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German Pages 250 Year 2015
Ulrich Richtmeyer Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie
2009-01-26 10-13-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4200863312712|(S.
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Ulrich Richtmeyer, gelernter Werkzeugmacher, diplomierter Künstler, promovierter Philosoph, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam.
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Ulrich Richtmeyer
Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie Analysen zwischen Sprache und Bild
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Ulrich Richtmeyer Satz: Ulrich Richtmeyer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1079-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
1.
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
2.5 2.6 2.7
3. 3.1 3.2 3.3 3.4
Einleitung und Ausblick – Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie
Ästhetik in der Soziologie der Photographie (Bourdieu, Flusser, Kant und Barthes) Zwei Modelle für das Verhältnis zur Photographie bei Bourdieu Die photographischen Ästheten und die Negation Flussers Photographen – Emanzipation statt Negation Die produktionstheoretische Auffassung des Ästhetischen – systematische Defizite, medienspezifische Einwände und ihre Konsequenzen Kommentierte Bildbeispiele Kants Ästhetik und die Soziologisierung der photographischen Rezeption Zwei Relationen in der frühen Phototheorie Roland Barthes’
Ästhetik zwischen Bild- und Rezeptionstheorie (Panofsky, Barthes, Bourdieu) Erwin Panofskys Reflexionen zur kunsthistorischen Methode Panofskys Differenzierungen in der frühen Phototheorie Roland Barthes’ Bourdieus Panofsky-Rezeption und die kunsthistorischen Prämissen der Kultursoziologie Der Begriff des ästhetischen Urteils am photographischen Beispiel Bourdieus
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19 22 29 36
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81 83 91 101 112
4. Kants Konzeption reiner Geschmacksurteile 4.1 Gegenstandsbereich und Merkmale ästhetischer Urteile bei Kant 4.2 Der subjektive Allgemeingültigkeitsanspruch des Geschmacksurteils 4.3 Reine Geschmacksurteile als öffentliche Gefallenskundgaben
133 145
5. 5.1 5.2 5.3
Punctum und reines Geschmacksurteil Thema und Methode von Barthes’ später Phototheorie Die Dichotomie der photographischen Rezeption Die Merkmale des reinen Geschmacksurteils am punctum
155 157 164 177
6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Das punctum zwischen Artikulation und Öffentlichkeit Die Artikulation des punctum Das punctum in der sozialen Isolation Das punctum in der publizistischen Öffentlichkeit Öffentlichkeitstheoretischer Exkurs: Habermas Das punctum im Gespräch Kommunikationstheoretischer Exkurs: Luhmann
185 187 194 199 204 207 215
7.
Das ästhetische Urteil in der photographischen Kultur
219
119 121
Siglenverzeichnis
238
Literaturverzeichnis
240
Abbildungsnachweise
246
Danksagung
247
»Denk dir, jemand reagierte auf so ein Bild mit einer Handbewegung und dem Ausrufe ›Hui!‹. Sagt das nicht ungefähr dasselbe wie: er sähe das Pferd laufen? Er könnte auch ausrufen ›Es läuft!‹ und das wäre nicht die Feststellung, es laufe, noch die, es scheine zu laufen. So wie man sagt: ›Sieh, wie er läuft!‹ – nicht um den Andern eine Mitteilung zu machen, sondern es ist eine Reaktion, in der sich die Leute finden.« [Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie 1: § 874]
1. Einleitung und Ausblick – Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie
Im akademischen Kontext gilt Ästhetik gemeinhin als eine spezialisierte, manchmal auch philosophische Theorie der Kunst, ihrer Reflexion und Erfahrung. An diesem Verständnis orientiert sich noch das zusammengesetzte Substantiv, da es in Verbindung mit künstlerischen Gattungen, etwa Musik- und Architekturästhetik, oder in Verbindung mit Disziplinen, die auf den künstlerischen Gattungsbegriff Anspruch erheben, etwa Film- und Medienästhetik, ebenfalls eine Theorie elaborierter kultureller Artefakte bezeichnet. Ganz anders wird der vieldeutige Begriff im nichtakademischen Alltag gebraucht, wo er häufig mit einer sprachlichen Ergänzung auftritt und dann als Ästhetik des, der oder von (z.B. die Ästhetik des Reisens, die der Azteken oder die von Wintergärten) stilistische Repertoires bestimmter Lebens- bis Konsumbereiche sowie die geschmacklichen Vorlieben historischer Epochen, einzelner Personen oder Gruppen tituliert. Als akademische Disziplin bezeichnet der Begriff jeweils eine Theorie, während er im geschmackskundigen Alltag direkt die stilistischen Eigenheiten ausgewählter Gegenstände und Handlungen etikettiert und selbst hierbei noch an den statuarischen Qualitäten der Kunst teilhat. Dass beide Verwendungsweisen in dieser Arbeit nicht thematisch werden, auch wenn sie in abgrenzenden Differenzierungen unvermeidlich zur Sprache kommen müssen, sei mit dem namentlichen Bezug auf Kant ausgedrückt. Bei Kant steht der Begriff Ästhetik zunächst für die Analyse und Begründung einer rezeptiven und philosophisch eigenständigen Perspektive auf die Welt, die anhand eines adäquaten Urteilsbegriffs formuliert werden sollte. Seine Analyse weist keine Kunstspezifik auf und wenn wir eine solche von ihr erwarten, dann nur deshalb, weil wir sie durch die historisch wirkmächtige Brille der Hegelschen Ästhetik sehen (die für den Primat der Kunst in der Ästhetik bis auf den heutigen Tag verantwortlich zeichnet). Trotz fehlender 9
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Ausrichtung auf spezifische Artefakte vertritt Kant damit aber keineswegs die Offenheit einer philosophischen Wahrnehmungstheorie, weshalb die monothematische Perspektive seines Vorhabens auch nicht mit dem Projekt der Aisthesis verwechselt werden darf. Obwohl Kants Ästhetik abweichend von den heute gebräuchlichen Begriffsverwendungen also weder auf Kunst noch auf andere Gegenstandsbereiche spezialisiert ist, kann die von ihr konzipierte ästhetische Rezeption doch gleichwohl anhand spezifischer Gegenstände diskutiert und überprüft werden. Das wird in dieser Arbeit geschehen, insofern sie der leitenden Frage nachgeht, was ästhetische Urteilsverhältnisse in der photographischen Kultur sein könnten oder – konkreter – wodurch eine ästhetische Bezugnahme auf photographische Bilder charakterisiert ist und zur Beantwortung dieser Frage dann orientierend auf Kants Ästhetik zurückgreift. Der Bezug der Kantschen Urteilsanalyse auf den Gegenstandsbereich der Photographie macht sie nun keinesfalls zu einer Ästhetik der Photographie, weshalb präziser von ihrer Stellung im Zeitalter der Photographie gesprochen wird – aber auch diese stark verallgemeinernde Formulierung ist erklärungsbedürftig. Der Zeitalter-Begriff findet in der Kulturphilosophie zur Bezeichnung von Epochen Verwendung, die sich zumeist durch den prägenden Einfluss einer besonders dominanten Kulturtechnik charakterisieren lassen. So hatte jedenfalls Benjamins Kunstwerkaufsatz den Zeitalter-Begriff mit einer kulturellen Epoche verbunden, die durch die Reproduzierbarkeit des photographisch/ technischen Bildes starken Veränderungen und symptomatischen Entwicklungen unterworfen ist.1 Entsprechend ist der Zeitalter-Begriff dann auch bei dem Kulturphilosophen Vilém Flusser als eine Epochenbezeichnung zu verstehen, die die Erfindung der Photographie als eine enorme kulturgeschichtliche Zäsur auffasst, in deren Folge die bislang dominante Kulturtechnik Schrift zunehmend durch technisch apparatische Bilder ersetzt werden würde. Am variantenreichen Spektrum seines Photographiebegriffs und der daraus resultierenden Streuung möchte ich mich in dieser Arbeit orientieren, zumal Flusser bereits den Übergang zur Digitalisierung photographischer Bilder antizipiert hat.2 1
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Da die Photographie Bilder technisch reproduziert, ist ihr Zeitalter das der technischen Reproduzierbarkeit. Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; F.a.M. 1963, S. 7-44 (zitiert als: ders. Kunst). Das phototheoretische Fundament des Aufsatzes findet sich in ders.: Kleine Geschichte der Photographie; ebd. S. 45-64 (zitiert als: ders. Photo). Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie; Göttingen (European Photography) 1999 (9. Aufl.), (zitiert als: ders. Photo) und ders.: Ins Universum der technischen Bilder; Göttingen 1999 (6. Aufl.), (zitiert als: ders. Bilder). Obwohl die traditionell verfahrende (Analog-)Photographie mit ihren Papierabzügen
1. EINLEITUNG UND AUSBLICK
Bei den sensibel auf aktuelle technische Entwicklungen reagierenden Kulturtheoretikern hat die Zeitalter-Formulierung immer einen vorwegnehmend proklamativen Zug, weshalb ihre hier angebotene Kombination mit dem längst historischen, geradezu altmodisch anmutenden, technischen Medium der Photographie ausgesprochen inaktuell erscheinen muss. Laut Datierung der Patentschrift wurde die Photographie im Jahre 1839 erfunden und hat seither umfangreiche Sammlungen, Archive, Museen, eine eigene Geschichtsschreibung sowie vor etlichen Jahren schon ein 150 jähriges Jubiläum hervorgebracht – ein neuerlich zäsurhaftes Wirken wird man ihr deshalb kaum zusprechen wollen.3 Gleichwohl impliziert der Zeitalter-Begriff noch einen zweiten Aspekt, der neben den qualitativen kulturellen Veränderungen, die in der Frühzeit eines technischen Mediums jeweils besonders deutlich auszumachen sind, ebenfalls die quantitativ wirksame Verbreitung umfasst. An die Stelle der attraktiven Einmaligkeit unter Verschluss gehaltener Daguerreotypien, die noch Fragen nach Kunstcharakter, Abbildungstreue und Wirklichkeitsgehalt artifizieller Bilder evozierten, ist die nunmehr unauffällige, aber hochgradig reproduktive Dominanz des photographischen Bildes getreten. An dieser Dominanz wirken wir durch unsere soziokulturellen Gebrauchsweisen der Bilder unbemerkt mit, und selbst noch eine starrsinnige Ignoranz, so sie denn überhaupt möglich wäre, nimmt unter der Allgegenwart der Photos den Charakter einer duldsamen Bestätigung an. Diese ausnahmslose Beteiligung an der ReProduktion der Bilder bestärkt die Auffassung, dass der kulturtheoretisch antizipierte Zeitalter-Begriff eigentlich erst in diesen Tagen zu seiner trivialen Angemessenheit gelangt.4
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auch Flusser nur als Vorläufer technisch/ apparatischer Bilder dient, befinden wir uns weiterhin im Zeitalter der Photographie, insofern diese »allgegenwärtig« ist: »in Alben, Zeitschriften, Büchern, Vitrinen, auf Plakaten, Einkaufstüten, Konservenbüchsen.« [Flusser Photo 38] Zu dieser dominanten Präsenz im Alltag zählt mittlerweile auch die Bildschirmwiedergabe photographisch aufgenommener Bilder bzw. ihre Wiedergabe am Kameradisplay selbst. Das mindert freilich nicht das anhaltend philosophische Interesse an der Klärung offener Detailfragen. Hierzu etwa Lambert Wiesing: Was könnte »abstrakte Fotografie« sein?; in ders.: Artifizielle Präsenz; F.a.M. 2005, S. 81-99 oder Gernot Böhme: Das Bild der Dämmerung und ders.: Ist ein Foto realistisch?; beide in ders.: Theorie des Bildes; München 2004 (2. Aufl.), S. 95-129. Nach Auskunft der deutschen Photoindustrie hat im Jahre 2003 und vor allem 2004 die Anzahl durchschnittlich belichteter und abgezogener Photographien in Deutschland jeweils einen Höchststand erreicht, der den aus der Hochzeit der Analogphotographie um etwa das doppelte übertrifft (pro Amateurphotograph sind dies ca. 450 abgezogene Motive jährlich). Jenseits von Bildschirmpräsenta11
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Nachdem die Verallgemeinerungen des Titels auf ihren für die folgende Untersuchung richtungweisenden Gehalt eingegrenzt wurden, sei nun von den maßgeblichen Theorien die Rede, anhand derer ich mein Thema entwickeln möchte. Abgesehen von seiner Wortwahl eignet dem Titel auch eine Doppeldeutigkeit, die darin besteht, dass der Ästhetik Kants sowohl eine namengebende als auch eine leitende Rolle in der hier zu führenden Untersuchung zukommt. Namengebend, weil sie sich zunächst nur dem Namen nach im Kontext der Photosoziologie Pierre Bourdieus wiederfindet und die dort negativ beantwortete Frage ihrer Aktualität für die photographische Empirie kritisch überprüft werden soll.5 Andererseits ist sie auch deshalb namengebend, weil das unter ihrem Namen formulierbare Thema, wie ich meine, in Roland Barthes’ später Phototheorie unbemerkt variiert wird und in diesem Zusammenhang ebenfalls prüfend diskutiert werden soll.6 Unter dem namengebenden Aspekt referiere ich also zwei vorgefundene »Aktualisierungen« der Kantschen Ästhetik im Zeitalter der Photographie.7
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tionen, Werbe- und Pressephotographie werden »für das Jahr 2005 [...] in Deutschland deutlich mehr als 5 Milliarden Colorpapierbilder erwartet, davon weit mehr als ein Drittel aus digitalen Datensätzen [...]« [Photoindustrie Verband e.V. im Dezember 2005], während sich der Absatz von Digitalkameras Jahr um Jahr ebenfalls in neue Superlative steigert. Zur allgemeinen Ausstattung deutscher Haushalte mit Photoapparaten vgl. auch: Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 2004; Bonn 2004 (zweite, aktualisierte Ausg.), S. 134 ff. Pierre Bourdieu (Hg.): Un Art Moyen (1965), zu dt. ders.: Eine illegitime Kunst. Hierin bes. die Bourdieu-Artikel: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede sowie Die gesellschaftliche Definition der Photographie (bibliographische Angaben und Zitationsschlüssel finden sich in den folgenden Kapiteln). Die Kant betreffenden Ergebnisse dieser frühen Arbeiten zur Photographie wiederholt Bourdieu dann, teilweise wortwörtlich in: Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979). Bes. Roland Barthes: Die Helle Kammer (La chambre claire, 1980) aber auch ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (L`obvie et l`obtus, 1970). Im Gegensatz zu Rüdiger Bubners: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik (1973) oder bereits J.-F. Lyotards: Essays zu einer affirmativen Ästhetik (1979) werden diese Aktualisierungen Kants bei Bourdieu und Barthes gerade nicht programmatisch vertreten. Im Gegensatz zu den Autoren einer Anthologie zur Aktualität von Kants Ästhetik (vgl.: U. Franke (Hg.): Studien zur Aktualität von Kants Kritik der Urteilskraft; Hamburg 2000), wird bei den beiden Franzosen statt von theorieimmanenten Fragestellungen zu Kant von der kulturellen Empirie, statt vom kunsttheoretischen Bezugsrahmen von der Photographie ausgegangen.
1. EINLEITUNG UND AUSBLICK
Leitend ist Kants Ästhetik dann wiederum, weil ihr zwischen den Differenzen und Antagonismen der phototheoretischen Texte beider Autoren eine deutlich orientierende Funktion zugestanden werden kann, so dass der Begriff eines ästhetischen Urteils zu photographischen Bildern zwar anhand der erwähnten Theorien, aber doch auf der Grundlage von Kants Überlegungen entwickelt werden soll.8 Unter Kants Ästhetik verstehe ich hierbei wesentlich die rezeptionstheoretische Konzeption des ästhetischen Urteils, wie sie besonders in der »Analytik des Schönen« der Kritik der Urteilskraft ansichtig wird.9 Dazu gehören zweifelsohne die vier expliziten Merkmale ästhetischen Urteilens mit der zentralen Stellung des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs sowie eine Reihe impliziter Merkmale, die nicht weniger aussagekräftig für den ästhetischen Urteilsbegriff sind. Auf die photographische Kultur bezogen stellt Kants Konzeption zunächst eine rezeptionstheoretische Ästhetik ohne künstlerisch spezialisierten Gegenstandsbereich dar, die die Merkmale der ästhetischen Perspektive beschreibt, ihre inhaltliche Dimension ermittelt und sie von einem geschmackspräferentiellen Ästhetikbegriff mit hinreichender Klarheit differenziert. Besonders Kants grundsätzliche Unterscheidung zwischen angewandten und reinen Geschmacksurteilen, die auf der Seite der letzteren selbstverständlich noch zu detaillieren wäre, lässt sich, wie ich meine, systematisch erhellend auf die phototheoretische Auseinandersetzung übertragen. Zu welchen Resultaten diese Übertragung gelangt, möchte ich nun in einem knappen Ausblick auf die Durchführung meiner Arbeit erläutern. Bourdieu, der meines Wissens der erste Theoretiker war, der die photosoziologische Empirie mit Kants Ästhetik zu kontrastieren versucht hat, vertritt die Ansicht, dass ihr eine anleitende Qualität für die Reflexion der photographischen Moderne gerade nicht zukommt. Ein ästhetisches Verhältnis zur Photographie gilt ihm unter den Bedingungen ausdifferenzierter Gesellschaften als unwahrscheinlich bis marginal, da die mehrheitlich übliche Photorezeption aus sozial mittelbaren, präferentiell determinierten Bezugnahmen auf photographische Bilder zu bestehen scheint. Neben diesem präferentiellen tritt ein ästhetischer Bezug demnach allenfalls in Form ästhetizistischer Ansprüche 8
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Die (vorgefundene) Assoziation zwischen Bourdieu und Barthes stellt für mein Vorhaben einen erfreulichen Glücksfall dar, da somit die für systematische Überlegungen hilfreich kontroversen Positionen in einem thematisch eingegrenzten Kontext vorliegen, zugleich aber auch in einem kulturell (im Vergleich zum Kunstsystem) sehr viel offeneren Gegenstandsbereich argumentiert wird – was, wie ich meine, wiederum der Kantschen Ästhetik entspricht. Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft wird als KdU und unter Angabe der Seitenzahl der zweiten Ausgabe (B) zitiert. 13
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
auf, die durch ihre Anleihen beim Kunstsystem und dessen symbolisch wirkmächtiger Position in modernen Gesellschaften selbst wiederum nur als sozial mittelbare Verhältnisse zur Photographie interpretiert werden können. An Bourdieus photosoziologisch betriebener Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik zeigt sich jedoch, dass zwischen marginalisiert ästhetischer und statistisch signifikanter Photorezeption eine Reihe theoretischer Defizite auftreten, die eben doch ein genuin ästhetisches Urteil zur Photographie wahrscheinlich machen. So lag es nahe, diesen Urteilsbegriff vor dem Hintergrund der bereits soziologisch analysierten Trivialphotographie nun auch versuchsweise positiv zu entwickeln. Der nunmehr anerkennend betriebene Rückbezug auf Kant trägt eine solche Untersuchung in dreierlei Hinsicht. Erstens ermöglicht er, ästhetische Themen jenseits der Kunst zu diskutieren, womit nicht der Ausschluss von Kunst (oder in diesem Fall: künstlerischen Photographien), sondern nur der Ausschluss der Einschränkung einer ästhetischen Untersuchung auf Kunst gemeint ist. Da Kants Ästhetik einen offenen Gegenstandsbereich aufweist, eignet sie sich also grundsätzlich auch dazu, auf die Photographie als einem für die trivialen Aspekte der kulturellen Moderne exemplarischen Gegenstandsbereich bezogen zu werden. (Bourdieus ursprünglich polemisch inspirierte Konfrontation war in dieser Hinsicht überhaupt nicht abwegig). Zweitens hat Kants Ästhetik den Begriff des ästhetischen Urteils und damit den der ästhetischen Rezeption sehr genau und unterscheidbar darzustellen versucht. (Kant spricht sogar davon, seine reinen Geschmacksurteile von weiteren ästhetischen Urteilen differenzieren zu wollen [KdU 126]). So eignet sie sich ebenso grundsätzlich für die vergleichende Überprüfung anderer Entwürfe einer ästhetischen Photorezeption – insbesondere dann, wenn diese ebenfalls auf Disjunktionen des Urteilsbegriffs basieren. Entsprechend hatte etwa Roland Barthes wenige Jahre vor Bourdieu in zwei wirkungsvollen Artikeln zur Photographie beschrieben, wie eine solchermaßen von der Mehrheitspraxis abweichende Photorezeption immerhin hypothetisch vertretbar sei.10 Für ihre Darstellung greift Barthes, wie ich meine, unerwähnt auf zwei Panofsky-Texte zurück (auf die sich ebenfalls Bourdieu für die Entwicklung seiner späteren Auffassung des Ästhetischen in der Kultur beruft).11 Barthes 10 Roland Barthes: Die Fotografie als Botschaft (1961) und die Rhetorik des Bildes (1964). 11 Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932) sowie Ikonologie und Ikonographie. Bourdieus Anknüpfung findet sich in den Artikeln: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis (1967) und Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung (1968) und weniger explizit noch in: Die feinen Unterschiede (s.o.). 14
1. EINLEITUNG UND AUSBLICK
geht zunächst davon aus, dass er seinen »unüblichen« Modus einer Photorezeption auf bild- und medientheoretische Annahmen stützen kann. Dies ändert sich jedoch spätestens in der Phototheorie seines letzten Buches, der Hellen Kammer, insofern er sein Thema dort stärker rezeptionstheoretisch erörtert und es in einer zweistelligen Urteilskonzeption lokalisiert, deren eine Seite (das studium) offensichtlich Bourdieus soziologisch dokumentierter Mehrheitspraxis entspricht. Der zweite Grund einer Rückbesinnung auf Kants Konzeption ästhetischer Urteile geht somit über die Prüfung ihrer Angemessenheit für eine photographische Trivialkultur hinaus, da er seine produktive Qualität nun auch darin findet, dass er hilft, die Tragweite von Barthes’ Analyse der Photorezeption zu ermitteln. Dabei zeigt sich, dass Kants reine Geschmacksurteile und Barthes’ hierfür formulierter Begriff des punctum auf ähnliche Weise von der mehrheitlich geläufigen Rezeptionsform differenziert werden. Sie haben einen vergleichbaren Urteilsinhalt, der in einem absichtslosen Aufmerken auf das Nicht-Intendierte ästhetisch relevanter Objekte besteht, insofern dieses im Modus einer begriffslosen Lust wahrgenommen wird. Der Vergleich zeigt sogar, dass das Verhältnis beider Rezeptionsbegriffe zur Sprache ähnlich beschrieben werden kann – nimmt man etwa Barthes’ Panofsky-Kenntnis als leitenden Einfluss an, dann gewinnt nicht nur die worthafte Sprachlosigkeit des punctum ein verständlicheres Profil, sondern es lässt sich ebenfalls das Kantsche Paradox erläutern, wonach reine Geschmacksurteile ihren Gegenstand notwendig begriffslos wertschätzen und zugleich artikulierte Sätze zu sein scheinen. Diese zweite Qualität einer Rückbesinnung auf Kants Ästhetik, die darin besteht, im Vergleich zwischen reinem Geschmacksurteil und punctum Urteilsbegriff, Urteilsinhalt und die Unterscheidbarkeit einer ästhetischen Rezeption von Photographien gegenüber einer präferentiellen zu konzipieren, wird jedoch maßgeblich von einer weiteren, dritten Qualität dieser Rückbesinnung komplettiert. Denn Kants Geschmacksurteile sind, wie ich meine, Urteile, die zwar einem vermögenspsychologischen Urteilsbegriff folgen, aber doch notwendig artikuliert werden müssen. Diese Eigenschaft sehe ich mit Kants leitendem Urteilsmerkmal, dem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch, ausgedrückt. Erst mit und durch ihre Artikulation erheben reine Geschmacksurteile Anspruch auf allgemeine Zustimmung – womit sie jedoch auch einen öffentlich prekären Status aufweisen, den Kant dann transzendentalphilosophisch zu lösen, das heißt begründend zu sichern versucht hat. Jenseits einer solchen Begründung ästhetischer Urteile ist der subjektive Allgemeingültigkeitsanspruch durchaus auch bei Kant als ein empirisches Urteilsmerkmal zu verstehen, das uns die »Erfahrung lehrt« [KdU 22], und warum dies so ist, lässt sich, wie ich meine, am Urteilsinhalt und an der 15
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
sprachlichen Erscheinungsweise ästhetischer Urteile ablesen, wie sie bereits durch die Konzeption formuliert werden: Kant stellt sie uns vor als Urteile, die begriffslos auf lustvoll erlebte Objekte verweisen, dabei aber weder Personalpronomen einbeziehen noch evaluierende Prädikate oder kriteriell gesicherte Begriffe verwenden – weshalb das typologisierte Prädikat schön in reinen Geschmacksurteilen auch kaum als Dokument des wortwörtlichen Sprachgebrauchs ästhetischer Urteile verstanden werden kann. Was notwendig als sprachlich unvermeidliches Urteilselement verbleibt, ist das Deiktikon: dieses, während die Benennung eines Gegenstandes (üblicherweise als X formalisiert) konzeptuell ebenfalls sehr fragwürdig ist. Auch angesichts der Tatsache, dass sich mit reinen Geschmacksurteilen nicht kommunizieren lässt (vgl. Kulenkampff 95) und sie ebenfalls nicht als ästhetische Argumente gelten können (vgl. Seel Entzweiung), ergibt sich die konsequente Lesart, dass sie trotz konzeptuell differenzierbarem Urteilsinhalt sprachlich eigentlich als deiktische Interjektionen aufzufassen sind. Diese Lesart, die in einer knapp vorausgreifenden Einleitung unvermeidlich radikal anmuten mag, findet sich doch immerhin explizit durch Barthes’ späte Phototheorie bestätigt. Denn Barthes stellt uns das dem reinen Geschmacksurteil ähnliche ästhetische Urteil zur Photographie (das punctum) als einen bloß »bezeichnenden nicht beschreibenden« Ruf dar, dessen charakteristisches Merkmal eben diese deiktische Funktion ist. Nach Kant ist das ästhetische Urteil eine öffentliche Artikulation mit prekärem Status, und auf diesen Umstand reagiert Barthes nun aber gänzlich anders als Kant. Denn während Kant über die philosophische Begründung des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs dem geltungstheoretisch unsicheren und doch zugleich anspruchshaft artikulierten Geschmacksurteil zu größerem Selbstverständnis verhilft, beschneidet Barthes die Urteilssituation von photographischen Bildern so weit, bis der prekäre Status der artikulierten Urteile durch ihre soziale Isolation kompensiert ist. Dieser Rückzug ins Private widerspricht allerdings auch bei Barthes der ursprünglichen Urteilskonzeption, die subjektiv arbiträre und sich absichtslos einstellende ästhetische Urteile überall dort für möglich erklärt hatte, wo Photographien betrachtet werden können. In diesem tendenziell öffentlichen Gegenstandsbereich, den für die 80er Jahre deutlich schon Vilém Flusser umrissen hat und der zuletzt durch die Digitalphotographie und ihre technische Simplifizierung enorm expandierte, ist eine prophylaktisch betriebene soziale Isolation unmöglich. Dass Barthes diesen Rückzug empfiehlt, spricht vielmehr umgekehrt dafür, dass er das öffentlichkeitstheoretische Problem einer ästhetischen Rezeption der Photographie (an-)erkennt. Die dritte Qualität eines Rückbezugs auf Kant besteht nun also darin, das Thema und die Probleme einer öffentlich artikulierten ästhetischen Photorezeption auch an Barthes’ Urteilsbegriff zu erörtern. Wenn wir mit Kant davon 16
1. EINLEITUNG UND AUSBLICK
ausgehen, dass der subjektive Allgemeingültigkeitsanspruch, das Ansinnen allgemeinen Zuspruchs, eine Eigenschaft jener interjektiven und deiktischen ästhetischen Urteile ist, die uns die »Erfahrung lehrt«, müssen wir auch Barthes’ analogen Urteilsbegriff auf eine entsprechende Eignung hin befragen. Und tatsächlich hat Barthes seinem punctum, wie sich dabei zeigt, nicht nur einen den reinen Geschmacksurteilen vergleichbaren artikulativen Charakter zugeschrieben, sondern in den vorbereitenden Texten zur Hellen Kammer ebenfalls die ästhetische Photorezeption unter den Bedingungen ihrer öffentlichen Zugänglichkeit reflektiert – wobei ihr eine interlokutionäre Funktion zukommt. Dass mehrere Betrachter vor einem Bild – veranlasst durch ein ästhetisches Urteil – über dieses, seine Wirkung und Wertung zu sprechen beginnen, verleiht dem Urteil eine »Eröffnungsfunktion«, wie sie bereits für Kants reine Geschmacksurteile charakteristisch ist. Mit der vorliegenden Studie zur Möglichkeit ästhetischer Urteile zu photographischen Bildern unter den Bedingungen des Zeitalters der Photographie möchte ich zeigen, dass wir den kunstunspezifischen Ästhetikbegriff Kants für das Verständnis der photographischen Kultur gerade wegen seines offenen Gegenstandsbereiches produktiv machen können, und andererseits möchte ich ausführen, worin genau diese produktiven Qualitäten bestehen. Jenseits der Bourdieuschen Kritik an der Exklusivität ästhetischer Urteile zur Photographie können diese als zwar marginale zugleich jedoch auch selbstverständliche Bildbezüge erwiesen werden. Zwar lassen sie sich (konsequent im Sinne Kants und Barthes’) nur in der ununterscheidbaren Menge sprachloser Reaktionen lokalisieren, die angesichts der Flut photographisch/ technischer Bilder allerorts auftreten. Im Gegensatz zu diesen kann dem ästhetischen Urteil aber ein spezifischer Inhalt und ebenfalls eine ethische Dimension nachgewiesen werden – womit Kants grundsätzliche Unterscheidung zwischen angewandten und reinen Geschmacksurteilen nun im Kontext der photographischen Kultur und jenseits transzendentalphilosophischer Begründungen zu erneuern wäre. Gegenüber unserem routiniert versprachlichendem Bildgebrauch und seiner zielsicher reduktiven Interpretationen, die letztlich der Anwendung, Bestätigung und Wiederholung unserer Diskurse dienen, eröffnet das ästhetische Urteil Gespräche, indem es – selbst zwar prekär und unbegründet – mit seiner öffentlichen Artikulation zugleich Gesprächssituationen konstituiert. Thematischer Bezugspunkt hieran anknüpfender Gespräche ist die jeweils subjektiv als wirkungsvoll empfundene materielle Singularität der Bilder, die wir im Anschluss an Barthes als den photographischen Ort ästhetischer Wirkungen annehmen müssen. Ganz nach den üblichen Gesetzen der Aufmerksamkeitsbildung und doch diese grundsätzlich unterlaufend registriert das ästhetische Urteil das semantische Potential der Bilder jenseits ihrer diskursiv 17
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
erschlossenen Bildkomponenten. Durch seine Artikulation bringt es die Singularität der bildkonstitutiven Elemente zum Vortrag, indem es auf sie verweist und so statt um allgemeine Zustimmung um die intersubjektive Hinwendung an die Voraussetzungshaftigkeit des Bildes wirbt, wie sie im Modus einer ästhetischen Wirkung aktuell vom Urteilenden erlebt wird. Gespräche, die wir im Anschluss an solche artikulierten ästhetischen Urteile führen können, verlaufen daher immer in zweifacher Weise distanzierend zur photographischen Kultur. Einerseits setzen sie die Dominanz der stereotypisierten Bilder und ihrer konventionalisierten Gebrauchsweisen vorübergehend außer Kraft und machen sie damit als verhandelbare, historisch relative Konstruktionen transparent. Andererseits tritt die Subjektivität der Urteilenden deutlicher, verletzlicher und auch expressiver zutage als sie einer souveränen Anwendung diskursiver Deutungsregeln anzumerken wäre. So kann auf der Basis der Artikulation ästhetischer Urteile die faktische Divergenz der individuellen Positionen evident werden, von denen aus die photographische Kultur – ästhetisch oder nicht ästhetisch – jeweils erschlossen wird.12
12 Die vorliegende Arbeit folgt zwar einer thematisch einfachen Fragestellung, sie schlägt mit deren Beantwortung im Kontext der Schriften Bourdieus und Barthes’, mit ihrem Rückbezug auf Kant sowie der Kombination ästhetischer Theorie mit dem technischen Medium der Photographie eine schnell komplex werdende Argumentation ein. Eine ausführliche Berücksichtigung des Forschungsstandes der zu den einbezogenen Autoren vorliegt, war daher nicht möglich (insofern dieser schon im Falle Kants ein eigenes Universum füllen würde), obwohl auf Einzeluntersuchungen dankbar zurückgegriffen wurde (im Falle Barthes’ etwa auf die Intellektuelle Biographie von Ottmar Ette). Da umgekehrt zu der Kombination auch nur zweier der assoziierten Autoren kaum Literatur vorliegt, mussten die theoretisch brisanten Detailfragen durch Sekundärliteratur unterschiedlichster Disziplinen vertieft werden. Neben den schon genannten Autoren (Benjamin, Flusser und Panofsky) waren dies für die Differenzierung ästhetischer Urteile etwa Martin Seel, für Fragen zu Kants Ästhetik Jens Kulenkampff, Rüdiger Bubner und Gernot Böhme, und für die Ausleuchtung der ethischen Ambivalenz der Photographie Susan Sontag. Gleichwohl bringt der interdisziplinäre Aufbau meiner Untersuchung die latente Gefahr des Eklektizismus mit sich, der ich dadurch zu begegnen versuchte, dass ich Sekundärliteratur nicht pauschal, sondern vielmehr spärlich zitiere, nämlich nur überall dort, wo sie den Argumentationsverlauf direkt befördern kann. So bleibt dieser hoffentlich auf die Schlichtheit meines Themas fixiert, auf die Frage nach einem ästhetischen Verhältnis zu photographischen Bildern unter den Bedingungen der photographischen Kultur. 18
2. Ästhetik in der Soziologie der Photographie (Bourdieu, Flusser, Kant und Barthes)
»Die Beziehung zwischen technischem Bild und dem Menschen, der Verkehr zwischen beiden, ist daher das zentrale Problem einer jeden künftigen Kulturkritik, und alle übrigen Probleme sind von hier aus zu fassen.« [Flusser Bilder 57]
Im folgenden Kapitel soll ausgehend von den beiden frühen photosoziologischen Texten Pierre Bourdieus erörtert werden, wie sich Ästhetik in den trivialen Bereichen der technisierten Kultur lokalisieren und mit philosophischem Anspruch bestimmen lässt. Bourdieus Texte sind für dieses Thema gleich doppelt qualifiziert. Einerseits haben sie unter der fachwissenschaftlichen Bezeichnung Soziologie eine grundsätzliche und disziplinär offene Analyse der technisierten Trivialkultur versucht, die etwa mit der Programmatik der vorangestellten Bemerkung Vilém Flussers korrespondiert. Denn auch für die frühe Photosoziologie Pierre Bourdieus stellt die technische BildMensch-Relation das »zentrale Problem« im Sinne eines zentralen Themas einer jeden »künftigen Kulturkritik« dar. So begann bereits Bourdieu, »alle übrigen Probleme von hier aus zu fassen«, wenn er »ausgehend von der Photographie [...] zu einer allgemeinen ästhetischen Theorie gelangen«1 wollte,
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Pierre Bourdieu und Franz Schultheis: Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu; in: Schultheis, F.; Frisinghelli, Christine (Hg.): Pierre Bourdieu in Algerien, Zeugnisse der Entwurzelung; Graz (Edition Camera Austria) 2003, S. 44. 19
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
die eine allgemeine kritische Kultursoziologie moderner ausdifferenzierter Gesellschaften zu sein wünscht.2 Zum anderen eignet sich Bourdieus Photosoziologie für meinen Versuch über Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie, weil Bourdieu meines Wissens der erste Theoretiker war, der diese philosophiehistorische Position in den Kontext einer modernespezifischen und trivialkulturellen Praxis versetzt hat. Ästhetik – und besonders die Ästhetik Kants – stellt hier zwar, wie in Bourdieus späterer Kulturkritik insgesamt nicht das primäre Thema dar, sie nimmt aber doch eine herausragende und unverzichtbare Position ein, weil sie Bourdieu als Kontrastmittel zur Reflexion seiner soziologischen Thesen dient. Diskutiert man nun das Thema der Ästhetik entlang dieses Kontrasts, so gewinnt es eine erste unterscheidbare Kontur. Die »Beziehung zwischen dem technischen Bild und dem Menschen« stellt ja auf eine Verallgemeinerung ab, derzufolge alle nur denkbaren technischen Bild-Mensch-Relationen nach einem vielleicht nicht einheitlichen aber doch theoretisch generalisierbaren Muster verlaufen. Ob Flusser oder Bourdieu diese Ansicht vertreten, muss einer Prüfung ihrer Überlegungen im Detail überlassen werden. Tatsache ist jedoch, dass sie nicht nur auf der Grundlage eines solchen Einheitsmusters argumentieren, weil beide am systematischen Ort der Bild-Mensch-Relation eine dichotomische Differenzierung vornehmen, die zu folgendem Ergebnis führt: der mehrheitlich gebräuchlichen Bild-Mensch-Relation steht ein seltenes und antagonistisch konzipiertes Muster für den Verkehr zwischen Bild und Mensch gegenüber, das bei Bourdieu explizit als das ästhetische Verhältnis zwischen Mensch und Photographie verstanden wird. Das Thema des Ästhetischen differenziert den Begriff der Bild-Mensch-Relation somit grundlegend (Kap. 2.1). Dieses Thema umfasst jedoch mehrere, inhaltlich verschiedene Aspekte, denn es lässt sich grundsätzlich sowohl an produktiven als auch an rezeptiven Verhältnissen zum photographischen Bild diskutieren. Diese Unterscheidung kann auch in den beiden photosoziologischen Texten Bourdieus nachvollzogen werden, wobei der erste das Ästhetische an der Photographie am Beispiel photographischer Produzenten untersucht und zu dem Schluss kommt, dass für dieses qualitativ unterscheidbare Verhältnis zum Bild die gleichen soziologischen Muster gelten wie für das allgemein gebräuchliche – die qualitative Differenz zwischen ästhetischen und allgemeinen Beziehungen zum Bild wäre demnach nivelliert (Kap. 2.2). Diesen Ansatz werde ich mit thematisch verwandten Überlegungen aus der Photophilosophie Vilém Flussers konfrontieren (Kap. 2.3), um anschließend die Plausibilität einer nur produktionstheoretischen Auffassung des Ästhetischen zu prüfen (Kap. 2.4 u. 2.5). Bourdieus 2
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Zur Verallgemeinerbarkeit der französischen Situation vgl. das Vorwort zur deutschen Übersetzung der Feinen Unterschiede.
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zweiter Text gelangt unter Verweis auf Kants Ästhetik zu der Feststellung, dass ein rezeptives ästhetisches Verhältnis zum Bild marginal bis unwahrscheinlich ist, weil die mehrheitlich üblichen Rezeptionsformen in wesentlichen Aspekten gegensätzlich zum Kantschen Urteilsbegriff strukturiert sind (Kap. 2.6). Eine Folgerung, die nicht ganz überzeugt und deshalb vielmehr zur Diskussion der Gegenüberstellung auffordert. Das Feld des Ästhetischen ist damit aber noch nicht erschlossen, denn neben den rezeptiven und produktiven Verhältnissen umfasst das Thema des Ästhetischen ja auch die Position des photographischen Bildes selbst, so dass schließlich auch bild- und medientheoretische Aspekte in die Analyse einbezogen werden müssen (ausgeführt wird dies erst in Kap. 3). Hier werde ich zunächst nur auf zwei frühe phototheoretische Artikel von Roland Barthes zurückgreifen, die nicht nur zeitlich und thematisch für Bourdieus Photosoziologie relevant und einflussreich gewesen sind, vielmehr nehmen sie auch die zentralen Motive von Bourdieus Soziologisierung des Ästhetischen in ihrer bildtheoretisch geführten Erörterung vorweg (Kap. 2.7). Vor dem Hintergrund von Barthes’ Texten stellen sich daher Bourdieus soziologische Thesen zur Bild-Mensch-Relation als Reformulierungen grundsätzlicher Annahmen der photographischen Bildtheorie dar. Das rezeptive ästhetische Verhältnis zum Bild, für das Bourdieu nicht zu Unrecht Kants Ästhetik einsetzt, gewinnt durch Barthes’ Überlegungen somit einen bildtheoretischen Gegenstand hinzu, der nicht der Gegenstand der rezeptiven Mehrheitspraxis ist. Trotz Bourdieus empirischer Marginalisierung ästhetischer Urteilsformen, die auch durch Barthes unter Hinweis auf medientheoretische Effekte der Photographie bestätigt werden, skizzieren die Positionen beider Autoren nun einen systematischen Ort, der das ästhetische Verhältnis zwischen technischem Bild und Mensch betrifft und der durch die historische Position der Kantschen Ästhetik gewiss nicht angedacht aber doch vorweggenommen worden ist. So läuft die leitende Frage dieses Kapitels – nach einer Bestimmung des Ästhetischen im Kontext der Soziologie der Photographie auf den Umriss ästhetischer Verhältnisse in der (photographischen) Trivialkultur hinaus, wie er aus den Perspektiven soziologischer (Bourdieu), technik- und kulturphilosophischer (Flusser) sowie im Ansatz bild- und medientheoretischer (Barthes) Positionen erkennbar wird. Angestrebt wird mit diesem Umriss die ausstehende Analyse der ästhetischen Bild-Mensch-Relation in der Photographie und die Feststellung, welche kulturkritischen Probleme von ihr aus überhaupt zu fassen sind.
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2.1 Zwei Modelle für das Verhältnis zur Photographie bei Bourdieu Die zentrale These der beiden frühen photosoziologischen Texte Bourdieus besagt, dass jedes Verhältnis zwischen photographischem Bild und Mensch wesentlich durch eine notorische Berücksichtigung sozialer Unterscheidungen determiniert ist. Diese These, die spätestens in den Feinen Unterschieden dann auch auf alle weiteren kulturellen Artefakte bezogen werden wird, lautet in der Einleitung des Photobuchs noch: »Das Verhältnis der Individuen zur photographischen Praxis ist seinem Wesen nach ein mittelbares; es schließt den Widerschein des Verhältnisses der Angehörigen der übrigen Klassen zur Photographie und daher zur gesamten Struktur der Beziehungen zwischen den Klassen mit ein.« [Photo 20 f.]
Es ist demnach immer das Verhältnis der anderen Gesellschaftsteilnehmer zur Photographie, das in die jeweils eigene Haltung einfließt und die Erwartungen gegenüber ihrer Praxis sowie die Bewertungen ihrer Produkte bestimmt. Beansprucht wird eine Geltung dieser Mittelbarkeitsthese zunächst für die »photographische Praxis« insgesamt, wozu außer den produzierenden und konsumierenden Bezügen zu photographischen Bildern ebenfalls noch Beurteilungen des Gebrauchs der photographischen Technik und Wertschätzungen des technischen Mediums anhand seines kulturellen Status zählen.3 Da das ästhetische Verhältnis zur Photographie, dessen theoretische Abhängigkeit von soziologischen Erklärungen hier untersucht werden soll, auch von Bourdieu nur in den produktiven und rezeptiven Haltungen zu photographischen Bildern registriert wird, werde ich mich vorrangig auf diese beiden Bereiche der »photographischen Praxis« konzentrieren. Der beschriebene »Widerschein« wäre offensichtlich auf nahezu unüberschaubare Weise komplex und facettenreich, würden nicht jeweils die »Angehörigen der übrigen Klassen« schon als Angehörige von Klassen gelten und ihre Verhältnisse zur Photographie somit in übersichtliche soziologische
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»Dieselben Gründe, die die gebildeten Klassen von der Photographie abhalten, veranlassen bisweilen Angehörige der Mittelklassen, sie als einen zugänglichen Ersatz für sanktionierte Tätigkeiten zu interpretieren, die ihnen verwehrt bleiben.« [Kult 83 f.] Oder in Vorwegnahme von Bourdieus theoretischen Absichten: »Als Beweis dafür, dass die der Photographie verliehene Bedeutung im wesentlichen relativ und oppositionell ist, kann die photographische Praxis, die die Angehörigen der Oberschicht vor allem in Paris und Umgebung in der Regel als vulgär ablehnen, weil sie so verbreitet ist, in anderem gesellschaftlichen Kontext als Unterscheidungsmerkmal verwendet werden.« [Kult 303]
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Gruppierungen integriert sein. Diese Klassenabhängigkeit der widerscheinenden Verhältnisse kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich dem Zitat zufolge eben nur die Verhältnisse der »übrigen« Klassen in den individuellen spiegeln, nicht jedoch solche, die der eigenen sozialen Klasse gleichen und über die man in der abstrakten Position eines Klassenangehörigen bereits vollständig zu verfügen scheint. So ist es nicht etwa ein besonders überzeugendes Verhältnis einer Einzelperson zur Photographie, das laut Bourdieu dann in den widerspiegelnden Berücksichtigung fände, vielmehr spiegelt sich immer schon die »gesamte Struktur der Beziehungen zwischen den Klassen« der These zufolge in jedem dieser Verhältnisse wider, weil sie selbst bereits nach Klassen sortiert sind. Und so schränkt sich Bourdieus These aus der Einleitung des Photobuches schließlich auf diese Form einer soziologisch/ präferentiellen Mittelbarkeit ein: es sind demnach immer die nach soziologischen Klassenbegriffen generalisierbaren Wertschätzungen und damit geschmackliche Präferenzen, die in den Verhältnissen der Individuen zur Photographie unvermeidlich Berücksichtigung finden. Das zugehörige theoretische Modell werde ich als präferentielles Modell bezeichnen. Indem Bourdieu nun dieses präferentielle Modell auf »das Verhältnis« zur Photographie bezieht, beansprucht er die Geltung seiner Mittelbarkeitsthese prinzipiell für jedes und alle Verhältnisse, unabhängig davon, ob an ihnen weiterführende, qualitative Differenzierungen vorgenommen werden können. Das präferentielle Modell erhebt daher für die soziologische Analyse der photographischen Praxis einen Vollständigkeitsanspruch und erklärt sich zugleich als systematisch unabhängig. Aus der Interpretation empirischer Gebrauchsweisen des technischen Mediums leitet Bourdieu nun aber auch eine qualitative Bestimmung ästhetischer Verhältnisse zur Photographie ab. Es zeigt sich nämlich, dass unter den soziologisch generalisierbaren Präferenzen verschiedenster Klassen und Gruppen mehrheitlich ein Verhältnis zur Photographie Vorrang hat, das in einer Aufmerksamkeit auf die Photographie besteht, welche primär nur dem photographischen Referenten gilt, nicht jedoch den Bildeigenschaften selbst Bedeutung beimisst. Es kommt demnach mehrheitlich zu einer Hinwendung an das »Objekt des Bildes« (den photographischen Referenten, das Motiv) statt an das »Bild des Objekts«, worunter man die Medialität, Materialität und Piktoralität des photographischen Bedeutens verstehen kann.4 4
In der Reformulierung der Feinen Unterschiede: »Es versteht sich fast von selbst, dass diese Ästhetik, deren Wertungen auf informativem, emotionalem oder moralischem Interesse basieren, das Bild des Bedeutungslosen, oder, was innerhalb dieser Logik auf dasselbe hinausläuft, die Bedeutungslosigkeit des Bildes stets nur ablehnen kann: Das Urteil verselbständigt nie das Bild des Objekts gegenüber dem Objekt des Bildes.« [Unterschiede 83] 23
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Auf der Grundlage dieser bildtheoretischen Unterscheidung, die als FormFunktions-Differenz auftritt, registriert Bourdieu umgekehrt auch einige wenige Verhältnisse, in denen gerade die mehrheitlich übersehenen, formalen Aspekte photographischer Bilder favorisiert werden. Neben der soziologischen Mittelbarkeit, die jedes Verhältnis zur photographischen Praxis zu prägen scheint, wird also auch eine qualitative Differenz zwischen ästhetischen und funktionalen (s.u.) Verhältnissen konstatiert. Diese empirisch belegte, sowohl bild- als auch rezeptionstheoretisch formulierbare Differenz, lässt sich als ein qualitatives Modell für die Verschiedenheit der Verhältnisse zur Photographie bezeichnen. Der ästhetische Formbezug des qualitativen Modells thematisiert ein Verhältnis zur Photographie, das sich in der Hinwendung an die singulären Aspekte des photographischen Bedeutens scheinbar dem postulierten Einfluss der sozialen/ präferentiellen Mittelbarkeit entzieht. Bourdieus theoretische Absicht ist es nun nachzuweisen, dass der ästhetische Formbezug selbst nur als eine geschmackliche Präferenz unter anderen Präferenzen verstanden werden kann, so dass die grundsätzliche These der soziologischen Mittelbarkeit auch für diese ästhetischen Verhältnisse zur Photographie gilt.5 Wenn die Soziologisierbarkeit des Ästhetischen in der Photographie verhandelt werden soll, muss offensichtlich zuerst der systematische Zusammenhang zwischen den beiden theoretischen Modellen geklärt werden. Über die drei wesentlichen Aspekte einer solchen Klärung sollen die folgenden drei Absätze einen kurzen Überblick geben: Zunächst wäre die theoretische Konzeption der Modelle zu betrachten. Das erste, präferentielle Modell ist offensichtlich pluralistisch. Es umfasst mehrstellige Differenzierungen, die prinzipiell gleichrangig sind und sich in jedem individuellen Verhältnis »widerspiegeln«. Das heißt, entweder begleitet die präferentielle Diversität das Selbstverständnis individueller Verhaltensweisen oder sie liegt diesen doch zumindest unbemerkt zugrunde. Dahin5
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Entsprechend heißt es im ersten photosoziologischen Text: »So ist es denn nur natürlich, dass die Photographie zum Gegenstand einer ›Lektüre‹ wird, die als soziologisch gelten kann, und dass sie niemals an sich und für sich, im Hinblick auf ihre technischen oder ästhetischen Qualitäten ›gelesen‹ wird.« [Kult 34] Diese Aussage demonstriert exemplarisch die Überschneidung zweier theoretischer Modelle. Sie dokumentiert zudem auch den Einfluss der frühen phototheoretischen Texte Roland Barthes’ (s.u.). Nicht nur werden Termini wie »Lektüre« und »lesen« in dessen Texten ebenfalls paraphrasiert, auch die leitende These, dass die Untersuchung der technischen und ästhetischen Qualitäten ein anderes Projekt sei, als es die Soziologie leisten kann, wird eingangs von Barthes’ Die Photographie als Botschaft programmatisch vertreten. Allerdings mit umgekehrter Positionierung.
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gegen ist das zweite, qualitative Modell zweistellig konzipiert und verweist auf einen Antagonismus zweier sich widersprechender Positionen. Sollte dieser sich ebenfalls »widerspiegeln«, dann geschähe dies nicht als Orientierung zwischen mehreren Präferenzen, sondern nur als Negation eines gegensätzlich verfassten Gegenübers. Der Begriff der Negation wird in diesem Sinne für Bourdieu sehr bedeutend. Er zeigt sich bereits in der nicht ästhetischen Position des qualitativen Modells, wenn es heißt, dass deren soziale Exponenten die »Bedeutungslosigkeit des Bildes« und damit die Ebene des photographischen Bedeutens »stets nur ablehnen« können. Sollte sich umgekehrt jedoch auch die ästhetische Position ihrem eigenen Selbstverständnis oder ihrem strukturellen Profil zufolge nur negierend auf die präferentielle beziehen, so könnte diese Relationalität als quasi-präferentieller Charakter des Ästhetischen gelten – dem damit eine Form der allgemeinen Mittelbarkeit nachgewiesen wäre. Hier liegt der Ansatz, nach dem Bourdieu beide Modelle vermitteln will und durch den das Ästhetische in der Photographie soziologisierbar wäre. Abgesehen von ihrer theoretischen Konzeption können beide Modelle auch hinsichtlich der verwendeten soziologischen Begriffsbildungen unterschieden werden. Während das erste, präferentielle Modell summativ ist und diverse Gruppen von Verhältnissen zur Photographie vereint, nämlich mindestens so viele wie sich anhand klassenspezifischer Geschmackspräferenzen benennen lassen, setzt sich das zweistellige Modell über traditionelle soziologische Klassengrenzen hinweg, indem es seine Bestimmung zweier Gruppierungen primär bildtheoretisch fundiert. Bei der klassifizierenden Benennung sozialer Akteure für entsprechend qualitativ differenzierte Verhältnisse zur Photographie ändert sich deshalb notwendig das soziologische Begriffsrepertoire und in dessen Folge auch die gesamte theoretische Terminologie. Drittens trennt die beiden Modelle eine empirische Signifikanz, die eigentlich nur für das qualitative Modell belegt ist. Den ästhetischen Verhältnissen zur Photographie ist als einem der wesentlichsten Merkmale seitens der soziologischen Empirie ein hoher Seltenheitswert zuzusprechen: »Kurz, selbst im günstigsten Fall ist die photographische Praxis kaum jemals auf spezifisch und streng ästhetische Zwecke gerichtet.« [Kult 81]6 Was laut Bourdieu als 6
Die Formulierung »kaum jemals« wird in einer Fußnote des ersten photosoziologischen Textes quantifiziert: »Wenn man einräumt, dass die Grenze zwischen der traditionellen und der ästhetischen Photographie im strengen Sinne keineswegs zwischen der Familien- und der Urlaubsphotographie verläuft, sondern zwischen diesen beiden auf der einen und der Photographie beliebiger Gegenstände auf der anderen Seite, dann kann man die Zahl der ›Ästheten‹ unter den Photoamateuren schätzungsweise mit maximal 10 % ansetzen.« [Kult 297] Dass die Ästheten vor dem Hintergrund der Gesamtheit der »sozialen Gebrauchsweisen der Photographie« eine Minderheit darstellen, wird in Bourdieus 25
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die nicht ästhetische »Praxis der Mehrheit« übrig bleibt, ist demnach nicht nur die zweite Seite des qualitativen Modells sondern zugleich der Gegenstandsbereich des präferentiellen. So belegt bereits der statistische Blick auf die »sozialen Gebrauchsweisen der Photographie« eine Überschneidung beider Modelle: während das qualitative Modell eine ästhetische Minderheiten- von einer Mehrheitspraxis differenziert, lässt sich das präferentielle Modell, gemäß seinem Anspruch für die gesamte Praxis zu gelten, sicher in der Mehrheitspraxis lokalisieren. Inwieweit es von dieser Überschneidung aus auch die Konzeption des qualitativen Modells modifiziert und ebenfalls für die ästhetische Minderheitenpraxis Geltung beansprucht, ist eine weiterführende Frage, die über die soziologische Begrifflichkeit benannt und über die Theoriebildung geklärt werden muss. Auch an diesen beiden Aspekten des Modell-Vergleichs lässt sich die statistische Überschneidung nachvollziehen. So zeichnete es ja das präferentielle Modell aus, die im Begriff der Mittelbarkeit versammelten geschmacklichen Präferenzen in soziologischen Klassen zu fundieren. In der Bildung entsprechender Gruppierungen greift Bourdieu deshalb folgerichtig auf das traditionelle soziologische Begriffsrepertoire zurück.7 Das qualitative Modell setzt sich über diese klassenspezifische Zuordnung hinweg, indem es gänzlich neue, nicht nach herkömmlichen soziologischen Begriffen organisierte Gruppen für die beiden antagonistischen Elemente bildet. So unterscheidet Bourdieu zwischen der Urlaubs-, Familien-, Amateurphotographie und den »Saisonkonformisten« einerseits, wenn von der funktionalen Position die Rede ist, und engagierten, ambitionierten oder fanatischen Amateurphotographen sowie »Ästheten« andererseits, wenn auf die sozialen Akteure der formalen Position verwiesen werden soll. Für die soziologische Darstellung der FormFunktions-Differenz des qualitativen Modells verwendet Bourdieu also mediensoziologisch spezialisierte Begriffe,8 während das präferentielle Modell mit der konventionellen Terminologie soziologischer Klassen und Gruppen operiert (Bauern, Arbeiter, Angestellte, Mittelschicht etc.). Allerdings durchbricht Bourdieu diese Unterscheidung zwischen mediensoziologischen und soziologischen Klassifizierungen genau an jener Stelle, an der die empirischen Exemplifikationen der beiden theoretischen Modelle in-
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Photosoziologie mehrfach wiederholt und im zweiten Text dann auch als Argument gegen die empirische Verifizierbarkeit der Kantschen Ästhetik angeführt. Intensiver untersuchte soziale Klassen sind besonders die Bauern, die Arbeiter sowie untere und mittlere Angestellte, während das Verhältnis zur Photographie bei höheren Angestellten und Angehörigen der Oberschicht kaum dokumentiert wurde. Vgl.: Flusser Bilder 57 oder s. u. Kap. 2.3.
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einander übergehen. Die Schnittmenge der »Praxis der Mehrheit«, die laut Bourdieu sowohl dem Funktionsprimat als auch der Mittelbarkeitsthese unterliegt, lässt sich deshalb sowohl als ein funktionaler oder auch »funktionalistischer Geschmack« bezeichnen9 als auch als eine »Ästhetik der unteren Schichten der Bevölkerung« verstehen. Am Beispiel der »Praxis der Mehrheit« greifen die soziologischen Personalisierungen beider Modelle ineinander, während umgekehrt die ästhetische Praxis der »Ambitionierten« keinerlei klassisch soziologische Zuordnung findet.10 Obwohl der soziologisch klassifizierende Sprachgebrauch schon auf die mögliche Überschneidung der beiden Modelle reagiert, hat er doch die ästhetische Position des qualitativen Modells noch in einer Sonderstellung belassen, die sich durchaus mit deren statistischer Marginalität ergänzt. Hiervon abweichend verhält sich nun aber der allgemeine theoretische Sprachgebrauch in Bourdieus Photosoziologie, insofern er – von der Überschneidung der beiden Modelle ausgehend – die ästhetische Position durch zwei indifferente Begriffe (zumindest terminologisch) nivelliert. So wird zum einen der Ästhetikbegriff, der ursprünglich nur auf die Formbezüge des qualitativen Modells zutraf, ebenfalls auf dessen funktionale Seite angewandt, so dass sich die gesamte Mehrheitspraxis funktionaler Verhältnisse zum Bild, die ja ebenfalls die Summe aller klassenspezifischen Geschmackspräferenzen des präferentiellen Modells ist, als Ästhetik von bezeichnen lässt.11 Umgekehrt verwendet Bourdieu den Begriff des Geschmacks, der bei ihm offensichtlich dem präferentiellen Kontext entstammt,
Dieser Aspekt wird noch in den Meditationen (1997) wiederholt: »Die empörten Reaktionen von Arbeitern wie auch von Landwirten auf bestimmte künstlerische Photographien, die sie wegen ihrer Zwecklosigkeit und des Fehlens einer anerkannten und unmittelbar erkennbaren sozialen Bedeutung und Funktion heftig zurückweisen und verurteilen, liegt ein Geschmack zugrunde, den man ›funktionalistisch‹ nennen könnte und der sich gewöhnlich in der Alltagspräferenz für das ›Praktische‹ und ›Handfeste‹ ausdrückt.« [Meditationen 320] 10 Eine solche summative soziologische Personalisierung des Ästhetischen nach Klassenbegriffen wird erst in den Feinen Unterschieden vertreten, wenn die »Ästheten« explizit unter den »happy few« und generell im Bildungsbürgertum vermutet werden. 11 »Ästhetik der unteren Volksklassen« [Definition 105], »Ästhetik der ›breiten Masse‹« [Definition 95 f.], »Ästhetik des Volkes« [Definition 96], »›Ästhetik‹ der unteren Schichten der Bevölkerung« [Unterschiede 81], »›Populäre Ästhetik‹« [Unterschiede 23]; die beiden letzteren werden, in Übereinstimmung mit den Überlegungen des Photobuches, explizit als »Umkehrung« und »Kehrseite der Kantschen Ästhetik« bezeichnet.
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synonym zu dem der Ästhetik und benennt mit ihm ebenfalls die Position der ästhetischen Formbezüge zur Photographie. Die Form-Funktions-Differenz dient Bourdieu somit nicht nur zur Kennzeichnung zweier bildtheoretisch fundierter Verhältnisse zur Photographie, sondern ebenfalls zur Unterscheidung zweier klassenübergreifend konzipierter Geschmackspräferenzen. Diese treten sowohl unter dem terminologischen Gegensatzpaar einer »populären« und einer »reinen Ästhetik« als auch unter dem eines »populären« und eines »reinen Geschmacks« auf.12 Wenn sich schließlich in einem Text zugleich die Begriffe des »reinen Geschmacks« und der »›funktionalen‹ Ästhetik« [Definition 98] gegenübergestellt finden, so läuft die Frage, welcher der beiden nun eine präferentielle und welcher eine qualitative Position bezeichnet, empfindlich in die Irre. Auf die Widersprüche der doppelten Begriffsverwendung hat Bourdieu ab den Feinen Unterschieden mit der Anfügung von Anführungszeichen für den entlehnten Ästhetikbegriff reagiert.13 Diese Lösung bleibt allerdings unbefriedigend, zumal Bourdieu auch dort jede Differenzierung zwischen ästhetischen und nicht ästhetischen Perspektiven aufheben möchte, womit letztlich die Absicht verbunden ist, der qualitativ begründeten ästhetischen Position eine systematische Gleichrangigkeit mit Geschmackspräferenzen zuzuschreiben und damit für die ästhetischen Verhältnisse zu kulturellen Artefakten die Geltung der These einer sozialen Mittelbarkeit nachzuweisen – ein Anliegen, das durch die doppelte Begriffsverwendung allerdings noch nicht plausibel wird.14 12 So konstatiert Bourdieu eine »Opposition zweier Varianten von Geschmack: dem aus Not und Zwang geborenen [...], dem aus Freiheit – oder Luxus – geborenen, der [...] das Hauptaugenmerk von der Substanz auf die Manier (des Vorzeigens, Auftischens, Essens, usw.) verlagert, und dies vermittelt über die Intention zur Stilisierung, die der Form und den Formen eine Verleugnung der Funktion abverlangt.« [Unterschiede 26] 13 »Tatsächlich scheint alles dafür zu sprechen, dass die ›populäre Ästhetik‹ (die Anführungszeichen sollen zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine Ästhetik an-sich und nicht für-sich handelt) auf dem Postulat eines bruchlosen Zusammenhangs von Kunst und Leben gründet, das die Unterordnung der Form unter die Funktion beinhaltet.« [Unterschiede 23; s.u. Kap. 2.5] 14 Erst in der späteren, kultursoziologischen Ästhetik-Konzeption der Feinen Unterschiede wird die ästhetische Position dann explizit nach dem Modell der sozialen Mittelbarkeit erläutert, indem ihr etwa eine Relativierung zwischen künstlerischen Werken bescheinigt wird. So heißt es über den »Ästheten«: »dass er das Interesse vom ›Inhalt‹, von den Personen und spannenden Momenten der Handlung, etc., auf die Form und die spezifischen künstlerischen Effekte verlagert, die sich nur relational, durch den völlig exklusiven Vergleich mit anderen Werken würdigen lassen [...]« [Unterschiede 68]. 28
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Entscheidend ist, dass Bourdieu die qualitative Differenz trotz ihrer terminologischen Nivellierung aber nicht aufhebt, weil er sie vielmehr theoretisch in das präferentielle Modell integrieren möchte.15 Neben der problematischen Doppelverwendung von Ästhetik- und Geschmacksbegriff versucht Bourdieu, die ästhetischen Verhältnisse zur Photographie dadurch als von der Mittelbarkeitsthese abkünftige zu erweisen, dass er ihnen einen negierenden Bezug auf die funktionalen Verhältnisse nachweist, der vermeintlich genau deren Hang zur Negation der ästhetischen Position entspricht. So zeichnet es nach Bourdieu vor allem die »Ästhetik der breiten Masse« aus, sich als Gegensatz zu den »gelehrten Ästhetiken« zu definieren,16 während umgekehrt dem »reinen Geschmack« (seitens des populären) eine Aufhebung aller gesellschaftlichen Verhaftungen nachgesagt wird,17 die ebenfalls in der versuchten Aufhebung jener für omnipräsent gehaltenen, präferentiellen Relationalität besteht. Ob durch den Begriff der Negation tatsächlich die bildtheoretisch fundierte Bestimmung ästhetischer Verhältnisse zur Photographie aufgehoben werden kann und umstandslos in die präferentielle Mittelbarkeit zu integrieren ist, muss einer Prüfung im Detail überlassen werden.
2.2 Die photographischen Ästheten und die Negation Anschaulicher als auf der Ebene der beiden theoretischen Modelle wird das ästhetische Verhältnis zur Photographie und seine mögliche soziologische Struktur von Bourdieu am Beispiel der Photographen demonstriert – womit, besonders in Bourdieus erstem Text, wesentlich eine produktionstheoretische Perspektive auf die Photographie eingenommen wird.
15 Sowohl Bourdieus frühe Photo- als auch die späte Kultursoziologie brauchen den (sich dabei konzeptionell sogar wandelnden) Ästhetikbegriff als ein systematisch eingesetztes Kontrastmittel für jene über die Jahre gleichbleibende kulturkritische Argumentation. 16 »Im Unterschied zur Ästhetik des Naiven, der unproblematischen Bejahung eines kohärenten und ausschließlichen Normensystems, definiert und begreift sich die Ästhetik der ›breiten Masse‹ (zumindest partiell) als Gegensatz zu den gelehrten Ästhetiken.« [Definition 95 f.] 17 »Indem er auf die legitimen Werke die Schemata des Ethos anwendet, die auch in den Alltagssituationen und den normalen Umständen des Daseins zur Geltung kommen, [...] bezeichnet der populäre Geschmack [...] gewissermaßen a contrario die Tendenz des reinen Geschmacks, die ›naive‹ Verhaftung ans Gegebene zu suspendieren [...]« [Unterschiede 24]. 29
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Zunächst und für die Kenner des späteren Werks von Bourdieu vielleicht überraschend stellt sich das ästhetische wie jedes andere Verhältnis zur Photographie als eine von spezifischen Bildungsbedingungen und ökonomischen Privilegien weitgehend unabhängige kulturelle Praxis dar.18 Die Abhängigkeit ästhetischer Verhaltensweisen von gesellschaftlichen Determinationen ist zwar für die Argumentation des Photobuches bereits ebenso bedeutend, wie sie es für die spätere Theorie der Feinen Unterschiede sein wird, aber statt schulischen und ökonomischen Voraussetzungen zu entstammen, kann diese Abhängigkeit allenfalls auf den soziologisch divergierenden kulturellen Status des technischen Mediums Photographie bezogen werden.19 Da dieser Status jedoch allgemein schwach ist, scheint die Photographie eine Praxis zu ermöglichen, in der »Bildungs-, d.h. Klassenunterschiede [...] nicht so nachhaltig und deutlich hervortreten wie bei anderen kulturellen Tätigkeiten.«20 (Hinsichtlich ihrer Eignung zur Bildung sozialer Distinktionen würden sich photographische Bilder im Werk Bourdieus damit genau entgegengesetzt zu künstlerischen Werken verhalten.) Während die Gesamtheit der »sozialen Gebrauchsweisen der Photographie« somit von spezifischem Bildungserwerb und ökonomischen Privilegien nahezu unabhängig ist, kommt für die ästhetische »Gebrauchsweise« noch eine weitere, exklusive Unabhängigkeit hinzu. Laut Bourdieu ist für die ästheti18 »Anders gesagt, nichts ist weniger esoterisch als das Photographieren, da es genügend preiswerte Kameras mit geringem Bedienungsaufwand gibt, und da die Neigung (und nicht lediglich die Befähigung) zu deren Gebrauch nicht das Ergebnis einer praktischen oder theoretischen Bildung ist.« [Kult 58] 19 So stellt Bourdieu für das (mittlere, in seiner kulturellen Legitimität umstrittene) Medium Photographie fest, dass es »kein primäres, d.h. ›natürliches‹, und erst recht kein sekundäres Bedürfnis befriedigt, das durch die Erziehung hervorgebracht und genährt worden wäre, wie etwa das Interesse an Museen oder Konzerten.« [Kult 30] 20 »Da sie keine methodische Bildung zur Voraussetzung hat, verwundert es nicht, wenn sie einerseits, trotz wirtschaftlicher Barrieren, weit verbreitet ist, und wenn andererseits die Bildungs- , d.h. Klassenunterschiede in ihr nicht so nachhaltig und deutlich hervortreten wie bei anderen kulturellen Tätigkeiten, die eklatant Bildungsunterschiede aktualisieren.« [Kult 81] – Widersprüche zwischen Äußerungen (»genügend preiswerte Kameras« vs. »wirtschaftliche Barrieren«) sind in Bourdieus Texten so zahlreich, dass ich sie nicht jeweils einzeln berücksichtigen oder kommentieren kann. Bei der Wiedergabe zentraler Positionen und Thesen folge ich deshalb entweder den häufigsten oder den prägnantesten Aussagen bzw. denen, die sich für die Entwicklung meines Themas produktiv machen lassen. Dazu zählen in einigen besonders exemplarischen Fällen dann auch wieder die Widersprüche. 30
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sche Praxis der Photographie nämlich vor allem eine partielle soziale Desintegration typisch, insofern die entsprechend »engagierten« Photographen »weniger nachhaltig in die Gesellschaft integriert sind.«21 Mit dieser geringeren gesellschaftlichen Integration scheinen die ästhetisch »ambitionierten« unter den Photographen von jenen gesellschaftlichen und geschmacklichen Normen abzuweichen, die für die »Praxis der Mehrheit« gelten, so dass man die photographischen Ästheten hinsichtlich der sozialen Bedingungen der Möglichkeit ihres Handelns auch als »Abweichler« (»déviants«) bezeichnen kann: »Wenn das richtig ist, dann wird verständlich, dass die Individuen, die die Photographie als künstlerische Tätigkeit auffassen, eine Minderheit von ›Abweichlern‹ sind, gesellschaftlich bestimmt durch größere Unabhängigkeit im Hinblick auf die Bedingungen, die die Praxis der Mehrheit nicht nur in ihrer Existenz determinieren, sondern auch in ihren Gegenständen, ihren Anlässen und ihrer ›Ästhetik‹ sowie durch ein besonderes Verhältnis zur ›hohen Kultur‹, das an ihre Situation in der Gesellschaft gebunden ist.« [Kult 83 f.]
Während Bourdieu in seiner späteren (kultursoziologischen) ÄsthetikKonzeption annehmen wird, dass die ästhetische Einstellung in einer von »Dringlichkeit befreiten Welterfahrung gründet«22 und damit auf einer ökonomischen Vorteilslage basiert, zeichnen sich die ästhetischen Ambitionen der engagierten Photoamateure also nur durch eine »größere Unabhängigkeit im Hinblick auf die Bedingungen, die die Praxis der Mehrheit [...] determinieren« [Kult 83] aus.23
21 »In der Tat ist Aufmerksamkeit für eine an ästhetischen Zielen orientierte Praxis nicht systematisch oder ausschließlich bei den Befragten mit dem höchsten Bildungsstand anzutreffen, [...] man findet sie vielmehr bei denen, die aufgrund ihres Alters, ihres Familienstandes oder ihres Berufs weniger nachhaltig in die Gesellschaft integriert sind.« [Kult 51] 22 So heißt es in den Feinen Unterschieden: »Als allgemeines Vermögen zur Neutralisierung der im Alltag sich manifestierenden Zwänge und zur Ausklammerung praktischer Zwecke, als dauerhafte Neigung und Fähigkeit zu einer Praxis ohne praktische Funktion, bildet sich die ästhetische Einstellung einzig und allein in einer von Dringlichkeit befreiten Welt-Erfahrung und in Tätigkeiten aus, die ihren Zweck in sich selbst tragen (Schulübungen etwa oder das Betrachten von Kunstwerken). Sie setzt, mit anderen Worten, jene Distanz zur Welt voraus [...], die das Fundament der bürgerlichen Welt-Erfahrung ausmacht.« [Unterschiede 101 f.] 23 Der Unterschied zwischen Bourdieus photo- und seinem kultursoziologischen Ästhetik-Konzept (textuell betrachtet beginnt das letztere mit Bourdieus Panofs31
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Das Ästhetische an der Photographie würde sich diesem Aspekt von Unabhängigkeit zufolge als eine Gebrauchsweise verstehen lassen, die durch ein hohes Maß an inhaltlicher Unbestimmtheit gekennzeichnet ist und außerhalb der soziologischen Relationalität der »populären Ästhetik« (des »funktionalen Geschmacks«) agiert. Entscheidend für Bourdieus Argumentation ist nun, dass diese größere Unabhängigkeit wieder in eine soziale Abhängigkeit verwandelt wird, denn auch das (produktive) ästhetische Verhältnis zur Photographie kann laut Bourdieu ihrer »gesellschaftlichen Wahrheit«, also der soziologischen Mittelbarkeit nicht entgehen. So wird das ästhetische Verhältnis zwar als Projekt einer »sozialen Abweichung« ausgegeben, eine theoretische oder systematische Unabhängigkeit von der These der sozialen Mittelbarkeit verbindet sich damit nach Bourdieu aber nicht. Im Gegenteil, der Nachweis einer sozialen Abweichung als der sozialen Bedingung des ästhetischen Handelns wird zum Beleg dafür, dass auch das produktive ästhetische Verhältnis als soziologisch mittelbares gilt. Die allgemeine These der Mittelbarkeit bedeutete nur, dass das Verhältnis Einzelner zur Photographie auf Gruppennormen reagiert und diese integriert.24 Wenn es immer das System der impliziten Gruppenwerte ist, das die Praxis des Einzelnen bestimmt, dann könnte die Mittelbarkeit also auch in jenen Gruppen demonstriert werden, in denen sich selbst die sozialen Abweichler organisieren und an deren Normen sie sich Bourdieu zufolge ausrichten. Diese Demonstration einer sozialen Mittelbarkeit in den ästhetischen Verhältnissen zur Photographie klingt bei Bourdieu allerdings ausgesprochen schematisch und formelhaft.25 Sie führt zudem auf jenes bereits genannte Merkmal einer größeren Unabhängigkeit der Ästheten von sozialen Normen zurück, denn wenn diese auch noch von den Normen jener Gruppierungen »fanatischer Amateurphotographen« abweichen, in denen sie organisiert sind ky-Rekurs, s.u. Kap. 3) lässt sich symptomatisch an der Rolle der »Ästheten« demonstrieren. Nach dem ersten gelten sie als soziale »Abweichler«, nach dem zweiten als privilegierte Mitglieder der »happy few« [z.B.: Unterschiede 62]. 24 » [...] so bleibt doch wahr, dass die Bedeutung, die der Einzelne der photographischen Praxis beimisst, vom System der impliziten Gruppenwerte abhängt, das die passenden Mittel und Wege bestimmt, um diese Funktionen erfüllen zu können.« [Kult 53] 25 »Mithin ist das Verhältnis der Photoamateure – vor allem der ambitioniertesten – zur Photographie niemals unabhängig von ihrem Verhältnis zu ihrer Gruppe (oder, wenn man so will, vom Grad ihrer Integration in die Gruppe) und von ihrem Verhältnis zur modalen Praxis ihrer Gruppe (in dem ihre Lage innerhalb der Gruppe zum Ausdruck kommt), die ihrerseits eine Funktion der Bedeutung und des Platzes ist, die der Photographie von der Gruppe zugewiesen werden.« [Kult 58] 32
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
und eine Position beziehen, »die in der Gruppe keinerlei Unterstützung findet«, so stünde erneut der durchgehende Einfluss der sozialen Mittelbarkeit in Frage.26 Bedeutender für Bourdieus Nachweis einer soziologischen Determination der ästhetischen Praxis ist deshalb die These einer Negation des funktionalen, populären Geschmacks durch die formfixierten Ästheten. Die ästhetisch ambitionierte Photographie gilt Bourdieu auch als eine »durch die Negation des familialen Gebrauchs definierte Photographie« [Kult 51],27 und auf diese Weise wird wieder die soziale Relationalität in die künstlerische Absicht implementiert. Die künstlerisch ambitionierte Photographie ist demnach nicht als eine Tätigkeit zu verstehen, die sich in einer Auseinandersetzung mit formorientierten Sachfragen motiviert, sondern die mit der Wahl solcher Formfragen wesentlich auf bestehende soziale Relationen reagiert. Leitmotiv im Handeln entsprechend engagierter Photographen ist laut Bourdieu eine soziale Distinktionsabsicht, so dass – wesentlich auf der Basis dieser Unterstellung – den formalen, ästhetischen Interessen an der Photographie wieder eine soziale Relationalität impliziert werden kann: »Abgesehen davon, dass das Unterfangen, weil es sich nicht auf Sprache und begründete Normen stützen kann, besonders schwierig ist, verwirklicht sich die ästhetische Absicht, die immer schon eine von vielen Formen des Strebens nach Unterscheidung oder, wie man sagt, ›Distinguiertheit‹ war, letztlich in der Tat nur mittels der Negation [...]« [Kult 81].
Es handelt sich hierbei aber nicht um eine Negation, die man als Resultat der Verwirklichung einer ästhetischen Absicht immer dann retrospektiv konstatieren muss, wenn ein Photo tatsächlich von den allgemeinen Normen der Familienphotographie abweicht, sondern vielmehr um die Annahme eines notorisch vorauslaufenden Motivs des ästhetischen Handelns, durch welches sich dieses bereits in der Form eines noch unrealisierten »Strebens nach Unterscheidung« distinguiert. Die ästhetischen unter den photographisch produkti-
26 »Eine Praxis, die in der Gruppe keinerlei Unterstützung findet, vermag nur dann zu dauern, wenn sie zur Devotion wird oder in wütenden Fanatismus umschlägt.« [Kult 56] Die inhaltliche Offenheit dieser »ambitionierten« Negation sozialer Normen wird noch dadurch bekräftigt, dass Bourdieu ihre »Überlebenschancen« kalkuliert. 27 »Wir wollen die Umkehrung nicht zu weit treiben, doch die Beobachtung lehrt, dass gegenüber der Familienphotographie, Zeichen und Mittel der Integration in einem, die durch die Negation des familialen Gebrauchs definierte Photographie häufig eine geringer ausgeprägte Integration in die Familiengruppe oder den Beruf verrät [...]« [Kult 51]. 33
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ven Handlungen bleiben der These zufolge, trotz aller Unabhängigkeit der Photographen von den Normen des »funktionalen Geschmacks«, diesem immer noch durch den unabwendbaren Rest einer präferentiellen Mittelbarkeit verbunden – der bei Bourdieu als das treibende Motiv ästhetischen Handelns erscheint. Unter anderem begründet Bourdieu diese Ausrichtung mit der paradox wirkenden Bedingung, dass der »ambitionierten Praxis« ein nachlassender »Druck der familialen Funktion« vorausgehe und die abweichende Praxis dadurch erst möglich macht.28 Dieser Ansicht nach beinhaltet bereits der situativ nachlassende Einfluss des »funktionalen Geschmacks« auf die photographische Praxis jene Negation, die dem Photographen als ein »Streben nach Unterscheidung« nachgesagt wurde. Hier stellt sich aber die für die Soziologisierbarkeit des Ästhetischen brisante Frage, ob die These der Negation nur notwendige oder bereits hinreichende Bedingungen des ästhetischen Handelns thematisiert. Würde die bloße Negation des »funktionalen Geschmacks« das produktive ästhetische Verhältnis zur Photographie hinreichend definieren, dann müsste neben der Aufgabe des Motivs formfixierter ästhetischer Interessen konsequenterweise ebenfalls das Motiv eines »Strebens nach Unterscheidung« ausgeschlossen werden, denn der nachlassende »Druck der familialen Funktion« würde bereits das ästhetische Verhältnis zur Photographie hinreichend bestimmen. Dieser nachlassende Druck könnte jedoch verschiedene Verhaltensweisen freisetzen, auch solche, die an dem vormals Bedrückenden nicht mehr ausgerichtet sind (vgl.: Kult 80). An Bourdieus Erklärung einer negierenden Orientierung des ästhetischen Handelns irritiert, dass das der ästhetischen Praxis implizierte »Streben nach Unterscheidung« offensichtlich ein Merkmal des immer schon präferentielle Differenzen aktiv registrierenden »funktionalen Geschmacks« zu sein scheint, während der Formbezug eher durch eine monothematische Ausrichtung auf die Formen des photographischen Bedeutens gekennzeichnet war. Es wäre daher auch zu prüfen, ob es sich bei Bourdieus These von einer ästhetischen Negation nicht um den bloßen Effekt einer ungeklärten Übertragung des präferentiellen Modells auf das qualitative handelt.29 Schließlich bleibt in der Darstellung der ästhetischen Praxis die These 28 »Tatsächlich ist die Korrelation gerade negativ, da die ambitionierte Praxis, die Negation der allgemeinen Praxis, überall da (ex negativo) vorgezogen wird, wo der Druck der familialen Funktion nachlässt, und umgekehrt.« [Kult 53] 29 »Im übrigen genügt die bloße Absicht, sich von anderen zu unterscheiden, niemals zur positiven Bestimmung von Praxis. An der kulturellen Lage der Mittelklassen lässt sich ablesen, dass die Verneinung einer Konvention noch nicht das Tor zur Wahrheit ist. Die undifferenzierte Ablehnung der Ästhetik und Praxis der unteren Volksschichten kann sehr wohl zum Ergebnis haben, alles gutzuhei34
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der Negation auch bei Bourdieu selbst noch deshalb problematisch, weil sie bei den Ästheten in wechselnder Intensität auftreten kann: bei den »gebildeten« Ästheten gilt sie als weniger wirksam, womit auch andere, eventuell gar genuin ästhetische Ambitionen angenommen werden müssten.30 Abgesehen davon schließt die These der ästhetischen Negation aber auch die durchaus realistische Möglichkeit aus, dass man gerade durch die Befolgung gesellschaftlich etablierter, familiärer oder Gruppennormen Photographien produzieren kann, die diesen Normen auf eine »anscheinend« ästhetische Weise widersprechen (s.u. Kap. 2.4). Nach Bourdieus Überlegungen stellt sich das produktive ästhetische Verhältnis zur Photographie notwendig als ein Epiphänomen sozialer Funktionsbezüge dar, das durch die Negation der sozialen Normen des »funktionalen Geschmacks« die »gesellschaftliche Wahrheit der Photographie« bestätigt. Eine These, die anders als in der späteren Kultursoziologie Bourdieus allerdings noch nicht auf Bildungsdifferenzen oder ökonomischen Privilegien basiert, sondern auf der bloßen Unterstellung, die offenkundige Abweichung von der klassenübergreifend konstatierten Mehrheitsnorm des funktionalen Geschmacks sei als intendierte oder strukturelle Negation selbst schon das genuine Programm der Ästhetik.31 Die soziologische Determination des Ästhetischen stellt sich am Beispiel der engagierten Photographen als die Negation sozialer Determinanten dar.
