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German Pages 370 Year 2014
Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität
Image | Band 42
Guido Isekenmeier (Hg.)
Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge
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Inhalt
Zur Einführung | 7 In Richtung einer Theorie der Interpiktorialität
Guido Isekenmeier | 11 Dem Vernehmen nach … Kritische Anmerkungen zu einer Theorie der Interpiktorialität
Hanne Loreck | 87 Neue Fragen in altem Gewand? Die alte Tante Kunstgeschichte und die Interpiktorialität
Susanne von Falkenhausen | 107
KUNST /GESCHICHTE Imitation als Interpiktorialität bei Joshua Reynolds
Harald Klinke | 125 Der Abschied Ludwigs XVI. von seiner Familie. Intermediale Metamorphosen eines Bildmotivs
Martin Miersch/Rolf Reichardt | 137 Die komische Interbildlichkeit in der deutschen und englischen Karikatur des 19. Jahrhunderts
Margaret A. Rose | 161 Dem Gesicht den Hintern zeigen. Reines und verunreinigtes Bild am Beispiel der Mona Lisa
Judith Elisabeth Weiss | 187
G EGENWART /KUNST Appropriation Art aus China und Japan? Song Nan Zhang und Hiroyuki Masuyama
Christoph Zuschlag | 205
Appropriation oder Simulacrum? Zur Funktion und Absicht interpiktorialer Bezüge in der zeitgenössischen russischen Kunst
Viola Hildebrand-Schat | 219 Online-Videokunst und Interpiktorialität. Kunsttheorie zwischen Bildern
Nina Gerlach | 237 „Don’t laugh – this ain’t the funny pages“: Comics und bildende Kunst (Alain Séchas, Raymond Pettibon)
Lukas Etter/Gabriele Rippl | 261
LITERATUR/COMICS Interpiktorialität im Comic. Versuch einer Systematik zu bildlichen Bezugnahmen in Comics
Linda-Rabea Heyden | 281 Der Comic als Labor semiotischer Interpiktorialitätsforschung: Paul Karasiks und David Mazzucchellis City of Glass
Christian A. Bachmann | 299 Interpiktorialität im Literaturcomic. Zur Funktion von Bild- und Stilzitaten in Comic-Adaptionen literarischer Texte am Beispiel von Stéphane Heuets Recherche
Monika Schmitz-Emans | 319 Intertextualität als Interikonizität. Ikonische Text-Text-Bezüge
Ronja Tripp | 341
Autorinnen und Autoren | 361
Zur Einführung
Dieser Band bedarf keiner Erklärung. Es gibt Interpiktorialität. Sie ist die „abwesende Struktur“ (Eco 1972: 357) der Bildverhältnisse, das ‚Verwandtschaftssystem‘ der Bilder. An der Wirksamkeit, der ‚Effektualität‘, von Interpiktorialität als Operationsmodell von Bild-Bild-Bezügen kann kaum Zweifel bestehen. Über ihren Namen herrscht hingegen wenig Einigkeit. Jede der in Frage kommenden Bezeichnungen hat ihre Vor- und Nachteile. ‚Interikonizität‘ etwa schließt an vorhandene Begriffsprägungen an, mit denen es zumindest Überschneidungen gibt: Ikonografie, Ikonologie, Ikonik; Medienikonen, Ikonenkultur, Ikonisierung usw. Allerdings ist ihr Verhältnis zu einer der gängigsten Klassifikationen von Zeichentypen – der Peirce’schen Trias aus Ikon, Index und Symbol, die die Zeichen nach ihrer angenommenen Beziehung zu ihrem Referenten einteilt – alles andere als klar oder steht sogar mit ihr im Widerspruch. ‚Interbildlichkeit‘ steht – entlang der freilich in jüngster Zeit erheblich dynamisierten Opposition von Bild und Text – der Intertextualität zur Seite oder gegenüber und macht es möglich, auf ökonomische Weise von ‚Inter-Bildern‘ zu sprechen. Dies allerdings um den Preis eines lateinisch-germanischen Hybridbegriffs, der in dieser Form unübersetzbar bleibt, selbst wenn auf die ‚andere‘ Linie der vom Lateinischen abgeleiteten Bild-Wörter (‚imag-‘) zurückgegriffen wird. In der ‚pict-‘-Linie empfiehlt sich ‚Interpikturalität‘, da es eher das gemalte Bild (pictura) als den Maler (pictor) in den Mittelpunkt rückt, was eher der Infragestellung des Autor-Subjekts in der Intertextualitätstheorie entspricht. Allerdings nimmt im Englischen das Adjektiv zum Substantiv picture aus phonotaktischen Gründen die Form pictorial an (im Unterschied zu picturesque), sodass ‚Interpiktorialität‘ am Ende als bester Kandidat eines ‚internationalen‘ Komplementärbegriffs zur Intertextualität erscheint. Wenn Interpiktorialität sinnvoll als Intertextualität von Bildern verstanden werden kann, dann ist dieser Band so etwas wie die Fortsetzung von Genettes (1982) Untersuchung des Feldes der ‚Hypertextualität‘. Er nimmt die dort gegen
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Ende gelegte Spur auf, die von den literarischen hypertextuellen zu den ‚hyperartistischen‘ Praktiken der bildenden Künste führt und geht darüber hinaus, indem er die ausschließliche Fokussierung auf die ‚hohen‘ Künste unterläuft. Er teilt mit Genettes Buch die Aufteilung in einen kurzen, in mancherlei Hinsicht ungenügenden Theorieteil, und einen weit umfangreicheren Teil, der die Weiten des Feldes anhand einer Vielzahl von Einzelfällen und Beispielreihen vermisst. Er geht darüber hinaus, indem er dem an Genette angelehnten Theorieaufbau dessen Kritik auf dem Fuße folgen lässt und indem er einen Phänomenbereich umreißt, der in vielerlei Hinsicht mannigfaltiger ist, dessen Medien von der Malerei bis zum Online-Video und dessen Funktionen vom Gebrauchs- bis zum ‚epistemischen‘ Bild reichen. Meinem Entwurf einer Theorie der Interpiktorialität folgen so zwei Aufsätze, die gegen deren kriteriologische Ausrichtung den Reichtum ‚latenter‘ Bildlichkeit (HANNE LORECK) und gegen ihren drohenden Schematismus die Orientierung an Erkenntnisinteressen (SUSANNE VON FALKENHAUSEN) betonen. Mit ihren eingeflochtenen Beispielen stecken sie zugleich den chronologischen Rahmen dieses Bandes ab, der von der aktuellen (zeitgenössischen wie gegenwartsbezogenen) Videokunst zurück bis zur Zeitenwende der französischen Revolution und der sie begleitenden Bildervielfalt reicht. Mit dieser zeitlichen Begrenzung sei keinesfalls impliziert, dass die neuere Geschichte eine Wende zur Interpiktorialität markiert. Wenn aus den verschiedenen interpiktorialen Geschichten, die dieser Band erzählt, überhaupt schon Schlussfolgerungen für die Geschichte der Interpiktorialität gezogen werden können, dann wohl die, dass diese Geschichte keine scharfen Brüche, keine Haltepunkte, keine Revolutionen kennt – ob diese nun als induziert von den jeweils ‚neuen‘ Medien der technischen Reproduzierbarkeit (von der Druckgrafik bis zum Computer) oder vom Kunstwollen der jeweiligen kulturgeschichtlichen Epoche (vom Klassizismus bis zur Postmoderne) gedacht werden. Zuzüglich der mediävistischen Kritik an der These, dass die Privilegierung des Sehsinns eine Besonderheit der Neuzeit sei (vgl. Rimmele/Stiegler 2012: 38), ergibt sich ein ‚Bild‘ von Interpiktorialität als transhistorischem, transmedialem und transgenerischem Phänomen. Der Abschnitt Kunst/Geschichte vereint so einen Beitrag, der die altehrwürdige künstlerische Praxis der Nachahmung an den Interpiktorialitätsdiskurs anschließt (HARALD KLINKE), mit Beiträgen, die verschiedene Arten interpiktorialer Konjunkturen untersuchen: eine kurze, an ein historisches Ereignis (und dessen Bild) gebundene und sich wahrhaft plurimedial vollziehende (MARTIN MIERSCH/ROLF REICHARDT); eine ausgedehnte, vor allem mit dem politischen Tagesgeschäft verbundene und sich zwischen Kunst und Karikatur abspielende
Z UR E INFÜHRUNG | 9
(MARGARET A. ROSE); sowie eine lange, sich auf eines der Hauptwerke eines Alten Meisters beziehende und selbst Kunst schaffende (JUDITH ELISABETH WEISS). Die Aufsätze im Abschnitt Gegenwart/Kunst widmen sich zwei Spielarten der zeitgenössischen interpiktorialen Grenzüberschreitung. Zum einen geht es um Strategien der Aneignung ‚westlicher‘ Kunst, die entweder anhand einzelner Künstlerfiguren (CHRISTOPH ZUSCHLAG) oder als Projekt einer nationalen Kunstszene (VIOLA HILDEBRAND-SCHAT) nachvollzogen werden. Zum anderen geht es um die künstlerische Inbesitznahme von Bildwelten, die sich in deutlichem Abstand zum Modell der Malerei entwickelt haben, das den in den vorangegangenen Beiträge beschriebenen interpiktorialen Praktiken auf die ein oder andere Weise zugrunde liegt (als ‚Urbild‘ einer Bildreihe, als Bezugsbild der Referenz, zumindest in Form einer Personalunion von Maler und Kunsttheoretiker oder Karikaturist): die Welten des Online-Videos (NINA GERLACH) und des Comics (LUKAS ETTER/GABRIELE RIPPL). Der letzte Abschnitt, Literatur/Comics, wendet sich der Interpiktorialität des (Literatur-)Comics zu, wobei in zunehmendem Maße die Verwiesenheit der Bilder ‚grafischer Literatur‘ auf eine genuin literarische Bildlichkeit in den Blick gerät. Das Spektrum reicht von einer Übersicht über Formen der Interpiktorialität im Comic, deren Beispiele unter anderem einer Faust-Adaption entnommen sind (LINDA-RABEA HEYDEN), über die Analyse von Comics, deren interpiktoriale Verfahren im dichten Zusammenspiel mit ihren Roman-‚Vorlagen‘ entstehen – sei es dass die Sprach-Spiele in Paul Austers City of Glass in Bilder ‚übersetzt‘ werden (CHRISTIAN A. BACHMANN), sei es dass die Bilder-Obsession von Marcel Prousts À la Recherche du Temps Perdu grafisch ‚umgesetzt‘ wird (MONIKA SCHMITZ-EMANS) – bis hin zu einem Beitrag über das ikonische Potential literarischer ‚Bilder‘, auf das dann beispielsweise der Comic Bezug nehmen kann (RONJA TRIPP). In der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand formuliert jedes dieser Puzzleteile einer (neueren) Geschichte der Bild-Bild-Bezüge spezifische Konsequenzen für eine Theorie der Interpiktorialität – oder birgt jedenfalls theoretische Implikationen. Im Durchgang entsteht so im Unterschied zu Genettes monografischer Behandlung ein vielstimmiges Panorama der Bezüglichkeit von Bildern. Es mag der Orientierung bei der weiteren Erkundung eines Territoriums dienlich sein, das noch große Lücken aufweist, die in diesem Band kaum gestreift werden konnten – Fotografie, Film und Fernsehen etwa, um nur drei besonders augenfällige Auslassungen zu nennen. Die Mehrzahl der hier versammelten Beiträge geht auf Vorträge zurück, die im Rahmen der Tagung ‚Interpiktorialität – der Dialog der Bilder‘ am 04.-
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05.11.2011 an der Ruhr-Universität Bochum gehalten wurden (vgl. den Tagungsbericht Gamer 2012). Tagung und Band bilden den Auftakt zum Projekt ‚Beobachtung visueller Kultur‘ des Instituts für Kulturforschung Heidelberg, dem ich für seine großzügige finanzielle und konzeptionelle Unterstützung danken möchte, namentlich den Direktoriumsmitgliedern Dr. Jens Kertscher, Dr. Matthias Kroß und Dirk Hommrich. Die Tagung fand am Englischen Seminar der Ruhr-Universität statt und wurde aus dessen Mitteln bezuschusst. Ich danke Dr. Claus-Ulrich Viol für seinen administrativen Beistand sowie Dr. Maik Goth und besonders Hans Niehues für ihre Hilfe bei der Durchführung. Prof. Renate Brosch von der Abteilung Neuere Englische Literatur des Instituts für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart danke ich für ihre Publikationsbeihilfe. Der größte Dank gebührt schließlich meiner Kollegin Nina Jürgens, die große Teile des Manuskripts gelesen und verbessert hat.
L ITERATURVERZEICHNIS Eco, Umberto (1972 [ital. 1968]): Einführung in die Semiotik, München: W. Fink. Gamer, Elisabeth-Christine (2012): „Interpiktorialität – mehr als ein Dialog von Kunstwerken: Interdisziplinäre Ansätze zu einer aktuellen Forschungsdiskussion“, in: JLTonline, 19.06.2012, 8 S. http://www.jltonline.de/index.php/ conferences/article/view/494/1261.1 Genette, Gérard (1982): Palimpsestes. La Littérature au Second Degré, Paris: Seuil. Rimmele, Marius/Bernd Stiegler (2012): Visuelle Kulturen/Visual Culture. Eine Einführung, Hamburg: Junius.
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In Richtung einer Theorie der Interpiktorialität G UIDO I SEKENMEIER
Dass Bilder sich auf andere Bilder beziehen, sie replizieren, modifizieren oder transformieren, sie aufgreifen, umgestalten oder zweckentfremden können, bedarf kaum der Erwähnung. Bildbezüge spielen in den verschiedensten piktorialen Praktiken – in der Werbung1 (und der Propaganda), in Comics2 (und Cartoons), in der hohen (und der angewandten) Kunst3 – eine herausragende Rolle. In den diese Bildpraxen begleitenden Diskursen figuriert Interpiktorialität als
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Vgl. etwa die Beispiele von Referenzen auf Leonardo da Vincis La Gioconda in Anzeigen von TIM (Telecom Italia Mobile) bis Vidal Sassoon auf der Website Pubblicitando („Il blog di Chiara sull’Advertising“) unter http://www.pubblicitando. it/2011/07/18/la-pubblicita-e-i-capelli-della-gioconda/.
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Vgl. etwa die Bezüge auf Eugène Delacroix’ La Liberté Guidant la Peuple in Schuiten/Peters (2000: o.S.), das die Referenz auf Delacroix’ Gemälde gegen Ende des dritten Kapitels als im Unterschied zum umgebenden Panel farbiges Bild im Bild gestaltet; in Yslaire (1994), das nicht nur mithilfe von Bildern im Bild – sowohl im Stile Delacroix’ (ebd. 7) als auch im mit Yslaire weitgehend deckungsgleichen Stil eines intradiegetischen Malers (ebd. 34) – Bezug nimmt, sondern das Bild auch auf der Ebene der Geschichte reaktualisiert (ebd. 52 et pass.); sowie in Talbot (2009), der das Gemälde im Stile Delacroix’, die Personen darauf jedoch nach der Methode Grandvilles mit Tierköpfen präsentiert.
