffen, die verblüffende Ähnlichkeit mit textilen Netzwerkstrukturen besitzen – ein Zeichen für den intensiven Austausch zwischen Textilem und Mensch durch die Hand. Zudem entstehen zur Unterstützung und aus einem kreativen Bedürfnis zur Weiterentwicklung innerhalb des Zusammenschlusses Mensch-Gehirn-Hand-Technik-Umgebung-Material-Textiles Werkzeuge, die sich gleichermaßen einreihen in den kreativen Kreislauf zwischen Mensch, Hand und Textilem. Der Mensch nähert sich dem Endlosfaden, indem er zu Be-greifen lernt. Zuvor entwickeln sich indessen weitere, handfernere Zeichensysteme, wie die Sprache, die in ihrer Systematik angelehnt werden können an die Systematik einer Handtätigkeit. Die besondere Verbindung zwischen Hand und Gehirn, die in der Evolution des Menschen allgegenwärtig ist, besteht auch heute noch. Der Raum, den die Hand als Repräsentation in der Großhirnrinde einnimmt, ist im Vergleich zu anderen Körperregionen und -teilen überrepräsentiert (Weinmann, 2005). Ein Überbleibsel der evolutiven Entwicklung, welches die Hände gegenwärtig noch zu wichtigen Mittlern in Wahrnehmungsprozessen macht. Eine Sonderstellung in Wahrnehmungsprozessen besitzen sie zudem wegen der hohen Rezeptorendichte in den Handinnenflächen (Grundwald, 2012, S. 100). Die Wahrnehmungsprozesse und -verarbeitung, die unter anderem durch die Rezeptoren angeregt werden, sind grundlegend für Handbewegung, -steuerung, und Werkzeuggebrauch. Eine taktile und haptische Wahrnehmung ist ferner bedeutsam in der kindlichen Entwicklung. Auch hier ist die Hand wieder Mittler zwischen Innen und Außen, schafft Sicherheiten, indem der Mensch/das Kind lernt sich selbst im Kontrast zu anderen und zu seiner Umgebung wahrzunehmen bzw. zu begreifen (Michaelis, 2005, S. 220f). In diesem Kontext ist das Textile als Übergangsobjekt präsent (Winnicott, 2015), denn es motiviert durch seine flexible, weiche oder kratzige Beschaffenheit zu mannigfaltigen und umfassenden Greif-, Tast- und Körpererfahrungen. Die Kleidung als ‚zweite Haut‘ hat darüber hinaus im Bereich der Wahrnehmung und Entwicklung des Kindes im Grunde schon seit der Geburt eine besondere Funktion bei der Verarbeitung von Reizen an. Da sie permanent