ßen, was, jedenfalls auf den ersten Blick, anders als das Abgelehnte ist.« [Kult 82] Eine solche willkürliche Anerkennung des Abgelehnten wird hier jedoch nur auf der Ebene der präferentiellen Relationalität konstatiert. Es ist die »Mittelklasse«, die hier das ablehnt, was Bourdieu sonst als den Antagonisten der ästhetischen Position auffasst. 30 »Im übrigen jedoch sind diese ›Ästheten‹, deren ästhetische Intentionen sich insbesondere bei den weniger Gebildeten auf die Negation der gängigen Normen beschränken, die die legitimen Gegenstände der Photographie definieren, angetrieben von der Hoffnung auf ein neues Normensystem, das ihnen die beruhigende Sicherheit zurückgeben könnte, deren sie sich durch ihren Bruch mit der gemeinsamen Tradition begeben haben.« [Kult 57] 31 In die gesamte Kultur gewendet und ökonomisch ausformuliert, findet sich diese These später in den Feinen Unterschieden wieder: »Der ›ungebundene‹ Geschmack erweist sich als solcher nur im Vergleich mit dem an materiellen Zwang gebundenen, womit dieser am ästhetischen Maßstab gemessen und so als vulgär eingeordnet ist« [Unterschiede 104]. Auch hier zeichnet eine vergleichend abwertende Negation die ästhetische Position aus. 35
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2.3 Flussers Photographen – Emanzipation statt Negation Vilém Flusser ist ein Autor, der ausgehend von der Photographie eine sehr umfassende Analyse der technisch mediatisierten Gegenwartskultur unternommen hat.32 Bereits in seinem ersten Photoessay33 hat er auf der Grundlage einer dichotomischen Typologisierung eine »abweichende« photographische Praxis entworfen, die stark mit Bourdieus Begriff der »Ästheten« korrespondiert. Obwohl sogar deren negierender Bezug auf die Mehrheitspraxis bestätigt wird, hat Flusser allerdings auch einen weiteren Aspekt hinzugefügt, der wiederum die reine Mittelbarkeit ästhetischer Verhältnisse zur Photographie infrage stellt. Flussers Photophilosophie unterscheidet wie Bourdieus Photosoziologie zwei qualitativ verschiedene Verhältnisse zur Photographie, von denen das eine, mehrheitliche, auf einem naiven photographischen Realismus basiert und das andere, exklusive, durch unkonventionelle photographische Absichten gekennzeichnet ist: »Der Knipser unterscheidet sich vom Photographen durch seine Freude an der strukturellen Komplexität seines Spielzeugs. Im Gegensatz zum Photographen und Schachspieler sucht er nicht nach ›neuen Zügen‹, nach Informationen, nach Unwahrscheinlichem, sondern er will seine Funktion dank immer perfekterer Automation immer weiter simplifizieren. Die für ihn undurchschaubare Automatizität des Photoapparats berauscht ihn. Photoamateurklubs sind Orte der Berauschung an apparatischen Strukturkomplexitäten, Orte von Trips, nachindustrielle Opiumhöhlen.« [Flusser Photo 53]
32 Wenn Bourdieu im Rückblick resümiert: »ausgehend von der Photographie wollte ich zu einer allgemeinen ästhetischen Theorie gelangen« [Bourdieu Algerien 44] und damit auf eine allgemeine soziologische Kulturtheorie abzielt, so stimmt dieser generalistische Anspruch mit Flussers kulturphilosophischer Akzentuierung der Photographie überein. Denn das »Photouniversum« dient auch Flusser »als Modell für das nachindustrielle Leben schlechthin« und dessen philosophische Analyse wäre demnach »nicht nur für das Gebiet der Photographie, sondern für die nachindustrielle Gesellschaft überhaupt von Bedeutung [...] « [Flusser Photo 68]. 33 Vilém Flussers erste deutsche Buchveröffentlichung: Für eine Philosophie der Fotografie [Flusser Photo] erscheint 1983, im gleichen Jahr wie die späte deutsche Übersetzung von Bourdieus Illegitimer Kunst. Sie wird zwei Jahre später weiterentwickelt in der Arbeit: Ins Universum der technischen Bilder [Flusser Bilder]. 36
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Der Begriff des Knipsers und der Knipserei umfasst bei Flusser die Mehrheitspraxis der »sozialen Gebrauchsweisen der Photographie« insgesamt, inklusive jener Mitglieder von Photoamateurklubs, die sich an »apparatischen Strukturkomplexitäten« zu berauschen verstehen. Anders als der Knipser »berauscht« sich der Photograph laut Flusser nicht an den technischen Attraktionen der Photographie, er versucht vielmehr, Bilder zu produzieren, die nicht schon in den Begriffen des Apparatprogramms vorweggenommen sind.34 Flussers typologische Dichotomie Photograph/ Knipser ist daher nicht einfach auf Bourdieus soziologische Gruppen übertragbar.35 Im Verhältnis zum Bild stimmt der Knipser mit Bourdieus ebenfalls klassenübergreifend konzipiertem »funktionalen Geschmack« überein, allerdings wird der Funktionsprimat nun von einem soziologischen in einen technologischen Bereich verschoben. So verhalten sich Flussers Knipser im Sinne von Bourdieus »populärer Ästhetik« zwar funktional, aber nicht deshalb, weil sie die soziale Funktion des photographischen Referenten berücksichtigen, sondern deshalb, weil sie im Sinne der Automatik der Apparate funktionieren, wenn sie diese sozialen Funktionen zu berücksichtigen glauben. Die Knipser des Photouniversums gelten Flusser daher auch als Archetypen jedes nachindustriellen »Funktionärs«. Flusser verwendet aber nicht nur eine dichotomische Figur für die Typologisierung der photographischen Produktion, er stimmt mit Bourdieu eben-
34 Die zugrundeliegende Differenz zwischen rein technischen und ästhetischen Interessen stellte auch Bourdieu fest: »Zweifellos ist das Bemühen um eine hohe technische Qualität des Bildes ein Anreiz, sich mit einer hochwertigen Ausrüstung zu versehen. Doch es entfaltet sich auf einer anderen Ebene als der Wunsch nach einer ästhetischen Qualität des Bildes.« [Kult 50] 35 Eine von technischen Bildern dominierte Kultur verlangt laut Flusser »nach einem neuen soziologischen Ansatz« [Flusser Bilder 57] (den Bourdieu für das qualitative Modell ja bereits implizit eingeräumt hatte und auf dessen ästhetischer Seite tatsächlich verwendet hat). So erklärt Flusser: »Nicht mehr Menschen, sondern technische Bilder stehen jetzt im Zentrum, und dementsprechend sind es die Beziehungen zwischen dem technischen Bild und den Menschen, nach denen die Gesellschaft zu klassifizieren ist, zum Beispiel in Gruppen vom Typ ›Kinobesucher‹, ›Fernsehzuschauer‹, oder ›Computerspieler‹.« [ebd.] Diesen soziologischen Gruppen entzieht sich allerdings die Dichotomie Knipser/ Photograph, was besonders auf der Seite der »abweichenden« Praxis anschaulich wird. Da sie auf einer grundsätzlichen medientheoretischen Unterscheidung basiert und nicht auf einer empirischen Deskription der photographischen Praxis, muss sich auch Flussers dichotomische Typologie über die unterbreitete Einteilung soziologischer Gruppen hinweg setzen. 37
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falls in den jeweils bilanzierten Mengenverhältnissen überein.36 Abgesehen davon beschreibt er auch die Minderheitenpraxis als die Negation der »Praxis der Mehrheit«, verleiht ihr allerdings ein gänzlich anderes Motiv als es in Bourdieus »Streben nach Distinktion« erblickt werden kann: »Das photographische Dickicht besteht aus Kulturgegenständen, das heißt aus Gegenständen, welche ›absichtlich hingestellt‹ wurden. Jeder dieser Gegenstände verstellt dem Photographen den Blick auf sein Wild. Er schleicht zwischen ihnen hindurch, um der in ihnen verborgenen Absicht auszuweichen. Er will sich von seiner Kulturbedingung emanzipieren, will sein Wild unbedingt schnappen. Darum verlaufen die photographischen Wege im Dickicht der westlichen Kultur anders als im Dickicht Japans oder dem eines unterentwickelten Landes. In der These erscheinen demnach die Kulturbedingungen gewissermaßen ›negativ‹ in der Photographie, als umgangene Widerstände.« [Flusser Photo 31]
Bourdieus distinktionsfixierte ästhetische »Abweichler« sind bei Flusser emanzipierte »Ausweichler« geworden. Obwohl Flusser somit das negierende Verhältnis der photographischen Ästheten zur Mehrheitspraxis der Knipser bestätigt, verleiht er der ästhetischen Negation abweichend von Bourdieu einen positiven Gehalt. Die Redewendung von »photographischen Wegen im Dickicht der Kultur« zeigt, dass es hier um eine kulturelle Bewegungsfreiheit, um eine Befreiung von Kulturbedingungen geht, die in der photographischen Praxis verwirklicht werden kann.37 Obwohl ihr Verhältnis zur Kultur ähnlich reaktiv konzipiert ist, wird den Ausweichlern gegenüber den Abweichlern ein eigener emanzipativer Bewegungsimpuls zugestanden. Das Emanzipationsbestreben dient dem Freiheitsgewinn des Photographen und speist sich aus seiner »menschlichen Absicht« [Flusser Photo 43], gegen den Apparat zu spielen. Anders als Bourdieu schildert Flusser daher die leitende Intention ausweichender Photographen als einen Versuch der Umgehung kultureller Widerstände, der letztlich gleich in einem doppelten Sinne dem Wunsch nach kultureller Emanzipation folgt: als Aussetzung der bestehenden Kulturbedingungen der bildfixierten »Massenkultur« und als emanzi-
36 »Im folgenden wird von redundanten Photographien abgesehen werden, womit der Begriff ›Photographieren‹ auf das Herstellen von informativen Bildern eingeschränkt sein wird. Allerdings fällt dadurch der größte Teil aller Knipserei aus dem Rahmen dieser Untersuchung.« [Flusser Photo 25] 37 Drei Jahre vor Veröffentlichung von Flussers Photobuch 1983 (dessen Vorarbeiten schon 1981 begannen) hat Roland Barthes in seiner Hellen Kammer eine ähnlich an kulturellen Auswegen orientierte Auffassung von Photographie entwickelt, wenn er auch statt einer (photographisch) produktiven eine rezeptive Freiheit im »Dickicht der Kultur« zu beschreiben versuchte. 38
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pativer Schritt zur Kultivierung einer »humanen Bildkultur«.38 Spätestens mit dem zweiten Schritt wäre nach Flusser das bloß bestätigende Verhaftetsein der ästhetischen Position in der funktionalen Mehrheitspraxis überwunden. Die ästhetische Negation der abweichenden Photographen erhält damit eine positive Bestimmung, die man sogar als konsequente Weiterführung der Bourdieuschen Rede von einer »größere[n] Unabhängigkeit [der Ästheten] im Hinblick auf die Bedingungen, die die Praxis der Mehrheit [...] determinieren« [Kult 83 f.], verstehen kann. Denn die größere Unabhängigkeit ist, wie ja bereits der Begriff der Negation als bloß logischer Operation nahelegt, inhaltlich prinzipiell offen und umfasst damit immer mehr als das reine Gegenteil des Negierten.39 Zweifellos ermöglicht die photographische Emanzipation von den Kulturbedingungen in gleichem Maße soziale Distinktionen wie die Negation der »gesellschaftlichen Wahrheit der Photographie«, aber anders als bei Bourdieu verdeckt diese retrospektiv konstatierbare Wirkung nun nicht mehr weitere Qualitäten und Interessen, die mit dem ästhetischen Verhältnis zur Photographie ebenfalls noch verbunden sein könnten. Wohl deshalb kommentiert Flusser diese Emanzipationsversuche nicht resignativ, weil bei ihm die positiven Effekte der Praxis »experimenteller Photographen«, im Gegensatz zu Bourdieu, keineswegs schon durch den bloßen »Versuch zu widersprechen« realisiert werden.40 So ergänzt ausgerechnet der Kulturpessimist Flusser 38 »Die in Entropie verfallende Bild-Mensch-Relation, diese tödliche Langeweile der Bildprogramme beginnt, einen neuen Konsensus gegen die Massenkultur und zugunsten einer humanen Bildkultur zu gebären.« [Flusser Bilder 76] 39 Einem Gegenstand ein Prädikat abzusprechen, ist nicht gleichbedeutend mit der Maßnahme, ihm ein gegenteiliges Prädikat zuzusprechen. Oder auf die photographische Praxis übertragen: Ein Photo anzufertigen, dass die etablierten Konventionen der Familienphotographie nicht erfüllt, bedeutet nicht schon umgekehrt, ein »anti-familiäres« Photo anzufertigen. Auch Bourdieus Bemerkung, dass »selbst im günstigsten Fall [...] die photographische Praxis kaum jemals auf spezifisch und streng ästhetische Zwecke gerichtet« [Kult 81] ist, ließ es immerhin umgekehrt möglich erscheinen, dass »jemals« solche streng ästhetischen Zwecke die photographische Praxis leiten könnten, womit ein positives Interesse an der photographischen Sache theoretisch eingeräumt werden müsste. 40 »Die Anstrengung mancher engagierter Photoamateure, die Photographie als künstlerische Praxis mit uneingeschränkter Legitimität einzusetzen, wirkt fast immer lächerlich und aussichtslos, da sie so gut wie nichts gegen die gesellschaftliche Wahrheit der Photographie vermag, die sich nirgendwo nachdrücklicher in Erinnerung bringt als in dem Versuch, ihr zu widersprechen.« [Definition 108] Man kann diese Feststellung Bourdieus für pessimistisch (»aussichtslos«) 39
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Bourdieus resignative These der ästhetischen Negation um ihr optimistisches Pendant: In dem Maße, in dem die photographische Handlung der Suche nach »neuen Zügen, nach Informationen, nach Unwahrscheinlichem« folgt, tritt zunehmend der bloß negierende Bezug auf die Kulturbedingungen zurück. In den Feinen Unterschieden hat Bourdieu die Negation des »natürlichen Genusses« der Mehrheitspraxis durch die Ästheten zugleich mit einer positiven Bestimmung kombiniert, die allerdings nicht wie bei Flusser emanzipativ, sondern solipsistisch konzipiert ist: als Selbstbestätigung der distinktionsbildenden Tendenz der ästhetischen Negation, die somit trotz positiver Bestimmung wiederum nur polemisch vorgeführt erscheint.41 Andererseits findet sich im Spätwerk Bourdieus auch eine nicht polemische Weise der Affirmation einer ästhetischen Negation geschmacklicher Mehrheitsverhältnisse, die hier zitiert werden soll, weil sie erstens einen deutlich thematischen Zusammenhang mit dem Photobuch aufweist und zweitens sogar die möglichen soziologischen Konsequenzen von Flussers Überlegungen ankündigt. So hat sich Bourdieu in einem auch textuell zugänglichen Fernsehvortrag ausgesprochen programmatisch auf den Aspekt einer formorientierten Betrachtung photographisch/ technischer Bilder bezogen, der sich zu den früheren rigorosen Absagen korrektiv verhält: »Ich weiß auch, dass, was ich tue, die Fortsetzung und Ergänzung des Kampfes darstellt, den alle um die ›Unabhängigkeit ihres Kommunikationskodes‹ bemühten Film- und Photoproduzenten führen, insbesondere – ich muss ihn noch einmal zitieren – Jean-Luc Godard, dessen Analyse einer Photographie Joseph Krafts und ihre Verwendung ein Muster kritischer Reflexion über Bilder darstellt. Und ich könnte mein eigenes Programm mit den Worten dieses Regisseurs formulieren: ›Die Arbeit bestand darin, sich politisch (ich würde sagen soziologisch) mit Bildern und Tönen und ihren Beziehungen auseinanderzusetzen. Sie bestand darin, nicht mehr zu sagen, das ist ein genaues Bild, sondern: das ist genaugenommen ein Bild; nicht mehr zu sagen, das ist ein Offizier der Nordstaaten auf einem Pferd, sondern: das ist ein Bild eines Pferdes und eines Offiziers.‹« [Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen; F.a.M. 1998 (Original: Sur la télévision; 1996), S. 12; eig. Hervorh.]
oder defätistisch (»lächerlich«) halten, rein deskriptiv, also die »sozialen Gebrauchsweisen der Photographie« resümierend, ist sie offensichtlich nicht. 41 »Die Negation des niederen, groben, vulgären, wohlfeilen, sklavischen, mit einem Wort: natürlichen Genusses, diese Negation, in der sich das Heilige der Kultur verdichtet, beinhaltet zugleich die Affirmation der Überlegenheit derjenigen, die sich sublimierte, raffinierte, interesselose, zweckfreie, distinguierte, dem Profanen auf ewig untersagte Vergnügen zu verschaffen wissen.« [Unterschiede 27] 40
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Im Schlusssatz bekennt sich Bourdieu zu einer Position, die par excellence den Formbezug aus der Photosoziologie wiederholt. Dieser wird nun nicht mehr im Modus der Abgrenzung gegenüber dem ebenfalls dargestellten Funktionsbezug als sozialer Distinktionsversuch erläutert, sondern stattdessen zum »Muster kritischer Reflexion« erhoben, also wie bei Flusser emanzipationstheoretisch begründet (obwohl gerade die Berufung auf den prominenten Filmemacher dem sozialen Distinktionsgewinn mehr entspricht als der Hinweis auf einen Angehörigen jener unteren sozialen Schichten, die als Exponenten des »natürlichen Geschmacks« beschrieben wurden). Dieses späte Beispiel Bourdieus ermöglicht nicht nur einen veränderten Blick auf das Thema der ästhetischen Negation, es nimmt ebenfalls schon die soziologischen Konsequenzen vorweg, die Flussers Theorie tatsächlich für ihre (die Praxis der Knipser negierenden) Ästheten vorsieht. So wird der ästhetischen Negation im Bourdieu-Zitat implizit ja nur unter der Bedingung eine positive Qualität zugestanden, dass photographische Produktion und Rezeption prinzipiell getrennt werden können. Dem prominenten Filmemacher, mit dem sich der Soziologe solidarisch erklärt, gelingt die »Analyse einer Photographie« als »kritische Reflexion über Bilder« eventuell noch innerhalb seiner produktiven Praxis. Wenn jedoch Bourdieu mit seiner eigenen Arbeit jenen »Kampf um Unabhängigkeit bemühter Film- und Photoproduzenten« fortzuführen glaubt, diese dann tatsächlich aber als einen differenzierten Rezeptionsprozess schildert und im eigenen Vortrag nachzuvollziehen versucht, so verwechselt er die Position des Interpreten ästhetischer Werke mit der ihrer Produzenten. Die retrospektive Auslegung, die hier als emanzipative Praxis Anerkennung erfährt, ist selbst nicht mehr jener Akt einer ästhetischen Abweichung, der sich das interpretierte Photo verdankt. Genau in diesen Zusammenhang stellt Flusser seine emanzipationstheoretische Anerkennung der ästhetischen Negation, denn auch er trennt zwischen photographischer Produktion und Rezeption und lässt den eigentlich emanzipativen Ertrag der ästhetischen Abweichung als interpretative Leistung einer qualifizierten Rezeption erscheinen. Die Bestätigung emanzipativer Aspekte in den negierenden Formbezügen zum Bild impliziert somit eine weitere Möglichkeit der soziologischen Personifikation des Ästhetischen. Sie besteht darin, die Deutung von der Mehrheitspraxis abweichender Photographien einem klassischen Experten-LaienVerhältnis zu überantworten, wodurch gravierende Konsequenzen für die soziologische Lokalisation des Ästhetischen entstehen. Die genuin ästhetischen Verhältnisse zum Bild werden demnach ausschließlich in der sektiererischen Abweichung der photographischen Produzenten lokalisiert, während eine adäquate Interpretation der entstandenen (informativen) Photographien von besonders geeigneten Experten geleistet werden muss. Systematisch bedeutsam hieran ist, dass das Thema ästhetischer Verhältnisse zur Photographie somit in 41
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den allgemeinen Rezeptionsprozessen der Trivialkultur keinen Platz mehr zu haben scheint. Diese Konsequenz legt zumindest Flussers Begriff der »Entzifferung« nahe: Die Simplifizierung der photographischen Praxis durch die Knipser verbindet sich bei Flusser mit der These einer gleichermaßen umsichgreifenden Simplifizierung der photographischen Rezeption. Der Knipser ist als Amateurphotograph demnach »ein photographischer Analphabet« [Flusser Photo 52].42 Seine Unfähigkeit, Photos entziffern zu können, drückt sich wie in Bourdieus »funktionaler Ästhetik« in einer medientheoretischen Naivität aus, die sich auf die Gesamtheit der photographischen Rezeptionsprozesse moderner Gesellschaften zu übertragen scheint: »Darum ist der Knipser unfähig, Photos zu entziffern: Er hält die Photos für automatisch abgebildete Welt. Das führt zu dem paradoxen Schluss, dass die Entzifferung der Photos immer schwieriger wird, je mehr Leute knipsen: Jeder glaubt, es sei unnötig, Photos entziffern zu müssen, da jeder zu wissen meint, wie Photos gemacht werden und was sie bedeuten.« [Flusser Photo 54]
Die konstatierte Unfähigkeit der meisten Photorezipienten wird als Resultat der photographischen Mehrheitspraxis ausgegeben. Die Knipser können Photographien nicht mehr entziffern (und zwar sowohl redundante wie informative), weil sie keine informativen Photographien aufzunehmen versuchen. Woran es dem Knipser mangelt und damit stellvertretend für seine Rolle in der Kultur auch der photographischen Mehrheitspraxis insgesamt, das ist laut Flusser also eine spezialisierte Form der photographischen Rezeption, die Entzifferung.43 Da für Flusser der Photoapparat der »Ahne« aller Apparate ist und Apparate sich aufgrund ihrer Komplexität nur als »Black Boxes« auffassen lassen, zielt die Entzifferung ihrer Produkte vor allem auf die Differenzierung ihres »Inputs« ab, das bei Flusser in Form zweier verschiedener Intentionen betrachtet wird. Einerseits existieren »menschliche Absichten« bei den abweichenden Photographen und andererseits die omnipräsenten Apparatprogramme, die selbst noch in den »photographischen« Intentionen der Knipser ihre Bestätigung finden.44
42 Eine vergleichbare Formulierung findet sich bereits in Benjamins Photoartikel (1931) als unausgewiesenes Zitat [vgl.: Benjamin Photo 64]. 43 So handelt es sich bei den Knipsern um Personen, die zwar knipsen, aber »nicht auch unbedingt Photos entziffern können.« [Flusser Photo 52] 44 »Zusammenfassend: Photographien sind – wie alle technischen Bilder – zu Sachverhalten verschlüsselte Begriffe, und zwar Begriffe des Photographen, wie solche, die in den Apparat programmiert wurden. Daraus ergibt sich für die 42
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Flussers Begriff der Entzifferung ist deshalb als eine »Analyse der Erzeugung« [Flusser Photo 14] von Photos konzipiert, wobei der analysierte Erzeugungsprozess als Konflikt zweier Intentionen verstanden wird, die die Qualität des Erzeugten der Theorie zufolge vollständig definieren. Der prägende Zusammenhang, der beim Knipser zwischen seinen produktiven Erfahrungen und seinen rezeptiven Kompetenzen bestand, gilt für den Photographen offenbar nicht. Denn obwohl der Photograph versucht, »auf immer neue Weise zu sehen, also neue, informative Sachverhalte herzustellen« [Flusser Photo 53], verschaffen ihm diese Erfahrungen noch nicht die Kompetenz zur Entzifferung. Flusser geht vielmehr davon aus, dass die informativen Photographien, also jene, die sich einer gegen die Programme der Apparate spielenden »menschlichen Absicht« verdanken, von der Photophilosophie (oder -kritik) interpretiert werden müssten.45 Das rezeptive Pendant zu den Freiheit reklamierenden Photographen (das bei Bourdieu gleichsam den engagierten Amateuren zugesprochen wurde) gibt es daher nur in der Rolle des Photophilosophen oder eines im Sinne der Photophilosophie agierenden Photokritikers. Da selbst die Photographen laut Flusser nicht wissen, was sie tun, obwohl sie wissen, dass sie gegen die Apparate spielen,46 werden Photophilosophie und -kritik zusätzlich unumgänglich. Die Emanzipation von den Kulturbedingungen ist bei Flusser also zweiseitig konzipiert, produktiv bedarf sie der Photographen und rezeptiv der
Photokritik die Aufgabe, diese beiden ineinandergreifenden Verschlüsselungen aus jeder Photographie zu entziffern. [...] Gelänge es der Photokritik, diese beiden Absichten aus den Photographien zu entwirren, dann wären die photographischen Botschaften entziffert. Solange dies nicht gelingt, bleiben die Photographien unentziffert und erscheinen als Abbilder von Sachverhalten in der Welt dort draußen, so als hätten sie sich ›von selbst‹ auf einer Fläche abgebildet.« [Flusser Photo 44] 45 »Die Philosophie der Photographie hat aufzudecken, dass die menschliche Freiheit im Bereich der automatischen, programmierten und programmierenden Apparate keinen Platz hat, um schließlich aufzuzeigen, wie es dennoch möglich ist, für die Freiheit einen Raum zu öffnen.« [Flusser Photo 74] 46 »Sie wissen, dass sie gegen den Apparat spielen. Aber selbst sie sind sich der Tragweite ihrer Praxis nicht bewusst: Sie wissen nicht, dass sie eine Antwort auf die Frage der Freiheit im Apparatkontext überhaupt zu geben versuchen. Die Philosophie der Photographie ist notwendig, um die photographische Praxis ins Bewusstsein zu heben; und dies wiederum, weil in dieser Praxis ein Modell für die Freiheit im nachindustriellen Kontext überhaupt aufscheint.« [Flusser Photo 74] 43
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Philosophen, denn erst sie sind es, die die Freiheit unter den gleichmachenden Effekten einer technologisierten Kultur sicherstellen können.47 In seinen produktionstheoretischen Überlegungen argumentiert Flusser daher avantgardistisch im Sinne von Benjamins Kunstwerkaufsatz und seines Begriffs der »Gewöhnung«.48 So werden die »menschlichen Absichten« auch in der homogenisierenden Kultur technischer Bilder bereits unter der Voraussetzung einer praktischen Ingebrauchnahme der Apparate realisiert. Wegen der rein praktischen Überschreitung der »Kulturbedingungen« wird den Photographen dabei zwar kein begriffliches Verständnis ihrer Situation zugestanden, aber sie agieren doch unangeleitet ganz im Sinne eines emanzipativen Freiheitsgewinns.49 Flusser vollzieht allerdings nicht auch Benjamins radikalen Einschnitt in die Rezeptionstheorie nach, der ja schon der zunehmenden Dominanz technischer Bilder in der apparatisierten Kultur, nicht jedoch ihrer qualifizierten Erzeugung oder kritischen Entzifferung eine hinreichende Modifikation der allgemeinen Rezeptionskompetenzen zugestand und diese – anders als durch philosophische Anleitung – durch rezeptive Gewöhnung hervorgerufen sah.50 47 Photographen gelten erst beim späteren Flusser als Philosophen und Künstler gleichermaßen: »Die Geste des Photographen unter diesem Aspekt [der Suche eines optimalen Standpunkts] zu beobachten, heißt der Entfaltung des methodischen Zweifels zuzusehen. Und dieser ist die philosophische Geste par excellence.« [Vilèm Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie; Bensheim und Düsseldorf (Bollmann Verlag) 1993 (2. erw. Auflage), S. 110.] »Die Geste des Photographierens ist eine Kunstform.« [Ebd. 114] 48 »Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.« [Benjamin Kunst 41] 49 Betrachtet man die historischen Debatten zum technischen Bild in der kulturellen Moderne, dann sieht es so aus, als integriere Flusser die kontroversen Positionen, die Benjamin und Adorno vor der Anfertigung des Kunstwerkaufsatzes brieflich ausgetauscht haben. Adorno vertrat die bildungsbürgerliche Anleitungsfunktion der kulturellen Experten, Benjamin sprach sich für die Selbstanleitung »testender« Amateure im Zuge der praktischen Gewöhnungsprozesse aus und versuchte Chancen aufzuzeigen, die durch die technologisch veränderten Rezeptionsbedingungen möglich werden. 50 Die Notwendigkeit einer philosophischen Anleitung bringt in bildungsbürgerlicher Logik der avantgardistische Schlusssatz von Flussers Photophilosophie zum Ausdruck: »Eine solche Philosophie ist notwendig, weil sie die einzige Form von Revolution ist, die uns noch offensteht.« [Flusser Photo 74] 44
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
Flussers emanzipationstheoretische Interpretation der kulturell abweichenden Photographen sowie das auf ihre Praxis gegründete rezeptive Pendant führen so offenbar zu der gleichen soziologischen Personalisierung, wie sie Bourdieus These der Negation vorgesehen hatte: das ästhetische Verhältnis zur Photographie findet sich demnach nur in marginalen und isolierten Gruppen – wodurch zusätzlich der Eindruck entsteht, dass eine qualitative Bestimmung des Ästhetischen vollständig aus der Intimität der Gruppensituation und dem Nonkonformismus ihrer Werte hergeleitet werden kann. Die seltenen Momente einer rhetorischen Öffnung dieses soziologischen Zusammenhangs durch die entziffernde Tätigkeit der Photophilosophen, die das kritische Potential ästhetischer Verhältnisse zum Bild öffentlich distribuieren, machen tatsächlich ja nicht die ästhetische Praxis allgemein zugänglich. Vielmehr stellen sie, trotz Berufung auf ein »Muster der kritischen Reflexion über Bilder« oder ein »Modell für die Freiheit in der apparatisierten Kultur«, selbst keine ästhetischen Verhältnisse zur Photographie dar, sondern nur Kommentare, die auf der Grundlage der Resultate der ästhetischen Praxis möglich sind. Und wenn sich Bourdieu in seiner Fernsehvorlesung ausnahmsweise mit der Rolle des formfixierten Ästheten solidarisch erklärt und damit ebenfalls die Rolle von Flussers Photophilosophen (»ich würde sagen soziologisch«) beansprucht, so ändern solche Plädoyers nichts daran, dass der produktionstheoretischen Konzeption zufolge ein ästhetisches Verhältnis zur Photographie ausschließlich in der isolierten Position abweichender Photographen für möglich gehalten wird. Anders ausgedrückt: auch wenn die Philosophen die geglückten Produkte der Photographen kommentieren und »ins Bewusstsein heben«, können die Knipser der Theorie zufolge noch lange keine informativen Photos machen. Die ästhetische Abweichung gelangt aus der sozialen Isolation nur dadurch »hinaus«, dass sie in die Theorie überführt wird. Damit haben die von Flusser thematisierten, emanzipativen Aspekte der ästhetischen Negation keine gravierenden Auswirkungen auf Bourdieus Soziologie des Ästhetischen. Soziologisch betrachtet verbleibt das ästhetische Verhältnis zum Bild entweder in der hermetischen Marginalität der »sozialen Abweichler«, oder es wird ausgehend von den Photophilosophen, die zugleich Photokritiker sind, durch die kommentierte Vorführung informativer Photos simuliert.
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KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
2 . 4 D i e p r o d u k t i o n s t h e o r e t i s c h e Au f f a s s u n g des Ästhetischen – systematische Defizite, medienspezifische Einwände und ihre Konsequenzen In den beiden vorangegangenen Abschnitten war das ästhetische Verhältnis zur Photographie wesentlich produktionstheoretisch und damit ausschließlich im Kontext der photographisch produktiven Abweichler untersucht worden. Entsprechend hatten sich auch die soziologischen Thesen an diesen thematisch spezialisierten Kontext angepasst. Einerseits war der Nachweis soziologischer Strukturen innerhalb ästhetischer Verhältnisse zur Photographie über den Begriff der photographischen Negation versucht worden, indem diese gewissermaßen das Grundmuster aller ästhetischen Intentionen definieren sollte. Diese Auffassung einer spezifisch photographischen Intention kehrte, um eine emanzipative Qualität ergänzt, auch in Flussers Variation der ästhetischen Negation wieder. Andererseits hat dieser produktionstheoretische Fokus auch Konsequenzen für die soziologische Personalisierung aller Verhältnisse zur Photographie. Denn die für ästhetische Verhältnisse infragekommenden sozialen Akteure lassen sich nun ausschließlich in den Gruppen künstlerisch/ ästhetisch engagierter Produzenten lokalisieren. Außerhalb dieser photographisch produktiven Gruppen oder jenseits entsprechender Typen (Flusser) gibt es ästhetische Verhältnisse zur Photographie demnach nicht. Sowohl bei Flusser als auch bei Bourdieu gilt daher als das primäre Indiz für ein ästhetisches Verhältnis zur Photographie eine geeignete produktive Intention, die bei Flusser »menschliche« und bei Bourdieu »künstlerische Absicht« heißt.51 Der theoretische Ausgangspunkt einer Erklärung des Ästhetischen liegt damit in der photographischen Produktion und den zugehörigen adäquaten Intentionen der Photographen. Dieser Ausgangspunkt wirkt im weiteren Kontext von Bourdieus Photosoziologie allerdings systematisch defizitär (was nur bedeuten soll, dass die Analyse des Ästhetischen durch den theoretischen Kontext der Photosoziologie unvollständig zu werden beginnt). Es zeigt sich nämlich, dass eine produktionstheoretische Auffassung des Ästhetischen das 51 »Die Verwirklichung der künstlerischen Absicht ist in der Photographie deshalb so schwierig, weil sie sich nur schwer der Funktionen zu entledigen vermag, denen sie ihre Existenz verdankt. Es wäre naiv zu glauben, dass mit der Photographie zugleich die ästhetische Erfahrung allen zugänglich sei [...]« [Kult 82]. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung wird hier produktiv bestimmt, nämlich als die Ausführung künstlerischer Absichten mittels der Photographie. Synonym zum Begriff der »künstlerischen Absicht« verwendet Bourdieu ebenfalls den Begriff der »ästhetischen Intention«. 46
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
charakteristische Profil ihres Untersuchungsgegenstandes genau anhand jener Aspekte bestimmt, anhand derer die Photographie seitens des »populären, funktionalen Geschmacks« bewertet wird. Denn es zeichnet laut Bourdieu besonders den »funktionalen Geschmack« aus, den Wert photographischer Bilder nicht anhand ihrer Bildlichkeit sondern unter Berücksichtigung ihrer Motive und Intentionen zu bestimmen, weil deren Konventionalität von den photographisch Urteilenden überprüft wird.52 Wenn Bourdieu daher die Darstellung des Ästhetischen ebenfalls unter Verweis auf die stilisierte Abweichung der photographischen Intention oder die gezielte Verweigerung familiärer photographischer Motive führt,53 so scheint er selbst aus der Perspektive des »funktionalen Geschmacks« zu argumentieren. Solange die Prämisse der Intentionalität die soziologische Darstellung des Ästhetischen leitet, werden ihre Ergebnisse möglicherweise durch die stillschweigend anerkannte Position des »funktionalen Geschmacks« modifiziert, so dass sich hier das Problem einer unbemerkten theoretischen Befangenheit zeigt, die das Thema ästhetischer Verhältnisse zur Photographie irrtümlich limitiert. Ein weiterer, hierauf unmittelbar folgender Einwand betrifft unbemerkte medientheoretische Prämissen in der produktionstheoretischen Auffassung des Ästhetischen. Die Intentionalitätsprämisse impliziert nämlich eine folgenreiche medientheoretische Naivität: die künstlerische Absicht scheint hinreichend wirkmächtig zu sein, um alle Eigenschaften und Qualitäten des photo-
52 »Die Lesbarkeit des Bildes selbst ist eine Funktion der Lesbarkeit ihrer Intention (oder ihrer Funktion), und das ästhetische Urteil, das sie hervorruft, fällt um so günstiger aus, je vollkommener die Ausdrucksangleichung des Bedeutenden an das Bedeutete gelungen ist.« [Definition 103] 53 Das abweichende photographische Motiv gilt als deutlichster Beleg einer abweichenden photographischen Intention: »Selbst die passionierten Amateure bekunden die Originalität ihrer künstlerischen Absichten dadurch, dass sie andere Gegenstände photographieren, statt Gegenstände auf andere Weise abzubilden, d.h., sie distanzieren sich von den rituellen Funktionen, statt ihnen neue Bedeutungen zu verleihen.« [Kult 74] Allerdings registriert Bourdieu auch, dass die Wahl eines konventionellen Motivs keineswegs künstlerische Absichten ausschließt, hält diese intendierte Kombination unterschiedlicher Merkmale aber für eine Ausnahme: »Deshalb fällt eine Äußerung wie diese absolut aus dem Rahmen: ›Selbst wenn man Erinnerungsphotos macht, kann man seinen Gegenstand auf interessante Weise aufnehmen. Es darf einem nicht egal sein, wie man die Aufnahme macht. [...] Man muss versuchen, auch Erinnerungsphotos künstlerisch zu gestalten.‹ (Buchhalter, 24 Jahre, Mitglied eines Photoklubs).« [Kult 301] 47
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
graphischen Produkts vollständig definieren zu können.54 Auch in diesem Aspekt stützt der Intentionalitätsfokus auf das Ästhetische wieder die grundlegenden Annahmen des funktionalen Geschmacks, demzufolge ja die formalen, zum photographischen Bedeuten gehörigen Eigenschaften in der Wertschätzung der photographischen Praxis irrelevant sind. Und auch hier könnte wieder eine irrtümliche Limitierung des Themas wirksam werden, insofern die Menge informativer Photos keineswegs mit der Menge adäquater ästhetischer Intentionen übereinzustimmen braucht. Beide Einschränkungen, die unbemerkt systematische und die daraus resultierende medientheoretische, haben Konsequenzen für die soziologischen und die kulturtheoretischen Ansprüche beider Autoren, denn sie legen der Analyse des Ästhetischen theoretische Hypotheken auf, die es nun zu überprüfen gilt. Ein kurzer Seitenblick auf Flussers Phototheorie scheint die theoretische Brisanz der Intentionalitätsprämisse zu bestätigen. Zwar hat sich Flusser gegen den Effekt einer beiläufigen medientheoretischen Ignoranz dadurch gesichert, dass er alles, was das photographische Bild außerhalb des Einflussbereichs »menschlicher Absichten« konstituieren könnte, dem technologischen Apparatprogramm zuordnet. Das klare Schema dieser Unterscheidung zwischen zwei das photographische Bild determinierenden »Intentionen«, von denen die eine die abweichende »menschliche Absicht« ist und die andere alle weiteren Determinationen umfasst und als Resultat technologischer Programme rangiert, scheint zunächst systematisch vollständig zu sein.55 54 Symptomatisch für diese Fehlstelle in den Theorien Bourdieus und Flussers ist die Tatsache, dass beide die photographische Laborarbeit theoretisch unberücksichtigt lassen. Bourdieu räumt für seine eigene photographische Praxis ein, diese delegiert zu haben [vgl.: Bourdieu Algerien 24] und beschreibt die Entwicklung von photographischen Negativen und die Vergrößerung von Abzügen (die zwangsläufig stattfindet, sobald mehr als nur ein Kontaktabzug gemacht wird) als Distinktionsversuche der Amateurphotographen [vgl.: Kult 57]. Flusser glaubt, die Laborarbeit als technologisierte Angelegenheit gänzlich ignorieren zu können [vgl.: Flusser Geste 107]. Er berücksichtigt nicht, dass gerade ihre Durchführung seitens engagierter Photographen von den gleichen methodischen Zweifeln und »menschlichen Absichten« geleitet werden kann, wie sie für die Geste der Aufnahme galten. 55 Bemerkenswert ist dabei, dass Flusser eigentlich als Kritiker einer intentionalen Definition photographisch/ technischer Bilder auftritt. Seine Kritik an der Adorno/ Horkheimerschen Kulturindustrie-These reklamiert gerade deren Fixierung auf einen übermächtigen Agenten hinter der Kulturindustrie, der ihre allgegenwärtigen Produkte intendiert habe. An dessen Stelle müsse vielmehr eine tech48
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
Trotzdem verwickelt sich auch Flusser mit seiner starken Ausrichtung auf die intentionalen Ursachen photographischer Bilder in aufschlussreiche Widersprüche, die genau im Zwischenraum zwischen menschlichen und programmatischen Absichten entstehen und von hier ausgehend nicht nur medientheoretische Einwände gegen die Intentionalitätsprämisse erzeugen, sondern ebenfalls die kulturtheoretischen Konsequenzen und die soziologischen Positionen kontrastieren. Flusser bindet etwa die qualitative Differenz zwischen informativen und redundanten Photographien an das Fehlen oder Vorliegen photographischer Absichten und nicht an den Ausgang einer kritischen »Entzifferung«. Es ist demnach nicht der Rezeptionsprozess, der die Photographien informativ macht, vielmehr gilt die entsprechende Qualität eines Photos als Resultat einer ungewöhnlichen Intention. Die aufgestellte Intentionalitätsprämisse impliziert daher eine kausale Qualifikation der photographischen Bilder, derzufolge sie das sind, was sie darstellen sollen, nicht aber das, was sich an ihnen wahrnehmen lässt. Flussers Ausrichtung auf die Intentionalität ist so stark, dass er die Ebene des photographischen Bedeutens vollständig durch die Intention determiniert sieht: »Daher sind die technischen Bilder nicht vom Bedeuteten her, sondern vom Bedeutenden (›signifiant‹) her zu entziffern. Nicht von dem her, was sie zeigen, sondern woher sie zeigen.« [Flusser Bilder 53]56 »Informativ« werden die photographischen Bilder demnach erst durch die »menschliche Absicht« des gegen die Apparate spielenden Photographen, dessen Handeln ihnen ihre Qualität verleiht. nologisch/ programmatische Bestimmung der technischen Bilder angenommen werden, die Flusser allerdings mit dem Begriff des Programms wiederum als eine Intention auffasst, die die Produkte überall dort vollständig determiniert, wo nicht noch eine weitere, nämlich ästhetische Intention hinzukommt [vgl.: Flusser Photo 58]. 56 Es ist Bourdieu, der dokumentiert, dass die rezeptiven Gebrauchsweisen der »populären Ästhetik« Verunsicherungen in der Frage, was Bilder zeigen, mit Hypothesen hinsichtlich dessen, woher Bilder zeigen, kompensieren (s.u.). Das mediale Wie des Zeigens (eigentlich auch ein Woher) wird damit übergangen und hier stimmt Flusser mit Bourdieus »populärem Geschmack« überein. Denn das Wie und Woher des photographischen Zeigens kann laut Flussers intentionalistischer Auffassung der Photographie mit Fragen nach seinem Wozu beantwortet werden: »Zu fragen bei ihnen ist, wozu sie das, was sie zeigen, bedeuten. Denn was sie zeigen, ist nur eine Funktion dessen, wozu sie bedeuten.« [Flusser Bilder 54; eig. Hervorh.] Das photographisch Bedeutende ist bei Flusser damit identisch mit der Intention von Photograph oder Apparat – und ignoriert so das Medium des Bedeutens. 49
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Generell gibt es in der Photographie bei Flusser nur Funktionen von Programmen und Funktionäre, die diesen Funktionen entsprechen.57 Die »Freiheit des Photographen« (womit genaugenommen noch der Knipser gemeint sein dürfte) ist laut Flusser solange eine »programmierte Freiheit«, solange er sich nicht von den technologischen und den »Kulturbedingungen« zu emanzipieren versucht, die ihm die Befolgung der Apparatprogramme diktieren. Diesen programmierten Funktionen widerspricht jedoch die »menschliche Absicht« der (echten) Photographen. Man kann sie konkretisieren als die »bewusst bemühte« Absicht, »unvorhergesehene Informationen herzustellen«, also Informationen zu erzeugen, die nicht bereits in Programmen fixiert sind.58 Ist er in diesem Bestreben erfolgreich und vermag er, der »Freiheit einen Raum zu öffnen«, so lassen sich die photographische Handlung und ihr Produkt nicht mehr im Möglichkeitsbereich des Programms verorten, da der Photograph dieses erfolgreich überschreitet: »Die informativen Photos der bewusst gegen das Programm spielenden Photographen bedeuten Durchbrüche durch das Photouniversum – und sind im Programm nicht vorgesehen.« [Flusser Photo 63] Obwohl also generell die Möglichkeit außer-programmatischen Photographierens besteht, schließt Flusser eine gelegentliche oder zufällige Aufhebung der Apparatdetermination aus. Entsprechende Bemerkungen Flussers scheinen nicht mehr den »Photographen«, sondern eher den theoretisch differenzierten Typus des »Knipsers« zu betreffen: »Bei der Wahl seiner Kategorien mag der Photograph meinen, eigene ästhetische, erkenntnistheoretische oder politische Kriterien ins Spiel zu bringen. Er mag sich vornehmen, künstlerische, wissenschaftliche oder politische Bilder zu machen, bei
57 »Es sieht hier so aus, als könne der Photograph frei wählen, als folge die Kamera seiner Absicht. Aber die Wahl bleibt auf die Kategorien des Apparates beschränkt, und die Freiheit des Photographen bleibt eine programmierte Freiheit.« [Flusser Photo 33] 58 »Mit einer Ausnahme: den sogenannten experimentellen Photographen [...] Sie sind tatsächlich bewusst bemüht, unvorhergesehene Informationen herzustellen, das heißt, aus dem Apparat etwas herauszuholen und ins Bild zu setzen, was nicht in seinem Programm steht.« [Flusser Photo 73 f.] Was gegen das Apparatprogramm verstößt, kann doch aus dem Apparat »herausgeholt« werden. Damit würde jedoch der Apparat oder das technische Medium Photographie das NichtProgrammatische bereits enthalten. Ein Aspekt, nach dem der »Informationsgehalt« des Photos – seine Nicht-Redundanz – zwar apparatisch (oder medial) aber nicht notwendig programmatisch bedingt wäre. Die naive Photographie, die jenseits geeigneter Intentionen aus dem Apparat unvorhergesehene Informationen herausholt, wird dadurch prinzipiell wieder möglich. 50
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
denen ihm der Apparat nur Mittel ist. Aber seine scheinbar außer-apparatischen Kriterien bleiben dennoch dem Apparatprogramm unterworfen.« [Flusser Photo 33]
Gerade die unvermeidliche Präzision in der Bedienung des Apparats gilt Flusser als Beleg der nur »programmierten Freiheit« der Photographen.59 Dieser Präzision im Umgang mit der Technik kann aber letztlich auch die »menschliche Absicht« nicht entgehen. Denn obwohl sich die Photographen »der Tragweite ihrer Praxis nicht bewusst« sind, realisiert sich ihre »menschliche Absicht« nur in Auseinandersetzung mit dem Apparat und genau in dieser Hinsicht muss sie laut Flusser dann eben doch als »selbstbewusst und reflexiv« gelten.60 Die Frage, die ich mit diesen widersprüchlichen Aussagen zwischen den deterministischen Anfangs- und den optimistischen Schlusskapiteln von Flussers Photophilosophie formulieren möchte, zielt darauf ab, ob auch jenseits »menschlicher Absichten«, womit nach Bourdieu andere soziologische Gruppen als die engagierten Photoamateure gemeint wären, dem Programm zuwiderlaufende, nicht in ihm enthaltene Photos gemacht werden können. Gegen diese Möglichkeit eines naiven Zustandekommens informativer Photos spricht sich Flusser explizit aus und begründet dies mit dem Hinweis auf die zweiseitig intentionale Bestimmung der photographischen Produktion. Es gibt laut Flusser kein »naives, unbegriffenes Photographieren«, das nicht schon im Sinne der Technologie »programmatisch« agieren würde,61 weil das
59 »Um die Apparat-Kategorien, so wie sie auf der Außenseite des Apparates programmiert sind, wählen zu können, muss der Photograph den Apparat ›einstellen‹, und das ist eine technische Geste, genauer: eine begriffliche Geste (›Begriff‹, wie noch zu zeigen sein wird, ist ein klares und distinktes Element des linearen Denkens).« [Flusser Photo 33 f.] 60 »Weil der Mann mit dem Apparat ein Mensch ist und niemand existiert, den man einen ›naiven Menschen‹ nennen könnte (das ist ein Widerspruch in sich), kann es folglich keine ›naive Photographie‹ geben. Der Mann mit seinem Apparat weiß, was er macht, und wir können es wahrnehmen, wenn wir seine Gesten beobachten. Deshalb ist es notwendig, seine Gesten in philosophischen (reflexiven) Begriffen zu beschreiben. Jede andere Beschreibungsweise wäre unbeholfen, da sie die reflexive und selbstbewusste Essenz der Geste nicht erfassen würde.« [Flusser Geste 106] 61 »Es gibt kein naives, unbegriffenes Photographieren. Die Photographie ist ein Bild von Begriffen. In diesem Sinne sind alle Kriterien des Photographen im Programm des Apparats als Begriffe enthalten.« [Flusser Photo 34] Bestätigt wird dies durch einen Koautor von Bourdieus Photobuch, Chamboredon: »Wir sind an keiner Stelle auf einen Text oder eine Theorie gestoßen, die die Mög51
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Fehlen »menschlicher Absichten« unvermeidlich in der Bestätigung der apparatischen Intention resultiert. Während auf der Grundlage »bewusster Bemühungen« »Durchbrüche durch das Photouniversum« in Form von Bildern vorkommen, die »im Programm nicht vorgesehen sind«, kann die naive Bedienung des Apparats laut Flusser solche bildhaften Programmdurchbrüche nicht erzeugen. Ein Beitrag von Zufall und Naivität zur photographischen Aufnahme müsste Flusser zufolge vollständig der programmierten Intention der Technologie zugeschrieben werden. Dass Knipser informative Photos anfertigen könnten, erscheint wegen der programmatischen Intentionalität, die hinter Naivität und Zufall angenommen wird, als eine theoretisch unmögliche Option. Die produktionstheoretische Darstellung des Ästhetischen und ihre Abhängigkeit von der Intentionalitätsprämisse schließt aus, dass auch eine nicht auf »streng ästhetische Zwecke gerichtete« photographische Praxis ein ästhetisches Verhältnis zur Photographie evozieren kann. Oder in der Terminologie Bourdieus ausgedrückt: es ist theoretisch undenkbar, dass die sozialen Exponenten des populären Geschmacks jemals ein sozial dysfunktionales, nämlich formales Verhältnis zu photographischen Bildern entwickeln. In dieser Konsequenz stimmen Flusser und Bourdieu also grundsätzlich überein. Die »engagierten« Photoamateure gelten auch Bourdieu nur deshalb als geeignete Personifikationen einer ästhetischen Praxis, weil ihre photographischen Intentionen von den funktionalen Normen der Mehrheitspraxis abweichen. Als Dokumente einer erfolgreichen ästhetischen Praxis werden daher nur jene Photographien aufgefasst, deren Motive scheinbar unter dem Einfluss entsprechend qualifizierter Absichten entstanden sind.62 Allerdings nennt auch Bourdieu Situationen, in denen sich eine Aufhebung der mehrheitlich geltenden »funktionalen« Normen gerade innerhalb ihres sozialen Kontextes annehmen lässt, wodurch nun die durch die Intentionalitätsprämisse ausgeblendete, medienspezifische Konstitution der Photographie thematisch wird. So offeriert der spielerische Umgang mit den technischen Möglichkeiten der Photographie Freiheitsmomente, in denen ohne thelichkeit eines naiven photographischen Gelingens behauptet oder nahegelegt hätten; die Photographie kennt keinen Zöllner Rousseau [...]« [Photo 317]. 62 In einer Fußnote der Gesellschaftlichen Definition der Photographie heißt es: »In einer Stichprobe von 500 Amateurphotos liegt der Anteil der Bilder, an denen sich ein technisches oder ästhetisches Bemühen ablesen lässt, unter zehn Prozent.« [Definition 307] Die Bilanzierung der empirischen Häufigkeit einer ästhetischen Praxis verläuft bei Bourdieu grundsätzlich auf der Ebene spezifischer Intentionen (»ästhetischer Zwecke« [Kult 81]) und spezifischer photographischer Motive (»beliebige Gegenstände« [Kult 297]), die als Resultate dieser Intentionen gelten. 52
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
matisch werdende »künstlerische Absicht« Abweichungen von den Prämissen der »funktionalen Ästhetik« gerade im Kontext der traditionellen Familienund Urlaubsphotographie auftreten: »Die Gleichförmigkeit der Themen auf dem einzelnen belichteten Film beweist, dass man ihn dem feierlichen Anlass widmet, und zwar so sehr, dass die seltenen eigenständigen oder anscheinend von einem authentischen Interesse an der Photographie inspirierten Aufnahmen in der Mehrzahl der Fälle einer Laune gehorchen, die man sich erlaubt, sobald die obligatorischen Photos gemacht sind, oder weil man den Film ›vollknipsen‹ will, um ihn schneller zum Entwickeln bringen zu können.« [Kult 296; s.u. Kommentierte Bildbeispiele]
Nach Abarbeitung familiärer photographischer Pflichten, wie sie im sozialen Kontext der »funktionalen Ästhetik« obligatorisch sind, können demnach die technischen Möglichkeiten der Photographie mitunter spielerisch erprobt werden.63 Da die entstandenen Bilder laut Bourdieu allerdings nur Ausdruck einer Laune sind und Launen nicht als qualifizierte ästhetische Intention gelten, können sie auch nicht als relevante soziologische Bezugsgrößen einer produktiven ästhetischen Praxis aufgefasst werden. Der launische Familienphotograph ist kein fanatischer Amateur, wohl auch deshalb, weil ihm die in der soziologischen Logik gesellschaftlicher Bedingungshaftigkeit obligate soziale Abweichung fehlt. Eben darum ist das photographische Resultat solcher Launen nur »anscheinend von einem authentischen Interesse an der Photographie inspiriert«. Die Frage, inwieweit sich das Phänomen der photographischen Laune und seine Resultate als Einwand gegen die Intentionalitätsprämisse auffassen lassen, scheint bloß eine Frage der Wahl einer bestimmten Definition des Ästhetischen zu sein. Flusser und Bourdieu haben sich demnach für eine produkti-
63 Der Photoapparat gilt Bourdieu, wie Flusser auch, als ein Spielzeug, für dessen Gebrauch Launen typisch sind. So erklärt Bourdieu: »worin sich das Photographieren vom Erlernen der hohen Künste unterscheidet [...], weil das Photographieren als bloßer Zeitvertreib niemals der organisierten Unterweisung oder Förderung unterliegt, weil man ohne weiteres einräumt, dass diese Tätigkeit, die – und sei sie noch so ›lehrreich‹ – nie mehr als ein Spiel ist, das Objekt einer vorübergehenden Neigung, von der man sich ebenso schnell löst, wie man von ihr ergriffen wurde, entweder, um anderen Launen nachzugehen oder weil man ihrer überdrüssig geworden ist.« [Kult 298 f.] Noch deutlicher Flusser (18 Jahre später): »Der Photoapparat ist kein Werkzeug, sondern ein Spielzeug, und der Photograph kein Arbeiter, sondern ein Spieler: nicht ›Homo faber‹, sondern ›Homo ludens‹. Nur spielt der Photograph nicht mit, sondern gegen sein Spielzeug.« [Flusser Photo 25 ff.] 53
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onstheoretische Position entschieden, die das ästhetische Verhältnis zur Photographie von geeigneten Intentionen abhängig erklärt. Andererseits kommen durch die »launische« statt einer »künstlerischen« Abweichung aber auch für diese Position systematisch relevante Einwände zustande. Denn die Laune stellt ja das photographische Ergebnis ästhetischer Intentionen mit dem von Zufall und Naivität gleich, so dass doch gefragt werden muss, welchen Anteil die medienspezifischen Eigenschaften der Photographie am Zustandekommen informativer Photos haben. Hier schließen sich unmittelbar soziologische und rezeptionstheoretische Konsequenzen an, die auch für den kulturkritischen Anspruch der beiden Autoren relevant sein dürften. Denn obwohl die launisch entstandenen Bilder nur »anscheinend von einem authentischen Interesse an der Photographie inspiriert« sind, konfrontieren sie den sozialen Kontext der Familienphotographie, ihre sozial funktionalisierende Leserschaft, mit unkonventionellen Bildern, die den »authentisch« ästhetisch intendierten offenbar zum Verwechseln ähnlich sehen, (denn darin besteht ja der entstandene »Anschein«, der ihnen auf der Grundlage einer zur Laune korrigierten »Intention« dann wieder abgesprochen werden muss). Veranlassung zu einem solchen systematischen Einwand gibt nicht zuletzt Bourdieus Darstellung der Rezeptionspraxis der »populären Ästhetik«. Denn gerade die »funktionalen« Rezipienten photographischer Bilder haben Strategien entwickelt, mit denen sie deren verunsichernde »semantische Vieldeutigkeit« kompensieren können: »Durch die semantische Vieldeutigkeit des Bildes verunsichert und unfähig zu akzeptieren, dass das Bedeutete im Bedeutenden selbst beschlossen liegt, erfindet man einen Sinn, indem man lediglich das Subjekt erfindet, das dem unbedeutenden Gegenstand dadurch zu einer Bedeutung verhelfen könnte, dass es ihm eine Funktion überträgt.« [Definition 307]
Die »Erfindung eines Subjekts« ist dabei nur eine der Kompensationsstrategien zur Bewältigung jener von Bourdieu registrierten »semantischen Vieldeutigkeit« (die im Zitat noch als das Resultat künstlerischer Maßnahmen und Absichten erscheint).64 Diese Kompensationsstrategie des »populären Ge-
64 Die Formulierung, dass das »Bedeutete im Bedeutenden selbst beschlossen liegt«, spielt auf solche künstlerischen Photographien an, deren Intention zufolge nur das photographisch Bedeutende bedeuten soll. Jenseits dieser bereits intendierten Übereinstimmung (die Bourdieu in seiner Interpretation von Kants Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck dann als den angestrebten L`art pour l`art-Gehalt künstlerischer Werke wiederholen wird [s. Kap. 4.1]), stellt sich der ästhetische Formbezug in rezeptiver Hinsicht weniger spezialisiert dar, als eine 54
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
schmacks« stimmt grundsätzlich mit der theoretischen Auffassung intendierter Photographien überein – denn die Erfindung eines Subjekts ist ja nicht als der Entwurf einer eigenwilligen, dem besonderen Photo in seiner Vieldeutigkeit entsprechenden schöpferischen Phantasiegestalt anzusehen, sondern vielmehr als die Zuweisung des uneindeutigen Bildes an eine im Subjektbegriff stereotypisierbare Intention. So oder so wäre die Annahme einer spezifischen oder stereotypisierten Intention ein Akt der rezeptiven Bewältigung einer Vieldeutigkeit, deren Ursprung selbst damit aber offenbar über die Ebene des Intendierten hinausreicht. Die »semantische Vieldeutigkeit« entstammt laut einer Randbemerkung Bourdieus nicht nur dem Bereich künstlerisch intendierter Effekte sondern ebenfalls bereits der medienspezifischen Konstitution der Photographie, denn auch Bourdieu hält es für die primäre medienspezifische Qualität der Photographie, »Verwirrung zu stiften«. So heißt es zu Beginn des zweiten photosoziologischen Textes: »Freilich, die allgemeine Praxis scheint, entgegen allen Erwartungen, gerade diesem zentralen Vermögen der Photographie zuwiderzulaufen: Verwirrung zu stiften.« [Definition 88] Ohne ihn direkt zu zitieren, nennt Bourdieu in diesem Zusammenhang Walter Benjamin und verweist auf einen Aspekt in dessen These vom »Optisch-Unbewussten«,65 mit der Benjamin die medienspezifischen Eigenschaften der Photographie problematisiert hatte.66 Gerade ein medienspezifisches »Vermögen der Photographie [...], Verwirrung zu stiften«, hätte für die Theorie der photographischen Rezeption allerdings die gleichen Konsequenzen wie eine verwirklichte künstlerische AbAufmerksamkeit auf das piktoral Bedeutende, unabhängig davon, ob es stilisiert vorgetragen und damit künstlerisch intendiert sein mag oder nicht. 65 Der Begriff des »Optisch-Unbewussten« wird im Photobuch nicht von Bourdieu selbst, sondern nur von seinem Koautor Jean-Claude Chamboredon verwendet und zwar mit dem Hinweis darauf, dass der damit möglich werdende Begriff eines technisch veranlassten Zufalls in keine ästhetische Theorie Einlass gefunden habe [vgl.: Photo 194, 317]. 66 Über den von Bourdieu angedeuteten Aspekt der Zeitlichkeit hinaus, hatte Benjamin den Begriff auf räumliche Aspekte bezogen. »Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man ›ohnehin‹ undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte [...] So wird handgreiflich, dass es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht.« [Benjamin Kunst 36; s.u. Kommentierte Bildbeispiele] 55
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
sicht und sie würde zudem Photographien den gleichen »seltenen, eigenständigen« Eindruck verleihen, der ursächlich den Launen der Familienphotographen zugeschrieben wurde: »Die Verwirrung, die in diesem Feld bisweilen von ästhetischen Ambitionen hervorgerufen wird, rührt im Grunde daher, dass man weder weiß, welches ihre Intention ist, noch, ob Absicht oder Ungeschicklichkeit im Spiele gewesen ist.« [Definition 103] Der künstlerisch intendierte Erfolg ästhetischer Ambitionen ist demnach ein rezeptiver Zustand, der mit der Wahrnehmung der Photographie hinsichtlich ihres medienspezifischen Vermögens übereinstimmt – und damit steht der theoretische Status der künstlerischen Intention für die photographische Rezeption grundsätzlich in Frage. Kurzum, die »sozialen Gebrauchsweisen der Photographie« sind tendenziell mit einer höheren Anzahl unverständlicher (semantisch vieldeutiger) Bilder konfrontiert als sie durch die ästhetischen Ambitionen der engagierten Photoamateure (der Ästheten) erzeugt werden könnten. Denn wenn es bereits eine Eigenschaft des Mediums ist, »Verwirrung zu stiften«, dann kann es zwar sein, dass besonders Bilder, »die mehr oder weniger mit der orthodoxen Wahrnehmungsweise und der allgemein geübten Photographie brechen«, Überraschung auslösen (und das können künstlerische Photographien zweifelsohne). Aber die künstlerisch unorthodoxen Photographien konstituieren diese nicht, sondern schaffen nur stilisierte Anlässe, in denen die potentielle semantische Vieldeutigkeit des Mediums Aufmerksamkeit evoziert. Dieser (bild- und) medientheoretische Aspekt muss als Herkunftsangabe jener semantischen Vieldeutigkeit begriffen werden, die dann durch den Einsatz konventionalisierter »Leseschablonen« wiederum reduziert und gebannt wird: »Die Bilder, die unter Ausnutzung der Möglichkeiten der photographischen Technik mehr oder weniger mit der orthodoxen Wahrnehmungsweise und der allgemein geübten Photographie brechen, lösen Überraschung aus. Da das Sichtbare stets nur das Lesbare ist, suchen die Subjekte immer wieder Zuflucht bei Leseschablonen [...]« [Definition 87].
Der letzte Satz enthält einen instruktiven Widerspruch, der direkt auf das übergangene Problem einer medienspezifischen Vieldeutigkeit verweist. Warum suchen die Subjekte »Zuflucht« bei Leseschablonen? Offenbar deshalb, weil hier (im Ansatz) doch etwas sichtbar wird, was nicht lesbar ist. Die Formulierung, dass »das Sichtbare stets nur das Lesbare ist«, referiert einen Rezeptionsmodus photographischer Bilder, der schon (oder stets) unter Einsatz von Leseschablonen verläuft. Dieser Modus wird demnach ergriffen und erscheint als »Zuflucht«, weil er es möglich macht, dass auf seiner Grundlage kompensatorisch auf die Tatsache reagiert werden kann, dass das Sichtbare stets mehr als das Lesbare ist. Erst nach gelingender Anwendung von Lese56
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
schablonen tritt Bourdieus Diktum in Kraft, erst dann ist das »Sichtbare stets nur das Lesbare«. Auch Bourdieu trennt technische Möglichkeiten von ästhetischen Absichten.67 Der Hinweis auf die »Ausnutzung« dieser Möglichkeiten impliziert, dass entsprechend qualifizierte Intentionen im Spiel sind. Damit wäre allerdings wieder die eigentliche Pointe dieser Überlegung theoretisch befriedet, derzufolge das Sichtbare bereits aufgrund der Medialität des photographischen Bildes (mitunter) verwirrend mehr ist, als sich an ihm dadurch lesen lässt, dass das Verwirrende für intendiert gehalten wird. Die medientheoretische Perspektive stellt offensichtlich die Intentionalitätsprämisse informativer Photos in Frage.68 Der Einsatz konventionalisierender »Leseschablonen« und die Projektion von photographischen Intentionen, deren knappeste Form die Erfindung eines intendierenden Subjekts ist, dokumentieren, dass die »Praxis der Mehrheit«, die die Praxis der Knipser ist, sehr viel häufiger und zumindest latent, mit solchen informativen Photographien durchsetzt ist, in deren Rezeption das formal Bedeutende (der technische und mediale Modus des photographischen Bedeutens) selbst Aufmerksamkeit zu erregen versteht. Das Thema der ästhetischen Abweichler, wie es vom qualitativen Modell der Form-FunktionsDifferenz beschrieben wurde, kursiert daher auch jenseits geeigneter produktiver Intentionen und verlässlicher soziologischer Personalisierungen in der Welt der Knipser – als Resultat der piktoralen und medialen Konstitution photographischer Bilder. Deshalb wäre es ratsam, die Frage nach dem Ästhetischen in der Photographie prinzipiell von der Prämisse einer künstlerisch verstandenen Intentionalität losgelöst zu betrachten. Denn wenn der unorthodoxe Formbezug, den photographische Ästheten durch die experimentelle 67 Bourdieus Formulierung, dass die unorthodoxen Bilder unter »Ausnutzung der Möglichkeiten der photographischen Technik« entstehen, lässt auch an Flussers Auffassung der Praxis der Photographen denken, die »aus dem Apparat etwas herausholen und ins Bild setzen, was nicht in seinem Programm steht« (s.o.). 68 Letztlich ist noch der Begriff der Laune als unbestimmte Intention und Intention des Unbestimmten der Intentionalitätsprämisse verpflichtet, die die medienspezifisch situierte (aber darum nicht auch notwendig medial veranlasste) »semantische Vieldeutigkeit« begrenzen soll. Die seitens der Theorie vorgenommene Unterstellung einer »Laune« für jene Photos, die im sozialen Kontext der Knipser mit der »orthodoxen Wahrnehmungsweise brechen«, muss daher ebenfalls als ein Akt der »Erfindung eines Sinnes und eines Subjekts« in Einklang mit der »funktionalen Ästhetik« angesehen werden. Sie dient auch in der Theorie dazu, das irregulär entstandene Photo »eindeutig« zu machen und damit seine systematische Verunsicherung der Rezeptionstheorie und der Intentionalitätsprämisse zu demontieren. 57
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Stilisierung des photographischen Bedeutens erzeugen, auch auf andere Weise in die »Welt der Knipser« eintreten kann, dann muss die Analyse des Ästhetischen in der Photographie aus dem sehr viel weiteren Fokus der Rezeptionstheorie betrieben werden. Die für das Verständnis des Ästhetischen in der Photographie entscheidende Frage betrifft dann in letzter Konsequenz aber nicht mehr nur die Möglichkeit, dass es auch eine naive, absichtslose photographische Praxis gäbe, die informative Photographien erzeugt (Bourdieu hatte dies ja teilweise für möglich erklärt, während Flusser das naive Photographieren wegen seines grundsätzlichen Technikprimats ausschließt). Die Frage nach dem Ästhetischen in der Photographie betrifft nach Einbezug ihrer medienspezifischen Aspekte ebenfalls einen vormals für ungeeignet befundenen sozialen Kontext und dessen Akteure. Sie lautet: Ist es möglich und was würde es (für die Theorie) bedeuten, wenn die redundanten Photos der Knipser diesen selbst informativ erschienen? Gemäß Flussers Rede von einem »Modell für die Freiheit« zielt diese Frage darauf ab, ob es nicht auch jenseits der genannten soziologischen oder typologischen Personalisierungen des Ästhetischen rezeptive Freiheiten gäbe, die selbst noch die redundanten Photos des allgegenwärtigen Photouniversums informativ werden lassen? Jene Photographien also, die sich nicht explizit ästhetischen Intentionen verdanken, sondern im guten Glauben an die Befolgung sozial konventionalisierter Normen angefertigt werden und bei denen, aus welchem Grund auch immer, die immanenten Eigenschaften des Mediums Aufmerksamkeit in die Region des photographischen Bedeutens leiten (s. kommentierte Bildbeispiele). Diese war von Bourdieu als das Thema ästhetischer Formbezüge benannt worden, so dass sich nun an seine Photosoziologie die Frage richten lässt, wie ein solches rezeptiv ästhetisches Verhältnis zur Photographie beschrieben werden kann und ob es, im Sinne Bourdieus, soziologischen Erklärungen zugänglich ist oder gar durch diese zu definieren wäre?
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2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
2.5 Kommentierte Bildbeispiele: Bei den folgenden Abbildungen handelt es sich um zwei (jüngst wiederentdeckte) photographische Papierabzüge, die dem ersten von mir jemals wissentlich und vollständig belichteten Film entstammen (Entstehungszeitraum ca. Mitte der 80er Jahre). Da diese Aufnahmen, die von mir im Alter von ca. 14 Jahren während eines winterlichen (weihnachtlichen?) Familienausflugs angefertigt wurden, ohne handwerkliche Vorkenntnisse oder professionelle Anleitung entstanden sind, erfüllen sie in den wesentlichen Aspekten Bourdieus Profil der konventionellen Familien- oder zumindest doch Amateurphotographie. Ich verstehe sie daher als geeignete Beispiele für jene naiven, nicht ästhetischen Intentionen folgenden und doch informativen Photos, die meiner Ansicht nach die »Welt der Knipser« in unbekanntem Ausmaß durchziehen, eine rezeptionstheoretische Analyse des Ästhetischen in der modernen Kultur erforderlich machen und diverse soziologische und kulturphilosophische Konsequenzen implizieren.
Abbildung 1:
Der Apparat kann die Bewegung des Läufers nicht fassen und fixiert stattdessen sein Knie.
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KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Die Attraktion des ersten Photos besteht für mich darin, dass ausgerechnet am Kniegelenk, dem anatomischen Garant für Bewegung, die graphisch filigranste Passage liegt und diese zugleich die größte Schärfe aufweist. Der kristallin anmutende Faltenwurf des Knies kehrt somit (im auffällig exponierten Detail) die rechtmäßige Ordnung von Ruhendem und Bewegtem um. In den anschließenden Reflexionen erwies sich das Photo dann als bestätigendes Beispiel zweier Benjaminscher Thesen aus dem Kunstwerkaufsatz. Einmal der vom Optisch-Unbewussten in der Photographie und zum anderen der These von der Bedeutung der Gewöhnungsprozesse. Die zweite These, die besagt, dass bereits die praktische, unangeleitete Ingebrauchnahme der Technik ihre Potentiale freisetzt (und deshalb das technische Bild in seiner Bedeutung für die kulturelle Moderne von hier aus analysiert werden muss), findet sich meiner Ansicht nach im Photo bestätigt. Die Figur zeigt in ihrer Kontur nicht nur eine höhere Schärfe als der Hintergrund (ein Effekt der von Blende und Tiefenschärfe abhängt), sondern sie zeigt auch einen geringeren Verwackelungsgrad als dieser. Daraus schließe ich, dass ich hier ohne Anleitung und in naiver Befolgung meiner illusorischen Erwartungen in die Abbildungsgewalt der Technik ein aus der Sportphotographie bekanntes Verfahren praktiziert haben muss, das »Mitziehen« des Apparats mit dem bewegten Objekt. (Wahrscheinlich konnte die Sportphotographie dieses Verfahren nur deshalb stilisieren, weil es immer wieder Photographen gab, die naiv genug waren zu glauben, sie könnten mit dem Standbilder produzierenden Apparat Bewegungen erfassen.) Das zweite Photo ergänzt sich gut mit Bourdieus Bemerkung über die selbst in der Amateurphotographie unorthodox belichteten Filmenden, auch wenn es sich gerade nicht einem gelockerten Umgang mit konventionellen Motiven, sondern nur noch dem sturen Akt des erwartungsfrohen Vollknipsens verdankt. Ästhetisch attraktiv ist an diesem Bild die Überlagerung des scharfen und befremdlich graphischen Musters der Perforation mit dem durchgängig unscharfen photographischen Bildmotiv. (Durch den routinierten Laborabzug vom Negativ ist die Perforation des Filmendes zwangsläufig scharf und weist ebenfalls die dunkelsten Flächen auf, während die Unzulänglichkeit der auf dem Negativ belichteten Szenerie für diesen Arbeitsschritt unabänderlich ist.) Dass dieses Raster bei der Aufnahme nicht vor der Linse war, ist auch für den Laien unmittelbar ersichtlich, während die Wirkungen, die das Filmende auf das photographierte Motiv ausübt, der interpretativen Phantasie anheim gestellt sind. In die familiär kodierte Privatsphäre des Bildes brechen hier selbstverständlich und ungefragt visuelle Indizien ihrer technischen Voraussetzungshaftigkeit ein und stellen der erwarteten photographischen Inszenierung die unbemerkt in Anspruch genommene Macht des Inszenierens gegenüber. 60
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
Abbildung 2:
Nur das Ende des Films ist scharf, der Bach, der hindurch fließt, nicht. Zur attraktiven Zufallsmetaphorik des Photos gehört auch die Spannung, die es in die photographisch realistischen Motive hineinträgt. Die sich unaufgefordert zuziehende Gardine der Technizität und das am gegenüberliegenden Bildrand ländlich idyllisch gelegene, von einem unregelmäßigen windschiefen Holzzaun umgrenzte Hanggrundstück nehmen die ausschreitenden Personen (graphisch) in die Zange – Ausgang ungewiss. Mit dem ungewöhnlichen Muster der Perforation assoziiert der heutige Betrachter eventuell den Eindruck einer Ziffernkolonne, zumindest Einsen und Nullen sind zu erkennen, von denen die ersten scharf (Information) und die zweiten deformiert sind. So aktualisiert die altertümliche Schwarz/ Weiß Analogphotographie auch noch nach zwei Jahrzehnten die ursprünglich von ihr ausgelöste medientheoretische Irritation in einem gänzlich modernisierten technologischen Kontext – denn als Resultat einer zifferngemäßen Verarbeitung liegt die Abbildung nun auf dem Papier. Blickt man auf den Schattenwurf der Figuren, so scheint gerade in der bedrohlichen Dunkelheit der Perforation eine Lichtquelle zu liegen. Und auch in dieser Hinsicht sind die naiv erzeugten Photos mit den künstlerisch intendierten gleich: sobald das Bild informativ wird, lässt sich die Reihe seiner Interpretationen beliebig fortsetzen. 61
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
2.6 Kants Ästhetik und die Soziologisierung der photographischen Rezeption Es ist das zentrale Thema von Bourdieus zweitem photosoziologischen Text: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, die postulierte Mittelbarkeit der Verhältnisse zur Photographie in einem vorrangig rezeptiven Kontext darzustellen. Auch ein ästhetisches Verhältnis wird für die photographische Rezeption benannt, bleibt hier allerdings doppelt marginalisiert. Denn einerseits richtet sich Bourdieus theoretisches Interesse an der photographischen Rezeption nicht mehr auf das Phänomen der »sozialen Abweichler« sondern ausschließlich auf die statistisch signifikante Mehrheitspraxis, in der ein ästhetischer Formbezug seinen Darstellungen zufolge nicht registriert werden kann. Zum anderen kommt es seitens der soziologischen Theorie aber doch zu einer Benennung der rezeptiven ästhetischen Position (als deren empirisches Pendant die theoretisch vernachlässigte Minderheitenpraxis vermutet werden darf); diese Position wird allerdings aufgrund eines nicht unproblematischen Doppelgebrauchs des Ästhetikbegriffs gleichsam wieder nivelliert: »In allem das Gegenteil einer reinen Ästhetik, leitet sich die gängige Ästhetik, die in den eigenen Photos und den Urteilen über die Photos anderer hervortritt, logisch aus den gesellschaftlichen Funktionen ab, die der Photographie eingeschrieben sind, sowie aus der Tatsache, dass man ihr stets eine gesellschaftliche Funktion zuweist.« [Definition 91]
Der Einbezug »gesellschaftlicher Funktionen« in die Urteile der »gängigen Ästhetik«69 zeichnet deren konventionelles Rezeptionsverhalten als ein im Sinne der sozialen Mittelbarkeit relational orientiertes aus. Der Ästhetikbegriff wird für diese »gängigen« Urteilsprozesse offensichtlich deshalb beansprucht, weil Bourdieu eine systematische Gleichrangigkeit zwischen den ästhetischen Form- und den sozialen Funktionsbezügen reklamiert. Hierzu verweist er darauf, dass dem Soziologen auch geschmackliche »Wertesysteme« als Ästhetik gelten.70
69 Hier bleibt Bourdieu seinen ersten photosoziologischen Arbeiten (den Studien zu Kult) treu: »Da sie Einzigartigkeit und Kohärenz des Normensystems zur Voraussetzung hat, entfaltet sich eine solche Ästhetik nirgendwo besser als in der dörflichen Gemeinde.« [Definition 91 f.] Ihre Synonyme (von der »Ästhetik der unteren Schichten der Bevölkerung« bis hin zur »Ästhetik des Volkes«) implizieren dann allerdings eine soziologische Erweiterbarkeit. 70 »Dem Soziologen, für den auch Wertesysteme Fakten sind, die sich lediglich durch den Grad ihrer Verbindlichkeit und ihre Orientierung unterscheiden, gilt das, was dem Ästheten als Anti-Ästhetik erscheint, durchaus als Ästhetik, da sie, 62
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
Die problematische Begriffsverwendung folgt damit aber nicht nur rehabilitativen Absichten,71 sondern weist ebenfalls die grundsätzliche Differenz zwischen einem philosophischen und einem soziologischen Ästhetikbegriff als tendenziell aufhebbare aus. Die vormals bildtheoretisch fundierte Bestimmung des ästhetischen Formbezugs scheint nun nur noch auf der Ebene eines Vergleichs mit präferentiellen Wertesystemen Geltung zu haben. Diese nivellierende Konsequenz wird noch dadurch bestätigt, dass Bourdieu nun im Kontext photographischer Rezeptionsprozesse keine Personalisierung des ästhetischen Formbezugs mehr vornimmt. Stattdessen wird diese vormalige Position der »sozialen Abweichler« vielmehr an eine historische Rezeptionstheorie verwiesen, an Kants Ästhetik, die als Paradigma der »reinen Ästhetik« schlechthin fungiert: »Es ist kein Zufall, wenn sich beim Versuch der Rekonstruktion ihrer Logik die ›Ästhetik‹ der unteren Schichten der Bevölkerung als negative Kehrseite der Kantischen Ästhetik offenbart; wie denn auch das Ethos dieser Schichten auf jede These
ob gut oder schlecht formuliert, eine gelebte Erfahrung oder, statt dieser, ein Gefühl für die Schönheit voraussetzt.« [Definition 97] Diese »gelebte Erfahrung« gilt Bourdieu dabei immer schon als »gesellschaftlich strukturiert« und von den »gesellschaftlichen Bedingungen« [ebd.] abhängig. (So können bereits hier die in Panofskys kunsthistorischen Überlegungen und in Roland Barthes’ frühen Phototexten differenzierten Anteile des »Ungesellschaftlichen« an der »gelebten Erfahrung« nicht mehr in der Darstellung photographischer Rezeptionsverläufe berücksichtigt werden (s. hierzu Kap. 3)). 71 Diesen naheliegenden Aspekt thematisiert erst eine Bemerkung in Bourdieus Spätwerk, den Meditationen (1997): »Das – lobenswerte – Anliegen zu rehabilitieren ist verständlich, und ich selbst habe mich sicherlich von ihm leiten lassen, als ich beispielsweise zu zeigen versuchte, dass die scheinbar konventionellen und stereotypen Aufnahmen, die ahnungslose Amateurphotographen vor allem dann machen, wenn sie feierliche Augenblicke des Familienlebens verewigen wollen, oder die erstaunten oder empörten Urteile, die sie über künstlerisch ambitionierte Photographien fällen, von kohärenten, aber der Kantschen Ästhetik diametral entgegengesetzten Prinzipien ausgehen (was nicht dazu ermächtigt, sie als eine Ästhetik zu bezeichnen, außer allenfalls in Anführungszeichen).« [Meditationen 97] Die Relativierung des präferentiellen Ästhetikbegriffs sozialer »Wertesysteme« über Anführungszeichen wird allerdings erst 14 Jahre nach dem Photobuch, in den Feinen Unterschieden, thematisiert und betrieben (s.o. Kap. 2.1). Die »Anführungszeichen sollen zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine Ästhetik an-sich und nicht für-sich handelt«, heißt es dort [s.d.: 23]. 63
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aus der ›Analytik des Schönen‹ implizit eine Gegenthese bereithält.« [Unterschiede 81]72
Indem nun Kants Ästhetik jenen kontrastierenden Antagonisten zur »Praxis der Mehrheit« bildet, den vormals (in der Produktionstheorie) die »fanatischen« Amateure abgegeben hatten, muss sich das rezeptive ästhetische Verhältnis zur Photographie aber doch nicht gänzlich dem Anspruch soziologischer Wertesysteme auf den Ästhetikbegriff beugen. Denn der ursprünglich mit der Form-Funktions-Differenz bezeichnete Antagonismus in den Verhältnissen zur Photographie wird ja offensichtlich aufrecht erhalten. Die Position der Ästhetik (im strengeren Sinne des Begriffs) läuft so in Bourdieus Argumentation als eine systematisch unvermeidliche und doch ungeklärt bleibende Position notorisch mit.73 Unter dem Etikett der Kantschen Ästhetik wird sie benannt und durch den Vollzug der bloßen Benennung wird ihre Analyse zugleich vermieden, obwohl bereits die Gegenüberstellung durchaus kontroverse und damit produktive Ergebnisse ankündigt.74 Die beiden oben angeführten Zitate lassen eine bereits angesprochene theoretische Konstellation erkennen. Auch die rezeptiven Verhältnisse zur Photographie sind demnach unter Verwendung jener beiden theoretischen Modelle beschreibbar, die Bourdieus gesamter Photosoziologie zugrunde liegen. Einerseits durch das präferentielle der sozialen Mittelbarkeit, demzufolge sich jedes Urteil über Photographien »logisch« aus »gesellschaftlichen Funktionen« ableitet. Andererseits durch das qualitative der Form-Funktions72 Oder in der früheren Formulierung des Photobuches, (die noch keine Anführungszeichen verwendet): »Es ist wohl kein Zufall, wenn sich bei dem Versuch einer Rekonstruktion ihrer Logik herausstellt, dass die Ästhetik des Volkes die Umkehrung der Kantschen Ästhetik ist.« [Definition 96] 73 Allerdings führt dieser Selbstlauf nicht schon zur »Begründung der Prinzipien« beider Ästhetikbegriffe: »Darum führt eine Soziologie, die es als ihre Aufgabe ansieht, die der Praxis zugewiesenen Funktionen und die der Photographie verliehenen Bedeutungen wiederaufzufinden, wie von selbst zu einer Begründung der Prinzipien des Ästhetischen, die zumindest im vorliegenden Fall keineswegs reduktionistisch ist.« [Definition 306] 74 Inwieweit der nicht ausdiskutierte, aber wiederholt aufgezeigte Kontrast zwischen der »gängigen« Rezeptionspraxis der Mehrheit und einer im Sinne der Kantschen Ästhetik verlaufenden durchaus für diese produktiv ist, soll erst in den folgenden Kapiteln erörtert werden. Hier geht es nur darum darzustellen, wie die soziologischen Thesen ästhetische Rezeptionsverhältnisse in der Photographie auffassen, und natürlich geht es ebenfalls um die Präzisierung des Kontrastes selbst, insofern er zur Ausdifferenzierung des Ästhetischen in der photographischen Kultur beiträgt. 64
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
Differenz, wonach sich photographische Rezeptionsprozesse auf jeweils nur einer Seite dieses Antagonismus verorten lassen. Bourdieu vertritt nun für die »gängige« Rezeptionspraxis eine Überschneidung beider Modelle im Begriff des funktionalen Geschmacks der »Ästhetik des Volkes«, dem dadurch allerdings gleich zwei verschiedene Relationen zukommen: eine mehrstellig pluralistische und eine zweistellig negierende. Einerseits gilt die rezeptive Mehrheitspraxis nun als pluralistisch im Sinne der These einer sozialen, präferentiellen Mittelbarkeit. So hebt Bourdieu hervor, dass »die Ästhetik, die in diesen Einzelurteilen zutage tritt, insofern besondere Züge aufweist, als sie sich als eine unter mehreren versteht.« [Definition 95] Da »Ästhetik« hier für eine sozial fundierte Geschmackspräferenz steht, wird Urteilenden somit nachgesagt, dass sie ihre eigene Position als eine Präferenz unter vielen anderen verstehen. Urteile über Photographien sind laut Bourdieu durch eine solche präferentielle Selbstrelativierung definiert und es ist besonders dieser mehrheitlich beobachtete Maßstabsbezug der zur Abgrenzung der photographischen Empirie von Kants Ästhetik führt: »Die Hartnäckigkeit, mit der die Befragten an die Grenzen und Geltungsbedingungen ihres Urteils erinnern, sind ein Beleg dafür, dass sie explizit die Vorstellung verwerfen, ein Photo könne ›allgemein‹ gefallen.« [Definition 98]75 Obwohl die Mehrheitsrezeption von Photos dem präferentiellen Modell zufolge als pluralistisch gilt, wandelt sich dieser rezeptive Pluralismus (zumindest unter dem Einfluss der »Situation der Befragung«)76 andererseits auch zu einem Antagonismus, der nicht mehr auf eine Orientierung unter gleichrangigen Präferenzen verweist, sondern auf ein abstraktes Gegenüber, das man für die wahrscheinliche Position der Hochkultur hält und dem der entsprechende ästhetische Formbezug zugetraut wird. So stellt Bourdieu zu75 Oder in der Version der Feinen Unterschiede: »Diese Form wie Existenz des Bildes seiner Funktion unterordnende ›Ästhetik‹ ist notwendig konditional und pluralistisch: Die Beharrlichkeit, mit der die Befragten aus diesen Schichten an die Grenzen und Geltungsbedingungen ihrer Urteile erinnern, dabei für jede Photographie den möglichen Gebrauch und den möglichen Adressaten angeben, oder genauer, den für einen bestimmten Adressaten möglichen Gebrauch – ›Als Reportage ist das nicht schlecht‹, ›um es den Kleinen zu zeigen, in Ordnung‹ – belegt hinlänglich, dass sie die Vorstellung verwerfen, ein Photo könne ›allgemein‹ gefallen.« [Unterschiede 82] (Inwieweit hiermit tatsächlich Kants Begriff vom subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch thematisch wird, soll erst im vierten Kapitel dieser Arbeit geprüft werden.) 76 Bourdieu weist an mehreren Stellen seiner Photosoziologie auf die Möglichkeit hin, dass dokumentierte Reaktionen auf photographische Bilder durch die soziologische »Situation der Befragung« modifiziert sein könnten. Auf den aufgezeigten manipulativen Effekt wird allerdings trotzdem nicht korrektiv reagiert. 65
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
nächst fest, dass der Einbezug »gesellschaftlicher Funktionen« in die Urteilsprozesse der Mehrheitspraxis immer auch in der Berücksichtigung eines vermeintlich »guten Geschmacks« besteht, wodurch die praktizierte Selbstrelativierung die Urteile nicht nur »unter mehreren« Präferenzen lokalisiert, sondern ebenfalls als Gegenteil einer Präferenz für vermeintlich ästhetische Formbezüge auffasst: »Der ›barbarische Geschmack‹ ist niemals ohne (offenen oder verdeckten) Zusammenhang mit dem ›guten Geschmack‹.« [Definition 105]77 Diese »zweifache Normenorientierung«, die an die Stelle des präferentiellen Pluralismus tritt, stellt deutlich die rezeptionstheoretische Variation der Form-Funktions-Differenz dar, in der nun allerdings der ästhetische Formbezug nur noch hinsichtlich der Möglichkeit erscheint, dass sich auch ihm eine »gesellschaftliche Funktion zuweisen« lässt, indem er als das soziologisch fundierte »Wertesystem« des »guten Geschmacks« aufgefasst wird. »Diese zweifache Normenorientierung wird nirgendwo so deutlich sichtbar wie dort, wo sie ein- und dasselbe Subjekt zwingt, von sich aus eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was es gern tut, und dem, was es gern tun müsste: ›Das ist schön, aber ich käme nicht auf die Idee, so was aufzunehmen‹, ›Ja, das ist sehr schön, aber das muss man mögen; das ist nicht mein Stil‹- Formeln, die immer wieder vorgebracht werden und in denen das Bewusstsein und auch das Bedauern mitschwingen, dass man auf den ›unbefangenen‹ Geschmack nicht verzichten kann.« [Definition 96; eig. Hervorh.]