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Vgl. etwa die zahllosen bildkünstlerischen Bezugnahmen auf – wiederum – die Mona Lisa (vgl. Lüthy 1995: 25-42) sowie – in beide Richtungen, als Bezugsbild und als bezugnehmendes Bild – Édouard Manets Le Déjeuner sur l’Herbe (vgl. II. zum kanonischen Status dieses Beispiels).
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gängiges mäeutisches Verfahren4, als fankultureller Gemeinplatz5 oder als geläufiges kunsthistorisches Faktum6. Vor dem Hintergrund dieser bildkulturellen Selbstverständlichkeit interpiktorialer Bezüge nimmt es kaum wunder, dass sich deren Behauptung bisweilen äußerst freigiebig ausnimmt: Florian Rötzer etwa „erinnert“ eine vom Pentagon in Umlauf gebrachte Fotografie einer Militäraktion „an ‚Apocalypse Nowދ, eigentlich keine gute Assoziation“ (Rötzer zit. Isekenmeier 2009: 210), obwohl der Einsatz in einer Landschaft stattfindet, die weder mit Vietnam noch den Drehorten Coppolas viel gemein zu haben scheint (vgl. ebd. 211); für Hans Volker Findeisen „gleichen sich“ die Bilder des toten Uwe Barschel und des ermordeten Jean Paul Marat, „obwohl fast zwei volle Jahrhunderte zwischen ihnen liegen“ (Findeisen zit. Geimer 2010: 58-59), wozu er lediglich Davids Gemälde des letzteren „seiner Farbigkeit berauben, das Bild auf einen kleinen Bildausschnitt herunterzoomen und diesen Ausschnitt dann in gleicher Größe neben das Illustriertenfoto [Barschels] setzen“ musste (ebd. 63); Götz Aly konstruiert eine Parallele zwischen einem Screenshot aus Wege zu Kraft und Schönheit von 1924 und einer Fotografie der Kommune I von 1967 um zu zeigen, dass Nationalsozialismus und Studentenrevolte „als ‚junge‘ Bewegungen mit ‚totalitäre[r] Sprache und […] Hang zum gewalttätigen Aktionismus‘ agier[t]en und eine ‚Machtergreifung‘ verfolgt“ hätten (Aly zit. Dünkel 2008: 25), wobei die Ähnlichkeit wohl darin besteht, dass die sich in antikisierender Manier ertüchtigenden Männer aus Wilhelm Pragers Film ebenso wie die Männer, Frauen und
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Nicola (2007: 90-91) führt unter dem Stichwort der (visuellen) Ironie ein auf die Mona Lisa als Sinnbild der „goldenen Mitte“ (ebd. 91) zurückgreifendes Werbeplakat für ein Mineralwasser mittleren Kohlensäuregehalts von Ferrarelle an und kommentiert: „Die Ironie, fähig, ihre Gedanken mit Leichtigkeit und ohne mühsame Thematisierungen nahezubringen, ist eine der meistgebrauchten Kommunikationsformen der heutigen Werbung“ (ebd.).
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In einem kostenlosen Comic-Info-Magazin heißt es zu Talbots (2009) Grandville: „Auch Steampunks lieben offenbar Bildzitate. Dass Tintin irgendwo vorkommt, scheint in Zeichnerkreisen langsam ein Muss zu sein. Hier passiert noch mehr. So ist etwa das berühmte Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Delacroix zu sehen, alle Freiheitskämpfer natürlich mit Tierköpfen, die französische Marianne als Pute…“ (Comics & Mehr 70, 2012: 24).
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Nach Rosen (2003: 161) ist ‚Interpikturalität‘ „durch die Epochen hindurch ein signifikantes Verfahren gewesen“ und markiert „ein im Ansatz bekanntes und in der Sache evidentes Phänomen“ (ebd. 162). Eines von vier von ihr angeführten Beispielen (ebd.) ist der Manet (ein weiteres die Mona Lisa).
I N R ICHTUNG
EINER
THEORIE
DER I NTERPIKTORIALITÄT
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Kinder in Durchsuchungshaltung auf Thomas Hesterbergs Fotografie eben nackt sind (vgl. ebd.). Solch ‚freizügige‘ Behauptung von Bezügen zwischen Bildern kann als methodisches Problem aufgefasst werden, als Effekt der Prozedur des vergleichenden Sehens. Sofern durch das „Nebeneinander-Zeigen zweier Bilder eher Verwandtschaften als Unterschiede suggeriert werden“ (Dünkel 2008: 25), also selbst dort „Verwandtschaft behauptet wird, wo die Unterschiede eklatant überwiegen“ (ebd. 25), stellt sich in der Tat die Frage nach dem „Punkt, an dem ‚vergleichendes Sehen‘ in ‚Gleichheit aus Versehen‘ übergeht“ (Geimer 2010: 49). Hinsichtlich dieses ‚Punktes‘, dieser Grauzone zwischen interpiktorialem Bezug und beliebiger Gegenüberstellung, führt die methodologische Annäherungsweise durchaus zur Formulierung eines der grundlegenden Probleme einer Theorie der Interpiktorialität: des Verhältnisses von Anleitung durch das Bild und Projektion durch den Rezipienten in der (Re-)Konstruktion von Bildbezügen: „mit der möglichen Arbitrarität stellt sich die Frage, ob die im Vergleich hergestellte Analogie tatsächlich in den Bildern angelegt ist oder möglicherweise eine nachträgliche und beliebige Zutat, ein freies Assoziieren des Rezipienten darstellt“ (Geimer 2010: 57).7 In Diskussionen des Bildvergleichs als Methode stellt sich die Behauptung interpiktorialer Bezüge dann als illegitim dar, wenn der Vergleich das Spezifische „schluckt“ (Geimer 2010: 64), was zu einer „Verselbständigung des vergleichenden Sehens“ (ebd.) führe. Als Gegenmittel empfehle sich ein Blick auf die „Funktionen, Kontexte[n] und Herstellungsbedingungen“ (Dünkel 2008: 27) der jeweiligen Bilder bis hin zum Aufweis, dass es eine „tatsächlich existierende historische oder systematische Verbindung“ (Geimer 2010: 49) gibt. Dem wilden Wuchern der Bildassoziationen die ruhige Gewissheit der historischen Kontexte entgegenzusetzen, die einen interpiktorialen Bezug dann unter Umständen „historisch als unhaltbar“ (Dünkel 2008: 25) erweisen können, führt jedoch allenfalls zu einer Strategie der nachträglichen Überprüfung der Plausibilität der behaupteten Bezugnahme, nicht jedoch zu einer Antwort auf die Frage nach dem jeweiligen Anteil von Bild und Betrachter an deren Setzung. Das Vorhandensein einer „formalen Analogie“ (Geimer 2010: 63) oder einer „Ähnlichkeit in Bildaufbau und Motivik[, die] auf den ersten Blick frappierend ist“ 7
Das Problem ist aus der Intertextualitätsforschung wohl bekannt, wo etwa zwischen „kontrollierte[r] Textarchäologie“ und „freie[r] Sinnassoziation“ unterschieden wurde (vgl. Pfister 1985: 23). Zum prekären Charakter des Verhältnisses von Bild und Betrachter in der Interpiktorialität vgl. Rosens (2003: 163) in der für die zweite Auflage des Lexikons revidierten Fassung (Rosen 2011) dann ausgelassenen Satz: „Wenn man so will, ist erst der Betrachter derjenige, der den Bezug konstruiert.“
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(Dünkel 2008: 25), bleibt vielmehr vorausgesetzt, im Voraus gesetzt.8 Deshalb wäre nicht nur zu fragen, „ob über die formale Ähnlichkeit der Bilder hinaus die Unterschiede nicht überwiegen“ (ebd.), sondern allererst, ob diese ‚Ähnlichkeit‘ überhaupt gegeben und, falls ja, ‚formaler‘ Natur ist.9 Was die angeführten Bildvergleiche ebenso wie deren methodenkritische Reflexion mit ihrer vagen Rede von „Parallele“, „Ähnlichkeit“ oder „Analogie“ schuldig bleiben, ist deshalb vor allem eine Angabe, welche Art von interpiktorialer Referenz, welcher Typus von Interpiktorialität überhaupt verhandelt wird. Dazu bedarf es weniger einer methodischen Vergewisserung der „Legitimität eines präsentierten Vergleichs“ (Dünkel 2008: 27) als einer Binnendifferenzierung des Begriffs der Interpiktorialität. Mithin handelt es sich bei der Kontrolle der „individuellen Assoziationsmöglichkeiten“ (ebd.) im Kern um ein terminologisches Problem. Bislang jedoch ist ‚Interpiktorialität‘ trotz der Vielfalt sich ereignender Bild-Referenzen eher ein Begriffs-Wort, das die Ordnung eines Feldes programmatisch verspricht, als ein ausformulierter Begriff, der eine Typologie von Erscheinungsformen anleiten könnte.10 8
Vgl. Geimer (2010: 50): „Was geschieht, wenn zwei Bilder sich formal oder ikonografisch ähneln, man aber weiß, dass sie im Hinblick auf ihren Kontext, ihre Funktionen, die Technik ihrer Herstellung oder die Art ihrer Rezipienten unvergleichbar sind? Es wird hier also um die Frage gehen, ob alles, was sich formal oder stilistisch ähnelt, deshalb auch automatisch schon sinnvoll vergleichbar sein muss.“
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Dabei übernimmt Dünkel (2008: 25) in der Reproduktion der Bildbeispiele Alys genau dessen Vorgehensweise, die im Wesentlichen der entspricht, die Geimer (2010: 63) bei Findeisen beklagt: Screenshot und Fotografie werden im Format angeglichen und gemeinsam gerahmt vorgeführt. In dieser Hinsicht sind die Bilder tatsächlich formal einander ähnlich (gemacht). Ob sich hingegen die Motive ‚ähneln‘ – fünf nackte, Ball spielende Männer im Freien auf der einen, acht nackte, an die (Zimmer-) Wand gestellte Männer, Frauen und Kinder auf der anderen Seite – und inwiefern diese vermeintliche Ähnlichkeit ‚formalen‘ Charakter hat, sei dahingestellt. Die von Geimer zugestandene ‚formale Analogie‘ von Barschel-Foto und Marat-Gemälde scheint sich entsprechend darin zu erschöpfen, dass es sich um Badewannenszenen handelt. Zur reichlich vagen Ähnlichkeit von Bildern im „Badewannen-Dusch-Code“ vgl. die Bildreihen von Monaco (2000: 180-185, besonders 182-183). Zu Davids La Mort de Marat heißt es dort: „Der Badewannen-Dusch-Code reicht bis zu Jacques Louis Davids Der Tod Marats (1793) zurück, so schockierend wegen seines eindringlichen Realismus“ (ebd. 184).
10 Vgl. den Titel von Zuschlag (2006) – „Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität“ – und die ihrerseits symptomatische Vielzahl möglicher Begriffsworte – Interpiktorialität/Interpikturalität, Interikonizität (auch in Frank/Lange 2010: 47-52), Inter-
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THEORIE
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In Anbetracht der Vielfalt interpiktorialer Phänomene und des verbreiteten Unbehagens an ihrer Abgrenzung zur beliebig wirkenden Zusammenschau von „radikal differenten“ (Lutz/Missfelder/Renz 2006: 15)11 Bildern ist doch das eigentlich Bemerkenswerte, dass keine der offenkundig an interpiktorialen Bezügen interessierten Forschungsrichtungen – im Folgenden soll von der Kunstgeschichte, der Intermedialitätsforschung und den Visual Culture Studies die Rede sein – einen ‚reisefertigen‘12 Begriff der Interpiktorialität hervorgebracht bildlichkeit (Rose 2008). Rosen (2003: 162) bezeichnet als einen „Grund für die Einführung des neutralen Oberbegriffs der Interpikturalität“ die „breite Begriffspalette“ für interpiktoriale Phänomene, „wie: Nachahmung, Plagiat, Kopie, Variation, ‚Inversion‘ (A. Warburg), Paraphrase, Zitat, Allusion, Hommage, Parodie, Ironie“, wobei „die Semantik dieser teilweise aus der Poetik übertragenen Begriffe für visuelle Erscheinungsformen sowie überhaupt ihr Geltungsbereich […] alles andere als scharf“ seien. Es handelt sich somit eher um eine Reihe von vagen Bezeichnungen als um eine „Palette“ von (Unter-)Begriffen. 11 Die Formulierung entstammt einer Apologie des ‚illegitimen Vergleichens‘, das eben deshalb „fragwürdig“ erscheint, „weil Ähnlichkeiten von Repräsentationen einen möglicherweise radikal differenten diskurs- und medienhistorischen Kontext verdecken“ (Lutz/Missfelder/Renz 2006: 14-15). Lutz/Missfelder/Renz (ebd. 10) beziehen sich dabei auf „Vergleiche, deren vermeintliche Illegitimität aus der Überwindung einer zeitlichen Differenz resultiert, also diachron angelegt sind, sowie auf solche, die synchron Medien- oder Diskursgrenzen transzendieren“. Beide Möglichkeiten stehen natürlich auch interpiktorialen Praktiken offen, ohne dass die Lizenz zur ‚offensiven‘ Fehllektüre (ebd. 17) bezüglich der Kontexte sie davon entlasten würde, den Vergleich an ihren Gegenständen zu plausibilisieren. Äpfel und Birnen (so auch der Titel des Bandes) sind insofern keineswegs Objekte eines ‚kühnen‘ Vergleichens, wie Spies (2010) anhand einer Reihe von Bildern ausgehend von Justus Junckers Stillleben mit Apfel und Birne von 1765 demonstriert. 12 ‚Reisefertig‘ soll dabei keineswegs den Eindruck einer endgültigen Festschreibung erwecken: „concepts are not fixed. They travel“ (Bal 2002: 24). Zur Unabgeschlossenheit von traveling concepts sowie zum Verhältnis von terminologischer und methodologischer Arbeit vgl. ebd. (24): „concepts can only do this work, the methodological work that disciplinary traditions used to do, on one condition: that they are kept under scrutiny through a confrontation with, not application to, the cultural objects being examined“. Nach Bal (ebd. 5) ist die Betonung von Begriffen an Stelle von Methoden eine Voraussetzung interdisziplinärer Arbeit: „The thesis on which this book is based, and of which it is both an elaboration and a defence, is extremely simple: namely, interdisciplinarity in the humanities, necessary, exciting, serious, must seek its heuristic and methodological basis in concepts rather than methods“.
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hätte13, der dann in benachbarten Feldern wie der sich piktorialen ‚Zeugnissen‘ zuwendenden Geschichte hätte aufgenommen werden können14.