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zwischen dem Menschen und der Umwelt liegt, agiert sie wie ein weiteres Wahrnehmungsorgan neben der Hand, Haut, den Augen, der Nase etc. Taktile und haptische Wahrnehmung laufen zu einem Großteil erst über die Kleidung und dann über die Haut. Die Verschmelzung zwischen Kleidung und Mensch, Textilem und Mensch wird eindrücklich. Die Hand ist als Bindeglied zwischen Mensch und Textilem aufgeladen mit Kreativität. Die Felder crescere und creare finden sich wieder in der unkontrollierten taktilen Wahrnehmung und der bewusst gesteuerten Handbewegung bzw. dem zielgerichteten Greifen. Erprobt werden die kreativen Handlungsmöglichkeiten in der Interaktion mit dem eben erwähnten textilen Übergangsobjekt. Zudem ist Technik, die aus der Korrespondenz zwischen Material, Hand und Macher erwächst, originell. Sie entwickelt sich im kreativen Prozess zwischen creare und crescere. Nichtsdestotrotz liegt in Handarbeit, Technik und Werkzeug Unvollkommenheit und es sind Leerstellen vorhanden, die von Neuem und im Sinne eines material engagement (Renfrew, 2014) Lern- und Kreativitätsprozesse evozieren. In dem Moment der Evolution, in dem die Hand und das Hirnvolumen ähnlich ausgebildet sind, wie die Hand und das Gehirn eines gegenwärtig lebenden Menschen, tut sich das textile Spannungsfeld auf (Abbildung 3). Wenn die Hand in das Beziehungsgeflecht Textiles-Mensch mit aufgenommen wird, können die Thesen zum Spannungsfeld, die in Kapitel 1 schon aufgestellt werden, bestätigt und erweitert werden. Die Beziehung Textiles-Mensch-Hand beginnt im Bereich der Omnipräsenz, in dem Bereich des Menschen, der für ihn taktil und haptisch wahrnehmbar ist. Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, bewusste und zielgerichtete Handlungen sowie Greifbewegungen lassen auf neuronaler Ebene in Rückkopplungsprozessen mit dem Gehirn Strukturen, Ordnungen und Netzwerke entstehen, die wiederum das Handeln systematisieren. Durch die Fähigkeit, Sequenzen und Gruppen zu bilden, Reihenfolgen zu planen, entstehen Techniken, Werkzeuge und Abstraktionen. Der Bereich der textilen Omnipräsenz wird verlassen und einem Kreativitätsdrang wird nachgegangen, der Befriedigung findet in den Leerstellen der Technik und ihrer Hilfsmittel – in dem Erfinden eines Endlosfadens. Ein Exteriorisierungsprozess der Hand und somit auch des Textilen setzt ein. Das Textile, die Hand und der Körper in ihrer Allgegenwärtigkeit werden unbedeutend. Die Bereiche Omnipräsenz und Exteriorisierung entfernen sich mit zunehmender technischer und kultureller Entwicklung – eine Schere zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung tut sich auf.

Die textile Hand | 141

Trotzdem scheint die Omnipräsenz des Textilen und der Hand im Zuge kindlicher Entwicklung weiterhin grundlegend zu sein. Vor dem Hintergrund der Errungenschaften einer exteriorisierten Hand verblasst allerdings die Bedeutung des weichen, umhüllenden, schützenden, nahen Textilen. Wie kann das sowieso schon unsichtbare Textile mit einem Tablet konkurrieren? Im Bild von Linus, der sich liebevoll in seine Schmusedecke kuschelt, ist vielleicht eine Lösung erkennbar. Ein Tablet als Schmusedecke ist noch nicht vorstellbar! Ebenso lernt Linus die Grundlagen für ein Verständnis von sich selbst und seiner Umwelt in der Korrespondenz mit dem omnipräsent Textilen. Unter anderem aufgrund dieser Lernprozesse ist er irgendwann vielleicht in der Lage, das Tablet ‚richtig‘ zu verstehen, anstatt unkontrolliert darauf ‚herumzupatschen‘, oder er wird in der Lage sein, den Endlosfaden weiterzuentwickeln.

4

Die textile Schere

Auf und zu, nah und fern, gespannt und entspannt, geöffnet und geschlossen, angezogen und geweitet etc. – im Handhaben, Benutzen, in der Eigenart und Beschaffenheit einer Schere liegt eine metaphorische Bedeutung, mit der im Folgenden das textile Spannungsfeld (Abbildung 3) und das Verhältnis der Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung zueinander zusammenfassend dargestellt werden. Die Schere stellt im Grunde ein Paar dar. Sie besteht aus zwei nahezu gleichen, aber spiegelverkehrt angefertigten Teilen, die meistens durch eine kleine Schraube zusammengehalten werden. Überdies ermöglicht die Schraube das Funktionieren der Schere, das Öffnen und Schließen. Rogers (1986) zitiert aus Charles Dickens Roman Martin Chuzzlewit, um die metaphorische Bedeutung der Schere zu verdeutlichen: „‚Getrennt sind wir nur zwei Hälften einer Schere [...], aber gemeinsam sind wir leistungsfähig.‘“ (Dickens zit. in Rogers, 1986, S. 115) Die Schere steht also sowohl für Trennung als auch für einen Zusammenhang, eine Verbindung. So sind auch die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung im textilen Spannungsfeld getrennt und in ihrer Verbindung bzw. Korrespondenz zu betrachten. Neben vielen anderen Lebens- und Tätigkeitsbereichen, in denen die Schere eine Verwendung findet, ist sie essentiell als Werkzeug und Hilfsmittel bei textilen Aktivitäten bzw. textiler Handarbeit. Kleinere Stickscheren und größere Nähscheren werden eingesetzt in alltäglichen, technischen und künstlerischen textilen Schaffensprozessen. Egal ob beim Sticken, Stricken, Häkeln oder Nähen, wird ein textiler Arbeitsprozess beendet oder neu angesetzt, z.B. beim Wechseln des Garns, schneidet die Schere den Faden ab. Auch die Bearbeitung von Stoffbahnen bzw. der Herstellungsprozess von Kleidung findet nicht ohne die Schere bzw. die Tätigkeit des Schneidens22 statt. Muster und Stoffteile müssen zugeschnitten, die