Da Bourdieu das ästhetische Verhältnis zur Photographie nicht mehr aus der Perspektive der ästhetisch produktiven Abweichler, sondern aus der der rezeptiven Mehrheitspraxis des »funktionalen Geschmacks« schildert, verwandelt sich die qualitative Bestimmung des Ästhetischen unter der Hand in eine Geschmackspräferenz, denn dies ist die einzige Weise aus der sie aus der Sicht der funktionalen Position beschrieben werden kann. Eine bildtheoretisch fundierte Haltung, derzufolge »Form und Existenz des Bildes« nicht seiner
77 Eine Beziehung, die in der späteren (kultursoziologischen) Ästhetikkonzeption der Feinen Unterschiede dann zweiseitig interpretiert wird: »Deutlich wird, dass sich der ›reine‹ Blick nur schwer beschreiben lässt, ohne dass im selben Akt auch der naive Blick, gegen den jener sich definiert, beschrieben wird – und umgekehrt.« [Unterschiede 63] Das Problem der Relationalität scheint hier fast ein Darstellungsproblem des Theoretikers zu sein. Der Satz dokumentiert tatsächlich jedoch die spätere, durchaus naheliegende Variation der FormFunktions-Differenz. Denn dass sich auch der »reine Blick« gegen den »naiven« definiert, war im Photobuch zwar nicht für die Rezeptionsprozesse, aber doch schon für die Produktionshandlungen der »Abweichler« nachgewiesen worden. 66
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
Funktion untergeordnet werden, tritt in den Rezeptionsprozessen nicht mehr auf, obwohl der Antagonismus der Form-Funktions-Differenz der Formulierung des Begriffs der »zweifachen Normenorientierung« zugrunde liegt. Es ist bezeichnend für Bourdieus theoretischen Ansatz und für den empirischen Gegenstand, den er beschreibt, dass die »zweifache Normenorientierung« keine Simultanität zweier, durch verschiedene soziale Normen angeleiteter, im übrigen aber wahlweise einnehmbarer oder auch selbsttätig alternierender Perspektiven darstellt. (Wäre dies der Fall, dann würde der Begriff ja eines der großen Themen der ästhetischen Literatur variieren.) Stattdessen bezeichnet die »zweifache Normenorientierung« eine klare Positionierung auf genau einer ihrer beiden Seiten, nämlich auf der des »funktionalen Geschmacks« und seiner präferentiellen Mittelbarkeit, die sich hier allerdings von ihrer immanenten Mehrstelligkeit auf eine nur zweistellige Opposition reduziert. Die eingetretene Reduktion ist möglicherweise durch die soziologische »Situation der Befragung« bedingt, die ja einen fast schon offiziell anmutenden Anlass darstellt, der das »Subjekt zwingt, von sich aus eine Unterscheidung zu treffen«. Aber so aussagekräftig dieser manipulative Eingriff in jeder weiteren Hinsicht auch sein mag, tatsächlich wird das beobachtete Ergebnis durch ihn kaum verfälscht: Denn Bourdieu referiert für die photographische Rezeption letztlich nur, was vom ästhetischen Verhältnis zum Bild übrig bleibt, wenn es aus der funktionalen Position erläutert werden soll. Die gängige Lektüre, die das »Bedeutende dem Bedeuteten« unterordnet, zeichnet sich also auch durch die von Bourdieu konstatierte »zweifache Normenorientierung«, nicht durch eine Integration der photographischen Bildebene in die Rezeptionsprozesse aus. Denn die »zweifache Normenorientierung« der funktionalen Rezeption verweist ja nicht neben ihrer Wertschätzung des photographisch Bedeuteten zugleich noch auf das Thema der formfixierten Ästheten: das photographisch Bedeutende, die medialen, materialen und piktoralen Eigenschaften einer jeweils vorliegenden Photographie. Trotz Selbstrelativierung der eigenen rezeptiven Position anhand der zweistelligen Form-Funktions-Differenz wird also nicht von der funktionalen auf die formale Position verwiesen. Deshalb unterscheidet sich auch die von den Photorezipienten mehrheitlich betriebene Negation grundsätzlich von der Haltung der abweichend produktiven Photoamateure – obwohl der Wortlaut der Theorie für die antagonistische Relation zwischen Form- und Funktionsbezügen gleichzubleiben scheint.78 Jene zweistellig negierende Beziehung, die den produktiven Ästhe-
78 Etwa wenn die vormalige Negation der engagierten Photographen aus der Position der funktionalen Rezipienten zur Darstellung kommt: »Nicht zufällig behaupten sie [die Geschmacksäußerungen und Neigungen] sich dann, wenn sie 67
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ten nachgesagt wurde, verändert offensichtlich ihr Profil, wenn sie auf die allgemeinen photographischen Rezeptionsprozesse übertragen wird. Denn aus der Position des »funktionalen Geschmacks« entworfen, wird der Formbezug zur Photographie nicht mehr vollzogen, sondern als ein präferentieller Orientierungspunkt für andere (eigentlich unbekannte) Verhältnisse zur Photographie interpretiert und damit in seiner möglichen qualitativen Bestimmung verfehlt. Es entsteht daher unweigerlich der Eindruck, dass der vormals bildtheoretisch begründete Antagonismus nun als ein präferentieller Gegensatz zwischen zwei grundsätzlich unterschiedenen Klassen von sozialen »Wertesystemen« zu verstehen sei, von denen sich eine am Ort der »gelehrten Ästhetik« lokalisieren lässt. Obwohl die »funktionalen« Rezipienten in ihren Reaktionen auf unkonventionelle Photographien also zu erkennen geben, dass es auch eine Zugangsweise zum Bild gibt, in der die formalen Aspekte über den funktionalen stehen, praktizieren sie mittels dieses »doppelten Beurteilungsregisters«79 aber nicht selbst einen solchen ästhetischen Bildbezug, sondern verweisen bloß auf eine kulturelle Position, hinter der sie diese Bildbezüge vermuten. Zwar war auch in der photographischen Produktion das ästhetische Verhältnis laut Bourdieu ähnlich »doppelt« konzipiert, aber anders als am Beispiel der produktiven »Abweichler« und ihrer Negation des »funktionalen Geschmacks« wird die ästhetische Position nun nicht mehr aus der formfixierten Perspektive selbst referiert – was zur Folge hat, dass sie gänzlich aus der photosoziologisch analysierten Mehrheitspraxis verschwindet. Obwohl Bourdieu in seiner Photosoziologie offensichtlich zutreffende Aussagen über die Rolle des Ästhetischen in den trivialen Bereichen der Kultur macht und seine Analyse der photographischen Rezeptionspraxis sogar die Metamorphose ästhetischer Verhältnisse in statuarisch verwertbare QuasiPräferenzen dokumentiert, hat er sich selbst ausgesprochen indifferent in diese Materie hineinbegeben und seine eigene theoretische Auffassung des Ästhetischen mit der Position des »funktionalen Geschmacks« identifiziert. Denn wenn Kants Ästhetik in Bourdieus Darstellung sowohl als die Theorie eines marginal immerhin möglichen Rezeptionsmodus auftritt, zugleich jedoch durch empirisches Veto und strukturelles Profil der Mehrheitspraxis sich rechtfertigen sollen, rein negativ, durch die Ablehnung und durch die Aufhebung von anderen Geschmacksäußerungen.« [Unterschiede 105] 79 »Da sie [die Arbeiter] weder die Existenz einer gelehrten Ästhetik leugnen können, die ihre eigene Ästhetik verwirft, noch auf ihre gesellschaftlich bedingten Neigungen verzichten und diese noch weniger proklamieren und rechtfertigen können, führen sie – gelegentlich sogar explizit – ein doppeltes Beurteilungsregister ein.« [Definition 96, eig. Hervorh.] 68
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
auch als widerlegt erscheint, so ist diese ungeklärte Positionierung weniger der photographischen Empirie als vielmehr der normativen Selbstverortung des Photosoziologen zuzuschreiben. Das eigentliche Problem von Bourdieus Untersuchung besteht daher nicht in der irreführenden Doppelverwendung des Ästhetikbegriffs, sondern darin, dass der Theoretiker implizit die eingeschränkte Perspektive des »funktionalen Geschmacks« einnimmt, wenn er die vermiedene Analyse ästhetischer Rezeptionsprozesse unter dem Etikett der Kantschen Ästhetik verbirgt. Da Bourdieu jedoch als Theoretiker aus der Perspektive des »funktionalen Geschmacks« spricht, geht sein Verweis auf Kants Ästhetik über die inhaltlich vagen Verweise der rezeptiven Mehrheitspraxis auf eine »gelehrte Ästhetik« und damit die Hochkultur insgesamt weit hinaus. Bourdieus Umbenennung dieses relativierenden Verweises der Photorezipienten auf den »guten Geschmack« durch eine konkrete philosophiehistorische Position erweckt nun unweigerlich den Eindruck, das rezeptive ästhetische Verhältnis zur Photographie sei eine bloß theoretische Fiktion, ein Thema im Umkreis transzendentalphilosophischer Spekulationen. Dieser Verdacht entspringt einer polemischen Absicht, die sich unter Berufung auf die photographische Empirie zwar direkt gegen Kants Ästhetik richtet, zugleich jedoch auch rezeptive ästhetische Verhältnisse zur Photographie pauschal diskreditiert. Spätestens mit diesem Nebeneffekt geht Bourdieu aber über den tatsächlichen Befund seiner photosoziologischen Studien weit hinaus. Denn der Modus einer ästhetischen Rezeption von Photographien stellt sich nach Bourdieu nur als ein seltenes und deshalb schwer beschreibbares soziologisches Minderheitenproblem heraus.80 Ein Problem, das sich durch die Mehrheitspraxis der Photorezipienten zwar ebenso wenig bestätigen lässt wie die reinen Geschmacksurteile Kants; was jenseits dieser Mehrheitspraxis geschieht, bleibt damit allerdings offen. Wodurch ein rezeptives ästhetisches Verhältnis zur Photographie charakterisiert sein könnte, muss daher letztlich auch soziologisch ungeklärt bleiben. Denn mit dem Rückzug der Theorie wird ebenfalls der Erklärungsanspruch der soziologischen Mittelbarkeitsthese revidiert. Die »Wahrheit der Photographie«, von der Bourdieus Photosoziologie handelt, ist genaugenommen nur die Wahrheit der Mehrheitspraxis und sie besagt, dass diese von einer präfe-
80 Ein Rückzug der soziologischen Theorie, der schon anhand der photographischen Produktion angekündigt wurde: »Angesichts der Tatsache, dass die engagierten und die fanatischen nur einen Bruchteil der Amateurphotographen (etwa 10%) und erst recht der Gesamtpopulation (zwischen 5 und 6%) ausmachen, ist es nicht möglich, sie anhand einer Stichprobenerhebung ausreichend zu charakterisieren.« [Kult 299] 69
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
rentiellen Relationalität gekennzeichnet ist, die tatsächlich mit Kants Konzeption des ästhetischen Urteils nicht vereinbart werden kann. Mit diesem für die Analyse des Ästhetischen in einem trivialen kulturellen Kontext wie dem der Photographie doppelt enttäuschenden Ergebnis (es scheint empirisch marginal zu sein und wird theoretisch übergangen) müsste nun eine Durchsicht von Bourdieus Photosoziologie eigentlich beschlossen werden. Denn eine Analyse des rezeptiv ästhetischen Verhältnisses zur Photographie, die auf die Gleichsetzung mit Kants Ästhetik zurückgreift und deren theoretisches Potential diskutiert, würde sich ja notwendig außerhalb von Bourdieus photosoziologisch abgesteckten Terrain bewegen. Gerade weil ich eine solche Analyse anstrebe, wird nun aber doch noch ein weiterer Rückblick auf Bourdieus Photosoziologie erforderlich. Es zeigt sich nämlich, dass die dargestellten theoretischen Konstellationen, die Bourdieu als Deskriptionen der Praxis gelten, selbst bereits einen theoriegeschichtlichen Vorgänger haben, dem sie auffällig ähneln, dessen analoge theoretische Strukturen allerdings direkt um den thematischen Bezugspunkt der ästhetischen Verhältnisse zur Photographie organisiert und aus ihm bezogen sind. Ein solcher Vorgänger wirft die Frage auf, inwiefern die Verdrängung der ästhetischen Position ein Nebeneffekt seiner »Übertragung« in den soziologischen Kontext ist. Und umgekehrt kann die Diskussion der Kantschen Ästhetik, die ja von Bourdieu in die ästhetische Position versetzt wurde, von einer Theorie, die dieser Position einen höheren systematischen Stellenwert in der photographischen Empirie einräumt, nur profitieren.
2.7 Zwei Relationen in der frühen Phototheorie Roland Barthes’ Es sind die frühen photoanalytischen Betrachtungen Roland Barthes’, in denen sich die theoretischen Grundlagen jener beiden Modelle für das Verhältnis zum photographischen Bild vorweggenommen finden, nach denen Bourdieu dann die photographische Praxis »soziologisch« organisiert. Barthes hatte wenige Jahre vor dem Erscheinen von Bourdieus Photobuch zwei viel beachtete Artikel zur Photographie publiziert,81 in denen für die mehrheitlich »üblichen« Verhältnisse zum photographischen Bild sowohl eine zweistellige als auch eine mehrstellige Relationalität dargelegt wurde. Obwohl sich Barthes gleich zu Beginn des ersten Artikels explizit von einer soziologischen Untersuchung der Photographie distanziert und stattdessen
81 »Die Photographie als Botschaft« von 1961 (zitiert als: Barthes Botschaft) und die »Rhetorik des Bildes« von 1964 (zitiert als: Barthes Rhetorik). 70
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
eine bild- und medientheoretische Position einnimmt,82 berücksichtigt seine Untersuchung des photographischen Bildes auch die ihm gegenüber aufweisbaren Rezeptionsperspektiven. In der Gegenüberstellung bild- und medientheoretisch unterscheidbarer Komponenten mit geeigneten Formen rezeptiver Bezugnahmen auf diese, erörtert Barthes dann auch das Problem rezeptiv ästhetischer Verhältnisse zur Photographie – allerdings, ohne es unter dem Titel der Ästhetik anzusprechen. Der thematische Bezugspunkt ästhetischer Verhältnisse ist bei Barthes, so wie bei Bourdieu, die Ebene des photographischen Bedeutens. Vor dem Hintergrund seiner bild- und medientheoretischen Untersuchung zeigt sich ein geeigneter Rezeptionsmodus als eine durch das photographische Bild latent offerierte Beziehung, die trotz einer medial bedingten, empirischen Seltenheit daher prinzipiell unabhängig von soziologischen Gruppenbildungen angenommen werden kann. Die rezeptiv »übliche« Mehrheitspraxis ist bei Barthes, wie bei Bourdieu auch, durch eine sowohl pluralistische als auch antagonistische Relationalität gekennzeichnet. Anders als bei Bourdieu werden beide aber nicht aus soziologischen Überlegungen, sondern aus bild- und medientheoretischen Eigenschaften der Photographie bezogen, so dass dieser veränderte theoretische Ausgangspunkt zu einer umgekehrten Gewichtung der beiden Relationen führt. Bei Barthes ist die pluralistische Verfassung photographischer Rezeptionsprozesse, die Bourdieu als Beispiel der soziologischen Mittelbarkeit interpretiert und zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht, ein nur abgeleitetes Thema der antagonistischen Relation. Diesen leitenden Antagonismus entwickelt Barthes aus der medientheoretischen Annahme einer Analogizität des photographischen Bildes: »Welches ist der Inhalt der photographischen Botschaft? Was übermittelt die Photographie? Definitionsgemäß die Begebenheit als solche, das buchstäblich Wirkliche. Gewiss kommt es zwischen dem Objekt und dem Bild von ihm zu einer Reduktion: des Maßstabs, der Perspektive und der Farbe. Diese Reduktion ist jedoch niemals eine Transformation (im mathematischen Sinne des Wortes); beim Übergang vom Wirklichen zu dessen Ablichtung ist es keineswegs notwendig, dieses Wirkliche in Einheiten zu zerlegen und diese Einheiten als Zeichen zu konstituieren, die sich wesentlich von dem dargebotenen Objekt unterscheiden; es ist keineswegs notwendig,
82 Im Zuge dieser Distanzierung definiert Barthes auch den Gegenstand soziologischer Untersuchungen: die »Einstellung« (»attitude«) von Rezipienten. Diesen Begriff wird Bourdieu dann in seiner Photosoziologie aufgreifen und in der späten deutschen Übersetzung des Photobuches (sowie der zweiten französischen Ausgabe) mit den Synonymen Klassenhabitus und Disposition bezeichnen, die beide wiederum in den Begriff des Habitus eingehen und in Bourdieus späterer Kultursoziologie systematisch prominent werden. 71
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
zwischen diesem Objekt und dem Bild von ihm ein Relais, das heißt einen Code, anzubringen; gewiss ist das Bild nicht das Wirkliche: Aber es ist zumindest das perfekte Analogon davon und für den gesunden Menschenverstand wird die Photographie gerade durch diese analogische Perfektion definiert.« [Barthes Botschaft 12 f.]83
Es fällt hierbei auf, dass Barthes die These vom photographischen Analogon einerseits selbst vertritt, sie andererseits aber zugleich auch schon relativiert. So gilt es als »definitionsgemäß« bedingt, dass die Photographie das »buchstäblich Wirkliche« übermitteln könne, und der Eindruck, das photographische Bild sei ein »perfektes Analogon« des visuell Wirklichen wird als eine projektive Zuschreibung des »gesunden Menschenverstandes« ausgegeben.84 Mit seiner Formulierung eines photographischen Analogons resümiert Barthes nicht nur die verbreitete Annahme eines photographischen Realismus, der als projektive Zuschreibung die »üblichen« Rezeptionsprozesse charakterisiert. Denn zugleich trifft er mit dieser These eine medientheoretische Bestimmung, die er jenseits mehrheitlich üblicher Zuschreibungen selbst auch vertritt. In Barthes medientheoretischer These vom photographischen Analogon85 werden somit auch die projektiven Annahmen des »gesunden Menschenverstandes« bestätigt, ohne dass sich Barthes von dieser Implikation nochmals theoretisch distanzieren würde.86
83 Barthes beschreibt unter der Formulierung des »gesunden Menschenverstands« offenbar das, was Flusser als die rezeptive Kompetenz des »Knipsers« reformulieren wird: »Er hält die Photos für automatisch abgebildete Welt.« [Flusser Photo 54] Gerade der Hinweis darauf, dass das »Wirkliche« eben doch in physikalisch-chemische Einheiten zerlegt wird und diese Zerlegung nach Regeln einer wissenschaftlichen Theorie ebenfalls einem technologischen Code gehorcht, ist eine zentrale Annahme, mit der Flussers Phototheorie von Barthes abweicht. 84 Diesen projektiven Aspekt wiederholt und variiert Flusser in seinem zweiten Buch zu photographisch/ technischen Bildern: Ins Universum der technischen Bilder: »Vom sogenannten ›gesunden Menschenverstand‹ aus gesehen, sind die technischen Bilder objektive Abbilder von etwas dort draußen. Die Aufgabe der Kritik ist, zu zeigen, dass sie dem gesunden Menschenverstand zum Trotz nicht Spiegel, sondern Projektionen sind, deren Programm es ist, dem gesunden Menschenverstand einen Spiegelcharakter vorzuspiegeln.« [Flusser Bilder 54; auf dieser und der folgenden Seite finden sich gleich mehrere Hinweise auf Barthes’ frühe und spätere phototheoretische Texte.] 85 Bourdieu zitiert diesen medientheoretischen Begriff Barthes’ in seinem Photobuch einmal [vgl.: Photo 234]. 86 Statt dessen wird die These in gleichbleibend relativierten Formulierungen wiederholt: »Da die Photographie als mechanisches Analogon des Wirklichen auftritt, füllt die erste Botschaft gewissermaßen vollständig ihre Substanz aus und 72
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Aber was besagt diese These nun genau? Als einem »perfekten Analogon« traut Barthes dem photographischen Bild allenfalls eine Reduktion der visuellen Wirklichkeit zu, es gilt ihm aber keineswegs als ein Objekt, das aufgrund seines artifiziellen Charakters den dargestellten photographischen Referenten darüber hinaus in irgendeiner Weise gegenüber seinem realen Vor-bild modifiziert hätte. Diese medientheoretische Position ist offensichtlich naiv. Denn bereits Benjamins These vom Optisch-Unbewussten hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Photographie über die Verschlusszeiten des technischen Apparats in Wahrnehmungsbereiche vordringt, die unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegen, so dass die Photographie unsere visuelle Wirklichkeit nicht nur reduziert, sondern im Gegenteil ebenfalls um unbekannte Aspekte erweitert. Denn das meinte Benjamin, als er davon sprach, dass »es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht« [Benjamin Kunst 36].87 Da solche Erweiterungen genuin photographisch veranlasst sind, kann das photographische Bild kaum als perfekt analogische Reduktion der visuellen Wirklichkeit gelten. Selbst wenn ein vormals noch unsichtbarer Bewegungsmoment in dieser Wirklichkeit angenommen werden muss, weil er ihr ja quasi entnommen zu sein scheint, so existiert er als wahrnehmbarer Gegenstand und damit als geeignetes Objekt einer Zuschreibung an die Wirklichkeit tatsächlich erst durch das technische Medium der Photographie.88 lässt keinerlei Raum für die Entfaltung einer zweiten Botschaft.« [Barthes Botschaft 14] 87 Ette weist in seiner Intellektuellen Biographie darauf hin, dass Barthes Benjamins Schriften nur einmal zitiert hat: »[...] in Zusammenhang mit Brechts epischem Theater. Und doch fällt es schwer, daran zu glauben, Barthes habe Benjamins kulturkritische Arbeiten nicht gekannt« [Ottmar Ette: Roland Barthes, Eine intellektuelle Biographie; F.a.M. 1998, S. 111]. Gerade in der Phototheorie hat sich Barthes aber deutlich auf Benjamin berufen. So in einem Interview von 1977: »Über die Photographie gibt es nur wenige große Texte von intellektuellem Rang. [...] Etwa der Text von Walter Benjamin [...].« [Barthes Körnung 383] Gegen eine reine Übernahme von Benjamins Position (wie sie etwa die Begriffe des Schocks und des Amateurs belegen) spricht allerdings die unterschiedliche Auffassung des photographischen »Realismus«. 88 Ich denke hierbei etwa an das Bild des Läufers (s.o. Kommentierte Bildbeispiele). Die Schärfe des Knies und die zunehmende Verwischung von Unterschenkel und Fuß stellen eine visuelle Kombination dar, die in keiner hypothetischen Konzeption des unsichtbar zugrundeliegenden, objektiven Bewegungsablaufs wahrscheinlich ist. Das Photo ist (auf photographische Weise) artifiziell, auch wenn es Versatzstücke der reduzierten visuellen Wirklichkeit kombiniert [vgl. zum Realismusproblem: Susan Sontag: Über Fotografie; F.a.M. (Fischer Verlag) 73
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Barthes hat auch im zweiten seiner frühen Phototexte an der These der Analogizität festgehalten und dabei ebenfalls wiederholt, welche theoretische Position er damit etablieren möchte: »Zweifellos bedingt die Photographie eine gewisse Anordnung der Szene (Bildeinstellung, Verkleinerung, Verflachung), aber dieser Übergang ist keine Transformation (wie dies eine Kodierung sein kann) [...]« [Barthes Rhetorik 31]. Der wiederholte Hinweis auf die fehlende »Transformation« des photographischen »Denotats« zeigt, dass es Barthes mit der These des photographischen Analogons im wesentlichen um den Nachweis seiner Annahme geht, die Ebene des photographischen Bedeutens sei nicht durch einen Kode strukturiert. Barthes möchte also betonen, dass das photographische Bild in medientheoretischer Hinsicht als (kulturell) unkodiert aufgefasst werden muss. Eben deshalb erscheint es ihm als »keineswegs notwendig, zwischen dem Objekt und dem Bild von ihm ein Relais, das heißt einen Code, anzubringen«. Es geht Barthes also ebenfalls darum, die Ebene der photographischen Bildlichkeit, das Thema von Bourdieus Ästheten, von der des bildlichen Referenten zu trennen, auf den sich die funktionalisierenden Rezipienten beziehen. Trotz seiner analogischen Konstitution scheint das photographische Bild ebenfalls auf vielfältige Weise kodiert zu sein.89 Solche Kodierungen nennt Barthes auch Konnotationen, die ihm nun selbstverständlich als »die Einbringung eines zusätzlichen Sinns in die eigentliche photographische Botschaft« [Botschaft 16] gelten müssen. Auf der Basis seiner These vom photographischen Analogon kann Barthes somit einen fundamentalen Antagonismus etablieren, der sich in seinen variierenden Formulierungen (Denotat/ Konnotat, buchstäbliche/ symbolische und perzeptive/ kulturelle Botschaft u.a.) letztlich auf die zentrale Feststellung bringen lässt, dass an photographischen Bildern eine kulturell kodierte und eine kulturell nicht-kodierte bildliche Botschaft differenzierbar sind.90 2003 (15. Aufl.), S. 9 ff. und bes. 147 sowie die Kritik hierzu in: Rudolf Arnheim: Die Seele in der Silberschicht, Medientheoretische Texte; F.a.M. 2004.]. 89 »Dieser rein denotierende Status der Photographie, die Perfektion und die Fülle ihrer Analogie, kurz, ihre ›Objektivität‹, all das könnte durchaus mythisch sein (das sind die Kennzeichen, die der gesunde Menschenverstand der Photographie zuschreibt): Denn in Wirklichkeit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit (das wird eine Arbeitshypothese sein), dass die photographische Botschaft (zumindest die Botschaft der Presse) ebenfalls konnotiert ist.« [Barthes Botschaft 14] 90 »Ist unsere Lektüre befriedigend, so bietet uns die analysierte Photographie drei Botschaften: eine sprachliche, eine kodiert bildliche und eine nicht-kodiert bildliche. Die sprachliche Botschaft lässt sich leicht von den anderen beiden trennen [denn Barthes versteht unter ihr die schriftsprachliche von Titel oder Text, in den Photographien publizistisch eingebunden sind], aber inwieweit hat man das 74
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Vor dem Hintergrund dieser methodischen Funktion der postulierten Analogizität von Photographien wird der medientheoretisch naive Charakter der These vergleichsweise unbedeutend. So ist die Frage der Übereinstimmung des Photos mit der visuellen Wirklichkeit zwar ein Aspekt, der der Ebene des photographischen Bedeutens einen veränderten ontologischen Status zugestehen könnte, Herkunft und »Wirklichkeitsgehalt« der Photographie sind allerdings für die theoretische Differenzierung zwischen »Signifikant« und »Signifikat« nicht ausschlaggebend. Die Unterscheidung hat deshalb zunächst nur eine »operatorische Gültigkeit«, die die Analyse der photographischen Bildlichkeit und ihrer Rezeptionsprozesse leiten soll.91 Allerdings problematisiert Barthes diese Unterscheidung selbst als eine umstrittene, wenn er auf den faktischen Verlauf photographischer Rezeptionsprozesse blickt. Denn: »Es steht fest, dass die Unterscheidung nicht spontan auf der Ebene der üblichen Lektüre erfolgt: Der Betrachter des Bildes rezipiert gleichzeitig die perzeptive und die kulturelle Botschaft, und man wird später sehen, dass diese Vermischung der Lektüren der Funktion des Massenbildes [...] entspricht.« [Barthes Rhetorik 32]92 Das Massenbild (im Beispiel Barthes’ meint dies sowohl die Presse- und im zitierten Text besonders die Werbephotographie) hebt demnach die Möglichkeit einer spontanen und souveränen Differenzierung zwischen dem photographischen Bedeuten und der photographischen Bedeutung auf. Ein funktionierendes Massenbild ist daher ein Bild, bei dem sich durch den Vollzug rezeptiver Handlungen die »perzeptive Botschaft« vollständig in der kulturellen auflöst, sich restlos kulturalisiert und zwar ausgerechnet dadurch, dass Recht, zwischen letzteren beiden, die doch die gleiche (bildliche) Substanz besitzen, zu unterscheiden?« [Barthes Rhetorik 32] 91 »Die Unterscheidung hat jedoch eine operatorische Gültigkeit, analog zu derjenigen, die es gestattet, im sprachlichen Zeichen einen Signifikanten und ein Signifikat zu unterscheiden, obwohl in Wirklichkeit niemand jemals das ›Wort‹ von seinem Sinn trennen kann [...]« [Barthes Rhetorik 32]. Die Termini Signifikant und Signifikat werden dabei nur »analog« verwendet, weil Barthes den nicht kodierten, photographischen Signifikanten außerhalb eines sprachlichen Systems aufweisen möchte. 92 Eine Bemerkung zu Beginn von Flussers Photophilosophie scheint sich dieser Bemerkung Barthes’ direkt anzuschließen: »Die Bedeutung des Bildes, wie sie sich im Zuge des Scanning erschließt, stellt demnach eine Synthese zweier Intentionen dar: jener, die sich im Bild manifestiert, und jener des Betrachters. Es folgt, dass Bilder nicht ›denotative‹ (eindeutige) Symbolkomplexe sind (wie etwa die Zahlen), sondern ›konnotative‹ (mehrdeutige) Symbolkomplexe: Sie bieten Raum für Interpretationen.« [Flusser Photo 8] – Auf den Begriff der »Gleichzeitigkeit« werde ich ausführlicher in Kap. 5.2 eingehen. 75
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
die kulturelle Botschaft durch die Projektion des »gesunden Menschenverstandes« und seine Erwartung eines photographischen Realismus »naturalisiert« wird.93 Obwohl die Vermischung der Lektüren die medientheoretisch differenzierten Komponenten des Bildes nivelliert, erfolgt sie doch zugunsten der einen Seite des Vermischten, der »kulturellen Botschaft« und ihrer Variationen. Damit bezeichnet die »Funktion des Massenbildes« in medientheoretischer Hinsicht genau das, was Bourdieu als Charakteristikum des »funktionalen Geschmacks« der Mehrheitspraxis soziologisch resümiert hat.94 Abgesehen von der noch zu erläuternden Möglichkeit einer separaten Wahrnehmung der »perzeptiven Botschaft« gilt für das Massenbild jene rezeptive Mehrheitspraxis, die auch als die »übliche Lektüre« der Photographie bezeichnet wurde. Weil nach dieser das Massenbild nun faktisch eine Vermischung der medientheoretisch differenzierten Komponenten erzwingt, kann die Theorie nur »relational« über die Position des photographischen Bedeutens, den thematischen Bezugspunkt der Ästheten sprechen. Hierbei muss sie von der vermischten Position des Massenbildes ausgehen: »Die Merkmale des buchstäblichen Bildes sind also nicht substantiell, sondern immer nur relational; es handelt sich zunächst, wenn man so will, um eine Restbotschaft, die aus dem besteht, was vom Bild übrigbleibt, wenn man (geistig) die Konnotationszeichen ausgelöscht hat [...]« [Barthes Rhetorik 37].95 Die buchstäbliche Ebene des photographischen Bildes ist demnach nur durch eine theoretische Einsicht zu erfassen, allerdings ohne dass dabei die methodisch erzeugte Relation zur symbolischen Ebene des Bildes aufgehoben würde. Da die medienspezifische Konstitution des photographischen Bildes, das was die kulturellen Botschaften trägt,96 laut Barthes in der üblichen Lek93 »Das denotierte Bild naturalisiert die symbolische Botschaft, es lässt den (vor allem in der Werbung) sehr differenzierten semantischen Trick der Konnotation unschuldig erscheinen [...]« [Barthes Rhetorik 40]. Oder: »Die diskontinuierliche Welt der Symbole taucht in die Geschichte der denotierten Szene ein wie in ein Unschuld spendendes, reinigendes Bad.« [Barthes Rhetorik 45] 94 »Die Lesbarkeit des Bildes selbst ist eine Funktion der Lesbarkeit ihrer Intention (oder ihrer Funktion), und das ästhetische Urteil, das sie hervorruft, fällt um so günstiger aus, je vollkommener die Ausdrucksangleichung des Bedeutenden an das Bedeutete gelungen ist.« [Definition 103] 95 Dieses subtraktive Vorgehen wird noch in Barthes’ späteren phototheoretischen Texten wiederholt werden und die Argumentation der Hellen Kammer anleiten (s.u. Kap. 5.1). 96 »[...] die erste der zwei bildlichen Botschaften ist gewissermaßen in der zweiten enthalten: Die buchstäbliche Botschaft erscheint als der Träger der ›symbolischen‹ Botschaft.« [Barthes Rhetorik 33] 76
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
türe zwangsläufig übersehen werden muss, lässt sich ihre Position auch nur theoretisch bezeichnen. So ergibt sich wie in Bourdieus Darstellung der Photorezeption zwar eine permanente Relationalität, sie kann bei Barthes jedoch nur aus der Position des Theoretikers expliziert werden. Was hat es dann aber mit jenen Selbstrelativierungen auf sich, die laut Bourdieu sowohl zwei- als auch mehrstellig in der rezeptiven Mehrheitspraxis des populären Geschmacks zu beobachten sind? Die pluralistische, mehrstellige Relationalität, die Bourdieu als soziologische Mittelbarkeit angibt, entspricht bei Barthes zunächst nur der Diversität »kultureller Botschaften«, die ihm von Bildung und Wissen abhängig zu sein scheinen, und sich mittels des soziologisch genannten Begriffs der »Einstellung« thematisch gruppieren lassen: »Jedes Zeichen entspricht einem Korpus von ›Einstellungen‹: dem Tourismus, dem Haushalt, der Kenntnis der Kunst, von denen manche in einem Individuum natürlich fehlen können. Es gibt eine Pluralität und eine Koexistenz der Lexiken innerhalb eines Menschen; die Zahl und die Identität dieser Lexiken bilden gewissermaßen den Idiolekt jedes einzelnen.« [Barthes Rhetorik 41]97
Bourdieus Thesen über die Mittelbarkeit in der photographischen Rezeption verweisen offensichtlich auf diese »Pluralität und Koexistenz der Lexiken«, zumal er ja auch den Begriff der »Einstellung« für die Bezeichnung klassenspezifischer Präferenzen verwendet. In Bourdieus späterer Weiterführung des Barthesschen Gedankens wird die Pluralität in der mehrheitlichen Photorezeption dann in der Form eines sozialen »Wertesystems« bzw. einer verbreiteten »Ästhetik« bestätigt und zugleich modifiziert: »Diese Form wie Existenz des Bildes seiner Funktion unterordnende ›Ästhetik‹ ist notwendig konditional und pluralistisch [...]« [Unterschiede 82]. Oder wie es im Photobuch heißt: »Diese ›funktionale‹ Ästhetik ist zwangsläufig pluralistisch und an bestimmte Bedingungen gebunden.« [Definition 98] Von dieser »funktionalen Ästhetik« aus hatte Bourdieu auch die rezeptiven Bezugnahmen auf »Form und Existenz des Bildes« als Gegenstand präferentieller Relationen ausgegeben, und ein solcher wäre er laut Barthes offensichtlich nicht. Denn die Ebene pluralistischer Relationen ba-
97 Bourdieus Begriff der »Einstellung« (attitude), der in seiner späteren Theorie unter den Begriffen Disposition und Habitus weiterwirken wird, findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Barthes’ erstem Text und wird dort explizit als Untersuchungsgegenstand der Photosoziologie bezeichnet, von der sich Barthes’ Analyse abgrenzt. Wenn der Begriff nun im zweiten Text auf der Ebene kultureller Botschaften wiederkehrt, so verweist Barthes die Disziplin der Photosoziologie implizit auf dieses medientheoretisch abgeleitete Phänomen. 77
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siert zwar notwendig auf jener medientheoretisch konstatierten »Gleichzeitigkeit«, die den Gegenstand ästhetischer Formbezüge integriert, aber sie enthält ihn damit nicht als einen relationalen Bezugspunkt divergierender »Einstellungen«. Bourdieus Modifikation der beiden Relationen Barthes’ besteht also darin, dass er die zweistellige Form-Funktions-Differenz auf der Ebene der kulturellen Pluralität von Einstellungen reformuliert. Mit dieser Selbstrelativierung in den photographischen Rezeptionsprozessen wird nun allerdings nicht beschrieben, wie die Vermischung des Massenbildes rückgängig gemacht und tatsächlich zwischen photographischem Signifikat und Signifikant differenziert werden könnte. Denn wozu sich die Mehrheitsrezeption relativ verhält, das ist bei Bourdieu im Sinne Barthes’ eine »Einstellung«, die ihr anscheinend fehlt oder die sie nicht einzunehmen bereit ist: »die Kenntnis der Kunst«. Der differenzierende Zug an der Selbstrelativierung der Mehrheitspraxis (die doppelte Normenorientierung) stellt somit aus medientheoretischer Perspektive eine Quasi-Differenzierung dar, die die vermischende Indifferenz des Massenbildes wiederholt und soziologisch manifestiert. Eine tatsächlich selbstrelativierende Bezugnahme des eigenen Urteils auf die Ebene des photographischen Bedeutens würde dahingegen die vom Theoretiker konstatierte, mediale Relationalität der Photographie thematisch machen. Das hieße jedoch, die vermischte Gleichzeitigkeit der Komponenten zu explizieren, nicht jedoch die Differenzen zwischen Einstellungen zum Vortrag zu machen.98 So macht Barthes’ Phototheorie Bourdieus Photosoziologie gerade in ihrer Auffassung des Ästhetischen transparent. Wenn nämlich Bourdieus Begriff der »zweifachen Normenorientierung« ebenfalls schon auf der Ebene kultureller Konnotationen zu lokalisieren ist, so referierte er offenbar nur jenen Konflikt, der sich zwischen der »Einstellung« auf soziale, familiäre Abbildfunktionen und der »Einstellung«, die eine »Kenntnis der Kunst« voraussetzt, beobachten lässt. Damit wäre dann aber auch auf der Ebene bildund medientheoretischer Reflexionen bezeugt, dass Bourdieus systematische Gleichsetzung zweier Ästhetikbegriffe unzulässig ist, da ästhetische Verhältnisse zur Photographie und präferentielle soziale »Wertesysteme« auf unterschiedlichen und unterscheidbaren Themen basieren. Während Bourdieu das rezeptive ästhetische Verhältnis zum Bild statistisch für unbedeutend hält und seine systematische Position teils polemisch, teils mit konzeptionellen Einwänden, die sich aus der Empirie der photographischen Mehrheitspraxis ergeben, an die fiktive Position von Kants Ästhetik 98 Bourdieu dokumentiert einen solchen Fall sowohl im Photobuch als auch in den Feinen Unterschieden – allerdings ohne die systematische Bedeutung für das Thema des Ästhetischen in der (photographischen) Kultur zu bemerken (s. Kap. 3.4). 78
2. ÄSTHETIK IN DER SOZIOLOGIE DER PHOTOGRAPHIE
verweist, ermittelt Barthes für ein solches nicht nur einen adäquaten medientheoretischen Gegenstand, das buchstäbliche Denotat des Bildes, sondern hält ebenfalls einen spezifischen Wahrnehmungsmodus für möglich, durch den sich dieses erfassen ließe (s. Kap. 3). Gleichzeitig gibt der medientheoretische Ansatz keine prinzipielle soziologische Limitierung ästhetischer Verhältnisse zur Photographie vor. Vielmehr lässt er sie in der gesamten, trivialen photographischen Kultur möglich erscheinen – womit Barthes’ Analyse genau jene Anforderungen erfüllt, die nach Aufgabe des ästhetischen Intentionalitätsbegriffs und der produktionstheoretischen Perspektive aufgetreten waren. Vor dem Hintergrund eines Theorienvergleichs zwischen Bourdieu und Barthes wird ein ästhetisches Verhältnis zur Photographie thematisch auf der Ebene des photographischen Bedeutens lokalisiert, zugleich aber auch rezeptionstheoretisch in der Position von Kants Ästhetik ermittelt. Und umgekehrt sind es Kants Geschmacksurteile die sich in Barthes’ späterer Weiterführung seiner frühen phototheoretischen Konzeption einer a-kulturellen, »perzeptiven« Lektüre dann im Begriff des punctum nachweisen lassen (s. Kap. 5).
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3. Ästhetik zw ischen Bild- und Rezeptionstheorie (Panofsk y, Barthes, Bourdieu)
»Die Photographie impliziert, dass wir über die Welt Bescheid wissen, wenn wir sie so hinnehmen, wie die Kamera sie aufzeichnet. Dies aber ist das Gegenteil von Verstehen, das damit beginnt, dass die Welt nicht so hingenommen wird, wie sie sich dem Betrachter darbietet.« [Sontag Photo 28]
Das folgende Kapitel versucht, das Thema des Ästhetischen in der Photographie dort weiterzuführen, wo es im letzten Kapitel zwischen den gegensätzlichen Positionen des frühen Barthes und des frühen Bourdieu noch unentwickelt aufgezeigt worden war. Hierzu werden bild- und rezeptionstheoretische Überlegungen in ihren jeweils wechselseitig aufeinander bezogenen Verhältnissen wiedergegeben, wie sie sich als Modi der Bildrezeption bei dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky in differenzierter Übersicht und im Anschluss an diesen auch bei Barthes und Bourdieu jeweils modifiziert wiederfinden lassen. Diese Anordnung ermöglicht, einen disziplinär und methodisch offenen Ansatz zu verfolgen, dessen systematischer Ertrag in zwei Richtungen erbracht werden soll: einerseits findet Barthes’ Phototheorie unter Einbezug gerade des randständigsten Elements von Panofskys kunstgeschichtlicher Methode zu einer präziseren Formulierung des Ästhetischen an der Photographie (und verweist damit bereits auf ihren späteren Entwurf in der Hellen Kammer). Andererseits gelangt Bourdieus modifizierte Übernahme der zentralen Elemente von Panofskys Methode (Ikonographie und Ikonologie) zur verbindlichen Formulierung der Unmöglichkeit des Ästhetischen in der Photographie (und der gesamten Kultur) – die vormals marginale Existenz der ästhetischen Rezeption, wie sie in der Photosoziologie noch möglich erschien, 81
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
wird somit revidiert. Die nahezu zeitgleich aber doch gegensätzlich verlaufende Entwicklung des Werkes beider Autoren, führt so zu zwei gegensätzlich strukturierten und ebenso konträr gewichteten Auffassungen des ästhetischen Verhältnisses zum (photographischen) Bild, die sich auch deshalb gut vergleichen lassen, weil sie in Panofskys Überlegungen einen gemeinsamen Bezugspunkt finden. Das vorangestellte Sontag-Zitat könnte exemplarisch den nun diskutierten Zusammenhang zwischen bild- und rezeptionstheoretischen Überlegungen bezeichnen. Es entwirft zwei kontrastierende Zugänge zur Photographie (einen faktischen Ist- und einen empfohlenen Soll-Zustand) und impliziert damit zugleich zwei jeweils zugehörige qualitative Bestimmungen des photographischen Bildes. Obwohl die kritische Ambition offensichtlich ist und leicht nachvollziehbar erscheint, könnte eine gründliche Lektüre der verwendeten Formulierungen die angestrebte Mitteilung jedoch auch genau in ihr Gegenteil verkehren. Eigentlich als Plädoyer für die Subjektivität des Betrachters und seinen produktiven Eigensinn lesbar, drückt Sontags Satz ebenfalls jene Determination photographischer Rezeptionsprozesse aus, die Bourdieu in seiner Photosoziologie aufgezeigt hatte. Demnach wird das von Sontag eingeforderte »Verstehen« von der mehrheitlich üblichen Photorezeption bereits durchgehend praktiziert – indem diese die Welt ja tatsächlich nicht mehr so »hinnimmt, wie sie sich dem Betrachter darbietet«, sondern vielmehr so, wie dieser sie aufgrund sozial und kulturell etablierter Verstehensauffassungen zu sehen wünscht. Da solche Auffassungen sich bei Bourdieu (im Gegensatz zu Sontag) keiner subjektiven Wahl verdanken, schieben sich überpersönliche »Leseschablonen« genau deshalb zwischen photographische Welt und Betrachter, weil es unmöglich erscheint, diese Welt so hinzunehmen, wie sie sich darbietet. Umgekehrt war das von Sontag als bloße Hinnahme der photographischen Welt resümierte Verstehen bereits von Barthes unter dem Begriff des »gesunden Menschenverstandes« der gleichen Distanzierung bezichtigt worden, insofern das vermeintlich bloß Hingenommene schon von der Implikation des photographischen Realismus zugerichtet erscheint. Ein solches Sehen der Welt, »wie die Kamera sie aufzeichnet«, gehört demnach ganz selbstverständlich dem Kanon kultureller »Leseschablonen« an. So lässt sich Sontags Forderung nach einem echten Verstehen der Photographie keine einfache Lösung entnehmen. Zwischen den beiden genannten Optionen bliebe als bislang noch uneingelöster Verstehenszugang nur eine Rezeption der photographischen Welt übrig, in der diese ausnahmsweise tatsächlich einmal so hingenommen wird, wie sie sich dem Betrachter darbietet, das heißt weder der realistischen noch anderen »Leseschablonen« folgt und damit die Implikation des »Bescheidwissens« aufhebt. Hypothetisch ergibt 82
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
sich diese Möglichkeit als Resultat einer medientheoretisch reflektierten Analyse, leitet diese die Rezeption aber an, ist der Betrachter wiederum nicht mehr mit der bislang doppelt verstellten photographischen Faktizität, sondern nur der eigenen analytischen Zurichtung der Photographie konfrontiert. Als geeignete Verstehensbedingung dessen, was sich dem Betrachter photographisch »darbietet«, empfiehlt sich der Begriff einer ästhetischen Rezeption, die als unvorsätzlich vollzogene Subversion von »Leseschablonen« auf den dargebotenen photographischen Gegenstand allererst reagiert. Die begriffliche Bestimmung eines solchen ästhetischen »Verstehens« wäre wiederum zwischen präziseren bild- und rezeptionstheoretischen Fragestellungen zu entwickeln. Hierzu beginne ich mit zwei wirkungsvollen Panofsky-Texten, die in Barthes’ früher Phototheorie ungenannt variiert werden und auf die sich Bourdieu im Nachwort seiner Panofsky-Übersetzung und in späteren eigenen Texten explizit berufen hat.1 Im folgenden Abschnitt soll knapp Panofskys Differenzierung der ersten beiden »Sinnschichten« eines Bildes referiert werden, weil gerade sie für das Begriffsverständnis des Ästhetischen bei Barthes und Bourdieu instruktive Überlegungen enthält, anhand derer sich das noch offen gebliebene Problem einer ästhetischen Photorezeption entwickeln lässt.
3.1 Erwin Panofskys Reflexionen zur kunsthistorischen Methode Panofskys Absicht in den nun zu besprechenden Texten ist es, anhand der Unterscheidung dreier verschiedener interpretativer Perspektiven, die unter Verweis auf drei verschiedene Sinnebenen eines künstlerischen Bildes de1
Panofskys Methodenreflexion begann publizistisch mit dem Vorwort zu »Herkules am Scheidewege« (1930), wurde dann in einem Vortrag präzisiert [Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst; in: ders.: Deutschsprachige Aufsätze; Berlin (Akademie Verlag) 1998 (2 Bände); S. 1064-1077 (auch: Logos, 21, 1932, 103-119); zitiert als: Panofsky Problem] und ist variiert worden im Aufsatz: »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance« [Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie; in: ders.: Sinn und Deutung in der Bildenden Kunst; Köln (DuMont) 1978; zitiert als: Panofsky Ikon]. Da der zweite Text, ursprünglich das Vorwort zweier englischsprachiger Publikationen (Studies in Ikonology, 1939 und Meaning in the Visual Art, 1957), später ins Deutsche rückübersetzt wurde, ist in ihm an Stellen, wo ursprünglich der Terminus »Sinn« verwendet wurde, nun der Terminus »Bedeutung« angegeben. Ich zitiere beide Texte unverändert nach dem jeweiligen Original. 83
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
monstriert werden, das ideale Verfahren einer kunsthistorischen Bildinterpretation zu entwerfen. Die hierbei differenzierten »Sinnschichten«, von denen die erste noch einmal zweigeteilt wird, nennt Panofsky: Tatsachen- und Ausdruckssinn (zusammenfassend auch die Region des Phänomensinns genannt), Bedeutungssinn und Wesenssinn. Sie werden durch drei unterscheidbare Rezeptions- und Interpretationsperspektiven erschlossen, deren empirische Voraussetzungen Panofsky in drei zugehörigen »Erfahrungsregionen« eruiert. Obwohl die am Beispiel alltäglicher Ereignisse und künstlerischer Bilder mehr oder weniger plausibel exemplifizierten Verfahrensweisen in der textuellen Darstellung aufeinander aufbauen, geht es Panofsky trotzdem darum, diese »Forschungsoperationen« schließlich »zu einem einzigen organischen und unteilbaren Prozess [zu] verschmelzen« [Panofsky Ikon 49].2 Leitend ist dabei für den Kunsthistoriker die »wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk« [Panofsky Problem 1065], wodurch zwei wesentliche Aspekte zur Kontextualisierung dieser Methodenreflexion benannt sind. Einerseits wird damit die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kunst pointiert, die im Gegensatz steht etwa zur konsumptiv genüsslichen oder zur kritisch wertenden und die zudem eine spezifisch fachwissenschaftliche, nämlich die des Kunsthistorikers ist. Obwohl Panofsky diese fachwissenschaftliche Spezialisierung durch anschauliche Beispiele aus dem Bereich der Alltagswahrnehmung anreichert und obwohl er die Übertragbarkeit des vorgeschlagenen Interpretationsverfahrens auf andere historisch/ geisteswissenschaftliche Disziplinen andeutet,3 bleibt seine Untersuchung zweifellos einem kunsthistorischen Verständnis von Kunstwerken verpflichtet. Damit ist jedoch der zweite Aspekt benannt, der nicht die thematische Spezialisierung, sondern den Anwendungsbereich dieser Überlegungen umreißt. Immer richtet sich der Fokus der Überlegungen auf ein kunsthistorisches Verständnis des »Kunstwerks als Ganzes« [Panofsky Ikon 49] und lokalisiert somit die vorgeschlagene Interpretationsmethode im Gegenstandbereich der Kunst (wie ja auch der Titel des ersten Textes explizit auf die »Werke der bildenden Kunst« hinweist) – ohne dass Panofsky dabei allerdings so weit ginge, beide Relata (die fachwissenschaftliche Spezialisierung und ihren Gegenstandsbereich der Kunst) in eine symmetrische Beziehung zu setzen: Die adäquate Rezeption von Kunstwerken erfordert nicht notwendig diese eine, fachwissenschaftliche Auseinandersetzung. Dies wäre ja nur dann der Fall, wenn jede Betrachtung von Kunstwerken per se diese fachwissenschaft2
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Oder in der früheren Fassung: »[...] in praxi zu einem völlig einheitlichen und in Spannung und Lösung organisch sich entfaltenden Gesamtgeschehnis verweben, das eben nur ex post und theoretisch in Einzelelemente und Sonderaktionen auflösbar ist.« [Panofsky Problem 1077] Hierzu: Panofsky Problem 1076 und Ikon 49.
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
liche Zielsetzung bedingen würde (etwa unter der Annahme, künstlerische Werke könnten nur dadurch ihre Qualitäten als Kunst realisieren, dass man sie kunsthistorisch interpretiert). Das ist aber, nach Einschätzung des differenzierten Kunsthistorikers, zweifelsohne nicht der Fall. Denn: »Es lässt sich ja eine Betrachtungsweise denken, die sich von den historischen Korrektiven grundsätzlich unabhängig erklärt und nur die einzige Forderung anerkennt, dass das von ihr entworfene Bild der jeweils betrachteten Einzelerscheinung ein in sich einheitliches und sinnvolles sei, gleichviel ob es in irgendwelche geschichtlichen Zusammenhänge hineinpasst oder nicht.« [Panofsky Problem 1076]
Die Tatsache, dass Panofsky auch diese »Betrachtungsweise« der Kunst einräumt, zeigt, dass es ihm nicht darum geht, die eigene fachwissenschaftliche Aufgabenstellung zu generalisieren und kunsthistorische Zugänge zur Kunst verbindlich für die Kunstrezeption (oder – in Übertragung – sogar für andere Bereiche der Kultur) festzuschreiben. Ein Umstand, der über das daran anschaulich werdende Maß differenzierter Selbsteinschätzung Panofskys hinaus auch deshalb erwähnt werden soll, weil sich an ihm die Bourdieusche Anknüpfung messen lassen muss. Relevant für die Unterscheidbarkeit bildinterpretativer (und rezeptiver) Perspektiven ist Panofskys Hinweis allemal, denn eine »Rekonstruktion«, deren »Wert oder Unwert [...] sich nicht mehr nach dem Maßstab geschichtlicher Wahrheit, sondern nach dem Maßstab systematischer Originalität und Folgerichtigkeit« [Panofsky Problem 1076] bestimmt, ist zum Beispiel (bleibt man etwa weiterhin im Gegenstandsbereich der Kunst) in Form der Kunstkritik geläufig, deren prinzipielle Angemessenheit sich keineswegs kunsthistorischen Korrektiven verdankt. Daher lässt sich die von Panofsky formulierte, differenzierte Selbstverortung seiner methodischen Überlegungen gut durch die von Martin Seel betriebene Positionierung der Kunstkritik und des ästhetischen Argumentierens bestätigen.4 Gerade durch die umsichtig differenzierte, disziplinäre Selbstverortung von Panofskys Überlegungen lassen sich die von ihm entwickelten Verbin-
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Während kunstgeschichtliche Analysen nach Seel im Modus des »Kommentars« argumentieren, zeichnen sich Kunstkritik und ästhetische Argumentation in ihrer Hinwendung an beurteilte Gegenstände zusätzlich durch den Aspekt der ästhetischen »Betroffenheit« aus, der umgekehrt wiederum für den kunsthistorischen Gegenstandsbezug irrelevant ist [vgl.: Seel Entzweiung und ders. Argument; s. u. Kap. 4.3]. Diese wissenschaftstheoretische Unterscheidung findet sich auch in einer Aussage bestätigt, die von dem Kunsthistoriker Moritz Thausing überliefert ist: »Ich kann mir die beste Kunstgeschichte denken, in der das Wort ›schön‹ gar nicht vorkommt.« [Sitt, Martina (Hg.): Kunsthistoriker in eigener Sache; Berlin (Reimer) 1990: 27] 85
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
dungslinien zwischen rezeptiven Haltungen und bildtheoretischen Komponenten auch jenseits der ausgewiesenen disziplinären Grenzen der Kunstgeschichte theoriebildend weiterentwickeln. Denn indem die kunsthistorische Untersuchung im Detail die für ihre disziplinären Ansprüche erforderlichen Kriterien explizit benennt, bleibt das relativ weite und beispielreiche Spektrum interpretativer Modi und bildtheoretischer Differenzierungen auch anderen theoretischen Interessen offen (wie ja teilweise schon durch Barthes’ phototheoretische und Bourdieus kultursoziologische Anknüpfung belegt werden kann [s.u.]). Panofsky beginnt seine Reflexion der kunsthistorischen Interpretationsmethoden (in dem späteren Text) mit einer Betrachtung zum Begriff der (visuellen) Wahrnehmung. Er geht in Abgrenzung zu einer These Wölfflins5 davon aus, dass es eine rein formale Wahrnehmung, also eine, die nicht begrifflich identifiziert, sondern stattdessen nur (reine) Formen und Farben registriert, nicht geben kann. Diese These illustriert er an einem nichtkünstlerischen Beispiel, der Begegnung mit einem hutziehenden Mann: »Wenn ich, wie ich es automatisch tue, diese Konfiguration als ein Objekt (Herr) und die Detailveränderung als ein Ereignis (Hutziehen) identifiziere, habe ich bereits die Grenzen der rein formalen Wahrnehmung überschritten und eine erste Sphäre des Sujethaften oder der Bedeutung betreten. Die dergestalt wahrgenommene Bedeutung ist elementarer und leicht verständlicher Natur, und wir werden sie die Tatsachenbedeutung nennen; ich erfasse sie, indem ich einfach bestimmte sichtbare Formen mit bestimmten Gegenständen identifiziere, die mir aus praktischer Erfahrung bekannt sind, und indem ich die Veränderung in ihren Beziehungen mit bestimmten Handlungen und Ereignissen identifiziere.« [Panofsky Ikon 36; eig. Hervorh.]
Was am Beispiel der Alltagsbeobachtung demonstriert wurde, soll auch für die Interpretation von (künstlerischen) Bildern zutreffen, wobei die triviale und vorsatzfreie Wahrnehmung (die am Alltagsereignis beteiligten Objekte werden ja »automatisch« identifiziert) nun als eine vom Interpreten angestrebte Bild-Deskription verstanden werden muss: »jede Deskription wird – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen [...]« [Panofsky Problem 1065]. Aber ob nun alltäglich selbstverständlicher Wahrnehmungsvollzug oder vorsätzliche Bild-Deskription die wahrnehmungstheoretische Grundannahme eines unvermeidlich symbolisch
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Panofskys Auseinandersetzung mit Wölfflin findet sich in seinem Text: Der Begriff des Kunstwollens.
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strukturierten visuellen Gegenübers bleibt in beiden Varianten betont. Deshalb: »...bildet also in Wahrheit nicht nur die Form [...], sondern daneben auch bereits der Sinn der Form den Gegenstand der Bildbeschreibung – nur dass – und das ist das Entscheidende – der ›Sinn‹ in diesem Falle in einer anderen, wenn man will primäreren, Schicht liegt als derjenige Sinn, um den die sogenannte ›ikonographische‹ Betrachtung bemüht ist.« [Panofsky Problem 1065]
Zwar ist demnach die Wahrnehmung grundsätzlich an »Symbolen« und »Bedeutungen« orientiert, und Formen werden immer schon als sinnvolle erfasst, aber »entscheidend« ist dabei, dass der wahrgenommene Sinn einer qualitativ anderen Schicht angehört, als sie von einer ikonographischen Betrachtung evoziert werden würde. Panofsky bezeichnet diese sinnhafte Schicht der Bilder als »Tatsachenbedeutung« und fügt ihr dann eine zweite hinzu, die ebenfalls der »primären Sinnschicht« des Wahrgenommenen zugeordnet ist: »Nun werden die dergestalt identifizierten Gegenstände und Ereignisse eine bestimmte Reaktion in mir hervorrufen.« [Panofsky Ikon 36] Eine Reaktion allerdings, deren Anlass oder Ursache gerade am Beispiel der Alltagswahrnehmung nicht eindeutig geklärt werden kann: »Aus der Art und Weise, wie mein Bekannter seine Handlung vollzieht, kann ich vielleicht erkennen, ob er guter oder schlechter Stimmung ist und ob seine Gefühle mir gegenüber gleichgültig, freundlich oder feindselig sind. Diese psychologischen Nuancen werden die Gebärden meines Bekannten mit einer weiteren Bedeutung füllen, die wir ausdruckshaft nennen werden. Sie unterscheidet sich dadurch von der Tatsachenbedeutung, dass sie nicht durch einfache Identifikation, sondern durch ›Einfühlung‹ erfasst wird. Um sie zu verstehen, benötige ich eine gewisse Sensibilität, doch diese Sensibilität ist immer noch Bestandteil meiner praktischen Erfahrung, nämlich meines alltäglichen Vertrautseins mit Gegenständen und Ereignissen.« [Panofsky Ikon 36 f.; eig. Hervorh.]6
Unter dem Begriff des Tatsachensinns thematisiert Panofsky die Identifikation auf der Basis des alltäglichen Umgangs mit vertrauten Gegenständen (und Ereignissen), unter dem Begriff des Ausdruckssinns wird stattdessen die »Einfühlung« in die »psychologischen Nuancen« eines Bildes oder alltäglichen Ereignisses aufgrund einer Sensibilität von Wahrnehmenden verhandelt, mittels derer auf nicht bloß identifizierbare Auffälligkeiten im Kontext der Region des Phänomensinns reagiert wird. Diese Reaktion präzisiert also die 6
Der paraphrasierte Terminus »Einfühlung« ist möglicherweise durch die im deutschen Expressionismus wirkungsreiche, kunsttheoretische Schrift von Wilhelm Worringer inspiriert (ders.: Abstraktion und Einfühlung; München 1908). 87
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wahrgenommenen Gegenstände, indem sie ihre bloße Identifikation um Aspekte der Subjektivität des Wahrnehmungsvollzugs bereichert (und zwar ohne dass dabei auf intendierte oder kulturell voraussetzungsreiche Sinnschichten rekurriert werden müsste). Die »Einfühlung« hat statt der Benennung einzelner Gegenstände deshalb Prädikate zum Inhalt, mit denen den jeweils identifizierten Gegenständen bestimmte Wirkungen nachgesagt werden können.7 Zwar ist diese »Einfühlung« immer noch Bestandteil meiner praktischen Erfahrung und damit in der gleichen Region lokalisiert wie der Tatsachensinn, aber sie besteht nicht mehr in einer einfachen Identifikation, sondern in der Sensibilität für bestimmte Wirkungen, so dass unter diesem Begriff thematisch wird, »als« was mich das Zeichen »anspricht«. Tatsachen- und Ausdrucksbedeutung bilden laut Panofsky die »Klasse primärer oder natürlicher Bedeutungen« [Panofsky Ikon 37]. »Natürlich« nennt er die wahrgenommenen Bedeutungen aus zweierlei Gründen. Einmal deshalb, weil, wird das Beispiel auf Bild- und Kunstwerke übertragen, nur jene Darstellungen identifiziert werden, die als Darstellungen »natürlicher Gegenstände wie menschlicher Wesen, Tiere, Pflanzen, Häuser, Werkzeuge und so fort« [Panofsky Ikon 38] gelten können. Der Aspekt der »Natürlichkeit« kann gerade im Falle der beiden letzteren bestritten werden, allerdings nicht, wenn man sich auf Panofskys Verweis auf ihre Voraussetzung in der alltäglichen Erfahrung einlässt. Dann werden Häuser und Werkzeuge deshalb als natürliche Gegenstände angesehen, weil sie uns auf Grund unserer »optischen Anschauung, Tast- oder Bewegungswahrnehmung [...] zugänglich und vertraut« [Panofsky Problem 1066] sind,8 nicht aber auf Grund von etwas »bil-
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»Wir wollen jene ›primäre‹ Sinnschicht, in die wir auf Grund unserer vitalen Daseinserfahrung eindringen können, als die Region des Phänomensinns bezeichnen, den wir, wenn wir wollen, in Sach-Sinn und Ausdrucks-Sinn aufteilen können (denn es ist ja ein wichtiger Unterschied, ob mich das bildnerische Zeichen als die Darstellung eines Menschen, oder aber als die Darstellung eines ›schönen‹, ›hässlichen‹, ›traurigen‹ oder ›fröhlichen‹, ›bedeutenden‹ oder ›stumpfsinnigen‹ Menschen anspricht).« [Panofsky Problem 1066] Hier sind es Wirkungsprädikate, die im Modus des Ausdrucks-Sinns den identifizierten Gegenständen zugeschrieben werden. Dies ist ein Gedanke, der sich auch in Benjamins Kunstwerkaufsatz (1936) findet, wenn dieser von den Prozessen der »Gewöhnung« durch die »taktile Rezeption« spricht, die er zwar am Beispiel des Films expliziert, aber nicht ausschließlich durch dieses technische Medium bedingt sieht, denn historisch sei die »taktile Rezeption« zu allen Zeiten durch die Architektur (also Häuser) ermöglicht worden. Auch Benjamins Differenzierung zwischen »optischer« und »taktiler Rezeption« weist Ähnlichkeiten mit Panofskys Unterscheidung zwi-
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dungsmäßig Hinzugewußten«, das bei Panofsky literarisch fixiert sein muss (s.u.). Der Aspekt der Natürlichkeit thematisiert also nicht nur die Art der beurteilten Gegenstände, sondern ebenfalls die Bedingungen eines Erfahrungserwerbs, der die jeweils aktuelle Wahrnehmung inhaltlich strukturiert. Zweitens nennt Panofsky Tatsachen- und Ausdrucksbedeutung auch aus Gründen der terminologischen Systematisierung »natürlich«, um sie deutlich vom folgenden Interpretationsbereich abzugrenzen, dem es nicht um die Identifikation von Gegenständen und die Wahrnehmung von Ausdrucksphänomenen geht, die mit natürlichen Gegenständen assoziiert werden können, sondern um kulturell konventionalisierte Ereignisse und visuelle Konfigurationen. Hier betont Natur den begrifflichen Antagonisten Kultur. Denn in diesem »sekundären« Interpretationsbereich ist der Betrachter mit kulturellen Konventionen und Traditionen konfrontiert, weil er die Wahrnehmung intendierter und konventionalisierter Zeichen sowie zeichenhafter Handlungen praktiziert. Am Alltagsbeispiel des grüßenden Bekannten nimmt sich dieser sekundäre Interpretationsbereich wie folgt aus: »Meine Erkenntnis jedoch, dass das Hutziehen für ein Grüßen steht, gehört einem völlig anderen Interpretationsbereich an. [...] Um das Tun des Herrn in dieser Bedeutung zu verstehen, muss ich nicht nur mit der praktischen Welt von Gegenständen und Ereignissen vertraut sein, sondern auch mit der mehr als bloß praktischen Welt von Bräuchen und kulturellen Traditionen, die einer bestimmten Zivilisation eigentümlich sind.« [Panofsky Ikon 37]
Was im sekundären Interpretationsbereich wahrgenommen wird, sind die intendierten Bedeutungen alltäglicher Handlungen und visueller Konfigurationen, die bereits als zeichenhafte Bedeutungen bewusst in die Darstellung integriert wurden. Deshalb sind zu ihrer »Erkenntnis« entsprechende Erfahrungen erforderlich, die über den Bereich der »praktischen Welt von Gegenständen und Ereignissen« hinausgehen. Das Kriterium für die Unterscheidbarkeit der natürlichen von der konventionellen Bedeutung findet Panofsky im Bereich der alltäglichen Erfahrung, aber da diese zweifellos ebenfalls der »mehr als bloß praktischen Welt von Bräuchen und kulturellen Traditionen« [Panofsky Ikon 37] ausgesetzt ist, könnte sich hier die Frage stellen, inwiefern sie dann als vor der kulturellen Erfahrung liegende verstanden werden soll. Panofsky verweist hierzu auf den vorkulturellen Erfahrungshintergrund der Tatsachen- und Ausdruckswahrnehmung. Am Beispiel von Grünewalds »Auferstehung« erläutert er:
schen prä-ikonographischer und ikonographischer Sinnschicht auf und ließe sich entlang dieser begrifflichen Grenze nacherzählen. 89
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»Wenn ich jenen hellen Farbkomplex da in der Mitte als einen ›schwebenden Menschen mit durchlöcherten Händen und Füßen‹ bezeichne, so überschreite ich zwar damit, wie schon gesagt, die Grenzen einer bloßen Formbeschreibung, aber ich verbleibe noch in einer Region von Sinnvorstellungen, die dem Betrachter auf Grund seiner optischen Anschauung, seiner Tast- oder Bewegungswahrnehmung, kurz auf Grund seiner unmittelbaren Daseinserfahrung zugänglich und vertraut sind.« [Panofsky Problem 1065 f.]
Eindeutig wird die Unterscheidung dann auf der nächsten Stufe der Interpretation. Denn: »Bezeichne ich dagegen jenen hellen Farbkomplex als einen ›aufschwebenden Christus‹, so setze ich damit noch etwas bildungsmäßig Hinzugewußtes voraus [...]« [Panofsky Problem 1066]. Mit dem Begriff des »bildungsmäßig Hinzugewußten« betont Panofsky, dass sich uns diese »sekundäre« Sinnschicht eines Bildes, die »Region des Bedeutungssinns« »erst auf Grund eines literarisch übermittelten Wissens erschließt«.9 Hierbei ist der Begriff der Übermittlung allerdings doppeldeutig, da uns die Sinnschicht in der wir gemäß vertrauter »Themen oder Vorstellungen« Bilder interpretieren auch auf der Grundlage »literarischer« Quellen zugänglich ist, die »mündlich« weitergegeben werden.10 Nicht Literarizität oder Oralität der KenntnisÜbermittlung, sondern vielmehr die Qualität des Übermittelten gibt daher bei Panofsky das Kriterium zur Unterscheidung von erster und zweiter Sinnschicht ab. So verläuft die Grenze zwischen einer prä-ikonographischen Wahrnehmung (Tatsachen- und Ausdruckssinn sowie deren Oberbegriff des Phänomensinns) und einer ikonographischen methodisch unterscheidbar zwischen der Verschiedenheit der in den Rezeptionsakt einbezogenen Erfahrungen, die Panofsky auch »Quellen der Erkenntnis« nennt.11
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»Jene andere, sekundäre Sinnschicht dagegen, die sich uns erst auf Grund eines literarisch übermittelten Wissens erschließt, mögen wir die Region des Bedeutungssinns nennen.« [Panofsky Problem 1066] 10 »Die ikonographische Analyse [...] setzt natürlich weit mehr voraus als jene Vertrautheit mit Gegenständen und Ereignissen, wie wir sie durch praktische Erfahrung erwerben. Sie setzt eine Vertrautheit mit bestimmten Themen oder Vorstellungen voraus, wie sie durch literarische Quellen vermittelt wird, sei es durch zielbewusstes Lesen oder durch mündliche Tradition.« [Panofsky Ikon 45] 11 Diesen Grenzverlauf wird vor allem Bourdieus Auslegung der Panofsky-Texte infrage stellen. Bestätigt findet er sich hingegen im Umkreis der Vorarbeiten zu Benjamins Kunstwerkaufsatz, da dieser rezeptionstheoretische Konsequenzen aus einer ähnlichen Unterscheidung gezogen hat, wenn er darauf hinwies, dass die Kunstrezeption unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr die »Bildung der Kenntnisse«, sondern vielmehr die »Schulung der Urteile« zu betreiben habe [ders.: Reflexionen zum Rundfunk; in ders.: Gesammelte Schriften; 90
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
Welche Konsequenzen diese Unterscheidung für die Theorie des photographischen Bildes gewinnen kann, lässt sich an der frühen Phototheorie Roland Barthes’ ablesen (s.u.). Welche Anregungen sie jedoch für eine systematische Positionierung ästhetischer Zugänge zum photographischen Bild haben kann, lässt sich sowohl an ihrer Variation in Barthes’ später Phototheorie diskutieren, als auch an den vehementen Einwänden ablesen, die Bourdieus kultursoziologische Adaption der Panofsky-Texte vorträgt (s. Kap. 3.3).
3.2 Panofskys Differenzierungen in der frühen Phototheorie Roland Barthes’ Roland Barthes hat in seiner frühen Phototheorie auf Panofskys Methodenreflexion zurückgegriffen und einige ihrer Elemente in die eigene Argumentation integriert.12 Anhand seiner Analysen von Werbe- und Pressephotographie hat Barthes wie Panofsky bild- (hier nun zugleich aber auch medien-) theoretische Differenzierungen des wahrgenommenen Objekts mit unterscheidbaren Rezeptionsmodi assoziiert. Allerdings mit einem umgekehrten thematischen Akzent: Panofsky unternimmt die methodisch motivierte Darstellung von Rezeptions- und Interpretationsmodi und verweist in ihrer Differenzierung exemplarisch auf die zugehörigen Sinnschichten des Bildes. Dahingegen versucht Barthes die »Originalstruktur« der Photographie hinter der Vielzahl ihrer kulturellen Botschaften zu ermitteln und greift anscheinend nur zu deren Aufdeckung auf unterscheidbare Wahrnehmungs- und Interpretationsperspektiven zurück. F.a.M. 1991, Bd. 2.3, S. 1506 f. und ders.: Theater und Rundfunk; ebd., Bd. 2.2, S. 773 f.]. 12 Zitiert wird Panofsky zu den entsprechenden Textstellen nicht, er findet auch in den fundierten Barthes-Biographien von Calvet und Ette keine Erwähnung. Jenseits der im folgenden angeführten Gemeinsamkeiten fällt zudem auf, dass Barthes in seinen Analysen zum photographisch/ filmischen Bild wiederholt auf der Grundlage von dreiteiligen Differenzierungen argumentiert (vgl. ders.: Botschaft, Rhetorik, Sinn, Kammer), die dann relativ schnell auf dichotomische Figuren verkürzt werden. Davon abgesehen verwendet Barthes auch den Terminus »Habitus« (den Bourdieu nach eigenem Bekunden von Panofsky übernimmt) in Verbindung mit dem technischen Medium Photographie schon in einem Artikel von 1955 (vgl.: Ette Barthes 112). Da ich nicht historisch-philologisch argumentiere und auch nicht auf entsprechende Quellen zurückgreifen kann, geht es im Folgenden nur um die Darstellung einer wahrgenommenen Assoziation zwischen den Theorien beider Autoren, insofern diese für mein Thema systematisch relevant ist. 91
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Aber nicht nur in der Kombination von bild- und rezeptionstheoretischen Positionen sondern auch in der Art der Differenzierung entsprechender Relationen, die jeweils zwischen ihnen denkbar wären, lassen sich in Panofskys Überlegungen Grundlagen der Barthesschen Phototheorie erkennen. So stimmt bereits Barthes’ grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer symbolischen und einer buchstäblichen (einer kulturell kodierten und einer unkodierten) Photographie mit Panofskys Grenzziehung zwischen Phänomen- und Bedeutungssinn überein, da durch sie ja ebenfalls eine kulturell voraussetzungsreiche von einer anthropologisch selbstverständlichen Bilddeutung getrennt und analog zu dieser rezeptionstheoretischen Maßnahme ebenfalls zugehörige Sinnschichten eines Bildes reklamiert werden. Eine grundsätzliche Differenz zwischen den Überlegungen beider Autoren ist damit allerdings auch schon bezeichnet. Das photographische Bild ist weder künstlerisches Artefakt noch alltägliches Ereignis, obwohl Barthes diese beiden beispielhaft erwähnten Gegenstandsbereiche Panofskys in seiner analogischen Definition der Photographie geradezu zusammenzuziehen scheint: das Photo gilt ihm ja als ein artifizielles Bild, das dem gesunden Menschenverstand zufolge als ein alltägliches Ereignis aufgefasst wird. Mit dieser Zusammenziehung war laut Barthes allerdings eine unvermeidliche »Vermischung« verbunden, die – in der Terminologie Panofskys formuliert – bedeuten würde, dass in der »üblichen« Lektüre des photographischen Massenbildes Phänomen- und Bedeutungssinn ununterscheidbar werden. Gerade in diesem Aspekt nähert sich Barthes’ medienspezifische Diagnose wieder an Panofskys kunstgeschichtliche Untersuchung an. Denn tatsächlich war die prinzipielle Ununterscheidbarkeit bereits von Panofskys Methodenreflexion konstatiert worden und zwar ebenfalls mit dem (von Barthes wiederholten) Hinweis darauf, dass sie nur »theoretisch« aufgehoben werden kann. Wenn Panofsky feststellt, dass das »organisch sich entfaltende Gesamtgeschehen« der von ihm differenzierten Forschungsoperationen »eben nur ex post und theoretisch in Einzelelemente und Sonderaktionen auflösbar ist« [s.o.], dann nimmt er damit ja Barthes’ photospezifische Aussage vorweg, wonach die übliche Vermischung der Lektüren am photographischen Massenbild nur für den Theoretiker differenzierbar sei (s. Kap. 2.7) und nur ihm der Zugang zum Denotat der Photographie gelänge. Obwohl die »perzeptive Botschaft«, der Buchstabe des Bildes, sein Denotat, demnach nur relational unter »theoretischem« Abzug des symbolisch Bedeuteten zu definieren ist, kann sie bei Barthes somit aber auch separater Gegenstand möglicher rezeptiver Verhältnisse zum photographischen Bild werden. So hatte Barthes bereits in seinem ersten Text prinzipiell eine »hy-
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pothetische, aber mögliche ›perzeptive‹ Konnotation« [Barthes Botschaft 24] der Photographie eingeräumt.13 Den begrifflichen Antagonisten erkennt Barthes in einer »›kognitiven‹ Konnotation«, die stellvertretend für mehrere andere außer der perzeptiven steht und damit jede kodierende Lektüre des Bildes meint, in der »Einstellungen« oder soziale Mittelbarkeiten (Bourdieu) leitend sind. Eine von dieser »kognitiven Konnotation« geprägte Lektüre »hängt [...] eng von meiner Bildung, meiner Kenntnis der Welt ab« [ebd.] und sie stimmt somit offenbar mit Panofskys Bedeutungssinn überein, zumal sie auf ein »bildungsmäßig Hinzugewußtes« verweist, das nicht nur die Wahrnehmung des Bildes ermöglicht, sondern auch in dessen Anfertigung und Darbietung bereits intendiert ist, denn »es ist wahrscheinlich, dass eine gute Pressephotographie (das sind sie alle, weil sie ausgewählt sind) das beim Leser vorausgesetzte Wissen mit einkalkuliert« [ebd.]. Im Kontrast zu dieser unvermeidlichen Konnotation des photographischen Massenbildes nimmt Barthes nun eine »Sinnschicht« an, die sich wie Panofskys Tatsachensinn darstellt und unter bestimmten Umständen entgegen der »üblichen« Vermischung des Massenbildes auch rezeptiv erschlossen werden kann. So wie der Theoretiker die »Buchstäblichkeit« der Photographie nur relational, unter Ausklammerung der kulturellen Botschaften aufsucht (»das was vom Bild übrig bleibt, wenn man ›geistig‹ die Konnotationszeichen ausgelöscht hat«), wird auch der Modus einer »buchstäblichen«, perzeptiven Wahrnehmung subtraktiv, unter Abzug aller kulturellen Bedeutungen dargestellt: »Ist das alles? Zieht man alle diese Zeichen vom Bild ab, so bleibt noch eine gewisse Informationsmenge; ohne jegliches Wissen fahre ich fort, das Bild zu ›lesen‹ und zu ›begreifen‹, dass es auf einem Raum eine gewisse Anzahl identifizierbarer (benennbarer) Objekte versammelt, und nicht bloß Formen und Farben.« [Barthes Rhetorik 31]
Jenseits der Frage nach einer Übereinstimmung in den Bedingungen der Wahrnehmung stimmen beide Autoren zunächst in der Art des am Bild Wahrgenommenen überein, sobald dieses unter Abzug des »bildungsmäßig Hinzugewußten« betrachtet werden soll. Denn auch Barthes erkennt hier Pa-
13 Anders Bourdieu, der die systematische Nähe zwischen einem Begriff perzeptiver Wahrnehmung von Photos und ihrer ästhetischen Rezeption wohl durchaus registriert hatte, als er sie terminologisch zusammenzog, um sich dann gegen ihre Existenz auszusprechen: »Die im strengen Sinne ästhetische Perzeption fehlt nicht nur dem Blick, den man auf das Photo wirft; sie ist der photographischen Praxis selber fremd.« [Kult 71] 93
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nofskys Position einer unvermeidlich symbolisierenden Wahrnehmung an, wenn er von den »identifizierbaren, benennbaren Objekten« spricht, so dass auch bei ihm die »rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet« [Panofsky Problem 1065] werden. Andererseits beunruhigt Barthes jedoch die Konsequenz dieser wahrnehmungstheoretischen Prämisse, weil sie die angestrebte Unterscheidung kultureller und nicht-kultureller Bezüge auf das photographische Bild erschwert, wenn nicht gar grundsätzlich infrage stellt. Denn mit der für unvermeidlich befundenen Identifikation von Objekten muss notwendig die Sprache in den Rezeptionsprozess einbezogen werden und in ihr erkennt Barthes bereits eine Form des »bildungsmäßig Hinzugewußten«, das er in der Wahrnehmung des photographisch »Buchstäblichen« ja in ähnlicher Weise als unzulässig erklärt, wie es bei Panofsky aus der Region des Phänomensinns ausgeschlossen wurde. Über den Hinweis, dass nach Bruner und Piaget Wahrnehmung immer schon verbalisiert stattfindet und damit jede Photographie »sozial immer in mindestens eine erste Konnotation eingetaucht existieren [...] würde« [s.u.], nämlich die Konnotation durch die Sprache, erscheint der Gedanke einer die kulturellen Voraussetzungen der Photorezeption aussetzenden Wahrnehmung als unhaltbar.14 Jede Verbalisierung (worunter nicht nur die sprachliche Artikulation des Wahrgenommenen, sondern bereits die sprachliche Strukturierung der Wahrnehmung verstanden wird) trägt laut Barthes immer noch mehr Voraussetzungen in die Rezeptionsprozesse hinein, als sie der »Buchstäblichkeit« des photographischen Bildes einzig angemessen wären. Demnach gilt, dass das »Beschreiben einer Photographie genaugenommen unmöglich« ist, weil durch die beschreibende Sprache zwangsläufig eine Konnotation des photographischen Analogons stattfindet. So konstatiert Barthes, dass: »die Photographie als einzige ausschließlich von einer ›denotierten‹ Botschaft konstituiert und besetzt [ist], die sie vollständig bestimmt [...]; angesichts einer Photographie ist das Gefühl der ›Denotation‹ oder, wenn man lieber will, der analogischen Fülle so stark, dass die Beschreibung einer Photographie genaugenommen unmöglich ist; denn das Beschreiben besteht gerade darin, der denotierten Botschaft ein Relais oder eine zweite Botschaft hinzuzufügen, die dem Code der Sprache entnommen ist und so sehr man auch um Genauigkeit bemüht ist, zwangsläufig eine Konnotation in Bezug auf das photographische Analogon bildet: Beschreiben heißt
14 »Falls es, gewissen Hypothesen von Bruner und Piaget zufolge, keine Wahrnehmung ohne unmittelbare Kategorisierung gibt, so wird die Photographie im Moment der Wahrnehmung verbalisiert; oder besser noch: Sie wird nur verbalisiert wahrgenommen [...]« [Barthes Botschaft 24]. 94
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also nicht bloß ungenau oder unvollständig sein, sondern die Struktur wechseln, etwas anderes bedeuten als das Gezeigte.« [Barthes Botschaft 14; eig. Hervorh.]15
Obwohl die sprachliche Beschreibung eines photographischen Bildes für Barthes »genaugenommen unmöglich ist«, weil Sprache die analogische Fülle einer Photographie verfehlt und somit dem Denotat des Bildes einen kulturellen Code aufzwingt, wird die Sprache in dem zweiten der beiden frühen photoanalytischen Texte schließlich doch noch zur Ermittlung des »Buchstäblichen« zugelassen – offenbar sogar ohne dass damit notwendig eine kulturelle Kodierung verbunden sein müsste. Zieht der Phototheoretiker »jegliches Wissen« aus seiner Bildbetrachtung ab, so bleiben doch noch »identifizierbare, benennbare Objekte« übrig und nicht bloß »Formen und Farben«. Benennen statt Beschreiben scheint daher der legitime Kompromiss zu sein, den Barthes für die Versprachlichung der denotativen Elemente des Photos zulassen kann.16 Allerdings löst Barthes sein Problem einer für prekär befundenen Implikation von Sprache in die Photorezeption ganz im Sinne Panofskys, wenn er 15 Dieses auf die photographische Analogizität bezogene Sprachverdikt wird im phototheoretischen Werk Barthes’ weitergeführt. Es findet sich in der Theorie der Hellen Kammer sowie dem diese theoretisch vorwegnehmenden Aufsatz: Der stumpfe Sinn wieder. In beiden verschiebt sich seine Darstellung allerdings in Richtung von Panofskys Ausdruckssinn, indem die Subjektivität des Rezipienten nun stärker gewichtet wird als die medientheoretische Prämisse. Das Unzureichende der sprachlichen Beschreibung verdankt sich dann nicht mehr dem Analogischen am Bild sondern ebenfalls der Tatsache, dass das (akulturelle) Verhältnis zum Bild eine »Wert-Emotion« [Barthes Sinn 56] ist, sich also wie bei Panofsky als eine »Einfühlung« zeigt. 16 Während hier die Benennung eine Identifikation von Gegenständen (analog zu Panofskys Tatsachensinn) vollzieht, wird sie in der späteren Phototheorie Barthes’ dann noch einmal korrigiert und als bloße Bezeichnung wiederkehren: »Ich beschreibe nicht, ich bezeichne nur einen Ort [...]« [Barthes Sinn 59]. Diesen Aspekt erwähne ich auch deshalb, weil er mir für eine sprachliche Exemplifikation der reinen Geschmacksurteile Kants im Kontext der späten Phototheorie Barthes’ bedeutsam ist. Dabei wechselt das deiktische Moment, das im Interpretationsspektrum abgegrenzt und spezialisiert werden wird, spätestens in Barthes’ Heller Kammer auch seinen bildtheoretischen Gegenstand, ein Wechsel der – in der Terminologie von Panofsky ausgedrückt – vergleichbar mit dem Übergang vom Tatsachensinn hin zu einem Ausdruckssinn ist: denn die kulturelle Sinnschicht wird weiterhin umgangen, während der Betrachter innerhalb der Region des Phänomensinns auf Wirkungen reagiert und diese mit der Artikulation von Bezeichnungen auf Bildkomponenten bezieht. 95
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betont, dass der Objekte benennende und identifizierende Sprachgebrauch doch »ohne jegliches Wissen« erfolgt. Die angestrebte Grenzziehung zwischen einer Wahrnehmung des »Buchstäblichen« am Bild und einer Wahrnehmung die bereits kulturelle Symbole registriert, verläuft damit direkt durch die strukturierende und artikulierende Sprache – ihr genauer Verlauf wird allerdings durch die »Quelle der Erkenntnis« (Panofsky), das einbezogene und vorausgesetzte, kulturell oder existentiell vermittelte Wissen von Rezipienten markiert. Als hätte Barthes Panofsky gelesen, fährt er fort, für die Identifizierung der »benennbaren Objekte« ähnliche empirische Voraussetzungen zu konstatieren, wie die, die Panofsky für den Phänomensinn reklamiert hat. Denn »ohne jegliches Wissen« erweist sich in der nachfolgenden Präzisierung als »kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte«, womit eine ähnlich reduzierte Vor-Bedingung dieser »perzeptiven« Bildwahrnehmung angegeben wäre, wie sie Panofsky mit seinem Hinweis auf die »Tastund Bewegungswahrnehmung« in der »vitalen Daseinserfahrung« zum Ausdruck brachte: »Diese Besonderheit ist auch auf der Ebene des Wissens anzutreffen, das für die Lektüre der Botschaft aufgeboten wird: Um diese letzte (oder diese erste)17 Ebene des Bildes zu ›lesen‹, benötigen wir kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte: Es ist nicht unbedeutend, denn wir müssen wissen, was ein Bild ist (die Kinder wissen es erst mit etwa vier Jahren) und was eine Tomate, ein Netz und ein Teigwarenpaket ist: Dabei handelt es sich jedoch um ein beinahe anthropologisches Wissen.« [Barthes Rhetorik 32; eig. Hervorh.]
Offensichtlich wiederholt Barthes hier für die Photorezeption (im Werbebereich) jene Definition der Tatsachenbedeutung, die Panofsky für die Differenzierung der Wahrnehmung am Beispiel künstlerischer Bilder und trivialer Ereignisse aufgezeigt hatte: »[...] ich erfasse sie, indem ich einfach bestimmte sichtbare Formen mit bestimmten Gegenständen identifiziere, die mir aus praktischer Erfahrung bekannt sind [...]« [Panofsky Ikon 36]. Analog zu Panofsky ist es somit nicht die Sprache, sondern das in die Bildrezeption involvierte Wissen, das zum Unterscheidungskriterium zwischen Phänomen- und Bedeutungssinn, zwischen buchstäblicher und symbolischer »Sinnschicht« von Photographien avanciert. Denn die »Ebene des Wissens« wird hier, wie bei Panofsky auch, zum Indikator der Bestimmung von Wahrnehmungsmodi und Bildregionen gleichermaßen aufgeboten.