I. K UNSTGESCHICHTE
UND I NTERPIKTORIALITÄT
Als Disziplin, die nicht nur unser Verständnis von dem, was Bild ist, geprägt hat15, sondern auch „seit jeher“ Relationen zwischen Bildern untersucht16, ist die Kunstgeschichte der erste Ansprechpartner für eine Beschäftigung mit InterPiktorialität. Jedoch gibt es „bis heute keine umfassende Theorie, auf deren Grundlage sich das Phänomen epochen- und gattungsübergreifend analysieren ließe“ (Zuschlag 2006: 90). Das überrascht umso mehr, als sich die Diskussion meist auf sehr wenige, immer wieder verhandelte Bilder aus dem Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte konzentriert. Allerdings geht die Kanonisierung von
13 Vgl. für die Kunstgeschichte Rosen (2003: 161): „Bezüge von Kunstwerken aufzuzeigen und zu beschreiben ist zwar stets Gegenstand kunsthistorischer Arbeitsweise gewesen, doch führte dies nicht zu einer Konzeption, die dem Phänomen dem ihm gebührenden Stellenwert zuerkannt hätte“ (vgl. II.). Für die Intermedialitätsforschung und die Visual Culture Studies wäre ‚Interpiktorialität‘ ein ebenso folgerichtiges wie gemiedenes Hyponym für ‚Intermedialität‘ (und Co-Hyponym zu ‚Intertextualität‘, vgl. III.) bzw. ‚Intervisualität‘ (Interpiktorialität als „enger gefasster Intervisualitätsbegriff“, Andrzejewski 2007: 32; vgl. IV.) 14 Vgl. zur Visual History und ihren Wurzeln in der Quellenkritik Paul (2012, besonders 5-9). 15 Vgl. Frank/Lange (2010: 18): „Kunst, genauer: das, was die Gesellschaft als Kunst ausgehandelt hat, [trägt] wesentlich zu unseren heutigen Möglichkeiten bei, ein Bild zu denken und zu charakterisieren“; Boehm (1994a: 37) verweist entsprechend auf „unser – oft unausgesprochenes – Vorurteil, das Bild am Modell des ‚Gemäldes‘ oder des Tafelbildes zu messen“. 16 Vgl. Zuschlag (2006: 90), dessen Ausführungen denen von Rosen (vgl. Fußnote 10) sehr nahe sind: „In der Kunstgeschichte gibt es eine Vielzahl von Begriffen, die die Relationen verschiedener Kunstwerke zueinander zu beschreiben und zu klassifizieren versuchen, darunter etwa Replik, Kopie, Variation, Version, Reproduktion, Zitat, Paraphrase, Parodie, Travestie, Persiflage, Pasticcio, Allusion, Einfluss, Plagiat, Fälschung, Hommage usw. Die Definitionen und der Gebrauch sind allerdings nicht einheitlich. Die enorme Bedeutung des Phänomens in der Geschichte der Kunst macht die Analyse von Verweisungsbezügen seit jeher zum bevorzugten Gegenstand kunsthistorischen Arbeitens.“
I N R ICHTUNG
EINER
THEORIE
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Musterbeispielen nicht einher mit einem entsprechenden disziplinären Konsens über die Art und Benennung der von diesen Klassikern instanziierten Grundformen der Interpiktorialität. Paradigmatisch für die gleichzeitige (Unter-)Begriffsverwirrung und (Ober-) Begriffslosigkeit ist die Behandlung von Manets Frühstück im Grünen in Krüger (2005). Der Aufsatz gibt einen Überblick über die Vor- und Rückbezüglichkeit von Manets Gemälde, dessen „manifeste[m] Rekurs auf die kunstgeschichtliche Tradition“ (ebd. 82) – in Gestalt von Tizians Il Concerto Campestre, auf das Manet selbst verwiesen hatte (vgl. Zuschlag 2002: 171), und (Marcantonio Raimondis Kupferstich von) Raffaels Giudizio di Paride – ebenso wie dessen Weiterverarbeitung (nebst zweier Bilder Georges Seurats) in Jeff Walls fotografischer Arbeit The Storyteller17, dem „Frühstück im Grauen“ (Danicke 2011). Daneben präsentiert Krüger (2005: 82) auch einige Kapitel aus der Diskursgeschichte der Kanonisierung des Frühstücks als Musterstück interpiktorialer bzw. „metapikturaler Bildverfahren“, allen voran dessen Einsetzung als Urszene einer neuen Selbstbezüglichkeit der Schwesterkünste Malerei und Literatur als „Epochensignatur der Moderne“ (ebd.) bei Foucault18. Manets Bild ist damit zwar als 17 Vgl. den analogen Parcours bei Zuschlag (2002) unter Einbeziehung von Picassos Le Déjeuner sur l’Herbe d’après Manet (ebd. 175; vgl. Cogeval/Madeline/Rouan 2008). Für eine Übersicht über weitere Referenzen auf Manets Bild, u.a. von Alain Jacquet bis Yves Saint-Laurent, vgl. „Le Déjeuner sur l’Herbe… Déclinaisons & ‚Citations“ދ unter http://histoiredesartssaintlaurent.over-blog.com/pages/Le_Dejeuner_sur_lHerbe _Variations_amp_citations-4145317.html. 18 Vgl. Foucault (1995: 10-11): „Il se peut bien que Le Déjeuner sur l’herbe et l’Olympia aient été les premières peintures ‚de muséeދ: pour la première fois dans l’art européen, des toiles ont été peintes – non pas exactement pour réplique à Giorgione, à Raphael et à Velasquez, mais pour témoigner, à l’abri de ce rapport singulier et visible, au-dessous de la déchiffrable référence, d’un rapport nouveau de la peinture à elle-même, pour manifester l’existence des musées, et le mode d’être et de parenté qu’y acquièrent les tableaux. À la même époque, La Tentation est la première œuvre littéraire qui tienne compte de ces institutions verdâtres où les livres s’accumulent et où croît doucement la lente, la certaine végétation de leur savoir. Flaubert est à la bibliothèque ce que Manet est au musée. Ils écrivent, ils peignent dans un rapport fondamental à ce qui fut peint, à ce qui fut écrit – ou plutôt à ce qui de la peinture et de l’écriture demeure indéfiniment ouvert. Leur art s’édifie où se forme l’archive. Non point qu’ils signalent le caractère tristement historique – jeunesse amoindrie, absence de fraîcheur, hiver des inventions – par lequel nous aimons stigmatiser notre âge alexandrin; mais ils font venir au jour un fait essentiel à notre culture: chaque tableau appartient désormais à la grande surface quadrillée de la peinture; chaque œuvre litté-
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Inbegriff der Interpiktorialität herausgestellt, doch auf d(ies)en Begriff gebracht ist es noch nicht. Vielmehr führt der Versuch, die vielfältigen Bezüge von und auf Manets Bild begrifflich zu fassen, zum Rückzug auf eine oft problematisierte frühe „Leitmetapher“ (ebd. 93) des Intertextualitätsdiskurses, das Palimpsest19. Als „operatives Denkmodell“ (ebd. 91) für das „Phänomen einer Schichtung, Verflechtung und Durchdringung“ (ebd. 90) bleibt ‚Palimpsest‘ indes zu vage, um eine weitere Differenzierung von Bezugnahmen vorzunehmen.20 Unterhalb der Rede vom Bild als einem Palimpsest im Allgemeinen, bleibt es beim begriffslosen Verwirrspiel um Bezugsformen: Manet greife „in offenkundiger und unverhüllter Weise auf ein Sujet von Giorgione zurück, das berühmte Ländliche Konzert“ (ebd. 83), er greife „zugleich zurück auf eine Motivprägung Raffaels […] deren Überlieferung und weite Verbreitung durch einen Kupferstich des Marcantonio Raimondi von etwa 1530 erfolgte“ (ebd.), schließlich greife er „für die im seichten Wasser stehende Frau […] auf eine Vorgabe von Jean-Antoine Watteau zurück“ (ebd. 84). Rückgriff auf ‚Sujet‘ oder ‚Motiv‘ (die Termini sind austauschbar21) in ‚offensichtlicher‘ Weise (eine Formulierung, die genauere Darlegung erspart22) und schließlich (nachdrücklich tautologisch) der ‚Rückgriff raire appartient au murmure indéfini de l’écrit. Flaubert et Manet ont fait exister, dans l’art lui-même, les livres et les toiles“. Zur Olympia, die ebenfalls einen prominenten Platz im Schrifttum zur Interpiktorialität einnimmt, vgl. etwa Rose (2011: 81-85). 19 Titelgebend, wenn auch nicht wirklich erkenntnisleitend, für Genettes (1982) Studie zur ‚Hypertextualität‘, wurde der Begriff des Palimpsests schnell kritisch beäugt. Vgl. etwa Stierle (1983: 24): „Der Begriff verfehlt das Besondere der intertextuellen Verweisung in anderer Richtung“. 20 Dazu Krüger (2005: 105-106), die selbstironischen Töne in Genettes Unterfangen verkennend: „[Es] wird klar, daß es bei der Anwendung des Palimpsest-Begriffs nicht um die Erstellung einer strengen Taxonomie gehen kann, ein Unterfangen, daß sich schon bei Genette als wenig fruchtbar erwiesen hat“. 21 Auf der Website des Musée d’Orsay, in dem das Gemälde hängt, ist stattdessen von ‚Thema‘ und ‚Anordnung‘ die Rede: „Manet beruft sich für Das Frühstück im Grünen auf die alten Meister und greift auf zwei Werke des Louvre zurück. Das Konzert im Freien von Tizian, das damals Giorgione zugeschrieben wird, dient ihm als Thema, während die Anordnung der Gruppe in der Mitte einem Kupferstich von Raffael nachempfunden ist: das Urteil des Paris“ (http://www.musee-orsay.fr/de/kollektionen/ werkbeschreibungen/suche/commentaire_id/le-dejeuner-sur-lherbe-7123.html). Rosen (2003: 162) spricht von „E. Manets Rückgriff auf die kompositorische Struktur eines Stichs von M.A. Raimondi für sein Frühstück im Freien“. 22 Für ein Beispiel der Konstruktion eines interpiktorialen Bezuges, die sich durch ständige Betonung ihrer Plausibilität selbst dementiert vgl. Fitz (2005). Gegenstand ist
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auf eine Vorgabe‘: das ist in diesem Falle das terminologische Rüstzeug des kunsthistorischen Interpiktorialitätsforschers. Auch hinsichtlich ihrer konsequenten Verweigerung begrifflicher Explikation ist somit Tafel 55 aus Warburgs (2000) Bilderatlas Mnemosyne der klassische Artikulationsort der Rückbezüglichkeit des Manet23, insofern sie die interpiktorialen Bezüge in der scheinbaren Evidenz der Bilderreihe präsentiert. In dieser Präsentationsform als Teil einer „Bildersprache der Gebärde“ (Warburg 2000: 5) zeigen sich zwei Tendenzen der kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Interpiktorialität: wenn Bildreferenzen verhandelt werden, dann zum einen unter Betonung inhaltlicher Aspekte, zum anderen nach Maßgabe des Modells des Einflusses. Ersteres lässt sich am für Warburg zentralen Begriff der ‚Pathosformel‘ verdeutlichen: „Angesichts der zuvor diskutierten Zusammenhänge ließe sich demgegenüber fragen, inwieweit hier nicht die dominante Orientierung an der Gegenständlichkeit der Darstellung die mediale Vielschichtigkeit des Bildes und damit dessen wesentliche Artikulations-
dort u.a. der Bezug von John Singleton Copleys Watson and the Shark (vgl. HARALD KLINKEs Beitrag in diesem Band) auf Paul Reveres The Bloody Massacre. Fitz (2005: 471-472) liest – angeleitet von Albert Boime – Copleys Schwimmer als Wiedergänger derjenigen Figur bei Revere, die eigentlich das erste Opfer des Boston Massacre von 1770, Crispus Attucks, darstellen müsste, aber nicht als ‚Black Indian‘ kenntlich gemacht ist. Dieses whitewashing von Attucks bei Revere wird dann zum Grund für den afrikanisch-amerikanischen Bootsmann in Copleys Bild erklärt: „Considering […] the high degree of similarity between the swimmer in Watson and the Shark and the body that is supposed to represent Crispus Attucks in The Bloody Massacre, it does not seem far-fetched to interpret the presence of the black figure in Copley’s painting as the resurrection of Crispus Attucks. That this resurrection is a rather oblique […] one, does not necessarily belittle the power of the argument“ (meine Hervorhebungen). 23 Unter der Überschrift „Parisurteil ohne Auffahrt. Nach d. Sark[ophag]: Peruzzi und Markanton. Auffahrt und Zurücksinken. Narzissismus [sic]. Plein air als Substitution des Olymp. Entlehnung Manet-Carraci. Promenierendes Paar“ (Warburg 2000: 100, Anmerkungen der Herausgeber) präsentiert die Tafel u.a. Raimondis Stich in Gänze und im Ausschnitt („Liegender Flußgott“), Tizians (damals noch Giorgiones) Konzert und – in zwei Größen – Manets Déjeuner. Auch Krüger (2005: 108-109) kommt gegen Ende noch auf diesen locus classicus der Interpiktorialität von Manets Bild zu sprechen.