22 Beim Zuschneiden der Stoffteile eines Kleidungsstücks werden vor allem in der industriellen Massenproduktion keine Scheren mehr verwendet, sondern effizientere Maschi-

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Fäden von Nähten abgeschnitten werden. Beim Herstellungsprozess von Kleidung ist die Schere maßgeblich an der Formgebung beteiligt. Abbildung 36: Kreativität im Öffnen und Schließen der textilen Schere

Die Schere als textiles Werkzeug ist ein gutes Beispiel für ein Phänomen des textilen Spannungsfeldes, dass in Kapitel 3.1.2 erläutert wird. Werden Arbeits- und Schaffensprozesse, d.h. auch kreative Prozesse begonnen, braucht das Weiche und Flexible das Harte, braucht das Textile die Schere. Die Kombination aus weich und hart, aus textilem, flexiblem Material und der Schere aus hartem Metall regt also Kreativität an. Das Textile befindet sich durch die Kombination und die Korrespondenz mit dem Harten in dem kreativen Wechselspiel von Schöpfung und Zerstörung (Holm-Hadulla, 2011). Die Schere zerstört das textile Material. Mit Hilfe einer textilen Technik wird es dann neu zusammengesetzt und eine neue nen, die mehrere Lagen Stoff gleichzeitig mit scharfen Messern oder auch Lasern zuschneiden. Auch im Rahmen dieser Entwicklung stößt ein textiles Werkzeug Exteriorisierung an. Nichtsdestotrotz bleibt der Arbeitsschritt des Schneidens erhalten (Eberle & (u.a.), 2013, S. 158).

Die textile Schere | 145

Form bzw. Schöpfung entsteht. Ist das Textile in seiner weichen, flexiblen, fragilen Materialität dem Bereich der Omnipräsenz zugeordnet und die Schere als ein nicht körpereigenes, aber körpererweiterndes, hartes Werkzeug dem Feld der Exteriorisierung, zieht sich in der Tätigkeit des Schneidens das textile Spannungsfeld zusammen, bedingt sich gegenseitig und bildet eine durch Kreativität, Schöpfung und Zerstörung geprägte Einheit. Im Schließen der textilen Schere – die Schere und ihre Funktion jetzt metaphorisch verwendet – also im Zusammenführen von Omnipräsenz und Exteriorisierung entsteht kreative Spannung und entstehen kreative Weiterentwicklungen. Diese Spannung sorgt dafür, dass sich die textile Schere wieder öffnet und vor allem der Bereich der Exteriorisierung, der Auslagerung ständig vorangetrieben wird (Abbildung 36). In dem hier aufgeführten einfachen Beispiel des Zerschneidens und Zusammenfügens eines Stoffes ist die Bedeutung der kreativen Verbindung zwischen Omnipräsenz und Exteriorisierung noch gut nachvollziehbar. Viele Entwicklungen sind aus der Perspektive einer Exteriorisierung mittlerweile aber so weit fortgeschritten bzw. entfernt, dass eine Verbindung zu/eine Korrespondenz mit der textilen Omnipräsenz für die Allgemeinheit nicht ersichtlich scheint. Der Eindruck entsteht, die textile Schere öffne sich immer weiter und die Pole Omnipräsenz und Exteriorisierung entfernen sich beständig voneinander. Eine sich immer weiter öffnende Schere dient folgend also als bildlicher Vergleich für das Auseinandergleiten von Omnipräsenz und Exteriorisierung.

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