17 Je nach dem, ob man von Barthes’ subtraktiver oder von Panofskys additiver Vortragsweise ausgeht. 96
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Die Anknüpfung an Panofsky wird besonders im prüfenden Gegenbeweis offenbar: während das »anthropologische Wissen« als reine und unvermeidliche Gegenstandsidentifikation auftritt, würde nach Barthes ein »Wissen, das in den Bräuchen einer sehr weitreichenden Zivilisation verankert ist«, bereits auf eine qualitativ neue, nämlich symbolische Botschaft verweisen. Deren wissensbezogene Rezeptionsbedingungen können zwar ebenfalls stark reduziert und bis an die Grenze des »anthropologischen Wissens« getrieben werden, sie verweilen vor dieser aber, sobald sie auf mehr als ein »bloß mit unserer Wahrnehmung verknüpftes Wissen« rekurrieren. Über die von Barthes analysierte Panzani-Lebensmittelwerbung heißt es etwa: »Um dieses erste Zeichen zu lesen, genügt ein Wissen, das sozusagen in den Bräuchen einer sehr weitreichenden Zivilisation verankert ist, in der ›auf den Markt gehen‹ im Gegensatz zur Schnellversorgung (Konserven, Tiefkühlkost) einer ›mechanischeren‹ Gesellschaft steht.« [Barthes Rhetorik 30] Auch mit dieser Grenzziehung im Wissensbegriff befindet sich Barthes’ phototheoretische Erörterung auffällig nah an den Formulierungen der Methodenreflexion Panofskys, insofern diese ja der auf intendierte und kulturell konventionalisierte Bedeutungen gerichteten Rezeptionsweise, der Rezeption des Bedeutungssinns, einen »Interpretationsbereich« zugeordnet hat, der ebenfalls schon auf die »Bräuche einer Zivilisation« rekurriert.18 Selbst wenn man die Photographie unter dem stillschweigenden Einbezug solcher Bräuche als eine Ansammlung von reduzierten und sehr einfachen Zeichen lesen würde, so hätte man nach Barthes ihre rein buchstäbliche Ebene bereits verlassen. So ist es also nicht die Schlichtheit der photographischen, bildlichen Zeichen, sondern das Maß der Kulturalität des in den Rezeptionsprozess einbezogenen Wissens, nach dem auch bei Barthes, analog zu Panofsky, die Differenz zwischen Phänomen- und Bedeutungssinn ermittelt wird. Nur die Ebene des Bildes für deren Lektüre wir »kein anderes Wissen benötigen, als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte«, fördert jene Botschaft zutage, die laut Barthes »gewissermaßen dem Buchstaben des Bildes« entspricht und die in der Photosoziologie Bourdieus dann als Formbezug der Ästheten wiederkehrte. Allerdings bleibt Barthes (zumindest in seiner frühen 18 Mit fast identischem Wortlaut hatte Panofsky den Übergang vom Phänomenzum Bedeutungssinn benannt: »Meine Erkenntnis jedoch, dass das Hutziehen für ein Grüßen steht, gehört einem völlig anderen Interpretationsbereich an. [...] Um das Tun des Herrn in dieser Bedeutung zu verstehen, muss ich nicht nur mit der praktischen Welt von Gegenständen und Ereignissen vertraut sein, sondern auch mit der mehr als bloß praktischen Welt von Bräuchen und kulturellen Traditionen, die einer bestimmten Zivilisation eigentümlich sind.« [Panofsky Ikon 37] 97
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Phototheorie) die Antwort darauf schuldig, unter welchen Bedingungen diese nicht kulturell kodierte bildliche Botschaft gelesen werden kann, unter welchen Bedingungen also von einer ästhetischen Rezeption jenseits phototheoretischer Bildanalysen, nämlich in der kulturellen Praxis ausgegangen werden kann. So stimmen zwar die Bedingungen einer Wahrnehmung der »ersten Botschaft«, die sich in der Frage seiner Versprachlichung und in der Frage nach dem implizierten »anthropologischen Wissen« zeigen, weitgehend mit Panofskys Überlegungen zu den Bedingungen einer Wahrnehmung des Phänomensinns überein. Allerdings war im Gegenstandsbereich des photographischen Massenbildes eine »übliche« »Vermischung der Lektüren« [s. Kap. 2.7] registriert worden, die eine Rezeption des Phänomensinns eines Photos jenseits der theoretischen Analyse, nämlich in der rezeptiven Mehrheitspraxis, grundsätzlich fragwürdig erscheinen lässt. Barthes hatte hierzu auch festgestellt, dass für das »konsumierende Publikum« »keine Veranlassung« besteht »nach den signifikanten Einheiten der ersten Botschaft zu suchen [...]« [Barthes Botschaft 15] und dass diese ebenfalls nicht vorsätzlich, aufgrund eines »spontanen Entschlusses« bevorzugter Gegenstand eines Rezeptionsaktes werden kann. Besteht aber weder eine Veranlassung des kulturelle Symbole interpretierenden Publikums, noch ein »spontaner« Entschluss dazu, die Ebene des photographischen Bedeutens zu registrieren, dann bleibt (abgesehen von der Differenzierungskompetenz des Phototheoretikers) eigentlich nur noch das Modell eines reaktiven Zugriffs übrig, wie es (beispielsweise) mit Panofskys Ausdruckssinn angesprochen wurde. Deshalb möchte ich nun den Ausdruckssinn zum theoretischen Anknüpfungspunkt ästhetischer Perspektiven auf das Bild machen, weil er, vorausgreifend gesagt, sowohl die Diskussion von Barthes’ später Phototheorie bereichern kann, als auch den konkreten Angriffspunkt darstellt, an dem sich Bourdieus photosoziologisch vorgetragene Kritik am Begriff der ästhetischen Rezeption in eine kultursoziologische Kritik an der Ästhetik (Kants) umformt (s. Kap. 3.3). Den Ausdruckssinn kann man in Panofskys Methodenreflexion als einen dem Wunsch nach systematischer Vollständigkeit folgenden Nebenbefund ansehen, denn er spielt im ikonographischen Begründungsvorhaben eine nur unbedeutende Rolle. Dies ist einerseits daran zu erkennen, dass er im Unterschied zu den verbleibenden drei »Sinnen« (dem Tatsachen-, dem Bedeutungs-, und dem Wesensinn) nicht mit einem zugehörigen interpretativen Korrektiv ergänzt wird. Andererseits kann der piktorale Inhalt des Ausdruckssinns auch nicht im Gefolge beschreibender oder interpretierender Deutungsansprüche aufgesucht werden, denn der Ausdruckssinn thematisiert, als was mich ein 98
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Bildwerk »anspricht«, und damit eine Wirkung, in die ich mich durch das Bild versetzt fühle, für die ich das Bild als Anlass verantwortlich machen würde.19 Panofskys Wortlaut ist in diesem Sinne sprechend, wenn er hervorhebt, dass die durch den Tatsachensinn »identifizierten Gegenstände« unter dem Ausdruckssinn dann »eine Reaktion in mir hervorrufen« [Panofsky Ikon 36]. Das am Bild Bestechende ist deshalb nicht kodiert, weil es beim späten Barthes, so wie bei Panofsky auch, auf die »Buchstäblichkeit« des Bildes, die benennbaren Objekte verweist. Es ist nicht im Bild auffindbar, weil es einen projektiven Beitrag des Rezipienten darstellt, der auf eine vom Bild ausgehende, wirkungsvolle Anziehung reagiert.20 Panofskys »Hermeneutik des Bildes« integriert mit dem Ausdruckssinn offenbar den Verweis auf ihre eigene systematische Grenze, die die Auslegungsgrenze einer kunsthistorischen Hermeneutik ist, denn er könnte durchaus jenen Bereich bezeichnen, der sich der repräsentativen Funktion des Bildes entzieht.21 Wenn man etwa das Beispiel vom hutziehenden Bekannten auf den Gegenstandsbereich kunsthistorischer Bildauslegungen überträgt, den es bei Panofsky ja illustrieren soll, so verändert der Begriff der Einfühlung deutlich 19 Panofskys Ausdruckssinn weist damit schon eine erste thematische Gemeinsamkeit mit Barthes’ späterem Begriff des punctum auf, insofern dieses, »das eigentlich Bestechende nennt, das, was den Blick anzieht, was sich aufdrängt und von dem es heißt, es sei nicht kodiert und auch nicht im Bild auffindbar [...]« [Dieter Mersch: Einleitung. Wort, Bild, Ton, Zahl, Modalitäten medialen Darstellens; in ders.: (Hg.): Die Medien der Künste, Beiträge zur Theorie des Darstellens; München 2003, S. 9-49, hier 31 (zitiert als: ders. Bild)]. 20 Dass der Ausdruckssinn damit jenseits eines Interpretationsvorsatzes selbst bereits den ausschlaggebenden Anlass einer Bildrezeption darstellen könnte, hat erst der späte Barthes angenommen, wenn er die mögliche Variation des Begriffs im »dritten, stumpfen Sinn« wie folgt beschreibt: »Ich lese, ich rezipiere (wahrscheinlich sogar als erstes) evident, erratisch und hartnäckig einen dritten Sinn.« [Barthes Sinn 48] 21 »Bilder re-präsentieren nicht nur, sondern präsentieren sich als Körper und enthüllen so die Gegenwart des Ver-Gegenwärtigten. Jedes Programm einer Ikonologie oder Ikonographie, wie es im Anschluss an Ernst Cassirer von Erwin Panofsky oder Max Imdahl formuliert worden ist, ebenso wie jede Semiotik oder Hermeneutik des Bildes findet daran seine Grenze. Sie ist markiert durch die Differenz zwischen Präsenz und repräsentatio, wie sie der Differenz zwischen Erscheinung und Symbolisierung korrespondiert.« [Mersch Bild 32; vgl. hierzu auch: Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens; F.a.M. 2003, S. 271 ff.; zitiert als: ders. Erscheinen] 99
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seine psychologische Dimension. Denn der Ausdruckssinn problematisiert am Bild andere Aspekte als am alltäglichen Ereignis. Am malerischen Bild muss die Vorstellung einer im Ausdruckssinn wahrgenommenen psychologischen Ursächlichkeit aufgegeben werden und einer piktoralen und medialen Ursächlichkeit, also dem Thema der Bildkonstitution weichen.22 Eine mögliche Konsequenz wäre: Der »Seele des Grüßenden« im alltäglichen Ereignis (in deren Zustände sich der Betrachter laut Panofsky im Modus der Ausdruckswahrnehmung »einfühlt«) entspricht die amediale Materialität des Bildes, dem was die interpretierbare Botschaft konstituiert, ohne dabei selbst künstlerisch intendiert oder symbolisch verfügbar gewesen zu sein.23 So ist die empfundene Wirkung ebenfalls als Wirkung der konstitutiven Elemente eines Bildes interpretierbar, und die vormals »psychologische Nuance« kann auch als medienreflexive Nuance gelten, wie sie jenseits der intendierten symbolischen Botschaft, aber doch im Kontext identifizierbarer Gegenstände erfahrbar ist (s. Abb. zu Kap. 3.4). Panofsky bietet daher unter dem Begriff des Ausdruckssinnes eine rezeptive Hervorhebung des Tatsachensinnes eines Bildes im Modus einer Wirkungserfahrung an – womit, übertragen auf Barthes’ Phototheorie, zugleich der konstatierte Vermischungseffekt des photographischen Massenbildes partiell aufgehoben werden könnte, ohne dass diese Differenzierung durch einen interpretativen Vorsatz oder eine theoretische Ambition initiiert worden wäre. Damit ist dann auch der Phototheoretiker für die Wahrnehmbarkeit der »buchstäblichen« Botschaft entbehrlich und eine allgemeine ästhetische Rezeption von Photographien bild- und rezeptionstheoretisch formulierbar. Auf die Phototheorie übertragen stellt der Ausdruckssinn somit einen ästhetischen Modus zur Aufhebung der Indifferenz photographischer Massenbilder bereit, der nicht als »Streben nach Distinktion« (Bourdieu) oder versuchte »Emanzipation von Kulturbedingungen« (Flusser) zu verstehen ist, sondern bloß als unerwartetes und unverfügbares Korrektiv charakterisiert wird, das anhand von Wirkungen auf auffällig gewordene bildtheoretische Differenzierungen verweist. Der ästhetische Formbezug von Bourdieus Pho22 »Wir sehen sowohl ein Bild als auch etwas im Bild. Ein Bild sehen heißt dabei zugleich, die Medialität des Mediums mitsehen. Anders gesagt: Bilder, als materielle Objekte in der Welt, werden von uns anders angeschaut als gewöhnliche Gegenstände, und diese Art des anderen Schauens unterstellt eine Brechung, eine Umkehrung des Blicks am Medium.« [Mersch Bild 31] 23 Diese Kombination findet sich beim späten Barthes, wenn er einerseits das Stimmungen evozierende, »amediale Element« [Mersch Bild 31] am Bild analysiert und im Modus einer »Beseelung« zu erfahren glaubt, aber zugleich betont: »Das Photo selbst ist völlig unbeseelt (ich glaube nicht an die ›lebendigen‹ Photographien) [...]« [Barthes Kammer 29]. 100
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tosoziologie wäre nun doch als ein »sinnlich unmittelbarer« Bildzugang jenseits einschlägiger künstlerischer Absichten und theoretischer Qualifikationen für die photographische Trivialkultur entworfen. Bourdieus Modifikation der Panofsky-Texte zielt nicht von ungefähr genau gegen die Annahme eines Tatsachensinns und mehr noch gegen einen Ausdruckssinn, da sie sich für den begrifflichen Entwurf einer ästhetischen Photorezeption ganz offensichtlich eignen.
3.3 Bourdieus Panofsky-Rezeption und die kunsthistorischen Prämissen der Kultursoziologie 1967 veröffentlicht Bourdieu die Übersetzung zweier Panofsky-Texte und ein eigenes Nachwort, in dem er sich ausdrücklich zu der kunsthistorischen Methodenreflexion Panofskys bekennt.24 Im Zuge seiner Modifikation der bildinterpretativen Überlegungen Panofskys gewinnt Bourdieu einen Ästhetikbegriff, der seine spätere Kultursoziologie leiten wird und sich von den vormals photosoziologischen Bestimmungen des Ästhetischen deutlich entfernt. Dabei ist Bourdieus Projekt bereits seit dem Photobuch von grundsätzlichen Überlegungen geprägt, die, zumindest auf den ersten Blick, sehr gut zu Panofskys Methodenreflexion zu passen scheinen. So formuliert Bourdieu bereits im Vorwort von 1965 einen Maßstab für das »adäquate Verständnis« photographischer Bilder, der sich umstandslos in seinen Panofsky-Text von 1967 einfügen lässt: »Das adäquate Verständnis eines Photos, ob dieses nun von einem korsischen Bauern, einem Kleinbürger aus Boulogne oder einem Berufsphotographen aus Paris stamme, stellt sich nicht allein dadurch her, dass man die Bedeutungen übernimmt, die es verkündet, d.h. in gewissem Maße die expliziten Absichten ihres Urhebers;
24 Der Bourdieus Panofsky-Rezeption betreffende Textkomplex findet sich in deutscher Übersetzung in der Aufsatzsammlung: Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970). Er umfasst das »Nachwort« (Preface, 1967), das unter dem deutschen Titel: »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis« [zitiert als: Habitus] publiziert wurde, den dieses Nachwort variierenden Artikel: »Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung« (Eléments d`une théorie sociologique de la perception artistique, 1968) [zitiert als: Elemente] und den bereits Panofsky aber auch den Habitus-Begriff erwähnenden, für die strukturalistische Auffassung des Kunstfeldes und des ästhetischen Urteils wichtigen Text: »Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld« (Champ intellectuel et projet créateur, 1966). 101
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man muss auch jenen Bedeutungsüberschuss entschlüsseln, den es ungewollt verrät, soweit es an der Symbolik einer Epoche, einer Klasse oder einer Künstlergruppe partizipiert.« [Photo 18]
Hier klingen beide Ebenen die ikonographische und die ikonologische (Panofskys zweite und dritte Sinnschicht) an: einerseits ist von der intendierten Bedeutung des Urhebers von Bildern die Rede und andererseits vom über der bewussten Absicht liegenden »Bedeutungsüberschuss«, der auf die »Symbolik einer Epoche« verweist. Passend auch, zwar nicht zu Panofsky aber doch zu Bourdieus späterer Panofsky-Auslegung, dass ein systematisches Pendant für Panofskys »Region des Phänomensinns« unerwähnt bleibt. Das »ungewollt Verratene« ist naturgemäß schwer zu bestimmen. Während bei Panofsky Ausdruckswahrnehmung und Ikonologie gleichermaßen ungewollt Verratenes registrieren, weil ihr wahrgenommenes Objekt im Gegensatz zum ikonographischen Bedeutungssinn jeweils als nicht-intendiertes in die bildliche Darstellung eingegangen ist, favorisiert Bourdieu hier klar die epochalen Determinanten eines Bildes – eine Entscheidung, die in den späteren Texten zur Panofsky-Rezeption dann mit großer Vehemenz vertreten wird. Auch die theoretische Kehrseite dieser Präferenz wird bereits in der frühen photosoziologischen Äußerung vorweggenommen: ein materiell fixiertes Nicht-Intendiertes der Photographie (das Thema der ästhetischen Formbezüge) kann nun aus der Untersuchung ausgeschlossen werden. Bourdieu wendet sich mit dem Ausschluss expressiver Phänomene aus der Bildinterpretation einerseits gegen die »Spontanästhetik«, und andererseits etabliert er statt ihrer eine eigene Definition des Ästhetischen im Kontext der Ikonographie. Aus dieser Maßnahme ergeben sich für Bourdieus Kultursoziologie zwei systematische Vorteile: Erstens lässt sich das Ästhetische nun analog zu Panofskys zweiter Sinnschicht auf seine Abkünftigkeit von etwas »bildungsmäßig Hinzugewußten« verpflichten, wodurch die soziologische Bedingungshaftigkeit des Ästhetischen schlicht überschaubarer wird, zweitens wird sie dadurch, ebenfalls in Weiterführung Panofskys, durch Verweis auf epochale, habitualisierte Gehalte wiederum »wissenschaftlich« überschreitbar. (Hierin, nicht etwa im Ausschluss der ersten Sinnschicht, sondern vielmehr in einer soziologischen Übernahme der dritten, ikonologischen Sinnschicht besteht offensichtlich Bourdieus vorrangiges Interesse an Panofskys kunsthistorischer Methodik, der er ja auch den Habitus-Begriff verdankt.) Wie stark sich Bourdieu in seinen frühen Überlegungen zur Kunstsoziologie auf die kunsthistorische Methodendiskussion Panofskys einlässt, sie modifiziert und dann in eine sozialwissenschaftliche Geschmackstheorie überführt, mag folgendes Beispiel demonstrieren, das in den beiden Panofsky-Texten Bourdieus jeweils variiert wird: »Erst auf der Grundlage einer vorgängigen ikonologischen Deutung gewinnen die formale Anordnung und die techni102
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schen Verfahren ihren Sinn und vermittels ihrer die formalen und expressiven Eigenschaften. Damit werden zugleich die Mängel einer prä-ikonographischen und einer prä-ikonologischen Interpretation offenbar.« [Habitus 129; eig. Hervorh.]25 Bei dem (von mir) kursiv gesetzten Satzteil handelt es sich um eine nicht ganz wörtliche Zitation eines Panofsky Satzes, den Bourdieu abweichend von Panofskys Überlegungen ebenfalls auf die »expressiven Eigenschaften« eines Bildes überträgt, womit er eine Erweiterung vornimmt, die in Panofskys Formulierung noch nicht enthalten war. In dem von Bourdieu gekürzt angeführten Panofsky-Satz heißt es nur, dass die »ikonologischen Deutungen« eines Werkes »selbst der formalen Komposition und den technischen Verfahren Sinn verleihen« [Elemente 166].26 Zwischen Zitat und Original tritt also die semantische Differenz zwischen Sinn verleihen und einen (»ihren«) Sinn gewinnen auf. Es wäre nach Panofsky daher kein bildimmanenter Sinn der durch die »ikonologische Deutung« eines Bildwerks entdeckt wird, sondern eine durch die akkurate kunsthistorische Interpretation hinzugewonnene Sinnfälligkeit, mit der die ikonologische Perspektive die Resultate der ikonographischen bereichert. Der von Bourdieu angefügte Nachsatz, dass die ikonologische Deutung auch den Sinn der wahrgenommenen »expressiven Eigenschaften« aufdeckt, erweitert den Geltungsbereich der ursprünglichen Überlegung gravierend – insofern nun verbindlich definiert wäre, unter welchen Prämissen die expressiven Eigenschaften eines (photographischen) Bildes überhaupt akzeptabel sind. 25 Oder: »Nur von einer ikonologischen Interpretation aus gewinnen die formalen Arrangements und technischen Verfahren ihren Sinn und durch sie wiederum die formalen und expressiven Eigenschaften, womit sich zugleich die Mängel einer prae-ikonographischen oder prae-ikonologischen Interpretation enthüllen.« [Elemente 166] Diese Bemerkung dokumentiert, wie sich aus einer bestimmten Modifikation von Panofskys Überlegungen die systematische Vorrangstellung habitualisierter, überpersönlicher und epochaler Bedeutungsschichten für den Umgang mit kulturellen Artefakten herleiten lässt. 26 Variiert wird das jeweils gekürzte Panofsky-Zitat auch in: Habitus 128. Im Original lautet der Panofsky-Satz: »Wenn wir die Grundprinzipien erfassen möchten, die sowohl der Wahl und der Darstellung von Motiven wie auch der Herstellung und Interpretation von Bildern, Anekdoten und Allegorien zugrunde liegen und die sogar den angewandten formalen Anordnungen und technischen Verfahren Bedeutung verleihen, können wir nicht darauf hoffen, einen einzelnen Text zu finden, der mit jenen Grundprinzipien so übereinstimmt, wie Johannes 13, 21 ff. mit der Ikonographie des letzten Abendmahls übereinstimmt.« [Panofsky Ikon 47 f.] 103
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Der Erklärungsanspruch für die implizite Vielschichtigkeit des »ungewollt Verratenen« eines Bildes wird unter dem Primat einer »vorgängigen ikonologischen Deutung« somit offensichtlich monopolisiert. Da die Ikonologie in ihrer Ausrichtung auf die Ursächlichkeit eines Bildes prinzipiell mit der Ikonographie übereinstimmt, rückt an die Stelle der künstlerischen Intention nun die kulturgeschichtlich epochale, die bei Bourdieu zugleich eine soziologische Bestimmung des Bildes ist. Neben diesen beiden sinnstiftenden Determinanten bleibt, zumindest theoretisch, kein »ungewollt Verratenes« mehr übrig, das als Nicht-Intendiertes, etwa über die materialen Eigenschaften eines Bildes, in den Wahrnehmungvollzug eingeht. Bedenklich ist an dieser Panofsky-Adaption jedoch, dass Bourdieu trotzdem die Überlegungen des Kunsthistorikers zur wissenschaftlichen Präzision in seine Kultursoziologie übernehmen zu können glaubt: »Die wissenschaftliche Erkenntnis unterscheidet sich vom naiven Erlebnis (das sich als Verwirrung oder unmittelbares Verstehen äußert) insoweit, als sie ein Wissen um die Bedingungen der Möglichkeit einer angemessenen Betrachtung einschließt.« [Elemente 164] Für »angemessen« hält Bourdieu damit aber eine Betrachtung künstlerischer Artefakte nur dann, wenn diese Betrachtung im Sinne der kunsthistorischen Perspektive verwissenschaftlicht werden kann – und das heißt letztlich, dass sie so wie Panofskys Überschreitung der ikonographischen Stilkenntnis auf der Basis einer ikonologischen Einbeziehung der Entstehungsepoche eines Werkes operiert. Zwar hat sich auch Panofsky zur nunmehr prinzipiell unangemessen erscheinenden »Region des Phänomensinns« ähnlich restriktiv verhalten, wie es Bourdieus Auslegung teilweise unterstellt (allerdings mit Ausnahme des sowieso schon methodisch randständigen Ausdruckssinns). Panofskys Einwände gegen die Angemessenheit vor-ikonographischer Interpretationen stehen jedoch im Kontext seiner um kunsthistorische Präzision bemühten wissenschaftlichen Zielsetzung, die, wie bereits erwähnt, auch gegenüber der Kunstrezeption nicht verallgemeinerbar ist. Im Zuge dieser wissenschaftlichen Interpretation müssen Bilddeutungen (auf allen drei Stufen) auf ihre Angemessenheit überprüft werden. Hierauf verweist Panofskys Formulierung der »zutreffenden Beschreibung«: »Es ist tatsächlich so: um ein Kunstwerk, und sei es auch rein phänomenal, zutreffend beschreiben zu können, müssen wir es – wenn auch ganz unbewusst und in dem Bruchteil einer Sekunde – bereits stilkritisch eingeordnet haben, da wir ja sonst auf keine Weise wissen können, ob wir [...] den Maßstab [...] oder den Maßstab anzulegen haben.« [Panofsky Problem 1068]
Auf der Suche nach dem adäquaten Maßstab der kunsthistorischen Interpretation ist auch die phänomenale Wahrnehmung künstlerischer Bilder überprü104
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fungsbedürftig. »Zutreffende Beschreibung« bedeutet im Kontext der kunsthistorisch motivierten Interpretation, dass etwa die Gehalte von Tatsachen- und Ausdruckssinn dort korrekturbedürftig werden, wo sie im Bereich der intendierten Bedeutung Aussagen veranlassen, die ikonographisch nicht zu bestätigen sind.27 »Zutreffende Beschreibung« heißt, die Intentionen von Bildproduzenten (z.B.: soll eine Figur »schweben« oder nicht) in der Interpretation nachzuvollziehen. Mit dieser Überlegung wird – anders als bei Bourdieu – somit aber kein generelles Verdikt gegen den Tatsachen- oder Ausdruckssinn artikuliert, sondern nur eine korrektive Maßnahme im Rahmen der spezifischen Interpretationsanforderungen des Kunsthistorikers vorgestellt. In deutlich zustimmender tatsächlich aber nur vermeintlicher Berufung auf Panofsky erklärt Bourdieu: »er hat weiter gezeigt, dass die Bedeutungen der untersten Schicht, die der Oberfläche des Kunstwerks entsprechen, solange fragmentarisch, solange halb – oder falsch – verstanden bleiben müssen, als die Bedeutungen der höheren, sie umfassenden und transfigurierenden Schicht außer Acht bleiben.« [Habitus 127] Das Verhältnis von piktoraler Oberfläche zu ikonographischen und ikonologischen Bedeutungsschichten wird dabei offenbar nur einseitig aufgefasst. So stehen die piktoralen Oberflächeneigenschaften unter dem korrektiven Einfluss sowohl der im Sinne kultureller Konventionen standardisierten und intendierten Zeichenebene des Bildes als auch unter dem diese wieder (wissenschaftlich) überschreitenden Korrektiv, welches auf den epochalen Einfluss seines Zustandekommens verweist.28 Bourdieu bemüht die korrektiven Kontrollinstanzen der kunsthistorischen Interpretation, um einen allgemeinen Begriff ästhetischer Wahrnehmung zu 27 Panofskys Beispiel ist das Phänomen des »Schwebens« von Figuren auf dem Bildhintergrund. Dieses »Schweben« (z.B. die Himmelfahrt Christis) kann nur dann »zutreffend« als ein solches »beschrieben« werden, wenn die Entstehungsepoche des malerischen Werkes entsprechende Darstellungsweisen gekannt und praktiziert hat. Waren diese Stilmittel noch nicht entwickelt (Panofsky nennt die »Geburt Christi« aus dem Evangeliar Ottos 3.), so »sollten« entsprechende Figuren keineswegs schweben, »wenngleich ein ganz unvorgebildeter Betrachter oder ein Kind es sicher so auffassen würde [...]« [Panofsky Problem 1068]. 28 Die aktuell (medienphilosophisch) diskutierte Differenz zwischen Sagen und Zeigen hat demgegenüber betont, inwiefern unter diesem monothematischen Fokus die konstitutiven Bereiche der Bildlichkeit übersehen werden müssen: »Bildliche Verkörperungen weisen kraft ihrer Materialität, kraft der ›Gabe‹ einer Sichtbarkeit über ihr Symbolisches hinaus.« »Anders gewendet: Gewiss mögen Bilder etwas ausdrücken, darstellen oder repräsentieren; aber entscheidend ist nicht ihr ›Sagen‹, sondern ihr ›Zeigen‹.« [Mersch Bild 32] 105
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sanktionieren, der aber z.B. in der Trivialität von Alltagssituationen keineswegs kunsthistorisch motiviert zu sein braucht. Teilweise kann sich die Forderung der Überprüfung zwar auf Panofskys Überlegungen berufen,29 allerdings stellt dieser sie, wie bereits erwähnt, im Zusammenhang seiner eigenen wissenschaftlichen Profession dar. In einem nicht mehr kunsthistorischen Kontext können sogenannte Fehler aber durchaus richtige, d.h. begründbare Wahrnehmungen sein, zumal ja auch die prinzipielle Korrigierbarkeit einzelner Rezeptionsperspektiven nicht bedeutet, dass das Unkorrigierte grundsätzlich falsch oder »mangelhaft« sei. Wenn etwa die Darstellung eines Schlagschattens als Frucht interpretiert wird, obwohl weder die Intention des Künstlers, noch die Stilgeschichte eine solche Auslegung bestätigen können, so handelt es sich für die kunsthistorische Interpretation um einen Fehler.30 Was dort als Fehler gilt, kann jedoch innerhalb einer ästhetischen Wahrnehmung expressiver Eigenschaften eines Bildes durchaus plausibel und korrekt sein. Denn tatsächlich kann ein Bildausschnitt, der nur als Schlagschatten berechtigt ist, durchaus den Eindruck einer Frucht vermitteln, entgegen der intendierten Bildlogik also »fruchtig« gemalt worden sein. Eine solche »Rekonstruktion« wäre zwar nicht für Panofskys kunsthistorische Aufgabenstellung, aber doch für die von dieser unterschiedene »Betrachtungsweise [...], die sich von den historischen Korrektiven grundsätzlich unabhängig erklärt« [Panofsky Problem 1076], durchaus »angemessen«. Geht es doch auch nach Panofsky darum, »dass das von ihr entworfene Bild der jeweils betrachteten Einzelerscheinung ein in sich einheitliches und sinnvolles sei [...]« [ebd.].31 29 »Hier wie dort stellt sich heraus, dass die Möglichkeit der Zusammenbeziehung selbst der geläufigsten Erfahrungsvorstellungen mit einer Bildgegebenheit – und damit die Möglichkeit einer zutreffenden Beschreibung – abhängig ist von einem Vertrautsein mit den allgemeinen Darstellungsprinzipien, von denen die Gestaltung des Bildes bestimmt wird, d.h. von einer Stilerkenntnis [...]« [Panofsky Problem 1067]. Der »Akt des Zusammenbeziehens« thematisiert im Text das Problem, das phänomenal Beschreibbare in stilistisch ungewohnten Bilden mit ihrem durch den Bildtitel vorgegebenen, repräsentativ intendierten Gehalt in Übereinstimmung zu bringen. Panofskys Beispiel ist Franz Marcs »Mandrill«. 30 Auf der Ebene des Tatsachensinns ausgedrückt: »Eine Bildbeschreibung oder Inhaltsdeutung ist in dem Augenblick ›falsch‹, in dem sie etwa einen Schlagschatten für eine Frucht, oder einen Elch für einen Hirschen ansieht [...]« [Panofsky Problem 1072]. 31 Ähnlich hat daher auch Martin Seel den Begriff der »ästhetischen Angemessenheit« definiert. Anders als für den kunsthistorischen Angemessenheitsbegriff gilt für den kunstkritischen: »Ästhetisch angemessen und in der ästhetischen Wertung ausschlaggebend ist die Reaktion, deren Erklärung über den ästhetischen 106
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Die These der Unangemessenheit des Ausdruckssinns ist tragende Voraussetzung in Bourdieus kultursoziologischer Konzeption des Ästhetischen. Mit der Demontage des Ausdruckssinns wird offensichtlich auch die theoretische Möglichkeit kunstkritischer (oder auf andere Weise nicht kunsthistorisch spezialisierter) Bildinterpretationen sanktioniert. Indem Bourdieu die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung zur allgemein wissenschaftlichen erhebt und letztlich zu der einer kunsthistorisch begründeten Kultursoziologie umformt, generalisiert er stillschweigend die partiellen Interessen des kunsthistorischen Interpretationsbegriffs. Bourdieu geht davon aus, dass sich alle Bedeutungsschichten des künstlerischen Bildes nur interpretativ freilegen lassen und damit einem hermeneutischen Anspruch folgen, dessen Verweigerung gewissermaßen zur Verfehlung führt: »Da sich am Kunstwerk verschiedene Bedeutungsschichten freilegen lassen, je nachdem wie der Schnitt verläuft, den die Interpretation anlegt, wird ersichtlich, dass ein zu kurzer methodischer Schlüssel zu einer verkürzten Deutung führt.« [Habitus 130] Auch Panofsky betonte, dass bereits die Ausdrucksphänomene der primären Sinnschicht legitimer Bestandteil kunsthistorischer Interpretationen sind und in deren Durchführung nicht solitär auftreten – was schon durch die postulierte »organische« Synthese der »Forschungsoperationen« bedingt ist. Allerdings findet sich bei Panofsky kein Hinweis darauf, dass dieses Verhältnis symmetrisch verstanden werden muss und die einzelnen »Forschungsoperationen« nur im Kontext der kunsthistorischen Auslegung berechtigt wären.32 Panofsky bereichert vielmehr den kunsthistorischen Interpretationsbegriff um seine selbstverständliche Basis von Tatsachen- und Ausdruckssinn, besteht aber nicht umgekehrt darauf, dass auf jede Wahrnehmung expressiver Phänomene an Kunstwerken (von anderen Gegenständen, etwa trivialen Bildern wie Photographien, ganz zu schweigen) eine vollständige und methodisch gesicherte Interpretation erfolgen müsste. Diese Asymmetrie ist sachlich deshalb plausibel, weil ja nicht jede Betrachtung von Kunstwerken kunsthistorisch motiviert ist. Ganz anders, nämlich symmetrisch, interpretiert Bourdieu dieses Verhältnis, wodurch die solitären Bedeutungsschichten gänzlich vom (unausgewiesenen) fachwissenschaftlichen Interpretationsanspruch okkupiert werden. Indem er Panofskys kunsthistorische Differenzierung so auslegt, als handele diese generell von der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung, nicht aber von den divergierenden Modi der kunsthistorischen Interpretation tradierter Werke, Gegenstand Aufschluss gibt.« [Ders.: Die Kunst der Entzweiung; F.a.M. 1997, S. 251; zitiert als: ders. Entzweiung] 32 Die Wahrnehmung des Ausdruckssinns folgt bei Panofsky ja keinem hermeneutischen Anspruch, sondern besagt, dass die »identifizierten Gegenstände und Ereignisse eine bestimmte Reaktion in mir hervorrufen [...]« [Panofsky Ikon 36]. 107
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
werden deren Charakteristika verbindlich in den allgemeinen Begriff ästhetischer Erfahrung hinein verlegt. Ästhetische Erfahrung ist nun gleichbedeutend mit einer nach Maßgabe der ikonographischen Interpretation reduzierten Stilkenntnis, auch wenn diese nicht mehr nur auf Kunstwerke bezogen zu sein braucht. Die Konsequenzen dieser Vorgehensweise sind allerdings nicht nur rein wissenschaftstheoretischer Art, sondern prägen unter deren Maßgabe zwangsläufig dann auch den Status der beschriebenen empirischen Phänomene und damit Bourdieus Deskription der sozialen Welt. So wird die Region des Ausdruckssinns in der späteren Theorie der Feinen Unterschiede nur noch als Symptom einer interpretativen Unfähigkeit gehandelt werden können: »Unfähig, da nie gelernt, sich die geforderte Einstellung zu eigen zu machen, hält er sich an die – von Panofsky so bezeichneten – ›sichtbaren Formen‹, nimmt eine Haut als ›samtweich‹, ein Gewebe als ›luftig‹, wahr, oder auch an die dadurch hervorgebrachten emotionalen Reaktionen und spricht so von ernsten oder fröhlichen Farben und Tönen.« [Unterschiede 19]
»Er« ist in diesem Zitat derjenige, dem der »entsprechende Code«, nämlich die ikonographische Stilkenntnis fehlt. Die Hinwendung an die »sichtbaren Formen« ästhetischer Objekte erscheint damit als Not- oder Verlegenheitslösung der Ungebildeten – eine Haltung, die jedoch nur unter der Voraussetzung einer allgemeinen Geltung des kodierten Kunst-Verständnisses als Unfähigkeit beschrieben werden kann. Bourdieu bemerkt oder problematisiert zumindest nicht, dass er sich in der Übertragung der speziellen kunsthistorischen Perspektive auf das allgemeine Phänomen ästhetischer Wahrnehmung selbst die kulturell zweifellos sehr wirkmächtige, »geforderte Einstellung« zu eigen macht.33 »Von der ersten Schicht, der ›primärer oder natürlicher Bedeutungen‹, zu deren Verständnis wohl eine bestimmte Sensibilität gehört, die jedoch ›immer noch ein Bestandteil meiner praktischen Erfahrung‹ ist, zur zweiten, jener der ›sekundär(en)
33 Die frühe Phototheorie Roland Barthes’ hat die beschriebene Unfähigkeit ganz im Sinne von Panofskys Tatsachensinn aufgefasst, sie aber (eigentlich im Sinne Bourdieus) als praktische Unmöglichkeit und theoretische Konstruktion bezeichnet: »der Buchstabe des Bildes entspricht im Grunde dem ersten Grad des Intelligiblen (unterhalb dieses Grads würde der Leser nur Linien, Formen und Farben wahrnehmen), aber dieses Intelligible bleibt aufgrund seiner Dürftigkeit virtuell, da jede beliebige, aus einer realen Gesellschaft stammende Person immer über ein höheres Wissen als das anthropologische Wissen verfügt und mehr wahrnimmt als den Buchstaben [...]« [Barthes Rhetorik 37]. 108
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
oder konventional(en) Bedeutung‹, fortzuschreiten vermag nur, wer über die Begriffe verfügt, die über die sinnlichen Formen hinaus die eigentlichen stilistischen Merkmale des Werkes erfassen. Die Konfrontation mit einem Kunstwerk hat mithin nichts von jenem Spontanerlebnis an sich, das man gemeinhin so gern in ihr sehen möchte; wie auch jener Akt der affektiven Verschmelzung, die ›Einfühlung‹, einen Erkenntnisakt voraussetzt und die Anwendung eines kognitiven Vermögens, eines kulturellen Codes impliziert.« [Unterschiede 19 f.]
Bourdieu zitiert hier offenbar zwei Merkmale der primären Sinnschicht Panofskys, tut dies allerdings so, dass sie sich gegenseitig zu widersprechen scheinen. Mit der Bemerkung, dass diese Sensibilität »jedoch immer noch ein Bestandteil meiner praktischen Erfahrung ist«, scheint er zwar Panofsky zu zitieren,34 tatsächlich verschärft er jedoch dessen Überlegungen. Während bei Panofsky die Voraussetzung zur Sensibilität für den Ausdruckssinn in der »praktischen Erfahrung« liegt und damit auf sinnliche Erfahrungen verweist, die Wahrnehmende auf der Basis des Gebrauchs ihrer Sinnesorgane erlangen, betont Bourdieu, dass auch Panofskys Phänomen der »Einfühlung« die »Anwendung eines kulturellen Codes impliziert«. Damit werden nicht etwa die Grenzen der empirischen Plausibilität des Ausdruckssinns verhandelt oder verschoben. Es geht auch nicht darum, ob für die sogenannte Ausdruckswahrnehmung nicht doch noch andere Bedingungen und andere Wissensformen konstitutiv sein könnten als die von Panofsky (und zustimmend von Barthes) genannten. Denn solche systematischen Fragen lassen sich ja nur verhandeln, wenn die zugrunde gelegte begriffliche Differenzierung anerkannt wurde. Genau diese Differenzierung wird hier von Bourdieu aber grundsätzlich abgewiesen. Es gibt keinen begrifflichen Entwurf einer Wahrnehmungsebene, die ohne kulturelle Codes auskäme. Zur Frage, inwiefern die »Einfühlung einen Erkenntnisakt voraussetzt«, äußert sich Panofsky zwar vorsichtig differenzierend, der Sache nach aber
34 Anders als im Zitat ausgegeben, referiert Bourdieu gerade nicht die Merkmale von Panofskys »erster Schicht« der Bildinterpretation, sondern vielmehr das Unterscheidungskriterium zwischen Tatsachen- und Ausdruckssinn: »Sie unterscheidet sich dadurch von der Tatsachenbedeutung, dass sie nicht durch einfache Identifikation, sondern durch ›Einfühlung‹ erfasst wird. Um sie zu verstehen, benötige ich eine gewisse Sensibilität, doch diese Sensibilität ist immer noch Bestandteil meiner praktischen Erfahrung, nämlich meines alltäglichen Vertrautseins mit Gegenständen und Ereignissen.« [Panofsky Ikon 36 f.] Implizit dramatisiert Bourdieu hier also den Konflikt, der für die Rezeptionstheorie zwischen erster und zweiter »Sinnschicht« besteht, indem er die erste auf den Ausdruckssinn reduziert. 109
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
eindeutig und bestimmt.35 Denn dass die »Einfühlung« einen Erkenntnisakt voraussetzt, bedeutet in Panofskys scharf umgrenzten »Gebiet« nur, dass der »Erkenntnisbesitz des interpretierenden Subjekts« im Falle von Tatsachenund Ausdruckssinn gerade keinen kulturellen Code beinhaltet, weil er hier aus »unsere[r] vitale[n] Daseinserfahrung« besteht. Diese »vitale Daseinserfahrung« hat Bourdieu nun offenbar soziologisch interpretiert und ihr die unbewusste Orientierung an kulturellen Codes impliziert. Damit zielt seine Panofsky-Adaption – hierin theoretisch durchaus legitim verfahrend – auf die Neudefinition des Begriffs vom »bildungsmäßig Hinzugewußten« ab, insofern nun dessen Literarizität infrage gestellt wird.36 Sein Inhalt, kulturell vermittelte und konventionalisierte Verstehenszugänge zu kulturellen Artefakten, wird nun in der alltäglichen Erfahrungsregion behauptet, womit auch der Tatsachensinn auf »bildungsmäßig Hinzugewußtes« rekurriert. Durch die Rigorosität der Übertragung gilt Panofskys »praktische Erfahrung« bei Bourdieu somit ausschließlich als kulturell bestimmt. Andererseits widerspricht Bourdieu selbst dieser rekonstruierenden Darstellung seiner Position, wenn er auf die »Unfähigkeit« jener Rezipienten verweist, die nur sichtbare Formen und emotionale Reaktionen artikulieren, denn diese empirischen Phänomene plädieren ja unabweisbar dafür, dass es neben den interpretativen Zugängen zur kulturellen Welt weitere gibt (die z.B. in der Photosoziologie noch in der theoretischen Koexistenz zwischen rezeptiver Mehrheits- und Minderheitenpraxis Berücksichtigung fanden). Damit entpuppt sich Bourdieus Kritik an Panofskys »erster Sinnschicht«, die eine Kritik des auf ihrer Grundlage formulierbaren Begriffs eines ästhetisch unmittelbaren und soziologisch unvermittelten »Spontanerlebnisses« ist, trotz ihrer berechtigten Korrektur von Panofskys »bildungsmäßig Hinzugewußtem« und trotz der ebenso berechtigten empirischen Plausibilität, die der korrigierte Begriff nun beispielsweise im Kontext der musealen Kunstrezeption aufweist, doch nur als rein theoretische Konstruktion. Auf ihrer Grundlage entwertet Bourdieu die potentielle Subjektivität jener Projektionen, mit denen 35 »Ich wage es nicht, zu dem Problem der philosophischen Interpretation Stellung zu nehmen. Für unser Gebiet aber gilt das Folgende: Die Quelle der Interpretation (zu der, um es noch einmal zu sagen, auch die bloße Beschreibung gehört) ist allemal das Erkenntnisvermögen und der Erkenntnisbesitz des interpretierenden Subjekts, nämlich unsere vitale Daseinserfahrung, wenn nur der Phänomensinn aufgedeckt werden soll, und unser literarisches Wissen, wenn es sich um den Bedeutungssinn handelt.« [Panofsky Problem 1073] 36 Immerhin hatte ja auch Panofsky seinen Begriff vom »bildungsmäßig Hinzugewußten« nicht nur durch »literarische Quellen«, sondern auch durch »mündliche Tradition« vermittelt gesehen, allerdings ohne dass dabei die für den Tatsachensinn relevante Erfahrungsregion als ein Bildungsinhalt ausgelegt worden wäre. 110
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
die ästhetische Sensibilität des Ausdruckssinns auf ihre Gegenstände eingeht und verpflichtet diese auf eine Herkunft aus tradierten Handlungsmustern und Präferenzen der sozialen Praxis. Ästhetische Sensibilität, die von Person zu Person divergiert und auf individuell (nicht soziologisch) verschiedenen Erfahrungserwerb im Kontext anthropologisch allgemeiner Kompetenzen zurückzuführen wäre, kann Bourdieu daher nicht nur ausschließen, sondern auch den Gedanken, dass sie als ein theoretisch eigenständiges und von kulturellen Codes unabhängiges Wahrnehmungsphänomen analysiert werden müsste, für einen typischen Beitrag zur Verleugnung der gesellschaftlichen Bedingtheit geschmacklicher Präferenzen ausgeben. In diesem Sinne muss auch eine mögliche theoretische Konzeptionalisierung ästhetischer »Spontanerlebnisse«, wie sie Bourdieu in Kants Ästhetik erblickt, als illusorisches und ideologisches Vorhaben aufgefasst werden. Die drei von Panofsky differenzierten und »zu einem einzigen organischen und unteilbaren Prozess [zu] verschmelzen[den] Forschungsoperationen« [Panofsky Ikon 49] werden bei Bourdieu zum »hierarchischen System« [Habitus 130 u. Elemente 167], das auch dann, wenn es außerhalb des Aufgabenbereichs kunstgeschichtlicher Interpretationsbemühungen, etwa in der Kunst- oder Kultursoziologie, auf ästhetische Wahrnehmungen bezogen wird, über deren Qualifikation entscheidet. Fortan muss sich jedes empirische Phänomen, das ästhetische Relevanz beansprucht, vor diesem Interpretationsbegriff ausweisen können, und dieser Anspruch trifft nicht von ungefähr gerade jene bildrezeptiven Handlungen, die sich in der »Region des Phänomensinns« verorten lassen und als mögliche Exponenten einer »romantischen Vorstellung von ästhetischer Wahrnehmung« gelten könnten: »Eine Wahrnehmung, die ohne dieses Rüstzeug auf das Erfassen der primären Eigenschaften reduziert bleibt, ist grob und verkürzt. Entgegen dem ›Dogma der unbefleckten Erkenntnis‹, wie man mit Nietzsches Worten die Grundlage der romantischen Vorstellung von ästhetischer Wahrnehmung bezeichnen könnte, bildet das Verständnis der ›expressiven‹ und, wenn man so sagen darf, ›physiognomischen Eigenschaften‹ des Werkes nur eine niedere und verstümmelte Form ästhetischer Erfahrung, da sie sich mangels Unterstützung, Kontrolle und Korrektiven in Form von Kenntnissen auf dem Gebiet des Stils, der Typen und kulturellen Zeugnisse eines Schlüssels bedient, der weder schlüssig noch spezifisch ist.« [Elemente 167; eig. Hervorh.; vgl.: Habitus 129]
Erklärt Bourdieu damit aber, wie Kunstwerke betrachtet werden, oder nur, wie Kunstwerke betrachtet werden sollten? Diese Aussage lässt sich ja nur dann als deskriptive verstehen, wenn sie eine kulturelle Praxis beschreibt, die den postulierten Wandel des Ästhetischen zur kunsthistorischen Stilidentifikation vollständig vollzogen hat. Umgekehrt wäre sie dann normativ zu ver-
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KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
stehen, wenn sie selbst eine verkürzende Konzeption ästhetischer Bezugnahmen postuliert, die alle weiteren Differenzierungen des ästhetischen Wahrnehmungsbegriffs für theoretisch nichtig erklärt. Bourdieus Kritik am Tatsachen- und Ausdruckssinn ist nicht nur durch die theoretischen Ambitionen bestimmt, nach denen er Panofskys Methodik modifiziert und zur Grundlage einer allgemeinen Kultursoziologie umformt, sondern sie stellt ebenfalls eine Fortsetzung der im Photobuch artikulierten Kritik an einer unmittelbaren ästhetischen Erfahrung im Sinne Kants dar. Dieser Position des »subjektiven Intuitionismus« verleiht Panofskys primäre Sinnschicht offensichtlich ein neues theoretisches Fundament. Den »Sinn in der Unmittelbarkeit des Erlebten zu finden«, bedeutet nun, ein Bild unter Einbezug der persönlich verfügbaren »unmittelbaren Daseinserfahrung« zu vermitteln.37 Denn die Position der sinnlichen Unmittelbarkeit verliert damit ihren von Bourdieu kritisierten Anschein einer soziologischen oder empirischen Geschichtslosigkeit, weil sie unter Panofskys »vitaler Daseinserfahrung« selbst ebenfalls empirisch konzipiert ist, dabei jedoch rein soziologische und kulturgeschichtliche Erfahrungen umgeht. Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, dass dieser Ansatz einer Erklärung der ästhetischen Rezeption nicht so fiktiv ist, wie Bourdieus Kritik an der Kantschen Ästhetik in der Photosoziologie noch nahegelegt hatte. Vielmehr erweist sich Bourdieus Position, obwohl in hohem Maße empirisch plausibel, letztlich doch dort als unzutreffend und defizitär, wo sie mit einem allumfassenden Erklärungs- und Geltungsanspruch auftritt, der die ästhetisch relevanten Phänomene nicht erklärt sondern bloß nivelliert.
3.4 Der Begriff des ästhetischen Urteils am photographischen Beispiel Bourdieus Von den wenigen photographischen Abbildungen in Bourdieus Photobuch (insgesamt vierzehn) wurde nur eine in die Auswahl photographischer Bildbeispiele und Illustrationen der Feinen Unterschiede übernommen. Für die Demonstration dessen, was Bourdieu (ab seiner Panofsky-Rezeption) das Ästhetische am photographischen Bild nennt, eignet sich dieses wiederholte Bildbeispiel in besonderer Weise, weil es ebenfalls auch das betont, was vom reduktiven Ästhetik-Begriff ausgeschlossen wird. Es handelt sich genauer um eine Photographie, auf der die Hände einer älteren Frau abgebildet sind, sowie
37 So ist wohl auch Panofskys Feststellung zu verstehen, in der ersten Sinnschicht würde immer nur das sinnlich, nicht das intellektuell Vermittelte berücksichtigt werden [vgl.: Panofsky Ikon 37]. 112
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
um die Ergebnisse einer soziologischen Umfrage, die zu diesem Bild durchgeführt wurde.38 Abbildung 3: Dokument einer soziologischen Befragung
» ›Als Gemälde müsste das ungeheuer schön sein.‹ (unterer Angestellter aus der Provinz). ›Das sind Hände wie in den frühen Bildern van Goghs, eine alte Bäuerin oder die Kartoffelesser.‹ (mittlerer Angestellter, Paris). ›Das lässt mich an ein Gemälde denken, das ich in einer Ausstellung spanischer Maler gesehen habe, ein Mönch mit überkreuzten Händen, deren Daumen verkrüppelt waren.‹ (Techniker, Paris). ›Diese beiden Hände gemahnen unbestreitbar an ein unglückliches Altsein in Armut.‹ (Gymnasiallehrer, Provinz). ›Ich finde, dass das ein sehr schönes Photo ist. Es ist ganz Symbol der Arbeit. Es bringt mich auf die alte Bedienstete von Flaubert.‹ (Ingenieur, Paris).« [Unterschiede 86 f.] Die dokumentierten sprachlichen Reaktionen weisen auf ein Spektrum des photographischen Urteilsverhaltens, das bei Bourdieu dann hinsichtlich seiner soziologischen Differenzen kommentiert wird. Der Kommentar orientiert sich dabei deutlich an den Ergebnissen der zurückliegenden Panofsky-Adaption. Entscheidend für die soziologischen Überlegungen der Feinen Unterschiede 38 Mit dem angeführten Umfragematerial lässt sich leider nicht das insgesamt mögliche Spektrum sprachlicher und nonverbaler Reaktionen auf Photos umreißen. Der intersubjektive Aspekt (Einzel- oder Gruppenbefragung) sowie der modifizierende Einfluss der Befragungssituation bleiben weitgehend unberücksichtigt. Weitere Reaktionen (aus dem bäuerlichen Milieu) finden sich bereits in: Definition 104, 105, 308. 113
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
ist der in unterschiedlichem Maße einbezogene kunsthistorische Kenntnisstand der Befragten bzw. ein Kenntnisbezug, der sich diesem verpflichtet fühlt, während ausgerechnet das vom Inhalt unabsichtlich distanzierende und die visuelle Eigenart der photographischen Aufnahme irritiert reflektierende Urteilsverhalten als nicht mehr ästhetisch zu nennendes gewertet wird: »Angesichts eines Photos, auf dem die Hände einer alten Frau zu sehen sind, zeigen die Ungeschultesten entweder mehr oder weniger konventionelle Gefühlsregungen oder bekunden ethisch motivierte Teilnahme, nie jedoch ein an sich ästhetisches Urteil (es sei denn negativ): ›Na, sagen Sie mal, die hat aber komisch verkrüppelte Hände ... Da ist was, dass ich mir nicht erklären kann (die linke Hand): Man könnte fast meinen, der Daumen löst sich von der Hand. Das Photo ist komisch aufgenommen. [...] Ja, aber diese Frau da ist doch verstümmelt – oder hat sie die Hände so gebogen (zeigt die Haltung)? Ah ja, sehr sonderbar, das muss es sein, ihre Hand ist so gebogen [...]‹ (Arbeiter aus Paris) [...]« [Unterschiede 86; eig. Hervorh.].
Ausgehend von der zitierten Reaktion des Arbeiters, fährt Bourdieu in der Zusammenfassung des empirischen Materials fort, indem er konstatiert, dass in den Reaktionen der »Angehörigen der Mittelklasse« erstmals »nun auch ästhetische Eigenschaften in den Blick« geraten und zwar dadurch, dass »Bezüge zur Malerei hergestellt« [Unterschiede 86] werden. Unter solchen Bezügen versteht Bourdieu aber keineswegs eine Reflexion jener Eigenart des vorgelegten Photos, die der ungeschulte Arbeiter noch unbedarft ausgedrückt hatte und die nun unter Zuhilfenahme der Kenntnis malerischer Kompositionsprinzipien gleichsam »geschult« erfolgen würde. Denn der mit dem steigenden sozialen Status der Befragten konstatierte, zunehmende Abstraktionsgrad ihrer Antworten39 betrifft vorrangig die Nennung weiterer Künstler- oder Schriftstellernamen oder die Begründung einer vermuteten inhaltlichen Geltung der vorgelegten Photographie. Auffällig an dem wiedergegebenen Umfragematerial ist, dass die einzige Reaktion, die auf visuelle Eigenart und piktorale Singularität der vorgelegten Photographie eingeht, die einzige Reaktion, die auf eine sowohl anziehende als auch verwirrende Attraktion reagiert und nicht nur auf die Ebene der Abbildlichkeit rekurriert, ausgerechnet vom ungeschulten Arbeiter formuliert wird, während die Vertreter in der sozialen Hierarchie höher stehender Klassen, ganz im Sinne Bourdieus, durch Hinweis auf distinguierende Kenntnisse
39 »Mit höherem Rang auf der sozialen Stufenleiter werden die Antworten fortschreitend abstrakter.« [Unterschiede 87] 114
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
reagieren, die durch Bildung oder Sozialisation ihrem kulturellen Kapital zuzuschlagen sind.40 So fühlen sich die Befragten in der soziologisch evozierten Urteilssituation offenbar aufgefordert, ganz im Einklang mit Panofskys sekundärer Sinnschicht zu reagieren, d.h. sie möchten demonstrieren, ob sie »über die Begriffe verfügen« und damit in der Lage sind, »über die sinnlichen Formen hinaus die eigentlichen stilistischen Merkmale [zu] erfassen« [Unterschiede 20]. Hier bestätigt sich also der Eindruck, dass Bourdieus Thesen vor allem dort, wo die »geforderte Einstellung« akzeptiert oder (durch den offiziellen Charakter der Befragungssituation) evoziert wird, deskriptive Qualitäten annehmen. Aber was sagen sie über jene Situationen aus, in denen die »geforderte Einstellung«, aus welchen Gründen auch immer, verfehlt wird? Welche analytischen Konsequenzen ergeben sich hieraus für den Begriff einer allgemeinen (nicht kunstspezifischen) ästhetischen Wahrnehmung am Gegenstand der Photographie? In der Ausnahmereaktion des Arbeiters tritt ein theoretisches Problem zutage, für das Bourdieus kunsthistorisch fundierte Kultursoziologie genau deshalb keine Erklärung anbieten kann, weil sie sich mit dem Ausschluss der »Region des Phänomensinns« auch der Analyse entsprechender Rezeptionsmodi beraubt hat. Die qualitative Differenz, die die Äußerung des Arbeiters gegenüber den anderen dokumentierten Reaktionen darstellt, kann Bourdieu nur terminologisch (durch die Verwendungsweise des Prädikats »ästhetisch«), nicht aber theoretisch berücksichtigen. Bereits der photosoziologische Zugang hatte sich eines Erklärungsanspruchs solcher Ausnahmereaktionen entledigt. Im Rückbezug auf die Photosoziologie kündigt das Beispiel nun an, dass die sozialen Bedingungen der Möglichkeit für das Zustandekommen ästhetischer Urteile und die Ausbildung entsprechender Dispositionen nicht so verbindlich sind, wie Bourdieu in seiner Arbeit unterstellt. So wurde der sozialen Schicht des Arbeiters ein Vorrang von Funktionsbezügen in der Wahrnehmung von Photographien diagnostiziert, der den Betrachter dazu verleite, auf die »Normen der Moral und des 40 Auch die Vertreter anderer Klassen könnten jenseits des offiziellen Charakters soziologischer Befragungen ähnlich irritiert reagieren. Dass sie ihre Irritation nicht äußern, hängt damit zusammen, dass sie die angemessene Reaktion im Kontext von Kenntnisbezügen lokalisieren: »Dem freimütigen Bekennen von Unverständnis, mit dem Arbeiter angesichts moderner Malerei die Tatsache des Ausgeschlossenseins aus dieser Sphäre offen dokumentieren [...] steht das gewitzte Schweigen des Bourgeois gegenüber, der zwar nicht minder verwirrt ist, aber wenigstens weiß, dass die naive Erwartung einer verbalen Stellungnahme, die sich im Bemühen um ›Verständnis‹ offenbart, abzulehnen – oder doch für sich zu behalten – ist [...]« [Unterschiede 84]. 115
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Gefälligen«41 einzugehen, während das formfixierte ästhetische Urteil anderen sozialen Klassen (und deren Distinktionsinteressen) vorbehalten bleibt. Entgegen der Prämissen jener ihm zugestandenen Ästhetik betreibt der Arbeiter, indem er auf die visuellen und piktoralen Eigenheiten der vorgelegten Photographie eingeht, aber durchaus die Verselbständigung »des Bild[es] des Objekts gegenüber dem Objekt des Bildes« (den Händen der alten Frau).42 Die Reaktion des Arbeiters steht in mehrfacher Hinsicht quer zu Bourdieus späterer Kultursoziologie bzw. zum Wandel in seiner Konzeption des Ästhetischen. Zwar entspricht die Verwendungsweise des Prädikats »ästhetisch« in den Feinen Unterschieden deutlich jenem Kenntnisbezug, der seit der Panofsky-Rezeption für ästhetische Wahrnehmungen, Reaktionen, Erfahrungen und Urteile obligatorisch ist. Das Fehlen einer »Stil- und Typengeschichte« sowie »der Geschichte der kulturellen Zeugnisse« in der dokumentierten Reaktion des Arbeiters lässt diese als eine rezeptive »Verkürzung« erscheinen, weshalb sie allenfalls einer »Vorschule der ästhetischen Erfahrung« zugeschrieben werden kann [Habitus 129]. Auch stellt sie als »Verständnis der expressiven Eigenschaften eines Werkes nur eine niedere und verstümmelte Form ästhetischer Erfahrung dar«, ein Eindruck, der durch die Wechselhaftigkeit, das monologisch Suchende und die Schlichtheit der verwendeten Worte scheinbar bestätigt wird. Gleichwohl provoziert die Reaktion des Arbeiters jedoch Fragen, weil sie als einzige auf die piktorale Singularität der vorgelegten Photographie eingeht und gerade die Berücksichtigung dieses Aspekts als ein Merkmal ästhetischer Urteilsbezüge in Bourdieus früherer Photosoziologie galt. Auch ein nicht kunsthistorisch fundierter Begriff »ästhetischer Angemessenheit« kann den hervorgehobenen Passagen der sprachlichen Ausführungen des Arbeiters zu41 »Während Kant bei seinem Unternehmen, die Besonderheit des ästhetischen Urteils in den Griff zu bekommen, akribisch zwischen dem, ›was gefällt‹ und dem, ›was vergnügt‹ unterscheidet, [...] beziehen sich die Angehörigen der unteren Schichten, die von jedem Bild erwarten, dass es eine Funktion erfülle [...] auf die Normen der Moral oder des Gefälligen.« [Unterschiede 82; zu Kant vgl.: Elemente 171 f. und Definition 103] 42 In Wiederholung seiner soziologischen Untersuchungen zur Photographie wird der Funktionsbezug von Bourdieu auch in den Feinen Unterschieden als primäres Merkmal jeder ›populären‹ Ästhetik ausgegeben: »Es versteht sich fast von selbst, dass diese Ästhetik, deren Wertungen auf informativem, emotionalem oder moralischem Interesse basieren, das Bild des Bedeutungslosen, oder was innerhalb dieser Logik auf dasselbe hinausläuft, die Bedeutungslosigkeit des Bildes stets nur ablehnen kann: Das Urteil verselbständigt nie das Bild des Objekts gegenüber dem Objekt des Bildes.« [Unterschiede 83; Variation von: Definition 101] 116
3. ÄSTHETIK ZWISCHEN BILD- UND REZEPTIONSTHEORIE
gestanden werden, zumal sie unter den dokumentierten Reaktionen die einzigen sind, »deren Erklärung über den ästhetischen Gegenstand Aufschluss gibt« (Seel). In der Reaktion des Arbeiters werden nicht nur die repräsentierenden Elemente der Photographie auf eine Weise zum Ausdruck gebracht, die laut Bourdieu den geschmacklichen Präferenzen seiner sozialen Klasse entspricht. Es wird ebenfalls eine irritierende Wirkung wiedergegeben, die von den präsentierenden Eigenschaften der Photographie ausgeht,43 und damit stellt sie ein Beispiel jenes ästhetischen Formbezugs dar, der in Bourdieus Photosoziologie als empirisch marginal bezeichnet wurde. Zumindest in den hervorgehobenen Sätzen der Reaktion des Arbeiters bedeutet das Photo somit genau das, was Bourdieu als die »romantische Auffassung ästhetischer Erfahrung« an Kunstwerken bezeichnet und für die kulturelle Empirie ausgeschlossen hatte, nämlich »nichts außer sich selbst«. Dadurch wird die dokumentierte Reaktion als Beleg für einen Rezeptionsmodus gemäß Panofskys »erster Sinnschicht«, der Region des Phänomensinns, diskutabel. Sie zielt präzise auf die Singularität des Bildes, nicht auf die Wiederholbarkeit seines photographischen Motivs, sondern auf die Materialität seiner Darbietung, denn der irritierende Kontrast, der die Grauwerte der Abbildung zur Hinterfragung der »benennbaren Objekte« des Bildes veranlasst, ist direkt von der Art der Bildwiedergabe betroffen. Die Hinwendung an die repräsentativen Eigenschaften eines photographischen Bildes, laut Bourdieu Kennzeichen der Mehrheitspraxis im Sinne einer »geforderten Einstellung«, ist gleichbedeutend mit der Anerkennung seiner Diskursivität, seines Zeichencharakters. Da Bilder als aisthetische Medien jedoch durch ein »zeigendes Sagen« gekennzeichnet sind,44 würde ihnen medientheoretisch genau die umgekehrte Präferenz entsprechen. Demnach vollzieht die mehrheitliche Lektüre photographischer Bilder in der Gegenwarts43 »Die Differenz ist konstitutiv sowohl für die Prozesse der Visualisierung durch das Medium als auch für dessen Reflexion als Medium. Die Bildlichkeit des Bildes impliziert folglich die Duplizität von etwas sehen und die Weise seiner Sichtbarmachung sehen.« [Mersch Bild 31] Der ungebildete Arbeiter reagiert in dieser Hinsicht medientheoretisch sensibel, ohne dass er den Aspekt der Bildlichkeit explizit thematisch werden lässt. 44 »Kein Bild kann umhin, sein Dargestelltes gleichzeitig zu modellieren wie zu präsentieren: ihm eignet eine Duplizität von Sagen und Zeigen als genuine Duplizität des Medialen – freilich so, dass diese diesmal in der umgekehrten Reihenfolge erscheint: Denn es handelt sich um ein zeigendes Sagen, so dass das Zeigen hier den Vorrang gegenüber dem Sagen einnimmt, während diskursive Medien einer inversen Logik gehorchen: Ihr Zeigen bleibt inexplizit; es präsentiert sich allererst im Modus des Sagens.« [Mersch Bild 33] 117
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
kultur ein medientheoretisches Missverständnis: sie interpretiert aisthetische Medien als diskursive, wo sie lückenlos der symbolischen Repräsentanz erliegt. Bourdieus soziologische Deskription der rezeptiven Mehrheitspraxis betont, dass wir uns als Mitglieder moderner, ausdifferenzierter Kulturen gewöhnlich nicht mit dem Zeigen, sondern nur mit dem Sagen von Bildern beschäftigen. Ein Umstand, der keineswegs diskriminiert werden soll, denn die Mehrheitspraxis spricht empirisch signifikant für sich, und da sie nicht verbindlich personalisiert werden kann, ist auch niemand von den konstatierten Effekten des photographischen Massenbildes freizusprechen. Es ergeben sich aber aus den Differenzierungen der bild- und rezeptionstheoretischen Überlegungen (Barthes, Panofsky) sowie durch die empirischen Defizite einer vorrangig semantisch orientierten Kultursoziologie (Bourdieu) theoretische Anknüpfungspunkte, die auch nach einer Analyse des ästhetischen Verhältnisses zur Photographie verlangen.
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4. Kants Konzeption reiner Geschmacksurteile
»Man beachte, dass das Wort ›schön‹ in ästhetischen Auseinandersetzungen kaum verwendet wird. Hier stellt sich eine andere Art von Wort ein: ›korrekt‹, ›inkorrekt‹, ›richtig‹, ›falsch‹. Wir sagen nie: ›Dies ist schön genug‹, sondern wir verwenden das Wort nur zu einer Äußerung wie: ›Sieh einmal, wie schön!‹, d.h. um auf etwas aufmerksam zu machen.« [Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen 1930-1935, S. 192 f.]
Die Frage nach der Möglichkeit einer ästhetischen Rezeption von Photographien war einerseits durch Bourdieus Auslegung des Ästhetikbegriffs als sozial mittelbarer Geschmackspräferenz ausgeschlossen worden und hatte andererseits aber doch am Beispiel der frühen medientheoretischen Überlegungen Barthes’ und vor dem Hintergrund der Differenzierungen Panofskys neue Anregungen erhalten. Obwohl sich Barthes’ Zugang zum Thema zwischen medienspezifischen und rezeptionstheoretischen Überlegungen unentschlossen gezeigt hatte, war damit zugleich der ungenügende Erklärungswert einer nur präferentiellen Auffassung photographischer Rezeptionsprozesse bekräftigt worden. Schließlich hatten auch noch Bourdieus photosoziologische Dokumente am Beispiel des Pariser Arbeiters dieses Ungenügen unterstrichen und – eigentlich unbeabsichtigt – für eine ästhetische Lektüre von Photographien plädiert. Für die Darstellung des Ästhetischen in der photographischen Kultur (und damit für die Analyse des Begriffs einer ästhetischen Rezeption photographischer Bilder) scheint mir nun eine historische Vergewisserung bei Kant außerordentlich geeignet zu sein. Bourdieu hatte diesen Bezug auf Kants Ästhetik ja selbst, wenn auch zunächst nur in kritisch-polemischer Absicht, hergestellt, aber nimmt man diese Assoziation ernst und überprüft sie im Detail, 119
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
dann zeigt sich ein überraschender Erklärungswert für die zwischen Bourdieu und Barthes aufgezeigte phototheoretische Kontroverse. Und mehr noch, Kants Ästhetik hat diesen Erklärungswert deshalb, weil sie geeignet ist, den in Barthes’ früher Theorie nur angedeuteten, in der späteren dann aber weiterentwickelten alternativen Begriff einer ästhetischen Photorezeption kritisch auszuformulieren. Kants Konzeption bereitet die Fundamente für Barthes’ späteren Begriff ästhetischer Rezeption, indem sie einerseits ein ähnliches konzeptuelles und sprachliches Profil ästhetischer Urteile formuliert (s. Kap. 5 u. 6.1). Andererseits ermöglicht sie eine kritische Reflexion dieser Urteile, weil sie ihre öffentlichkeitstheoretische Problematik anspricht (Kap. 6), die Kant unter dem Begriff des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs zu fassen versucht hat. Unter der Formulierung einer Konzeption reiner Geschmacksurteile soll hier nun der zentrale Untersuchungsgegenstand der Kantschen Ästhetik knapp zusammengefasst werden, wie er im Zuge des transzendentalphilosophischen Begründungsunterfangens thematisiert wurde, ohne selbst zugleich nur eine transzendentalphilosophische Bestimmung zu sein: ein differenzierbares ästhetisches Urteilsverhalten und seine typologisierbaren Merkmale. Dabei konzentriere ich mich auf das, was uns laut Kant die »Erfahrung« über die ästhetischen Urteile »lehrt« und übergehe Fragen zur Plausibilität der transzendentalphilosophischen Begründung des Ästhetischen. Durch diese Vereinfachung geht Kants Auffassung des Ästhetischen deshalb nicht verloren, weil die Charakterisierung der empirischen Gestalt reiner Geschmacksurteile, wie ich meine, selbst schon eine Darstellung der kulturellen Problematik ästhetischer Urteile enthält, an die hier angeknüpft werden soll.1 Die angestrebte, konzeptuelle Bestimmung des Begriffs der reinen Geschmacksurteile geht über die vier von Kant in der Analytik des Schönen explizit angeführten »Momente« hinaus, insofern der thematisierte Urteilsbegriff durch den Gegenstandsbereich, das sprachliche Profil und die aus beiden 1
Mit diesem Ansatz einer »Aktualisierung« der Kantschen Ästhetik (ein Ausdruck, der vor allem von Rüdiger Bubner in: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik; in ders.: Ästhetische Erfahrung; F.a.M. 1989; S. 9-51; zitiert als: ders. Bedingungen, vertreten wurde), entgehe ich der Diagnose, dass wir sie aus philosophiehistorischen Gründen »obsolet« finden müssten, wie es jüngst Kulenkampff vertreten hat: »Bevor man Ästhetik im Stil dieser Autoren [Kant und Hegel] oder in ihrem Geist fortschreibt, muss man sich fragen, ob man ihre metaphysischen Voraussetzungen mitzumachen bereit ist oder nicht. [...] Das aber heißt, dass sowohl Kant als auch Hegel für eine gegenwärtige philosophische Ästhetik obsolet geworden sind.« [Jens Kulenkampff: Metaphysik und Ästhetik. Kant zum Beispiel; in: Kern, Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze; F.a.M. 2002, S. 49-80, hier S. 80 (zitiert als: ders. Beispiel).]
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4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
resultierenden diskursiven Funktionen ästhetischer Urteile mindestens ebenso deutlich charakterisiert wird wie durch die bekannten Termini des interesselosen Wohlgefallens, der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, dem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch und der subjektiv allgemeinen Mitteilbarkeit.
4.1 Gegenstandsbereich und Merkmale ästhetischer Urteile bei Kant Um Kants Eignung für die Phototheorie zu erschließen, muss zunächst das nicht nur von Bourdieu irrtümlich vertretene Paradigma korrigiert werden, wonach Kants Ästhetik als eine philosophische Theorie der Kunst zu verstehen sei. Grundsätzlich beschäftigt sich Kant in seiner Ästhetik ja nicht mit der Wahrnehmung von Kunstwerken als Kunstwerken, sondern er ist vielmehr am Thema der ästhetischen Rezeption in einem unspezifischen und offenen Gegenstandsbereich interessiert und formuliert in diesem den Begriff einer adäquaten ästhetischen Urteilsform. Entgegen der vor allem seit Hegel gebräuchlichen und wirkmächtigen Lesart darf Kants Ästhetik daher nicht als eine philosophisch spezialisierte Theorie der Kunst oder des Kunstschönen verstanden werden. Denn obwohl sie ab § 43 auf zeitgenössische Debatten zum Geniebegriff eingeht und dort die vorangegangenen Überlegungen auch auf die Kunstproduktion assoziativ anzuwenden versucht,2 ist sie weder auf künstlerische Objekte als bevorzugte Beispiele für ästhetische Urteile noch auf irgendeine andere Konkretisierung ästhetisch geeigneter Gegenstände angewiesen. Eine unzutreffende kunstspezifische Auslegung des Kantschen Ästhetikbegriffs führt (wie sich etwa an Bourdieus Bemerkungen im »Nachtrag« der Feinen Unterschiede erkennen lässt) zu grundsätzlichen Missverständnissen der Urteilskonzeption. Kant stellt die Aktivität der ästhetischen (reflektierenden) Urteilskraft als »Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt 2
Martin Seel hat angesichts der Unterscheidung zwischen den Schönheit bejahenden, gegenständlich unspezifischen reinen Geschmacksurteilen Kants und den Kunst als Kunst bewertenden Aussagen, die dieser ab § 43 erwähnt, einen unüberwindbaren »Spagat der Kantschen Ästhetik« ausgemacht [Seel Entzweiung 45]. Geht man aber davon aus, dass Kants Ästhetik primär nur die reinen Geschmacksurteile untersucht (weil nur sie einen transzendentalphilosophischen Anlass darstellen, s.u.), dann besteht keine ungeklärte Konkurrenz sondern eine klare Favorisierung, der weitere, systematisch ungeklärte Angaben folgen. Die Diagnose des Spagats steht also unter dem Eindruck der enttäuschten Erwartung, dass Kants Ästhetik mehr über kunstkritische Urteile zu sagen hätte, wo sie tatsächlich nur über gegenständlich-unspezifische spricht. 121
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
welchem) führt« dar.3 Geht man davon aus, dass Kant in seiner Ästhetik, wie Rüdiger Bubner betonte, über den Urteilsbegriff die »ästhetische Erfahrung« problematisiert hat4 und sich damit primär auf ästhetische Wirkungen konzentrierte,5 so ergeben sich aus dieser thematischen Prämisse auch gravierende Konsequenzen für den Gegenstandsbereich seiner Ästhetik. Denn von einem Gegenstandsbereich lässt sich nun genaugenommen ja nicht mehr sprechen, da Kant jede Objektivierung des Schönen über die thematische Ausrichtung seiner Ästhetik an der ästhetischen Rezeptivität konzeptuell verneint.6 Wegen ihres Ausgangspunktes bei der Aktivität der reflektierenden Urteilskraft und damit bei Aktivitäten »zwischen sinnlichem Angerührtsein und schöpferischem Leisten« [Bubner Bedingungen 38] könnte man Kants Ästhetik allenfalls einen Gegenstandsbereich zuweisen, der retrospektiv aus den Objekten erfolgreicher ästhetischer Bezugnahmen besteht – allerdings wäre es wiederum problematisch, einen solchen Gegenstandsbereich über seinen bloß dokumentarischen Gehalt hinaus zu vertreten. Denn obwohl Kant in seinen 3
4 5
6
»Das Wohlgefallen am Schönen muss von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhangen, und unterscheidet sich dadurch auch vom Angenehmen, welches ganz auf der Empfindung beruht.« [KdU 11] »Kant spricht von der reflektierenden Urteilskraft, wo er die ästhetische Erfahrung meint.« [Bubner Bedingungen 36] Einen so anspruchsvollen Begriff wie den der ästhetischen Erfahrung hat Kant, wie Kulenkampff zutreffend bemerkt [vgl.: ders. Beispiel 50], eigentlich noch nicht vertreten. Bubner betont mit seiner Begriffsverwendung allerdings, dass »ästhetische ›Erfahrung‹ nicht als rein passives Hinnehmen von äußerlich [...] Wirkendem verstanden werden darf, dass vielmehr die Erfahrung, wenn in ihr der ästhetische Gehalt erst konstituiert wird, auch als Leistung beschrieben werden muss.« [ders. Bedingungen 36] Ein kritischer Blick auf Kants reine Geschmacksurteile bestätigt diese zwar als Leistungen, aber gerade wegen ihrer geringen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit wären sie durch den Begriff des ästhetischen Erlebnisses als dem authentisierenden Fundament ästhetischer Erfahrungsprozesse (s.u. Seel) zutreffender charakterisiert. In diesem stärker auf Wirkungen gerichteten Sinn hat ja auch Bubner seinen Erfahrungsbegriff verstanden: »Die Analyse ästhetischer Erfahrung als einer besonderen auf das Bewusstsein ergehenden Wirkung ist vorbildlich in Kants Kritik der Urteilskraft geleistet.« [ders. Bedingungen 34] »[...] dass vom Schönen kein eigener gegenstands-konstitutiver Begriff anzugeben sei [...] schafft zugleich die Möglichkeit, ästhetische Wirkungen, die nicht vom Werke im eigentlichen Sinne ausgehen, zu erfassen und in ihrer ästhetischen Bedeutsamkeit zu würdigen.« [Bubner Bedingungen 34 f.]
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4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
geschmäcklerischen Präferenzen, wie jeder andere Ästhetiker auch, zweifellos von persönlichen Vorlieben und zeitgeschichtlichen Einflüssen geprägt ist, geht seine Konzeption ästhetischer Urteile doch trotzdem über dergleichen Beschränkungen hinaus. Es war jüngst Gernot Böhme der auf die kulturgeschichtliche Verhaftung der Kritik der Urteilskraft in der Epoche des Rokoko hingewiesen hat,7 aber auch hier fällt auf, dass gerade die Kernkonzeption der Schrift, die Analytik des Schönen die geringste Anzahl von Verweisen enthält. Wertet man die von Kant angeführten historischen Beispiele des Schönen (natürliche Objekte und Situationen sowie triviale und künstlerische Artefakte) als Belege für bereits erfolgte ästhetische Bezugnahmen und leitet aus ihnen den kulturgeschichtlich relativen Gegenstandsbereich ab, so würde dieses Verfahren dann eine bedenkliche Einschränkung der Kantschen Konzeption darstellen, wenn der dokumentarische zugleich auch als konzeptueller Gegenstandsbereich gilt. Denn da erfolgreiche ästhetische Urteile keine Gegenstandsqualitäten thematisieren, treten sie auch nicht mit dem Anspruch einer auf die Eignung spezifischer Gegenstände gegründeten Wiederholbarkeit auf – der Katalog von möglicherweise in der Entstehungsepoche des Werkes ästhetisch erschlossenen Gegenständen ändert nichts an der konzeptuell bedingten Austauschbarkeit ästhetischer Objekte. Kants Ästhetik nimmt ja zu den Gegenständen ihrer kulturgeschichtlichen Epoche keine materiale Beziehung auf, sondern geht auf diese als ästhetische bloß im Zuge von »Vorstellungen, durch die ein Gegenstand gegeben ist« [z.B. KdU 28] ein. Damit bietet sie eine Konzeption ästhetischer Urteile an, die sich einer ausdrücklich zu berücksichtigenden kultur- oder zeitgeschichtlichen Verhaftung entzieht. Einerseits steht ihrer Konfrontation mit dem photographischen Bild als eines geeigneten Objekts ästhetischer Urteile damit grundsätzlich nichts entgegen, andererseits muss eine solche aus dem gleichen Grund wiederum willkürlich und gesucht erscheinen. Entscheidend für meine Anknüpfung ist hier jedoch der thematische Ausgangspunkt bei der »ästhetischen Erfahrung«. Die Frage, ob Kants Ästhetik auch auf den Gegenstand des photographischen Bildes bezogen werden kann, ist daher nicht am Gegenstand selbst zu klären, vielmehr muss sie davon abhängig gemacht werden, ob Kants Urteilsbegriff auch zur Differenzierung des Begriffs einer ästhetischen Rezeption von Photographien geeignet ist. Wenn prinzipiell jeder Gegenstand Objekt eines Geschmacksurteils werden kann, dann muss die Eignung von Kants Ästhetik zur Analyse einer von photographischen Bildern dominierten Kultur dort diskutiert werden, wo der Charakter des Gegenstandsbezugs zum Ausdruck kommt: am Urteilsbegriff. Und umgekehrt muss sich die »Aktualität« der Kantschen Ästhetik für eine technologi7
Gernot Böhme: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht; F.a.M. 1999. 123
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sierte kulturelle Moderne dann dort zeigen, wo ihr Urteilsbegriff nachgewiesen werden kann. Stilisiert wird von Kants Fragestellung ein bestimmter, noch genau zu beschreibender Begriff ästhetischen Urteilens, der aus einer losen, nicht systematisch abgeschlossenen Aufzählung verschiedener Urteilsformen herausgehoben wird, die teilweise in zweistelligen (z.B. die reinen und angewandten Geschmacksurteile im § 16), teilweise in dreistelligen (z.B. die Urteile über das Angenehme, das Gute und das Schöne in § 1) Unterscheidungen angeführt werden. Aus dem jeweiligen Urteilsspektrum hebt Kant deutlich die sogenannten »reinen« heraus, denen sich die transzendentalphilosophische Untersuchung bevorzugt widmen möchte. Der Begriff der Reinheit wird oftmals auf die qualitativen Bestimmungen des ersten Moments der Analytik des Schönen zurückgeführt, in dem Kant seine paradoxe Begriffsbildung eines für ästhetische Urteile verbindlichen interesselosen Wohlgefallens am Schönen erläutert. Andererseits kann er nicht schon selbst als vollwertiges Urteilsmerkmal gelten, da er Kant offensichtlich bloß dazu dient, jene Urteile zu benennen, die für die transzendentale Untersuchung relevant sind. Er hat somit eine primär differenzierende, keine explikative Funktion.8 Auch den Begriff des interesselosen Wohlgefallens verstehe ich keineswegs nur als eine positive Bestimmung der Kantschen Geschmacksurteile, da er für ihre philosophische Konzeption eine vorrangig disjunktive, differenzierende Funktion hat.9 Die Tatsache, dass Kant mit dem Begriff der Interesselosigkeit zudem auf einen vorhandenen theoriegeschichtlichen Kontext reagierte (die Herkunft aus der Burkeschen Differenzierung zwischen »Liebe« und »Begierde« ist bekannt und wird auch bei Kant zitiert; vgl.: KdU 19), 8
9
Das belegt auch die Verwendung des Prädikats in der Analytik des Schönen. Von reinen Geschmacksurteilen spricht Kant erstmalig in § 2 und zwar negativ. Dann ist in elf bedeutenden Paragraphen nur noch von Geschmacksurteilen die Rede. Und am Ende von § 13 wird eine partielle Definition reiner Geschmacksurteile gegeben, die besagt, diese seien von Reiz und Rührung nicht abhängig. Kants Argumentation ist also, nachdem er die Geschmacksurteile von anderen ausreichend abgegrenzt zu haben glaubt, nicht mehr auf den Begriff der Reinheit angewiesen. Belegbar z.B. durch die Textstelle, in der Kant erklärt, dass ein Urteil über Schönheit, in das sich ein Interesse mengt, kein reines Geschmacksurteil sei und anschließend fortfährt: »Wir können aber diesen Satz, der von vorzüglicher Erheblichkeit ist, nicht besser erläutern, als wenn wir dem reinen uninteressierten Wohlgefallen im Geschmacksurteile dasjenige, was mit Interesse verbunden ist, entgegensetzen [...]« [KdU 7; eig. Hervorh.].