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formation verkennt. Der Begriff der Pathosformel tendiert zumindest dazu, die Komplexität des Bildes v.a. auf Aspekte der Figuration zu reduzieren.“ (Krüger 2005: 109)24
In dem Maße, in dem Bilder auf ihre Piktorialität reduziert werden, verstanden als „consolidated depictive aspectivity of configuration“ (Davis 2011: 155)25, wird Inter-Piktorialität zu einem bildgegenständlichen, einem ikonografischen Problem. Als „Lehre von den Bildinhalten“ (Büttner/Gottdang 2010: 88) beschneidet die Ikonografie das weite Feld der Interpiktorialität um die formalen (und materialen) Gestaltungsmittel26, um dann auf dem so eingegrenzten Territorium die schon angeklungene Proliferation inhaltistischer Kategorien voranzutreiben – „Bildinhalte“, „Details“, „Bildthemen“, „Themenkreise und Einzelmotive“ (Poeschel 2010a: 7), „Stoff“, „Thema“, „Typus“, „Auffassung“ (Büttner/ Gottdang 2010: 92) usw. Die einleitend beklagte, zum Teil assoziative, zum Teil auf der Manipulation der formalen Parameter von Bildern beruhende leichtfertige Behauptung interpiktorialer Bezüge hat in der ikonografischen Tradition ihre natürliche Heimstätte, beruht sie doch auf der Erstellung von Bildreihen gemäß inhaltlicher Kriterien: amerikanische Militärhubschrauber, Tote in der Badewanne, nackte Menschen.27 Es handelt sich eben um ein „Denken in thema24 Schon Warburgs vormaliger Mitarbeiter Fritz Saxl (2000: xviii, meine Hervorhebung) beschrieb dessen Vorgehen als gegenüber etwa stilistischen Aspekten indifferent: „Warburg hat begriffsgeschichtlich untersucht, welche von der Antike künstlerisch vorgeprägten Erlebnisformeln in der Kunst der Renaissance wieder aufleben. […] Es sind die Pathosgestalten der Antike – wie die Mänade, der von den Frauen zerrissene Orpheus, der von den Weibern beklagte Tote, die einem Verfolger entfliehen-wollende oder geraubte Frau – die in den Kunstwerken der Frührenaissancekünstler bald verkleidet, oft in völlig antikischer Weise uns begegnen.“ 25 Vgl. Davis (2011: 49): „to see representationality in an artifact, or to see it pictorial aspects, is to sense its resemblance to things“. 26 Vgl. Bal (1999: 12, Anm. 12), die sich auf ikonografische Untersuchungen der Auswirkungen der Patronage bezieht: „I am frustrated, in inverse proportion to this persuasiveness, by what it explains, namely, only the figural details that bear no relationship to what makes the image and image“. 27 Die eingangs erwähnten, nur scheinbar binären Bild-Vergleiche „schlucken“ das Spezifische, um nochmals Geimers Formulierung aufzunehmen, vor allem dadurch, dass sie die zwei gezeigten Bilder implizit in ikonografische Reihen wie den ‚Badewannen-Dusch-Code‘ einordnen. Hitchcocks Duschsequenz nimmt dabei im filmwissenschaftlichen Diskurs hinsichtlich seines kanonischen Status und der inhaltlichen Ausrichtung einen mit Manets Frühstück vergleichbaren Platz ein. Bleicher (2002: 121) etwa dient sie als Exemplifikation der Kategorie des Toposzitats: „Das Toposzi-
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tischen und motivischen Konstanten, […] in plötzlichen Assoziationen und Einfällen“ (Warnke 2000: ix). Über die inhaltliche Ausrichtung hinaus ist die Konzeptualisierung von Bildbezügen in der Ikonografie zweitens der Idee des Einflusses verpflichtet: „iconographic analysis tends to take the historical precedent as the source“ (Bal/ Bryson 1991: 206). Dieses Denkmodell hat eine Reihe von weiteren Zurichtungen des interpiktorialen Feldes zur Folge. Zunächst begünstigt es eine Orientierung an der künstlerischen Absicht, der Frage, ob ein bildender Künstler seine Quellen kannte und sich bewusst auf sie bezog28, und ist somit zu einem guten Teil verantwortlich für die „predominance of intentionalism in art history“ (Bal 1999: 11). Des Weiteren unterlässt es die Forschung zu ikonografischen Einflüssen zumeist, den interpretativen Mehrwert der von ihr aufgrund der zugrunde gelegten Intentionalität ja nur wieder-entdeckten Referenzen zu explizieren und belässt es bei ihrer bloßen Feststellung: „Iconographic analysis frequently avoids statements about the meaning of the borrowed motifs“ (Bal/ Bryson 1991: 207).29 Diese beiden Anwürfe gegen die Ikonografie als Einflussforschung scheinen bezüglich des Manet-Beispiels und seiner Präsentation bei Warburg zunächst ins Leere zu laufen. Denn dass Manet zumindest den Tizian/Giorgione sowohl kannte als auch bewusst heranzog, steht außer Frage. Und dass ein der bildlichen Argumentation, der Darlegung eines Bezugsverhältnisses zwischen Bildern durch deren Reihung verpflichteter Atlas keine Bedeutungsexplikation vornehmen kann, liegt in der Natur der Sache. Sowohl Intentionalismus als auch ‚Antisemantismus‘ beruhen jedoch auf der Gedankenfigur der Gerichtetheit von tat ist die Wiederholung einer Originalszene in einem neuen filmischen Zusammenhang. Zu den am häufigsten verwendeten Toposzitaten gehört die Duschszene aus Hitchcocks Psycho, die es selbst in eine Folge der Krankenhausserie Chicago Hope geschafft hat.“ 28 Die Relevanz dieser Frage – „whether or not a particular artist knew a particular painting or monument or written text“ (Minor 1998: 133) – ist aus Sicht einer Interpiktorialität als „Intertextualität in visuellen Medien“ (Rosen 2003: 161) vehement bestritten worden: „The discursive space within which the intertextual critic works does not regard artistic intention or artistic historical awareness as a necessary precondition for investigation“ (Minor 1998: 141). 29 Vgl. Rosen (2003: 162): „Weil diese [die Quellen- und Einflussforschung] die Kunstwerke allein unter der Fragestellung, woher bestimmte Elemente ‚kommen‘ und wovon sie ableitbar sind, betrachtet, ist sie genetisch orientiert“. Ähnlich Geimer (2010: 63): „Der Aufweis kunsthistorischer Vorbilder scheint hier zum Selbstzweck geworden zu sein. Jedenfalls bleibt ungeklärt, welche Aussage mit der formalen Analogie getroffen werden soll“.
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Referenzen, die für das Beispiel sehr wohl relevant ist. Die ‚Grammatik‘30 ikonografischer Bezüge ist einseitig und unidirektional, führt von der Quelle des Vorbilds zur Mündung im Nachbild – so viel verrät allein schon die Metaphorik des kunsthistorischen Diskurses.31 Auch Warburgs Atlas, dem er „den Titel ‚Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance‘ gegeben hat“ (Saxl 2000: xviii) bildet dazu in seinem Rekurs auf die sowohl verfahrenstechnisch als auch kulturökologisch zu verstehende Rede von der (Vor-)Prägung keine Ausnahme. Wenn Bals (1999: 2) rhetorisch gemeinte Frage zum Verhältnis von Vorgänger und Nachfolger in Bezügen zwischen Kunstwerken – „does ancient art have to be seen as having a foundational influence on everything that follows in its wake, to be seen as a source, as the traditional view would have it?“ – noch einer Antwort bedürfte, so müsste sie wohl lauten: „the author/artist need not have been aware of the texts that the critic chooses for comparison; influence need not be one-way, that is from the earlier to the later artists; and intertextuality need not be a linguistic process only“ (Minor 1998: 134, Anm. 14). Es gibt also ein Problem (die Proliferation von Bild-Bild-Bezügen und ihrer Bezeichnungen), das von traditionellen Konzepten nur unzureichend adressiert wird (von der Ikonografie als Lehre inhaltlicher Einflüsse), und es gibt einen Umschlagplatz verwandter Fragestellungen (das ‚Inter-‘ in Intertextualität und Intermedialität) – mithin sind alle Voraussetzungen dafür erfüllt, in einen neuen Begriff, den der Interpiktorialität, zu investieren.32 Doch trotz des durchaus vorhandenen Problem-Bewusstseins – „dass es in der Tat wünschenswert wäre, die Begrifflichkeit für die Benennung und Analyse von Bildbeziehungen zu systematisieren oder zumindest zu reflektieren“ (Gelshorn 2007: 57)33 – begeg30 Baxandall (1985: 58) spricht vom „wrong-headed grammatical prejudice about who is the agent and who is the patient“. 31 Vgl. Minor (1998: 132, Lisa Tickner zitierend): „We as art historians deal in certain traditional metaphors: the ‚fluvial ދmetaphor, ‚those of currents, sources, confluences, influencesދ, and heritage metaphors, ‚images of debt, exchange, borrowing, ancestors, kinship, and inheritance“ދ. ‚Exchange‘ scheint aufgrund der Implikation von Gegenseitigkeit freilich nicht so richtig in diese Aufzählung zu passen. 32 Vgl. Deleuze/Guattari (2000: 24): „Ein Begriff verlangt nicht nur ein Problem, unter dem er vorangehende Begriff umändert oder ersetzt, sondern einen Umschlagplatz von Problemen, an dem er eine Verbindung mit anderen koexistierenden Begriffen eingeht“. 33 Vgl. die Aufzählung bei Sitt/Horányi (1993: 10): „Von diesem [einem Vorbild] sollten dann, in der Sprache der Kunsthistoriker formuliert, noch Reflexe oder motivische
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nen Teile der Kunstgeschichte der Interpiktorialität mit ausgeprägter Skepsis. Die Zurückhaltung richtet sich dabei jedoch weniger auf die von diesem Begriff implizierten Be- und Entgrenzungen des interpiktorialen Feldes als auf den Begriff selbst: „Statt allerdings von den Problemen einer Übertragung von sprach- und textspezifischen Modellen auf visuelle Werke auszugehen, wird zuerst versucht, einen neuen Oberbegriff zu kanonisieren: So wähnen wir uns – noch bevor eine Reflexion darüber eingesetzt hat, ob es überhaupt eine Theorie der ‚Bezüglichkeit‘ von Kunst- und Bildwerken geben kann – mit einer bloßen Umbenennung nicht nur bereits ‚auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität‘, sondern wir finden auch die Begriffsvariante der ‚Interpikturalität‘ schon in kunstwissenschaftlichen Lexika.“ (Gelshorn 2007: 55)
Solch ‚kritische Berichterstattung‘ verkennt einmal mehr den terminologischen Charakter des Problems und die forschungslogische Funktion des Begriffs. So wenig sich die Verselbstständigung des vergleichenden Sehens methodenkritisch eindämmen lässt, so wenig lässt sich die Reichweite einer Theorie der Bildbezüge vorab methodisch umreißen34, denn deren Formulierung ist interdisziplinäre Arbeit am Begriff: „Konzepte statt Methoden“ (Schade/Wenk 2011: 65). Der Ort der Austragung der von Gelshorn angesprochenen Probleme der Übertragung von an Texten entwickelten Modellen und der Reflexion auf die spezifiAnklänge, Anleihen, Einflüsse erkennbar bleiben oder sich in Versionen, Überarbeitungen, Transformationen, Adaptierungen verwandelt haben. Dialog, Interaktion oder Referenz externer Impulse und Assimilation sind die heute gängigen Begriffe“. Diese Vielfalt ‚gängiger‘ Begriffe, zuzüglich Zitat, „metamorphotische[r] Umwandlungen“ und „formale[r] und inhatliche[r] Anspielungen“ (James Thompson zit. ebd. 21) dürfte die babylonische Verwirrung dieser Sprache zur Genüge verdeutlichen. 34 Vgl. Sitt/Horányi (1993: 20), die von methodischen Problemen auf einen problematischen Begriff schließen: „Die hier vor Augen geführte fast grenzenlose Weite des Problemfeldes, in dem auch das Zitat seinen klar begrenzten Platz finden müßte, macht unübersehbar auf die Vielfalt von ungelösten methodischen und definitorischen Problemen aufmerksam, die mit jedweden Überlegungen in diesem Themenbereich einhergehen müssen. […] Die Neueinführung eines weiteren problematischen Begriffs zur Beschäftigung mit Darstellungsformen der Kunst vor 1800 scheint schon aus diesem Grunde unangemessen“. Die Argumentationsweise erinnert an die ähnlich gelagerte frühe literaturwissenschaftliche Skepsis gegenüber der Intertextualität; vgl. etwa Stierle (1983: 21): „Die große Vielfalt möglicher Bezüge, unter denen Texte zu Texten in ein Verhältnis treten können, wird durch den Begriff der Intertextualität nicht erhellt, sondern eher verdunkelt“.
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sche Bezüglichkeit von Bildern ist kein disziplinäres, methodisch gebändigtes Territorium, sondern der Begriff der Interpiktorialität selbst.35
II. I NTERMEDIALITÄT
UND I NTERPIKTORIALITÄT
Während die Kunstgeschichte der Interpiktorialität einen Platz durch Verschiebungen ihres disziplinären Profils erst einrichten muss36, scheint die Intermedialitätsforschung in ihrem systematischen Zuschnitt wie geschaffen für ein solches Konzept. Als Verallgemeinerung von ‚Intertextualität‘ bzw. als Konsequenz der Verallgemeinerung des Textbegriffs in der Intertextualitätstheorie ist ‚Intermedialität‘ das folgerichtige Hyperonym für die zwei gleichsam symmetrischen Kohyponyme der Intertextualität und der Interpiktorialität. Die Kunstgeschichte begegnet diesem schon begriffslogisch nahe liegenden Anspruch auf das Feld der Interpiktorialität etwa mit dem Rückzug auf das Konzept der ‚Interartialität‘ (vgl. Moser 2007) und dem damit einhergehenden Versuch, die Rede von der Intermedialität auf Text-Bild-Beziehungen und neue, technische Medien einzuschränken,37 was nicht nur einer anachronistischen Selbstbeschränkung gleich
35 Vgl. Bal (2002: 13): „Concepts, I found over the years, are the sites of debate, awareness of difference, and tentative exchange“; sie spricht auch von „intercourse with and through concepts“. 36 Vgl. Rosen (2003: 406), die von „einer sich als ‚(historische) Bildwissenschaft‘ neues Profil gebenden Kunstgeschichte“ spricht, „die die Dichotomie von der sich für formale Aspekte interessierenden Form- bzw. Stilgeschichte auf der einen und der sich für die Bedeutungskonstitution im Werk zuständig erachtenden Ikonographie/Ikonologie bzw. Hermeneutik auf der anderen Seite aufbricht“. Wie gesagt bedeutet schon die Verschiebung des Fokus von Methoden auf Begriffe eine Abkehr nicht nur von disziplinären „Fundamenten des kunsthistorischen Arbeitens“ (Sitt/Horányi 1993: 20), sondern vom Modell der Disziplinarität selbst. 37 Vgl. die verschiedenen Fassungen des Eintrags ‚Interpikturalität‘ im Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: „Angesichts der Etablierung des Begriffs der ‚Intermedialität‘ nicht nur für ‚Beziehungen zwischen Zeichenkomplexen‘, die ‚Mediengrenzen überschreiten‘ […] – also zwischen Sprache, Musik, Theater, Tanz –, sondern gerade auch für die neuen technischen Medien, ist es sinnvoll, den Begriff der Interpikturalität auf visuelle Gattungen, die den traditionellen Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte ausmachen, einzuschränken“ (Rosen 2003: 163, Thomas Eicher zitierend); „Er [der Begriff der Interpikturalität] wird üblicherweise unterschieden vom Begriff der Intermedialität, der die Bezüge zwischen verschiedenen Medien (auch Text-Bild-Bezüge)