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4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
schwächt zusätzlich die Position ab, Interesselosigkeit sei ein Begriff, der originär Kants Konzeption reiner Geschmacksurteile charakterisiere und an ihnen eine positive Bestimmung vornähme, die wichtiger sei als die Profilierung des Urteilsbegriffs, wie sie sich aus der Gesamtheit der Urteilsmerkmale ergibt. Konzentrieren wir uns auf die differenzierende Funktion von Reinheits- und Interessebegriff, dann wird das Problem, wie Kant ästhetische gegenüber moralischen und hedonistischen Urteilen abgrenzt, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er es tut, vergleichsweise unbedeutend. Die inhaltlich relevante Bestimmung des Urteilsbegriffs erschließt sich erst im Kontext aller Urteilsmerkmale und kaum durch eine partielle Interpretation. Eine solche Überbewertung des Begriffs der Interesselosigkeit, die diesen als zentrale Bestimmung der »reinen Ästhetik« (meist ohne das zugehörige und höchst paradoxe »Wohlgefallen«) verwendet, ist besonders bei den Kritikern Kants zu beobachten – und sie geht üblicherweise mit einer Verwechslung des ursprünglich offenen mit einem kunstspezifischen Gegenstandsbereich einher.10 So versteht auch der von Bourdieu vertretene Antagonismus zwischen einer populären und einer »reinen Ästhetik« den Begriff der Interesselosigkeit als Merkmal einer kulturellen Praxis, die eine »Ablehnung« jeglichen »Verhaftetseins ans [...] Vulgäre« betreibt.11 Aus dem Kunstbereich entlehnt kann die Interesselosigkeit als »einzige Weise der Anerkennung des Kunstwerks in seiner Besonderheit« dabei nur deshalb goutiert werden, weil Bourdieu sie zugleich als (produktiv intendierte) »Besonderheit des Kunst10 In Peter Bürgers Theorie der Avantgarde; F.a.M. 1974, wird Kants Interessebegriff als Verweis auf das »Begehrungsvermögen« mit dem Prinzip der bürgerlichen Profitmaximierung analogisiert, dem sich das reine Schöne Kants zu entziehen versuche. Das Schöne sei demzufolge nicht nur »herausgenommen aus dem alle Lebensbereiche durchherrschenden Prinzip der Profitmaximierung«, sondern seine Reinheit führe zudem »zu einer Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Bezügen«, dessen »subjektive Seite« Kant reflektiert habe [ebd. 58]. Da Bürger den Interessebegriff ausschließlich als inhaltliche, nicht disjunktive Bestimmung des Geschmacksurteils wertet und dieses zudem im Kunstkontext lokalisiert, muss er die deutlich »einlösende« Tendenz von Kants Ästhetik übersehen: das Schöne bleibt (trotz seiner systematischen Differenzierbarkeit) in die Lebensvollzüge integriert, weil es sich nicht nur auf Kunst bezieht und weil es anders als das Angenehme kein Privatvergnügen bleibt. 11 »Anders als die ästhetische Theorie, der Detachement, Interesselosigkeit, innere Teilnahmslosigkeit als einzige Weisen der Anerkennung des Kunstwerks in seiner Besonderheit – als selbständiges – gelten, ignoriert oder verweigert die populäre ›Ästhetik‹ die Ablehnung des Verhaftetseins ans ›Leichte‹, ›Oberflächliche‹ und der Verfallenheit ans ›Triviale‹ und ›Vulgäre‹, auf dem der Geschmack für das formal Experimentelle basiert.« [Unterschiede 23; eig. Hervorh.] 125
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
werks«12 versteht. Dadurch wird der Begriff nicht über seine differenzierende Funktion, sondern ausschließlich inhaltlich bestimmt und zudem auf Kunst spezialisiert, so dass er folgerichtig als ein von »Connaisseurs« erstrebtes »interesseloses Vergnügen« [Unterschiede 782] erscheint. Wie die Kunstkennerschaft gehört damit auch die Interesselosigkeit in den Bereich soziologisch tradierter, kultureller Konventionalität, die, weil sie die Ablehnung des Trivialen zum Inhalt hat, als theoretischer Ausdruck eines ideologischen »Ekels vor der Vulgarität« [Unterschiede 783] verstanden werden muss. Als soziologisch bedingte Einstellung und zudem über die ästhetische Theorie auch ideologisch fixierter Begriff wird die Interesselosigkeit daher synonym zu einer grundsätzlichen »Distanziertheit und Gleichgültigkeit« verstanden.13 Man darf nicht vergessen, dass diese tatsächlich zutreffende Bemerkung zum distanzierten Charakter ästhetischer Urteile zwar als Distanzierung von Gegenstandsidentifikationen und sozialen Mittelbarkeiten (im Sinne Bourdieus) zutrifft, aber trotzdem keine »Gleichgültigkeit« thematisiert. Denn das reine Geschmacksurteil Kants konstituiert sich ebenfalls als ein »Wohlgefallen«, das unumgänglich mit ästhetischer Lust ausgezeichnet ist und hier sogar eine ausgesprochen indifferente, kritiklos bestätigende Beziehung zum Beurteilten darstellt. Von einer »Weigerung [...], sich einzubringen, etwas ernst zu nehmen«, kann daher nicht die Rede sein. Gegenüber dem Bourdieuschen Einwand muss deshalb vor allem hinterfragt werden, was im ästhetischen Urteil jeweils nah ist und was auf Distanz gehalten wird. Immerhin bezeichnet das interesselose Wohlgefallen ja auch bei Kant wiederum ein »unmittelbares Interesse«, wie sich seiner späteren Explikation im Rahmen des Naturschönen entnehmen lässt: »Es muss Natur sein oder von uns dafür gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können [...]« [KdU 173; eig. Hervorh.]. Das interesselose Wohlgefallen stellt demnach eine »unvermittelte« Beziehung dar, so dass, bezogen auf Bourdieus Einwand, in ästhetischen Urteilen genaugenommen alle Formen der Vermittlung »distanziert« werden und »gleichgültig« sind. Dem reinen ästhetischen Urteil wird damit sowohl eine 12 Pierre Bourdieu: Die historische Genese einer reinen Ästhetik; in: Gebauer / Wolf (Hg.) Praxis und Ästhetik; F.a.M. 1993, S. 14-32, hier 16. 13 »Distanziertheit, Interesselosigkeit, Gleichgültigkeit – ästhetische Theorie hat derart oft verkündet, sie allein ermöglichten, das Kunstwerk als das zu erkennen, was es wahrhaft sei, nämlich autonom, selbständig, dass am Ende in Vergessenheit gerät, dass sie tatsächlich bedeuten: sich nicht einzulassen, distanziert und gleichgültig zu bleiben, die Weigerung also, ›sich einzubringen‹, (etwas) ernst zu nehmen.« [Unterschiede 68] 126
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
spezifisch lustvolle Nähe (nämlich das Wohlgefallen) als auch eine spezifische Distanz zugesprochen (eine Verbindung, die Barthes in seiner späten Phototheorie in ähnlicher Weise variiert; s. Kap. 5.3). Diese distanzierenden Aspekte lassen sich detaillierter an Kants Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck verdeutlichen. Die Analytik des Schönen führt zwei verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs der Zweckmäßigkeit ohne Zweck an. Die erste verweist auf die ästhetische Lust als eines notwendigen Attributs ästhetischen Urteilens. Die Lust selbst ist hier zweckmäßig, insofern sie sich als Resultat einer Aktivität (dem »freien Spiel der Erkenntniskräfte«) einstellt, die ihr Objekt nicht unter diesem Lust steigernden Zweck registriert und daher also ohne Zweck ausgeführt wird (vgl. KdU §§10-12). Das ästhetisch, also ohne Zweck Wahrgenommene erscheint durch die ästhetische Lust, die die Wahrnehmung begleitet, demnach doch als zweckmäßig. Die zweite, wie ich meine grundsätzlichere Verwendungsweise des Begriffs betrifft die fehlende Berücksichtigung einer faktisch gegebenen, konstruktiven Zweckmäßigkeit von Objekten die aus einer ästhetischen Perspektive wahrgenommen werden. Der rezeptionstheoretisch differenzierende Gehalt dieser Verwendungsweise ist folgender: Registriere ich, dass ein Gegenstand so beschaffen ist, dass er einem bestimmten Zweck dient und zu dessen Erreichung gebraucht werden kann, so nehme ich diesen Gegenstand hinsichtlich seiner ästhetischen oder trivialen Gebrauchseigenschaften wahr. Von der Berücksichtigung solcher Eigenschaften soll nun jedoch die unter dem Begriff des reinen ästhetischen Urteils thematisierte rezeptive Perspektive Kant zufolge frei sein. Da Kant in seiner Ästhetik ja einen offenen Gegenstandsbereich vertritt, dem unter anderem auch Kunstwerke angehören können, nimmt dieser Aspekt einer nicht wahrgenommenen Zweckhaftigkeit noch eine zusätzliche Bedeutung an. Er dient zur Abgrenzung des reinen Geschmacksurteils von allen Rezeptionsformen, bei denen sich Urteilende auf ein Kunstwerk als Kunstwerk beziehen. Da für Kunstwerke gilt, was auch trivialen Artefakten zukommt, die Tatsache nämlich, dass ihre Herstellung mit der Unterstellung eines Zwecks verbunden ist, muss die Berücksichtigung ihres Kunstcharakters mit der Wahrnehmung eines Zwecks einhergehen: »Wenn aber der Gegenstand für [Erdmann: als] ein Produkt der Kunst gegeben ist und als solches für schön erklärt werden soll, so muss, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff von dem zum Grund gelegt werden, was das Ding sein soll [...]« [KdU 188; eig. Hervorh.]. Da dieses Zugrundelegen eines Begriffs den Bedingungen ästhetischen Urteilens widerspricht, demonstriert der Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, dass die Beurteilung von Gegenständen, die bereits »als ein Produkt der Kunst gegeben« sind, keine ästhetische Beurteilung sein kann. Gleich127
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
wohl wird die Rezeption von Kunst oder artifiziellen (und damit zweckhaften) Bildwerken, wie es etwa Photographien sind, durch diese Position nicht generell sanktioniert, da ja die tatsächliche Zweckhaftigkeit der Objekte für die Einnahme einer Perspektive der Zweckmäßigkeit ohne Zweck nicht ausschlaggebend ist. Vielmehr differenziert der Begriff bloß verschiedene Urteilsperspektiven und legt fest, dass eine ästhetische nicht über das Wissen um einen Zweck verfügt oder dieses einbezieht.14 So können zwar explizit kunstorientierte Rezeptionsformen (kunsthistorische und kunstkritische) von einem Rezeptionsbegriff im Sinne reiner Geschmacksurteile differenziert werden, aber Kunstwerke als relevante Objekte für letztere sind dadurch keineswegs ausgeschlossen. Deshalb ist auch die Naturschönheit für Kant nicht die einzige, sondern nur eine beispielhafte Möglichkeit, um solche ästhetischen Wahrnehmungen, die sich im Modus einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck vollziehen, zu illustrieren: »Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurteilen, brauche ich nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für ein Ding sein solle; d.i. ich habe nicht nötig, die materiale Zweckmäßigkeit (den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis des Zwecks gefällt in der Beurteilung für sich selbst.« [KdU 188] Das Beispiel des Naturschönen belegt vergleichsweise unverfänglich, dass Kants Konzeption ästhetischen Urteilens jenseits von Kenntnisbezügen und Begriffssubsumptionen erfolgt. Gleichwohl ist diese Konzeption damit aber nicht auf den Gegenstandsbereich des Naturschönen eingeschränkt, sondern kann sogar stellvertretend für die künstlerische Moderne stehen, insofern diese ja ebenfalls die Kategorie des Werkes übergeht.15 Bourdieus kritischer Bezug auf Kant hat den Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, wie schon den Begriff der Interesselosigkeit, wiederum im Feld der Kunst ausgemacht und als eine produktive Bestimmung der Werke interpretiert: »Das unbedeutende (zugleich bedeutungslose und uninteressante) 14 »Ein Geschmacksurteil würde in Ansehung eines Gegenstandes von bestimmtem inneren Zwecke nur alsdann rein sein, wenn der Urteilende entweder von diesem Zwecke keinen Begriff hätte oder in seinem Urteil davon abstrahierte.« [KdU 52] 15 Diesen Zusammenhang betont auch Bubner: »Demgegenüber enthält die kantische Lehre vom Naturschönen, wenn man sie aus ihrer Verklammerung mit dem systematischen Problem der Teleologie löst, eine freiere Deutung der ästhetischen Erfahrung, die nicht notwendig und ausschließlich auf der Voraussetzung des Werks beruht. Eben diese Erfahrung kommt aber unseren Beobachtungen der Moderne entgegen, die vom substantiellen Werkbegriff sich distanziert, um ästhetische Wirkungen aus allerlei Material zu schlagen.« [Bubner Bedingungen 35] 128
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
oder das mehrdeutige Bild abzulehnen, heißt, es als Zweckbestimmung ohne Zweck abzulehnen, als Bild also, das sich selbst bedeutet, sich auf nichts als auf sich selbst bezieht.« [Unterschiede 84] Bourdieu interpretiert den Kantschen Begriff somit als Ausdruck der L`art pour l`art-Orientierung von Kunstproduzenten, weshalb auch das von ihnen geschaffene Kunstwerk nur noch als Objekt einer »Zweckmäßigkeit ohne weiteren Zweck als sich selbst« [Unterschiede 761] verstanden werden kann. Als Merkmal eines ästhetischen Rezeptionsprozesses lässt sich Kants Begriff daher nur noch in der verfeinerten Einstellung von Kunstrezipienten ermitteln, die gelernt haben, eben diesen L`art pour l`art-Gehalt der Werke zu »re-produzieren«16 – ein Kreislauf der Kants Bestimmung des Begriffs auf kausalisierende Weise negiert. Denn obwohl Kant dem Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck in seinen kunsttheoretischen Überlegungen tatsächlich auch leitbildhafte Funktionen für die Kunstproduktion einräumt,17 ist er doch zunächst wesentlich rezeptionstheoretisch bestimmt und keineswegs in dieser künstlerisch produktiven Leitbildfunktion beschlossen. Im Sinne der Begriffslosigkeit ästhetischer Urteile wäre noch ein dritter Hinweis Kants anzuführen, der zwar nicht explizit als Urteilsmerkmal angesprochen wird, gleichwohl jedoch das Thema einer Distanz von vermittelnden Interessen und der fehlenden »Kenntnis eines Zwecks« in ästhetischen Urteilen weiterführt. An einer eher marginalen Position seiner Analytik bemerkt Kant, dass die »Allgemeinheit« ästhetischer Urteile »von besonderer Art« sei, »weil sie das Prädikat der Schönheit nicht mit dem Begriffe des Objekts, in seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet, verknüpft [...]« [KdU 24]. Diese von Kant noch näher ausgeführte Bemerkung über die Singularität ästhetischer Urteile verweist auch auf die notwendige Präsenz des Beurteilten in den Situationen des Urteilens und zieht so eine Grenze zu einem präferentiellen Urteilsbegriff (im Sinne Bourdieus): »In Ansehung der logischen Qualität sind alle Geschmacksurteile einzelne Urteile. Denn weil ich den Gegenstand unmittelbar an mein Gefühl der Lust und Unlust halten muss, und doch nicht durch Begriffe, so können jene nicht die Quantität ob-
16 »Indem er das Werk seiner immanenten Intention gemäß behandelt, nämlich als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, re-produziert der Betrachter den Schöpfungsakt in einer Art Mimesis der Mimesis der Schöpfung [...].« [Unterschiede 768, Anmerkung] 17 Hierzu sagt Kant: »An einem Produkte der schönen Kunst muss man sich bewusst werden, dass es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muss die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.« [KdU 179] 129
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
jektiv-gemeingültiger Urteile haben; obgleich, wenn die einzelne Vorstellung des Objekts des Geschmacksurteils nach den Bedingungen, die das letztere bestimmen, durch Vergleichung in einen Begriff verwandelt wird, ein logisch allgemeines daraus werden kann. Z.B. die Rose, die ich anblicke, erkläre ich durch ein Geschmacksurteil für schön. Dagegen ist das Urteil, welches durch Vergleichung vieler einzelnen entspringt: die Rosen überhaupt sind schön, nunmehr nicht bloß als ästhetisches, sondern als ein auf einem ästhetischen gegründetes logisches Urteil ausgesagt.« [KdU 24; eig. Hervorh.]
Kants Hinweis kapriziert sich hier nicht bloß, wie die Bemerkung über »einzelne Urteile« suggerieren mag, auf die Menge der beurteilten Objekte, denn das Beispiel der Rose ließe sich auch unter Einsetzung eines Straußes von Rosen wiederholen, ohne seine Pointe zu verlieren: Allaussagen, die die ästhetischen Eigenschaften einer Klasse von Objekten resümieren, entziehen das Beurteilte den Sinnesorganen Urteilender. Da es nicht möglich ist, jede Rose oder jeden Strauß Rosen anzublicken, können Urteile über ästhetische Präferenzen (»Ich mag Rosen /Rosensträuße.«) nicht im strengeren Sinne als ästhetische Urteile gelten. So ist Kants Satz: »Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren.« [KdU 25] auch als ein Verweis auf die notwendige Präsenz des Beurteilten in den Situationen des Urteilens zu verstehen.18 Ohne den Test vor den eigenen Augen und Sinnesorganen kann nach Kant nicht von ästhetischen Urteilen gesprochen werden, da sich nur der Gegenstand ästhetisch beurteilen lässt, den »ich anblicke«.19 Ohne die für die Sinnesorgane Urteilender wahrnehmbare Präsenz des Beurteilten wäre das Urteil als ebenso logisch allgemeines zu verstehen wie jenes, das die ästhetische Qualität für ganze Objektklassen artikuliert. Dass diese Differenz auch für das ästhetische Verhältnis zur Photographie theoretisch relevant ist, lässt sich bereits an der Fragestellung von Bourdieus photosoziologischen Untersuchungen belegen. So reduziert er, in der Annahme, hierin bestünde kein relevanter Qualitätsverlust, die zu untersuchenden
18 »Die negative Bestimmung des Geschmacksurteils, dass es nämlich ohne ›Begriff‹ (§9) sei, heißt [...] auch, dass es sich nicht auf das x bezieht, insofern es gedacht werden kann. Es bezieht sich [...] auf das x in seiner Gegebenheit.« [Böhme Kant 18] 19 Oder mit ähnlich metaphorischer Betonung des Augensinns: »Ob ein Kleid, ein Haus, eine Blume schön sei, dazu lässt man sich sein Urteil durch keine Gründe oder Grundsätze aufschwatzen. Man will das Objekt seinen eigenen Augen unterwerfen, gleich als ob sein Wohlgefallen von der Empfindung abhinge [...]« [KdU 25; eig. Hervorh.]. 130
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
photographischen Bilder auf die schriftliche Benennung der abgebildeten Motive: »Während der Vorerhebung war[en] den Testpersonen – in der Mehrzahl berühmte – Photos von Motiven zur Begutachtung vorgelegt worden, die in der eigentlichen Erhebung dann nur noch genannt wurden (Kieselsteine, Schwangere, etc.); es ergab sich eine vollkommene Übereinstimmung in den Reaktionen auf die bloße Nennung eines Bildsujets und denen, die das Betrachten der fertigen Bilder auslöste (was beweist, dass der dem Bild zugesprochene Wert sich mit dem des Gegenstandes deckt).« [Unterschiede 78]
Wenn die »vollständige Übereinstimmung« etwas beweist, dann nur die Tatsache, dass die Testpersonen der Vorerhebung ebenfalls keine ästhetischen Urteile (im Sinne Kants), sondern ihre präferentielle Einstellung zum schriftsprachlich wiedergegebenen Motiv artikuliert haben, wie sie ja tatsächlich auch explizites Thema der soziologischen Umfrage gewesen ist.20 Sollte sich jedoch »der dem Bild zugesprochene Wert« tatsächlich »mit dem des Gegenstandes decken«, so würden die entsprechend beschaffenen Urteilsakte ausschließlich die zum Sujet geronnenen Aspekte des photographischen Motivs erfassen, wonach jedes Photo eines Kieselsteins mit jeder weiteren Aufnahme des gleichen Motivs übereinstimmt – ein Kieselsteinphoto zu sein. Das von der Umfrage evozierte Urteil über alle Exemplare einer Klasse bzw. über den standardisierbaren Begriff dieses Exemplars ist ein Urteil, das die unterschiedlichen ästhetischen Eigenschaften jeder photographischen Verbildlichung eines sujethaften Motivs, ihre materialen, medialen und piktoralen Eigenschaften übergeht. Da jedoch auch jede ausgeführte photographische Aufnahme eines sujethaften Objekts über einen abweichenden Bildaufbau verfügen wird, durch die Wahl der Blende, divergierende Lichtverhältnisse und durch die Variation der Tiefenschärfe ein jeweils anderer räumlicher Eindruck entsteht, von weiteren piktoralen Details und der Situation der Darbietung einmal abgesehen, ist die sinnliche Diversität von Photographien nicht auf Sujets reduzierbar.21
20 »Die Fragen, in denen es darum ging, mit welchen der vorgegebenen 21 Sujets ein schönes, interessantes, unbedeutendes oder hässliches Foto gemacht werden könne (diese Fragen sollten die ästhetische Einstellung messen) [...]« [Unterschiede 406]. 21 Die umfangreichen Sammlungen die der Künstler Peter Pillar zur Pressephotographie in deutschen Regional- und Lokalzeitungen angelegt hat, belegen zwar die stereotypisierende Wiederholung sujethafter Photomotive, sie demonstrieren zugleich aber auch, wie viele Differenzen selbst noch zwischen den sujethaft arrangierten Photographien weiterbestehen. 131
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Das Problem der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, das Kant in der Innenwelt der subjektiven Urteilsperspektive skizzierte, findet seine externe Widerlegung in Urteilssituationen, die die Perspektive des Urteilenden im Sinne der Bourdieuschen Befragung auf die Zweckmäßigkeit des Beurteilten richten, und ihm damit situativ die Möglichkeit beschneiden, ein Objekt ohne bereits zu berücksichtigenden Zweck wahrzunehmen. Bourdieu hat diesen Zusammenhang durchaus registriert und in seinem Photobuch wiederholt festgestellt, dass »erst die Problembeschreibung des Meinungsforschers und die Untersuchungssituation eine für die Untersuchung fiktive und artifizielle Fragestellung hervorbringen, nämlich die nach dem ästhetischen Wert der Photographie.« [Kult 70] – wonach sich in den Äußerungen der Befragten folglich »die Situation der Befragung spiegelt« [Kult 71]. Tatsächlich leistet Bourdieu damit einen unfreiwillig bestätigenden Beitrag zur Formulierung der situativen Bedingungen ästhetischer Urteile im Sinne Kants. Brachte das urteilende Subjekt Kants seine ästhetischen Urteile selbst noch dadurch ins »Wanken«, dass es den »Schatten der großen Kunst« durch die eigene Urteilsperspektive auf das beurteilte Objekt warf, nämlich immer dann, wenn es dieses als künstlerisch gemachtes in Betracht zog, so zeigt Bourdieu nun, dass es ebenfalls möglich ist, Kants Zweckmäßigkeitsproblem als einen Aspekt der Urteilssituation zu interpretieren. Denn es ist nun beispielsweise die Situation der soziologischen Befragung, von der aus »der Schatten der großen Künste« beschworen wird und »immer wieder auf die Urteile über die Photographie« fällt.22 Eine solchermaßen schattenhaft aufgerufene Disziplin Kunst bewirkt, wie schon Kant bemerkt hatte, dass nun »zuerst ein Begriff von dem zum Grund gelegt wird, was das Ding sein soll« und sich ästhetische Urteile im eigentlichen Sinne damit folglich verbieten. Vor diesem Hintergrund wäre es aber auch nicht mehr prinzipiell dem Geschmacksurteil zuzusprechen, dass es einen »einschränkenden Rekurs auf Bedingungen impliziert, die in Gattungsbegriffen definiert sind«.23 Vielmehr muss schon jede Urteilssituation, die die Urteilenden »zwingt, von sich aus eine Unterscheidung zu treffen«, verhindern, dass sie sich im Sinne von Kants Ästhetik »selbst irgendworaus einen Gegenstand der Lust« machen. Das zwingende Hindernis für ästhetische Urteilsbeziehungen, dessen statistische Signifikanz Bourdieu nicht nur in der Photosoziologie belegt hat, sondern ab den Feinen Unterschieden als Auszeichnung jeglicher kultureller Praxis ver22 »Der Schatten der großen Künste, von der Situation der Befragung beschworen oder ins Gedächtnis zurückgerufen, fällt immer wieder auf die Urteile über die Photographie und bringt sie häufig ins Wanken.« [Kult 71] 23 »Das Geschmacksurteil impliziert den einschränkenden Rekurs auf Bedingungen, die in Gattungsbegriffen definiert sind, d.h. auf den Funktions- oder Intentionstyp, der sich aus dem fertigen Photo ergibt.« [Definition 98] 132
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
tritt, muss laut Kant jedoch wiederum von jenen ästhetischen Urteilsakten übergangen werden, in denen »der Urteilende entweder von diesem Zwecke keinen Begriff hätte oder in seinem Urteil davon abstrahierte.«
4.2 Der subjektive Allgemeingültigkeitsanspruch des Geschmacksurteils Der herausgehobene, von Kants Ästhetik favorisierte Urteilstyp - die reinen Geschmacksurteile - zeichnet sich zusätzlich zu den bereits genannten Merkmalen primär durch den subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch aus und es lässt sich sogar sagen, dass die transzendentale Untersuchung wesentlich an diesem einen Merkmal orientiert ist und sich aus ihm entwickelt.24 So spricht Kant zu Beginn des Paragraph 8 von dem seine Untersuchung initiierenden Sinn des Allgemeingültigkeitsanspruchs: »Diese besondere Bestimmung der Allgemeinheit eines ästhetischen Urteils, die sich in einem Geschmacksurteile antreffen lässt, ist eine Merkwürdigkeit, zwar nicht für den Logiker, aber wohl für den Transzendentalphilosophen, welche seine nicht geringe Bemühung auffordert, um den Ursprung derselben zu entdecken, dafür aber auch eine Eigenschaft unseres Erkenntnisvermögens aufdeckt, welche ohne diese Zergliederung unbekannt geblieben wäre.« [KdU 21]
Tatsächlich handelt es sich bei dieser »besonderen Bestimmung der Allgemeinheit« aber nicht um das Problem der allgemeinen Geltung ästhetischer Urteile, vielmehr besteht die »Merkwürdigkeit« darin, dass die Urteile und Artikulationen im ästhetischen Weltverhalten der Menschen laut Kant mit dem Anspruch und der eventuell (auto-)suggestiven Gewissheit Urteilender verbunden sind, allgemeingültig zu sein – obwohl ihnen dieser Geltungsbereich tatsächlich nicht zukommt. Die transzendentalphilosophische Untersuchung der empirischen »Merkwürdigkeit« ästhetischer Urteile wird deshalb auch nur die konstatierte »Allgemeinheit« des Anspruchs bestätigen, in dem sie feststellt, dass wir »mit Recht Anspruch auf jedermanns Beistimmung machen«. Dieses Recht gilt aber nicht zugleich auch schon für die mögliche Allgemeingültigkeit des jeweils Beurteilten. Denn obwohl Kant regelmäßig von der Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile spricht, wo er eigentlich nur den
24 Dass die vier Momente der Analytik des Schönen sich auf das eine, in der Begriffsbildung vom subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch zur Sprache kommenden als ihr zentrales reduzieren lassen, hat z.B. Kulenkampff festgestellt [vgl.: ders.: Kants Logik des ästhetischen Urteils; F.a.M. (Vittorio Klostermann) 1994 (2. Aufl.), S. 26 (zitiert als: ders. Logik)]. 133
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Anspruch auf eine solche behandelt und obwohl er das Recht auf diesen Anspruch unter Verweis auf eine intersubjektiv verfügbare Urteilsdisposition begründet, stellt das einzelne ästhetische Urteil immer ein subjektives Verhältnis zum Gegenstand dar und ist insofern »subjektiv bedingt«.25 Sollte der Anspruch auf Allgemeingültigkeit daher allgemeingültig sein, so gilt dies nicht zugleich schon für das Beanspruchte; eine Einschränkung, die durch Kants Präzisierung des Allgemeingültigkeitsanspruchs als eines subjektiven auch terminologisch fixiert wird. Kant setzt den Allgemeingültigkeitsanspruch zwar als eine empirische »Merkwürdigkeit« voraus, die uns die »Erfahrung lehrt« [KdU 22], insistiert zugleich aber darauf, dass wir uns vom Vorliegen dieses Merkmals zuerst noch »völlig überzeugen müssten«.26 Der Allgemeingültigkeitsanspruch thematisiert, da er »sich in einem Geschmacksurteil antreffen lässt«, somit ein ästhetisches Urteilsmerkmal, das auch Kant für ein empirisch bestehendes hält. Als Transzendentalphilosoph fragt er sich nur, welche geltungstheoretische Berechtigung dem vom Begriff thematisierten Phänomen zukommt und welcher Geltungsstatus sich daraus für jene ästhetischen Urteile ergibt, die immer schon »allgemeinen Beifall ansinnen« und dies der Argumentation zufolge bereits taten, bevor die Kritik der Urteilskraft verfasst wurde. Selbst wenn die transzendentalphilosophisch ausgeführte Untersuchung daher problematisch sein sollte, so müsste dies nicht zugleich auch für ihr Thema gelten, denn der Begriff erhält eine empirische Existenz und eine theoretische Bedeutung auch jenseits seiner ge- oder misslingenden Begründung. Es stellt sich für das Verständnis von Kants Analytik des Schönen damit nicht nur die »Frage nach der Begründbarkeit der subjektiven Allgemeingültigkeit«,27 sondern – grundsätzlicher – die Frage nach dem Vorliegen des zu begründenden Motivs und danach, wie Kant es als geltendes Problem beschreibt – und in diesem Sinne möchte ich nun die Darstellung dieses für die
25 »Ebenso macht derjenige, welcher in der bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes, ohne Rücksicht auf einen Begriff, Lust empfindet, obzwar dieses Urteil empirisch und ein einzelnes Urteil ist, mit Recht Anspruch auf jedermanns Beistimmung; weil der Grund zu dieser Lust in der allgemeinen, obzwar subjektiven Bedingung der reflektierenden Urteile [...] angetroffen wird.« [KdU XLVII] 26 »Zuerst muss man sich davon völlig überzeugen, dass man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne, ohne sich doch auf einem Begriffe zu gründen (denn da wäre es das Gute) [...]« [KdU 21]. 27 Christian Helmut Wenzel: Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils bei Kant; Berlin / New York, 2000, S. 3. 134
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kulturtheoretische Tragweite des Ästhetischen folgenreichsten Urteilsmerkmals unternehmen. Der Anspruch des Geschmacksurteils auf Allgemeingültigkeit wird von Kant im zweiten Moment der Analytik des Schönen und anschließend an die Feststellungen des ersten zunächst als dessen »Schlussfolgerung« vorgestellt: »Das Schöne ist das, was ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird. [Überschrift § 6] Diese Erklärung des Schönen kann aus der vorigen Erklärung desselben, als eines Gegenstandes des Wohlgefallens ohne alles Interesse gefolgert werden. Denn das, wovon jemand sich bewusst ist, dass das Wohlgefallen an demselben bei ihm selbst ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, dass es einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthalten müsse.« [KdU 17]
Der Zusammenhang, der hier von Kant zwischen dem interesselosen Wohlgefallen und dem Allgemeingültigkeitsanspruch des Geschmacksurteils aufgemacht werden soll, verläuft knapp zusammengefasst so: Wenn sich bei einem Urteilenden ein Wohlgefallen einstellt, das für dessen Selbsteinschätzung erwiesenermaßen frei von Interesse zum Angenehmen oder Guten sowie anderen Arten einer persönlichen, privaten Vereinnahmung ist, so muss sich ebenfalls der Eindruck einstellen, dass es sich bei diesem Zustand um einen nicht von persönlichen Absichten bestimmten handelt. Das interesselose Wohlgefallen bleibt so ein personenrelativer Zustand, der sich aber wegen nicht feststellbarer, subjektiver Motivation dem Subjekt als vermeintlich intersubjektiv nachvollziehbarer darstellt. Dieser psychologisierende Nachweis eines mit dem Phänomen des interesselosen Wohlgefallens auftretenden Allgemeingültigkeitsanspruchs ist problematisch, denn »bewusst-sein« meint ja, dass sich Urteilende über die Beschaffenheit ihrer eigenen Zustände explizit sicher sind, dass sie sich distanziert zu ihnen verhalten und an ihnen zugleich eine Unterscheidung im Sinne der Kantschen Differenzierung zwischen interessehaftem und interesselosem Wohlgefallen vollziehen können müssen. Sobald eine Selbstvergewisserung gemäß entsprechender Kriterien erfolgt, ist sie aber nicht mehr die unmittelbare, vortheoretische Gewissheit über einen Zustand mit spezifischem Stimmungs- oder Empfindungsgehalt, der durch die Begrifflichkeit des interesselosen Wohlgefallens theoretisch benannt werden sollte. Zudem entsteht der für Kants Vorhaben falsche Eindruck, der Allgemeingültigkeitsanspruch ästhetischer Urteile werde erst nach Überprüfung seiner Rechtfertigungschancen und damit unter dem Vorbehalt seiner Begründbarkeit ausgesprochen. Eventuell benötigt Kant diese auch »Bewusstheit« genannte Gewissheit deshalb, weil auf Irrtum oder Täuschung gegründete Geschmacksurteile sonst ebenfalls einen Allgemeingültigkeitsanspruch erheben würden. Andererseits 135
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kann Kant jedoch das Problem eines falschen Gebrauchs reiner Geschmacksurteile, das heißt das Problem der Täuschung, hier nicht ausräumen, denn es lässt sich mit dieser psychologisierenden Überlegung ja allenfalls gegen die Möglichkeit des Irrtums vorgehen. Das irrtümlich erhobene reine Geschmacksurteil kann aber auch durch die Instanz der Gewissheit letztlich nicht zuverlässig ausgeschlossen werden, denn auch Kant räumt ein, dass wir uns bei den Geschmacksurteilen nie sicher sein können, ob es sich tatsächlich um reine handelt.28 Das heißt, für die Menge von Artikulationen, die anscheinend reine Geschmacksurteile darstellen und deshalb einen subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch erheben, lässt sich das Unterscheidbarkeitsproblem nicht über psychologische »Gewissheiten« lösen. Einen zuverlässigeren Indikator für die Unterscheidbarkeit von möglichen ästhetischen Artikulationen bietet Kant vielmehr auf der Ebene ihrer quasi-sprachanalytischen Deskription an. Denn zu den Merkmalen, die uns die »Erfahrung« über die reinen Geschmacksurteile »lehrt«, zählt ebenfalls Kants Beobachtung, dass ihr Allgemeingültigkeitsanspruch mit einer besonderen sprachlichen Aussageform einhergeht. Schönheitszusprachen lassen sich demnach als Aussagen verstehen, die ohne das Personalpronomen »ich« gebildet werden: »Es wäre lächerlich, wenn jemand, der sich auf seinen Geschmack etwas einbildete, sich damit zu rechtfertigen gedächte: dieser Gegenstand [...] ist für mich schön. Denn er muss es nicht schön nennen, wenn es bloß ihm gefällt.« [KdU 19] Indem Kant die Möglichkeit solcher Aussageformen zum Schönen ausschließt, konzipiert er zugleich die sprachliche Normalform reiner Geschmacksaussagen, die die Form: ›Dieses X ist schön.‹ erhält. Solche Urteile lassen nur noch einen indirekten, im Redezusammenhang und der Urteilssituation exemplifizierbaren Bezug auf die individuelle Person des Urteilenden erkennen, denn das Deiktikon »dieses« demonstriert in einer Urteilssituation zumindest den verweisenden Sprecher, der sich zu einer öffentlich präsenten Situation mittels des Geschmacksurteils positioniert. Wenn der »Anspruch auf subjektive Allgemeinheit«, wie Kant erklärt, »mit dem Bewusstsein der Absonderung [des Geschmacksurteils] von allem Interesse« [KdU 18] verbunden ist, dann wäre allerdings die personenrelativ formulierte Behauptung: ›Dieses X ist für mich schön.‹ (nämlich für die ur28 Hierzu sagt Kant im vierten Moment der Analytik: »Man wirbt um jedes anderen Beistimmung, weil man dazu einen Grund hat, der allen gemein ist; auf welche Beistimmung man auch rechnen könnte, wenn man nur immer sicher wäre, dass der Fall unter jenem Grunde als Regel des Beifalls richtig subsumiert wäre.« [KdU 63 f.; vgl. 67] Dieses Problem zeichnet auch Barthes’ phototheoretischen Urteilsbegriff aus (s.u.), während sich ästhetische Urteile nach Seel eigentlich nur retrospektiv über gelingende ästhetische Argumentationen verifizieren lassen (s.u.). 136
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teilende Person, die sich ihres interesselosen Wohlgefallens »gewiss« ist) durchaus mit der Urteilskonzeption in Einklang zu bringen. Denn das was rechtmäßigerweise als »schön« bezeichnet wird, geht in demjenigen, der diesen Sachverhalt artikuliert, selbst wenn er es nicht wüsste, sich dessen eben nicht »bewusst« wäre, sicher mit interesselosem Wohlgefallen einher, wodurch die Behauptung des Sprechers ›X sei für ihn schön‹, völlig korrekt und in keiner Weise »lächerlich« wäre. Kants rigoroser Hinweis betont offenbar, dass reine Geschmacksurteile wegen ihrer Auszeichnung mit dem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch keinerlei sprachliche Relativierungen aufzuweisen bräuchten – nicht einmal die, die ihnen als subjektiv lustvolle Urteilsakte tatsächlich zustehen. Die ausgeschlossene Personenrelativität unterstreicht dabei vielleicht nur, was ebenfalls schon durch die Begriffslosigkeit und Singularität der Urteile sowie über ihre Auffassung von Gegenständen als zweckmäßig ohne Zweck ausgesprochen wurde: dass sich das ästhetische Verhältnis zum Gegenstand nicht an begrifflichen Maßstäben relativiert. Der Begriff eines ästhetischen Urteils, das sich nicht nur in seiner sprachlichen Dimension, sondern ebenfalls konzeptuell jeglicher Relativierung enthält, ist vor allem in Bourdieus photosoziologischer Kritik der Kantschen Ästhetik hinterfragt worden. Es war ja eine von Bourdieus leitenden Annahmen des Photobuches, dass die »Ästhetik des Volkes« »insofern besondere Züge aufweist, als sie sich als eine unter mehreren versteht.« [Definition 95] Dabei hatte Bourdieu zunächst auf jene zweistellige Orientierung der Urteilenden aufmerksam gemacht, die in Form eines »doppelten Beurteilungsregisters« oder einer »zweifachen Normenorientierung« verläuft und präferentielle Geschmacksurteile notorisch auf den vermeintlich guten Geschmack bezieht. Andererseits zeichnete sich laut Bourdieu die »Ästhetik des Volkes« ebenfalls noch durch eine mehrstellige Pluralität aus (von der ja bereits der frühe Barthes gesprochen hatte). Sowohl die artikulierten Urteile als auch das Selbstverständnis Urteilender weisen demnach Relativierungen auf, die eine mehrheitlich gebräuchliche Anerkennung des kulturellen Kontextes belegen und aus diesem Grund begriffliche Maßstäbe in die Rezeptionssprozesse einbeziehen: »Nahezu dreiviertel aller Urteile beginnen mit einem ›Wenn‹; und am Ende der Erkundung des Bildes steht die Einordnung in eine Gattung, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Zuschreibung einer Gebrauchsweise, wobei die verschiedenen Gattungen unter dem Aspekt ihrer Verwendung und ihrer Vollendung definiert werden.« [Unterschiede 83]29
29 Die 14 Jahre ältere Fassung des Zitats ist schärfer formuliert, weil sie betont, dass es sich bei den Gattungsverweisen um die »erste Lektüre des Bildes« und 137
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Das einschränkende Wenn (und natürlich nicht nur dieses) gibt zu erkennen, dass die Befragten ein vorgelegtes Objekt in der Perspektive des Als wahrnehmen und ihre Urteile in den Kontext allgemein zugänglicher Maßstäbe stellen. Das präferentielle Geschmacksurteil wird daher konsequent als ein »hypothetisches Urteil«30 aufgefasst, das in ästhetischer Hinsicht nur prognostiziert, dass ein Objekt unter bestimmten Umständen bestimmten Personen gefallen könnte. Ganz entgegen seiner Kritik an den distanzierenden Effekten von Kants Interesselosigkeit verweist Bourdieu hier also auf den nicht minder distanzierenden Charakter präferentieller Geschmacksaussagen: Ein vorgelegtes Bild oder vorgeschlagenes Bildmotiv wird von den Befragten als Objekt möglicher geschmacklicher Bewertung betrachtet, ohne dass eine aktuelle Veranlassung bestünde, die diese vermutete ästhetische Relevanz bestätigen könnte. Oder anders ausgedrückt, die »ästhetische Hypothese« wird gerade nicht durch die ästhetische Relevanz des Bildes (oder eines beliebigen Gegenstandes) provoziert. War Kant noch so skrupulös, selbst ein vorangestelltes und geltungstheoretisch zweifellos berechtigtes »Ich finde, dass ...« aus der sprachlichen Verfassung ästhetischer Urteile vehement auszuschließen, so verwendet das Gros der Befragten Bourdieu zufolge massive sprachliche Relativierungen. Die sprachliche Normalform solch einer mehrheitlich gebräuchlichen »ästhetischen Hypothese« wird entweder durch das vorangestellte »Wenn« oder mit dem Satz: »Das ist schön, aber...« dokumentiert.31 Im Anschluss an die dokumentierte Relativierungstendenz statistisch signifikanter Geschmacksurteile bewertet Bourdieu die subjektive Allgemeingültigkeit Kants als empirisch nicht (oder bezüglich der frühen Photosoziolonicht um das Resümee eines Urteilsprozesses handelt: »Fast drei Viertel der abgegebenen Urteile beginnen mit einem ›Wenn‹, und das Urteil, das durch die erste Lektüre des Bildes hervorgerufen wird, bezieht sich fast immer auf dessen vorgestellte Gattung [...]« [Definition 100]. 30 »Da die Photographie allemal unter Rekurs auf die Funktion beurteilt wird, die sie in den Augen des Betrachters erfüllt oder nach dessen Meinung für diesen oder jenen Betrachter erfüllen könnte, nimmt das ästhetische Urteil meist die Form eines hypothetischen Urteils an, das sich auf die Anerkennung von ›Genres‹ stützt, deren Oberbegriffe sowohl die ›Vollendung‹ als auch den Bereich der Anwendung definieren.« [Definition 100; eig. Hervorh.] 31 »Diese zweifache Normenorientierung wird nirgendwo so deutlich sichtbar wie dort, wo sie ein- und dasselbe Subjekt zwingt, von sich aus eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was es gern tut, und dem, was es gern tun müsste: ›Das ist schön, aber ich käme nicht auf die Idee, so was aufzunehmen‹, ›Ja, das ist sehr schön, aber das muss man mögen; das ist nicht mein Stil‹[...]« [Definition 96; eig. Hervorh.]. 138
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gie: kaum) belegbares Phänomen.32 Indem »vorgezeigte« Photographien gewöhnlich mittels einer Vielzahl von begrifflichen Bestimmungen beurteilt werden, treten explizit die »Grenzen und Geltungsbedingungen« der Urteile zutage. Musste man den über Angenehmes Urteilenden bei Kant noch »verbessern und erinnern, er solle sagen, x ist mir angenehm«,33 so weist die mehrheitliche Photorezeption bei Bourdieu die Charakteristik auf, dass die »Befragten an die Grenzen und Geltungsbedingungen ihrer Urteile mit Beharrlichkeit selbst erinnern«.34 Während Kant dem ästhetischen Urteil relativierende Elemente abspricht, um auf diese Weise die empirische Faktizität des Allgemeingültigkeitsanspruchs hervorzuheben, betont Bourdieu die statistisch belegbaren Relativierungen präferentieller Urteile, um auf diese Weise den konzeptuellen Begriff des Allgemeingültigkeitsanspruchs zu »verwerfen«. Da der relativierende und hypothetische Charakter präferentieller Urteile aber nur die mehrheitlich gebräuchliche Photorezeption kennzeichnet, stellt sich die Frage, ob denn nicht wenigstens die marginalen Urteilsformen (in der Photosoziologie Bourdieus immerhin 25 Prozent) mit Kants Geschmacksurteilen übereinstimmen könnten. Jenseits (photo-) soziologischer Befragungssituationen konstatiert Bourdieu ja durchaus Aussagen und Reaktionen, die im Affekt und ebenfalls einstellig erfolgen. Die Möglichkeit eines offenen »Drauflos-Redens«, das die im Wenn und Aber bemühten Konventionen außer Kraft setzt, wird etwa im Rausch von Volksfesten registriert,35 aber auch mit der vorsichtigen Idealisierung der »Expressivität des Sprechers ›von der 32 »Erinnern wir uns daran, dass nach Kant das Paradox des ästhetischen Urteils in dem Umstand begründet ist, dass es zwar nach Allgemeinheit strebt, aber sich zu seiner Formulierung nicht bestimmter Begriffe bedient. Die verbreitete Einstellung zu vorgezeigten Photographien ist genau umgekehrt.« [Definition 100] 33 Eine sprecherbezogene Positionierung verlangt Kant nur für das Urteil über das Angenehme: »Daher ist er [der über Angenehmes Urteilende] es gern zufrieden, dass, wenn er sagt: der Kanariensekt ist angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbessere und ihn erinnere, er solle sagen: er ist mir angenehm [...]« [KdU 18 f.]. 34 »Diese Form wie Existenz des Bildes seiner Funktion unterordnende ›Ästhetik‹ ist notwendig konditional und pluralistisch: Die Beharrlichkeit, mit der die Befragten aus diesen Schichten an die Grenzen und Geltungsbedingungen ihrer Urteile erinnern [...] belegt hinlänglich, dass sie die Vorstellung verwerfen, ein Photo könne ›allgemein‹ gefallen.« [Unterschiede 82; vgl.: Definition 98] 35 So verweist Bourdieu auf: »die lebhafte Handlung und den Feuereifer der Akteure, [die] Geschmack und Sinne am Fest befriedigen, am offenen DrauflosReden und am offenen Gelächter, die befreien, indem sie die soziale Welt auf den Kopf stellen, indem sie die Konventionen, Anstand und Sitte, für Momente außer Kraft setzen.« [Unterschiede 67] 139
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Straße‹« [Unterschiede 66 f.] pointiert. Im Rahmen ästhetischer Erfahrungen werden solche Formen einer unmittelbaren sprachlichen Reaktion von Bourdieu dann allerdings wieder ausgeschlossen. Obwohl die entsprechende Überraschung grundsätzlich eingeräumt wurde (vgl.: Definition 87) und ebenfalls die Verunsicherung, die der Orientierung hypothetischer Urteile an »Genres« dann widerfährt, wenn die »semantische Vieldeutigkeit des Bildes« die Betrachtung zu leiten beginnt,36 wird die These der sozialen Mittelbarkeit nicht grundsätzlich aufgehoben. Unter der Annahme eines ununterbrochen wirksamen Anspruchs auf Gattungszuordnung können die »ungewöhnlichsten Bilder« allenfalls zu »unvermittelter Abwehr« führen,37 nicht aber zu unvermittelter Zustimmung im Sinne von Kants Geschmacksurteilen. Kant versucht, den Allgemeingültigkeitsanspruch von ästhetischen Geschmacksaussagen anschließend an den Aspekt einer fehlenden sprachlichen Relativierung dahingehend zu präzisieren, dass er diesen Anspruch als Bedeutungsgehalt des Prädikats »schön« darstellt. Wir formulieren demnach ästhetische Urteile als einstellig unrelativierte nicht, um ihren Geltungsanspruch zu unterstreichen – vielmehr sind umgekehrt die fehlende Relativität und der universale Geltungsanspruch Symptome der Prädikationsleistung reiner Geschmacksurteile, wie sie durch das Prädikat »schön« stellvertretend für die gesamte Urteilskonzeption zum Ausdruck kommen. So sollen wir uns nach Kant davon überzeugen: »[...] dass dieser Anspruch auf Allgemeingültigkeit so wesentlich zu einem Urteil gehöre, wodurch wir etwas für schön erklären, dass, ohne dieselbe dabei zu denken, es niemand in die Gedanken kommen würde, diesen Ausdruck zu gebrauchen, sondern alles, was ohne Begriff gefällt, zum Angenehmen gezählt werden würde [...]« [KdU 21 f.]. Der hier angesprochene Zusammenhang wirft nun die Frage auf, was mit dem Prädikat »schön« oder einer Schönheitszusprache eigentlich ausgedrückt wird. Gegen eine Interpretation des Prädikats »schön«, die diesem material wertschätzende Aspekte zutraut, spricht zunächst einmal die Tatsache, dass 36 »Durch die semantische Vieldeutigkeit des Bildes verunsichert und unfähig zu akzeptieren, dass das Bedeutete im Bedeutenden selbst beschlossen liegt, erfindet man einen Sinn, indem man lediglich das Subjekt erfindet, das dem unbedeutenden Gegenstand dadurch zu einer Bedeutung verhelfen könnte, dass es ihm eine Funktion überträgt.« [Definition 307] 37 »Unter den ungewöhnlichsten Bildern vermögen die Photoamateure nur solche Formen zu entschlüsseln, die eine photographische Tradition haben [...]. Im Gegensatz dazu behindert der Verstoß gegen die Normen der kanonischen Ästhetik [...] ein verständiges Urteil, sofern er nicht unvermittelte Abwehr hervorruft.« [Definition 87] 140
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reine Geschmacksurteile keine evaluative Eignung haben, sie dienen nicht dazu, ästhetische Objekte untereinander zu vergleichen und enthalten demzufolge auch keine Superlative (z.B.: dieses X ist das Schönste). Sie sind genauer gesagt grundsätzlich affirmativ.38 Man kann den »Ausdruck« schön, ohne zugleich einschneidende theoretische Konsequenzen fürchten zu müssen, deshalb als sprachlich formalisierten Ausdruck ästhetischer Relevanz interpretieren.39 Dem Prädikat lassen sich weder vermögenspsychologisch präzisere Bestimmungen abgewinnen – denn das »freie Spiel« verläuft nach keinem einheitlichen Muster, außer eben dem der reflektierenden Urteilskraft, zu einer »Vorstellung wodurch ein Gegenstand gegeben ist«, einen Begriff zu suchen – noch kann es, aus dem gleichen Grund, eine werktheoretische Präzisierung der jeweils schön genannten Situationen oder Objekte geben.40 Andererseits bindet Kant den Allgemeingültigkeitsanspruch nicht nur an den Ausdruck »schön«, sondern ebenfalls an jene Urteile, »wodurch wir etwas für schön erklären«, so dass der Eindruck, das Urteilsmerkmal des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs »gehöre wesentlich« zum ästhetischen Urteil, daher auch die gesamte Prädikationsleistung reiner Geschmacksurteile betont, wie sie jenseits der Termini »schön« oder »Schönheit« nämlich im konzeptuellen Profil ästhetischer Schönheitszusprachen erblickt werden kann. 38 Bis auf zwei Ergänzungen ist folgende Seelsche Feststellung durchaus zutreffend: »Das eigentliche Geschmacksurteil sagt nichts über seinen Gegenstand aus, es bejaht oder verneint lediglich, dass sich hier eine Wahrnehmung lohnt [...]« [Seel Entzweiung 37]. Verneinen, dass sich eine Wahrnehmung lohnt, können Kants Geschmacksurteile aber entgegen ihrer Bezeichnung als »Urteile der Lust oder Unlust« genaugenommen nicht, da sie immer als Lust bejahende, nicht Unlust signalisierende angeführt werden. Und andererseits bleibt gegenüber der Seelschen Feststellung grundsätzlich anzumerken, dass der Hinweis auf eine lohnende Wahrnehmung bereits mehr als »nichts« über einen Gegenstand aussagt (s.u.). 39 Dies macht z.B. Köhler: »Im Übrigen bleibt festzustellen, dass wir den Ausdruck »schön« [...] in einer Weise verwenden, die mehr umfasst als den klassischen Kanon »schöner« Dinge. Wir gebrauchen »schön« stets in der weiten Bedeutung von ästhetisch relevant (also im Sinne einer allgemeinen Qualifizierung des Korrelats ästhetischer Erfahrung und Beurteilung).« [Georg Köhler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung; Berlin, New York (W. de Gruyter) 1980, S. X.] Vgl. auch das diesem Kapitel vorangestellte Wittgenstein-Motto. 40 »Durch dieses Urteil mitteilbar ist nicht, dass der Gegenstand die oder die Eigenschaft hat, sondern nur, dass es einem in seiner Gegenwart charakteristisch erging. Diese Charakteristik wird durch den Ausdruck ›schön‹ angegeben.« [Böhme Kant 18] 141
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Sowohl mit der von Kant über den Allgemeingültigkeitsanspruch stilisierten transzendentalen Perspektive als auch mit der Konzentration auf den Begriff des Schönen, rückt deutlich die gesellschaftliche Bedeutung ästhetischer Phänomene in den Vordergrund.41 Entsprechend lässt uns Kant bereits in der zweiten Anmerkung der Analytik des Schönen wissen: »Nur in der Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben, wovon der Grund in der Folge angezeigt werden wird«.42 Kants Kritik des Geschmacks ist am Begriff des Schönen orientiert, weil sie sich nicht auf die private Dimension ästhetischer Erfahrung konzentriert, sondern den gesellschaftlichen Rahmen geschmacklicher Orientierungen (zwar nicht, wie bei Bourdieu, als Determinante ästhetischen Erlebens, aber doch als den öffentlichen und diskursiven Kontext seiner Artikulation) fokussiert. Indem Kant das ästhetische Urteil mit dem Begriff des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs ausstattet, bezieht er sich auf diesen kulturtheoretischen Gehalt des Prädikats »schön«, der nun nicht mehr selbst auf der Seite einer irgend gearteten Gegenstandsqualifikation steht, sondern vielmehr das Verhältnis ästhetischer Rezeptionshandlungen zur Gesellschaft und solche Rezeptionshandlungen als öffentliche Phänomene thematisiert. Die gesellschaftlichen und kulturellen Konsequenzen einer solchen Theorie von Allgemeingültigkeitsanspruch erhebenden Schönheitszusprachen sind vor allem kritisch registriert und als Anspruch auf eine repressive »Harmonisierung« ausgelegt worden. So hat etwa Wolfgang Welsch die Ästhetik des Schönen (im Gegensatz zu einer Ästhetik des Erhabenen) als »Ästhetik der Beschönigung« [s.u.: 88] ausgelegt, da unter ihrem Urteilsbegriff Konsens-
41 Schon Burke, dessen Ästhetik für Kants ästhetisches Frühwerk (ders.: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen; z.B.: Leipzig (InselVerlag) o. Jahresangabe) leitend war, hatte die Affekte zum Schönen auf den »Trieb zur Gesellschaft« bezogen, währenddessen die zum Erhabenen auf den menschlichen »Selbsterhaltungstrieb« zurückgeführt wurden (vgl. Burke: Vom Erhabenen und Schönen; Hamburg (Meiner) 1989, S. 72 ff. und Kants Zitation in: KdU 128). 42 Kant wiederholt den Zusammenhang in der Allgemeinen Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile: »Noch ist anzumerken, dass, obgleich das Wohlgefallen am Schönen ebenso wohl als das am Erhabenen nicht allein durch allgemeine Mitteilbarkeit unter den anderen ästhetischen Urteilen kenntlich unterschieden ist, sondern auch durch diese Eigenschaft, in Beziehung auf Gesellschaft (in der es sich mitteilen lässt), ein Interesse bekommt [...]« [KdU 126]. 142
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
zwänge verborgen seien, wir heutzutage aber Dissenssituationen zu akzeptieren lernen müssten.43 Dieser Einwand spricht meiner Ansicht nach nicht grundsätzlich gegen Kants Analytik des Schönen oder ihren Urteilsbegriff, sondern kann sogar umgekehrt dessen pluralistischen Charakter hervorheben. Denn wenn es als Aufgabe einer Ästhetik des Erhabenen anzusehen ist, den »allgegenwärtigen Trend zur Einschleifung, Unterdrückung, Uniformierung des Differenten« [Welsch Denken 164 f.] aufzuhalten, so würde sich ein solches Programm in einen Selbstwiderspruch verwickeln, sobald Heterogenität als eine verbindliche Norm postuliert würde, die zum Ausschluss nicht selbstrelativer Urteile führt. Auch eine »pluralistische Ästhetik« schlägt, wie sich an Bourdieus Photosoziologie deutlich erkennen lässt, dann in den Trend zur »Uniformierung des Differenten« um, wenn die Relativität von Urteilen und Handlungen als ausnahmslose Praxis verstanden und normativ behauptet wird. Dass Kants Ästhetik kulturelle Pluralität nivelliere, ist also schon von Bourdieu (soziologisch) thematisiert worden. Den Anspruch ästhetischer Urteile auf Universalität wertet Bourdieu entsprechend als Versuch einer »Negation der Relativität der Standpunkte«,44 die von ihm empirisch dokumentiert werden sollte. Die Kritik basiert offensichtlich auf der Annahme, dass der ästhetische Allgemeingültigkeitsanspruch tatsächlich Auswirkungen auf die Geltung der Urteile habe, d.h. Bourdieu liest den Begriff als Hinweis darauf, dass der Philosoph dem ästhetischen Urteil tatsächlich eine universale Geltung zugestehe. Und natürlich kollidiert der solchermaßen verstandene Kantsche Urteilsbegriff mit dem »pluralistischen« Geschmacksurteil, das Bourdieu zuerst in der Photosoziologie dokumentiert hat und bei dem sich die Bedeutung des jeweils Beurteilten daraus ergibt, »was es für diesen oder jenen ist«.45
43 »Einer solchen Verfassung der Pluralität und ihres Widerstreits entspricht nicht eine Ästhetik des Schönen, sondern allein eine Ästhetik des Erhabenen. Mit dem Schönen zielt man stets auf Zusammenstimmung, Harmonie und Ganzheit des Differenten – eben dies aber ist hier prinzipiell verwehrt. Es herrscht vielmehr radikale Unvereinbarkeit. Ihr vermag allein eine Ästhetik des Erhabenen gerecht zu werden.« [Welsch: Ästhetisches Denken; Stuttgart 1990, S. 164 (vgl. a. S. 41 ff., 79 ff., 157 ff.); zitiert als: ders. Denken] 44 Die »Urteile der im Kunstbereich engagierten Handelnden« werden demnach »im Namen eines Anspruchs auf Universalität, auf ein absolutes Urteil formuliert, das gerade die Negation der Relativität der Standpunkte darstellt.« [Bourdieu Genese 27] 45 »Der Gebrauch, der gemeinhin von der Photographie gemacht wird, schließt die Frage nach der Universalität des produzierten oder betrachteten Bildes nahezu 143
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Und doch handelt es sich bei dem Konflikt zwischen photosoziologischer Empirie und transzendentalphilosophischer Ästhetik nur um einen scheinbaren Antagonismus, denn Kant spricht die Universalität nicht der Geltung eines jeden ästhetischen Urteils zu, sondern er versucht, sie nur für den Anspruch auf eine solche Geltung zu erweisen. Der »reine Geschmack« ist deshalb gerade nicht, wie Bourdieu annimmt, ein »mit allen Attributen der Allgemeingültigkeit ausgestattete[r] Geschmack« [Meditationen 99], sondern nur ein mit dem Anspruch auf solche Attribute ausgestatteter Geschmack. Und dieser Anspruch, der zur Veröffentlichung subjektiv bedingter, spracharmer Verweise auf ästhetisch relevante Objekte führt, betont die Pluralität der Kultur par excellence und zwar jenseits aller soziokulturellen Relativierbarkeit. Deshalb kann es angesichts der Urteilskonzeption nicht überraschen, wenn Kant entgegen der Ansicht seiner (postmodernen) Kritiker explizit betont, dass das Geschmacksurteil »pluralistisch« sei.46 Durch ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit werden die ästhetischen Urteile gerade nicht stabilisiert, vielmehr wird ihre geltungstheoretisch und sprachlich umstrittene Konstitution zusätzlich potenziert und erscheint nun als außerordentlich prekär. Das Beharren auf dem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch zeigt sogar, dass Kant unter dem Begriff des Schönen alles andere als eine »Harmonisierung« diskutiert, vielmehr wird die faktische Divergenz reiner ästhetischer Urteile, die sich notwendig aus ihrer Konzeption und dem vorgesehenen sprachlichen Profil ergibt, philosophisch gesichert, womit genaugenommen eigentlich erst eine ernstzunehmende Pluralität des Ästhetischen entworfen wäre. Im Gegensatz zum Urteilsbegriff der »pluralistischen Ästhetik« (Bourdieus) artikulieren Kants Geschmacksurteile, so sehr sie mit dem Allgemeingültigkeitsanspruch auf die »Zusammenstimmung« des Differenten abzuzielen versuchen, zweifellos »radikal Unvereinbares«, das, schaut man zudem auf die sprachliche Erscheinungsweise der ästhetischen Erlebnisse, nicht einmal ansatzweise »harmonische« Vermittlung zulässt. Das Problem der sprachlichen, diskursiven und letztlich kulturellen Vermittlung je unvermitaus. Dessen Bedeutung folgt nämlich nicht aus dem, was es an und für sich selbst ist, sondern aus dem, was es für diesen oder jenen ist.« [Definition 99] 46 Dieser pluralistische Charakter kommt dem Geschmacksurteil wiederum vor der Begründbarkeit des Allgemeingültigkeitsanspruchs zu: »Wenn also das Geschmacksurteil nicht für egoistisch, sondern seiner inneren Natur nach, d.i. um seiner selbst, nicht um der Beispiele willen, die andere von ihrem Geschmack geben, notwendig als pluralistisch gelten muss; wenn man es als ein solches würdigt, welches zugleich verlangen darf, dass jedermann ihm beipflichten soll: so muss ihm irgendein (es sei objektives oder subjektives) Prinzip a priori zum Grunde liegen [...]« [KdU 130]. 144
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
telbaren ästhetischen Erlebens sehe ich gerade in Kants Verknüpfung der Geschmacksurteile mit einem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch auf besondere Weise hervorgehoben. Und erst dadurch, dass Kant den Allgemeingültigkeitsanspruch als ein den reinen Geschmacksurteilen auch zustehendes Urteilsmerkmal vorstellt, erhalten diese den Status von ästhetischen Gefallenskundgaben, die an einen durch ihre Veröffentlichung aufgezeigten und zugleich konstituierten Gesprächskontext (s.u. Kap. 6) adressiert sind.
4.3 Reine Geschmacksurteile als öffentliche Gefallenskundgaben Kants ästhetische Urteile treten zwar nicht thematisch explizit, aber doch mit unbezweifelbarer Konsequenz öffentlich auf. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine publizistische Öffentlichkeit, wie sie in Kants Aufklärungsartikel angesprochen wurde,47 sondern um eine Form der potentiellen öffentlichen Präsenz. Potentiell deshalb, weil die Geschmacksurteile über ihren subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch strukturell an Zuhörer adressiert sind, ohne dass als Bedingung ihrer Aussprache die Anwesenheit von Zuhörern vorausgesetzt wäre. Das Verhältnis der reinen Geschmacksurteile zur Öffentlichkeit ergibt sich vielmehr konzeptuell bereits aus der Kombination ihrer Urteilsmerkmale mit dem Allgemeingültigkeitsanspruch. Denn wegen dieser »vorgeblichen« Gemeingültigkeit nennt Kant seine Urteile auch »publike« [KdU 22]. Unverkennbar ist, dass eben diese Konzeption den Status der Geschmacksurteile zugleich prekär macht. Zur Vorbereitung einer möglichen Übertragung der Kantschen Konzeption auf die Phototheorie möchte ich nun einen knappen Überblick über ihre absehbaren öffentlichkeitstheoretischen und diskursiven Konsequenzen geben. Das Thema der Veröffentlichung reiner Geschmacksurteile lässt sich bei Kant einerseits schon jenen Textpassagen entnehmen, in denen das begriffliche Pendant des Allgemeingültigkeitsanspruchs, die subjektiv allgemeine Mitteilbarkeit erläutert wird.48 Der Begriff der subjektiv allgemeinen Mitteilbarkeit hat zwei verschiedene Bestimmungen. Erstens meint er etwas, das man mit anderen teilt, eine Gemeinsamkeit – und hier betont er die Begrün47 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), z.B. in: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen; Stuttgart (Reclam) 1996 (bibliographisch ergänzte Ausgabe), S. 9-17. 48 Dass das zweite und das vierte Moment der Analytik des Schönen thematisch ähnlich zusammen gehören wie das erste und das dritte, hat Kulenkampff betont. Sie sind allerdings keineswegs identisch, wenn man sich auf den unterschiedlichen Stellenwert des Öffentlichkeitsaspekts ästhetischen Urteilens konzentriert. 145
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
dung des Allgemeingültigkeitsanspruchs, die Kant unter Verweis auf die Universalität der Bedingungen ästhetischer Erfahrung führt.49 Zweitens hat der Begriff jedoch auch den heutzutage verständlichen, buchstäblichen Sinn einer Artikulation, die sich an andere als Adressaten wendet, da nur die artikulierten Urteile tatsächlich allgemeine Beistimmung einfordern können. Der Aspekt der Veröffentlichung lässt sich andererseits auch am Urteilsbegriff selbst nachvollziehen. Zwar ist dieser dem Zeitalter entsprechend ein vermögenspsychologischer, wie er seit der Logik von Port Royal gängig war.50 Er hätte damit nur eine implizit propositionale Form und würde nicht als laut- oder schriftsprachlicher Satz, sondern primär als mentales respektive psychologisches Ereignis verstanden. Von diesem Urteilsbegriff weicht das reine Geschmacksurteil offensichtlich ab, denn es ist nicht mehr nur ein mentales/ psychologisches Urteilsereignis, das eine sprachlich propositionale Form impliziert, sondern es ist auf funktional bedeutsame Weise ein öffentlich artikulierter Satz! Reine Geschmacksurteile, die mit einem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch auftreten, lassen sich kaum als Urteile im Rahmen stiller Selbstgespräche auffassen, denn ihr Ansinnen wird bei Kant auch als »Zumutung« beschrieben und als ein einforderndes Verlangen, aufgrund dessen wir den »Beifall« anderer erwarten. Damit erweitert sich der vermögenspsychologische Urteilsbegriff des wissenschaftshistorisch mentalistischen Paradigmas (Kuhn) nicht nur um linguistische sondern ebenfalls um sprachperformative Aspekte,51 denn da Kants reines Geschmacksurteil ein gesagtes, ausgesprochenes Urteil ist, tritt es als Bestandteil öffentlich führbarer Geschmackskontroversen auf. (Kants Überlegungen des Dialektikkapitels weisen in diese Richtung, wenn sie die Möglichkeit des Geschmacksstreits erörtern.) 49 »Das Absehen von der bestimmten Gegebenheit eines Objekts einerseits und der transzendentale Blick auf das reine Leisten andererseits, das sich mit keinem Ich identifizieren lässt, macht den Charakter der Allgemeingültigkeit denkbar, der in der Kunsterfahrung stets beansprucht wird.« [Bubner Bedingungen 37] 50 Vgl.: Ernst Tugendhat, Ursula Wolf: Logisch-semantische Propädeutik; Stuttgart (Reclam) 1993, S. 17 ff. 51 Mit »sprachlicher Performativität« spiele ich nicht auf die Theorien Austins oder Searles an, sondern auf ein Thema, das Barthes eher unsystematisch mit dem Begriff der Interlokution erfasst hat und in dem, wie ich glaube, das Thema des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs zum Ausdruck kommt (s. Kap. 6.5). In den prominenten Begriffen per-, il- und lokutionärer Sprache wird dieser Aspekt genauso übergangen wie das Phänomen propositionsloser Interjektionen, das Austin und Searle gleichermaßen aus ihren Untersuchungen ausgesondert haben (vgl.: J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte; Stuttgart (Reclam) 2002, 11. Vorlesung und J. R. Searle: Sprechakte; F.a.M. 1983, 2. Kapitel). 146
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
Aufgrund der bereits genannten Eigenschaften erscheint allerdings die Vorstellung absurd, reine Geschmacksurteile seien Aussagen, die in Geschmacksdiskursen eine kommunikative Funktion zu erfüllen hätten.52 Sie haben offensichtlich keine diskursive Eignung, und selbst der minimalste Dialog, der sich mit ihnen erzeugen lässt, kann den Eindruck einer tendenziellen Sprachlosigkeit nicht abstreifen. (A: »Dieses X ist schön.«; B: »Ja, dieses X ist schön.«) Nach allem Gesagten lassen sich die reinen Geschmacksurteile eigentlich nur noch als öffentliche, aber zunächst monologische Bekenntnisse zu ästhetischen Phänomenen verstehen, die unmittelbar in und zu präsenten Situationen gemacht werden und die die ästhetischen Qualitäten solcher Situationen weder interpretieren noch evaluieren, sondern pauschal als momentan wirkungsvolle ausgeben (und, nur in diesem Sinne, affirmieren). Entsprechend hatte schon Kulenkampff in seiner umfangreichen Arbeit zu Kants Logik des ästhetischen Urteils festgestellt, dass das artikulierte Geschmacksurteil nur betont, dass der qualifizierte Gegenstand »einer ästhetischen Betrachtung viel Material und Stoff« bietet: »Zunächst wäre klar, warum der Ausdruck ›schön‹ kein einfaches Gegenstandsprädikat ist, das mit dem Begriff des Gegenstandes zu tun hat, denn der Satz ›dieses x ist schön‹ besagt ja nun [nur ?] soviel wie: dieser Gegenstand ist von der Art, einer ästhetischen Betrachtung viel Material oder Stoff zu ihrer kontrollierten Phantasie zu bieten; hinzuzusetzen wäre noch: möglicherweise, denn was man so ausdrückt, ist mehr eine Erwartung als eine Gewissheit.« [Kulenkampff Logik 121]
In der weiterführenden Betrachtung kontrastiert Kulenkampff seine überzeugende Einschätzung der Prädikationsleistung des reinen Geschmacksurteils allerdings mit interpretativ evaluativen Ansprüchen und belastet es damit mit einer Aufgabe, der es konzeptuell nicht genügen kann. Als Ausdruck einer enttäuschbaren Erwartung53 würde das Geschmacksurteil nicht mehr eine prädikativ unscharfe »Gewissheit« artikulieren, sondern, analog zu Bourdieus
52 Kulenkampff hat einmal versucht, eine »aufschlussreichere Theorie darüber aufzudecken, was beim Austausch von Geschmacksurteilen passiert und welchen Bedingungen die (nennen wir sie so) ästhetische Kommunikation unterliegt.« [Ders.: »Vom Geschmack als einer Art von sensus communis«– Versuch einer Neubestimmung des Geschmacksurteils; in: Andrea Esser (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik; Berlin (Akademie Verlag) 1995, S. 25-48, hier 25.] 53 »Die so [durch die Artikulation reiner Geschmacksurteile] ausgedrückte Erwartung kann enttäuscht werden, nämlich dann, wenn das erwartungsfroh als schön Angesprochene sich bei näherem Hinsehen als schal und langweilig erweist.« [Kulenkampff Logik 121] 147
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
»ästhetischen Hypothesen«, ein unter dem Einbezug von Urteilsmaßstäben selbstreflexiv gewordenes Urteil darstellen. Natürlich muss die »bestimmte Abfolge ästhetischer Betrachtungen« mehr und andere Bestimmungen hervorbringen, die letztlich sogar die indifferent affirmierende Reaktion fragwürdig erscheinen lassen,54 aber alle Erwartungen in eine diesbezügliche Leistungsfähigkeit können Kants Geschmacksurteile letztlich nur als das erweisen, was sie nicht sind. Wenn Gefallenskundgaben keinerlei Diskurseignung besitzen, weil sie der »bestimmten Abfolge ästhetischer Betrachtungen« selbst nicht schon angehören, dann könnte ihr Verhältnis zu Geschmacksdiskursen aber immerhin doch auf zweierlei Weise vermittelt gedacht werden: als initiierender Anlass solcher Diskurse oder als abschließendes Resümee. Als resümierende und notgedrungen pointierte Schlussbetrachtungen ausführlicherer ästhetischer Debatten sind sie jedoch ungeeignet, weil sie damit jenen deduktiven Charakter erhielten, den Kant ihnen nicht zugestehen möchte. Auch der Allgemeingültigkeitsanspruch wäre in solchen abschließenden Resümees nicht unterzubringen. Denn gäben solche den in ästhetischen Debatten erreichten Konsens wieder, so handelte es sich nicht mehr um eine beanspruchte, aber faktisch nicht vorliegende Allgemeingültigkeit, sondern eben um die empirisch erreichte, die Kant ausdrücklich nicht gemeint hat.55 Daher ist anzunehmen, dass »die Äußerung, etwas sei schön, [...] in der Tat eher am Beginn als am Schluss einer Serie von Betrachtungen [...]« [Kulenkampff Logik 121] steht. Im Kontext seiner Theorie ästhetischer Rationalität hat Martin Seel genau diese Eignung der Geschmacksurteile kritisiert.56 So reklamiert er die »leitende Weigerung Kants, das ästhetische Urteil zu verstehen als Eröffnungsschritt, vorläufigen Endpunkt oder beiläufige Zwischenstation einer stets möglichen Kritik, die argumentativ bestritten und beglaubigt werden kann« [Seel Entzweiung 38]. Zu dieser Einschätzung gelangt Seel vor allem deshalb, 54 »Vor dem Eintritt in die bestimmte Abfolge ästhetischer Betrachtungen, und das heißt jetzt: solange ein Gegenstand lediglich als schön angesprochen wird, ist die Beziehung zu ihm so unbestimmt wie in Kants oft wiederkehrender Formel ›Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird‹.« [Kulenkampff Logik 121] 55 Denn die »Allgemeingültigkeit [soll] sich nicht auf Stimmensammlung und Herumfragen bei anderen wegen ihrer Art zu empfinden gründen, sondern gleichsam auf einer Autonomie des über das Gefühl der Lust (an der gegebenen Vorstellung) urteilenden Subjekts, d.i. auf seinem eignen Geschmacke beruhen [...]« [KdU 135]. 56 Die folgenden Zitationen beziehen sich besonders auf: Martin Seel: Was ist ein ästhetisches Argument?; in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S.42 ff. (zitiert als: ders. Argument); und ders.: Entzweiung. 148
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weil er Kants Geschmacksurteile mit der Anforderung konfrontiert, die sich aus seiner eigenen Theorie für ästhetische Argumente ergibt, nämlich der nach einer argumentativen Begründbarkeit, der Kants Geschmacksurteile ja tatsächlich nicht gerecht werden können. Andererseits ist gerade Seels differenziert dargestellter Urteilsbegriff geeignet zu zeigen, dass Kants Urteile nur als solche »Eröffnungsschritte« ästhetischer Diskurse gedacht werden können. Obwohl Gefallenskundgaben im Sinne Kants nicht als solitäre Aussagen in Seels ästhetische Urteilstheorie eingegangen sind, entspricht das, was sie gemäß ihrer Konzeption zum Ausdruck bringen, genau jener die ästhetische Kritik authentisierenden Komponente. Denn Authentizität ästhetischer Rede bedeutet bei Seel, dass sich diese wesentlich aus einem aktuellen Engagement für ein gegenwärtig wirksames ästhetisches Objekt speist,57 so dass eine komparative Distanz, wie sie in den klassifizierenden Interpretationen der Kunstgeschichte, aber auch in präferentiellen Gefallensbekundungen zum Ausdruck kommt, als unzulässige Einstellung ästhetischer Rede erwiesen wäre. Da die kunstkritische Rede »im Interesse der aktuellen ästhetischen Wahrnehmung« [Seel Argument 51] sprechen soll, muss die ästhetische Kritik »aktuell relevante Ausdrucksfunktionen« konstatieren. Gefallenskundgaben artikulierten also genau jene Zustände, die sich als notwendige Bedingungen authentisch ästhetischer Kritik verstehen lassen, ohne die ästhetische Objekte bloß Zeugnisse, nicht Medien wären.58 Ginge die ästhetische Kritik nicht von ihnen aus, indem sie für oder gegen sie argumentiert, so hätten wir es statt mit kunstkritischen nur mit kunsthistorischen Artikulationen, das heißt distanzierten »Kommentaren« zu tun. Solche ästhetischen Wirkungsartikulationen hat Seel im Unterschied zu den »Kommentaren« auch als »Äußerungen der Konfrontation« bezeichnet. »[Sie] machen Angaben über die Wirkung, die ein ästhetisches Objekt auf den Wahrnehmenden subjektiv übt.« [Seel Entzweiung 244] Für diese Wirkung hat Seel unter anderem auch den zutreffenden Ausdruck der »Ergriffenheit« verwendet. Da »das ästhetische Urteil als die Konsequenz eines nichtneutralen Verstehens« angesehen werden muss [Seel Argument 48 f.], kann eine Rede, der solche Wirkungsangaben fehlen oder die nicht auf Ergriffen-
57 Seel erklärt dabei die Kunst zum exemplarischen Gegenstandsbereich, wenn er betont, dass sich die Ästhetik in ihrem Anspruch, über allgemeine ästhetische Objekte sprechen zu können, wegen besonderer Anschaulichkeit primär auf Kunstbetrachtungen konzentrieren sollte [vgl.: Seel Entzweiung 35]. 58 Vgl.: Seel Argument 52. Die gleiche Begrifflichkeit findet sich in der Besprechung von Dantos Kunsttheorie. Vgl.: Seel: Arthur C. Danto; Philosophische Rundschau, Jahrgang 32 (1985), S. 264 ff. 149
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
heitserlebnissen fußt, nur noch als ästhetisch irrationale Bezugnahme bezeichnet werden.59 Obwohl diese Wirkungsangaben die ästhetische Rede als ästhetische authentisieren, stellt sich aber auch bei Seel die Frage, wie sich ihre solitäre Artikulation zur Urteilstheorie verhält, welche Position entsprechende Äußerungen also in der systematischen Darstellung ästhetischer Argumente erlangen. Zwar nimmt Seel an, dass die interpretative Auseinandersetzung mit subjektiven Reaktionen beginnt und von ihnen möglicherweise auch veranlasst wird, (so spricht er zutreffend von den »Antrieben der ästhetischen Lust« [Seel Argument 57]). Als sprachlich solitäre Artikulationen würden solche Äußerungen »ästhetischer Lust« aber den idiosynkratischen »Äußerungen der Vorliebe« zum Verwechseln ähnlich sehen. In diesen »Äußerungen der Vorliebe« wird zwar ebenfalls »ein unmittelbar subjektiver Vorzug zum Ausdruck gebracht« [Seel Argument 45], sie sind laut Seels Charakterisierung aber Äußerungen, bei denen »zu weitergehenden Begründungen kein Bedarf besteht«, weil sie »ohne ein Verlangen nach Gründen« [ebd.] gefällt oder artikuliert werden. Denn dort, wo das eigene Urteil als Ausdruck einer persönlichen Affinität verstanden wird, ist die Benennung bestätigender Gründe demnach nicht erforderlich, es stellt daher keinen Anlass ästhetischer Kritik und entsprechender Argumentationen dar: »Um Vorlieben – und Abneigungen – handelt es sich immer da, wo die wertende Beziehung als Ausdruck einer ausgesprochen persönlichen Affinität verstanden wird.« [ebd.] Da das »Urteil der Vorliebe« ein Urteil ist, das persönlichen Präferenzen folgt, wird es von Seel vor allem als ein geltungshaft selbstgenügsames verstanden; es ergeht ohne das Bedürfnis nach »weiteren Angaben« und »ohne das Verlangen nach Gründen«. Entsprechend hat Martin Seel die von Gefallenskundgaben artikulierten Zustände zwar als thematisch notwendige rehabilitiert, ihnen zugleich aber nicht das Recht eigenständiger, thematisch adäquater, ästhetischer Artikulationstypen zugestanden. Ästhetische Argumente bedürfen zwar jener komplex affirmierenden »Antriebe der ästhetischen Lust« für ihre thematische Angemessenheit. Weil aber entsprechend motivierte Gefallenskundgaben schwer von idiosynkratischen »Urteilen der Vorliebe« zu unterscheiden sind, hat Seel ihnen eine thematisch ästhetisch zu nennende Existenz vor ihrer möglichen argumentativen Rechtfertigung nicht zugestanden und sie, insofern sie den Charakter affekthafter Artikulationen aufweisen, aus dem artikulierenden ästhetischen Rezeptionsverhalten ausgeschlossen. 59 »Ästhetisch irrational ist das Fällen ästhetischer Urteile, das sich auf keine ästhetisch erfahrende Beurteilung stützt.« [Seel Argument 61] Hier wird auch ersichtlich, dass der Seelsche Urteilsbegriff ein prätentiös nachgängiger ist, der der »ästhetisch erfahrenden Beurteilung« folgt. 150
4. KANTS KONZEPTION REINER GESCHMACKSURTEILE
Um den idiosynkratischen Beigeschmack zu entschärfen, den solche Gefallenskundgaben dann aufweisen, wenn sie solitär artikuliert werden, interpretiert Seel sie vielmehr vorausgreifend als »spontane Wertungen« und »testende Deutungsversuche« [s.o. 61]. Dieses argumentativ ausbaufähige Potential steht der »spontanen Wertung« allerdings erst dann zu, wenn sie schon Bestandteil einer auslegenden Tätigkeit der Kritik geworden ist. Hat diese noch nicht eingesetzt, so handelt es sich bei ihrem solitären Auftreten um Gefallenskundgaben, deren Abgrenzung zu den »Urteilen der Vorliebe« ebenso schwer durchführbar zu sein scheint wie bei den reinen Geschmacksurteilen, die sich ja laut Kant ihrer theoretischen Konzeption gleichfalls nie zuverlässig »subsumieren« lassen. Der von Seel formulierte Maßstab des geltungsbezogenen Selbstverständnisses Urteilender, den schon Kant als Differenzierungsmerkmal des Urteilsspektrums verwendet hatte, macht es möglich, Kants Geschmacksurteile zwischen den »Urteilen der Vorliebe« und den argumentationstheoretisch authorisierten »spontanen Wertungen« der ästhetischen Kritik zu verorten. Denn von Kants Geschmacksurteilen lässt sich zwar sagen, dass durch ihre »wertende Beziehung« ein »unmittelbar subjektiver Vorzug zum Ausdruck gebracht« wird, gleichwohl werden sie aber über ihren subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch nicht als »Ausdruck einer ausgesprochen persönlichen Affinität verstanden«. Weil sich die Auslegung von Gefallenskundgaben als »spontane Wertungen« in der Seelschen Theorie des ästhetischen Argumentierens aber letztlich nur durch die rhetorische Entfaltung ästhetischer Argumente erweisen kann, müssten solche Geschmacksurteile, insofern sie solitär artikuliert werden, eben doch als »Eröffnungsschritte« anschließender argumentativer Bestimmungen gelten. Das schmälert ja keineswegs ihren theoretischen Status, denn es zeigt sich nun, dass sich in der Menge artikulierter, subjektiver Vorlieben solche finden lassen, die sich, anders als Bourdieus »hypothetische Urteile«, nicht schon sprachlich relativiert haben. Sie ergeben damit eine Urteilsmenge, aus der die argumentativ zu rechtfertigenden Wertungen dann notwendig hervorgehen müssen, wenn sie nicht schon einsichtsvoll, selbstbeherrscht und routiniert als komplex formulierte ästhetische Argumente ausgesprochen werden. So ist es eigentlich wieder das Merkmal des Allgemeingültigkeitsanspruchs als einer ästhetischen Geltungsüberprojektion, das die Gefallenskundgaben bereits vor ihrer möglichen argumentativen Begründbarkeit der Menge ästhetischer Artikulationen zuweist, weil sie bereits durch ihre fehlende Selbstrelativierung mit einem »Verlangen nach Gründen« artikuliert werden. Seel gelangt allerdings zu der Feststellung, dass die Universalität des Kantschen Anspruchs nur eingeschränkt berechtigt ist. Sein aufschlussreicher 151
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Vorschlag lautet: Universalität soll Mondialität werden. Damit ist jene kulturelle Welt gemeint, in der das jeweils Beanspruchte irgendwie schon galt. Insofern verbleibt die Geltung der Artikulation ästhetischer Erfahrung in einer durch ihre »Reichweite« abgesteckten Lebenswelt: »Ohne die Voraussetzung einer mit anderen irgend gemeinsamen existentiellen Erfahrung hat die ästhetische Wertbehauptung und hat die entsprechende Aufforderung zur Erfahrung mit der eigenen Erfahrung keinen Sinn.« [Seel Argument 55] So misst Seel die ästhetischen Gefallenskundgaben wiederum am Maßstab entwickelter ästhetischer Argumente. Wenn »ästhetische Urteile« in der prätentiösen Form ästhetischer Argumente »die Angemessenheit von Sichtweisen beurteilen«, die im ästhetischen Erfahren interpretativ gebildet werden, dann müssen sie in ihrer anspruchshaften Geltungsorientierung demnach an die Möglichkeit der intersubjektiven Übertragbarkeit ihrer Interpretationen adressiert sein, da sie nur so überhaupt »allgemeingültig« werden können.60 Das Problem dieser prätentiösen Bewertung ästhetischer Rede besteht darin, dass sie die Anforderungen an ästhetische Argumente wieder mit den »spontanen Wertungen« von Gefallenskundgaben gleichsetzt und zudem Kants Allgemeingültigkeitsanspruch nicht als Anspruch versteht. Dass Allgemeingültigkeit den reinen Geschmacksurteilen nicht zukommt, macht den Anspruch auf eine solche aber keineswegs bedeutungslos. Was seine Bedeutung (auch für die gegenwärtige) Ästhetik sein kann, ergibt sich meiner Ansicht nach daraus, wie der Allgemeingültigkeitsanspruch ästhetische (d.h. mit einem Schönheitsprädikat detaillierte) Gefallenskundgaben zu öffentlichen Diskursen und dem qualifizierteren Austausch von Argumenten positioniert. Für diese Kants Ästhetik maßgeblich leitende »Idee« sei abschließend noch ein längeres, unkommentiertes Zitat angeführt, das die bis hierher wiedergegebenen Aspekte der Kantschen Urteilskonzeption prägnant zusammenführt: »Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun) es sinnt nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen es die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet. Die allgemeine Stimme ist also nur eine Idee (worauf sie beruhe, wird hier noch nicht untersucht). Dass der, welcher ein Geschmacksurteil zu fällen glaubt, in der Tat dieser Idee gemäß urteile, kann ungewiss sein; aber dass er es doch darauf beziehe, mithin
60 »Auf irgendeine, das Empfinden der einzelnen Seelen überschreitende Größe müssen wir uns – immer schon – beziehen, da die ästhetischen Urteile ja nicht einfach wie die Wertungen der Vorliebe bekundet, sondern ihrerseits als angemessen behauptet werden.« [Seel Argument 54] 152
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dass es ein Geschmacksurteil sein solle, kündigt er durch den Ausdruck der Schönheit an.« [KdU 26]
Wenn man auf die von Kant unterbreitete, begriffslose Weise über die Schönheit, also ästhetische Relevanz von Objekten spricht, sinnt man zwangsläufig den Beitritt anderer an. Kants Konzeption lässt aufgrund ihrer Urteilsmerkmale und der obligatorischen Veröffentlichungstendenz ästhetischer Urteile somit für deren Verhältnis zu ästhetischen Diskursen nur eine Eröffnungsfunktion zu. Wenn nun in den folgenden Kapiteln der Urteilsbegriff Kants in der Phototheorie des späten Barthes diskutiert werden soll, so wird nicht nur der Begriff selbst dargestellt werden müssen (Kap. 5), sondern besonders auch von dieser Eröffnungsfunktion ästhetischer Gefallenskundgaben am photographischen Bild die Rede sein (Kap. 6).
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5. Punc tum und reines Geschmacksurteil
Im folgenden Kapitel wird Kants Konzeption ästhetischer Urteile auf Roland Barthes’ Phototheorie bezogen. Die vergleichende Gegenüberstellung folgt dem Eindruck, dass besonders Barthes’ späte Überlegungen zur Photographie einen den Kantschen Geschmacksurteilen sehr ähnlichen ästhetischen Urteilsbegriff thematisieren – womit sie gerade dort, wo Bourdieus soziologische Einwände gegen Kants Ästhetik Abgrenzungen und Ausschließungen vorgetragen hatten, nun umgekehrt deren Urteilsbegriff für die Photographie positiv entwickeln könnten. Anders als Bourdieu hat sich Roland Barthes allerdings in keiner nachvollziehbaren Weise mit der Ästhetik Immanuel Kants beschäftigt. Es fehlen nicht nur explizite Bezüge in Form von Zitationen, Kants Name findet sich ebenfalls nicht unter den Autoren, auf die sich Barthes in den Selbstauskünften verschiedener Interviews bezog (vgl.: Die Körnung der Stimme). Die Frage, ob und inwieweit Barthes’ späte Phototheorie die Ästhetik Kants variiert, kann sich daher nicht auf einen historisch-philologisch verbürgten Zusammenhang richten, sondern nur auf eine erst nachzuweisende thematische Übereinstimmung zwischen dem zentralen Untersuchungsgegenstand der Ästhetik Kants und jenem der Phototheorie Barthes’. So wird sich die folgende Auseinandersetzung von der im letzten Kapitel skizzierten Konzeption ästhetischer Urteile leiten lassen und sie an Barthes’ Urteilsbegriff diskutieren. Eine erste, wenn auch schwache, weil indirekte Beziehung zwischen den Theorien lässt sich in ihrer gemeinsamen Differenz zu Bourdieus Photosoziologie erkennen. War Kant von Bourdieu zur Bezeichnung eines marginalen Phänomens der Photorezeption herangezogen worden, das sich zur Mehrheitspraxis antagonistisch positioniert, so entwickelt Barthes seine rezeptionstheoretische Variation des Kantschen Geschmacksurteils in auffälliger Opposition zu Bourdieus Vorstellung mehrheitlich üblicher, photographischer
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Rezeptionsverläufe (und damit ebenfalls in Weiterführung seiner eigenen früheren Differenzierung zwischen einer von kulturellen Einstellungen geleiteten Urteilspraxis einerseits, der eine begriffslose und die Pluralität dieser Einstellungen umgehende Rezeption andererseits gegenübersteht). Barthes argumentiert auch in seiner späten Phototheorie auf der Grundlage einer begrifflichen Dichotomie und polarisiert die eine Seite (in der Hellen Kammer: das punctum) in deutlicher Abgrenzung zu ihrem begrifflichen Antagonisten (dem studium). Damit überträgt er seine eigene frühere Unterscheidung zwischen dem »Buchstäblichen« und dem »Symbolischen« an der Photographie vom medien- und bild- in einen stärker rezeptionstheoretischen Kontext. Neben der rezeptionstheoretischen Differenzierungsabsicht ist auch die von Barthes dabei angestrebte Favorisierung in ihren Ergebnissen mit Kants Ästhetik vergleichbar und soll zum Zwecke einer produktiven Präzisierung des Begriffs ästhetischer Urteile anhand markanter Merkmale ausgeführt werden. Abgesehen von diesen allgemeinen methodischen und den besonderen thematischen Übereinstimmungen am Untersuchungsgegenstand fallen auch zwei bedeutende Unterschiede auf. Dem sehr weiten und offenen Gegenstandsbereich der Kantschen Ästhetik steht bei Barthes eine ausschließliche Bezugnahme auf das Medium Photographie gegenüber. Geht man jedoch davon aus, dass bei Kant letztlich die Praxis der reflektierenden Urteilskraft die jeweils ästhetisch relevanten Objekte definiert, dann könnte eine noch zu erweisende Ähnlichkeit der Konzeptionen von punctum und reinem Geschmacksurteil den Gegenstandsbereich beider Urteilsbegriffe füreinander durchlässiger machen. Gerade die bis jetzt nur unterstellte Gemeinsamkeit mit Kants Geschmacksurteilen würde sich, sollte sie zutreffen, in einer konzeptuellen Ablösung des punctum von einem verbindlichen und ausschließlichen Bezug auf Photographien bestätigen1 – während umgekehrt die gleiche Gemeinsamkeit Kants Urteilskonzeption für das photographische Bild diskutabel macht. Neben dem Gegenstandsbereich gibt es einen zweiten großen Unterschied zwischen den zu vergleichenden Theorien, denn Barthes kennt keinen Allgemeingültigkeitsanspruch seiner Urteilsformen und sieht sie auch nicht in öffentlich austragbare Geschmackskontroversen verwickelt, wobei sich dieser Aspekt allerdings als problematisch erweisen lässt (Kap. 6). So zeigt gerade Barthes’ Rücknahme der ästhetischen Rezeption von Photographien aus den unmittelbaren Formen von Öffentlichkeit, dass er das grundsätzliche Problem 1
Auf diese Konsequenz eines nicht mehr photospezifischen punctums kann ich allerdings nur hinweisen, nicht eingehen – sie wäre im Gesamtwerk Roland Barthes’ zu entwickeln (und stünde dann im Einklang mit der exemplarischen Rolle der Photographie im Gesamtwerk Bourdieus oder Flussers, s. Kap. 2.3).
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entsprechender Urteile durchaus im Sinne Kants auffasst und das Thema des Allgemeingültigkeitsanspruchs demnach ebenfalls als die prekäre Konsequenz einer besonderen Auffassung ästhetischer Urteile versteht. Man könnte sagen, dass Barthes eben deshalb eines der von Kant als Anlass seiner Untersuchung ausgegebenen Themen (das Problem des öffentlichen Geschmacksstreits, wie es im Dialektikkapitel der KdU diskutiert wird) von vornherein ausschließt. Indem er aber das punctum auf eine Weise beschreibt, die dem Kantschen Urteilsbegriff sehr nahe kommt, tendiert auch Barthes latent zu der von Kant etablierten »Lösung« des Problems öffentlicher Geschmackskontroversen – wodurch sich neben dem Urteilsbegriff noch ein weiterer, für meine Argumentation bedeutender Aspekt des Theorienvergleichs ergibt. Aufgrund dieser Unterschiede und der (in ihrem Ausmaß erst noch zu ermittelnden) Gemeinsamkeiten besteht für einen Theorienvergleich folgende Ausgangssituation: einerseits gibt es den im Detail möglicherweise identischen Untersuchungsgegenstand, nämlich einen speziellen, subjektivierten Typus ästhetischer Rezeption, andererseits werden sowohl für den kulturellen Anwendungsbereich solcher Urteile als auch für die öffentlichkeitstheoretischen Konsequenzen beider Theorien wiederum konträre Resultate postuliert. Entsprechend ist auch meine Auseinandersetzung mit Barthes’ Phototheorie zweigeteilt: Dieses Kapitel dient der knappen Darstellung des von Barthes favorisierten photographischen Urteilsbegriffs und führt einen ersten Vergleich mit Kants Geschmacksurteilen anhand markanter Urteilsmerkmale durch. Im darauf folgenden Kapitel werden dann die öffentlichkeitstheoretischen Fragen untersucht, die Kant unter dem Begriff des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs stilisierte. Hier gilt es, die Kommunikationsformen und -bedingungen zu überprüfen, auf die beide Theorien jeweils von ihren unterschiedlichen Argumentationen aus verweisen.
5.1 Thema und Methode von Barthes’ später Phototheorie Die Redewendung von einer Phototheorie Barthes’ ist zugegebenermaßen generalisierend, weil die hierunter aufgeführten Texte nicht mit dem Anspruch auf eine entsprechend systematisierende Konzeption verfasst worden sind und weil von jedem dieser Texte explizit nur ein eingeschränkter Ausschnitt des gesamten Spektrums photographischer Bilder thematisiert wurde.2 Dies sind
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Unter dem Titel einer Phototheorie fasse ich fünf sehr verschiedene Texte zusammen. Zur frühen Theorie zählen: Schockphotos (1957; ein Artikel in den Mythen des Alltags); Die Photographie als Botschaft (1961); Rhetorik des Bil157
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in der chronologischen Reihenfolge ihrer Publikation: Ausstellungsphotographien, Reportagephotographien, Werbephotographien, filmische Standbilder sowie im letzten Text vorrangig historische und Privatphotographien. Trotzdem hat die generalisierende Redewendung auch eine gewisse Berechtigung. Denn obwohl sich die Veröffentlichung der Barthesschen Texte zur Photographie insgesamt über einen Zeitraum von gut drei Jahrzehnten erstreckt und ihr Aufbau, ihre Wortwahl und ihre Durchführung den Einfluss verschiedener wissenschaftlicher Paradigmata erkennen lassen (Linguistik, Strukturalismus, Semiotik, Phänomenologie), zieht sich doch zweifelsohne ein gleichbleibendes und theoretisch grundlegendes Motiv durch sie hindurch. Es handelt sich dabei um die Annahme einer wesentlich dichotomisch aufgebauten, photographischen Rezeption, bei der ein individuell und souverän erscheinendes Urteilsverhalten vom Hintergrund eines durchgehend kulturell konventionalisierten auszeichnend abgehoben wird. Mit noch geringem theoretischen Anspruch hatte bereits der erste der zitierten Texte, die knappe Rezension einer Photoausstellung, eine entsprechende Dichotomie vertreten. Ausgehend von der Beobachtung, dass manche Photos den Betrachtenden keine weitere Aktivität zugestehen »als das Recht der geistigen Zustimmung« [Mythen 55], plädierte Barthes dafür, den Rezipienten »auf den Weg zu einem Urteil« zu führen, »das er selbst erarbeitet« [Mythen 57 f.]. Im Hintergrund steht hier die Unterscheidung zwischen einem Rezeptionstyp, bei dem wir »jedesmal unserer Urteilskraft beraubt sind« [Mythen 55] und einem, bei dem die Photos »nachhallen und verwirren« können und erst angeregt durch emotionale Resonanz und interpretative Irritation den Prozess eigener Urteilstätigkeit motivieren. Bereits in diesem ersten Text kündigte sich somit ein Plädoyer für einen besonderen Modus photographischer Rezeption an, bei dem die erstrebte Urteilssouveränität mit wirkungsästhetischen Aspekten kombiniert wird, wodurch eine bloße »Zustimmung« zu Photographien umgangen werden soll. Denn umgekehrt konstatiert Barthes dort, wo wir in der Betrachtung von Photographien »unserer Urteilskraft beraubt sind«, zugleich, dass die betreffenden Bilder »ohne Wirkung auf uns« [Mythen 56] bleiben. Auch wenn der angestrebte Urteilsbegriff noch unpräzise ist, so weist er doch schon auf Kants Unterscheidung zwischen der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft hin, die ja auf der Seite der letzteren ebenfalls eine Begriffslosigkeit mit Wirkungsaspekten kombiniert und aus beiden einen Entwurf des ästhetischen Urteilens macht. Sowohl das grundsätzlich dichotomische Verständnis des photographischen Rezeptionsspektrums als auch die Doppelwertigkeit jenes favorisierten des (1964) und zur späten: Der dritte Sinn (1970) und der nicht als Artikel, sondern als Buch konzipierte Text: Die Helle Kammer (1980). 158
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Rezeptionstyps – der ja sowohl ein souveränes Urteilsverhalten als auch die selbstverständliche Beteiligung intensiver ästhetischer Wirkungen postuliert – wiederholen sich in allen genannten Texten zur Photographie, insbesondere jedoch in Barthes’ letztem Buch, der Hellen Kammer. Zwischen den verschiedenen thematischen Zugängen zur Photographie, wie sie von einer Produktions-, Werk- (Bild-) oder Rezeptionsästhetik auf je unterschiedliche Weise bereitgestellt werden (auch die Dreiteilung wiederholt sich, aber sie ändert nichts an der grundsätzlich dichotomischen Anordnung), wählt Barthes in der Hellen Kammer nun den letzteren, die Rolle des »spectators« [Kammer 17]. Die einleitend vorgetragene Selbstpositionierung schließt formal an jene in Barthes’ erstem längeren Artikel zur Photographie an. Dort hatte er zwischen »Sendung, Rezeption und Botschaft« der Photographie unterschieden und die eigene Untersuchung auf die bild- und medientheoretische Position der Botschaft festgelegt. Da »die Sendung und die Rezeption der Botschaft [...] beide unter eine Soziologie [fallen]« [Botschaft 11], könnte man nun annehmen, dass Barthes auch in der Hellen Kammer diese soziologische Perspektive einnimmt, wenn er vom spectator oder Betrachter ausgehend über die Photographie sprechen will. Allerdings subjektiviert Barthes diesen Zugang, der ja wie Kants Ästhetik grundsätzlich rezeptionstheoretisch angelegt ist, gleich auf doppelte Weise. Erstens ist die Perspektive des spectators explizit mit der persönlichen des Autors der Untersuchung identisch und nicht, wie noch in der früheren Theorie, mit »menschlichen Gruppen [...], Beweggründen und Einstellungen« [Botschaft 11]. Zweitens konzentriert sich das analytische Interesse auf die im Zuge der Betrachtung von Photographien auftretenden emotionalen Wirkungen (auch wenn es bei diesen nicht stehen bleibt).3 Mit der Wahl dieser rezeptionsästhetischen Perspektive wird deshalb eine rezeptionstheoretisch zu nennende interpretative Annäherung an die Photographie, wie sie etwa in Bourdieus Photosoziologie thematisiert wurde, zumindest als Untersuchungsobjekt methodisch vernachlässigt.4 3
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»Als spectator interessierte ich mich für die Photographie nur aus ›Gefühl‹ [...]« [Kammer 30]. »Der Affekt war die Größe, die ich nicht reduzieren wollte; da er unreduzierbar war, so war er gerade dadurch das Moment, auf das ich das PHOTO reduzieren wollte und mußte [...]« [ebd.]. Barthes hat Bourdieus Photosoziologie offenbar zur Kenntnis genommen, denn in der ausgewählten Bibliographie der Hellen Kammer ist auch dessen »Illegitime Kunst« verzeichnet, allerdings mit der Auffälligkeit versehen, dass zu ihr keine Seitenzahl angegeben wird. Die zugehörige Textstelle findet sich auf Seite 15: »Jedesmal, wenn ich etwas über PHOTOGRAPHIE las, dachte ich an ein bestimmtes Photo, das ich liebte, und das versetzte mich in Zorn. Denn ich sah immer nur den Referenten, den ersehnten Gegenstand, die geliebte Gestalt; doch 159
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Trotz Ausgang bei der rezeptiven Erfahrung der eigenen Person ist der Anspruch der Untersuchung doch universalistisch, denn Barthes möchte, wie er zu Beginn der Hellen Kammer über die methodische Ausrichtung seiner Untersuchung mitteilt, »auf der Basis von ein paar persönlichen Gefühlen die Grundzüge, das Universale, ohne das es keine Photographie gäbe [...] formulieren.« [Kammer 17] In dieser Formulierung werden jedoch zwei Themen zugleich angesprochen: der methodische Ansatz und das angestrebte Ziel der Untersuchung. Das Zugleich beider Aspekte provoziert daher die Frage, wovon die gesuchte Universalität letztlich handeln wird. Wird sie auf verallgemeinerbare Strukturen jeder gefühlsbasierten photographischen Rezeption aufmerksam machen oder nur auf die Allgemeinheit eines das Wesen der Photographie erhellenden Resultats, wie es sich im Zuge einer solche Rezeption erarbeiten lässt? Zur Beantwortung der ersten Frage würde man einen bestimmten Typus emotionaler photographischer Rezeption klassifizieren, der zumindest weitestgehend die interpretativen Zugänge ignoriert. Zur Beantwortung der zweiten Frage würde eine bestimmte, verallgemeinerbare Eigenschaft all jener Photographien konstatiert, die vormals Gegenstand einer solchen emotionalen Rezeption geworden waren. Barthes will, wie sich zeigen lässt, von der ersten Thematik zur zweiten weiterschreiten, und diese Konstruktion ist nicht nur riskant (weil sie das exemplarische einer emotional erfolgreichen Rezeption medientheoretisch generalisiert), sondern birgt ebenfalls eine Chance. Eine Chance allerdings, die sich bereits vor erfolgreicher Anwendung der Methode einstellt. Denn sollte sich das »Wesen« der Photographie auf dem angekündigten Wege nicht auffinden oder beschreiben lassen, so wäre doch – eventuell unbeabsichtigt – der Entwurf einer Typologie photographischer Rezeptionsweisen zustande gekommen. Die von Barthes’ Untersuchung zur empirischen Basis erhobenen Gefühle sind nicht einfach nur persönlich und darüber hinaus in ihrer Komplexität unbestimmt, sondern sie werden als durchaus differenzierbare Zustände einer intensiven »Betroffenheit« ausgegeben, deren »Bewusstsein« der Autor dann als »Richtschnur« seiner Untersuchung verstanden wissen möchte [Kammer eine lästige Stimme (die Stimme der Wissenschaft) sagte mir dann in strengem Ton: ›Kehr zur PHOTOGRAPHIE zurück. Was du hier siehst und was dich leiden macht, fällt unter die Kategorie ›Amateurphotographie‹, die ein Soziologenteam behandelt hat: es belegt nichts anderes als das soziale Protokoll einer Integration, das den Zweck hat, die Institution der Familie zu stabilisieren, und so weiter.‹ Dennoch blieb ich hartnäckig: eine andere, stärkere Stimme trieb mich, den soziologischen Kommentar zu leugnen; bestimmten Photographien gegenüber wollte ich mich unbefangen, unkultiviert geben.« [Kammer 15] 160
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18]. Aber auch hier wird Barthes noch präziser, denn eine persönliche emotionale Betroffenheit angesichts der Betrachtung von Photographien kann ja verschieden, nämlich der Tendenz nach sowohl positiv als auch negativ und der Divergenz nach ausführlich oder verknappt ausgelegt werden. Zu dieser Ununterscheidbarkeit, die vom emotionalen Ausgangspunkt der Untersuchung bedingt ist, positioniert sich Barthes zweifach: einerseits konzentriert er sich auf eine eindeutig positive Emotion, eine »Anziehungskraft« die zum methodischen »Leitfaden« gemacht werden soll [Kammer 26]. Und andererseits betont die positive Qualität des berücksichtigten Gefühlszustandes den hervorgehobenen Rezeptionstyp ebenfalls als einen einstellig affirmativen, dem jegliches Moment einer mindestens zweistelligen, evaluativ relativierenden Beobachtungshaltung abgesprochen werden muss. So führt Barthes den bereits in den frühen Texten vorbereiteten Begriff einer nicht notwendig intern pluralistischen Photorezeption weiter (Kap. 2.6 und 3.2), auch wenn der Charakter der nun untersuchten emotionalen Einstelligkeit zweifellos in seinem Verhältnis zum gesamten Rezeptionsverlauf noch zu präzisieren wäre (s.u.), da er zunächst ja nur den ersten »betroffenen« Kontakt zum Photo erfasst. Der theoretische Rang dieser einstellig affirmierenden Gefühlsqualität lässt sich auch einem Interview-Hinweis auf die Auswahl photographischer Werke für die Helle Kammer entnehmen. »Ich habe also meine Lust oder meine Begierde in Bezug auf manche Photos zum Leitfaden genommen. Und ich habe versucht, diese Lust oder diese Begierde zu analysieren.« [Körnung 387] Jene positiven Gefühlszustände wie Lust oder Begierde werden hier nicht zum Maßstab einer systematischen Prüfung verschiedener photographischer Werke erhoben, insofern etwa als sich der Autor mit einer umfangreichen Sammlung von Photos konfrontiert hätte, um das etwaige Einsetzen oder auch Ausbleiben einer entsprechenden Lust dann evaluativ zu werten. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: die Auswahl der Photographien erfolgte aufgrund des Vorliegens einer entsprechend lustvollen, aber kaum analysierten Gefühlserregung. Ein methodisch relevanter Aspekt besteht darin, dass die Beobachtung des Ausbleibens oder Eintretens jener zu analysierenden Lust somit nicht selbst als Wertmaßstab eingesetzt wird und daher auch nicht den Rezeptionsverlauf als einen auf emotionaler Basis evaluativ verfahrenden definiert. Die positive Qualität des methodisch anvisierten Gefühlszustandes kann nur als ein Charakteristikum gelten, das dem Autor ermöglicht, den Bereich seiner Erfahrung mit der Lektüre von Photos retrospektiv zu organisieren, sie ist aber kein Kriterium, das im Moment der Lektüre deskriptiv oder evaluativ relevant wäre. Die von Barthes zu analysierende und damit zugleich schon favorisierte photographische Rezeption bleibt in ihrer Veranlassung arbiträr und in ihrer Durchführung kriterienlos; was unter anderem auch daran ersichtlich ist, dass 161
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die im Sinne der Untersuchung emotional erfolgreichen Rezeptionsereignisse im Modus der Zufälligkeit erscheinen (s.u.). In der methodischen Ausrichtung der Untersuchung an »persönlichen Gefühlen« sind so bereits zwei weitere Differenzierungen der rezeptionstheoretischen Perspektive angelegt. Zum einen werden die zu untersuchenden emotionalen Reaktionen auf eine bestimmte Klasse von positiven Betroffenheitserlebnissen eingeschränkt. Zum anderen dient diese Einschränkung dem vorausgreifenden Ausschluss solch identifizierender Bezugnahmen, wie sie Barthes bereits in den frühen Texten als Zugang zur »symbolischen« Ebene photographischer Bilder verstand. Mit diesem Ausschluss versucht Barthes offensichtlich sämtliche kulturell tradierten Urteilskriterien aus der gesuchten Rezeptionsperspektive herauszuhalten, er begründet diese Abgrenzung nun aber nicht mehr bild- und medientheoretisch, sondern durch den einschränkenden Fokus auf die emotionalen Wirkungen rezeptionstheoretisch. Der methodische Selbstbezug des Autors auf sein eigenes Konsumverhalten photographischer Werke (»Ich bin einzig und allein Konsument des photographischen Produkts.« [Körnung 384]) soll die Untersuchung daher nicht nur auf die emotionalen Aspekte der Rezeption fixieren, sondern zudem auch als quasi-phänomenologische Ausklammerung verstanden werden (»Es ist eher eine Phänomenologie der Photographie.« [Körnung 386]). Ausgeklammert werden soll die konventionelle und konventionsgeleitete Lesart von Photographien oder das, was Bourdieu mit seiner auf Kant bezogenen Kritik an einer »phänomenologischen« Ästhetik als unausweichliche kulturelle Praxis nachzuweisen versucht hat. In einem der frühen Texte zur Photographie hat Barthes diesbezüglich noch von einer bildtheoretisch verstandenen »Restbotschaft« gesprochen, »die aus dem besteht, was vom Bild übrig bleibt, wenn man (geistig) die Konnotationszeichen ausgelöscht hat [...]« [Rhetorik 37]. Konnotationen galten dem Autor bereits seit 1961 als »die Einbringung eines zusätzlichen Sinns in die eigentliche photographische Botschaft [...]« [Botschaft 16], und von diesem zusätzlichen und kulturellen Sinn scheint nun auch die in der Hellen Kammer hervorzuhebende, emotionsgeleitete Rezeption frei zu sein. Barthes versucht, das Medium Photographie in der theoretischen Nachbesprechung deshalb genau so zu erfassen, wie ihm auch die hervorgehobene Rezeption einzelner, positiv empfundener Exemplare zu verfahren scheint. Nämlich als eine rezeptive Annäherung an das Bild, die durch keinerlei kulturelle Erfahrungen determiniert ist: »Ich versetze mich dazu in einen naiven, nicht-kulturellen, etwas wilden Menschen zurück, der unablässig über die Photographie staunt.« [Körnung 386] So wiederholt Barthes mit dieser nur scheinbar vorsätzlich eingenommenen (eigentlich aber das eigene Verfahren rekapitulierenden) Perspektive jene in den frühen Texten noch bildtheoretisch formulierte Wahrnehmung der »Buchstäblichkeit« der Photographie. Unter 162
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der nach ähnlich programmatischem Vorsatz klingenden Formulierung eines »Verzichts« auf Kultur und Wissen wird allerdings keine theoretische Voreinstellung der Photorezeption postuliert, da sie genaugenommen auf Rezipiententypen verweist, die gar nicht erst verzichten können, weil ihnen die gemiedene Perspektive sowieso fehlt.5 Eine auf kulturell tradierte Lesarten »verzichtende« Photorezeption sieht Barthes nun also dadurch erreichbar, dass die intensive Betroffenheit, die durch einige Photographien auf ihn ausgeübt wurde, eine Art kulturelle Selbstvergessenheit erzeugt – oder mit dieser zumindest einhergeht. Um zu dem eigentlichen, universalen Wesen der Photographie vordringen zu können, muss sich die Analyse dieser Position zufolge mit der »Basis der Gefühle« befassen, wo vormals die »Buchstäblichkeit« der Photographie anvisiert war. Dabei zeigt sich nun, dass die Perspektive eines »naiven, nicht-kulturellen, etwas wilden Menschen« zwar nicht simuliert werden kann, um dadurch eine besondere photographische Erfahrung zu ermöglichen, sondern dass sie vielmehr selbst ein Charakteristikum jener Erfahrung ist. Sie stellt jenen Aspekt dar, der sich einer gewissen Reihe photographischer Rezeptionshandlungen im theoretisch sondierenden Nachhinein als auffällige Gemeinsamkeit attestieren lässt. Die wesentliche Veränderung gegenüber der früheren Theorie besteht in der Konzentration auf die persönlichen Erfahrungen des Autors und in der Hervorhebung eines emotionalen Aspekts in der »buchstäblichen« Photorezeption (der eigentlich das Thema von Panofskys Differenzierung zwischen Phänomen- und Ausdruckssinn anklingen lässt).6 Diese emotionsorientierte
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»Ich bin ein Wilder, ein Kind – oder ein Verrückter; ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben.« [Kammer 60] Die aufgezählten Typen werden sowohl in Barthes’ frühen Texten als auch in Panofskys Methodenreflexion erwähnt, wo sie Rezipienten bezeichnen denen das »bildungsmäßig Hinzugewußte« fehlt. Vom »Kind« und dem »ganz unvorgebildeten Betrachter« spricht Panofsky in: ders. Problem 1068, vom »unerfahrenen Betrachter« in: ders. Ikon 44. Tatsächlich wird Barthes im zweiten Teil der Hellen Kammer anhand einer Ausdruckswahrnehmung die sprachliche Gestalt des punctum erläutern, die deutlich an Panofsky erinnert: »der Ausdruck bringt das Subjekt zum Vorschein, insofern es sich keine Wichtigkeit beimißt.« [Kammer 119] War in Panofskys Beispiel vom hutziehenden Mann der Ausdruckssinn auf dessen Psyche bezogen, so gilt die Ausdruckswahrnehmung des punctum der Seele des photographierten Menschen: »der Ausdruck ist dieses Unerhörte, das vom Körper zur Seele führt – animula [...]« [Kammer 118]. Es würde sich lohnen, diese Bemerkungen wieder direkt auf Panofskys Ausdruckssinn zu beziehen, allerdings sind die für meine 163
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Methode zielt allerdings auf werktheoretische Erwartungen ab, die (wie schon bei Panofsky) nicht notwendig auf der »Basis der Gefühle« erreichbar sein müssen. Die rezeptionsästhetische Differenzierung dient vermeintlich der werkästhetischen, ob diese jedoch letztlich realisiert werden kann, bleibt fraglich, wie der Autor für den ersten Teil seines Buches selbst auch einräumt: »Dann habe ich festgestellt, dass ich, indem ich meine Lust zum Leitfaden nahm, zwar zu Ergebnissen kam, dass es mir aber nicht zu definieren gelang, was die Photographie von allen anderen Arten von Bildern radikal unterschied.« [Körnung 387] Hiermit verfehlt die Untersuchung zwar ihr angestrebtes Ziel, sie realisiert aber doch die mit dem ersten Schritt der Methode bereitgestellte Chance: Denn die Annäherung an das (werktheoretisch) Universale der Photographie, an die Möglichkeit, von ihrem »Wesen« eine Philosophie zu formulieren, geschieht ja über die Analyse der Wirkungen von Photos. Dadurch wird der rezeptive Zugang aber zwangsläufig selbst zum analysierten Objekt und betreibt die Differenzierung von Rezeptionstypen die, wie der Nachsatz ankündigt, keineswegs nur auf die Photographie bezogen zu bleiben braucht.
5.2 Die Dichotomie der photographischen Rezeption Es wurde kurz dargestellt, dass sich Barthes in seiner Phototheorie methodisch auf die persönliche Emotionalität seines eigenen ästhetischen Erlebens bezieht. Gleichzeitig hatte diese methodische Hinwendung bereits erkennen lassen, dass sie selbst auch unabhängig von einem bildtheoretischen Bezugsobjekt eine gewisse Typologisierung der photographischen Rezeption hervorbringt. Eine rein bildtheoretische Analyse wird von Barthes ja erklärtermaßen nicht angestrebt, denn statt piktoraler Ursachen oder Bedingungen möchte er explizit das photographische Rezeptionsverhalten differenzieren und zu diesem Zweck »die beiden Elemente benennen, deren gleichzeitiges Auftreten, wie es schien, der besonderen Art von Interesse zugrunde lag [...]« [Kammer 33]. Mit der Gleichzeitigkeit zweier Elemente rekurriert Barthes aber offensichtlich auf die bildtheoretischen Überlegungen seiner frühen Phototheorie, denn bereits dort hatte er ja dafür plädiert, dass sich das photographische Bild, zumindest üblicherweise, nur in einer Vermischung von Perspektiven zeigt, bei der der Blick auf »Buchstabe« und »Symbol« gleichermaßen gerichtet
Argumentation relevanten Aspekte schon deutlich in der rezeptionstheoretischen Konzeption des ersten Teils der Hellen Kammer formuliert. 164
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ist.7 Die nun zu entwickelnde rezeptionstheoretische Unterscheidung wäre demnach nur als eine Weiterführung der Differenzierbarkeit photographischer Bildebenen zu verstehen, wie sie zwischen der »Buchstäblichkeit« und der »Symbolik« von Photographien sowie den unterschiedlichen Bedingungen ihrer Wahrnehmung aufgezeigt wurden. Andererseits kann diese »vermischte« Perspektive mit der neuerlichen Rede von einer Gleichzeitigkeit kaum gemeint sein, da Barthes nun ja bevorzugt eine »besondere Art von Interesse« am Bild fokussiert und die erwähnte Kombination der Perspektiven ausgerechnet der ordinären des »gesunden Menschenverstandes« entspricht, wenn dieser üblicherweise das »Massenbild« liest. Tatsächlich hat sich Barthes’ Vorhaben gegenüber den Frühschriften ja insofern grundlegend verändert, als er den methodischen Ausgangspunkt bei den photographischen Rezeptionsphänomenen nimmt – nämlich zunächst der »besonderen Art von Interesse« am photographischen Bild, die von gewöhnlichen Arten unterschieden werden soll. Statt der bildtheoretischen Gegenüberstellung von »Buchstabe« und »Symbol« steht hierfür nun das rezeptionstheoretische Begriffspaar von studium und punctum zur Verfügung, und es ist offensichtlich, dass die Charakterisierung dieser beiden »Elemente« auch unabhängig von werktheoretischen Positionen vertreten werden kann. Neben der vormals bildtheoretischen Gleichzeitigkeit zweier Elemente hebt das Zitat daher explizit die rezeptionstheoretische Gleichzeitigkeit zweier Perspektiven hervor. Geht man mit Barthes davon aus, dass die Elemente statt in dem jeweils Erblickten vielmehr in den Perspektiven selbst bestehen, wie es auch Derrida in seiner Interpretation der Hellen Kammer annimmt,8 so wird die Formulierung allerdings kaum plausibel. Wenn das »gleichzeitige Auftreten zweier Elemente« der »besonderen Art von Interesse zugrunde« liegt und diese »besondere Art« (wie man ja eigentlich annehmen muss) eben genau dem gesuchten Profil des punctum entspricht, dann würde man unter Einsetzung von studium und punctum für die »beiden Elemente« in einen infiniten Regress gelangen. Die gesuchte »besondere Art von Interesse« schließt sich als Voraussetzung dann immer schon selbst mit ein. Der Einbezug der frühen Phototheorie stärkt jedoch die Annahme, dass die von Barthes betonte Gleichzeitigkeit nicht auf die praktische Zusammen7
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»Der Betrachter des Bildes rezipiert gleichzeitig die perzeptive und die kulturelle Botschaft, und man wird später sehen, dass diese Vermischung der Lektüren der Funktion des Massenbildes [...] entspricht.« [Rhetorik 32] Dass Derrida zwischen den differenzierten Rezeptionstypen studium und punctum keinen Gegensatz, sondern ein ineinandergreifendes Spiel ausgemacht hat, lässt sich möglicherweise auf Barthes’ Hinweis zur Gleichzeitigkeit beziehen [J. Derrida: Die Tode Roland Barthes; Berlin (Nishen Verlag) 1987, S. 16 ff.]. 165
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führung der theoretisch differenzierten Rezeptionstypen oder die Gleichzeitigkeit der von ihnen registrierten bildtheoretischen Elemente von »Buchstabe« und »Symbol«, sondern auf ein ganz anderes »Spiel« verweist. Wenn das studium jene rezeptive Perspektive benennt, die in den frühen Texten auf die Symbolik des Bildes gerichtet war und das punctum entsprechend auf die Buchstäblichkeit eingeht, dann muss die Perspektive des letzteren, weil sich die Buchstäblichkeit des Bildes nicht isoliert rezipieren lässt (sondern nur gleichzeitig), notwendig die Inhalte der studierenden Lektüre involvieren. Ob mit dem Einsetzen des punctum als einer »besonderen Art von Interesse« – nämlich der betroffenen, einstellig affirmierenden Anziehung durch ein Bild – zugleich die studierende Rezeption seiner Symbolik in ganzem Ausmaß betrieben wird, ist daher fraglich. Laut Barthes »koexistieren« beide bloß, sobald das punctum einsetzt,9 so dass sich die Beteiligung des studium eventuell nach dem Modell der früheren Texte richtet. Dort waren die Bedingungen, unter denen kulturelle Konnotationen in Form der Sprache an der Wahrnehmung des Buchstäblichen beteiligt sind, von Barthes analog zu Panofsky auf bestimmte Wissensbereiche eingeschränkt worden, und es kann gut sein, dass Barthes mit der Rede der Gleichzeitigkeit deren Beteiligung am punctum benennt. Das Thema der Auffassung einer »besonderen Art« der Photorezeption als einer spielerischen Interferenz möchte ich am Ende dieses Abschnitts wieder aufgreifen, nachdem die von Barthes differenzierten Rezeptionsmodi einmal in ihrer jeweils eigenen Verfassung dargestellt wurden. Zur folgenden Darstellung wäre einleitend noch zu bemerken, dass auch der Wechsel von einem bild- zu einem rezeptionstheoretischen Ausgangspunkt in der Erörterung photographischer Rezeptionsprozesse von Barthes bereits in einem 10 Jahre vor der Hellen Kammer verfassten Text zur Theorie des Photogramms, das heißt des filmischen Standbildes vorbereitet wurde. Dort hat Barthes eine anfangs drei-, bald jedoch zweigeteilte Rezeptionstheorie vorgestellt, die auffällige Gemeinsamkeiten mit den Begriffen des punctum und des studium aufweist. Er nennt die dort favorisierte Rezeption photographischer Bilder die des »dritten« oder auch stumpfen Sinnes und stellt ihr den entgegenkommenden Sinn gegenüber, der Ähnlichkeit mit dem späteren studium aufweist.10 Einige Eigenschaften der späteren Rezeptionskonzeption »Es ist nicht möglich, für die Beziehung zwischen studium und punctum (wenn letzteres auftritt) eine Regel aufzustellen. Es handelt sich um eine Koexistenz; mehr lässt sich nicht sagen [...]« [Kammer 52]. 10 Die Begriffswahl variiert die bekannte Doppeldeutigkeit, mit der werk- und rezeptionsästhetische Bereiche schon in Panofskys Überlegungen miteinander verknüpft waren. Denn der »Sinn« ist einerseits als Sinnesorgan, also als eine Wahrnehmungsdisposition zu verstehen, durch die eine spezifische Beobachtung erst möglich wird. Andererseits wird er jedoch auch in den Bereich der
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des punctum werden somit in der Theorie des stumpfen Sinnes vorweggenommen, und auf sie soll hier gelegentlich eingegangen werden, weil sie die Kontinuität von Barthes’ Überlegungen verdeutlichen und die Darstellung des punctum durch leicht variierende Kommentare gut ergänzen. Doch zunächst zu der Frage, warum laut Barthes studium und punctum »losgelöste Elemente« sind, »heterogen, insofern sie nicht der selben Welt zugehören [...]« [Kammer 31]: Studium: Anders als es die methodischen Angaben in ihrer Betonung emotionaler Wirkungen hatten erkennen lassen, ist selbstverständlich auch dem Medium Photographie gegenüber eine evaluierende, interpretative Rezeption möglich, eine Rezeption also, die unterscheidbare technische Qualitäten einer Photographie berücksichtigt und bezeichnet sowie persönliche und kulturelle Wertmaßstäbe in die Betrachtung einbezieht. Barthes hat diese »übliche« Variante photographischer Bildlektüre bereits in seinen frühen Texten ausführlich beschrieben und wiederholt sie nun mit dem Begriff des studium, der den interpretativen Zugang zur Photographie thematisiert. An der Photographie ist das studium grundsätzlich mit Bourdieus sozial mittelbarer Mehrheitspraxis vergleichbar, am Bild entspricht es Panofskys Bedeutungssinn, der ja ebenfalls auf dem Einbezug des kulturelle Konventionen betreffenden Wissens basiert: »Das studium ist das allgemeine und kulturelle, zivilisierte Interesse, das man für ein Photo empfindet.« [Körnung 381] Jener rezeptive Fokus, der für die studierende Lektüre charakteristisch ist, richtet sich daher auf »das ausgedehnte Feld, das ich im Zusammenhang mit meinem Wissen, meiner Kultur, recht ungezwungen wahrnehme [...]« [Kammer 33]. Die Rezeption ist hier auf ein Wiedererkennen angelegt, denn »ungezwungen wahrnehmen« lässt sich vor allem das Vertraute oder das, was kaum noch irritiert. Entsprechend heißt es, dieses erste Element »verweist stets auf eine konventionelle Information [...]« [Kammer 34]. Das studium geht nicht nur von einer grundsätzlichen Vertrautheit mit den piktoralen Elementen der photographischen Motive aus, sondern ebenfalls davon, dass man weiß, wie sie zu beurteilen sind. So richtet sich die Aufmerksamkeit des studierenden Rezipienten bei Barthes auf typische Kleidungsstücke, Gebrauchsgegenstände, Gesten, botanische oder architektonische Besonderheiten, insofern sie einen solchermaßen informativen Wert besitzen. Den studierenden Rezipienten leitet teilweise eine Bildungsabsicht: »Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien [...]« [Kammer 35], auch wenn sie vielleicht nicht explizit der Erweiterung von Kenntnissen, sondern vielmehr einer wiederholenden Bestätigung dient, in der nur erblickt werden kann, was man bephotographischen Bildstruktur verlegt und dort, wie in der Hellen Kammer, in einzelnen Details der Bildmotive exemplifiziert. 167
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reits kennt: »als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort studium enthalten) habe ich teil [...]« [Kammer 35]. Wie in den Bemerkungen zur methodischen Vorgehensweise bereits erwähnt wurde, sieht Barthes die intensive Wirkung eines Photos mit einer Art kultureller Selbstvergessenheit einhergehen, und diese Beziehung liegt nun in umgekehrter und negativer Fassung auch der Konzeption des studium zugrunde. Denn der dem studium zugesprochene Fokus des kulturellen Interesses verringert nach Barthes’ Einschätzung zwangsläufig die emotionale Intensität des Rezeptionsverlaufs und erweist den Gegenstandsbezug des Urteilenden als einen eher distanzierten Kontakt. So ist das studium »die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit.« [Kammer 35] Es zeichnet sich emotional nur noch durch »ein halbes Verlangen, ein halbes Wollen« [Kammer 36 f.] aus. Während der methodisch anvisierte, emotionale Erlebniszustand die »Auslöschung kultureller Konnotationszeichen« fast zu evozieren schien, kehrt sich diese Relation im Falle des studium daher ins Gegenteil. Die kulturell orientierte Rezeption »filtert« nun die auftretenden Gemütsbewegungen, denn Photographien erwecken auch aus der Perspektive des studium »mitunter Ergriffenheit, doch diese Gemütsbewegung wird durch das vernunftbegabte Relais einer moralischen und politischen Kultur gefiltert.« [Kammer 35] Da ein Filter nur im Sinne eines Rasters durchlässig ist, wird dem studium also nicht bloß eine verminderte Erlebnisintensität diagnostiziert, Barthes stellt sich zudem vor, dass die auftretenden »halben« Affekte zugleich selbst schon Uniformisierungen unterliegen: »Was ich [...] empfinde unterliegt einem durchschnittlichen Affekt, fast könnte man sagen, einer Dressur.« [Kammer 35] – wodurch der Gedanke erweckt wird, dass das studium nicht nur eine Bildrezeption benennt, die durch die Einbeziehung kulturellen Wissens gekennzeichnet ist, sondern die ebenfalls im Abruf zugehöriger Emotionen besteht. Die sowohl gemäßigten als auch normierten emotionalen Effekte und das Wissen des Rezipienten, es mit Objekten zu tun zu haben, die mehr oder weniger gut gemacht sein können und in dieser Hinsicht bewertbar sind, kennzeichnen das studium als eine distanziert evaluierende Urteilshandlung, die jenseits einer unmittelbaren Betroffenheit durch den Gegenstand argumentiert. Das studium »bezieht sich auf das höchst ausgedehnte Feld der unbekümmerten Wünsche, des ziellosen Interesses, der inkonsequenten Neigung, ich mag / ich mag nicht, I like / I don’t.« [Kammer 36] Abgesehen von diesem für die Begriffsbildung wesentlichen Merkmal der Affektkontrolle und -normierung, kündigt sich hier gleich noch ein weiteres Merkmal an. Die Bewertbarkeit der photographischen Motive impliziert eine Aufmerksamkeit auf die intentionale Voraussetzungshaftigkeit kultureller 168
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
Artefakte: sie lassen sich in einer distanzierten Lektüre als Werke verstehen. Diese Lektüre geht von der Artifizialität der wahrgenommenen Photographien aus, indem sie Darstellungsabsichten der Produzenten unterstellt und wiederzuentdecken versucht. Auch hierin zeigt sich eine seit den frühen Texten beibehaltene Nähe zu Panofskys Darstellung des Bedeutungssinns, der ja ebenfalls unter Einbezug des »bildungsmäßig Hinzugewußten« die intendierte Symbolik eines Bildes registriert. So konstatiert Barthes für den Begriff des studium: »Das studium ist eine Art Erziehung, [...] die es mir gestattet, den operator wiederzufinden [...]« [Kammer 37]. Punctum: Während der Begriff des studium größtenteils in der Weise verwendet wird, eine Haltung oder Einstellung studierender Rezipienten zu thematisieren (im Sinne von Barthes’ früher Phototheorie wäre dies eine »Einstellung«, die alle kulturellen Einstellungen vereint), ändert sich das für den polarisierten Begriff des punctum, denn für diesen kommt nun noch eine weitere Verwendungsweise hinzu. Der Begriff des punctum wird immer in einer offen bleibenden Doppeldeutigkeit verwendet, denn einerseits benennt er zwar ebenfalls eine rezeptive Perspektive, insofern er den Augenblick und Zustand einer unmittelbaren »Betroffenheit« [Kammer 51] durch ein Photo meint. Andererseits benennt Barthes mit diesem Begriff aber auch einzelne piktorale Details innerhalb photographischer Bilder, die im Einzelfall eben jene rezeptive Einstellung hervorgerufen zu haben scheinen. Während das studium ein rezeptionstheoretischer Begriff ist, der zwar eine Hinwendung an wiedererkennbare ikonographische Arrangements meint, aber nicht zugleich als Synonym für diese selbst fungiert, ist das punctum sowohl als eine besondere rezeptive Haltung als auch als der Terminus für das »konkrete« bildhafte Objekt zu verstehen, das in einer solchen Haltung vorrangig wahrgenommen wird. Dass das punctum im Gegensatz zum studium als Bezeichnung rezeptionsund werktheoretischer Aspekte gleichermaßen verwendet wird, ist offensichtlich durch Barthes’ erklärte Absicht motiviert, ausgehend von einer emotionshaltigen Rezeption universale Aussagen über die Photographie zu treffen. Die von Barthes methodisch anvisierte lustvolle »Betroffenheit« hat zweifellos einen piktoralen Anlass (denn das punctum wird ja nicht an mentalen, sondern an physischen Bildern erläutert), aber da das rezeptive Erleben mit diesem Anlass nicht schon identisch ist, umfasst die theoretische Darstellung des punctum immer zwei verschiedene Themen unter dem gleichen Begriff. So muss die Textanalyse zwischen einem rezeptiven und einem piktoralen punctum sorgfältig unterscheiden. Denn obwohl Barthes sogar im rezeptiven punctum eine charakteristische Tendenz zur Aufsuchung des bildhaften Anlasses feststellt und das piktorale punctum somit wieder in das rezeptive integriert, bleiben sie thematisch gleichwohl unterschieden.
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KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Barthes’ Helle Kammer zeigt insgesamt eine auffällige Varianz, wenn es gilt, Synonyme für jenen spezifischen Gefühlszustand aufzubieten, der mit einer Rezeption nach dem Modell des punctum einhergeht. Zwar wäre zunächst zu sagen, dass das punctum kein »Schock« ist, allerdings ist der beschriebene Betroffenheitszustand von einer schockhaften Überraschung nicht allzuweit entfernt, denn rückblickend konstatiert Barthes in einem Interview: »Ich habe versucht zu analysieren, warum mich manche Photos betrafen, das heißt ›klick‹ machten, eine Art Schock in mir auslösten, der nicht unbedingt ein Schock wegen des dargestellten Gegenstands war.« [Körnung 387] Damit variiert Barthes eine eigene frühe Kritik an der photographischen Inszenierung des Schockierenden (vgl.: Mythen 55 ff.), auf die der gesuchte Affekt seiner Darstellung zufolge gerade nicht reagiert.11 In Übereinstimmung mit dem methodischen Anfang des Buches beginnt sich Barthes daher auf die »Anziehungskraft« zu konzentrieren, die manche Photos auf ihn auszuüben verstehen. In einem ersten Umschreibungsversuch verwirft er dann aber das naheliegende Synonym »Faszination«, denn soweit es einen Zustand betrifft, der unter dem Begriff des punctum analysiert werden soll, handele es sich um das »Gegenteil von Benommenheit; vielmehr eine innere Erregung, ein Fest, auch eine Arbeit, der Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will.« [Kammer 26] Hiermit erscheint das punctum als eine besondere ästhetische Aktivität, die vom Zwang nach Sagbarkeit ihres piktoralen Anlasses (an-) getrieben ist – ein Eindruck der durch andere, kausalisierende Formulierungen jedoch wieder infrage gestellt wird. Da das punctum im Gegensatz zum studium nicht als vorsätzliche Rezeption des photographisch Intendierten verstanden wird,12 erweckt es den Anschein eines passiven Erleidens: »Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht 11 Barthes lehnt explizit den intendierten Schock ab, also »Photos, deren Prinzip (oder besser gesagt: deren Alibi) der ›Schock‹ ist; denn der photographische ›Schock‹ besteht (ganz anders als das punctum) weniger darin, das, was so gut verborgen war, dass der Agierende selbst dessen nicht gewahr wurde oder es ihm nicht bewußt war, zu traumatisieren, als es vielmehr zu enthüllen.« [Kammer 41 f.] So etwa in der schockierenden Pressephotographie: »In diesen Bildern gibt es kein punctum: wohl den Schock – das Buchstäbliche kann traumatisieren –, doch keine Betroffenheit; das Photo kann ›schreiend‹ sein, doch es verletzt nicht.« [Kammer 51] 12 Vgl. Mersch 2002:92, wo darauf hingewiesen wird, dass sich die Wirkung des punctum nicht »heraufbeschwören« lässt. Entsprechend schließt Barthes nun (im Gegensatz zu den früheren Texten, s. Kap. 2.7 u. 3.2) auch die Annäherung über einen theoretischen Erklärungsansatz aus: »Um das punctum wahrzunehmen, wäre mir daher keine Analyse dienlich [...]« [Kammer 52] – womit es vom »Buchstäblichen« der früheren Phototheorie nun deutlich abweicht. 170
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
(wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewusstsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.« [Kammer 35]13 Mit der Ausgrenzung der Souveränität des Bewusstseins aus der rezeptiven Beziehung zum photographischen Werk scheint auch der Rezipient in den Zustand reiner Passivität versetzt zu sein. Allerdings überzieht Barthes mit der zitierten Formulierung offensichtlich die eigene Konzeption, denn die hier aufgegebene Souveränität des Bewusstseins betrifft ja im Falle des studiums nur den souverän identifizierenden Umgang mit dem vertrauten Feld der eigenen Kultur, und speziell dieser Aspekt der »Souveränität des Bewusstseins« wurde für das punctum aufgehoben. Auch hier schließt Barthes an seinen ersten phototheoretischen Text an, weil er schon dort »den Leser des Bildes in ein Erstaunen« involviert sah, »das weniger intellektuell als visuell ist [...]« [Mythen 57]. Entsprechend wird auch der Vorläufer des punctum, der stumpfe Sinn als »ein Zusatz, den meine intellektuelle Erkenntnis nicht aufzufassen vermag [...]« [Sinn 50], charakterisiert. Gleichwohl bleibt für die Klärung des Verhältnisses zwischen studium und punctum die Frage bestehen, ob mit dem Verlust der »intellektuellen« Souveränität die Rezeption des punctum gleichsam zu »visueller« Passivität verurteilt ist. In einer diese Frage klar verneinenden Formulierung hat Barthes die Aktivität des Rezipienten deutlich hervorgehoben: »In dieser trübsinnigen Öde begegnet mir auf einmal ein bestimmtes Photo; es beseelt mich und ich beseele es. Ich muss die Anziehung, der es seine Existenz verdankt, mithin so benennen: eine Beseelung. Das Photo selbst ist völlig unbeseelt (ich
13 Eine ähnliche Metapher findet sich bereits bei Benjamin im Kunstwerkaufsatz, wo der Dadaismus hinsichtlich seiner Vorwegnahme der adäquaten Rezeption filmischer Bildlichkeit beschrieben wird [Benjamin Kunst 38] – neben dem häufig gebrauchten Terminus Schock und dem des Amateurs (s. Kap. 6.4) ist dies ein weiterer Grund, Barthes eine Kenntnis des Benjaminschen Werkes zu unterstellen. Hierfür gibt es laut Ette zwar keinen Texthinweis (vgl.: Ette Barthes 111), sie kann aber doch durch eine kurz nach Veröffentlichung der Hellen Kammer abgegebene Interview-Äußerung belegt werden: »Über die Photographie gibt es nur wenige große Texte von intellektuellem Rang. Mir sind nur wenige bekannt. Etwa der Text von Walter Benjamin, der deswegen gut ist, weil er eine Vorwarnung enthält.« [Körnung 383] Beim angesprochenen Text handelt es sich offenbar um Benjamins Artikel: Kleine Geschichte der Photographie, den Barthes, achtet man etwa auf die Idee einer Kommentarbedürftigkeit photographischer Bilder durch Untertitel, bereits bei der Anfertigung seines ersten Artikels zur Photographie (Botschaft) gekannt haben muss. 171
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
glaube nicht an die ›lebendigen‹ Photographien), doch mich beseelt es: darin gerade besteht jegliches Abenteuer.« [Kammer 29]
Nach dem Modell des punctum wird die Beziehung des Rezipienten zum Photo durch eine eigenartige Dramaturgie bestimmt. Die souveräne Aktivität eines studierenden Wiedererkennens wird hier durch die (ebenso souveräne) Aktivität einer »Beseelung« ersetzt, die sich paradoxerweise jedoch selbst als reaktiv erfährt. Dabei sind es selbstverständlich »innere Erregung, Fest und Arbeit«, Aktivitäten des Rezipienten also, die hier den Eindruck einer ursprünglichen Beseelung durch das Bild entstehen lassen und die auf der Basis einer intensiven Betroffenheit das Bild selbst als tätig beseelendes erfahrbar machen. Denn: Bilder verschießen keine Pfeile, vielmehr ist die (rhetorische) Unterstellung eines solchen Schusses selbst ein Bild, dessen Komposition nur jene intensive Aktivität vor Augen führen soll, die erreicht werden kann, wenn »wir uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust machen.« [KdU 15 f.] Anders als das ästhetische Urteilsverhalten, von dessen Aktivität Kant sprach, ist Barthes’ punctum allerdings nicht an der »Beseelung« eines ganzen Bildes tätig.14 Barthes charakterisiert die Rezeption im Modus des punctum als eine, bei der sich Rezipienten, indem sie ein Photo »beseelen«, kaum auf Bildflächen insgesamt, sondern vielmehr auf piktorale Details konzentrieren – oder auch zu konzentrieren beginnen (s.u.). Dieser Aspekt der Detaillierung ist bereits in der Begriffsbildung selbst wiederzufinden. Wenn das punctum als »Stich, kleines Loch, kleiner Fleck« [Kammer 36] umschrieben wird, so liegt der Gedanke nahe, es auch werktheoretisch als ein Detail zu exemplifizieren (»Häufig ist das punctum ein ›Detail‹, das heißt ein Teil des Abgebildeten.« [Kammer 53]). So werden entsprechende Aussagen allerdings verfänglich zweideutig: »Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht [...]« [Kammer 36]. Womit einerseits piktorale Details gemeint sein könnten, die »ergreifen, fesseln, anstoßen« oder auch »bestechen« und andererseits eine rezeptive Perspektive, die ihren Gegenstand im Modus der Zufälligkeit wahrnimmt, anstatt ihn mit der interessierten Vorsätzlichkeit des studium zu begutachten. Das piktorale punctum gilt Barthes als ein Detail, durch das das studium »durchkreuzt, gegeißelt, oder gezackt« [Kammer 50] wird. Hinter der Vor14 Im Unterschied zu Barthes, legt das Subjekt der ästhetischen Anschauung bei Kant, »den Gegenstand seiner Wahrnehmung nicht auf einzelne seiner Merkmale fest. Statt dessen nimmt es ihn in einer undarstellbaren Fülle seiner Merkmale wahr.« [Seel Erscheinen 18] 172
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
stellung solch ursächlicher Details steht also die Annahme, man könne in der Nachbesprechung besonders wirkungsvoll erlebter Photographien auch ikonographisch ermitteln, weshalb man sie nicht auf die konventionelle Art nämlich als durchschnittlich relevante Bildinformation rezipiert habe. Das jeweilige Ergebnis: »Dieses Detail ist das punctum [...]« [Kammer 52], stellt jedoch eine falsche Analogie zwischen piktoralem und rezeptivem punctum her, die möglicherweise durch Barthes’ Absicht verursacht ist, in der literarischen Nachbesprechung der Hellen Kammer verschiedene Beispiele erfolgreicher Rezeptionen eines punctum zu liefern.15 Es ist allerdings ein Unterschied, ob der Autor uns zum Zwecke der publizistischen Nachvollziehbarkeit seiner photographischen Erfahrungen auf einzelne Bildbereiche aufmerksam macht oder ob die Lokalisation von Details eine charakteristische Aktivität im Rezeptionsprozess selbst ist, die allerdings durch die intensive Wahrnehmung eines wirkungsvollen, aber nicht näher detaillierbaren Gegenstandsarrangements initiiert wurde.16 Dieser zunächst undetaillierten Tendenz zur Auffindung von Details entspricht auch die Tatsache, dass eine Photographie durchaus »übersäht« sein kann »von diesen empfindlichen Stellen« [Kammer 36]. Es kann sogar »para-
15 Entsprechend zieht etwa eine das Anliegen des Buches rekapitulierende Interview-Äußerung beide Aspekte des punctum in einem »Element« zusammen: »Jedoch habe ich festgestellt, dass mich manche Photographien durch ein Detail, das mich auf recht rätselhafte Weise ergreift, fesselt, anstößt und überrascht, stärker als durch ihr allgemeines Interesse berührten. Daher habe ich dieses Element das punctum genannt, weil es eine Art Punkt, so etwas wie ein Stich ist, der mich trifft.« [Körnung 381] 16 Zwischen Detaillierungstendenz und begrifflicher Konzeption des punctum hat auch Dieter Mersch eine Unstimmigkeit registriert. Seine Kritik läuft darauf hinaus, dass man das punctum letztlich doch auf das undetaillierte Arrangement eines Bildes beziehen muss: »Es fußt auf keinem Motiv, das seine Wirkung auslöste; es genügt festzustellen, dass ein Bild berührt. Dennoch hat Barthes versucht, dem punctum einen Ort, eine Stelle im Bildlichen zuzuschreiben, an dem es lokalisierbar wäre: [...] Die versuchten Lokalisierungen erscheinen mißverständlich: der Ausdruck Detail supponiert seine Identifikation, als ob sich das punctum vorfinden und bezeichnen ließe oder einen deiktischen Hinweis gestatte.« [Mersch 2002:86] Obwohl ich darin übereinstimme, dass das punctum einen undetaillierbaren (physischen) Anlaß hat, bin ich zugleich der Meinung, dass es so wie Kants Geschmacksurteile auch zugleich »deiktische Hinweise« auf Details evozieren kann. 173
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doxerweise die ganze Photographie einnehmen [...]«.17 Darüber hinaus kann die Lokalisation ebenfalls irrtümlich erfolgen und muss dann im Nachhinein korrigiert werden. Somit wären Entdeckung und Benennung von Details Aktivitäten eines spezifischen ästhetischen Erfahrungsprozesses, der, durch eine intensive Wirkung motiviert, den »Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will«, provoziert. Wenn es bei der Suche nach Details somit um das Sagen geht, dann ist grundsätzlich das Verhältnis des rezeptiven punctum zur Sprache zu betrachten – und in dieser Hinsicht gibt vor allem Barthes’ früherer Text zum stumpfen Sinn entscheidende Hinweise. Auch der stumpfe Sinn wird auf der Ebene des photographischen Bildes auf Merkmale und Details bezogen, obwohl seine Beschreibung nicht gelingt und allenfalls versucht werden kann, die ursächlichen Merkmale, »Züge« »aufzuzählen« [Sinn 50], die scheinbar sein Erlebnis evozierten – wobei die intellektuelle Erkenntnis den zusätzlichen stumpfen Sinn nicht »aufzufassen« [ebd. 50] vermag. Der stumpfe Sinn evoziert eine Lektüre von Details aber nur deshalb, weil er sich keines Details sicher ist. Denn am Anfang dieses heuristischen Prozesses, der sich nur teilweise und immer wieder vorübergehend auf einzelne Details konzentriert, steht ein unbestimmtes Etwas, von dem sich nur ausmachen lässt, dass es positiv empfunden wird. »Ich glaube, dass der stumpfe Sinn eine gewisse Emotion mit sich bringt [...] die einfach bezeichnet, was man liebt, was man verteidigen möchte; sie ist eine Wert-Emotion, eine Bewertung.« [Sinn 56] Barthes’ »Lösung« der sprachlich ungeklärten Verweisungstendenz des stumpfen Sinnes besteht also darin, dass die Wert-Emotion selbst eine Bezeichnung ihres Anlasses darstellt und sich damit (ganz im Einklang mit den frühesten Phototexten) einer »Beschreibung« entzieht: »Ich beschreibe nicht, es gelingt mir nicht, ich bezeichne nur einen Ort [...]« [Sinn 59]. Unter den im Begriff des stumpfen Sinns kombinierten Merkmalen einer »bezeichnenden Wert-Emotion« wird auch die Möglichkeit einer sprachlichen Artikulation des punctum denkbar, zu der sich Barthes ja eigentlich reserviert verhält, ohne sie tatsächlich auszuschließen. Dass das punctum auf »Unsagbares« reagiert, »das gesagt werden will«, bezieht Sprache in den Rezeptionsprozess ein, ohne ihr einen präzisen Stellenwert zu geben. Ähnliches besagt auch die Formulierung, dass das punctum zwar »ohne das Verlangen nach einer rhetorischen Expansion [...]« [Kammer 59] verläuft, gleichwohl jedoch seinen piktoralen Anlass zu bezeichnen versucht. Dadurch wird die Bewegung zwischen intensiv erlebter »Betroffenheit« und detaillierender »Bezeichnung« eines Ortes als ein tendenziell unbegrenzter Prozess dargestellt, 17 »Es gibt noch eine andere Expansion des punctum (die weniger proustisch ist): wenn es paradoxerweise die ganze Photographie einnimmt und dabei doch ein ›Detail‹ bleibt.« [Kammer 55] 174
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
der – wie schon Kants freies Spiel der Erkenntniskräfte – theoretisch als unabgeschlossen erscheint. Es geht dem punctum wie dem stumpfen Sinn um die Lektüre eines unbestimmten »Etwas«, das »die Psychologie, den Handlungsrahmen, die Funktion, kurz den Sinn« [Sinn 49] eines Photos übersteigt, allerdings ohne dass dieses »Etwas« schließlich beschreibend eingeholt werden kann. So liegt unvermeidlich eine »Ungewissheit« vor, »wenn es gilt, den stumpfen Sinn zu beschreiben [...]« [Sinn 60], die ebenfalls auf die Benennung des bildhaften punctum zutrifft: »Was ich benennen kann, vermag mich nicht eigentlich zu bestechen. Die Unfähigkeit etwas zu benennen, ist ein sicheres Anzeichen für innere Unruhe.« [Kammer 60] Deshalb bleibt das Objekt der ästhetischen Erfahrung grundsätzlich genauso »undefinierbar« [Kammer 66] wie in Kants »Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben ist«. »Die Wirkung ist da, doch lässt sie sich nicht orten, sie findet weder ihr Zeichen noch ihren Namen [...]« [Kammer 62]. Diese Wirkung, die nicht an einem Zeichen geortet wird, weil sie damit auch einen Namen erhielte, bezeichnet allerdings einen Ort, den sie als ihren Anlass begreift, so dass die Frage entsteht, ob nicht diese detaillierende Bezeichnung eines undetailliert für wirkungsvoll empfundenen Ortes eben doch dem entspricht, was in Kants indifferent affirmierenden Schönheitszusprachen über das Deiktikon »dieses« oder auch »dieses X« ausgedrückt wurde. Das X müsste bei Barthes nun das gesuchte und doch nicht als Name oder Zeichen benennbare, piktorale Detail sein – und tatsächlich findet Barthes eine für die Artikulation des punctum sprachlich wiederum standardisierte Formel, mit der genau dieser Gehalt artikuliert werden kann (s. Kap. 6.1 u. 6.5). Der konzeptuelle Charakter des rezeptiven punctum zeigt sich so als Kombination einer spezifisch kultur- und begriffslosen Lust, die mit der ebenso spezifischen Tendenz zur Auffindung piktoraler Details einhergeht. Erst hiermit wären nun die »beiden Elemente« gegeben, »die der besonderen Art von Interesse zugrunde« liegen, die mit dem Begriff des punctum ausgedrückt werden sollte. Einerseits ist es die »Betroffenheit« am Unsagbaren, andererseits die Detaillierungstendenz, die gesagt werden will, jedoch insgesamt nur zur bezeichnenden Artikulation eines »Ortes« gelangt, in dem die »Betroffenheit« vermeintlich ihren Anlass findet. Dass das »Element« der sprachlichen Detaillierungstendenz entgegen Barthes’ Andeutungen nicht mit dem studium identisch ist, geht schon aus seiner Veranlassung aus einer spezifischen »Betroffenheit« hervor, die den gemäßigten Affekten des studium nicht zukommt. So kann letztlich aber auch die involvierte Sprache nicht mit der kulturell wissenden des studium identisch sein. Es bietet sich nun an, nochmals auf die »Gleichzeitigkeit« der Photorezeption in den frühen Texten zurückzugehen, die dort ja nicht nur grundsätzlich zwischen »Buchstabe« und »Symbol«, sondern auch in der wahrneh175
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mungstheoretisch unvermeidlichen Beteiligung von Sprache innerhalb der Rezeption des »Buchstäblichen« bestand. Da Barthes, analog zu Panofsky, immer schon von den im Bild identifizierbaren Objekten ausging und nicht nur von einer indifferenten Konfrontation des Betrachters mit »Formen und Farben«, erschien das Denotat des Photos auch durch die Sprache konnotiert, die mit seiner Wahrnehmung notwendig verbunden und die doch mit der kulturelles Wissen einbeziehenden Sprache des studium nicht identisch ist. Eine spielerische Gleichzeitigkeit zweier verschiedener Elemente ergibt sich für die Perspektive des punctum somit auch aus der Kombination einer sprachlos betroffenen »Wert-Emotion« mit deren wahrnehmungstheoretisch unvermeidlich sprachlicher Gegebenheit, die gleichwohl nicht mit der auf »bildungsmäßig Hinzugewußtes« rekurrierenden Versprachlichung des studium übereinstimmt. Die Gleichzeitigkeit des punctum lässt sich gemäß der vorausgehenden Überlegungen zum stumpfen Sinn, als das Zugleich einer »Wert-Emotion« mit einem nur »bezeichenbaren Ort« im Bild verstehen. Bezeichenbar wird dieser »Ort« im Sinne der früheren Phototheorie aber deshalb, weil die Menge der möglicherweise betreffenden Details unvermeidlich sprachlich gegeben ist. Da es sich bei der Photographie immer um ein »Etwas« handelt, »das abgebildet wird [...], liefert sie auf der Stelle jene ›Details‹ [...]« [Kammer 38], bemerkt Barthes auch in der Hellen Kammer ganz im Einklang mit seiner früheren Position. Das studium als komplexe und detailreich gemäß kulturellen Wissens identifizierende Perspektive gehört demnach also nicht zu den »Elementen«, die der »besonderen Art von Interesse«, das heißt dem punctum, zugrunde liegen (so dass auch Derridas Interpretation eines ineinandergreifenden Spiels zwischen studium und punctum zumindest für die Perspektive des letzteren verworfen werden muss). Die skizzierte Konstellation lässt sich erhellend auf eine Unstimmigkeit in Kants Begriff vom »freien Spiel der Erkenntniskräfte« beziehen. Einerseits zeichnet Kant das »freie Spiel« als eine Suche nach Begriffen aus, die von der reflektierenden Urteilskraft zum ästhetisch attraktiven Gegenstand als sein begrifflich Allgemeines erstrebt werden,18 andererseits sind begriffliche Bestimmungen des Schönen im Modus seiner Wahrnehmung als eines schönen Gegenstandes definitiv suspendiert worden. Da reine Geschmacksurteile nicht resümieren, was das begriffliche Resultat eines »freien Spiels« sein könnte, sondern selbst nur die Eignung eines Objekts artikulieren, Rezipienten in ein »freies Spiel« versetzt und ihnen damit ästhetische Lust verschafft zu haben, ist die Begriffslosigkeit des Schönen bei Kant immer mit der Suche nach Be18 »Das Wohlgefallen am Schönen muss von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhangen, und unterscheidet sich dadurch auch vom Angenehmen, welches ganz auf der Empfindung beruht.« [KdU 11] 176
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griffen und dem »gleichzeitigen« spracharmen Verweis auf einen die Suche veranlassenden Ort verbunden. Da notwendig ein Gegenstand über das artikulierte Geschmacksurteil qualifiziert wird, erscheint die Behauptung der Begriffslosigkeit dieser verweisenden Qualifikation latent widersprüchlich. Ein Erklärungsansatz wäre hier mit der von Barthes im Sinne Panofskys wahrnehmungstheoretisch ausgeschlossenen Betrachtung »bloßer Formen und Farben« angeboten, denn eine solche Indifferenz kann Kant mit seinen »Dieses X ist schön« reklamierenden Aussagen trotz deren Begriffslosigkeit ja ebenfalls nicht gemeint haben. Auch wenn das Geschmacksurteil das X selbst nicht formulieren muss, ein »Das ist schön« reicht ja prinzipiell aus, so verweist es doch auf einen Gegenstand, den es zugleich als ästhetisch relevant qualifiziert. Seine definitive Begriffslosigkeit kann man sich daher so erklären, wie Barthes’ Verweis auf gegenständlich identifizierbare Details, zu denen über den Einbezug eines existentiellen Wahrnehmungswissens aus der praktischen Erfahrung hinausgehend noch keinerlei weiterführende kulturelle Begriffe gefunden sind. Denn Begriffslosigkeit bedeutet in einer anderen Formulierung Kants auch, dass das ästhetische Urteil seinen Gegenstand ohne »Vermittlung eines Begriffs« [KdU 160] registriert. Das Spiel ist begriffslos hinsichtlich »allgemeiner« Begriffe, es beschreibt oder benennt nicht, aber bezeichnet doch einen Ort – allerdings ohne mit dieser Bezeichnung zugleich abzubrechen.
5.3 Die Merkmale des reinen Geschmacksurteils am punctum Nach diesen einleitenden Bemerkungen zu der von Barthes über den Begriff des punctum vertretenen Konzeption einer ästhetischen Rezeption von Photographien sollen nun zwei ihrer Urteilsmerkmale besprochen werden, die direkte Vergleiche mit Kants Ästhetik nahelegen und an denen sich die Differenz zum studium präzisieren lässt. Interesse: Kant hatte den Interessebegriff auf beide der durch ihn zu unterscheidenden Rezeptionstypen angewandt, da er ja auch das interesselose Wohlgefallen wiederum mit einem »unmittelbaren Interesse« assoziierte und zudem darauf hinwies, dass es in »Beziehung auf Gesellschaft« zusätzlich ein »Interesse bekommt«. Auch Barthes charakterisiert das punctum und das studium anhand des Interessebegriffs, obwohl dieser auf das letztere hauptsächlich bezogen wird.19 Da der Begriff, wie auch bei Kant, trotzdem die Funktion
19 »Im Französischen fand ich kein Wort, das diese Art menschlichen Interesses [dem durchschnittlichen Affekt, der Dressur] auf eine einfache Form zum Aus177
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hat, wichtige Unterscheidungen zwischen den Rezeptionstypen zu benennen, ordnet ihm Barthes einen ganzen Katalog ergänzender Prädikate zu. So ist das studium zwar »ein Feld des kulturellen Interesses« [Kammer 105], es bezieht sich aber »auf das höchst ausgedehnte Feld der unbekümmerten Wünsche, des ziellosen Interesses, der inkonsequenten Neigung« [Kammer 36], es stellt ein »vages, oberflächliches, verantwortungsloses Interesse« [Kammer 37] dar, dessen Formen »unverbindlich, ungleichartig« [Kammer 28] sind. Im Falle des studium ist die Rezeption somit zwar deutlich durch einen Interessebezug auf ihren Gegenstand gekennzeichnet, gleichzeitig wird dieser Bezug aber als ein besonders fragwürdiger disqualifiziert. Diese Fragwürdigkeit, die mit einem umfangreichen Spektrum negativer Prädikate dokumentiert ist, scheint nun nicht nur für den studierenden Gegenstandsbezug typisch zu sein, sondern einer Mangelhaftigkeit jeglicher Interesserelationen selbst zu entsprechen. Der und jeder vom Interessebegriff zum Ausdruck gebrachte Gegenstandsbezug wäre somit negativ konnotiert (und wie bei Kant für die ästhetische Erfahrung auszuschließen). Allerdings verweist diese hervorgehobene Negativität auf eine mögliche positive Lesart des Begriffs, denn um sie bezeichnen zu können, muss es Maßstäbe oder Bezugspunkte geben, die von ihr verfehlt werden. Tatsächlich arbeitet Barthes daher konsequent mit zwei verschiedenen Versionen des Interessebegriffs, was sich daran zeigt, dass er im Falle des punctum immer (auch im Textzusammenhang) relational zu dem des studiums gebraucht wird. So tritt der positive Begriff, dem der Katalog abwertender Prädikate fehlt, mit einem deutlichem Überbietungsgestus auf. Barthes hat nicht nur den negativen Interessebegriff mit entsprechend abwertenden Prädikaten und den positiven mit einem relativen Überbietungsgestus versehen, er deutet auch ein Beispiel an, durch das beide Interesseversionen jenseits ihrer dis- oder qualifizierenden Prädikation theoretisch unterscheidbar werden. Man kann sich vorstellen, argumentiert Barthes sinngemäß, zwei Gegenstände zu besitzen oder wahrzunehmen, die einer spezifischen Interessenlage auf nahezu identische Weise entsprechen. Nehmen wir an, es handele sich um zwei Werbephotographien auf denen jeweils ein Exemplar einer persönlich besonders begehrten Automarke abgebildet ist. Eine bei der Betrachtung der Abbildungen trotz des identischen Interesses am Gegenstand unterschiedlich stark empfundene ästhetische Wirkung würde jenem Phänomen entsprechen, das jenseits des wiedererkennend studierenden Interessebezugs theoretisch berücksichtigt werden soll [vgl. Kammer 28]. Kant hat eine ähnliche, wenn auch verfängliche Argumentationsfigur verwendet, um den Begriff des (reinen) Geschmacks vom Interessebezug (des druck brächte; doch im Lateinischen existiert, meine ich, dieses Wort: es ist das studium [...]« [Kammer 35]. 178
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
Angenehmen) zu lösen. Unter Hinweis auf das existentielle Bedürfnis der Ernährung hat er konstatiert: »Nur wenn das Bedürfnis befriedigt ist, kann man unterscheiden, wer unter vielen Geschmack habe oder nicht.« [KdU 16] Das heißt für genuin ästhetische Geschmacksangelegenheiten ist ein anderer Interessebezug als der die Bedürfnisbefriedigung bestimmende charakteristisch. Die begrifflich differenzierende Funktion des Beispiels wird hier allerdings von seiner Chronologie verdeckt und dadurch ergibt sich der leicht zynische Einschlag. Das logische Wenn-dann-Verhältnis, mit dem das Beispiel eine begriffliche Disjunktion zu illustrieren versucht, kann schnell als ein ursächliches interpretiert werden – wonach nur die Satten in der Lage sind, ästhetische Urteile zu fällen. Und genau aus dieser Perspektive ist dann auch Kants Interesselosigkeit regelmäßig kritisiert und verworfen worden (s. Kap. 4.1). Ein befriedigtes Bedürfnis tritt hier jedoch nur deshalb als befriedigtes auf, um Bedürfnisse insgesamt aus der ästhetischen Gegenstandsbeziehung ausschließen zu können. Für den Satten ist der bedürfnisgeleitete Bezug auf einen (essbaren) Gegenstand irrelevant geworden, so dass sich an seinem Beispiel ein nicht bedürfnisgeleiteter Bezug aufzeigen lässt und zwar ohne dass damit die Behauptung eines sozialen Privilegs verbunden ist oder die grundsätzliche Frage verhandelt würde, ob Satte überhaupt je in der Lage sein werden ästhetische Urteile zu fällen. Und so ist auch Barthes’ Photorezipient zu verstehen, der an mehreren Photos des gleichen Motivs sein Interesse an diesem gleichermaßen befriedigt findet und doch möglicherweise eines von ihnen jenseits des nivellierenden Interesses besonders bevorzugt. Mit dem Begriff des punctum möchte Barthes einen rezeptiven Gegenstandsbezug thematisieren, der zwar nicht frei von einem Interesseverhältnis ist, in dessen Fokus die betrachtete Photographie jedoch »stärker als durch ihr allgemeines Interesse berühr[t].« [Körnung 381] Im Zusammenhang mit dem Begriff des punctum tritt der Interessebegriff nun nicht nur mit einem qualifizierenden Überbietungs- sondern auch mit einem theoretischen Abgrenzungsgestus auf. Um diesen Unterschied auch sprachlich zu fassen, differenziert Barthes zwischen der faktischen Eignung eines Gegenstandes für die Befriedigung gegenwärtiger Interessen, Präferenzen und Bedürfnisse einer Person einerseits und der Verlaufsform des möglicherweise Interessierenden andererseits: »das eine Photo kann eines dieser Interessen befriedigen und mich doch nur in geringem Maße interessieren; wenn aber ein anderes mich stark interessiert, so möchte ich gern wissen, was auf diesem Photo etwas in mir zum ›Klingeln‹ bringt.« [Kammer 28] Der Satz fasst die Differenz zwischen studium und punctum präzise zusammen: wo Interessen befriedigt werden, verläuft das Sich-interessieren nur mäßig, verläuft es jedoch übermäßig intensiv dann deshalb, weil unbekannt ist, welches Interesse am Gegenstand eigentlich besteht. Der Zusammenhang
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KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
entspricht dem interesselosen Wohlgefallen Kants, wie es etwa Rüdiger Bubner reformuliert hat.20 Barthes’ Differenzierung zwischen einem negativen und einem positiven Interesse lässt sich daher in der Unterscheidung zwischen »Interesse« und »interessieren« präziser fassen. Sie trennt zwischen dem präferentiell Bekannten und dem ursächlich noch Unbekannten, das es aber zu entdecken gilt. Das Substantiv »Interesse« könnte dabei stellvertretend für gewisse gewohnheitsmäßige Neigungen stehen, denen die alltagssprachliche Redewendung: »Was sind deine Interessen?« üblicherweise gilt. Genau solche »inkonsequenten Neigungen: ich mag / ich mag nicht« [Kammer 36] versteht Barthes jedoch als Kennzeichen des studium, während dem punctum zumindest in der Retrospektion eine »ganz besondere Art von Interesse zugrunde« [Kammer 33] gelegen haben soll und zwar eine, die in der Verlaufsform des Verbs genaugenommen viel besser zum Ausdruck kommt, insofern hiermit nicht schon vorhandene Neigungen, sondern die Qualität einer aktuellen Bezugnahme thematisiert werden kann. So lässt sich von persönlichen »Interessen« sprechen, aber das, wofür man sich »stark interessiert«, betont zusätzlich die Aktivität, die den verallgemeinerbaren Gegenstandsbezug im Einzelnen erst herstellt. Dieser aktivische Interessebezug kann nicht von der konventionellen Eignung der wahrgenommenen Objekte ausgehen. Vielmehr bezeichnet er das Interesse in seiner Verlaufs- und Möglichkeitsform, also eines, das die sich interessierende Person sogar ausnahmsweise von der Determination durch bereits etablierte Präferenzen suspendiert. Diese Offenheit des Sich-interessierens erlaubt auch keine Prognose darüber, was Rezipienten einmal in einem mehr als »geringen Maße« interessieren könnte. Anders verhält es sich mit dem studium, das als ein auf der Basis bestehender Interessen distanziertes Gefallen gilt: »Die inkonsequente Neigung: ich mag / ich mag nicht, I like / I don`t. Das studium gehört zur Gattung des to like und nicht des to love, es setzt ein halbes Verlangen, ein halbes Wollen in Gang [...]« [Kammer 36 f.]. Die »Gattung des to like« ist bei Barthes durch
20 »Das auslösende Objekt bleibt unbestimmt, daher spielt sich die Beziehung zu ihm im Modus der Sinnlichkeit ab, ohne doch von sinnlichem Interesse am Haben oder Genießen des Gegenstands diktiert zu sein.« [Bubner Bedingungen 37] Oder in den Worten Kants: »Dagegen ist das Geschmacksurteil bloß kontemplativ, d.i. ein Urteil, welches, indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammenhält.« [KdU 14] 180
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
ein evaluierendes Wahlverhalten gekennzeichnet, das beim punctum dann wegfällt, womit die »Gattung des to love« folglich unvermittelt affirmiert.21 Was ästhetisch gefällt, gefällt nach Kants Hinweis auf die Singularität ästhetischer Urteile in seiner momentanen Präsenz, weshalb Prognosen dahingehend, es könnte anderen oder dem Betrachter selbst zu späterer Zeit weiterhin gefallen, unzulässig sind. Dieses Verständnis der Singularität des ästhetischen Geschmacks findet sich bereits in der Interesseproblematik vorbereitet, insofern Interesse ja von bestehenden Präferenzen für eine Klasse von Objekten ausgeht und damit die Verallgemeinerbarkeit des Gefallens an diesen impliziert. Eine verwandte Überlegung zum Zusammenhang zwischen Interessebezügen ästhetischer Wahrnehmung und deren generalisierendem Effekt hat Susan Sontag am Beispiel der Photographie entwickelt. »Was eine Sache interessant macht, ist, dass sie als einer anderen Sache gleich oder analog gesehen werden kann.« [Sontag Photo 161] Da Sontag jedoch die kulturelle Funktion des Mediums Photographie wesentlich darin erblickt, die Qualität der »Interessantheit« [ebd.] zu etablieren, diagnostiziert sie dem Medium generell diese gleichmachenden Effekte. Ihre in dieser Hinsicht kulturpessimistische Einschätzung der Photographie verweist von der Interessantheit sogar auf mögliche diktatorische Gesellschaftsstrukturen.22 Die prinzipielle Interessantheit photographischer Bilder (ob klischeehaft oder exzentrisch) hat nivellierende und repressive Folgen, insofern sie Gegenstandsbezüge verhindert, die nicht auf dem Interesse an konventionalisierten Typen basieren. Es ist vorstellbar, dass sich Barthes mit seiner Konzeption des photographischen studium an die Überlegungen Bourdieus anschließt,23 allerdings mit dem Unterschied, dass er über das punctum nicht nur einen anderen photographischen Interessebegriff,
21 Unvermittelt ist dieser Bezug nur im dargestellten Sinne, nicht aber in dem, der durch Bourdieu über die vermeintliche Geschichtslosigkeit des Ästhetischen kritisiert wurde, denn einer solchen Kritik war Barthes ja bereits in seiner Panofsky-Adaption entgangen. Sich-interessieren ist zwar kein geschichts- und kulturloser Bezug auf die Welt, aber er ist doch deutlich unterschieden von einer bloßen Reproduktion der Geschichts- und Kulturverhaftung, wie sie sich in der Bestätigung bereits etablierter Interessen zeigt. 22 »Mag sein, dass die Zukunft eine andere Art von Diktatur hervorbringt, deren beherrschende Idee das ›Interessante‹ ist und in der alle möglichen Bilder, ob klischeehaft oder exzentrisch, wuchern.« [Sontag Photo 164] 23 Den nivellierenden Effekt drückt Barthes ebenfalls aus, wenn er darauf hinweist, dass das studium (durch seine Orientierung an Interessen) »einen weitverbreiteten Typ von Photographie« hervorgebracht habe, »den man die einförmige Photographie nennen könnte.« [Kammer 50] 181
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
sondern damit eben auch die Möglichkeit der prinzipiellen, wenn auch temporären Aufhebung seiner nivellierenden Effekte unterbreitet. Zweckmäßigkeit ohne Zweck: In der Perspektive des studiums erlangt laut Barthes der artifizielle Charakter der Photographie Bedeutung, insofern Photographien nicht nur über den Verweisungscharakter ihrer Bildmotive studiert werden, sondern zugleich auch schon als Photographien und absichtsvoll hergestellte Bildwerke gelten. Das studium registriert dabei jene instrumentalen Funktionen, die Barthes dem Medium Photographie insgesamt unterstellt. »Diese Funktionen bestehen in Informieren, Abbilden, Überraschen, Bedeutung stiften, Wünsche wecken.« [Kammer 37] Die Berücksichtigung solcher Funktionen bindet das betrachtete photographische Bild an begrifflich fixierbare Zwecke. Der studierende spectator erkennt nicht nur vertraute Bildmotive wieder, sondern ebenfalls diese konventionellen Funktionen, die Ausdruck der gesellschaftlichen Rolle des Mediums Photographie sind.24 Barthes schließt sich nun für das punctum an die bei Kant den reinen Geschmacksurteilen verbindlich zugeschriebene Perspektive einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck an, wenn er feststellt, dass das bestechende Detail in der Lesart des punctum als »zufällig und zwecklos« erscheint: »doch aus meiner Sicht, der des spectator, kommt das Detail zufällig und zwecklos ins Bild [...]« [Kammer 52]. Die Sicht des spectator steht in diesem Fall stellvertretend für eine punktuierte Rezeption, denn aus der Sicht eines studierenden spectators könnte das Detail durchaus genauso zweckhaft erfasst werden, wie es dem um einen überzeugenden Bildaufbau bemühten Photographen erschien: »unter dem Aspekt der Realität (der möglicherweise derjenige des operator ist) lässt sich die Anwesenheit des ›Details‹ rein kausal erklären [...]« [Kammer 52]. »Das studium anerkennen, heißt unausweichlich den Intentionen des Photographen begegnen [...]« [Kammer 37] und das bedeutet wiederum, auf die Zweckhaftigkeit vom Photographen stilisierter Details aufmerksam zu werden.25 Da dieser Aspekt dem punctum abgesprochen wird, ist also eine in
24 »Es entspricht der Arbeit des Photographen: er versucht, unserem studium zu gefallen, gewissermaßen unserem ... Geschmack. So haben im allgemeinen alle Photos des aktuellen Geschehens den Sinn von studium.« [Körnung 381] 25 Dieser Aspekt findet sich bereits im vorangegangenen Text. Im Gegensatz zum stumpfen Sinn geht auch der entgegenkommende (das begriffliche Pendant des studium) mit einer Aufmerksamkeit auf die Artifizialität des Bildes und seine Darstellungsabsicht einher. Der entgegenkommende Sinn liest Photogramme als Photogramme. »Er ist intentional (das wollte der Autor sagen) und wurde einer Art allgemeinem, gemeinsamen Wortschatz der Symbole entnommen; es ist ein 182
5. PUNCTUM UND REINES GESCHMACKSURTEIL
der Wahrnehmung unberücksichtigte Zweckhaftigkeit des photographischen Arrangements wie schon bei Kant ein Kriterium zur Differenzierung von ästhetischen Urteilstypen, das zugleich auf einer Seite der zweistelligen Differenzierung charakterisierend eingesetzt wird, insofern es den spezifischen Gegenstandsbezug von punctum und reinem Geschmacksurteil erläutert. Wie Kants Geschmacksurteil so thematisiert auch das punctum eine Form ästhetischer Rezeption, die sich zunächst nicht auf den intendierten Zweck des wahrgenommenen Gegenstandes richtet. Charakteristisch ist umgekehrt die fehlende Kenntnis von dessen Artifizialität oder die ausbleibende Berücksichtigung einer solchen im Moment der ästhetischen Wahrnehmung.26 Der Gegenstand hat keinen Zweck, von dem ich wüsste, außer eben den nachträglich attestierten, dass er mich in einem aktuellen Moment unmittelbar faszinierte (vgl. Kants Zweckbegriff, wie er in den §§ 10-12 mit der ästhetischen Lust assoziiert wird). Nicht die tatsächliche Zweckhaftigkeit der als ästhetisch wirksam empfundenen Konfiguration, sondern nur das Wissen von oder die Unterstellung einer solchen würden das Erlebnis des punctum verhindern können: »Wenn bestimmte Details, die mich ›bestechen‹ könnten, dies nicht tun, dann zweifellos deshalb, weil der Photograph sie mit Absicht platziert hat.« [Kammer 57] Eine solche Berücksichtigung der produktiven Intentionen wird aus der Perspektive einer kunstkritischen Rezeption wahrgenommen, die Kunst als Kunst oder das Artefakt als zweckmäßig konstruiertes registriert (vgl. KdU 188). Würde man die Bildbetrachtung aus der Zweckperspektive führen, wären unweigerlich die von Barthes analog zu Panofsky registrierten Intentionen relevant – womit ausschließlich die studierende Lektüre von Symbolen des Bedeutungssinns betrieben werden kann. Photographien, denen deutlich anzumerken ist, dass sie zur Evokation intensiver emotionaler Wirkungen konzipiert wurden (z.B. in Werbung und Presse), können laut Barthes nur »halbe« und »dressierte« Affekte produzieren. In diesem Sinne ist auch seine Ablehnung der inszenierten Schockphotographie zu verstehen, deren durchschaubare Intentionen mit einer echten Betroffenheit jenseits photographischer Absichten nichts zu tun hat. So wie bei Kant das Merkmal der Zweckmäßigkeit ohne Zweck zur Sicherung der ästhetischen Autonomie, das heißt zur theoretischen Unterscheidbarkeit ästhetischer Urteile beiträgt, sanktioniert die Zwecklosigkeit und Zufälligkeit von Barthes’ punctum die instrumentalisierte Wirkung visueller Affektproduktionen und sichert damit die Autonomie ästhetischer Subjektivität, die wiederum Voraussetzung authentischer Urteile ist. Sinn, der mich, den Adressaten der Botschaft, das Subjekt der Lektüre, sucht.« [Sinn 49] 26 Dies sind die zwei von Kant angeführten Optionen (vgl. KdU 52; oder s. Kap. 4.1). 183
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Der Interesse- und der Zweckbegriff betonen an Barthes’ punctum offensichtlich disjunktive und teilweise auch kulturkritisch charakteristische Aspekte. Verglichen mit Kants Reihe expliziter und impliziter Urteilsmerkmale fällt allerdings auf, dass das zentrale des Allgemeingültigkeitsanspruchs reiner Geschmacksurteile, zu dessen Darstellung ja erst die Begriffe des interesselosen Wohlgefallens und der Zweckmäßigkeit ohne Zweck aufgeboten werden, von Barthes vollständig übergangen wird, indem er seine »interesseund zwecklose« photographische Rezeption gänzlich aus der Sphäre öffentlichen Geschmacksstreits herausnimmt und in der privaten Hermetik einer unpolitischen »Häuslichkeit« isoliert. Obwohl Barthes in der spezifischen Artikulationsweise des begriffslosen punctum den gleichen deiktischen Charakter ermittelt, der bereits an der sprachlichen Gestalt von Kants reinen Geschmacksurteilen ablesbar ist, kann er entsprechende Verweise nicht als öffentliche Phänomene mit intersubjektiven Konsequenzen verstehen. In der Selbsteinschätzung, dass mit diesen spracharmen Artikulationen schwerlich kommuniziert werden kann (weshalb sie dann kurzerhand in die private Isolation verbannt werden), bewertet Barthes seine eigene Urteilskonzeption daher genau so, wie die philosophische Rezeption die Kantsche Ästhetik hinsichtlich der fehlenden Gesprächs- (Kulenkampff) und Diskurseignung (Seel) reiner Geschmacksurteile beurteilt hat. Barthes’ Konzeption des punctum setzt sich nicht dem unvermeidlichen Problem eines fragilen Status jener ästhetischen Urteile aus, die aus einem begriffslosen Spiel heraus Objekte interesselos und zweckfrei rezipieren und auf deren diesbezügliche Eignung jeweils affirmierend verweisen – und doch drängt sie darauf, Kants Urteile im Kontext photographischer Bilder zu diskutieren. Denn Theorien, die am Gegenstand des öffentlich dominanten photographisch/ technischen Bildes eine intersubjektiv folgenreiche Rezeption angesprochen haben (Benjamin und Flusser, s.u. Kap. 7), verfügen wiederum über einen viel unpräziseren Urteilsbegriff, als es etwa jener ist, der sich zwischen Kant und Barthes für die Photographie entwickeln lässt. Bezieht man Kants gegenstandslose Ästhetik auf das photographische Bild, dann kann sie im Begriff der ästhetischen Rezeption (im Gegensatz etwa zum klassifizierenden und Funktionszuordnungen betreibenden Bourdieus) als einzige unter den genannten beide Problemfelder synthetisieren: den subjektiv reaktiven Charakter einer begriffslosen und geltungshaft prekären Affirmation sowie das Öffentlichkeitsproblem ihrer Artikulationen.