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kommt38, sondern auch gleich die im Begriff der Interpiktorialität angelegte Idee einer Bündelung der verschiedenen materialen Erscheinungsformen von Bildern unter einem Begriff verabschiedet. Kommt hinzu, dass das Bemühen um Abgrenzung einem Teilgebiet der Intermedialität gilt, dass es entgegen aller Logik gar nicht gibt: der Begriff ‚Interpiktorialität‘, so ließe sich wohl sagen, fehlt dort an seinem Platz. Der Grund für diese Leerstelle ist ein Kategorienfehler im Theoriedesign der Intermedialität, wie er etwa bei Rajewsky (2002) kodifiziert ist. Sie versteht unter ‚Medium‘ ein „konventionell als distinkt angesehene[s] Kommunikationsdispositiv“ (Werner Wolf zit. Rajewsky 2002: 7)39, wobei ihr Literatur, Film und Malerei als Beispiele dienen (ebd. 76, 157). Sodann differenziert sie zwischen ‚intermedialen Bezügen‘ als „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (=Einzelreferenz) oder das semiotische System (=Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln“ (ebd. 157) und ‚intramedialen Bezügen‘ als „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (=Einzelreferenz) oder auf ein oder mehrere Subsystem(e) des gleichen Mediums bzw. auf das eigene Medium qua System (=Systemreferenz)“ (ebd. 76). Ausgehend von dieser Differenzierung ist die Einordnung intertextueller Bezüge als intramedial (nicht nur terminologisch) widersprüchlich: „‚Intertextualität‘ [stellt] nur einen Sonderfall intramedialer Bezugnahmen und somit den Sonderfall einer Subkategorie des Intramedialen dar“ (ebd. 14). Denn wenn Literatur ein Medium im genannten Sinne ist (was keinesfalls als ausgemacht gelten kann40) und Intertextualität nur innerhalb eines solchen Mediums begegnet41, bezeichnet und besonders die neuen, technischen Medien in den Blick nimmt“ (Rosen 2011: 208). 38 Vgl. Bredekamp (2011: 72): „Die Kunstgeschichte des 19. Jh. hat ihre Methoden zwar an den komplexesten Gebilden der sog. Hochkunst entwickelt und geschärft, keinesfalls aber auf diesen Werkkreis beschränkt; vielmehr wurden in Teilbereichen der kunsthistorischen Praxis auch nicht-künstlerische Bilder aller Art eingeschlossen“. 39 Ebd. zur Begriffsgeschichte d(ies)es Medienbegriffs; vgl. unverändert Wolf (2005: 253): „intermediality deals with media as conventionally distinct means of communicating cultural contents“. 40 Vgl. dazu in vorsichtiger Annäherung Gumbrecht (1998: 83): „natürlich lassen sich die beiden Begriffe, die zur Diskussion stehen, ‚Medium‘ und ‚Literatur‘, etwas gegen den Strich der vorherrschenden Bedeutungen so festlegen, daß ‚Literatur‘ als ein ‚Medium‘ erscheint“. Dem Medienbegriff des Sammelbandes folgend, in dem sein Aufsatz erschien, versucht er sodann, Literatur als ‚Medium‘ im Sinne der „Konvergenz
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dann können sich intertextuelle Referenzen nur zwischen literarischen Texten ereignen – oder zwischen Exemplaren jeder anderen sinnvoll konstruierbaren Gruppe von Texten –, nicht jedoch zwischen Elementen verschiedener textueller ‚Medien‘. Dies würde bedeuten, den Bezug eines enzyklopädischen Romans auf ein online publiziertes Gedicht intertextuell zu nennen, nicht jedoch die Referenz einer in einer (literarischen) Zeitschrift erschienenen Kurzgeschichte auf eine Nachricht in der Tageszeitung. Tatsächlich werden nicht-literarische Texte bei Rajewsky gar nicht erst erwähnt. Mit dem exklusiven Rekurs auf die Literatur als einziger Sprach-Kunst, fällt der so umrissene Intertextualitätsbegriff – und mit ihm der implizierte ‚symmetrische‘ Interpiktorialitätsbegriff – noch hinter das kunstwissenschaftliche Interartialitätskonzept zurück auf ein Modell der Intra-Artialität, wie die Beispielkette für intramediale Bezüge verdeutlicht: „z.B. Bezüge eines literarischen Textes auf einen bestimmten Einzeltext, ein literarisches Genre oder die Literatur qua System; entsprechend Film-Film-, MalereiMalerei-Bezüge“ (Rajewsky 2002: 76). Nicht einmal mehr „nicht nur gemalte Bilder, sondern allgemein Werke der bildenden Kunst“ (Zuschlag 2006: 90, Anm. 5), sondern nur noch „Malerei-Malerei-Bezüge“ wären der Gegenstandsbereich einer analog zur (literarischen) Intertextualität formulierten Interpiktorialität. Statt Inter-Piktorialität (wie Inter-Textualität) vor dem Hintergrund eines Begriffs von Medien als „Konstellationen von Faktoren […], die über eine große Zahl von Zeichenprozessen hinweg gleich bleiben“ (Posner 2008: 43)42, als eines je bestimmten Typs von ‚Fernanwesenheit‘ mit einem je bestimmten Bündel von ‚Zusicherungs-Verhältnissen‘“ (ebd. 84) darzustellen. Wie anspruchsvoll diese Aufgabe ist, mag man am durchgehenden Gebrauch von Anführungszeichen um das Medium ‚Literatur‘ ablesen („Genealogie des Mediums ‚Literatur‘“, ebd. 87; „den Beginn der historischen Kontinuität des Mediums ‚Literatur‘“, ebd. 91; „Begriff des Mediums ‚Literatur‘“, ebd. 96 et pass.). 41 Vgl. die Gleichung „[intramediale] Einzelreferenz = Intertextualität (im Falle von Text-Text-Bezügen)“ (Rajewsky 2002: 76). 42 Was dann ein ‚konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv‘ sei, hängt von vielen Variablen ab: „So sagt man, zwei Zeichenprozesse finden in demselben Medium statt, wenn sie beim Empfänger dieselbe Sinnesmodalität beanspruchen (z.B. das Ohr), wenn sie sich derselben Kontaktmaterie (physischer Kanal) bedienen (z.B. der Luft), wenn sie Geräte mit derselben Technik (technischer Kanal) einsetzen (z.B. ein Telefon), wenn sie in derselben gesellschaftlichen Institution auftreten (z.B. in einer Feuerwehrstation), wenn sie gleichartigen Funktionen dienen (z.B. der Übermittlung von Hilferufen), oder eben wenn sie denselben Code verwenden (z.B. die englische Sprache)“ (Posner 2008: 43).
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intra-medial zu begreifen, bietet es sich für eine Theorie der Interpiktorialität, die ihren Namen verdient und auch „mit intermedialen Referenzen, beispielsweise mit Bezugnahmen auf die Malerei in der Photographie und im Film“ (Zuschlag 2006: 99) umzugehen weiß, an, sich auf das Konzept des Basismediums ‚Bild‘ zurückzuziehen.43 Interpiktorial wären dann Bezüge zwischen Bildern, ungeachtet der Frage, ob diese Referenzen die Grenzen zwischen als verschieden wahrgenommenen Medien überschreiten oder nicht. Und jenseits der interpiktorialen und intertextuellen Phänomene bliebe dann in der Tat das eigentlich intermediale Feld der Bezüge zwischen verschiedenen Basis-Medien übrig, ob diese sich nun als Medienkombination44 oder als altermediale Referenz45 ereignen. Die (zumindest terminologische) Isolation von Bild-Bild-Bezügen ist dabei natürlich eine analytische Fiktion, da Bilder meist in intermedialen Kontexten begegnen (im Falle der Malerei etwa begleitet von Bildtiteln)46; die Funktion dieser intermedialen Begleitung interpiktorialer Bezüge ist jedoch häufig die von Lesehilfen, die in expliziter (sprachlicher) Form auf Referenzen zwischen Bildern aufmerksam machen.47
43 Vgl. für den Begriff sowie verschiedene Ensembles von Basismedien und deren Bezeichnungen, unter denen ‚Bild‘ bzw. ‚Bilder‘ die einzige Konstante sind, Schanze (2001: 211; Bild, Ton, Zahl, Buchstabe), Schanze (2002: 200; Bild, Text, Ton), Mersch (2003; Wort, Bild, Ton, Zahl); Coy (2005; Schrift, Bilder, Zahlen). 44 Vgl. Rajewsky (2002: 157): „z.B. Photoroman, Klangkunst, Oper, Film“. 45 Vgl. Rajewsky (2002: 157): „z.B. Bezüge eines literarischen Textes auf einen bestimmten Film, ein filmisches Genre oder auf den Film qua System; entsprechend Bezüge eines Films auf die Malerei, eines Gemäldes auf die Literatur usw.“; freilich haben Bezüge auf die Malerei von Seiten des Films, der ja seinerseits das Resultat einer Kombination von Basismedien ist, meist interpiktorialen Charakter. 46 Vgl. Mitchell (2007: 399): „one corollary of the claim that ‚there are no visual media,ދ is that all media are mixed media“. 47 Interpiktoriale Bezüge können eben Beispiele ‚verdeckter Intermedialität‘ sein, bei der „eine bestimmte Dominanzbildung stattfindet, so dass ein nicht-dominantes Medium als Folge eines Medienwechsels im dominanten Medium eines Werkes aufgeht, von diesem quasi verdeckt wird und deshalb an der Werkoberfläche nicht mehr in jedem Fall erkennbar ist“ (Wolf 2008a: 327). Die Erkennbarkeit derart ‚verdeckter‘ Referenzen kann dann durch deren ‚Thematisierung‘ expliziert werden: „In der Regel bedarf es zur Erkennbarkeit der Intermedialität hierbei einer ‚Lesehilfe‘ (in paratextuellen Hinweisen, Bildunterschriften o.ä.)“ (ebd.). Solche thematisierende Explikation, so ließe sich vermuten, lässt sich sprachlich einfacher bewerkstelligen (durch Erwähnung) als mit bildlichen Mitteln.
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Eine Ablösung des Interpiktorialitätsbegriffs von dem des Einzelmediums zugunsten einer Anbindung an das Basismedium ‚Bild‘ stellt dann auch das in der Intermedialitätsforschung formulierte Verhältnis von Einzel- und Systemreferenz als eines der „Indizierung“ (Rajewsky 2002: 73)48 in Frage, da diese vor allem aufgrund medialer Differenzen angenommen wird.49. Ohne Mediendifferenz markiert der Bezug auf ein spezifisches Einzelbild eben nicht „gleichzeitig immer auch“ (ebd.) einen Bezug auf das mediale System, „dessen sich das aufgerufene Produkt bedient“ (ebd.), oder zumindest geht er nicht darin auf. Zweifellos sind Bilder zwar entgegen gängiger logozentrischer Vorurteile der Systemreferenz, der Meta-Piktorialität fähig50; und zweifellos besteht eine gewisse Nähe zwischen Phänomenen der Inter- und der Meta-, der Fremd- und der SelbstReferenz51. Das heißt jedoch nicht, dass interpiktoriale Bezüge keine Bedeutung jenseits der Indizierung metapiktorialer Bezüge hätten 52 oder dass sich eine Typologie von Formen der Systemreferenz wie bei Rajewsky (2002: 157) ohne Umstände auch auf Formen der Einzeltextreferenz übertragen ließe53. Ebenso ist zu fragen, ob nicht Phänomene der Referenz „auf ein oder mehrere Subsysteme“ (ebd. 157) eine gesonderte Behandlung verdienen, da sie „auf einer mittleren Ebene“ (Suerbaum 1985: 59) zwischen Einzel- und Systemreferenz stattfinden: 48 Dies geht so weit, dass die Typologie von Formen der intermedialen Bezüge dann überhaupt nur noch anhand der Systemreferenz entwickelt wird (Rajewsky 2002: 157). 49 Nach Rajewsky (2002: 73) „kommt es aufgrund der Mediendifferenz gleichzeitig immer auch zu einer Thematisierung bzw. Indizierung des medialen Systems“. 50 Vgl. Frank/Lange (2010: 67) zur angenommenen „Eigenart der Bilder“ aus sprachlogischer Sicht, der zufolge aus der „Unfähigkeit zur ‚generalisierenden Abstraktion‘ […] auf die Unmöglichkeit einer Kommentarfunktion sowie jeder anderen MetaEbene im Bild geschlossen“ wird. 51 Vgl. Wolf (2008b: 495) zur Metatextualität als „Sonderfall der umfassenderen textuellen Selbstreferenz, die sich auch auf Intertextualität […] erstreckt“. Ähnlich Rose (2011: 52, Anm. 127), die mit Werner Wolf von „metareference as ‚a special transmedial form of self-reference “ދspricht. Neben dem Lemma ‚Interpikturalität‘ zeichnet Rosen folgerichtig auch für das der ‚Selbstbezüglichkeit‘ verantwortlich. 52 Vgl. Wolfs (2008b: 495) vorsichtige Formulierung, dass sich Metatextualität „auf Teile oder die Gesamtheit eines oder mehrerer anderer Texte [beziehen] (und damit auch bes. Formen der Intertextualität wie die Parodie charakterisieren) [kann]“. Ähnlich Rose (2011: 51, Anm. 124): „distinguish between parody and metafiction, but also investigate ways in which parody can be used for metafictional purposes“. 53 Die Schwierigkeiten der Übertragung sind augenfällig für die Kategorie der ‚Systemkontamination‘ (Rajewsky 2002: 118-149).
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„Es fragt sich, wie eine solche Spielart der Intertextualität, die ihren Sitz weder im generellen Dialog der Texte noch notwendigerweise in der konkreten Einzelbeziehung zu haben scheint, beschaffen ist und wie sie sich erfassen lässt“ (ebd. 60). Dies gilt umso mehr, als mit Bezug auf Bilder die Kategorie der Gattung (ebd.) bzw. des Genres (Rajewsky 2002: 76, 157) nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der beste Kandidat auf dieser mittleren Ebene ist. Benari (2003: 161, 172-173) etwa führt auf der Ebene der architextuellen Konzepte54 neben ‚Genre‘ u.a. ‚School‘ an, das ausschließlich am piktorialen Beispiel des Impressionismus erläutert wird.55
III. V ISUELLE K ULTUR
UND I NTERPIKTORIALITÄT
Während Kunstgeschichte und Intermedialitätsforschung sich gewissermaßen mit dem ‚Inter-‘ schwer tun (mit der Inter-Disziplinarität der Arbeit an einem Begriff der Inter-Piktorialität und mit dem möglichen inter-medialen Charakter inter-piktorialer Bezüge), ist für die „Studien zur visuellen Kultur“ (Schade/ Wenk 2011), die ‚-piktorialität‘ problematisch. Zwar treffen sich Interpiktorialität und Visuelle Kultur in ihrer Ablehnung der Fokussierung auf das vereinzelte, zum Kunst-Werk stilisierte Bild56, letztere geht jedoch über das Feld der Bilder
54 Zu Architextualität als (Genette’schem) Synonym zur (Sub-)Systemreferenz vgl. Müller-Muth (2008: 30): „Mitunter treten Termini wie ‚Systemreferenz‘ oder ‚Gattungsintertextualität‘ an die Stelle der Architextualität“. 55 Vgl. die Erläuterungen zur Relation ‚Is acknowledged as a category of which X is a member‘: „A relation between an abstract category (Archi-Text) and a Text being associated with that category (e.g. a specific Genre and a particular Text regarded as belonging to that Genre, a specific School and a particular Text regarded as representing that School or as exemplifying its principles“ (Benari 2003: 69); sowie das bebilderte Beispiel (ebd. 70): „Bench (Manet, Edouard, 1868?), The Boat Studio (Monet, Claude, 1876) and The Canal du Loing at Moret (Sisley, Alfred, 1892) are all acknowledged as impressionistic paintings“. 56 Vgl. Falkenhausen (2007: 4): „den Visual Culture Studies ist sie [die Kunstgeschichte] zu elitär, ästhetisch, unpolitisch, kolonial, national westlich hegemonial, bildungsbürgerlich und künstlergenialisch ausgerichtet“; sowie Frank (2006: 39, meine Hervorhebung): „Heutiger Kritik jedenfalls erscheint dergleichen Konzentration auf ein Bild, das zählt, als verantwortlich für eine Unfähigkeit der Gesellschaft, mit denjenigen Bildern umzugehen, die man kaum mehr zu zählen vermag“.
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hinaus, um zu einer Untersuchung von „visual practices across all boundaries“ (Elkins 2003: 7) zu gelangen. Ihr Gegenstand ist „nicht ‚das Bild‘, sondern ein umfangreiches Konglomerat von Artefakten (z.B. Kunstwerken, Gebäuden, Tele- und Mikroskopen, Land-, See- und Sternenkarten), sozialen Praktiken (z.B. neurowissenschaftlichen Versuchsanordnungen, Denkmälern, Museen, Rundfunk- und Fernsehsendungen) und kulturellen Redeformen (z.B. philosophischen, kunsthistorischen, kunstkritischen, medienwissenschaftlichen)“. (Frank/Lange 2010: 1011)
Visuelle Kulturen sind nicht nur Bildkulturen und (Inter-)Visualität nicht nur (Inter-)Piktorialität.57 Dies bedeutet nicht unbedingt eine Infragestellung der Zentralität von Bildern für visuelle Kulturen, die, wenn auch etwas widerwillig, durchaus anerkannt bleibt; in Frage steht jedoch die Möglichkeit eines Verstehens von Bildern aus ihrer Piktorialität, die nunmehr als eingelassen in größere Kontexte der Visualität erscheint: „Damit ist nicht gesagt, dass das symbolische Medium Bild bzw. konkreter: die uns begegnende Vielzahl an Bildern, nicht eine herausgehobene Position innerhalb der visuell wahrnehmbaren Phänomene einnehmen können. […] Bilder sind jedoch prinzipiell eingebettet in Praktiken des Blickens, Zu-Sehen-Gebens, der Repräsentation, die zum Teil auch ganz ohne materielle Fixierung ihre Wirkung entfalten. [… S]ie [sind] ein – wenn auch besonderer – Teil im Beziehungsfeld von Kultur und Visualität.“ (Rimmele/Stiegler 2012: 9-10)58
Im Zeichen visueller Kultur sollen Bilder (all)umfassend kontextualisiert werden: „Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben“ (Schade/Wenk 2011: 53), heißt die Losung, die sich „gegen die Vorstellung einer unmittelbaren Verständlichkeit von Bildern“ (ebd. 8) wendet. Das damit verbundene Versprechen schlägt sich in der Metaphorik der Ausführungen nieder: Bilder sollen ‚einge-
57 Vgl. Bal (2002: 46): „iconicity cannot be equated with visuality“; Davis (2011: 10) spricht in diesem Zusammenhang von den „visualist prejudices of art history“: „they encourage us to believe that its primary object of study must be visual artifacts and ways of seeing them in the past and present“. 58 Vgl. ganz ähnlich die Betonung von „Praktiken des Zu-Sehens-Gebens“ bei Schade/ Wenk (2011: 9), die „gegen die Isolierung von einzelnen Bildern in der Analyse“ (ebd. 8) gerichtet sei.
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bettet‘ werden und ‚Teil sein‘, sollen verständlich werden nicht aus sich selbst, sondern aus dem, was sie umgibt, aus ‚ihren‘ Kontexten.59 Über die gegenüber solchen Versprechen der Kontextualisierung grundsätzlich angeratene Vorsicht hinaus60, gerät dabei vor allem aus dem Blick, dass es zwischen dem einzelnen Bild und (s)einer visuellen Kultur61 noch ein Bezugsfeld gibt, das nicht nur die Gestalt einzelner Bilder maßgeblich prägt, sondern die ‚uns begegnende Vielzahl an Bildern‘ allererst zu ordnen erlaubt: das der Interpiktorialität. Die Art und Weise, in der Bilder zu sehen geben, verweist auch oder vielleicht sogar in erster Linie auf andere Bilder.62 Ein Beispiel aus einem besonders kontextgläubigen Feld, den Science and Technology Studies, mag dies verdeutlichen: das der funktionalen Gehirnbilder. Bereits Ende der 1980er Jahre wurden etwa PET-Aufnahmen der Gehirnaktivität beim Hören, Sprechen, Sehen oder Denken generiert63, die etwas sichtbar machten, dass es ohne einen neuro-
59 Vgl. die Formulierung bei Frank/Lange (2010: 10, meine Hervorhebungen), der zufolge visuelle Artefakte „in ihren historisch veränderlichen kulturellen Kontexten zu erforschen“ seien. 60 Vgl. Bal/Bryson (1991: 176-177): „When a particular work of art is placed ‚in contextދ, it is usually the case that a body of material is assembled and juxtaposed with the work in question in the hope that such contextual material will reveal the determinants that make the work of art what it is. Perhaps the first observation on this procedure […] is a cautionary one: that it cannot be taken for granted that the evidence that makes up ‚context ދis going to be any simpler or more legible than the visual text upon which such evidence is to operate“. 61 Vgl. die plakative Gegenüberstellung bei Frank (2006: 51): „Im deutschen Sprachraum steht das einzelne Bild und die philosophisch fundierte Tradition seiner Auslegung im Vordergrund, während im anglo-amerikanischen aber auch im französischen Sprachraum Kultur und Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer visuellen Verfaßtheit thematisch werden“. 62 Auch diese Gedankenfigur ist aus der Intertextualitätsdiskussion (avant la lettre) wohl vertraut; vgl. etwa schon Brunetière (1898: iii-iv): „je n’ai pas négligé de noter les autres influences, celles que l’on plaît d’ordinaire à mettre en lumière, influence de race, ou influence de milieu; mais, considérant que de toutes influences qui s’exercent dans l’histoire d’une littérature, la principale est celles des œuvres sur les œuvres […] Il ne faut pas multiplier inutilement les causes, ni, sous prétexte que la littérature est l’expression de la société, confondre l’histoire de la littérature avec celle des mœurs. Elles sont bien deux“. 63 Vgl. etwa die „PET Scans of Left-Brain Function“ einer Forschergruppe um Michael Posner von 1987 („Posner and his group at Washington University in St. Louis, Mis-
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wissenschaftlichen Diskurs über die Lokalisierbarkeit von Funktionen des Gehirns ebenso wenig geben könnte wie ohne dessen apparative Vermessung durch das neue bildgebende Verfahren. Doch trotz der offenkundigen Kontextabhängigkeit solcher Aufnahmen, die auf der Grundlage von Vorannahmen aus gewonnenem Datenrohmaterial errechnet werden, bleibt vieles an den resultierenden Bildern unabhängig von den technischen Parametern ihrer Produktion. Sie sind vielmehr wesentlich anderen Typen von Wissenschaftsbildern, etwa astronomischen, verpflichtet. Zum Beispiel werden unterschiedliche Aktivitätsgrade farblich gemäß einer Skala dargestellt, die von maximaler Intensität in Rot bis zu minimaler in Blau reicht,64 also einer konventionellen Farbcodierung folgt, die von den diversen Rot-(und Blau-)Verschiebungen (Doppler-Effekt, kosmologische Rotverschiebung usw.) vertraut ist, auch wenn Wellenlängenänderungen in diesem Falle überhaupt keine Rolle spielen. Auch wissenschaftliche Bilder sind deshalb ästhetische Gegenstände, die „im Hinblick auf Stile, Bildtraditionen, ‚visuelle Referenzen‘ und Darstellungskonventionen“ (Heßler 2004: 36), kurz: interpiktoriale Bezüge, untersucht werden sollten, und nicht bloße Produkte einer technoszientifischen Zurichtung, einer Vermessung der neuronalen Wirklichkeit kognitiver Funktionen, die Bild gibt. Mehr noch: solche Verfahren sind bildgebend nur insofern das, was sich in ihnen ‚niederschlägt‘, von vornherein nur mithilfe von Bildern konzipiert, das heißt, nur piktorial gedacht werden kann. Sie machen eine Realität sichtbar, die schon als Bild und auf das Bild hin angelegt ist. Jedoch erscheint unter den kontextualistischen Vorzeichen der (Visual Culture) Studies das (Wissenschafts-)Bild stets als – wenn auch besonderer – Teil, als Resultat einer Nachbearbeitung von Mess- oder Wahrnehmungsdaten, die ihm vorausgehen. In dieser Betonung der partikularen Rolle vom Bildern, ob am Prozess der Sichtbarmachung des Unsichtbaren im Speziellen oder im Feld dessen, was es zu sehen gibt, im Allgemeinen, bleibt ein solcher Ansatz einem engen (Inter-)Piktorialitätsbegriff verhaftet. Bild ist ihm nur eine Art und Weise der Materialisierung, Realisierung oder Instanziierung dessen, was nicht Bild ist. Ein interpiktorialer Ansatz wirft hingegen die Frage nach der Kolonisierung der Visualität durch das Bild auf, die Frage danach, ob nicht der Bezug von Bildern auf Bilder als Modell von visuellem Weltbezug überhaupt fungiert: „when the world is a picture, to see it is to see what depiction has configured“ (Davis 2011: 231). Ein weiter Interpiktorialitätsbegriff scheint dort auf, wo „tosouri, were among the first to develop PET scanning clinical procedures“) in Robin (1993: 145). 64 Vgl. Robin (1993: 145): „The computer images are color enhanced in accordance with the ‚Max-Min ދscale, at the right, which serves as an indicator of the functional intensity“.
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pographische Amnesie“ (Virilio 1989) und „hermetische Abdrift“ (Eco 1995: 426) zusammenkommen: einerseits gibt es eine „massive[n] Bildproduktion, die darauf zielt, die Wahrnehmungsformen des Subjekts zu prägen, zu bestimmen und ökonomisch zu nutzen“ (Rimmele/Stiegler 2012: 93)65, andererseits „sind wir in eine potentiell endlose Folge von Darstellungen verwickelt, in welcher der Platz des Referenten immer wieder von einer weiteren Darstellung besetzt wird“ (Rheinberger 2001: 112)66. Das Konzept der Interpiktorialität wirft so – wie das der Intertextualität vor ihm – die Frage auf, ob nicht imitatio veterum und imitatio vitae, „der Textbezug und der Wirklichkeitsbezug von Texten“, „miteinander vergleichbare Phänomene sind“ (Broich 1985b: 48), oder gar jeder bildliche Versuch, sich auf eine ‚Wirklichkeit‘ außerhalb des Bildes zu beziehen, ein aporetisches Unterfangen darstellt.67 Samoyault (2001: 83-87) hat in diesem Zusammenhang angeregt, das die „inadéquation fondamentale du langage et du réel“ (Barthes 1978: 22) kompensierende intertextuelle Spiel als Referenzialität zu bezeichnen. In ihr treffen sich Referenz („la façon dont la littérature renvoie à elle-même“, Samoyault 2001: 77) und Referentialität („le lien de la littérature avec le réel“, ebd.), um einen Realitätseffekt („effet-monde“, ebd. 94) zu zeitigen: „L’intertextualité invite à bousculer quelque peu cette distinction en introduisant un troisième pôle, pour lequel nous proposons le néologisme de référencialité, […] qui correspondrait bien à une référence de la littérature au réel, mais 65 Vgl. Virilio (1989: 37-38): „Als es noch ein topographisches Gedächtnis gab, konnte man von Generationen des Sehens und sogar von einer Vererbung des Sehens von einer Generation zur nächsten sprechen. Die Entstehung der Logistik der Wahrnehmung und ihrer wieder zum Leben erweckten Delokalisierungsvektoren der geometrischen Optik führte dagegen zu einer Eugenik des Blicks, zu einer sofortigen Abtreibung der Vielfalt von mentalen Bildern und der Vielzahl von Bild-Geschöpfen, die dazu verurteilt waren, nicht mehr auf die Welt zu kommen und niemals irgendwo das Tageslicht zu erblicken.“ Die von Virilio so beschriebene Schwelle wird wohl spätestens überschritten, wenn sich die „Standardisierung des Blickes“ (ebd. 42) nicht mehr nur auf das mikro- und makroskopisch nicht Sichtbare oder das zeitlich und räumlich Entfernte erstreckt, sondern auch auf die „Lebensbilder[n] der Gegenwart“ (Krüger 2005: 90). 66 Vgl. Eco (1995: 427, Peirce zitierend): „Die hermetische Semiose erinnert an Peirce’ unbegrenzte Semiose […]:‚The meaning of a representation can be nothing but a representation. […] So there is an infinite regression here“ދ. 67 Vgl. für intertextuelle Bezüge Samoyault (2001: 78): „La littérature ne parle pas du monde, mais d’abord d’elle-même, mettant en évidence l’hétérogénéité fondamentale du réel et du texte. […] C’est l’aporie de toute entreprise référentielle à caractère littéraire“.
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médiée par le référence proprement intertextuelle“ (ebd. 83). Intertextualität (und analog Interpiktorialität) wäre dann „le jeu de la référence comme lieu intermédiaire entre le texte et le monde“ (ebd. 87). Sofern sich in der Differenz von engem/schwachem und weitem/starkem (Inter-)Piktorialitätskonzept, also der Differenz zwischen solchen Ansätzen wie den Visual Culture Studies, die im Bildermachen eine visuelle Praxis unter vielen sehen, und solchen wie der kurz umrissenen verallgemeinerten Interpiktorialitätstheorie, die in Bildern und ihren Relationen Weltverhältnisse beschlossen sehen, so verläuft die Trennlinie oder das Grenzgebiet nicht zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ontologie und Analyse, wie vielfach für Intertextualitätstheorien behauptet.68 Beide Spielarten der Beschäftigung mit Bildern und ihren Beziehungen beruhen auf theoretischen Setzungen und leiten zugleich Praxen der Analyse an. Ihre Unterschiede liegen eher in den je spezifischen methodi68 Vgl. Aczel (2008: 330): „Grundsätzlich sind zwei Kategorien von I[ntertextualitäts]T[heorien] zu unterscheiden. In der einen wird I[ntertextualität] als deskriptiver Oberbegriff für herkömmliche Bezugsformen von Texten verstanden, in der anderen in einem umfassenderen ontologischen Sinn zur qualitativen Bezugnahme auf sämtliche Arten von bedeutungstragenden Äußerungen verwendet“; ähnlich Gelshorn (2007: 56): „Zwar wird das sprachontologische Modell der Intertextualität immer referiert, letztlich bedient man sich aber dann doch lieber bei der textanalytischen Variante“. Die Unterscheidung ist schon in der frühen Intertextualitätsdebatte geläufig (vgl. etwa die Hinweise in Pfister 1985: 15). Zutreffend ist, dass die „conceptions extensives“ (Samoyault 2001: 8) eher ein linguistisches, die „conceptions restreintes“ (ebd. 18) ein poetologisches Projekt sind. Allerdings gelangen nicht alle sog. ontologischen Theorien zu einem verallgemeinerten/starken Textbegriff im dargelegten Sinne (vgl. etwa Bachtin 1979a: 120: „all dieser Bewegung und diesem Kampf im Rahmen des rein literarischen Kontextes liegt der wesentlichere, bestimmende primäre Kampf mit der Wirklichkeit von Erkennen und Handeln zugrunde“); umgekehrt kann ein von Genette inspiriertes formalisiertes Modell intertextueller Bezüge (eine ‚Ontologie‘ im Sinne eines Entitäten-Relationen-Netzes) zu einer Einordnung von „extra-textual relations“, verstanden als „Relations between a particular Text and non-fictional elements (A Historical Context, a Data/Explanatory Text, or a Discourse) having an effect on it“ (Benari 2003: 44) als Unterform von „intertextual relations“ gelangen. Genette (1982: 11) hatte sich diese Möglichkeit nur tentativ offen gehalten (in einer Fußnote und mit einem in Klammern gesetzten Hinweis, dass sein Interesse daran allenfalls indirekt sei): „J’aurais peut-être dû préciser que la transtextualité n’est qu’une transcendance parmi d’autres; du moins se distingue-t-elle de cette autre transcendance qui unit le texte à la réalité extratextuelle, et qui ne m’intéresse pas (directement) pour l’instant – mais je sais que ça existe“.