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6. Das punctum zw ischen Artikulation und Öffentlichkeit
»Was ist die Einsamkeit des Dichters? Eine Zirkusnummer ohne Ansage.« [frei nach Paul Celan]
Im letzten Kapitel wurde dargestellt, inwiefern der rezeptionsästhetische Untersuchungsgegenstand von Barthes’ Phototheorie den der Kantschen Ästhetik variiert. Mit dieser Gegenüberstellung war die Absicht einer Aktualisierung verbunden, die zeigen sollte, dass die Konzeption des punctum offensichtlich viele Motive und auch den genuin sensualistischen Charakter der reinen Geschmacksurteile im Kontext der photographischen Kultur weiterführt. Damit ist jedoch erst die halbe Arbeit geleistet, denn Kants Theorie der reinen Geschmacksurteile dient ja nicht einfach nur der theoretischen Selbstbehauptung eines besonderen Modus ästhetischer Rezeption (und damit der Begründung ästhetischer Autonomie), sondern sie ist zugleich deutlich auf das Problem öffentlicher Geschmackskontroversen und deren geltungstheoretische (aber nicht inhaltliche) Befriedung bezogen. Diese politische Dimension des Ästhetischen, die Kant noch transzendentalphilosophisch (unter der Annahme eines subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs) diskutiert hat, stellt jenseits ihrer transzendentalen Begründbarkeit zunächst ein öffentlichkeits- und diskurstheoretisches Problem dar. In diesem Sinne soll nun auch das punctum danach befragt werden, welche diskursive Funktion es hat, wie sich mit ihm kommunizieren lässt und ob eine rhetorische Wiedergabe jener ästhetischen Gefallenszustände überhaupt vorgesehen ist. Mit anderen Worten, diese Fragen interessieren sich für die Öffentlichkeit genuin ästhetischer Weltzugänge, wie sie von Barthes unter dem Begriff des punctum und von Kant unter dem der reinen Geschmacksurteile vorgestellt wurden. 185
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Barthes’ Phototheorie kann nun – stellvertretend auch für die thematische Bereicherung des Verständnisses von Kants Ästhetik – zeigen, welche Antworten möglich und welche Probleme wahrscheinlich werden, wenn man eine subjektivierte Rezeptionstheorie mit der Frage nach den ihr adäquaten Artikulationen und deren öffentlichem Status konfrontiert. Es sind besonders zwei Aspekte, unter deren Berücksichtigung der Status entsprechender Rezeptionsmomente erklärungsbedürftig wird. Der erste betrifft das Ausmaß, in dem sich eine subjektivierte, wirkungsorientierte ästhetische Rezeption als eine artikulierbare auslegen lässt. Wichtig ist hierbei nicht einmal die adäquate sprachliche Form des punctum, sondern vielmehr die Frage, ob die Grenze zur rhetorischen Artikulation nach konzeptuellem Dafürhalten überhaupt überschritten werden soll. Denn nichts läge gerade auch einer kritisch abwertend motivierten Betrachtung von Barthes’ Phototheorie näher als die von einem resümierenden Achselzucken begleitete Feststellung, man könne die jeweils auftretenden Effekte einer Lektüre des punctum unter dem Etikett eines in Schweigsamkeit verharrenden ästhetischen Privatvergnügens verbuchen. Die Frage, ob das punctum einen produktiven Beitrag etwa zum Sprachspiel der Kunstkritik liefere, kann pragmatisch ja selbst dann noch übergangen werden, wenn feststeht, dass ein geeignetes Sprachniveau für diese Betroffenheitserlebnisse zwar prognostiziert wird, es aber gleichwohl in stille Selbstgespräche integriert bleiben muss. Diese Möglichkeit kann Barthes aber aus konzeptuellen Gründen nicht vorgesehen haben. Obwohl der zweite, die sprachliche Form betreffende Aspekt in der Frage nach der grundsätzlichen Artikulierbarkeit des punctum nicht mit dem Hinweis auf ein qualifiziertes Sprachniveau beantwortet wird, so ist doch trotzdem auch die Konsequenz eines stillen Selbstgesprächs auf der Grundlage seiner Konzeption kaum zu bestätigen. Denn hierfür hätte Barthes den affektiven Charakter jener positiven Betroffenheit des punctum deutlicher limitieren müssen. Es wäre kaum nachvollziehbar, wollte man die überraschend eintretende, positive Betroffenheit, für die das punctum steht, mit einem rhetorischen Lautlosigkeitsverdikt kombinieren. Darüber hinaus, und darauf wird unter dem Aspekt der Öffentlichkeit des punctum auch einzugehen sein, betreibt Barthes durch sein Buch Die Helle Kammer bereits die publizistische Veröffentlichung solch subjektiver Erlebnismomente, so dass anhand dieses Beispiels das Verhältnis des punctum zu einer publizistischen Öffentlichkeit thematisiert werden kann. Vor der publizistischen stellt sich jedoch noch die Frage nach der unmittelbar sozialen Öffentlichkeit eines artikulierten punctum, und dies ist wiederum ein Aspekt, in dem Barthes’ Rezeptionstheorie mit der von Kant verglichen werden muss. Da Kants Geschmacksurteile meiner Ansicht nach Urteile sind, die ausgesprochen werden müssen, um für die Transzendentalphilosophie überhaupt jene »Merkwürdigkeit« anzunehmen, der die »Analytik des Schönen« dann gilt, bietet der Theo186
6. DAS PUNCTUM ZWISCHEN ARTIKULATION UND ÖFFENTLICHKEIT
rienvergleich zwischen Barthes und Kant nun die Gelegenheit, auch das punctum auf seine Beteiligung an einem öffentlichen Geschmacksstreit zu befragen, in den sich all jene ästhetischen Urteile verwickeln, die durch ihre Artikulation »allgemeinen Beifall ansinnen«. Zwischen der Sagbarkeit und der Öffentlichkeit subjektiver Gefallenskundgaben besteht aber ein gravierender Unterschied, dessen für eine Rezeptionsästhetik problematische Konsequenzen Barthes nicht auf sich zu nehmen bereit war. Anders als Kant hat er der Artikulation des punctum den ersten Aspekt noch zugestanden, den strittigen Status, der damit verbunden ist, aber durch den Wechsel von einer unmittelbar sozialen in die publizistische Öffentlichkeit zu umgehen versucht.
6 . 1 D i e Ar t i k u l a t i o n d e s p u n c t u m Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass Barthes den Begriff des punctum sowohl auf piktorale Details bezieht, also werktheoretisch verwendet, als auch zur Kennzeichnung eines rezeptiven Zustands emotionaler »Betroffenheit« gebraucht. Wenn nun Barthes’ Äußerungen zur generellen Möglichkeit und den spezifischen Bedingungen einer Artikulation des punctum diskutiert werden sollen, dann ist vorrangig die zweite Verwendungsweise des Begriffs gemeint, so dass dieser also präziser mit der Frage konfrontiert wird, inwiefern jene Zustände emotionaler Betroffenheit der Konzeption des punctum zufolge sprachlich wiedergegeben werden können. Barthes hatte eingangs der Hellen Kammer resümierend angemerkt, dass es unter den vielen anerkannten Photographien für ihn nur wenige »bestimmte Photos gab, die stillen Jubel in mir auslösten [...]« [Kammer 25], um mit dieser Unterscheidung auf die Spezifik der punktuierten Rezeption hinzuweisen. Nimmt man diese einleitende Formulierung wörtlich, so unterstellt sie jener besonderen ästhetischen Erfahrung, was ihr einer kritischen Haltung zufolge einzig zusteht, dass sie nämlich eigentlich überhaupt nicht kommuniziert zu werden braucht. Die genuin ästhetischen Erlebnisse können demzufolge besser in ihrer Privatheit belassen werden, und sollte der Rezipient über die entsprechenden Möglichkeiten verfügen, um im Nachhinein eine essayistische Wiedergabe seiner Lektüreerfahrung zu betreiben, dann wäre eben diese anregend heuristische Funktion des punctum jene Qualität, die ihm hinsichtlich der Frage nach seiner artikulativen Eignung gerade noch zugestanden werden kann. Allerdings gibt es bei Barthes einen unübersehbaren Hinweis darauf, dass neben der retrospektiv-essayistischen auch eine erlebnis-simultane Artikulation des punctums angenommen werden muss, und dieser Hinweis bezieht sich auf dessen Affektivität. Zweifel, etwa an der sprachlichen Angemessenheit, 187
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
treten dort gar nicht erst auf, wo die affektive Begeisterung eine artikulative Zurückhaltung unmöglich macht. Mit der Rede vom »stillen Jubel« hat man es selbstverständlich nicht mit dieser Form sondern einer des zurückgehaltenen Wohlgefallens zu tun – allerdings gibt es in der Hellen Kammer kaum Textstellen, die eine solche Verschwiegenheit des punctum nahelegen. Denn statt Verschwiegenheit betont Barthes sehr viel häufiger den Zwang zur unmittelbaren, erlebnis-simultanen Artikulation, etwa dort, wo er hinsichtlich des punctum vom »Druck des Unsagbaren« spricht, »das gesagt werden will.« [Kammer 26] Mit dieser Formulierung wird nicht nur eine grundsätzliche Artikulationstendenz des punctum behauptet, sondern es werden zugleich die beiden Bedingungen genannt, unter denen eine solche nur stattfinden kann: das Unsagbare steht für die konstatierte Begriffslosigkeit des punctum, also für die notorische Verfehlung, mit der die expressive Rede sich ihrer Veranlassung zu vergewissern versucht. Der Wille zum Sagen steht für die als Überraschung erlebte Affektivität des punctum, also für eine Betroffenheit, die zustandsbedingt über keine Grenze der artikulativen Zurückhaltung verfügt. Die Verbindung beider Aspekte ergibt deshalb auch das sprachliche Profil adäquater Artikulationen des punctum (zumindest insofern sie zeitgleich zum ästhetischen Erleben verlaufen). Dem »Druck des Unsagbaren« wird aufgrund seiner Begriffslosigkeit nämlich nur in zeigenden Hinweis-Sätzen entsprochen werden können, mit denen die expressive Rede auf die Präsenz ihres Anlasses aufmerksam zu machen versucht. Ein alltägliches Beispiel für solche Artikulationen sieht Barthes im gegenseitigen Aufmerksam-Machen auf Photos gegeben: »Zeige deine Photographien einem anderen; er wird sogleich die seinen hervorholen und sagen: ›Sieh, hier, das ist mein Bruder; das da, das bin ich als Kind‹ und so weiter; die Photographie ist immer nur ein Wechselgesang von Rufen wie ›Seht mal! Schau! Hier ist’s!‹; sie deutet mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber und ist an diese reine Hinweis-Sprache gebunden.« [Kammer 12 f.]
In der bekannten Analogisierung werk- und rezeptionstheoretischer Positionen deutet Barthes die Hinweis-Struktur der Artikulationen als Aspekt einer adäquaten sprachlichen Reaktion auf die immanente Hinweis-Struktur betrachteter Photographien und umgekehrt, denn die Beschaffenheit jener sprachlichen Reaktion, die die Rezeption des Mediums kommentiert, wird im Zitat als Beleg für dessen deiktische Struktur ausgegeben. Der entstehende »Wechselgesang von Rufen« ist jedoch, abgesehen von medientheoretischen Erwägungen, eindeutig nur auf der Seite der Artikulationen zu verbuchen und kann daher als soziales Symptom für die allgemeinste Form sprachlicher Reaktionen auf Photographien verstanden werden, die Barthes für möglich hält.
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6. DAS PUNCTUM ZWISCHEN ARTIKULATION UND ÖFFENTLICHKEIT
Eingedenk der im Originaltext erst auf den nachfolgenden Seiten entwikkelten Differenzierung zwischen punctum und studium stellt sich hier jedoch die Frage, ob beiden Rezeptionsweisen identische Artikulationstypen zuzuschreiben sind. Denn die identifizierende Deutung photographischer Motive, wie sie vom studium betrieben wird, kann statt oder nach einem knappen Ruf zweifellos narrative Ausmaße annehmen, etwa indem Erläuterungen angefügt, auf weitere, nicht photographische Quellen verwiesen oder der aktuelle kulturelle Status bestimmter Bildmotive rekapituliert wird. Erläuterungen in diesem Sinne stellen ja bereits die auf dokumentarische Authentizität verweisenden Anmerkungen: »Das ist mein Bruder, das bin ich als Kind«, dar. Zur Sprache des studium muss auf funktional bedeutsame Weise zumindest auch noch die Kopula gerechnet werden, ein Satzbestandteil, den Barthes bei Artikulationen genuin ästhetischer Lust dahingegen tendenziell für unbedeutend, wenn nicht gar für eigentlich vermeidbar hält.1 Die Äußerungen »Sieh, hier; das da; Seht mal! Schau!« gehören dieser zweiten Klasse an, die Äußerung »Hier ist’s!«, die sich auch auf ein bloßes »Hier!« reduzieren ließe, der ersten. Der der photographischen Rezeption generell unterstellte »Wechselgesang von Rufen« kann als ein Aufeinandertreffen solch knapper, deiktischer Interjektionen deshalb eigentlich nur insofern verstanden werden, als er die wiederholte Versprachlichung punktuierter Rezeptionserlebnisse beschreibt.2 Nur diese sind Rufe im engeren Sinne, denn interpretierende Aufzählungen und Erläuterungen, wie sie das studium betreibt, sind weder durch die charakteristische Steigerung der Lautstärke noch durch die Knappheit der Wortwahl gekennzeichnet. Jenseits der empirischen Plausibilität jener These vom Wechselgesang möchte ich mich daher zuerst mit der solitären Artikulation des punctum und ihrer begründenden Herleitung befassen, bevor auf das Problem 1 2
Vgl.: Zeichen 115; oder s.u. Darauf weist unter anderem auch die Benennung von Familienmitgliedern hin, denn diesen kommt in Barthes’ Theorie des punctum eine besondere Bedeutung zu (s.u.) – obwohl ich sie oben, ganz gegen Barthes’ Intention, als sprachliches Indiz für das studium identifiziert habe. Das Beispiel würde einen gänzlich anderen, nämlich studierenden Charakter erhalten (oder, wie ich meine, offen legen), wenn statt des Bruders ein Objekt der Alltagskultur eingesetzt würde: »Sieh, hier, das ist mein neues Auto mit Seitenairbag und Schiebedach«. Die Diagnose eines »Wechselgesangs« von interjektiven Rufen verliert unter den Bedingungen einer studierenden Lektüre ihre Plausibilität. Denn sowohl die Antwort: »Aha, sehr schön, das hat ja die gleiche Lackierung wie dein altes« als auch die Fortsetzung im Gespräch: »Nein, nein, das sieht hier nur so aus, weil die Sonne direkt drauf scheint, aber sonst ...« verlassen das dargestellte Sprachniveau knapper Rufe und verwandeln den kontroversen »Wechselgesang« in einen trivialen Dialog. 189
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
ihres öffentlichen Gebrauchs und ihrer diskursiven Funktionen eingegangen wird. Mit der werk- und rezeptionstheoretischen Analogie des Zitats hatte Barthes also unterstellt, dass auch ein Photo analog zu jenen Rezipienten, die ein ästhetisches Erlebnis nach dem Modell des punctum durchlaufen und zu verbalisieren versuchen, »nicht sagen [kann], was es zeigt.« [Kammer 111] Die erlebnis-simultane Artikulation solcher Momente ist genauso wie das Medium, von dem sie spricht, an eine »reine Hinweis-Sprache« gebunden. In dieser Selbstauslegung übergeht Barthes aber die naheliegende Beobachtung, dass der deiktische Charakter der Artikulationen ebenfalls aus dem ambivalent unentschlossenen Profil des Rezeptionszustandes bezogen werden kann. Denn der »Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will« kann in letzter (und d.h. hier chronologisch erster) Konsequenz nur in der Artikulation von deiktischen Interjektionen resultieren, also jenen »Rufen«, die Barthes indifferent mit der Zeigestruktur der Photographien selbst identifiziert. Oder kann diesem Druck etwa auf andere Weise nach- und stattgegeben werden, ohne dass zugleich schon in einem elaborierteren Sinne Sagbares produziert würde? Barthes hat in mehreren Formulierungen der Hellen Kammer die adäquate Artikulation des punctum als einen Ruf oder Schrei gekennzeichnet, der im Modus einer Hinweis-Sprache ergeht und sich diese sprachliche Form betreffend etwa in der Formulierung »Das ist es!« exemplifizieren lässt.3 Kant wiederum hat fast 200 Jahre zuvor den adäquaten Ausdruck eines nicht identifizierenden, begriffslosen und zugleich lustvollen ästhetischen Erlebens in der knappen Formulierung: »Das ist schön!« (oder auch: »Dieses X ist schön!«) erblickt, die vielleicht nicht als Ruf, aber doch immerhin mit der anspruchshaften Gewissheit vorgetragen wurde, die sich daraus ergibt, dass ein Sprecher mit diesem Satz »allgemeinen Beifall anzusinnen« gedenkt. Auch Kants Geschmacksurteile verfügen über diese Hinweis-Struktur der photographischen Sprache, aber selbstverständlich nicht deshalb, weil sie auf 3
»So ging ich die Photos meiner Mutter durch, einer Spur folgend, die in diesen Schrei mündete, mit dem jede Sprache endet: ›Das ist es!‹[...] « [Kammer 119]. Oder in der Variante: »Das ist sie! Das ist sie ja! Das ist sie endlich!« [Kammer 110]. Oder in der ebenso deiktischen Variante allerdings unter Ausschluss der Kopula und jenseits einer identifizierenden Wiedererkennung: »[...] ein jähes Erwachen, durch keinerlei ›Ähnlichkeit‹ ausgelöst, das satori, wo die Worte versagen, die seltene, vielleicht einzigartige Evidenz des ›So, ja, so, und weiter nichts‹.« [Kammer 119]. Den Begriff des satori hatte Barthes in seinem Reich der Zeichen auch an der Gedichtgattung des Haiku erläutert. Auch hier findet sich der deiktische Ausruf in der Form, die ihm für das photographische punctum zugeschrieben wurde (vgl.: Zeichen 112 ff. oder s.u.).
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dieses Darstellungsmedium oder überhaupt irgend eines spezialisiert wären, sondern deshalb, weil dies offenbar die Hinweis-Struktur einer adäquaten Sprache des von Barthes und Kant gleichermaßen favorisierten ästhetischen Erlebens ist. Zwar gehen die reinen Geschmacksurteile zunächst scheinbar über ein bloßes Aufzeigen hinaus, wie es durch die ausschließliche Verwendung von Deiktika stattfinden würde. Statt »dieses«, »das« oder eben »Schau!«, »Hier ist’s!« sind sie Kants Charakterisierung zufolge ebenfalls noch durch die Verwendung des Prädikats schön gekennzeichnet. Ob durch diesen Zusatz allerdings grundsätzlich mehr und anderes zum Ausdruck gebracht werden soll als durch Barthes’ Hinweis-Sprache des punctum, ist fraglich. Denn das Prädikat schön wird ja bei Kant nicht im Zuge einer evaluierenden Handlung vergeben und ist auch keineswegs kriteriell gesichert (denn dann wäre es ja jene definitiv ausgeschlossene begriffliche Bestimmung des Schönen). So wie Barthes’ stumpfer Sinn gehört auch Kants Geschmacksurteil zu einer Klasse von Artikulationen, die nicht beschreiben, sondern nur »einen Ort bezeichnen«. Es bringt nur die momentane Zustimmung des Sprechers zum Ausdruck und macht darüber hinaus transparent, welcher Gegenstand als subjektiver Anlass ästhetischen Wohlgefallens aktuell jeweils infrage kommt. Kants Schönheitszusprachen verweisen, so wie auch Barthes’ punctum, im Modus einer emotionalen Zustimmung auf ein ästhetisch relevantes Objekt. Ästhetische Relevanz äußert sich in beiden Fällen immer nur durch die deiktische Auszeichnung eines Objekts auf der Basis einer aktuell empfundenen ästhetischen Lust. Denn auch Barthes’ Rufe »Hier! Schau! Das ist es!« sagen letztlich »nichts über ihren Gegenstand aus und bejahen lediglich, dass sich hier eine Wahrnehmung lohnt«, wie Martin Seel zu Kants Geschmacksurteilen festgestellt hatte. Gerade in der Ästhetik Kants, aber auch in Barthes’ Phototheorie wird somit die Konzeption eines Redefragments in seiner ganzen diskursiven Problematik explizit, die noch dadurch gesteigert erscheint, dass es sich offenbar nicht in einsichtsvoller Zurückhaltung verschweigen lässt (weil ihm die erforderliche Kontrollinstanz der Einsicht fehlt).4 Kant, für den die Artikulation 4
Verschweigen lassen sich diese und andere ästhetisch motivierte Artikulationen natürlich trotzdem, allerdings nicht in Entsprechung der ästhetischen Konzeption, sondern vielmehr in Anerkennung kulturell tradierter Verhaltensweisen und kommunikativer Rollen, wie sie etwa Richard Sennett für den gravierenden kunstsoziologischen Wandel in der zweiten Hälfte des 19. Jh. diagnostiziert hat (vgl.: ders.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Die Tyrannei der Intimität; F.a.M. (Fischer) 1990, S. 264-281). Für Kants Jahrhundert finden sich der Kultivierung des Schweigens entgegenlaufende Beobachtungen bei Albert Dresdner (s.u.). Für das 20. Jh. hat Bourdieu (im Anschluss an Sennett) das Schweigen dann als die bürgerliche Einsicht in die sozial distinguierende Funk191
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der Geschmacksurteile trotz seines vermögenspsychologischen Urteilsbegriffs doch selbstverständlich zu sein scheint, hat ihren Status mit dem Merkmal des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs zu sichern versucht. Barthes wählt einen anderen Weg, indem er die simultane Artikulation zulässt, aber, wie noch zu zeigen sein wird, die Probleme der sozialen Unmittelbarkeit durch Vermeidung entschärft. In der Einleitung zu seinem Buch Was sich zeigt konstatiert Dieter Mersch, dass einem Unsagbaren: »das fortgesetzt unter dem Druck des Sagens steht [...], einzig eine Rede entsprechen kann, die um ihr Unzureichendes weiß, die, wie bei der Gewahrung überwältigender Schönheit oder angesichts des schockartigen Unbegreiflichen, der Bodenlosigkeit des Wirklichen entweder in Schweigen verfällt, um es durch das missratene Wort nicht zu verletzen, oder im Gegenteil in einen endlosen, weil beständig verfehlenden Redefluss stürzt.« [Mersch: Was sich zeigt; München (Fink) 2002, S. 39 f.]
Die »holzschnittartige«5 Polarität zwischen einem einsichtsvollen Schweigen und einem anspruchsvollen, aber notorisch verfehlenden Sagen kann nur aus der wissenden Perspektive der Theorie konstatiert werden, die sich bereits analytisch distanziert auf das implizite Problem adäquater Semantik konzentriert. Die übersichtlich polarisierten Optionen werden dem punktuierten Rezipienten aber kaum als souverän wählbare Alternativen verfügbar sein, während umgekehrt derjenige, der um das »Unzureichende seiner Rede weiß«, offensichtlich den zwanghaften Zustand, etwas Unsagbares sagen zu müssen, bereits überwunden hat. Die fortgesetzte Rede, die dann erfolgen kann, müht sich, ihren Anlass zu rekonstruieren, aber womit hat sie begonnen, was war ihr erstes »verfehlendes« Wort? Obwohl Barthes das punctum durch Ruf oder Schrei authentisch artikuliert sieht und damit den angemessenen sprachlichen Ausdruck genau zwi-
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tion kunstbezogener Kenntnisse beschrieben: »Dem freimütigen Bekennen von Unverständnis, mit dem Arbeiter angesichts moderner Malerei die Tatsache des Ausgeschlossenseins aus dieser Sphäre offen dokumentieren [...], steht das gewitzte Schweigen des Bourgeois gegenüber, der zwar nicht minder verwirrt ist, aber wenigstens weiß, dass die naive Erwartung einer verbalen Stellungnahme, die sich im Bemühen um ›Verständnis‹ offenbart, abzulehnen – oder doch für sich zu behalten – ist [...]« [Bourdieu Unterschiede 84]. »Man könnte, holzschnittartig, an beiden die Alternativen des abendländischen Denkens im Umgang mit dem Unaussprechlichen ausmachen: Ersteres bezeichnet die Lösung der Mystik, letzteres der Philosophie und Literatur im allgemeinen.« [Ebd. 40]
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schen Schweigen und fortgesetzt verfehlender Rede lokalisiert, misshagt ihm dieses Schicksal offensichtlich, bedeutet es doch den Untergang der photographischen Wahrheit6 in der öffentlich dominanten Trivialität spracharmer Rufe. Denn zwischen mystisch-religiösem7 oder auch profan-hedonistischem Schweigen und philosophisch-literarischem, unablässig verfehlendem Reden liegt ein unüberschaubares Feld knapp deiktischer Rufe, das sich als die zeitgemäße Sprachpraxis einer überwiegend bildfixierten Massenkultur herausgebildet hat. Das Unsagbare, das gesagt werden will, soll jedoch ein anderes Los haben als die Ununterscheidbarkeit, die ihm im »Wechselgesang der Rufe« anhaften würde. Tatsächlich soll das artikulierte punctum, obwohl es empirisch genau zwischen den beiden Optionen von Schweigen und anspruchshaftem Reden liegt, aus dieser problematischen Mitte verschwinden und zwar ausgerechnet dadurch, dass es beide Seiten zugleich in Anspruch nimmt. Schweigsamkeit erhält es, obwohl es doch gesagt werden will und auch weiterhin gesagt wird, durch eine Simulation. Denn dort, wo es außer dem Sprecher keine weiteren Hörer gibt, nämlich in der sozialen Isolation, läuft das artikulierte punctum nicht mehr Gefahr, in einem zermürbenden Wechselgesang unterzugehen und kann daher alle sachlichen Konsequenzen des Schweigens für sich beanspruchen, ohne tatsächlich verschwiegen werden zu müssen. Andererseits nähert es sich auch dort einer fortgesetzt verfehlenden und zugleich sehr anspruchshaften Rede wieder an, indem es gleichsam unter schon dokumentarischer Beibehaltung seiner ursprünglich spracharmen, »missratenen« Gestalt in eine schriftstellerische Produktion integriert wird, die der Spur des Unsagbaren folgt (ich denke hierbei an die durch ihre Niederschrift bezeugten Ausrufe in der Hellen Kammer). So nachvollziehbar die Motivation zu jener statussichernden Maßnahme, so offen bleibt die Frage nach dem theoretischen Schicksal des verbleibenden Rests: nämlich jener im Wechselgesang alltäglicher Photolektüren kursierenden Rufe, die den Rückzug in die soziale Isolation nicht rechtzeitig geschafft haben und von denen manche, was nicht sein muss, aber auch nicht auszuschließen ist, ein punctum artikulieren. Die Theorie des punctum wirft somit öffentlichkeitstheoretische Fragen auf, die sie eigentlich nicht lösen kann, weil faktisch nur auf einen Bruchteil 6 7
Der Begriff einer photographischen »Wahrheit« wird von Barthes auf den Ausruf »Das ist es!« bezogen [Kammer 124]. »Gegen Ende des Mittelalters gaben manche Gläubige die gemeinsame Lesung oder das gemeinsame Gebet auf zugunsten einer individuellen Lektüre, eines stillen, inneren meditativen Gebets (devotio moderna). Dies ist, wie mir scheint, das Wesen der spectatio. Die Lektüre öffentlicher Photographien ist im Grunde genommen stets eine Privatlektüre.« [Kammer 108] 193
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der adäquaten Artikulationen die Empfehlung anwendbar ist, sie besser nicht in orale Kommunikation zu integrieren, nämlich auf jene Bildlektüren, die Rezeptionssituationen mit hoher sozialer Unmittelbarkeit erfolgreich meiden. Anders als Kant, dessen Geschmacksurteile ein ähnlich problematisches Profil aufweisen und zwangsläufig mit diesem öffentlich werden müssen, argumentiert Barthes für eine Vermeidung entsprechender Diskurs- oder auch Gesprächssituationen (s.u.).
6.2 Das punctum in der sozialen Isolation Roland Barthes gibt in seiner Phototheorie zu erkennen, dass ihm der anscheinend mit der öffentlichen Rezeption von Photographien notwendig einhergehende »Wechselgesang von Rufen« missfällt. Dem Medium Photographie wird mit der Idee des punctum jedoch nicht nur eine subjektivistische Rezeptionsart nachgewiesen, darüber hinaus scheint auch die obligate Rezeptionssituation selbst idealerweise in der Hermetik der Privatsphäre zu liegen. Es ist daher keineswegs verwunderlich, wenn Barthes (im zweiten Teil der Hellen Kammer) mit schneidender Konsequenz folgert: »Im Übrigen betrachtet man Photos für sich allein, das peinliche Zeremoniell langweiliger Abende in Gesellschaft ausgenommen.« [Kammer 108] Mit dieser Empfehlung plädiert Barthes für eine Vermeidung jener chaotischen Situation des Wechselgesangs und entgeht darüber hinaus der theoretischen Klärung der Frage nach dem geltungstheoretischen Status ästhetischer Rede. Damit löst Barthes also jene beiden Probleme, denen sich Kant noch unter dem Stichwort des Geschmacksstreits und durch die Behauptung eines Allgemeingültigkeitsanspruchs ästhetischer Urteile gestellt hatte. Fast ließe sich Barthes’ Vermeidung als naheliegende Konsequenz einer jeden subjektivistischen und wirkungsorientierten Rezeptionsästhetik auslegen, allerdings hat er diese Lösung nicht aus der Auseinandersetzung mit den möglichen Widersprüchen einer solchen ästhetischen Theorie bezogen, sondern eher aus der Erwartung praktischer Vorteile, die sich jenseits des Wechselgesangs ergeben. Der empfohlene Rückzug der photographischen Rezeption wird von Barthes zwar wiederholt ausgesprochen, bleibt aber letztlich theoretisch unbegründet. Das mag daran liegen, dass – anders als etwa für Kant und seine reinen Geschmacksurteile – für Barthes die Dimension der (rhetorischen) Öffentlichkeit ästhetischen Urteilsverhaltens kein herausragendes Thema ist. Warum dieser Aspekt eines Ausschlusses der Öffentlichkeit für Barthes selbstverständlich ist, lässt sich bereits daran ablesen, welche Art von Photographien in der Hellen Kammer beispielhaft besprochen werden. Abgesehen von jenem Privatphoto, welches, wie oft bemängelt wurde, im Buch nicht gezeigt wird, handelt es sich bei den historischen Photographien (bis auf eine 194
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weitere Ausnahme) um Abbildungen, die in Bildbänden vorzufinden sind. Schon die besonderen Anforderungen des verwendeten Distributionsmediums definieren hier aber bedeutende Rahmenbedingungen der photographischen Rezeption, die den von Barthes dann resümierten nicht unähnlich sind. Denn obwohl mit dem Bildband eine den Qualitäten der Photographie noch halbwegs entsprechende Präsentationsform gewählt wurde,8 so verlangt diese doch durch die Buchform nach einer häuslichen Situation mit solitärem Betrachter. Nicht piktorale Qualitätsverluste oder die Kleinheit der Bildformate sprechen für die in sozialer Zurückgezogenheit stattfindende Rezeption, sondern bereits die mit der textorientierten Buchkultur tradierte Lektürepraxis. Obwohl also durch das Distributionsmedium Bildband der Photographie im 20. Jh. »ein breites Publikum garantiert wurde« [Sontag Photo 11], so waren hierdurch doch zu keiner Zeit simultane Rezeptionsformen bedingt, sondern jeweils nur sukzessive oder parallelisierte Einzelbetrachtungen (s. Kap. 7.2). Die Breite des Publikums besteht hier in einer heterogenen Summe solitärer Privatlektüren, und auch wenn Barthes diesen Zusammenhang übergeht, so hat doch die propagierte Vereinzelung der Rezeption im verwendeten Distributionsmedium zumindest ihren Anlass. Barthes ist mit seiner These des sozialen Rückzugs photographischer Rezeption in mehrfacher Hinsicht konsequent, nicht nur seinen persönlichen Interessen entsprechend und der hörbaren Abneigung gegen den »Wechselgesang von Rufen« ist schließlich das Diktum zuzuschreiben: »wenn ich Photos betrachte, muss ich allein sein.« [Kammer 108]. Auch in theoretischer Hinsicht könnte die soziale Isolation durchaus als angemessene Form der subjektivierten Lektüre des punctum gelten. Denn auch diese Einschränkung der Öffentlichkeit photographischer Rezeption kann letztlich werktheoretisch begründet werden. Steht nämlich die Lektüre in einem biographischen Kontext, liegt also die Bekanntheit des Rezipienten mit dem photographischen Motiv vor, so impliziert diese Konstellation eine intime Vertrautheit, die durch die Öffentlichkeit der Rezeptionssituation nicht aufgebrochen werden soll. Werktheoretisch hat Barthes die favorisierte Rezeption daher (anlässlich einer InterviewÄußerung zur Hellen Kammer) konsequent mit dem Plädoyer für eine private Porträtphotographie fundiert: »... ich will nicht verbergen, dass ich mich für eine gewisse ›Förderung‹ der privaten Photographie eingesetzt habe. Ich glaube, dass im Gegensatz zur Malerei die ideale
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»Die Photographie in einem Buch ist ganz offensichtlich das Abbild eines Abbilds. Aber da das photographische Bild nun einmal ein gedrucktes Objekt mit glatter Oberfläche ist, verliert es von seiner eigentlichen Qualität weniger, wenn es in einem Buch reproduziert wird, als ein Gemälde.« [Sontag Photo 11] 195
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Entwicklung der Photographie die private Photographie ist, das heißt eine Photographie, die für ein Liebesverhältnis zu jemandem einsteht. Die ihre ganze Kraft nur dann besitzt, wenn ein – sei es auch nur virtueller – Liebesbezug zur dargestellten Person bestanden hat.« [Körnung 388]
Die Redewendung von einer »ganzen Kraft« der Photographie scheint nun deutlich auf das Wirkungsprofil und die rezeptiven Effekte des punctum hinzuweisen, so dass wiederum die sowohl situative als auch inhaltliche Privatisierung der Photographie als unumgängliche Maßnahmen zu dessen Sicherung deutbar sind. Diese Wendung ist aber auch irritierend, denn die Konzeption des punctum war ursprünglich jenseits eines ausdrücklichen Bezugs auf Privatphotographien entwickelt worden. Es scheint Barthes gar nicht aufzufallen, dass besonders die empfohlene inhaltliche Orientierung der Photographie am Privaten die Theorie des punctum sogar grundsätzlich in Frage stellt. Denn die Lektüre, die unter Berücksichtigung der Bekanntschaft mit der photographierten Person und dem obligaten Wissen um die Entstehungszeit eines Photos verläuft, weist sie als eine Form des biographischen studiums aus.9 Im zweiten Teil der Hellen Kammer wird die ästhetische Erfahrung des punctum doch direkt auf Informationen und Kenntnisse über das photographierte Objekt bezogen, es handelt sich dabei zwar nicht um allgemein zugängliche, kulturelle, wie sie in der Perspektive des studium bedeutend sind, sondern statt dessen um persönliche und biographische. Wenn jedoch das Entstehungsdatum des Photos zur Berechnung des Lebensalters der dargestellten Personen herangezogen wird und dieses explizit »neue punctum« [Kammer 105] dann einer kenntnishaft vermittelten Zeiterfahrung entspricht, hat sich der ursprüngliche Begriff radikal verändert. Er dient nun einer persönlichen Aufarbeitung, mit der sich der Autor den Tod seiner Mutter verständlich zu machen versucht. Das »neue, andere« punctum, das im zweiten Teil der Hellen Kammer vorgestellt wird, ist daher als eine biographische Variante des studiums zu verstehen. Seine Darstellung wirft nicht nur die Frage auf, ob Barthes mit seinem Plädoyer für eine private Porträtphotographie die Konzeption des ursprünglichen, ersten punctums verlässt, sondern auch die,
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So stellt auch Bourdieu in seiner Photosoziologie fest: »dass das photographische Bildnis in seiner gebräuchlichen Gestalt als privates Produkt für den Privatgebrauch Bedeutung, Wert und Reiz nur für einen begrenzten Personenkreis gewinnt, nämlich zuallererst für jene, die es gemacht haben und für die, die sein Gegenstand sind.« [Bourdieu Definition 98].
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ob die empfohlene soziale Isolation des punctums mit der inhaltlichen Privatisierung des biographischen studiums begründet werden kann.10 Abgesehen von der Plausibilität einer inhaltlichen Privatisierung der photographischen Rezeption bleibt die Frage bestehen, ob der ursprünglichen Konzeption des ›alten‹ punctum ebenfalls die Notwendigkeit zur sozialen Isolation nachgewiesen werden kann. Neben der bereits angeführten Empfehlung (und den stillschweigend in Anspruch genommenen Rezeptionsbedingungen, die durch das verwendete Distributionsmedium definiert werden) lassen sich in Barthes’ Werk auch zwei weitere Motive benennen, die eine entsprechende Zurückgezogenheit nahelegen könnten: einmal ist dies die Privilegierung der Schrift vor dem gesprochenen Wort, also ein Motiv, das sich indirekt auch auf den öffentlichen Status jener deiktischen Rufe bezieht, die für die Artikulation des punctum typisch sind. Das zweite Motiv betrifft eine grundsätzliche Verhäuslichung der »Sprache des Begehrens« verbunden mit der These von deren Unvereinbarkeit mit der Öffentlichkeit des Politischen. Zum ersten: »Ich ziehe die Schrift dem gesprochenen Wort bei weitem vor. Das gesprochene Wort bringt mich in Verlegenheit, weil ich immer Angst habe, mich in Szene zu setzen, wenn ich spreche, ich habe Angst vor der Theatralik, ich habe vor dem Angst, was man Hysterie nennt, ich habe, wenn ich spreche, Angst, mich zu augenzwinkerndem Einverständnis [...], zu mehr oder weniger selbstgefälligen Verführungskünsten hinreißen zu lassen.« [Radioscopie, 17.2.1975, Kassette Radio France K 1159; zitiert nach Louis-Jean Calvet: Roland Barthes; F.a.M. 1993, S. 223 f.]
Auch dieser personengebundene Hinweis kann für die soziale Isolation des punctum keine notwendigen Argumente anführen. Die Position des Autors wird zwar verständlicher, und die freimütig und mündlich geäußerten Befürchtungen können den Zug einer möglichen Korrumpierbarkeit der öffentlichen Rede anführen. Aber abgesehen von der persönlich bedingten Verlegenheit kann die Aufzählung keine Aspekte benennen, die nicht ebenfalls auch für schriftliche Äußerungen zuträfen. Zumal ausgerechnet die wenig elabo-
10 Zur Rolle der (frühen) Porträtphotographie in der Theorie sei abschließend noch auf Benjamins von politischen Wirkungserwartungen geprägte Einschätzung verwiesen: »Diese Leistungen sind es, in denen die surrealistische Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschulten Blick das Feld frei, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung des Details fallen. Auf der Hand liegt, dass dieser neue Blick am wenigsten da einzuheimsen hat, wo man sich sonst am lässlichsten erging: in der entgeltlichen, repräsentativen Porträtaufnahme.« [Benjamin Photo 58; eig. Hervorh.] 197
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rierte Sprache jener deiktischen Rufe geringe Eignung zu manipulativen »Verführungskünsten« aufweisen dürfte. Zusammen mit dem zweiten Motiv kann jedoch Barthes’ Wertschätzung der Schrift in ihrer die ästhetische Lust grundsätzlich bewahrenden Rolle erblickt werden, während die rhetorische Artikulation des punctum offenbar größeren Hindernissen ausgesetzt ist: »Das Feld des Bedürfnisses ist das Politische, das Feld des Begehrens das, was Fourier das Häusliche nennt. Fourier zog das Häusliche dem Politischen vor, baute eine häusliche Utopie auf (Kann denn eine Utopie etwas anderes sein? Kann Utopie jemals politisch sein? Ist Politik nicht eben: alle Sprachen außer einer, der des Begehrens? Im Mai 68 wurde einer der Gruppen, die sich spontan an der Sourbonne bildeten, vorgeschlagen, die häusliche Utopie zu studieren – man dachte natürlich dabei an Fourier.11 Worauf die Antwort kam: der Ausdruck sei zu ›gesucht‹, also ›bürgerlich‹. Das Politische schließt das Begehren aus, außer wenn es in Form der Neurose, der politischen Neurose oder genauer: der Neurose der Politisierung zurückkehrt).« [Roland Barthes: Sade Fourier Loyola; F.a.M. 1986, S. 99.]
Der Primat der Schrift vor dem gesprochenen Wort und die kategorisch behauptete Verhäuslichung der Sprache des Begehrens geben die beiden Komponenten ab, die über das weitere Schicksal punktuierter Artikulationen entscheiden. Das antipodisch aufgefasste Politische12 weist der Sprache des (ästhetischen) Begehrens eine verhäuslichte Existenz zu, und obwohl ihr damit bereits die Tendenz zu inszenierender (Selbst-)Darstellung entzogen sein müsste, geht die Sprache des Begehrens nun in den Zustand der Verschriftlichung über. Warum diese unnötige Doppelung vorgesehen ist, lässt sich gleichwohl nur mit den weiterhin bestehenden politischen Ambitionen ihres Autors erklären, denen damit allerdings ein gänzlich veränderter öffentlichkeitstheoretischer Wirkungskreis zusteht, indem sie nun statt unmittelbar sozialer eine publizistische Öffentlichkeit in Anspruch nehmen. Allerdings bleibt gerade auch im Hinblick auf das öffentlichkeitstheoretisch andere Schicksal von Kants Geschmacksurteilen der Verdacht einer theoretischen Unvollständigkeit bestehen. Anders ausgedrückt, solange der affektive Charakter des punctum nicht limitiert wird, ist dessen erlebnissimultane Artikulation tendenziell möglich. Die Möglichkeit einer Artikulati-
11 Calvet weist in seiner Biographie darauf hin, dass das unpersönliche »man« höchstwahrscheinlich auf Barthes eigene Person hinweist und seine missglückten Versuche resümiert, die 68er-Ereignisse mit den eigenen Positionen zu vermitteln (vgl.: Calvet 1993, S. 232 ff.). 12 Erläuterungen zu der Ansicht, dass die »politisierte Sprache [...] das Problem der Lust ausgeschlossen« habe, finden sich in: Körnung 177 ff. 198
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on im Moment des ästhetischen Affekts wirft jedoch zwangsläufig die Frage nach deren diskursivem Status auf. Denn die vorgeschlagene Privatlektüre unter Idealbedingungen kann nur als eine ästhetizistische Anleitung verstanden werden, die als Empfehlung gerade deshalb nötig ist, weil ihr die kulturelle Praxis offensichtlich massiv widerspricht.13 Photographien sind, wie Barthes spätestens seit seinen ersten phototheoretischen Texten weiß, über Presse, Werbung und Ausstellungsbetrieb längst schon öffentliche Bildwerke geworden, so dass eine stringente Auslegung der Theorie des punctum unweigerlich die Frage nach dem Status einer öffentlichen Hinweis-Sprache provoziert, der Barthes – anders als Kant – offenbar ausgewichen ist. Da das punctum aber auch seiner eigenen Konzeption nach eine größere empirische Selbstverständlichkeit beansprucht, als sie einer meditativ ästhetizistischen Photorezeption zukommt, ist es theoretisch unvermeidlich, diesen Begriff eines ästhetischen Urteils an der Trivialphotographie mit seinen öffentlichkeitstheoretischen Konsequenzen zu konfrontieren. Hier muss sich zeigen, ob die Übereinstimmung des punctum mit dem reinen Geschmacksurteil letztlich nicht auch in einer Konvergenz im Thema des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs besteht. Sollte dies der Fall sein und einige Stellen im Werk Barthes’ legen diese Konsequenz tatsächlich nahe, so wäre der Begriff einer ästhetischen Rezeption von Photographien immer auch mit Prozessen einer intersubjektiven Inanspruchnahme verbunden.
6.3 Das punctum in der publizistischen Öffentlichkeit Eine erlebnisnahe Artikulation des punctum schien in Form der HinweisSprache möglich zu sein. Eine Notwendigkeit zur erlebnisnahen Artikulation, die sich aus dem Rezeptionsverlauf selbst ergibt, war ebenfalls unterstellt worden (der Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will), so dass sich unter der Empfehlung sozialer Isolation annehmen lässt, dass Barthes den Standardfall einer Rezeption nach dem Modell des punctum zwar in privater Zurückgezogenheit ansiedelt, dort jedoch trotzdem das stille Selbstgespräch verlassen wird. Es kommt zur Artikulation. Denn die Reaktion auf die Wirkung des punctum »mündet in einem Schrei, mit dem jede Sprache endet [...]«
13 Anfang der 80er Jahre gehört die öffentliche Präsenz photographischer Bilder zu den Selbstverständlichkeiten der europäischen Alltagskultur, wie der kurz nach der Hellen Kammer von Vilém Flusser vorgelegte Essay bemerkt: »Photographien sind allgegenwärtig: in Alben, Zeitschriften, Büchern, Vitrinen, auf Plakaten, Einkaufstüten, Konservenbüchsen.« [Flusser Photo 38] 199
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[Kammer 119], weil es für diesen affektiven Zustand keine Sprache gäbe, mit der er im Moment des unmittelbaren Erlebens anders beginnen könnte. Barthes scheut also den »Wechselgesang von Rufen« der vermeintlich entstünde, wenn die Rezeption des punctum in einem öffentlichen Kontext stattfinden würde, er geht aber nicht von einer notwendigen Verschwiegenheit des subjektiven Erlebens aus. Über den Umweg einer verhäuslichten Rezeption und eingedenk des Primats der Schrift vor dem gesprochenen Wort kann die »Sprache des Begehrens« entwickelt und fixiert werden. Wie das genau funktioniert, lässt sich dem Textaufbau der Hellen Kammer entnehmen. Denn in der von ihr betriebenen literarischen Nachbesprechung gibt Barthes die affektorientierte Artikulation geeigneter Rezeptionserlebnisse immer in Anführungszeichen wieder und zeichnet sie damit als Form genuin wörtlicher Rede aus. Es scheint der Rezeption des punctum daher auch in der privaten Zurückgezogenheit ein gleichbleibender Hang zur erlebnis-simultanen Artikulation eigen zu sein, bei der allerdings der erlebnisgeleitete Sprecher zugleich der einzig legitime Zuhörer ist. Jenseits der Konzeption des punctum wäre zu dessen Verschriftlichung vorerst noch anzumerken, dass für Barthes das kulturkritische Potential einer den Sinn von Signifikaten »kreuzenden«, lustbetonten Zeichenlektüre offenbar erst dann in einem akzeptablen Maße eingelöst wird, wenn diese über das Lektüreereignis hinaus selbst als Produktion verstanden werden kann, die – so wie andere auch – öffentlich zugängliche Produkte hervorbringt. Das naheliegende Medium dieser Produktion ist für Barthes natürlich die Schrift, so dass auch hier wieder das geschriebene vor dem gesprochenen Wort rangiert.14 14 In einer früheren Überlegung [L`Express, 31. Mai 1970] hat Barthes beispielsweise die Tätigkeit der Verschriftlichung als jene Bedingung formuliert, durch die eine lustbetonte, entmystifizierende Lektüre kultureller Zeichensysteme selbst wieder kritisch werden kann. Kritisch, und das heißt in einem übergeordneten Sinn »subversiv«, kann eine Lektüre von Zeichen nur unter der Bedingung werden, »dass dieser Leser zu schreiben beginnt, dass er selbst mit der Schrift ringt.« [Körnung 102; zum Zusammenhang von Lektüre, Schrift und Produktion vgl. Körnung 209.] Dass die Figur schöpferischer Lektüre ein Topos der Theorie reinen Geschmacks ist, hat mit kritischem Akzent Bourdieu betont: »auch die Theorie der ›schöpferischen Lektüre‹ gehört zu jenen ideologischen Themen, die, für die Reaffirmation der ›geistigen Ehre‹ des Bildungsbürgertums unabdingbar, immer wieder neue Urständ feiern.« [Unterschiede 768] Historisch weist der Topos deutliche Anleihen bei Shaftesbury auf: »[Shaftesbury] sucht das Schöne nicht im Bereich des Gestalteten, sondern in der Aktivität, in dem schöpferischen Prinzip der Gestaltung: ›the Beautifying not the Beautify`d is the really Beautiful‹«, wie sie dann auch in Cassirers Kunsttheorie weitergeführt worden sind 200
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Aus der Sicht von Barthes’ Gesamtwerks scheint damit der Übergang vom querlaufenden ästhetischen Erleben zur weiterführenden Verschriftlichung in hohem Maße stringent zu sein, durch Anwendung auf die Theorie des punctum werden allerdings Komplikationen deutlich. Die verschiedenen Hinweise, die sich in der Hellen Kammer für eine Verschriftlichung ästhetischen Erlebens finden lassen, weisen nämlich eine Zweideutigkeit auf, die ja bereits dem Begriff des punctum eigen ist. Grundsätzlich lässt sich unterscheiden, ob das punctum als Rezeptionsereignis oder als dessen piktorale Veranlassung Gegenstand einer schriftlichen Nachbesprechung werden soll. Im Textverlauf der Hellen Kammer treten beide Artikulationstypen in Folge auf: die als ursprünglich mündliche Wiedergaben ästhetischer Betroffenheit erscheinenden Rufe, aber auch die wortreichen und fortgesetzten Versuche, deren piktoralen Anlass im jeweiligen Bild präziser zu ermitteln. Wird diese Unterscheidung auf Barthes’ Argumente für eine Verschriftlichung bezogen, dann zeigt sich, dass jeweils nur der werkorientierte Begriff des punctum die Maßnahme der Verschriftlichung plausibilisieren kann, während für die unmittelbare Artikulation des Rezeptionsereignisses die adäquate sprachliche Form schon in den verwendeten deiktischen Rufen zu bestehen scheint. So kann sich bereits die von der Konzeption des punctum konstatierte Unmöglichkeit, die darin besteht, das »Unsagbare« verbindlich zu formulieren, nur auf die sprachliche Analyse des piktoralen Anlasses beziehen, während die ästhetische Betroffenheit (in ihrer psychologischen Dimension sicherlich ebenfalls unsagbar) kein Gegenstand ausführlicherer Beschreibungen oder »Aufzählungen« [Sinn 49] zu werden braucht. Auch Barthes’ Feststellung: »Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass sich das punctum zuweilen, trotz all seiner Deutlichkeit, erst im nachhinein offenbart [...]« [Kammer 62], bestätigt nicht nur die Doppelbedeutung des Begriffs, sondern auch die Werkorientierung des zu verschriftlichenden punctum, da das zwar gleichnamige, aber eben rezeptive Ereignis bekanntlich unmittelbar (nämlich mit aller Deutlichkeit) eintritt. So ist der verzögernde Effekt des punctum, der ja der unvermeidlichen Nachgängigkeit schriftstellerischer Produktion gegenüber dem
[Ernst Cassirer: Ausgang und Fortwirkung der Schule von Cambridge – Shaftesbury; in ders.: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge; Leipzig 1932, S. 138]. Anders als Barthes haben beide – sowie auch Bourdieu – die schöpferische Lektüre aber nicht mit einem subversiven, den Formen etablierter Zeichenlektüre zuwiderlaufenden Aspekt ausgezeichnet. 201
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unmittelbaren Erleben sehr genau entspricht, nur dort plausibel, wo der Begriff auf seine werkorientierte Lesart bezogen wird.15 Barthes begründet die auftretende Verzögerung in der Wahrnehmung von rezeptivem und werkorientiertem punctum aber nicht mit einer verbindlichen Chronologie, die zwischen ihnen eingehalten werden müsste, sondern damit, dass die sprachlichen Bemühungen um die Darstellung des zweiten unter den Bedingungen des ersten zum Scheitern verurteilt sind. Denn der piktorale Anlass lässt sich sprachlich dann nicht erfassen, wenn »der unmittelbare Anblick die Sprache in die Irre führt [...], ihr die Mühe der Beschreibung abverlangt [...], die stets den springenden Punkt der Wirkung, das punctum, verfehlen wird [...]« [Kammer 62]. Und umgekehrt kann der Prozess einer nachträglichen Verschriftlichung unmittelbarer Betroffenheit diese vor einer Entwertung bewahren, die mit der vorgezogenen Interpretation des piktoralen Anlasses noch verbunden gewesen wäre. Denn ein Detail, welches möglicherweise die punktuierte Lektüre veranlassen könnte, tut dies nicht mehr, sobald es interpretierend erfasst wird. »Und dennoch ist es keines [punctum], denn ich kodiere sofort [...]. Was ich benennen kann, vermag mich nicht eigentlich zu bestechen.« [Kammer 60] Der Vorrang der Verschriftlichung macht nun im Zuge seiner Anwendung auf die Konzeption des punctum auf Folgendes aufmerksam: Es gibt nicht nur zwei Bedeutungen des punctum und damit zwei Themata, die unter diesem Begriff artikuliert werden könnten, sondern es sind immer auch zwei verschiedene Modi der Artikulation erforderlich, da diese an divergierende zeitliche und mediale Aspekte gebunden ist. In der publizistischen Öffentlichkeit können mittels der Schrift selbstverständlich beide Themata des punctum artikuliert werden. So treten zum einen Zitationen deiktischer Interjektionen auf, die wie Belege einer früheren Authentizität wirken, und zum anderen kommt es zu längeren Annäherungen und Betrachtungen, die zu dem piktoralen Anlass entwickelt werden können. Das Medium Schrift kann hier sogar die Sprache des rezeptiven punctum integrieren. (Die gleiche Leistung, die auch der längeren Rede des studium im Beispiel des »Wechselgesangs« zukommt, wodurch Interjektionen in Interpretationen eingebunden werden können.) Im Falle der Verschriftlichung wirken 15 Der Aufbau des Zitats: Das punctum wird einmal erwähnt, erhält im gleichen Satz jedoch zwei verschiedene Bedeutungen, von denen nur die zweite, werkorientierte einer verzögerten Beschreibung zugänglich ist, lässt sich mit weiteren, nahezu identischen Textstellen dokumentieren. So z.B.: »Ich hatte nun begriffen, dass man dem punctum, so unmittelbar und einschneidend es auch sein mochte, nach einer gewissen Latenz (nie jedoch mit Hilfe irgendeiner genauen Untersuchung) auf die Spur kommen konnte.« [Kammer 62] 202
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die Zitationen des rezeptiven punctum aber eigenartig deplaziert. Der vor einem Bild ausgerufene Satz: »Das ist es!«, der einem unbeteiligten Beobachter zumindest zu verstehen geben könnte, dass eine unmittelbare und sehr intensive Faszination vorliegt, die zum Teil ja sogar Neugierde nach dem Anlass wecken kann, ist dieser Wirkung gänzlich enthoben, wenn er in längeren schriftlichen Ausführungen fast schon zwanghaften Pointierungen dient, die nicht funktionieren. Denn als Zitate im Text verfehlen sie die schon vordergründige Absicht, die Intensität einer Wahrnehmung zu bezeugen, deren Wirkung nicht mehr anhält. Sie können Dichte und Komplexität des Textes nicht in einer Weise steigern, die zum Ausdruck bringt, was dem ursprünglichen Anlass sicher auch seitens eines unbeteiligten Beobachters noch umstandslos hätte zugestanden werden können. Dass eine bestimmte Photographie beim Autor einmal eine eigenartige und intensive ästhetische Betroffenheit ausgelöst habe, lesen wir nun im Kontext längerer Interpretationen mit, die für sich genommen aber weitaus interessanter sind als die knapp dokumentarische Erinnerung an die Sprachlosigkeit eines Ereignisses, dessen Chronologie nicht mehr umgekehrt werden kann. Zu Recht konzentriert sich also die Verschriftlichung auf das Thema des werkorientierten punctum, dass heißt umgekehrt aber auch, das der Rolle des ursprünglich nicht verschriftlichten, sondern rhetorisch artikulierten rezeptiven punctum nun eine gewisse Eigenständigkeit zugesprochen werden muss. Denn über das eigene Thema und den eigenen Modus einer spontanen, sprachlich nur als Interjektion vorstellbaren Artikulation hinaus, scheint das rezeptive punctum nun auch auf einer besonderen Form der Öffentlichkeit zu bestehen. Denn verständlich ist die Artikulation des rezeptiven punctum, durch Thema und Sprache bedingt, nur in der sozialen Unmittelbarkeit einer öffentlichen Bildlektüre, während der Hinweis auf dort mögliche Betroffenheitserlebnisse in der schriftlichen Nachbesprechung wie eine überflüssige Protokollnotiz erscheint. Für den Autoren Barthes kann das rezeptive punctum selbstverständlich auch noch in der Privatsphäre seine wichtigste Qualität bewahren: es leitet zu schriftstellerischer Produktion an, sicher auch deshalb, weil sich das ästhetische Erlebnis seiner sprachlichen Wiedergabe permanent entzieht. Unter der Bedingung sozialer Isolation kann diese Produktion gefördert werden, denn der Autor schreibt so ungestört vom »Wechselgesang der Rufe«, der entstünde, würde die Rezeption in der sozialen Öffentlichkeit durchgeführt. Die Förderung ist zugleich jedoch mit einer Einschränkung verbunden, die dem (heuristischen) Charakter des punctum eigentlich zuwiderläuft. Denn der Autor bleibt in der sozialen Isolation prinzipiell unbeeindruckt von den Artikulationen subjektiver Betroffenheit, die durch die Photolektüren anderer Betrachter hätten entstehen können.
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Damit bleibt die Verschriftlichung egozentrisch, insofern intersubjektive Reaktionen anderer auf den eigenen »Ruf« oder eine eigene, auf den »Ruf« anderer, nicht in gleicher Weise in die essayistische Aufarbeitung einfließen, nicht an der Suche nach dem Unsagbaren beteiligt werden. Dieser Einwand richtet sich nicht gegen die unumgänglichen Anforderungen der Verschriftlichung, sondern nur gegen die intersubjektive Blindheit ihrer Recherche. Die Analyse jener, einer studierenden Lektüre querlaufenden Details, wie sie programmatisch mit der Konzeption des punctum postuliert worden war, setzt solche subjektiv frei, ignoriert unter der Bedingung sozialer Isolation allerdings jeden weiteren Hinweis auf Querläufer, insofern er intersubjektiver Herkunft ist. Damit werden emanzipative Ansprüche zwar erhoben, zugleich jedoch auch limitiert.
6.4 Öffentlichkeitstheoretischer Exkurs: Habermas In öffentlichkeitstheoretischer Hinsicht praktiziert Barthes durch die Kombination sozialer Isolation mit der Verschriftlichung des punctum offenbar eine Form ästhetischer Rezeption, die von Jürgen Habermas als konstitutive Bedingung bürgerlicher Öffentlichkeit ermittelt und zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert datiert worden ist. Es handelt sich dabei um das Modell publikumsbezogener Privatheit, bei dem die Trennung zwischen Publikum und Privatsphäre chronologisch vollzogen wird, indem erst auf eine vorausgehende private Lektüre das öffentliche Räsonnement über die rezipierten Werke folgt. Das heißt die Lektüre literarischer Werke findet im engsten Familienkreis (in dem Öffentlichkeit als ein Feld der sozialen Interaktion nicht problematisiert wird), also privat statt, während der gesellschaftliche Austausch über die Werke der Literatur und ihre subjektiven Wirkungen dann unbelastet von idiosynkratischen Turbulenzen in der sublimierten Allgemeingültigkeitsperspektive einer konsensorientierten Öffentlichkeit debattiert werden kann. Habermas hat »als Voraussetzung für die Teilnahme an literarisch vermittelter Öffentlichkeit« den »schützenden Raum der familialen Intimsphäre« angenommen.16 »Das charakteristische Verhältnis der publikumsbezogenen Privatheit« hatte es dabei möglich gemacht, dass »die Kommunikation des kulturell räsonierenden Publikums [...] auf Lektüre angewiesen [blieb], die man in der Klausur der häuslichen Privatheit betrieb.« [Ebd. 251 f.] Diese Verhäuslichung der ästhetischen Affekte als Voraussetzung einer räsonierenden Öffentlichkeit sieht Habermas unter den Bedingungen moderner Massenkultur und ihrer technischen Medien Film, Funk und Fernsehen nicht mehr gegeben und konstatiert eine einschneidende Konsequenz: »mit der privaten 16 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; F.a.M. 1996 (5. Aufl.), S. 262. 204
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Form der Aneignung entfällt auch die öffentliche Kommunikation über das Angeeignete.« [Ebd. 252] Nun scheint gerade Barthes mit seiner verhäuslichten Rezeption des punctum dieser modernetypischen Entwicklung entgegenzuwirken, insofern er für die Photographie eine neue Variante jener privaten Form der Aneignung postuliert. Aber nicht nur die von Habermas konstatierte Bedingung einer privaten Aneignung, sondern auch jene auf ihrer Basis beruhende Qualität scheint Barthes zu sichern, eine Qualität, die Habermas als Voraussetzung einer funktionierenden Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenmedien bedroht sieht, nämlich die auf der Basis privater Aneignung erwirkte Chance, »eine literaturfähige und publizitätsbezogene Subjektivität kultivieren [zu] können.« [Ebd. 261] Nicht nur den einschneidenden »Strukturwandel« der Öffentlichkeit hat Barthes bestätigt und maßgeblich durch das Medium Photographie verursacht gesehen.17 Zugleich hat er sich mit der programmatisch begründeten Privilegierung der sozialen Isolation ästhetischer Rezeptionserlebnisse dem verhängnisvollen Verlauf des Strukturwandels »widersetzt«18 und die photographische Rezeption ganz im Sinne der von Habermas aufgezeigten Urform bürgerlicher Öffentlichkeit isoliert zu praktizieren versucht. Barthes’ Konzeption einer Verschriftlichung des punctum stimmt mit der Habermasschen Theorie bürgerlicher Öffentlichkeit aber nur in einigen Aspekten überein. Die Chronologisierung des ästhetischen Erlebens, die bei Habermas eine Sublimierung darstellt, kann Barthes nur teilweise übernehmen. Zwar scheint auch er der konfliktträchtigen Situation entgehen zu wollen, die eine erlebnissimultane Artikulation ästhetischen Erlebens in sozialer Öffentlichkeit darstellt, denn die Abkehr vom »Wechselgesang der Rufe« 17 »Jedes Photo liest sich wie die private Erscheinung seines Referenten: das Zeitalter der Photographie entspricht genau dem Einbruch des Privaten in den öffentlichen Raum oder vielmehr der Bildung eines neuen privaten Werts: der Öffentlichkeit des Privaten: das Private wird als solches öffentlich konsumiert (die ständigen Angriffe der Presse auf die Privatsphäre der Stars und die wachsende Verlegenheit der Gesetzgeber zeugen von dieser Entwicklung).« [Kammer 109] 18 »Da aber das Private nicht nur ein Gut ist (das unter die historischen Eigentumsrechte fällt), da es auch und darüber hinaus für die Freiheit meines Bildes (die Freiheit, sich selbst zu tilgen) der kostbarste, unveräußerliche Ort ist und da es die Voraussetzung für eine Innerlichkeit darstellt, die sich, wie ich glaube, untrennbar mit meiner Wahrheit oder, wenn man so will, mit dem Unveränderlichen, das mir wesentlich ist, verbindet, so muss ich mich notwendig dieser Öffentlichkeit des Privaten widersetzen und beide Bereiche wieder trennen: ich möchte die Innerlichkeit aussprechen, ohne die Intimität preiszugeben.« [Kammer 109] 205
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gleicht in ihrer ablehnenden Konsequenz der öffentlichkeitskritischen Bemerkung von Habermas, »um ›group activities‹ bildet sich kein Publikum.« [Habermas Öffentlichkeit 251] Doch darüber hinaus versucht Barthes, deren Emotionalität nicht nur als treibenden Impuls schriftstellerischer Produktivität beizubehalten, sondern zugleich als bedeutenden Inhalt der veröffentlichten Texte selbst auszugeben. Was die programmatische Selbstauskunft zu Barthes’ schriftstellerischer Produktivität angeht, muss daher statt von einem Prozess der ästhetischen Sublimierung vielmehr von einem Prozess der ästhetischen Subvertierung gesprochen werden. Die verhäuslichte Rezeption künstlerischer (literarischer) Artefakte, die bei Habermas sowohl zur idealen Voraussetzung publizistischen Räsonnements der Privatleute als auch zur historischen Bedingung der Ausbildung einer politischen Öffentlichkeit avanciert,19 greift Barthes unter gänzlich anderen Erwartungen auf, um gleichwohl den konformierenden Kräften einer Massenkultur entgehen zu können. Ihm wird die häusliche Rezeption zur sicheren Enklave einer subjektivistischen Lektüre, die sich den gleichen massiven Einflüssen entzieht, die Habermas konstatierte, und – wie bei diesem auch – führt die Verhäuslichung zu einer publizistischen Produktion, allerdings ohne in den Modus des rational begründeten Räsonnements zu 19 Ein Hinweis auf einen anderen als den verhäuslichten Ursprung des Räsonnements (der hier Bilder und nicht Bücher betrifft) findet sich in der materialreichen Untersuchung Albert Dresdners: »Im Jahre 1735 richtet der Mercur de France [...] an die Akademie die Aufforderung, wieder eine öffentliche Ausstellung zu veranstalten, deren das Publikum seit langem beraubt sei; zwei Jahre später kam die Akademie dem Wunsch nach – und so tritt 1737 der Salon als ständige Einrichtung in das französische Kunstleben ein. [...] Das Pariser Publikum nahm sogleich mit voller Wucht von der Stellung als oberster Schiedsrichter Besitz; es beanspruchte und übte das Recht, über die ausgestellten Kunstwerke zu urteilen und über ihre Rangordnung zu entscheiden, und so war die Kunstkritik in der Gesellschaft, in den Salons der Stadt schon in ihrem ganzen Umfange ausgebildet, ehe sie sich literarisch kristallisierte. Ja, man darf noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass die literarische Kunstkritik in Frankreich als unmittelbarer Ableger der gesellschaftlichen Kunstkritik entstanden ist und dass dies Verhältnis von vornherein ihren Charakter bestimmt hat. [...] Die Diskussion ist alles, und es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die ganze französische Kunstkritik des 18. Jahrhunderts in ihrer Masse eine einzige große Diskussion darstellt. [...] Und wie die Form, so ist auch der geistige Horizont der französischen Kritik gesellschaftlich bestimmt.« [Albert Dresdner: Die Kunstkritik, ihre Geschichte und Theorie. Erster Teil: die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens; München 1915, S. 154 ff.] 206
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wechseln oder dessen Verständigungsideal anzuerkennen. Gleichwohl greift Barthes die emanzipativen Ansprüche eines solchen auf, hält sie jedoch anders als Habermas nur noch in einer subjektivistischen, ästhetischen Praxis verwirklicht. Das entmystifizierende Projekt der Aufklärung, dessen Austragungsort die frühe bürgerliche Öffentlichkeit gewesen sein mag, wird im Werk Barthes’ durch eine publizistische Praxis weitergeführt, die jedoch anders als das rationale Räsonnement seine nonkonformistische Herkunft nicht leugnet, sondern statt dessen deutlich stilisiert. Dabei lässt sich über den von Barthes eingeschlagenen Weg der subvertierenden Veröffentlichung nicht einmal sagen, dass er zwangsläufig auf einen Expertendiskurs oder zumindest die Qualifikation des Laienpublikums hinauslaufe, wie sie bereits mit dem Habermasschen Begriff der publikumsbezogenen Privatheit intendiert ist. Indem Barthes statt Versprachlichung den weit prätentiöseren Prozess der Verschriftlichung wählt, bedient er sich zwar dem seit der Aufklärung zur bürgerlichen Konsensbildung dienenden Medium der publizistischen Öffentlichkeit, allerdings im Gestus der Selbstbehauptung ästhetischer Subjektivität. Es geht Barthes darum, dem »Außenseiter« oder auch »Amateur« [Körnung 345] mit seiner der etablierten Sinnkonvention zuwiderlaufenden Lektüre innerhalb der publizistischen Öffentlichkeit einen Platz zu verschaffen. Und mehr noch: die publizistische Aktivität wird dabei als reiner (künstlerischer) Selbstzweck stilisiert, denn der Amateur »setzt den Akzent auf die Produktion des Werkes und nicht auf das Werk als Produkt« und ist dabei gerade deshalb subversiv, weil er »Vergnügen am Produzieren« empfindet [Körnung 345]. So nimmt es nicht Wunder, dass schließlich sogar die Amateurphotographie von Barthes die größte Hochachtung erfährt, obwohl die Rolle des photographischen operators grundsätzlich wenig Gefallen fand.20
6.5 Das punctum im Gespräch Es war behauptet worden, dass Barthes unter dem Begriff des punctum eine Art von photographischer Rezeption favorisiert, die im Rahmen privater Zurückgezogenheit stattfindet und von dort ausgehend in eine schriftstellerische Produktion einfließt. Trotz der sowohl durch biographische Interessen als auch durch formale Aspekte bedingten sozialen Isolation (hierbei denke ich an das Distributionsmedium Bildband) hat sich Barthes doch auch hypothetisch mit der Möglichkeit eines intersubjektiven Kontextes beschäftigt, in dem 20 »Auf dem Felde der photographischen Praxis dagegen überflügelt der Amateur den Professionellen: er kommt dem Noema der Photographie am nächsten.« [Kammer 109, s.a. 121] 207
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die »Hinweis-Sprache der Photographie« auftreten kann. In seinem zehn Jahre vor der Hellen Kammer veröffentlichten Artikel: Der dritte Sinn hat er nicht nur die Dichotomie von studium und punctum vorweggenommen, sondern für den Vorläufer des punctum, den stumpfen Sinn, ebenfalls Vermutungen über dessen Gesprächseignung angestellt. Besonders sprechend für die nun folgende Variante öffentlicher Photorezeption ist, dass Barthes sie ausgerechnet dort entwickelt, wo photographische Motive nicht mehr in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, sondern in Schaukästen im Eingangsbereich von Kinos präsentiert werden. Der besondere öffentliche Charakter dieser Bildpräsentation besteht darin, dass Photographien mehreren Betrachtern zugleich ansichtig werden können. Trotz veränderter Rezeptionssituation beginnt Barthes seine Überlegung mit dem Hinweis auf ein generelles Sprachlosigkeitsverdikt, das ja bereits aus der Darstellung des punctum bekannt ist: »Wenn man den stumpfen Sinn nicht beschreiben kann, so deshalb, weil er im Gegensatz zum entgegenkommenden Sinn nichts nachbildet: Wie soll man beschreiben, was nichts nachbildet? Ein malerisches Wiedergeben mit Wörtern ist hier unmöglich.« [Sinn 60] Abgesehen von diesem sprachlich/ rhetorischen Hindernis hat Barthes aber gleichwohl auch den stumpfen Sinn betreffend die Möglichkeit einer diskursiven Eignung in Aussicht gestellt (denn der Rückzug in die Privatlektüre kommt für diese Rezeptionssituation grundsätzlich nicht in Frage): »Falls wir, sie und ich, angesichts dieser Bilder auf der Ebene der gegliederten Sprache – das heißt meines eigenen Textes – bleiben, so hat dies zur Folge, dass der stumpfe Sinn nicht bis ins Dasein vordringen, nicht in die Metasprache des Kritikers eindringen kann. Das heißt, dass der stumpfe Sinn außerhalb der (gegliederten) Sprache, aber dafür innerhalb der Gesprächssituation liegt.« [Sinn 60]
Von welcher Gesprächssituation ist hier die Rede? Handelt es sich um einen übertragenen Gebrauch des Wortes »Gespräch«, der besagen soll, dass das Verhältnis eines solitären und sprachlosen Rezipienten zum photographischen Anlass seines ästhetischen Erlebens als ein dialogisches umschrieben wird? (Dies wäre immerhin eine in der philosophischen Ästhetik durchaus bekannte Verwendung.) Aber abgesehen von der eigentlich ja nur monologisch zu nennenden Relation zwischen Zuschauer und Werk spricht Barthes hier explizit von der Möglichkeit einer soziologischen Erweiterung der solitären Beobachtungsposition, denn die Formulierung: »Falls wir, sie und ich« weist auf eine ähnliche Gruppenkonstellation hin, wie sie dann später in der Hellen Kammer unter der Bezeichnung eines »Wechselgesangs« kritisiert wurde. Man könnte nun den letzten Satz des Zitats auch so verstehen, dass der stumpfe Sinn, der sich offenbar in gegliederter Sprache nicht ausdrücken lässt (weil er eine ästhetische Erfahrung benennt, die als zwar eindrucksvolle, aber 208
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schwer zu beschreibende Wirkung zur Suche nach geeigneten Begriffen erst einlädt), insofern in der Gesprächssituation liegt, als er deren unausgesprochenen thematischen Bezugspunkt darstellt. Von mindestens zwei Zuschauern würde der stumpfe Sinn als ein piktoraler Anlass ästhetischen Erlebens insofern wortlos registriert, als er auch ohne nähere Ausführungen ein geeignetes Gesprächsthema vorstellt, über das gleichwohl nicht gesprochen wird, dessen wirkungsevozierte Präsenz aber intersubjektiv schon gegeben ist. Zu dieser auf den ersten Blick ebenso naheliegenden wie unkontroversen Lesart lassen sich bei genauerer Betrachtung jedoch mindestens zwei gravierende Einwände finden. Der erste betrifft die Wortwahl, hier soll Genauigkeit walten, weil ein Terminus für meine Überlegungen zu bedeutend ist, als dass er durch eine ungenaue Verwendung entschärft werden dürfte. Es handelt sich dabei um den Terminus: Gesprächssituation.21 Auffallend ist ja, dass die von mir oben vorgeschlagene, schlichtende Lesart des Zitats eigentlich keine typische Gesprächs-, sondern vielmehr nur eine bloße Zuschauersituation beschreibt. Denn auch die Zuschauersituation bedarf eines gemeinsamen, ästhetisch auffälligen Bezugspunktes, über den gleichwohl nicht debattiert zu werden braucht. Dieser terminologische Einwand führt nun zu der grundsätzlichen Frage, ob sich der Terminus Gesprächssituation überhaupt sinnvoll auf eine Situation beziehen lässt, in der im eigentlichen Sinne kein Gespräch stattfindet, weil der Austausch von Worten in »gegliederter Sprache« nicht vorgesehen ist. 21 Im französischen Original wird von »interlocution« gesprochen: »Cela veut dire que le sens obtus est en dehors du langage (artikulé), mais cependant à l`intérieur de l`interlocution.« [Zitiert nach der französischen Gesamtausgabe bei Seuil]. Der in der (deutschen) Rechtswissenschaft nicht mehr gebräuchliche Ausdruck Interlokution wird als Zwischenurteil (in einem Nebenpunkt eines noch schwebenden Prozesses) verstanden und steht damit zumindest dem assoziativen Hintergrund der Wortverwendung gar nicht so sehr entgegen. Denn auch der stumpfe Sinn thematisiert wie schon das punctum ein »Unsagbares, das gesagt werden will« und steht damit gewissermaßen in der Schwebe einer noch unabgeschlossenen Urteilsfindung, während er in rezeptionssoziologischer Hinsicht nur einen Nebenpunkt der konventionellen Zeichenlektüre abgibt. Auch das der gleichen Wortfamilie zugehörige, ebenso veraltete Adverb: interlokutorisch, das heißt sich in ein Gespräch mischend, kann den gedanklichen Hintergrund insofern bereichern, als es die Absicht auf kommunikativen Austausch betont, ohne auf den Erfolg durch eine Beantwortung einzugehen. [Die letzten beiden Begriffe nach: Duden, Das große Fremdwörterbuch; 1994] Der Terminus Interlokution betont damit jenen Aspekt, den ich bei Kant im subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch reiner Geschmacksurteile ausgedrückt sehe (s. Kap. 4.2 und 4.3). 209
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Gibt es also in kommunikativer Hinsicht ein Zwischenstadium zwischen der bloßen Zuschauersituation und einer Situation, in der zumindest über die Erfüllung der notwendigen Bedingung wechselseitiger Wortmeldungen ein Gespräch stattfindet? (Ich ignoriere hier absichtlich die Verwendung des Terminus dahingehend, dass er auf die räumlichen Bedingungen eines faktisch stattfindenden Gesprächs angewandt wird (Innenarchitektur, Beleuchtung, Möblierung etc.), denn diese recht unkontroverse Verwendung kann von Barthes’ Gedankengang offensichtlich nicht gemeint worden sein.) Gesprächssituation soll eine Situation heißen, in der unumgängliche Voraussetzungen für ein Gespräch erfüllt sind, ohne dass dieses bereits geführt würde (denn der Terminus muss nicht nur nach unten, zur Zuschauersituation, sondern ebenfalls nach oben, zum Gespräch, abgegrenzt werden). Da die bereits erwähnten unumgänglichen Voraussetzungen (die Anwesenheit von mindestens zwei Personen an einem Ort und ein themengebender Anlass, der hier in Form eines beiden zugänglichen piktoralen Artefakts vorliegt) zugleich Voraussetzungen sind, deren Erfüllung eine vollständige Zuschauersituation abgibt, muss der differenzierende Aspekt in einem zusätzlichen Merkmal gefunden werden. Einen Hinweis darauf, worin diese Differenz bestehen könnte, gibt implizit bereits die vorgeschlagene Maßnahme einer doppelten Abgrenzung des Terminus Gesprächssituation. Eine Gesprächssituation besteht offensichtlich darin, dass über das schweigende Zuschauen mehrerer Betrachter hinausgegangen wird, ohne dass bereits der Wortwechsel eines zwischen ihnen stattfindenden Gesprächs auftreten würde. Das heißt aber auch, die Gesprächssituation wird auf der Basis der erfüllten Bedingungen für eine Zuschauersituation durch eine zusätzlich auftretende solitäre Wortmeldung evoziert. Allerdings blieb bis hierher ungeklärt, in welcher sprachlichen Form eine solche Wortmeldung vorstellbar ist, durch die die Rezeption des stumpfen Sinns kommuniziert werden könnte. Denn außerhalb der gegliederten Sprache eines Textes oder der Metasprache des Kritikers wird der stumpfe Sinn (analog dem punctum) als sprachlich uneinholbar bezeichnet, da die Metasprache des Kritikers ähnlich dem Text nur fortgesetzte Annäherungen produziert, die der Kommunikation von Erlebnis oder Anlass nicht nahe genug zu kommen scheinen. Gerade die Eigenschaft der Sprachlosigkeit führt jedoch auf die gesuchte Klasse von Artikulationen zu, denn Barthes analogisiert den stumpfen Sinn im Text mit der japanischen Gedichtgattung des Haiku, jenem literarischen Artefakt, dem auch die Erlebnisdimension des satori zugesprochen wurde, die sich dann wiederum später in der Darstellung der photographischen Rezeption des
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punctum auffinden lässt.22 Hinsichtlich der Übereinstimmung von stumpfem Sinn und Haiku stellt Barthes fest: »Ließe er [der stumpfe Sinn] sich beschreiben (ein begrifflicher Widerspruch), so hätte er das Wesen des japanischen Haiku: einer anaphorischen Geste ohne bezeichnenden Inhalt, einer Schramme quer durch den Sinn (die Lust auf Sinn) [...]« [Sinn 61]. Mit der Struktur des Haiku war jedoch (deutlich im etwa zeitgleich zum stumpfen Sinn publizierten Japanbuch: Das Reich der Zeichen) immer der kindliche Ausdruck des »Das!« verbunden worden, und zwar sowohl als Hinweis auf ein dieser literarischen Gattung immanentes deiktisches Konstruktionsprinzip als auch als diesem entsprechende Erlebnisform.23 Die Darstellung der deiktischen Struktur des Haiku im Reich der Zeichen behilft sich immer des sprachlichen Hinweises auf deiktische Interjektionen, so als seien diese nicht nur anschauliche Wiederholungen des, sondern auch adäquate Artikulationen zum Gedicht: »Da der Haiku (so nenne ich jeden diskontinuierlichen Zug, jedes Ereignis im japanischen Leben, wie sie sich meiner Lektüre darbieten) weder beschreibt noch definiert, schrumpft er bis zur reinen und bloßen Designation. Es ist dies, es ist so, sagt der Haiku, es ist solches. Oder besser noch: Solches! sagt er in einem so raschen und knappen Stil (ohne Schwanken noch Wiederholung), dass selbst die Kopula noch zuviel erscheinen, wie das Schuldgefühl einer verbotenen, auf immer entrückten Definition.« [Zeichen 114 f.]