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schen und konzeptuellen Problemen begründet, die sich aus der Annahme eines be- bzw. ent-grenzten Feldes der Bildlichkeit ergeben. Dies betrifft auf der einen Seite den Zugang zu solchen Praktiken, die „ganz ohne materielle Fixierung“ (Rimmele/Stiegler 2012: 10) auskommen, sowie die Schwierigkeit, inmitten der kontextuellen ‚Einlassung‘ von Bildern zugleich deren Macht, ihre (Rück-)Wirkung auf jene visuellen Praktiken zu denken, in die sie ‚eingebettet‘ sind; auf der anderen Seite wird sich eine generalisierte Theorie der Interpiktorialität mit zwar verkörperten, aber flüchtigen visuellen Phänomenen ebenso schwer tun wie mit einer Berücksichtigung von beispielsweise anthropologischen Grundlagen des Sehens.
IV. V ON DER I NTERTEXTUALITÄT I NTERPIKTORIALITÄT
ZUR
Aus den Überlegungen in den vorangegangenen drei Abschnitten ergibt sich, dass sich Anknüpfungspunkte für eine Theorie der Interpiktorialität vor allem in der Intertextualitätstheorie finden. Sie stellt ein reisetaugliches, gewissermaßen ‚vazierendes‘ Konzept zur Verfügung69, das einen verwandten, ähnlich organisierten Phänomenbereich umreißt70 und zur Ausarbeitung eines durchaus übertragbaren Sprachspiels geführt hat71. Daraus ergibt sich eine Konzeption, die sich von der kunstgeschichtlich angeleiteten inhaltistischen und gerichteten Vorstel-
69 Vgl. Samoyault (2001: 7): „Après avoir été produit dans le contexte du structuralisme et des études sur la production textuelle, le concept a ‚migré ]…[ ދdu côté de la poétique et a subi une étonnante inflation de donnés définitionnelles“. Im Zeichen dieser ‚Inflation‘ stellt die Transformation in einen Begriff der Interpiktorialität nur eine weitere Etappe auf der interdisziplinären Reise der Intertextualität dar. 70 Vgl. Bryson (1988: 187): „To think of paintings as mutually interpenetrating is to discover in the realm of the image the same phenomenon of mobile intertextuality […]. The logistics are indeed similar in both domains“. 71 Ein frühes Beispiel der Übertragung der Redeweise auf Bilder findet sich bei Crimp (1979: 87): „Those processes of quotation, excerptation, framing, and staging that constitute the strategies of the work I have been discussing necessitate uncovering strata of representation […]: underneath each picture there is always another picture“; vgl. dazu Kristevas (1969: 145-146) Formulierung bzgl. (sprachlicher) Texte: „le mot (le texte) est un croisement de mots (de textes) où on lit au moins un autre mot (texte) […]: tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte“.
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lung von Interpiktorialität ebenso unterscheidet wie von der intramedialen und metaisierenden der Intermedialitätsforschung und der schwachen und eingeschränkten der Visual Culture Studies. Gegen die Fokussierung auf Bildinhalte allein betont Interpiktorialität die Möglichkeit formaler Bild-Bild-Bezüge. Damit soll weder die Benennung der beiden Aspekte oder Momente festgelegt werden, noch soll geleugnet werden, dass sie in jedem Fall aufeinander bezogen sind. Ob nun von Inhalt oder Gegenstand und von Form oder Stil die Rede ist, ist nicht entscheidend; zudem ist klar, dass es keine „strenge Trennung von gehaltlichen Ausdrucksmomenten und formalen Darstellungsmomenten“ (Panofsky 1974a: 20) geben kann.72 Dass es eine Semantisierung der Form geben kann73 und sich „Form, Material sowie Inhalt als wechselseitig bedingt ansehen“ lassen (Markschies 2011: 127) ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, einen „Schlussstrich unter die Debatte der Dichotomie von Form und Inhalt“ (ebd.) ziehen zu können. Es geht vielmehr 72 Bei Panofsky (1974a: 22-25) nimmt die Kritik an der binären Gegenüberstellung von Form und Inhalt bei Wölfflin die merkwürdige Wendung, dass sie in eine Unterscheidung von Form und Gegenstand überführt wird. Zunächst referiert er die Differenzierung bei Wölfflin („Inhalt ist ihm [Wölfflin] das, was selbst Ausdruck hat – Form das, was dem Ausdruck bloß dient“, ebd. 22-23); dann kritisiert er sie („gewiß greift die ‚Formung‘ […] mit konstitutiver Kraft auf die ‚Inhalts‘-Sphäre über“, ebd. 24); schließlich ersetzt er sie durch eine ähnlich gelagerte: „Da diese Überlegung uns bestimmen muß, die von Wölfflin vorgeschlagene Unterscheidung von Form und Inhalt fallen zu lassen, so werden wir zu der handwerklicheren, von der Kunstphilosophie freilich keineswegs immer verschmähten Unterscheidung zwischen Form und Gegenstand zurückzukehren haben, die mit Recht den Begriff der Ausdrucksbedeutsamkeit ganz aus dem Spiele läßt, und mit ‚Form‘ einfach das ästhetische Moment dessen bezeichnet, was nicht Gegenstand ist, d.h., was nicht durch einen objektiven Erfahrungsbegriff ausgedrückt werden kann“ (ebd.). Damit ist freilich am Begriff der ‚Ausdrucksbedeutsamkeit‘ zwar die ‚-bedeutsamkeit‘ aus dem Spiel genommen und die Stoßrichtung der Argumentation wird klar (die Form hat Bedeutung), den Ausdruck (und damit die Unterscheidung zweier ‚Momente‘) wird sie jedoch nicht los: am Ende ist es immer noch die Form die nicht ‚ausgedrückt werden kann‘. Zur Unhintergehbarkeit der Differenzierung vgl. das Resümee bei Schade/Wenk (2011: 78), das sie lediglich auf einer ‚tieferen‘ Ebene (Darstellendes vs. Dargestelltes) reaktualisiert: „Es ist gerade nicht der ‚Gegensatz‘ zwischen Form und Inhalt, den er [Panofsky] in seinem Modell thematisiert, sondern die Tatsache, dass alle beschriebene ‚Form‘ bereits ‚Inhalt‘ ist, wenn ‚Darstellendes auf etwas Dargestelltes‘ bezogen wird“. 73 Für eine klassische textualistische Formulierung vgl. (den Titel von) White (1987), The Content of the Form.
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darum, dass sich beide Aspekte nicht statisch am einzelnen Bild isolieren lassen, sondern nur dynamisch im Vollzug interpiktorialer Bezüge unterschieden werden können. Im Bild selbst ereignen sich „interaction and disjunction between formality, style, and pictoriality“ (Davis 2011: 194) und es bestehen „recursive relations between the aspective successions (the interdetermined configurative, stylistic, and representational aspectivity […])“ (ebd. 37); in der Bezugnahme auf andere Bilder lässt sich aber sehr wohl bestimmen, ob sie sich „mehr auf dort geformte Inhalte oder auf formale Eigenheiten (z.B. stilistischer Art)“ (Stempel 1983: 95) beziehen. Eine Typologie der Interpiktorialität muss deshalb auch ein Vorschlag zur Ordnung der Verhältnisse von Material/Form/Stil und Gegenstand/Motiv/Thema/Gegenstand sein (vgl. V.). Gegen die Unidirektionalität von Einflüssen setzt die Interpiktorialität das Modell eines Dialogs der Bilder (vgl. IV.1). Gegen die Tendenz zur Metaisierung betont Interpiktorialität zunächst die Einzelreferenz, die wechselseitige Beziehung zwischen zwei Bildern, die nicht zwangsläufig und ohne Ausnahme als Repräsentanten eines (Sub-)Systems, eines Mediums oder einer Gattung, erscheinen müssen. Zwar „treibt Intertextualität immer auch zu einem gewissen Grad Metatextualität hervor“ (Pfister 1985: 26), aber schon das dialogische Verhältnis zweier einzelner Bilder kann sie „in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen“ (ebd. 29) lassen, die Bedeutung produziert. Jedenfalls kann es durchaus Sinn machen, wenigstens zunächst individuelle Bilder und ihre singuläre Beziehung zu betrachten, bevor sie in einem weiteren Schritt als exemplarische Vertreter ihrer jeweiligen ‚Art‘ in den Blick genommen werden. Zumindest heuristisch lassen sich Fremd- und Selbst-, Einzel- und System-Referenz soweit entkoppeln, dass sie einander nicht in unentwirrbarer Simultanität überlagern,74 wie etliche der in den Beiträgen zu diesem Band diskutierten Beispiele interpiktorialer Bezüge 74 Dagegen formuliert Brassat (2005: 56) in äußerster (systemtheoretischer) Allgemeinheit: „Diese Kopplung, das gleichzeitige Prozessieren von interner und externer Referenz, charakterisiert alle Kommunikation und alle Operationen selbstbeobachtender Systeme“; zum übergeneralisierenden Zug dieser Ansicht vgl. ebd. (54): „‚Sermocinatio‘ ist der alte rhetorische Terminus dafür, von der ‚Heteroglossia‘ [sic!] der intern dialogisierten Rede sprach Michail Bachtin, Niklas Luhmann mit Humberto R. Maturana von einer ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ und mit Talcott Parsons von einem ‚reentry der Form in die Form‘. Die Kunstwissenschaft hat dafür den Begriff der ‚Interpikturalität‘ gefunden“. Vorsichtiger formuliert Steiner (1985: 63), dass interpiktoriale Referenzen häufig metapiktoriale Implikationen haben: „The meanings that result from these intertextual references are not only complex but often meta-artistic, interpreting and commenting upon aspects of the history of style“.
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belegen. Gegen ihre Konzipierung als intramedial ebenso wie gegen ihre Situierung in einem medialen Feld, das durch konventionell unterschiedene Einzelmedien strukturiert ist, behauptet sich Interpiktorialität als Arena der Aushandlung basismedialer Differenzen zwischen Sprache/Text und Bild und somit als Austragungsort einer Logik der Bilder (vgl. IV.2). Deshalb bedarf es auch ungeachtet der vielfältigen Anleihen bei der Intertextualität eines eigenen Begriffs und einer separaten Theorie der Interpiktorialität. Gegen eine Ausrichtung auf extrapiktoriale Gegebenheiten, einen „breiteren kulturellen Kontext“ (Rimmele/Stiegler 2012: 9) besteht Interpiktorialität darauf, dass Kontextualisierung vor allem das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Bildes mit anderen Bildern bedeutet75. Die „Menge der für die Erklärung eines Kunstwerkes, Bildes oder Gegenstandes relevanten Bezüge“ (Weddigen 2011: 132) ist in erster Linie die der interpiktorialen Relationen; nur insofern sich soziale Institutionen, Mentalitäten, Artefakte und altermediale Repräsentationsweisen (inter-)piktorial artikulieren, sind sie ein „significant intertext“ (Minor 1998: 140).76 Das heißt gerade nicht, das Reich der Bilder für autonom zu erklären, sondern die diese umgebenden (visuellen) Kulturen unter Anleitung ihrer Beziehungen untereinander aufzuspüren: „intertextuality is not oblivious to the 75 Vgl. Bachtins (1979b: 352) Ausführungen zum „Problem der Grenzen von Text und Kontext“: „Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten“. 76 Vgl. dagegen die vielzitierte (Nünning/Neumann 2008: 380; Weddigen 2011: 132) Bestimmung des Kontextes als Beziehung zu extratextuellen Begebenheit bei Danneberg (2000). Für die Rückbindung mentaler Kultur an ‚Texte‘ vgl. Posner (2008: 53): „Ein Mentefakt kann in einer Gesellschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn diese über ein Substrat verfügt, das seine Mitteilbarkeit gewährleistet, und das heißt, wenn es eine symbolische Form gibt, die es ausdrückt“; für die materiale Kultur Bachtin (1979b: 354): „Das Ding kann, wenn es Ding bleibt, ja nur auf Dinge einwirken; um auf Personen einzuwirken, muß es sein Sinnpotential erschließen, muß es Wort werden“; für den intermedialen Kontext Isekenmeier (2011: 196), wo es um die nicht materiell fixierte (visuelle) Erfahrung von Geschwindigkeit geht: „This paper will sketch a chapter in the history of literary visuality, focussing on descriptions of forms of vision associated with two dromological ‚mediaދ, namely the railroad and the automobile […]. Three visual regimes of the nineteenth and early twentieth centuries will be delineated, each of them consisting of a descriptive style, a visual medium and a means of transportation. […] It will thus be shown that while ways of describing movement can and should be analysed (synchronically) from an intermedial perspective, they will only be sufficiently understood by also looking (diachronically) at the types of description preceding them“.
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social constructions embedded and encoded within works of art; in fact, it is an effective tool for digging them out“ (Minor 1998: 134, Anm. 22). Nicht Kontexte machen Bilder, sondern Bilder weisen (interpiktoriale) Kontexte an. Dies gilt im Übrigen auch für die Beantwortung der „Frage, wie und warum bestimmte Bilder zu Ikonen des kulturellen Gedächtnisses avancieren“ (Paul 2012: 4), also die „Analyse von Ikonisierungsprozessen“ (ebd.), die wesentlich nicht nur auf der Institutionalisierung von sozialen Formen der Bildverwendung (Museen, Werbeagenturen, Fernsehanstalten usw.) beruhen, sondern vor allem auf den dort jeweils praktizierten Ritualen der Interpiktorialität. Interpiktorialität ist das Gedächtnis der Bilder (vgl. IV.3) IV.1 Interpiktorialität als Dialog der Bilder In der interpiktorialen (wie der intertextuellen) Analyse geht es im Unterschied zur (literatur- wie) kunstgeschichtlichen Einflussforschung um den „semantischen Mehrwert“ (Moreth-Hebel/Hebel 2007: 39) von Verweisbezügen: „Similar to concepts of literary intertextuality, the concept of interpictoriality goes beyond the mere documentation and description of relations, influences, and sources; it rather emphasizes the semantic and semiotic implications of the frame(s) of reference and act(s) of signification added to the respective image by means of its interpictorial rhetoric.“ (Hebel 2013: 9)77
Die sich ergebenden „Sinnkomplexionen“ (Schulte-Middelich 1985: 206) sind jedoch nicht auf den bezugnehmenden Text beschränkt; sie ereignen sich in beiden Richtungen, als „wechselseitige Kontamination“ (Eilert 1991: 16): „L’intertextualité permet une réflexion sur le texte, placé ainsi dans une double perspective: relationelle (échanges entre les textes) et transformationnelle (modification réciproque des textes qui se trouvent dans cette relation d’échange)“ 77 Vgl. Stempel (1983: 88), der das „Bereicherungsargument“ (ebd. 100) so ausführt: „Besonders willkommen sind Einzelanalysen, die die Integration der berufenen, implizierten oder in irgendeiner Weise anzunehmenden intertextuellen Referenzen in den Bedeutungsaufbau des fraglichen Werks anstreben und damit gerade das zu leisten sich vornehmen, was die Einflußforschung älteren Zuschnitts in der Regel entweder schuldig geblieben ist oder nur unzureichend vollzogen hat“; ähnlich Plett (1985: 87): „Intertextuelle Beziehungen können nicht nur das Bedeutungspotential des Textes, sondern auch dasjenige der von ihm vereinnahmten Prätexte erweitern […]. Jedes Zitat bringt in den es aufnehmenden Text seine eigene Bedeutungsschicht oder semantische Isotopie mit, die sich in der neuen Umgebung entfaltet“.