Aus der Analogisierung des stumpfen Sinns mit dem Haiku (die grundsätzlich auch für die zehn Jahre später folgende Darstellung des punctum gilt) lässt sich nun über die notwendig jenseits der »gegliederten Sprache« verlaufende Artikulation des stumpfen Sinns spekulieren. Ganz im Einklang mit Barthes’ Feststellung, man könne jenes piktorale und rezeptive Phänomen des stumpfen Sinns nicht mittels malerischer Sprache wiedergeben, da es ja selbst nichts darstelle, ließe sich über Barthes hinaus argumentieren, wenn der stumpfe
22 In der Hellen Kammer wird das punctum so charakterisiert: »ein jähes Erwachen, durch keinerlei ›Ähnlichkeit‹ ausgelöst, das satori, wo die Worte versagen, die seltene vielleicht einzigartige Evidenz des ›So, ja, so, und weiter nichts‹.« [Kammer 119] Abgesehen vom Reich der Zeichen in dem der Begriff zuerst verwendet wird, findet er sich auch in Die Lust am Text als Hinweis auf eine bestimmte Form ästhetischen Erlebens (vgl. dort: 52). 23 »Haiku (der Zug) reproduziert die Zeigegeste des kleinen Kindes, das mit dem Finger auf alles mögliche zeigt (der Haiku lässt das Subjekt unberücksichtigt) und nur ›das!‹ sagt, mit einer so unmittelbaren Bewegung (die so frei von jeder Vermittlung durch Wissen, Namen oder Besitz ist), dass letztlich nur die Sinnlosigkeit jeder Klassifizierung der Objekte bezeichnet wird.« [Zeichen 115] 211
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Sinn das deiktische Wesen des Haiku aufweise, dann müsse er doch zumindest auch in dessen interjektiver Sprache artikuliert werden können.24 Sollte die Artikulation des in gegliederter Sprache nicht darstellbaren stumpfen Sinns jedoch in diesen deiktischen Interjektionen möglich sein,25 dann wäre Barthes’ Feststellung neu zu bewerten, derzufolge der stumpfe Sinn wortlos in der Gesprächssituation anwesend sei. Eine gesprächsorientierte Verständigung über den stumpfen Sinn, die außerhalb der gegliederten Sprache operiert, würde in Barthes’ Verständnis auf der rhetorischen Wiederholung der immanenten Zeigestruktur des ästhetisch relevanten Objekts durch die Rezipienten basieren, denn nur dadurch könnte der stumpfe Sinn zwar außerhalb der gegliederten Sprache, aber dafür innerhalb der Gesprächssituation plaziert werden. Anders ausgedrückt, erst durch den einen oder anderen deiktischen Ruf wird der stumpfe Sinn aus dem schweigsam dialogischen Zuschauerverhältnis (zwischen Betrachtern und Werk) in ein soziologisch erweiterbares manövriert. Der Ruf schafft die Gesprächssituation, so dass er als stumpfer Sinn oder punctum das wichtigste Merkmal reiner Geschmacksurteile aufweist: er erhebt Anspruch auf »allgemeine Zustimmung«, die ein Anspruch auf die Teilnahme an einer Gesprächssituation ist. Ob das schon ein Gespräch ist, ist fraglich, allerdings wurde dieses ja auch nicht behauptet, sondern statt dessen nur eine Gesprächssituation apostrophiert, und diese verweist auf einer sehr rudimentären Ebene zumindest auf die tendenzielle Auflösung der sozialen Isolation des ästhetischen Erlebens. Aus dieser Isolation führt unter den angegebenen Bedingungen einer doppelten Ablehnung gegliederter Sprache aber kaum ein anderer als der unterstellte Weg hinaus, denn würde zusätzlich zu dieser Ablehnung auch jede weitere Art von Artikulation gemieden, dann würde die beschriebene Rezeptionssituation eben nur eine bloße Zuschauer-, aber keine Gesprächssituation mehr sein können. Allerdings scheint die oben zitierte Gesprächssituation im Fortgang von Barthes’ Textes doch wiederum buchstäblich gemeint zu sein, insofern sie auf 24 Dass mich dieses kausalisierende Argument Barthes’ nicht überzeugt, kann ich im Zuge einer Rekonstruktion seiner Theorie dahingehend, welche Artikulationen für den stumpfen Sinn infrage kommen, vernachlässigen, ohne gleichwohl auf das Resultat verzichten zu müssen. Denn die deiktischen Interjektionen brauchen ja nicht über die Werkstruktur begründet werden, wenn ihnen bereits der von Barthes beschriebene Rezeptionszustand entspricht. 25 Eine solche Darstellung könnte nicht auf den werktheoretischen Bereich des stumpfen Sinns, sondern nur auf das Rezeptionsphänomen bezogen bleiben. Denn werktheoretisch, also die piktoralen Merkmale betreffend, verhält es sich beim stumpfen Sinn wie mit der werktheoretischen Dimension des punctum: man kann sie »theoretisch situieren aber nicht beschreiben [...]« [Sinn 63]. 212
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der Basis einer allen Gesprächspartnern gleichermaßen zugänglichen Präsenz des Bildes eine fortgesetzte und wortlose »Verständigung« für möglich hält: »Denn wenn sie die genannten Bilder anschauen, werden sie diesen Sinn sehen: Wir können uns beiläufig oder ›auf dem Rücken‹ der gegliederten Sprache über ihn verständigen; dank des Bildes (allerdings eines stehenden, darauf wird noch eingegangen), weit mehr: dank dessen, was im Bild nichts als Bild (und im Grunde sehr wenig) ist, kommen wir ohne das Wort aus, ohne dass unsere Verständigung aussetzt.« [Sinn 60]
Barthes stellt sich eine Umleitung der Gesprächsführung vor. Durch die Betonung der Funktion des Bildes scheint die »Verständigung« nun doch zwischen vereinzelten Rezipienten und dem photographischen Werk stattzufinden, aber offenbar so, dass diese Relation gleichwohl intersubjektiv erweiterbar ist, indem sie wiederholt wird. Durch die Präsenz des photographischen Artefakts und die wenigen, beiläufigen sprachlichen Hinweise ist das Privatgespräch tendenziell erweiterbar. Weitere Betrachter »beginnen den Sinn zu sehen« und kommen dann »ohne das Wort aus«. Obwohl hier uneindeutig ein indirekter Gebrauch der gegliederten Sprache für möglich gehalten wird, bleibt die in Aussicht gestellte »Verständigung« primär an die Präsenz des Bildes gebunden. Dieses Barthes-Zitat lässt sich also in einer ähnlich schlichtenden Lesart deuten, wie sie für das vorangegangene unterbreitet worden war, so dass ich hier nun Gelegenheit habe, meinen zweiten Einwand gegen die beschriebene Form der »Verständigung« anzubringen. Intuitiv scheint eine »wortlose Verständigung« vor filmischen Photogrammen dann besonders plausibel, wenn ein gemeinsames Repertoire ikonographischer Stereotypen vorliegt, auf das sich eine Gruppe von Rezipienten beziehen kann. Allerdings wird diese auf kultureller Vermittlung beruhende Lektüre von der Theorie des stumpfen Sinns explizit nicht gemeint. Denn die unumgängliche Voraussetzung der »wortlosen Verständigung«: »was im Bild nichts als Bild und im Grunde sehr wenig ist«, zielt auf das ganze Gegenteil kulturell vermittelter und damit wortlos verständlicher Bildmotive ab, weil hiermit offenbar wieder die These eines »buchstäblichen Denotats« der Photographie beansprucht wird. Die Formulierung, die hier eine Voraussetzung »wortloser Verständigung« benennt, trifft sowohl auf die frühere medientheoretische Diagnose eines photographischen Analogons als auch auf die »Zeichenebene« photographischer Bilder insgesamt zu, also auf jene These einer grundsätzlichen Privilegierung der Signifikanz von Zeichen, die Barthes nicht nur in Bildmedien als Bezugspunkt ästhetischen Wohlgefallens nachzuweisen versucht hat. Beide (sowohl das frühere Analogon als auch die Signifikanz der Zeichen) können aber nur subtraktiv aus der Menge von Konnotationen, also dem Eindruck 213
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zeichenhafter Natürlichkeit bezogen werden, der sie tradierten Lektüregewohnheiten zufolge umgibt. Und das heißt, um sich auf diese konnotationsfreie Bildlichkeit (wortlos) beziehen zu können, ist in Barthes’ Theorie eine besondere ästhetische Erfahrung vorgesehen, die sich wesentlich durch die zufällige Wirkungserfahrung ihrer Objekte motiviert. Damit tendiert jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Betrachter zugleich sehen können, »was im Bild nichts als Bild und im Grunde sehr wenig ist«, gegen null, so dass die Annahme einer wortlosen »Verständigung« unter dieser Voraussetzung ausgesprochen fragwürdig ist, obwohl sich die Differenz zum wortreichen Bildbezug durchaus verdeutlichen lässt: die Wiedererkennung typischer Posen und piktoraler Stereotypen, die von mehreren Betrachtern im Bildmaterial von Kinoankündigungen simultan studiert werden können, schafft keine Gesprächssituation, sondern eröffnet direkt den Diskurs im Sinne der Bourdieuschen Mehrheitsrezeption. Mit dieser Überlegung möchte ich nun auf eine weitere Voraussetzung und auf eine weitere Konsequenz von Barthes’ Begriff der Gesprächssituation hinweisen. Der Bezug auf die Signifikanz des Bildes, der bei Barthes immer eine ästhetisch lustvolle Aktivität darstellt, ist aufgrund seines exquisiten und elaborierten Charakters (hier nimmt jemand ein punctum und nicht das gängige studium wahr) aktuell eigentlich nur einer der beteiligten Personen zuzusprechen. Eine spezifisch ästhetische Rezeption, die sich lustvoll der Signifikanz von Zeichen widmet, war ja auch im Falle des punctum nicht als absichtsvoll eingehbare, sondern vielmehr reaktiv auftretende identifiziert worden. Aufgrund der Zufälligkeit und Subjektivität ästhetischen Erlebens (die auch für den stumpfen Sinn gelten), kann das, was als dessen kausales Merkmal im Bildmotiv aufgesucht wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit aktuell jeweils nur von einem solitären Betrachter im Modus ästhetischer Betroffenheit registriert werden. Das heißt aber auch, dass der wortlose und deiktische Ruf, der die Gesprächsituation evoziert, ohne zugleich ein Gespräch einzuleiten, ebenfalls solitär auftritt und sogar auftreten muss, denn es wäre zumindest eine recht unwahrscheinliche Übereinstimmung, würden zwei Betrachter zugleich eine entsprechende Wahrnehmung praktizieren. Die Konsequenz dieser (hypothetischen) Überlegung besteht darin, dass der Übergang von einer bloßen Zuschauersituation in eine potentielle Gesprächssituation durch das vereinzelte Vorkommen eines deiktischen Rufes vollzogen wird und dass umgekehrt betrachtet die adäquate Artikulation von stumpfem Sinn und punctum in der sozialen Unmittelbarkeit öffentlicher Rezeptionssituationen Gesprächsangebote bereitstellt, die anders als die publizistische Praxis Öffentlichkeit um jene ästhetischen Phänomene »organisiert« [Benjamin, s. Kap. 7], die sich institutionell unvermittelt in der sozialen Unmittelbarkeit der Lebensvollzüge auffinden lassen. Diese interlokutionäre Funktion jenes Urteilsbegriffs den Barthes in der Phototheorie zwischen 214
6. DAS PUNCTUM ZWISCHEN ARTIKULATION UND ÖFFENTLICHKEIT
stumpfem Sinn und punctum entwirft, lässt sich zweifellos mit der »Eröffnungsfunktion« von Kants Geschmacksurteilen vergleichen.
6.6 Kommunikationstheoretischer Exkurs: Luhmann Jenseits meiner auf die interlokutionäre Funktion deiktischer Rufe konzentrierten Lesart könnten die im letzten Abschnitt zitierten Textstellen aber auch im Sinne einer kunstspezifischen Kommunikationstheorie bestätigt werden. Gerade die Vorstellung einer wortlosen und bildfixierten Verständigung ist in einer auf den ersten Blick nahezu übereinstimmenden Auffassung von ästhetischer Kommunikation durch Niklas Luhmann in seiner Kunst der Gesellschaft entwickelt worden. Unter dem eingeschränkten Fokus auf das Kunstsystem der Moderne (dem die Photographie ja nur partiell zugehört) hat er festgestellt: »Als Besonderheit, die das Kunstsystem von anderen Funktionssystemen unterscheidet, können wir festhalten, dass die Beobachtung zweiter Ordnung im Bereich des Wahrnehmbaren hergestellt wird. [...] Die Tragweite dieser Feststellung wird deutlich, wenn man sieht, dass sie vom Erfordernis des Konsenses befreit oder zumindest in weitgehendem Umfang davon dispensiert. Die Selbigkeit des Dinges ersetzt die Übereinstimmung der Meinungen.« [Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft; F.a.M. 1997, S. 124]
Obwohl gerade der Schlusssatz dieses Zitats eine ähnliche Rezeptionssituation zu bezeichnen scheint, wie sie Barthes für den stumpfen Sinn feststellte: »Dank des Bildes [...] kommen wir ohne das Wort aus, ohne dass unsere Verständigung aussetzt«, muss jedoch genauer nachgefragt werden, inwiefern sich hier beide Konzepte deckungsgleich ergänzen. Für Luhmanns Feststellung ist es offenbar unbedeutend, ob die »Selbigkeit des Dings« einer Gruppe von Rezipienten simultan oder sukzessiv gegeben ist, denn Artikulationen haben in der beschriebenen Art kunstbezogener Kommunikation keinen funktional bedeutenden Rang. Obwohl Luhmann die »soziale Unmittelbarkeit [...] oraler Kommunikation«26 auch in ihrer historischen Bedeutung für die Ausdifferenzierung des Kunstsystems betont hat, ist sein an der Rezeption von Kunst dargelegter Kommunikationsbegriff nicht auf eine Simultanität des äs-
26 »Poesie wurde, noch im späten Mittelalter, für Vortrag, nicht für einsames Lesen – geschrieben; also für Situationen mit hoher sozialer Unmittelbarkeit. Somit hing die Kulturtradition stärker als heute von oraler Kommunikation und damit von individuellen Gedächtnisleistungen ab, die alle Sinne, vor allem Hören und Sehen im Verbund verwenden.« [Luhmann Kunst 33] 215
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
thetischen Erlebens mehrerer Rezipienten angewiesen. Denn der entscheidende Ansatz in Luhmanns Kommunikationsbegriff für die Kunst betrifft nicht die Beziehungen, die zwischen den Rezipienten möglich sind, sondern ein verändertes Verständnis derjenigen Relation, die zwischen jedem dieser Rezipienten und dem künstlerischen Werk besteht. Bereits den frühen Debatten des 18. Jh. schreibt Luhmann die Einsicht zu: »dass man nicht mehr nur über Kunstwerke so wie über alle anderen Gegenstände auch, sondern auch durch Kunst kommunizieren kann.« [Luhmann Kunst 33] Dass sich Kunst dadurch auszeichnet, dass nicht über sie, sondern vor allem durch sie kommuniziert wird, könnte also Barthes’ Position bestätigen, in Gegenwart einer Photographie könne man sich wortlos verständigen, indem man jeweils mit dem artifiziellen Bild kommuniziert. Insofern gelänge die wortlose »Verständigung« tatsächlich »dank des Bildes« (Barthes) oder eben gewährleistet durch »die Selbigkeit des Dinges« (Luhmann) – dass dabei der von Barthes betonte Aspekt der Simultanität für Luhmann nicht von ebenso funktionaler Bedeutung ist, schließt ihn ja keineswegs aus. Die wortlose Verständigung mit und durch Kunst, die für Luhmann nicht situationsspezifisch begründet zu werden braucht, würde bei Barthes eben in dem Sonderfall zur Darstellung kommen, der dann vorliegt, wenn mehrere Betrachter eine Bildlektüre simultan vornehmen. Die Kommunikation mit Kunst wird Luhmann zufolge jedoch erst dann möglich, wenn Rezipienten künstlerische Objekte nicht nur als Kunst, sondern ebenfalls als Objekte verstehen, die sich einer »Absicht auf Information verdank[en]« [Luhmann Kunst 70]. Wichtig ist für seine Überlegungen, dass elaborierte künstlerische Artefakte Beobachtungsdirektiven stilisieren, die in der Rezeption dieser Objekte dann wiederum beobachtbar sind.27 Dadurch wird jedoch der Begriff des Autoren und auch der der Intentionalität funktional bedeutsam,28 und es tritt wieder jener operator in Erscheinung, dessen rezeptive Berücksichtigung laut Barthes die studierende Lektüre kennzeichnet, der punktuierten aber, wie dem reinem Geschmacksurteil Kants, fehlt. Die für Luhmanns Kommunikationsbegriff unumgängliche Bedingung beobachteter Intentionalität macht es jedoch unmöglich, seine Auffassung einer dingorientierten, »wortlosen Verständigung« in sozialer Unmittelbarkeit auf die Rezeptionsweise von stumpfem Sinn (oder punctum) anzuwenden. 27 »Vielmehr sind die Kunstwerke selbst Medium der Kommunikation insofern, als sie Beobachtungsdirektiven enthalten, die von verschiedenen Beobachtern adäquat oder inadäquat aufgegriffen werden können und dazu bestimmt sind.« [Luhmann Kunst 129] 28 »Immer ist der andere als Beobachter mit im Blick. Auch Betrachter sind an Kommunikation gebunden. Sie rechnen das Kunstwerk einem Künstler zu.« [Luhmann Kunst 131] 216
6. DAS PUNCTUM ZWISCHEN ARTIKULATION UND ÖFFENTLICHKEIT
Zumal beide, besonders aber das punctum nicht nur die intendierte Informationsstruktur einer Photographie ignorieren, sondern sich zudem auch an den »buchstäblichen« Qualitäten der Objekte orientieren, so z.B. an deren Materialität, die für Barthes ihrem Zeichencharakter zugehörig ist,29 während Luhmann sie wiederum für die Kommunikation mit Kunst als rezeptiv unbedeutend ermittelt. Die Materialität der Zeichen ist für ihn nur ein Aspekt struktureller Koppelung.30 Nur unter den Prämissen beobachtbarer Intentionalität und vernachlässigter Materialität ermöglicht Luhmanns kunstorientierter Kommunikationsbegriff die »Liberalisierung des Urteils bei festgehaltenem Dingbezug« und erweitert die »verbreiteten Vorstellungen über die Bedingungen gesellschaftlicher Kommunikation«.31 Die von Barthes postulierte »wortlose Verständi29 Diese Behauptung ist gerade im Falle der Photographie schwer zu erhärten, da Barthes mit seiner Ablehnung der Photographen und ihres sichtbar werdenden handwerklichen Könnens ebenfalls die mediale Materialität abzulehnen scheint (offenbar weil sie von Photographen gezielt eingesetzt werden kann). Dass er trotzdem unter dem Begriff der Signifikanz solche materialen Aspekte erfasst, lässt sich zum Beispiel für das Medium Text belegen [vgl. ders.: Die Lust am Text; F.a.M. 1974, S. 97 f.], aber auch den distanzierenden Äußerungen entnehmen, mit denen er sich selbst kritisch zu seinen Begriffen von »Buchstabe« und »Denotat« verhält, die ja nie als diskontinuierliche Zeichen gemeint waren [ders.: Botschaft 15]. 30 »Will man Systembildung durch Kommunikation begreifen, muss man freilich die materiellen Realisationen der Kunstwerke aus dem Kommunikationssystem Kunst ausschließen. Sie sind Teil der Umwelt des Systems – aber ein Teil der Umwelt, der mit der Kommunikation durch strukturelle Kopplung verbunden ist. Nur ihre Objektheit zählt. Das System selbst kennt nur einen einzigen Operator: Kommunikation. Es reproduziert Kommunikation durch Kommunikation und nicht etwa über Zwischenoperationen, die aus Marmor oder Farbe, aus tanzenden Körpern oder aus Tönen bestehen.« [Luhmann Kunst 131] Würde sie in der semiotischen Terminologie Barthes reformuliert, dann müsste Luhmanns These einer Kommunikation durch künstlerische Zeichen also darauf hinauslaufen, dass an diesen ausschließlich ihr Signifikat berücksichtigt werden könnte und nicht ihre von Barthes programmatisch favorisierte Signifikanz: Marmor, Farbe, tanzende Körper und Töne. 31 »Die Liberalisierung des Urteils bei festgehaltenem Dingbezug muss vor allem deshalb herausgestellt werden, weil sie verbreiteten Vorstellungen über die Bedingungen gesellschaftlicher Kommunikation widerspricht. Seitdem man die alteuropäische Vorstellung einer durch die Kultur garantierten Übereinstimmung hatte aufgeben müssen, hatte man um so mehr auf Konsens gesetzt.« [Luhmann Kunst 124] 217
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
gung« am Bild weicht jedoch in beiden Aspekten von Luhmanns Kommunikationsbegriff ab, da das ästhetische Urteil zur Photographie direkt auf Medialität und Materialität des Bildes gerichtet ist, auf jene Region, die sich keines produktiv intendierten Arrangements verdankt, selbst wenn sie erst mit einem solchen erlebt werden mag. Da Barthes’ »wortlose Verständigung« mittels des stumpfen Sinns eine unmittelbar erlebnis-, keine informationsorientierte Rezeption thematisiert, kann sie trotz der von ihr betriebenen »Liberalisierung des Urteils bei festgehaltenem Dingbezug« nicht als Exemplar einer Beobachtung zweiter Ordnung gelten. Und doch kann auch die von Barthes angeführte Gesprächssituation die »verbreiteten Vorstellungen über die Bedingungen gesellschaftlicher Kommunikation« erweitern, gerade weil sie das ästhetische Urteil von den bereits bestehenden Positionen differenziert.
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7. Das ästhetische Urteil in der photographischen Kultur
Der vorliegende Versuch, den Begriff einer ästhetischen Rezeption von Photographien zu formulieren, soll nun unter drei Gesichtspunkten zusammengefasst werden. Erstens hinsichtlich der Stationen seines durch die exemplarische Auswahl der besprochenen Texte und Theorien unvermeidlich geprägten Verlaufs. Da diese Auswahl selbstverständlich nur eine unter sehr vielen darstellt, mittels derer sich mein Thema entwickeln lässt, möchte ich im knappen Rückblick auf die Zwischenergebnisse des Argumentationsverlaufs und seine entscheidenden Verzweigungen die Plausibilität dieser Konstruktion hervorheben. Zweitens soll der zuletzt erreichte Argumentationsstand, der das ästhetische Urteil an der Photographie in einer öffentlich zugänglichen Rezeptionssituation fixiert hatte und ihm dort eine interlokutionäre Funktion zusprach, an zwei vergleichbar anspruchshaften Beispielen der Theoriegeschichte präzisiert werden. Neben der direkt aus der Urteilskonzeption (von Kant und Barthes) bezogenen Funktion ästhetischer Urteile, Gesprächssituationen zu konstituieren, gilt es nun ebenfalls noch, die urteilsfremden Bedingungen für eine solch »wortlose Verständigung« am Bild zu benennen. Im Anschluss hieran wird drittens versucht, die Chancen und Konsequenzen zu formulieren, die sich aus der hier unternommenen Darstellung des Begriffs ästhetischer Urteile für ein Verständnis der photographischen Kultur ergeben. a) Der Begriff eines ästhetischen Verhältnisses zur Photographie wurde in Bourdieus Photosoziologie zunächst nur produktionstheoretisch erörtert und unter der leitenden Annahme einer negierenden »Einstellung« der photographischen Ästheten zur Mehrheitspraxis auf ein soziales Fundament verwiesen. Durch den Einbezug entsprechender Überlegungen Vilém Flussers konnte die soziale Negation als Begründungsmotiv ästhetischer Verhältnisse zur Photo219
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
graphie jedoch ausgeschlossen werden, während die von Flusser und Bourdieu geteilte Annahme einer durchgehend intentional geprägten Qualität photographischer Bilder als Ansatz einer Analyse des Ästhetischen ebenfalls nicht überzeugen konnte. Diese vorrangig produktionstheoretische Auslegung des Ästhetischen erschien zweifelhaft, weil in rezeptiven Verhältnissen zu Photographien mitunter Irritationen und semantische Vieldeutigkeiten auftreten, die nicht auf die photographischen Ästheten (Photokünstler) oder die von ihnen intendierten Bildqualitäten zurückführbar sind. Wenn aber die routinierte Bildinterpretation mehrheitlicher Photorezipienten bereits an gewöhnlichen Amateurphotographien »scheitern« kann, dann wird somit eine grundsätzlichere, nämlich kunstunspezifische Untersuchung ästhetischer Verhältnisse zur Photographie erforderlich, die nun rezeptions- und bildtheoretisch verlaufen muss. Obwohl die Möglichkeit einer nicht sozial mittelbaren, präferentiell geprägten Bildlektüre in der Bourdieuschen Photosoziologie immerhin marginal vertreten und mit Kants Ästhetik assoziiert worden war, blieb ein rezeptives ästhetisches Verhältnis in der theoretischen Reflexion jedoch unberücksichtigt. In zeitlicher Nähe zu Bourdieus Photosoziologie hatte Roland Barthes zwei phototheoretische Artikel verfasst, die den marginalisierten Begriff einer kulturelle Mittelbarkeiten umgehenden, »perzeptiven« Rezeption von Photographien immerhin hypothetisch postulierten. Der Entwurf einer solchermaßen ästhetischen Bildrezeption steht bei Barthes, wie ich zu zeigen versucht habe, offensichtlich im Zusammenhang mit Erwin Panofskys kunsthistorischer Methodenreflexion und kann in deren Kontext zu einer klareren Abgrenzung gegenüber Bourdieus präferentiellem Ästhetikbegriff gelangen, indem er sich nun auf einen medien- und bildtheoretischen Bezugspunkt beruft. Der frühe Barthes vertritt offenbar eine marginale und »unüblich« von kulturell pluralisierenden »Einstellungen« abweichende Photorezeption auf der Ebene von Panofskys Phänomensinn, allerdings ohne dessen Differenzierung zwischen Tatsachen- und Ausdruckssinn zu berücksichtigen. Dieser thematische Zusammenhang zwischen Barthes’ früher Phototheorie und Panofskys kunsthistorischer Methodenreflexion ist für eine Analyse des ästhetischen Urteilsbegriffs auch deshalb aufschlussreich, weil Bourdieu wiederum explizit an die gleichen Panofsky-Texte anknüpft, um ausgehend von einer Photo- und Bildrezeption den Begriff des Ästhetischen in der Kultur insgesamt zu bestimmen. Panofskys kunsthistorische Stilidentifikationen (des ikonographischen Bedeutungssinns) werden hierzu von Bourdieu als unser Standardverhältnis zu allen kulturellen Artefakten bewertet, das von einer kritischen Kultursoziologie nur ikonologisch (auf der Basis von Panofskys Habitus-Begriff) hinterfragt, nicht jedoch phänomenal unterschritten werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Simplifizierung der Panofskyschen Diffe-
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7. DAS ÄSTHETISCHE URTEIL IN DER PHOTOGRAPHISCHEN KULTUR
renzierungen muss Barthes’ Begriff einer »perzeptiven« Photorezeption als unzureichender Bildbezug bewertet werden. Der Begriff einer (nunmehr unbemerkt künstlerisch spezialisierten) ästhetischen Rezeption wird von Bourdieu also auf der Ebene der ikonologisch zu überschreitenden Ikonographie angesiedelt und dadurch mit starken theoretischen Generalismen belastet: Zwar muss jede Bildrezeption unvermeidlich als sozial- und kulturgeschichtlich voraussetzungsreich gelten, allerdings kann nicht nachgewiesen werden, dass diese Voraussetzungen durchgehend dem Niveau des »bildungsmäßig Hinzugewußten« entstammen und in der Bildrezeption zwangsläufig Stilbegriffe abgefragt werden, während biographisch divergierende Erfahrungen, die auf der Basis eines existentiellen Gebrauchs der Sinnesorgane erworben wurden, als Reflexionskontext für den Bildzugang somit ausgeschlossen bleiben müssten. Bourdieus Verständnis des Ästhetischen im Kontext der Stilidentifikationen des Bedeutungssinns kann ästhetische Verhältnisse zu kulturellen Artefakten fortan nur dort annehmen, wo solche Verhältnisse als intendiert erscheinen – wodurch das Thema des Ästhetischen in einer kunstspezifischen Reduktion verharrt. Deshalb gelangt Bourdieu spätestens ab den Feinen Unterschieden zu der irrtümlichen Annahme, auch Kants Ästhetik sei, als paradigmatischer Stellvertreter jeder ästhetischen Theorie, notwendig als eine philosophische Theorie der Kunst zu verstehen. Andererseits war der in Bourdieus Photobuch eigentlich nur polemisch eingesetzte, antagonistische Kontrast zwischen der photographischen Mehrheitsrezeption und Kants Ästhetik auch deshalb überlegenswert gewesen, weil diese dem Untersuchungsgegenstand der Amateurphotographie konzeptuell eher entspricht als einer elaborierten Kunstphotographie. Denn eingedenk der tatsächlich ja fehlenden Kunstspezifik der Kantschen Ästhetik sowie ihres konzeptuell offenen Gegenstandsbereichs ist ihre grundsätzliche Anwendbarkeit auf die photographische Gegenwartskultur gar nicht mal so abwegig. So kann eine Rückbesinnung auf Kants Konzeption ästhetischer Urteile, wie sie besonders in der »Analytik des Schönen« vorgetragen wurde, geeignete Anknüpfungspunkte für die Phototheorie ergeben, umsomehr deshalb, weil Kant primär rezeptionstheoretische Aspekte beleuchtet, die jenseits spezifischer Intentionen und besonderer Werke liegen. Gerade unter Berücksichtigung der fehlenden Kunstspezifik gelangen auch Kants Begriffe vom interesselosen Wohlgefallen und der Zweckmäßigkeit ohne Zweck zu ihrem ursprünglich disjunktiven und die ästhetischen Urteile charakterisierenden Profil. Als absichtsloses Aufmerken auf das wirkungsvoll erlebte Nicht-Intendierte betonen die reinen Geschmacksurteile Kants gegenüber dem präferentiellen Pluralismus Bourdieus offenbar die Einstelligkeit von Barthes’ »perzeptiver« Rezeption der Photographie – die selbst allerdings wiederum hochgradig pluralistisch ist. 221
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Als ein thematisch zugehöriger aber modernespezifischer Bezugspunkt für die von Bourdieu unbeabsichtigt angeregte Aktualisierung der Kantschen Ästhetik bietet sich nicht nur Barthes’ frühe sondern mehr noch seine späte Phototheorie an. Denn da sie sich methodisch nun ebenfalls stärker auf die Analyse jener abweichenden Rezeptionsphänomene konzentriert, die in der frühen Theorie noch mit bildtheoretischen Argumenten von der Mehrheitsrezeption (im Sinne Bourdieus) abgegrenzt wurden, hat sie mit Kants Ästhetik nicht nur das differenzierende Anliegen, sondern ebenfalls Merkmale, Inhalt und artikulative Erscheinungsweise ästhetischer Urteile gemeinsam. Das ästhetische Urteil bezeichnet bei Barthes, wie schon bei Kant, eine begriffslos affektive Anziehung, die zwar nicht die Vermittlung ihres Objekts unter allgemeinen Begriffen betreibt, aber gleichwohl Worte und Sprache einschließt, sobald sie artikuliert wird. Wie sich dieser durch die ungeklärte Beteiligung von Sprache konfliktreiche Begriff eines ästhetischen Urteils verstehen lässt, kann wiederum unter Hinweis auf Barthes’ Panofsky-Bezug erläutert werden. Die »Begriffslosigkeit des Schönen«, die bei Kant auch eine fehlende »Vermittlung durch Begriffe« genannt wird, bezieht Sprache analog zu Panofskys Tatsachen- und Ausdruckssinn in die Wahrnehmung des ästhetisch relevanten Objekts ein, ohne dieses gemäß des Bedeutungssinns unter kulturellen Begriffen zu »vermitteln«. Trotz der Nähe zwischen Kants reinen Geschmacksurteilen und Barthes’ punctum hinsichtlich der Urteilsmerkmale und des Urteilsinhalts (hier sind besonders die Interesselosigkeit und die über den Zweckbegriff angeführte Intentionslosigkeit des ästhetischen Urteils verbindend) führt Kants Konzeption zugleich über die von Barthes’ später Phototheorie hinaus, weil der analoge Urteilsbegriff in seinem artikulativen Profil Konsequenzen hat, die tendenziell öffentlichkeits- und diskurstheoretisch problematisch sind. Dieser prekäre Status ästhetischer Artikulationen gehört aber nur bei Kant wesentlich ihrer Charakteristik an, denn mit der Betonung des zentralen Merkmals reiner Geschmacksurteile, des subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruchs, wird bei Kant die öffentliche Artikulation begriffsloser Schönheitszusprachen konzeptuell thematisch. Der subjektive Allgemeingültigkeitsanspruch charakterisiert ästhetische Urteile, wie ich meine, dabei auch jenseits seiner transzendentalphilosophischen Begründbarkeit, weil er zunächst nur die Konsequenz einer bestimmten Urteilskonzeption ist und in der Empirie ästhetischer Urteilsbezüge deren prekären Status thematisiert. Der zwar ausgesprochene, aber hinsichtlich der Gegenstandsqualitäten sprachlos bleibende Verweis auf ein ästhetisch relevantes Objekt, das aktuell im Modus einer intensiven Betroffenheit erfahren wird, führt bei Kant und Barthes gleichermaßen zur Inanspruchnahme allgemeiner Zustimmung, insofern diese in emphatischen Interjektionen wie
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7. DAS ÄSTHETISCHE URTEIL IN DER PHOTOGRAPHISCHEN KULTUR
»Seht!«, »Schau!«, »Da!« oder »Das ist es!« bereits unvermeidlich ausgedrückt wird.1 Kants reine Geschmacksurteile und Barthes’ punctum können hinsichtlich ihrer sprachlichen Erscheinungsweise nur als solche deiktischen Interjektionen verstanden werden, mittels derer einzelne (Photo-) Rezipienten auf den Gegenstand ihrer ästhetischen Betroffenheit öffentlich verweisen. Gleichwohl unterscheidet sich Barthes’ Urteilsbegriff von demjenigen Kants darin, dass er diese Artikulationen sozial isoliert und das zugehörige ästhetische Urteilsereignis glaubwürdig als Impulsgeber künstlerischer Produktivität interpretiert. Aus der Perspektive Kants betrachtet, lässt sich neben dieser sozialen Isolation ästhetischer Urteile jedoch auch bei Barthes eine Urteils- und Gesprächssituation rekonstruieren, die die »Eröffnungsfunktion« Kantscher Geschmacksurteile nachvollzieht. Umgekehrt erhält Kants Geschmacksurteil durch Barthes’ Phototheorie trotz seiner Gegenstandslosigkeit doch einen spezifischen Gegenstandsbereich in der Photographie zugeteilt, der sich der Unterscheidbarkeit photographischer Urteile im Sinne Kants verdankt. Damit meine ich nicht die Photographie insgesamt, sondern nur jene Bereiche am photographischen Bild, die Roland Barthes mit seiner Rede von einem Denotat oder der »Buchstäblichkeit« von Photographien gekennzeichnet hat. Die aufgezeigte Übereinstimmung in der Urteilskonzeption von punctum und reinem Geschmacksurteil erschließt dem letzteren jenen photographischen Gegenstandsbereich, auf den sich das punctum in seiner vom studium abweichenden Bildrezeption jeweils bezieht. So erlangt Kants Ästhetik in der photographischen Kultur einen unterscheidbaren Ort und hinterfragt zugleich Barthes’ hierfür entworfenen analogen Urteilsbegriff auf seine öffentlichkeitstheoretischen Konsequenzen, die zumindest immer dann auftreten, wenn ästhetische Urteile nicht in sozialer Isolation artikuliert werden. b) Mit der positiven Beantwortung meiner Frage nach einer ästhetischen Rezeption der Photographie, ihrer Abgrenzung zum präferentiellen Urteilsbegriff Pierre Bourdieus und ihrer Diskussion im Zuge der Phototheorie Roland Barthes’ verbinden sich sowohl die Darlegung des Inhalts ästhetischer Urteile als auch die Reflexion ihres öffentlichkeitstheoretisch prekären Status – wie er bereits mit Kants Allgemeingültigkeitsanspruch thematisch geworden war. So findet die ästhetische Rezeption von Photographien nicht nur einen Inhalt jenseits präferentieller Zugänge und »Gebrauchsweisen«, sondern auch eine
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Zur diskursiven Vorgängigkeit dieser Wahrnehmungen vgl.: Dieter Mersch: Ereignis und Aura, Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen; F.a.M. 2002, S. 30 ff. 223
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
interlokutionäre Funktion, die sich überall dort konstatieren lässt, wo ästhetische Urteile an öffentlich präsenten Photographien vorgebracht werden. Barthes’ Begriff des ästhetischen Urteils konnte somit im Sinne Kants vervollständigt werden, da er durch seine charakteristische Tendenz zur Artikulation ebenfalls über eine »Eröffnungsfunktion« im Sinne der reinen Geschmacksurteile verfügt. Andererseits ist diese Funktion bisher ausschließlich aus der Urteilsanalyse heraus formuliert worden, während die Frage nach den urteilsfremden Bedingungen, unter denen ästhetische Urteile Gesprächssituationen konstituieren, unberücksichtigt blieb. Das soll nun unter Hinweis auf zwei historische Beispiele nachgeholt werden, denn da die urteilsfremden Bedingungen der interlokutionären Funktion ästhetischer Urteile auch Einschränkungen darstellen, helfen sie, den Begriff in öffentlichkeitstheoretischer Hinsicht zu präzisieren. Gegen Ende des letzten Kapitels wurde die Ansicht vertreten, Artikulationen von stumpfem Sinn und punctum müssten, wie das reine Geschmacksurteil auch, ihrer Konzeption nach in den meisten Fällen solitär auftreten. Zwar hatte Barthes’ These vom »Wechselgesang der Rufe« unterstellt, dass die öffentliche Rezeption von Photographien aus einer Vielzahl identischer Artikulationen bestehe. Diese Ansicht musste allerdings schon im Kontext der dichotomischen Rezeptionstheorie korrigiert werden, die ja einer prinzipiellen Homogenität der in der öffentlichen Photorezeption auftretenden Artikulationen deutlich widerspricht. So wäre der »Wechselgesang« auf der Ebene des studium – unabhängig von seiner sprachlichen Erscheinungsweise – inhaltlich eigentlich ein Diskurs, der im Austausch konventionalisierter Begriffe soziologische Zuschreibungen und ikonographische Klassifikationen wiedergibt. Demgegenüber erscheint ein »Wechselgesang« im Kontext des punctum als unwahrscheinlich. Denn aufgrund seiner Urteilskonzeption kann man dem punctum sowie dem reinen Geschmacksurteil Kants nur ein solitäres Auftreten zugestehen. Zwar reagieren Rezipienten im Modus des Ästhetischen auf öffentlich zugängliche Gegenstände, so dass eine Häufung identischer Urteile an diesen möglich erscheint. Gleichwohl sind ästhetische Urteile durch deren Gegenstandsqualitäten aber nicht hinreichend bedingt. Die subjektiv arbiträre Veranlassung ästhetischer Urteile widerspricht vielmehr ihrer kollektiven Häufung und lässt damit nur vereinzelte Artikulationen wahrscheinlich erscheinen. Dieser Aspekt ist bedenkenswert, weil sich an ihm Barthes’ Urteilsbegriff mit den prominenten Bildtheorien Benjamins und Flussers vergleichen lässt, die beide an der im letzten Kapitel beschriebenen Rezeptionssituation (mehrere Betrachter vor einem Bild) die gesellschaftlich wünschenswerte Zukunft des kulturellen Umgangs mit photographisch/ technischen Bildern postulieren. Ein solcher Vergleich kann zeigen, unter welchen urteilsfremden Bedin-
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7. DAS ÄSTHETISCHE URTEIL IN DER PHOTOGRAPHISCHEN KULTUR
gungen die interlokutionären Konsequenzen ästhetischer Urteile eingeschränkt und präzisiert werden müssen. Benjamin hatte sich in seinem Kunstwerkaufsatz mit einer dem Kino gemäßen Bildrezeption befasst, die (hierin ähnlich mit Barthes’ punctum) als interjektive »Reaktion« artikuliert wird.2 Indem das Kinopublikum Interjektionen artikuliert, betreibt es laut Benjamin eine Bildrezeption, die sich als »taktile« dichotomisch von der »optischen Rezeption« unterscheidet, weil sie keine kontemplativ und distanziert interpretierenden Bildbezüge (analog zu Barthes’ studium) enthält. Tatsächlich diskutiert die von Benjamin vorgestellte Kinorezeption auch das Thema einer interlokutionären Funktion, das Barthes mit dem stumpfen Sinn noch auf filmische Standbilder und Setphotographien bezogen hatte. Denn auf der Basis seiner zeitlosen Differenzierung zwischen »optischer und taktiler« Rezeption hat Benjamin nicht nur einen vergleichbaren Rezeptionsbegriff formuliert, sondern diesen ebenfalls auf die spezifische räumliche und soziale Situation der Filmdarbietung bezogen, als er von der simultanen Kollektivrezeption sprach.3 Das Merkmal der Simultanität betrifft dabei allerdings zweierlei, einerseits die gleichzeitige und gleichrangige Anwesenheit mehrerer Betrachter vor einem Bild und andererseits die formale Wiederholung ihrer komplexen Rolle, wonach sie im gleichen Moment Urteilende und Zuhörer unter anderen zu-
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Am Beispiel des Lachens wurde dieser Aspekt mit Adorno diskutiert, der zum Chaplinfilm Modern Times gegenüber Benjamin reklamiert: »Man muss nur in diesem Film das Publikum haben lachen hören, um zu wissen, woran man ist.« [s.u. 1004] Und zusammenfassend: »Das Lachen der Kinobesucher ist – darüber sprach ich schon mit Max [Horkheimer] und er wird es Ihnen gewiss gesagt haben – nichts weniger als gut und revolutionär sondern des schlechtesten bürgerlichen Sadismus voll« [s.u. 1003]. Dagegen beurteilt Benjamin diesen Affekt des Publikums nicht resigniert wertend, sondern mit strategischem Optimismus. Schon in »Der Autor als Produzent« schrieb er: »Nur nebenbei sei angemerkt, dass es fürs Denken gar keinen besseren Start gibt als das Lachen.« [Benjamin GS 2.2: 699] »Es liegt eben so, dass die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption darzubieten, wie es von jeher für die Architektur, wie es einst für das Epos zutraf, wie es heute für den Film zutrifft. [...] In den Kirchen und Klöstern des Mittelalters und an den Fürstenhöfen bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts fand die Kollektivrezeption von Gemälden nicht simultan, sondern vielfach gestuft und hierarchisch vermittelt statt. [...] Aber ob man auch unternahm, sie in Galerien und in Salons vor die Massen zu führen, so gab es doch keinen Weg, auf welchem die Massen in solche[r] Rezeption sich selbst hätten organisieren und kontrollieren können.« [Benjamin Kunst 33 f.] 225
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hörenden Urteilenden sind, weil sie mit diesen gemeinsam ihre Reaktionen artikulieren. Die utopische Erwartung eines sich auf der Basis der Selbstwahrnehmung seiner Reaktionen »selbst organisierenden und kontrollierenden« Publikums beruht bei Benjamin auf beiden Aspekten der Simultanität: auf der Tatsache der gleichzeitigen Präsenz vor dem Bild sowie auf der Tatsache der dabei gleichzeitig erfolgenden und formal identischen Reaktionen. Unter dieser Bedingung könnte daher auch das Kinopublikum durch die »Summe« seiner Reaktionen eine Gesprächssituation konstituieren, denn Benjamin bewertet ihre »Kundgabe« offensichtlich als die Präsentation einer intersubjektiv zugänglichen Reflexionsebene, die der Ausbildung eines politischen und organisatorischen Selbstverständnisses der Publikumsgemeinschaft dienen soll.4 Der Unterschied zu Barthes’ stumpfem Sinn besteht in der kollektiven Einhelligkeit der Äußerungen, ihrer »Massierung«, denn während der erste Aspekt der Simultanität mit Barthes’ Urteilssituation übereinstimmt, verweist der zweite auf einen identischen Anlass, dem jeder Urteilende in gleichem Maße nachkommt. Deshalb reagiert das Publikum gemäß Benjamins »taktiler Rezeption« zwar interjektiv und »testend«, aber doch nicht souverän im Sinne des Gebrauchs der eigenen Subjektivität. Seine Reaktionen erfolgen wie Barthes’ studium zwar affektiv aber doch »dressiert«, sie sind nicht auf ein je subjektiv registriertes, zwecklos ins Bild kommendes Detail gerichtet, sondern auf das, was ihnen der operator als wirkungsvoll empfiehlt (vgl. die offensichtlich auf Benjamins Kunstwerkaufsatz basierende Kulturindustriekritik von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung). Hier erweist sich, dass die Differenz zwischen Benjamin und Barthes im präziseren Urteilsbegriff von stumpfem Sinn und punctum besteht, die zwar deutliche Anleihen bei Benjamin nehmen, wie etwa die weitergeführte Redewendung von einer »Chockwirkung« des Bildes [Benjamin Kunst 39, 41] oder die von einer durch photographische Bilder möglichen »Erhellung von Details« [Benjamin Photo 58] belegen. Da Barthes’ Urteilskonzeption aber konsequent für eine monologische und solitäre Äußerung des punctum plädieren muss, kann sie die kollektiv identische Evokation »unmittelbarer Reaktionen« am Bild deshalb eigentlich nur als den besonderen Fall eines kollektiven studiums auffassen, dessen »beiläufiges Bemerken« [Benjamin Kunst 41] von »Chockwirkungen« letztlich auf einem kalkulierten Affekt beruht. 4
»Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.« [Benjamin Kunst 33]
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Der wichtige Beitrag, den Benjamins Überlegungen für die Darstellung des ästhetischen Urteils am photographischen Bild leisten können, besteht demgegenüber im selbstverständlichen Ausgang beim ersten Aspekt der Simultanität. Anders als Barthes hat Benjamin von vornherein nicht nur die Simultanität der Reaktionen sondern auch die simultane Präsenz von Urteilenden, Publikum und Bild in der Rezeptionssituation betont. Vom Begriff der simultanen Kollektivrezeption werden somit Situationen der Bildlektüre thematisiert, bei denen Menschen vor Bildern auch auf ihre gegenseitigen Reaktionen aufmerken und an diesen ihr Selbst- und Bildverständnis sowie die Position der jeweils Urteilenden reflektieren.5 Diese Rezeptionsweise wird zudem deutlich von einer bloß kontemplativen im Sinne der »optischen Rezeption« unterschieden, die Benjamin schroff als eine »Schule asozialen Verhaltens« wertet.6 Die entgegengesetzte »Spielart sozialen Verhaltens« ist umgekehrt eine Form jener »wortlosen Verständigung« am Bild, wie sie Barthes am stumpfen Sinn konstatierte und für die Benjamin gezeigt hat, dass sie drei Themen zugleich integriert: Ein öffentlich zugängliches Bildverständnis, welches nicht nur routiniert klassifiziert, entwickelt sich demnach im Kontext des Selbst- und Fremdverständnisses der jeweils Urteilenden. Obwohl Benjamin damit genau jene Öffentlichkeit der Bildrezeption problematisiert, die Barthes in der Hellen Kammer für das punctum gemieden hat, differenziert er aber nicht die Konsequenzen, die sich aus verschiedenen Urteilssituationen rückwirkend für den Urteilsbegriff ergeben. Die kollektive Gleichzeitigkeit formal übereinstimmender Reaktionen vor und zu dem Bild kann ja nur als Indiz für einen (von den operatoren) intendierten Reflex gelten – so dass jenseits der bildungsbürgerlich kontemplativen Haltung »optischer Rezeption« auch die »testende Chockwirkung« der »taktilen« wieder in das Spektrum studierender Bildlektüren reintegriert werden muss. Denn wie Barthes hervorgehoben hat, ist die Wahrnehmung des intendierten Schocks 5
6
Habermas hat in seiner Kritik des Kunstwerkaufsatzes betont, dass dem Benjaminschen Erfahrungsbegriff eine »immanente Beziehung zu politischer Praxis« [ders.: Bewusstmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Benjamins; in: ders.: Politik, Kunst, Religion; Stuttgart 1989; S. 48-96, hier S. 83] abzusprechen sei. Obwohl Benjamin die technologischen Entwicklungen im Gegensatz zu Adorno »deskriptiv« [ebd. 54] erfasst, führe seine Kunsttheorie zu einer »Identifizierung von Rausch und Politik« [ebd. 84]. Allerdings hat die von Benjamin konstatierte »Fundierung« moderner Massenkunst »auf Politik« [Benjamin Kunst 18] einen deskriptiven Gehalt eben auch dort, wo sie das Auftreten der Publikumsreaktionen in der Rezeptionssituation reflektiert. »Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber.« [Benjamin Kunst 38] 227
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rezeptionstheoretisch gleichbedeutend mit der Aufsuchung intendierter Bedeutungen seitens des studiums, die anders als beim ästhetischen Schock nur in einem »halben und dressierten« Affekt resultiert, dessen uniforme Häufung im Kinopublikum kaum mit der arbiträren Unwahrscheinlichkeit ästhetischer Bildbeziehungen kompatibel ist. Analog zu den dichotomischen Rezeptionstheorien von Benjamin und Barthes’ hatte sich auch Vilém Flusser in seinem zweiten Photobuch »gegen den zwischen Bild und Mensch gegenwärtig bestehenden FeedbackKonsensus« [Flusser Bilder 74] ausgesprochen und ihm die Utopie einer Bildrezeption entgegengestellt, bei der »Mensch und Mensch durch Bilder« verkehren. Flussers Plädoyer für eine neue »Bildkultur« findet damit scheinbar ihre bildrezeptive Schlüsselfigur wieder in der von Benjamin hervorgehobenen simultanen Kollektivrezeption, die ja teilweise auch Barthes’ »wortloser Verständigung« vor dem Bild entspricht: »Doch stünde im Kern einer solchen Gesellschaft nicht mehr der Verkehr zwischen Bild und Mensch, sondern der Verkehr zwischen Mensch und Mensch durch Bilder. Und erst dann würden die ›Medien‹ ihren Namen verdienen, den sie sich gegenwärtig zu unrecht anmaßen. Dann erst nämlich würden sie Menschen mit Menschen verbinden [...].« [Flusser Bilder 75] Der postulierte »Verkehr zwischen Mensch und Mensch durch Bilder« scheint die andächtige Isolation der Bildrezipienten aufzulösen und in die Rezeptionsprozesse andere Betrachter simultan zu integrieren. Und doch meint Flusser genaugenommen nicht mehr jene Rezeptionssituation, die Benjamin und Barthes thematisierten, wenn letzterer etwa mehrere Betrachter sich vor einem Bild wortlos verständigen sah. Ob der utopisch beanspruchte Verkehr zwischen Menschen statt vor dem Bild jedoch auch durch das Bild erreichbar ist, müsste an einem entsprechend spezialisierten Urteils- oder Rezeptionsbegriff ermittelt werden, der in Flussers Ansatz allerdings fehlt. Da Flusser davon ausgeht, dass die über die »dialogischen Fäden« der Bildtechnologien kommunizierenden Menschen jeweils vor dem Bild physisch voneinander isoliert sind und somit nicht gemeinsam auf die digital dargebotenen photographisch/ technischen Bilder schauen, muss er die dialogische Eignung vielmehr von einer veränderten Bildproduktion und -distribution erwarten. Indem so die technologische Dimension deutlich in den Vordergrund rückt, bleibt umgekehrt die Bildrezeption durchgehend klassisch konzipiert – und die »durch« das Bild verkehrenden Menschen auf das am Bild bedeutungshaft Intendierte verwiesen. (Luhmanns Begriff einer kunstorientierten Kommunikation wird so an moderner Bildtechnologie thematisch). Flussers progressive Bildrezeption wird deshalb konventionell als verständige Ermittlung der piktoral kodifizierten Mitteilung
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eines Avantgardisten aufgefasst, als Fall eines studiums also, das sich auf die exklusive Botschaft des operators richtet.7 Obwohl Flussers Ansatz somit, analog zu Benjamin, die technischen Aspekte als kulturphilosophisch leitend hervorhebt,8 ist seine Vorstellung einer in gesellschaftlichem Maßstab zu verändernden Bildrezeption vom Engagement einzelner Bildproduzenten abhängig und an die Annahme einer verständig rezipierenden Konsumentenschaft gebunden. In deutlicher Opposition zur Benjaminschen Differenzierung zwischen »zerstreuten Examinatoren« [Benjamin Kunst 41] einerseits und gesammelten, kontemplativen Interpreten andererseits, knüpft Flusser seine Hoffnung daher an eine neue »Sammlung« vor dem Bild – die aber gänzlich ungeeignet ist, »tatsächliche Dialoge« zu bewirken, bei denen sich ja Leute vor Bildern zunächst »versammeln müss[t]en«.9 Utopisch ist bei Flusser nicht etwa der Anlass für eine Veränderung der bloß reproduktiven Bild-Mensch-Verhältnisse, denn sie schien sich, wie bei Benjamin auch, fast schon im Selbstlauf einzustellen.10 Utopisch ist vielmehr die ungeklärte Wandlung in dialogische Beziehungen zwischen Mensch und Mensch anhand von Bildern, denn das aktivistische »umbiegen« von Bildern zu »Sprungbrettern in vorher ungekannte zwischenmenschliche Beziehungen [...]« [Flusser Bilder 74] hatte verständige und in ihrer Bildrezeption sozial isolierte Betrachter konzipiert, Personen also, die sich jenseits der in Dialoge involvierten Bilder bereits für die »dialogischen« Beziehungen qualifiziert 7
»Der kritische Empfang der technischen Bilder erfordert ein Bewusstseinsniveau, das jenem entspricht, auf welchem sie erzeugt werden.« [Flusser Bilder 27] 8 »Infolgedessen müssen wir uns, wenn wir uns für eine menschenwürdige Gesellschaft engagieren, mit den neuen Techniken auseinandersetzen und nicht mit irgendwelchen hohen Werten.« [Flusser Bilder 70] 9 »Die Leute wollen von den Bildern zerstreut werden, um sich nicht, wie dies bei einem tatsächlichen Dialog der Fall ist, sammeln und versammeln zu müssen.« [Flusser Bilder 72] Oder: »Der Konsensus zwischen Bild und Mensch beruht auf dem Unwillen des Menschen, sich zu sammeln, ebenso wie auf der Absicht der Bilder, die Menschen zu zerstreuen.« [Ebd. 73] Benjamin hatte diese Diagnose noch als Resultat eines klassisch elitären Rezeptionsbegriffs verstanden: »Man sieht, es ist im Grunde die alte Klage, dass die Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt.« [Benjamin Kunst 40] 10 »Da die zerstreuenden Bilder die Leute zu langweilen beginnen und ein dialogisches Spiel durch Bilder hindurch mit anderen Menschen spannend und aufregend sein kann, ist es vorstellbar, dass es den Revolutionären gelingt, den Feedback-Verkehr zwischen Bild und Mensch zu brechen und einen neuen dialogischen Konsensus herzustellen.« [Flusser Bilder 74] 229
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haben. Die Vorstellung einer dialogisch wirkenden Bildrezeption ist somit stärker noch als Benjamins »Chockwirkung« auf eine spezifische Beschaffenheit der Bilder gerichtet und zugleich an deren adäquate Rezeption gebunden (vgl. den Begriff der »Entzifferung« in Kap. 2.4). Um Flussers Ziel einer Überwindung des Feedback-Konsensus erreichen zu können, ist aber eventuell weniger auf neuartige technologische Entwicklungen zu setzen. Die technologische Ausstattung für »dialogische Fäden« (Flusser nennt »Kabel, Fernsehtelephone oder Videokreise«, man könnte hier auch Mobiltelephone mit Photodisplay anführen) steigert zunächst ja nur die Distribution photographischer Bilder, ohne prinzipiell verhindernde Auswirkungen auf die Möglichkeit simultaner Bildrezeptionen zu haben. Unabhängig von der Art der technischen Darbietung eignen sich auch diese Bilder grundsätzlich zu simultanen Rezeptionen im Sinne Benjamins und Barthes’ – mit der zunehmend alltäglichen Präsenz photographisch/ technischer Bilder entstehen umgekehrt sogar mehr Anlässe für öffentliche Bildrezeptionen, denn digitale Photographien werden gewöhnlich an LCD und Bildschirm rezipiert und lassen sich daher von Rezipientengruppen betrachten. (Das ist gegenwärtig gut an Touristenpärchen und -gruppen zu beobachten, die sich während, nach und zwischen ihren Aufnahmen dicht vor dem Kameradisplay »versammeln«.) Mit der technologisch bedingten Zunahme von Rezeptionssituationen, in denen photographische Bilder öffentlich präsent sind, nehmen tendenziell auch jene Rufe zu, die Gesprächssituationen konstituieren und damit solche Gespräche begründen könnten, die jenseits einer Reproduktion unserer Diskurse am photographischen Bild zur Distanzierung von Stereotypen und zur Ausdifferenzierung von Bedeutungspotentialen beitragen. Neben den bekannten bildrezeptiven Handlungen, den präferentiellen der knipsenden Amateure und den professionellen der Künstler, Kunstkritiker und Photophilosophen, existieren daher ebenfalls ästhetische Bildzugänge, die – statuarisch ungesichert und sprachlich ununterscheidbar – bereits dort stattfinden, wo Mensch und Mensch einander an Bildern begegnen. c) Nachdem im letzten Kapitel das mit Kants Geschmacksurteilen analogisierte punctum auch auf sein öffentlichkeitstheoretisches Schicksal befragt wurde, danach, ob es jene mit dem subjektiven Allgemeingültigkeitsanspruch maßgeblich verbundene »Eröffnungsfunktion« aufweist, hatte ich in Barthes’ Aussagen zum stumpfen Sinn eine interlokutionäre Funktion ästhetischer Urteile zu öffentlich präsenten Photographien benannt. Das punctum als Synonym einer ästhetischen Rezeption von Photographien hat demnach, wie das reine Geschmacksurteil auch, eine Gesprächs- aber nicht schon Diskurssituationen konstituierende Funktion.
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Die Resultate dieser Betrachtung sind insofern ambivalent, weil zwar entsprechende Urteilssituationen angenommen werden können (neben der klassischen Plakat- wäre nun auch die LCD- und Bildschirmpräsentation zu nennen), aber die von der Urteilskonzeption anvisierten sprachlichen Artikulationen letztlich allgemein und ununterscheidbar wirken. Barthes’ Lösung dieses unentschiedenen Schicksals ästhetischer Urteile durch ihren Rückzug in die soziale Isolation mag verschiedentlich und zum Teil auch überzeugend begründet sein; ein unwiderlegbarer Einwand bleibt trotzdem bestehen. Denn indem Barthes beschließt, sich der »Öffentlichkeit des Privaten [zu] widersetzen und beide Bereiche wieder [zu] trennen«, attestiert er ja der gegenwärtigen Kultur die wirksame Veranlassung zu dieser Gegnerschaft, nämlich »den Einbruch des Privaten in den öffentlichen Raum«, den er zugleich als das Signum des »Zeitalters der Photographie« auffasst [Kammer 109]. Die Konzeption des punctum plädiert für ein öffentliches Vorkommen artikulierter ästhetischer Erlebnisse, denn die Empfehlung des Rückzugs (die eigentlich ja auf die produktiven Konsequenzen ästhetischer Ereignisse hinweist) kann den konzeptuell unvermeidlichen Verbleib entsprechender Artikulationen in der Öffentlichkeit nicht ausschließen. Die Theorie ästhetischer Urteile macht die kulturelle Welt daher zunächst nur theoretisch überschaubarer und diese Qualität einer Differenzierung von Urteilstypen wurde bereits von Kant betont, der darauf hinwies, dass verschieden Urteilende zweifellos »beide in ihrer Art richtig urteilen, der eine nach dem, was er von den Sinnen, der andere nach dem, was er in Gedanken hat« [KdU 52]. Der (anerkennenden) Kenntnis dieser theoretischen Urteilsdifferenz wird sogar eine schlichtende Vermittlungsfunktion zugestanden: »Durch diese Unterscheidung kann man manchen Zwist der Geschmacksrichter über Schönheit beilegen, indem man ihnen zeigt, dass der eine sich an die freie, der andere an die anhängende Schönheit halte, der erste ein reines, der zweite ein angewandtes Geschmacksurteil fälle.« [KdU 52] Obwohl damit ausgedrückt wird, dass beide Rezeptionsweisen nicht untereinander ersetzbar sind, weil sie über unterschiedliche Deutungspotentiale verfügen, bleibt jedoch auch bei Kant die Unsicherheit bestehen, ob die empirische Menge jener Artikulationen, die allem Anschein nach der Konzeption reiner Geschmacksurteile entsprechen, dieser tatsächlich vollständig »subsumierbar« sind.11 Dieses Problem besteht ebenfalls für die ästhetischen Urteile zur Photographie, denn in öffentlichen Rezeptionssituationen sind ästhetische von trivialen Interjektionen, selbst wenn man sie auf deiktische einschränkt, schwer zu unterscheiden. Weil sie sprachlich der gleichen Menge von Artikulationen
11 Vgl.: KdU 67, 151 f. und 155. 231
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angehören,12 lassen sich zuverlässigere Differenzierungen letztlich erst retrospektiv aus dem Verlauf kommunikativer Handlungen beziehen. So sind die trivialen Interjektionen gewöhnlich entweder unmittelbar situationsbezogen verständlich oder eben selbstexplikativ in dem Sinne, dass sie auf Stimmungslagen und Absichten des Sprechers verweisen, wodurch sie kaum Nachfragen erregen. Denn welche diskursive Dauer hätte ein Ruf, der ein triviales Signal darstellt? Und welches Gesprächs-Potential hätte ein Ruf, der einer studierenden Lektüre angehört und nach der Fortführung einer Diskurssituation verlangt? Die Artikulation »halber und dressierter« Affekte ist sprachlich meist direkt an identifizierende Klassifikationen ihres Objekts gebunden,13 wie ja schon Bourdieu an den relativierenden Aspekten der photographischen Mehrheitsrezeption betonte, als er auf ihre Charakteristika des wenn und aber verwies. Für die retrospektive Differenzierung zwischen ästhetischen und trivialen Interjektionen werden Kunstkritik und ästhetisches Argumentieren im Anschluss an Martin Seel bedeutend, weil das Auftreten ästhetischer Interjektionen qualitativ andere und weitere Begründungen erfordert (denen ja durch meine Darstellung eines »sprachlosen« ästhetischen Urteils an der Photographie in keiner Weise der Rang abgelaufen werden soll). Entscheidend ist, dass die Artikulation des begriffslosen ästhetischen Erlebens auch bei Kant nicht wortlos ist, sondern sich nur keiner begrifflichen Vermittlung verdankt. Da der Bildbezug somit nicht über das »bildungsmäßig Hinzugewußte« zustande kommt, bezieht sich das Urteil nicht auf die symbolisch dekodierbaren Bereiche des photographischen Bildes sondern auf subjektive Wirkungen, auf die bereits im Kontext sinnlicher Erfahrungen verwiesen werden kann. Eine pluralistisch relativierende, Maßstäbe, Personengruppen und soziokulturelle Milieus aufsuchende, vorsätzlich betriebene Bildinterpretation im Sinne Bourdieus, von Panofskys Bedeutungssinn oder Bart12 Natürlich könnte man diese Menge differenzierter betrachten und etwa auf die rein deiktischen Ausrufe (Da! Dieses!) und die imperativ auf soziale Interaktionen vorausgreifenden (Sieh! Schau!) separat eingehen. Eine solche Differenzierung ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die erwähnten Artikulationen diverse Anwendungen finden können und die ästhetischen Urteile umgekehrt empirisch immer nur partiell an der jeweiligen Menge allgemeiner sprachlicher Ereignisse beteiligt sind: die Ununterscheidbarkeit bleibt bestehen, zumindest solange für ästhetische Urteile keine artifizielle, überprüfbare »Kunstsprache« eingeführt wird. 13 Der erfreute Ausruf einer Museumsbesucherin, kurz nach Eintritt in eine Berliner Ausstellung: »Wow, Barnett Newman«, gehört offensichtlich dieser Klasse von Interjektionen an. Die Anekdote entstammt einem Einwand von Dieter Mersch. 232
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hes’ studium konstituiert im Gegensatz hierzu keine Gesprächssituation, sondern führt bereits bestehende Diskurse (deren Terminologie, Kriterien und exemplarische Bezugsobjekte) fort. Jenseits der ästhetischen Rezeption von Photographien werden daher keine Gesprächssituationen konstituiert und in diesem Sinne Diskurse eröffnet, vielmehr werden durch das studierende Urteil zur Photographie Diskurssituationen reaktiviert und reproduziert. In der Menge jener deiktischen Interjektionen, die an öffentlich präsenten Bildern artikuliert werden, drückt sich nicht nur der kulturphilosophisch allgemein reklamierte Sprachverlust aus, den die Dominanz des photographisch/ technischen Bildes verursacht haben mag, sondern es kommt ebenfalls das argumentativ und rational erschließbare Bildpotential zum Ausdruck, dass zur bereichernden Differenzierung der reproduktiven Bildidentifikationen dringend erforderlich ist. Damit das Potential ästhetischer Urteile im Sinne seines differenzierenden Gehalts entwickelt werden kann, muss es aber erstens erkannt und berücksichtigt werden, um zweitens etwa als ästhetisch legitimer, »spontaner Deutungsversuch« in die Formulierung ästhetischer Argumente einfließen zu können. Meine These einer Gesprächssituationen konstituierenden Funktion ästhetischer Gefallenskundgaben ist daher keineswegs überbietungsästhetisch, sondern eher pragmatisch und deskriptiv motiviert. Es geht nicht darum, haltlose Interjektionen gegen solide kunstkritische Analysen auszuspielen oder den einen gegenüber den anderen durch Verweis auf ihre Vorgängigkeit den Status einer höheren Authentizität zuzusprechen. Bloß weil manche deiktischen Rufe innerhalb des alltäglichen Miteinanders geeignet sind, Gesprächssituationen zu evozieren, wäre es umgekehrt vollständig absurd, jedem dieser Rufe diese Eignung nachzusagen. Meine Absicht war es vielmehr, unter Anerkennung der inhaltlichen Differenzierbarkeit ästhetischer Urteile zur Photographie, wie sie sich im Anschluss an Kant bei Barthes formulieren lässt, auch ihren öffentlichkeitstheoretisch prekären Status aufzuzeigen – und zwar unabhängig davon, dass ich weder ein utopisches Programm noch ein kulturpolitisches Manifest für diese Urteile zur Verfügung stellen kann. Allerdings sind bereits Konsequenzen auf der Ebene der Deskription auszumachen: Die theoretische Anerkennung des Ästhetischen in der Trivialphotographie plädiert unvermeidlich für eine Aufmerksamkeit auf deiktische Interjektionen vor öffentlichen Bildern, da in dieser Urteilsmenge ästhetische Zugänge unbekannten Ausmaßes verborgen sind. Gesprächssituationen können aber besonders dann verstanden und genutzt werden, wenn eine Sensibilität für die sie konstituierenden Ereignisse und deren Artikulation besteht – so dass eine praktische Konsequenz aus der vorliegenden Darstellung des ästhetischen Urteilsbegriffs zunächst in dem Wagnis besteht, Gesprächssituationen zu Gesprächen zu entwickeln.
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Ästhetische Interjektionen haben damit als öffentlich präsente Bezugspunkte irregulärer Bilderörterungen eine Qualität, die noch vor ihrer argumentativen Begründung oder kritischen Entwertung realisierbar ist. Sie provozieren Zuhörende, noch ausstehende Begründungen einzufordern, oder diese selbst in Bild oder Urteilendem aufzufinden. Natürlich müssen ästhetische Urteilsbezüge nicht öffentlich artikuliert werden (denn es gibt ebenfalls Urteilssituationen, in denen die zuschauenden Zuhörer fehlen). Sie können zudem in schriftstellerische Produktionen einfließen oder, wie Barthes ebenfalls betont hat, in die schöpferischen Aktivitäten der Künstler und Amateure anregend übergehen.14 Da der Urteilsbegriff jedoch in hohem Maße eine öffentliche Artikulation nahelegt, ist die Berücksichtigung entsprechender Interjektionen mit einer Sensibilisierung für die intersubjektiven ästhetischen Zugänge zu Bildern gleichzusetzen. Auch wenn die utopischen Erwartungen Benjamins und Flussers teilweise überzogen erschienen, ist doch umgekehrt offensichtlich, dass erstens die von Bourdieu resümierte, studierende Mehrheitsrezeption photographischer Bilder deren Sinnpotentialen nicht gerecht werden kann und an ihnen verlustreich versagt. Und umgekehrt ist ebenso pragmatisch offensichtlich, dass der (argumentative) Nachvollzug fremder Photolektüren nicht nur das Verständnis photographischer Bilder bereichert, sondern zugleich je-
14 Nun sei er doch noch erwähnt: J.-F. Lyotard. Der Grund dafür, dass ich sein Werk in diese Arbeit sträflich vernachlässigt habe (bes. ders.: Die Analytik des Erhabenen; München 1994), besteht nicht in der unterschiedlichen Anknüpfung an Kants Begriffe des Schönen und des Erhabenen (die, wie ich glaube, so unterschiedlich gar nicht ist). Vielmehr sehe ich mit Lyotards Schriften und ihrem schon früh geäußerten Wunsch einer Aktualisierung von Kants Ästhetik (ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik; Berlin (Merve) 1982, S. 7 ff.) das Plädoyer für eine künstlerische Produktionsästhetik formuliert (ders.: Das Erhabene und die Avantgarde; Stuttgart (Merkur) März 1984, Heft 2, 38. Jahrgang, S. 151-164), die meiner Ansicht nach trotz thematischer Gemeinsamkeiten von einer Rezeptionsästhetik sorgfältig und grundsätzlich unterschieden werden muss. Übergänge sind gleichwohl thematisierbar und wollte man diesen die erforderliche theoretische Aufmerksamkeit zukommen lassen, so könnte dies etwa an den produktiven Effekten von Barthes’ sozial isoliertem punctum geschehen. Denn natürlich zieht Barthes die Konsequenz aus Lyotards »grundlegende[r] Aufgabe: dass die bildnerische, wie jede andere, Expression vom Unausdrückbaren Zeugnis abzulegen hat« [ebd. 154], aber inwieweit dieses produktionsorientierte Thema von einer kunstunspezifischen Reflexion auf die Konsequenzen des ästhetischen Erlebens in den Alltagssituationen entfernt, war bei Barthes ebenfalls zu beobachten. 234
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nen Einblick schafft, den Kant mit seinem ebenso utopisch konzipierten sensus communis postulierte: »Ich nehme den durch diese Episode verlassenen Faden wieder auf und sage, dass der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und dass die ästhetische Urteilskraft eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen will; denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust. Man könnte sogar den Geschmack durch das Beurteilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht, definieren.« [KdU 160]
Genau von einem solchen Geschmack spricht auch Barthes für die öffentliche Photorezeption, in der, am Beispiel des stumpfen Sinns, ebenfalls ohne Vermittlung eines Begriffs eine gefühlsbasierte Beurteilung allgemein mitteilbar wird. Zu Gesprächen entwickelte Gesprächssituationen sind demnach teilnehmende Handlungen, bei denen nicht nur auf der Basis subjektiver Betroffenheit Sinnschichten photographischer Bilder freigelegt werden, sondern zugleich die Subjektivität der Sprechenden selbst Gegenstand eines dialogischen Austauschs wird. Das wäre, zumindest im Ergebnis, jene neue »Bildkultur«, nach der laut Flusser Menschen mit Menschen durch Bilder kommunizieren – ohne dass der Aspekt einer fortschreitenden Technologisierung der Welt hierfür eine notwendige Bedingung abgeben würde. Die utopische Konsequenz des Ästhetischen ist aber durchaus mit Kants Überlegung einer durch die »Idee« [KdU 68] des ästhetischen sensus communis bewirkten »erweiterten Denkungsart« vergleichbar, die dazu führe, dass sich ein Rezipient »über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen kann und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert« [KdU 159]. Der »allgemeine Standpunkt« erscheint hier als der Standpunkt einer hypothetischen Intersubjektivität, so dass sein Wert – unabhängig davon, ob er überhaupt jemals einnehmbar ist – bereits in der Idee eines »regulativen Prinzips« [KdU 68] besteht, welches davon handelt, »dass ein Geschmacksurteil mit seiner Zumutung einer allgemeinen Beistimmung in der Tat nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen« [KdU 68]. Das ästhetische Urteil zur Photographie, wie es sich unter Rückgriff auf Kant und mit Barthes vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Photosoziologie konzipieren lässt, stellt jeweils »nur von Anwendung dieses Prinzips ein Beispiel auf [...]« [KdU 68]. Die Analyse und Darstellung des Begriffs einer 235
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ästhetischen Rezeption von Photographien versteht sich in diesem Sinne zugleich als Darstellung einer Chance, die nicht nur die Differenzierung der Bezugnahmen auf die Kultur zum Inhalt hat, sondern zugleich zeigt, wie auf deren Basis die Differenzierung intersubjektiver Beziehungen möglich wird, damit letztlich die Reflexion des eigenen Standpunkts gelingt.
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Siglenverzeichnis
Botschaft:
Roland Barthes: Die Fotografie als Botschaft; in ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn; F.a.M. 1990, S. 11-27.
Definition:
Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie; in: ders. Photo; S. 85-109.
Elemente:
Pierre Bourdieu: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung; in: ders. Form; S. 159-201.
Form:
Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen; F.a.M. 1974.
Habitus:
Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis; in: ders. Form; S. 125-158.
Kammer:
Roland Barthes: Die Helle Kammer; F.a.M. 1989 (frz. Original: La chambre claire. Note sur la photographie; Paris 1980).
KdU:
Kritik der Urteilskraft; zitiert nach der von Karl Vorländer herausgegebenen B-Ausgabe; Hamburg (Meiner) 1990.
Körnung:
Roland Barthes: Die Körnung der Stimme; F.a.M. 2002 (frz. Original: Le grain de la voix; Paris 1981).
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SIGLENVERZEICHNIS
Kult:
Pierre Bourdieu: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede; in: ders. Photo; S. 25-84.
Meditationen:
Pierre Bourdieu: Meditationen, Zur Kritik der scholastischen Vernunft; F.a.M. 2001 (frz. Original: Méditations pascaliennes; Paris 1997).
Mythen:
Roland Barthes: Mythen des Alltags; F.a.M. 1964 (frz. Original: Mythologies; Paris 1957).
Photo:
Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst; F.a.M. 1983 (frz. Original: Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie; Paris 1965).
Rhetorik:
Roland Barthes: Rhetorik des Bildes; in ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn; F.a.M. 1990; S. 2846.
Selbst:
Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch; F.a.M. 2002.
Sinn:
Roland Barthes: Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S.M. Eisensteins; (frz. Original: L`obvie et l`obtus; Paris 1970) in ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn; F.a.M. 1990; S. 47-66.
Unterschiede:
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede; F.a.M. 1987 (frz. Original: La distinction. Critique sociale du jugement; Paris 1979).
Vernunft:
Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft, Zur Theorie des Handelns; F.a.M. 1998 (frz. Original: Raisons practiques; Paris 1994).
Zeichen:
Roland Barthes: Das Reich der Zeichen; F.a.M. 1981 (frz. Original: L`empire des signes; Genf 1970).
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Literaturverzeichnis
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LITERATURVERZEICHNIS
Benjamin, Walter: Theater und Rundfunk; in ders.: Gesammelte Schriften; F.a.M. (Suhrkamp) 1991, Band 2.2, S. 773 f. Benjamin, Walter: Der Autor als Produzent; in ders.: Gesammelte Schriften; Band 2.2, S. 683-701. Benjamin, Walter: Reflexionen zum Rundfunk; in ders.: Gesammelte Schriften; F.a.M. 1991, Band 2.3, S. 1506 f. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; F.a.M. (Suhrkamp) 1963, S. 7-44. Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie; F.a.M. (Suhrkamp) 1963, S. 45-64. Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder; in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?; München (Fink) 1995 (2. Aufl.), S. 11-38. Böhme, Gernot: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht; F.a.M. 1999. Böhme, Gernot: Theorie des Bildes: München (Fink) 2004 (2. Aufl.). Bohn, Cornelia: Habitus und Kontext; Opladen (Westdeutscher Verlag) 1991. Bohrer, Karl-Heinz: Plötzlichkeit, Zum Augenblick des ästhetischen Scheins; F.a.M. 1981. Bourdieu, Pierre und Schultheis, Franz: Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu; in: Schultheis, F.; Frisinghelli, Christine (Hg.): Pierre Bourdieu in Algerien, Zeugnisse der Entwurzelung; Graz (Edition Camera Austria) 2003. Bourdieu, Pierre u. Haacke, Hans: Freier Austausch, Für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens; F.a.M. (Fischer) 1995. Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen; F.a.M. (Suhrkamp) 1998 (Original: Sur la télévision; 1996). Bourdieu, Pierre: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld; in: ders.: Form, S. 75-124. Bourdieu, Pierre: Die historische Genese einer reinen Ästhetik; in: Gebauer / Wolf (Hg.) 1993, S. 14-32. Bourdieu, Pierre: Sagten sie ›populär‹?; in: Gebauer / Wolf 1993; S. 72-92. Bourdieu, Pierre: Über die scholastische Ansicht; in: Gebauer / Wolf 1993; S. 341-356. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn, Kritik der theoretischen Vernunft; F.a.M. 1993 (3. Aufl. 1999), (frz. Original: Le sens pratique; Paris 1980). Brumlik, Micha (Diss.): Gemeinsinn und Urteilskraft; F.a.M. (graue Literatur) 1977. Bubner, Rüdiger: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik; in ders.: Ästhetische Erfahrung; F.a.M. (Suhrkamp) 1989; S. 9-51. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde; F.a.M. (Suhrkamp) 1974. Burke, Edmund: Vom Erhabenen und Schönen; Hamburg (Meiner) 1989. Calvet, Louis-Jean: Roland Barthes; F.a.M. 1993.
241
KANTS ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER PHOTOGRAPHIE
Cassirer, Ernst: Ausgang und Fortwirkung der Schule von Cambridge- Shaftesbury; in ders.: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge; Leipzig 1932, Derrida, J.: Die Tode Roland Barthes; Berlin (Nishen Verlag) 1987. Dewey, John: Kunst als Erfahrung; F.a.M. (Suhrkamp) 1998, 3. Aufl. Dresdner, Albert: Die Kunstkritik, ihre Geschichte und Theorie. Erster Teil: die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens; München 1915. Eagleton, Terry: Ästhetik, Die Geschichte ihrer Ideologie; Stuttgart, Weimar 1994. Esser, Andrea (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik; Berlin (Akademie Verlag) 1995. Ette, Ottmar: Roland Barthes, Eine intellektuelle Biographie; F.a.M. 1998. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie; Göttingen (European Photography) 1999 (9. Aufl.). Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder; Göttingen (European Photography) 1999 (6. Aufl.). Flusser, Vilèm: Die Geste des Fotografierens; in: ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie; Bensheim und Düsseldorf (Bollmann Verlag) 1993 (2. erw. Auflage), S. 100-118. Franke, Ursula (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks, ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants Kritik der Urteilskraft; Hamburg (Meiner) 2000, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung; F.a.M. (Fischer) 2000, 10. Aufl. Fricke, Christel: Kants Theorie des reinen Geschmacks; Berlin / New York (de Gruyter) 1990. Gebauer: Einleitung; in: Gebauer/Wolf (Hg.): Praxis und Ästhetik, neue Perspektiven im Denken P. Bourdieus; F.a.M. 1993, S. 14-32. Gerhard, Volker: Immanuel Kant, Vernunft und Leben; Stuttgart 2002. Habermas, J.: Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität W. Benjamins; in: ders.: Politik, Kunst, Religion; Stuttgart 1989; S. 48-96. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit; F.a.M. 1996 (5. Aufl.). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen zur Ästhetik; F.a.M. (Suhrkamp) 1997, Bd.1. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen zur Ästhetik; F.a.M. (Suhrkamp) 1995, Bd.2. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung; F.a.M. (Fischer) 1996. Iversen, Margaret: Was ist eine Fotografie?; in: Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie; F.a.M. 2002, S. 108-131. Jurt, Joseph (Hg.): absolute: Pierre Bourdieu, Freiburg (orange-press) 2003. 242
LITERATURVERZEICHNIS
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Lyotard, J.-F.: Das Erhabene und die Avantgarde; Stuttgart (Merkur) März 1984, Heft 2, 38. Jahrgang, S. 151-164. Lyotard, J.-F.: Die Analytik des Erhabenen; München (Fink) 1994. Marc-Wogau, Konrad: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft; Uppsala, Leipzig 1938. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, F.a.M. (Fischer) 1970. Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst; F.a.M. (Suhrkamp) 1991. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen; F.a.M. (Suhrkamp) 2002. Mersch, Dieter: Was sich zeigt; München (Fink Verlag) 2002. Mersch, Dieter: Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl, Modalitäten medialen Darstellens; in ders.: (Hg.): Die Medien der Künste, Beiträge zur Theorie des Darstellens; München (Fink) 2003 a, S. 9-49. Mersch, Dieter: Ereignis und Respons, Elemente einer Theorie des Performativen; in: Jens Kertscher, Dieter Mersch (Hg.): Performativität und Praxis; München (Fink) 2003 b, S. 69-97. Mersch, Dieter (Hg.): Die Medien der Künste, Beiträge zur Theorie des Darstellens; München (Fink) 2003. Mörth, Ingo; Fröhlich, Gerhard (Hg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile, Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu; F.a.M./New York (Campus Verlag) 1994. Mörth / Fröhlich: Leitfaden durchs Labyrinth der Gelehrsamkeit P. Bourdieus; in: Mörth, Fröhlich 1994, S. 271-311. Mulligan, Therese; Wooters, David: Geschichte der Photographie, The George Eastman House Collection; Köln 2005. Neumann, Gerhard: Barthes Theorie des Deiktischen; in: Mersch, D. (Hg.): Die Medien der Künste, München 2003, S. 53-75. Panofsky, Erwin: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst; in: ders.: Deutschsprachige Aufsätze; Berlin (Akademie Verlag) 1998 (2 Bände); S. 1064-1077 (auch: Logos, 21, 1932, 103-119). Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie; in: ders.: Sinn und Deutung in der Bildenden Kunst; Köln (DuMont) 1978. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als »Symbolische Form«; in: Vorträge der Bibliothek Warburg (1924/25); Neudeln/Liechtenstein (Kraus Reprint Limited) 1967. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in der modernen Kultur (Vorträge und Abhandlungen 3); F.a.M. (Suhrkamp) 2000. Schultheis, Franz: Nachwort; in: Bourdieu Selbst, S. 133-151. Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay; F.a.M. 1983. Seel, Martin: Arthur C. Danto; Philosophische Rundschau, Jahrgang 32 (1985), S. 264 ff. 244
LITERATURVERZEICHNIS
Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung; F.a.M. (Suhrkamp) 1997. Seel, Martin: Was ist ein ästhetisches Argument? in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S. 42 ff. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens; F.a.M. (Suhrkamp) 2003. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Die Tyrannei der Intimität; F.a.M. (Fischer) 1990. Sitt, Martina (Hg.): Kunsthistoriker in eigener Sache; Berlin (Reimer) 1990. Sontag, Susan: Über Fotografie; F.a.M. (Fischer Verlag) 2003 (15. Aufl.). Original: On Photography; New York 1977. Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern; F.a.M. 2006. Tugendhat, Ernst; Wolf, Ursula: Logisch-semantische Propädeutik; Stuttgart (Reclam) 1993. Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken; Stuttgart (Reclam) 1990. Wenzel, Christian Helmut: Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils bei Kant; Berlin / New York, 2000. Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen 1930-1935; F.a.M. (Suhrkamp) 1989. Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie; F.a.M. (Suhrkamp) 1984 (Werkausgabe Bd.7). Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters; F.a.M. 2002, Bd. 1. Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung; München 1908.
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Ab bildungsnachw eise
Coverabbildung: eigene Photographie. Abbildung 1, Seite 59: eigene Photographie. Abbildung 2, Seite 61: eigene Photographie. Abbildung 3, Seite 113: Bildzitat aus: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede; s.o., S. 87 (Original: Russel Lee: The Family of Man; New York (The Museum of Modern Art) 1955).
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Danksagung: Ohne die Unterstützung meiner beiden Doktorväter wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen, weshalb ich ihnen an dieser Stelle noch einmal persönlich danken möchte. Ernst Müller hat über einige Semester und viele Gespräche an meinem Quereinstieg in die Philosophie interessiert teilgenommen und ihn dadurch nachhaltig gefördert. Auf die jeweiligen Zwischenschritte meines Dissertationsvorhabens hat er immer unglaublich schnell und gründlich reagiert. So wurden mir seine Kommentare zur produktiven Herausforderung, zumal sie bei grundsätzlicher Zustimmung regelmäßig ein ganzes Bündel kritisch distanzierter Nachfragen enthielten. Dieter Mersch hat mich neben aller institutionellen und thematischen Unterstützung ebenfalls noch stark motiviert. Schon dass er mir die Betreuung der Dissertation zu einem Zeitpunkt zusicherte, an dem er mich nur sprechend, nicht schreibend kannte, gab mir für die Anfertigung dieses Textes eine Zuversicht, die ungebrochen über die anderthalb Jahre bis zu seiner Fertigstellung anhielt. Auch für diese vermeintlich beiläufigen, aber letztlich doch entscheidenden Formen der Unterstützung möchte ich mich hier noch einmal bedanken. Eine dritte Danksagung ist leider nur noch als Andenken auszusprechen. Dieses Buch und mehr noch sein Autor verdankt dem Künstler Fritz Rahmann (1936-2006) mehr als sich hier in wenigen Sätzen resümieren lässt. Bei ihm habe ich – im allzu schlichten Sinne des Wortes – nichts gelernt, aber an seinem persönlichen Beispiel viel und Wesentliches erfahren; etwa dass man unsicher tastende Fragen nach Grundsätzlichem getrost ernst nehmen kann, dass ihnen mindestens die gleiche Selbstverständlichkeit zusteht, wie sie jeder anderen, fraglos akzeptierten beruflichen Handlung oder menschlichen Praxis eingeräumt wird.
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Edition Moderne Postmoderne Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen 2008, 244 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-694-6
Alexander García Düttmann Derrida und ich Das Problem der Dekonstruktion 2008, 198 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-740-0
Martin Gessmann Wittgenstein als Moralist Eine medienphilosophische Relektüre Mai 2009, ca. 216 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1146-5
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Edition Moderne Postmoderne Martin Nonhoff (Hg.) Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-494-2
Claus Pias (Hg.) Abwehr Modelle – Strategien – Medien März 2009, 230 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-876-6
Jörg Volbers Selbsterkenntnis und Lebensform Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault April 2009, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-925-1
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Edition Moderne Postmoderne Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.) Nicht(s) sagen Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert
Pravu Mazumdar Der archäologische Zirkel Zur Ontologie der Sprache in Michel Foucaults Geschichte des Wissens
2008, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-828-5
2008, 598 Seiten, kart., 45,80 €, ISBN 978-3-89942-847-6
Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹
Maria Muhle Eine Genealogie der Biopolitik Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem
März 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-687-8
2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-858-2
Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung
Andreas Niederberger, Markus Wolf (Hg.) Politische Philosophie und Dekonstruktion Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida
2007, 372 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-565-9
2007, 186 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-545-1
Ralf Krause, Marc Rölli (Hg.) Macht Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart
Dirk Quadflieg Differenz und Raum Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida
2008, 286 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-848-3
Harald Lemke Die Kunst des Essens Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks 2007, 220 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-686-1
Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnema Derrida zum Andenken 2007, 262 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-510-9
2007, 364 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-812-4
Eckard Rolf Der andere Austin Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus April 2009, ca. 146 Seiten, kart., ca. 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1163-2
Ludger Schwarte (Hg.) Auszug aus dem Lager Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie 2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-550-5
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