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(Samoyault 2001: 49). Der Dialog der Texte78 bzw. deren relationale Lektüre79 wirkt zurück auf den Bezugstext: „les textes antérieur peuvent se relire à la lumière des suivants“ (Samoyault 2001: 91). Anhand eines einfachen Beispiels lässt sich der dialogische Effekt intertextueller Bezüge verdeutlichen: in Hemingways The Sun Also Rises (oder Fiesta) von 1926 findet sich im zwölften Kapitel, das einen Angelausflug des Ich-Erzählers Jake Barnes mit seinem Freund Bill Gorton schildert, eine verklausulierte Referenz auf William Cullen Bryants A Forest Hymn von 1824: „‚Let no man be ashamed to kneel here in the great out-of-doors. Remember the woods were God’s first temples( “ދHemingway 2003: 127). Bill bezieht sich damit auf den Beginn von Bryants Gedicht, dessen ersten Satz („The groves were God’s first temples“, Bryant 1860: 4) sowie einige wenig später folgende Zeilen („in the darkling wood, / Amidst the cool and silence, he knelt down, / And offered to the Mightiest solemn thanks“, ebd. 4). Die so etablierte Bezugsfolie lädt ein zu einem ‚vergleichenden Lesen‘ der Naturbeschreibungen, die bei Bryant göttlich ‚beseelt‘ und hypotaktisch ausfiel: „For his simple heart / Might not resist the sacred influences, / Which, from the stilly twilight of the place, / And from the gray old trunks that high in heaven mingled their boughs […], stole over him, and bowed / His spirit with the thought of boundless power / And inaccessible majesty“ (ebd. 5-7); bei Hemingway (2003: 122) wird der Wald hingegen, obgleich ähnliche Beobachtungen vollzogen werden, in gewohnt schmuckloser, parataktischer Manier behandelt und endet mit einem ‚trockenen‘ Fazit Bills: „It was a beech wood and the trees were very old. […] We walked on the road between the thick trunks of the old beeches and the sunlight came through the leaves in light patches on the grass. The trees were big, and the foliage was thick but it was not gloomy. […]‚This is country, ދBill said“. Die radikal verschiedenen Gesten beider Texte80, denen disparate stilistische Umsetzungen entspre78 Vgl. Bachtin (1979b: 353): „Der Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Textes erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen läßt“. 79 Vgl. Genette (1982: 557), der von „lecture relationelle (lire deux ou plusieurs textes en fonction l’un de l’autre)“ spricht und ausführt, diese habe „ce mérite spécifique de relancer constamment les œuvres anciennes dans un nouveau circuit de sens“ (ebd. 558). 80 Vgl. Hurley (2001: 85): „Although Bill has deep appreciation for the ‚country ދsurrounding Burguete, the tone and context of his allusion to Bryant’s wooded cathedrals indicate that he journeys to the Irati River to fish, drink, eat, and enjoy fellowship, and not – like the narrator of Bryant’s ‚A Forest Hymn ދbowing to worship in the forest
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chen, werfen nun zum einen ein bezeichnendes Licht auf die entzauberte Weltsicht der ‚verlorenen‘ Nachkriegs-Generation, als deren Repräsentanten Jake und Bill gelten können: „the Power that dwelt a century earlier in the forests, streams, and prairies of William Cullen Bryant’s polished lines can no longer minister to men and women living in the third decade of the twentieth century“ (Hurley 2001: 85). Zugleich erscheint jedoch der Bezugstext in einer neuen Sicht: im Vergleich mit Hemingways Stil (hard-boiled) und Bills Reaktion (matter-of-fact) erscheint Bryants Naturgedicht, oft als eines der besten der Romantik tituliert, nunmehr als geschliffen (polished) und artifiziell, mithin als das genaue Gegenteil romantischer Naturverbundenheit und authentischer Expressivität. Nun findet sich ein solches dialogisches Verhältnis natürlich nicht nur zwischen intertextuell verbundenen Texten; genauso gut hätten interpiktorial aufeinander bezogene Bilder als Beispiel dienen können. Der kurze Exkurs in die Literatur sollte jedoch nicht nur das Prinzip der Dialogizität veranschaulichen, sondern vor allem auch die Vorbehaltlosigkeit und Selbstverständlichkeit illustrieren, mit der ein ‚prosaischer‘ Text (in Prosa ebenso wie sachlich-nüchtern) als legitime Aussage zu einem ‚poetischen‘ (in Gedichtform wie lyrisch-stimmungsvoll) gelesen wird. Besonders mit Blick auf die Bilder der Alten Meister […] – to seek spiritual regeneration in a wilderness retreat“. Zum Vergleich nochmals Bryant (1860: 17): „Here is continual worship; – nature, here, / In the tranquility that thou dost love, / Enjoys the presence“; sowie Hemingway (2003: 127): „‚Here, ދI said. ‚Utilize a little of this. ދWe uncorked the other bottle“. Wie der Titel seines Aufsatzes schon andeutet berücksichtigt Hurley neben den Referenzen auf Bryants Gedicht auch solche auf Zeitungsberichte über (William Jennings) Bryan und seine Rolle im Scopes Monkey Trial, die auf diese Weise ihrerseits – vermittelt durch Hemingways Roman – in einen Dialog treten; tatsächlich handelt es sich also um einen Polylog; vgl. SchulteMiddelich (1985: 217): „bei der Benutzung mehrerer Prätexte kann die gegenseitige (u.U. auch gegen die Chronologie vorgenommene) Spiegelung zu neuen Bedeutungen führen“. Für ein interpiktoriales Beispiel (Salvatore Fiume, Legame Metafisico, 1989) vgl. Rose (2008: 109). Eine weitere Dimension fügt Lindner (1985: 124) hinzu: „Wir unterscheiden grundsätzlich zwei intertextuelle Verfahren, die zu gegenseitiger Perspektivierung der Prätexte führen: Einmal können verschiedene Prätexte im neuen Text korreliert werden, zum anderen kann ein Text auf einen oder mehrere Prätexte verweisen, die schon ihrerseits Prätexte haben, so daß auf diese Weise in diachronen Rückwärtsschritten Prätexte zueinander in Bezug gesetzt werden“. Schließlich können natürlich auch solche Texte in dialogische Beziehung treten, die auf einen gemeinsamen Prätext Bezug nehmen, sodass sich zahlreiche Möglichkeiten eines Multilogs der Bilder ergeben.
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scheint dies für den kunsthistorischen Diskurs so nicht zu gelten. Der Abstand der ‚Nachbilder‘ (Ahrens/Sello 1979) zum ‚Vorbild‘ (im chronologischen wie idealischen Sinne) wird dann nicht als Möglichkeitsraum einer gegenseitigen Bespiegelung wahrgenommen, sondern allenfalls nach dem Grad des Gefälles vermessen. So beklagt etwa Steinberg das interpiktoriale ‚Schicksal‘ des Bildes, auf das auch das Cover des vorliegenden Buches Bezug nimmt: „The Creation of Adam […] has lately become as banal as any image whatever, if only because, like Leonardo’s Last Supper, it is continually being adapted […]. These travesties (which I collect with grim relish) deserve careful study for what they reveal about the psychology of perception – not one of them recognizes that Michelangelo’s figure of the Creator is ambidextrous.“ (Steinberg 1980: 437)
Abgesehen von diversen ‚Details‘ dieser Darstellung – die Subsumption aller (und wirklich aller) ‚Adaptionen‘ unter dem Label der Travestie (das dabei weniger klassifikatorischen als wertenden Zwecken dient); die Einschränkung auf populärkulturelle Referenzen („political satires, lampoons, advertisements, and the like“, ebd. 437)81, obwohl der Anwurf der Vernachlässigung der zweiten Hand Gottes auf diese eher weniger zuzutreffen scheint als auf manch künstlerisch ambitionierte Bezugnahme82 – macht dabei der Ton die Musik: das den Genuss des Sammlers begleitende Grauen (grim relish) ob der Banalisierung des großen Kunstwerks, das den Nachbildern allenfalls noch ein psychologisches 81 Vgl. Steinberg (1992: 556): „During the past forty years, the famous hand-to-hand tryst has become, in popular culture, the resumé of the fresco“. 82 Vgl. Nuno Teixeiras Sammlung von „Pop Culture Art Inspired by Michelangelo’s The Creation of Adam“ von 2012 im Archiv von Bit Rebels („the latest news in technology, social media, design and everything considered geek“) unter http://www.bit rebels.com/geek/pop-culture-art-inspired-by-michelangelos-the-creation-of-adam/, das allerdings die Simpsons-Varianten aus den Episoden „A Star is Burns“ (Folge 121) und „Homer of Seville“ (Folge 402) unterschlägt. Für ein mehr oder weniger kunstvolles und verglichen mit dem Cover dieses Buches („As a sign of man’s congress with God, the mutual reach of those hands glosses the cover of books“, Steinberg 1992: 556) weniger subtiles Beispiel, das sowohl die Fokussierung auf die rechte Hand nachvollzieht als auch ein offenkundiges Potenzial der rückwirkenden Umdeutung birgt, vgl. Sharon Lynne Backus’ Creation of Adam Revisited (o.J., http://sarahpaints.com/painting_creation-of-adam-revisited.html),
dessen
Strategie
‚Sarah‘, christlich verbrämt und angereichert mit den rassi(sti)schen Kategorien des US-amerikanischen Zensus, so beschreibt: „It interprets our Father’s skin color as dark as an African American’s, creating Adam a Caucasian man“.
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Interesse entgegenzubringen vermag. Solche Bilder, so die Implikation, zehren parasitär von einem Original, zu dem sie nichts zu sagen haben (sollen). Es ist fast so, als wäre Creazione di Adamo nicht nur ein bevorzugtes Objekt, sondern zugleich ein Sinnbild interpiktorialer Bezüge, in denen das, was nachkommt, nur ein schwaches Abbild des göttlichen Urbildes sein kann. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass die konsequenteste Ausarbeitung interpiktorialer Dialogizität von einer literaturwissenschaftlichen Grenzgängerin stammt: „This study consists of chapters organized around theoretical issues representing aspects of quotation as a recasting of past images. Each chapter shows specific ways in which quotation is vital to the new art as well as to the source from which it is derived, and for which it thereby becomes, in turn, a source“ (Bal 1999: 7)83. À propos Ken Aptekar’s neo-barocker Bilder formuliert Bal die dialogische Rückwirkung als Nachgeschichte des Vorbildes: „We cannot read his [Aptekar’s] work without a sense of the history into which the artist is inscribing himself. At the same time, the baroque works gain a new dimension through the juxtaposition, as much as through the overwriting and reworking in each of Aptekar’s works. […] This reversal, which puts what came chronologically first (‚pre-‘) as an aftereffect behind (‚post-‘) its later recycling, is what I would like to call a preposterous history. In other words, it is […] a vision of how to re-vision the Baroque.“ (Bal 1999: 67)84.
IV.2 Interpiktorialität als Logik der Bilder Der Interpiktorialitätsforschung kann Intertextualität auch als Kontrastfolie dienen: interpiktoriale Referenzen lassen sich als Ort einer Verhandlung der Differenzen von Text und Bild verstehen. Damit beschreitet sie einen Mittelweg zwischen der Verabschiedung von (wenigstens heuristisch isolierbaren) Bild83 Vgl. Bal (1999: 1): „Like any form of representation, art is inevitably engaged with what came before it, and that engagement is an active reworking. It specifies what and how our gaze sees. Hence, the work performed by later images obliterates the older images as they were before that intervention and creates new versions of old images instead“; Rose (2011: 295): „a parodic image may be created in order to lead the spectator to view an older image from a new angle or aspect“. 84 Vgl. auch schon mit bekannterem Beispiel (Las Meninas) Bal/Bryson (1991: 198): „Picasso’s work proposes a reinterpretation of Velázquez’s statement on class, shifting power relations in the direction of sexuality. […] Reading the Velázquez back from the perspective of the Picasso, we realize that there, too, […] the threatening aspect of vision is displaced on sexuality“.
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Bild-Bezügen zugunsten immer schon gegebener Interaktionen zwischen Texten und Bildern in den Visual Culture Studies (vgl. etwa Mitchell 2010) und dem „ontologisierten Bildbegriff“ (Falkenhausen 2007: 10) der auf eine „eigene, nur ihnen zugehörige Logik“ (Boehm 2007: 31) der Bilder fixierten Bildwissenschaft.85 Nicht um eine Hypostasierung essentieller Verschiedenheit von Text und Bild geht es der Interpiktorialität, sondern um eine ergebnisoffene Untersuchung der möglicherweise unterscheidbaren Vollzugsformen in einem „Spielraum des ‚Dazwischen‘“ (Krüger 2005: 90): „In the parallel ideas of the interpenetrative image and the intertextual text, we seem to have a current mutual ground which criticism might profitably work with. It seems therefore worth raising at the present time the question: is there such a thing as a general category of intertextuality or interpenetration which might be applied in the same way to texts as subject to similar structures of dissemination and flow? Or are there specificities which apply in the case of the text but not in the case of the image?“ (Bryson 1988: 187)86
Gegen die Hypostasierung der Text-Bild-Differenz – z.B. entlang des Kriteriums der (Nicht-)Diskursivität87 – die Übertragbarkeit des textualistischen Modells zu behaupten, bedeutet nicht notwendig, einer „hegemonialen Geste der Zeichen-
85 Vgl. Rimmele/Stiegler (2012: 70): „Während die theoretischen Bildwissenschaften eine Eigenlogik des Bildlichen proklamieren, geht es den zumeist praxisorientierten Analysen visueller Kulturen um das Ineinander von Text (bzw. Diskurs, Symbolsystemen u.ä.) und Bild“. 86 Zur Ergebnisoffenheit der so gelagerten Untersuchung vgl. Zuschlag (2006: 98): „Es erscheint mir unzweifelhaft, dass sich eine Theorie der Interikonizität in mancherlei Hinsicht an die Theorien der Intertextualität anlehnen kann. Es kommt jedoch darauf an, der Spezifik der Verweisungsbezüge zwischen Kunstwerken und der visuellen Erfahrung Rechnung zu tragen, also die Differenz zwischen Text und Bild zu berücksichtigen. Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass diese Differenz überhaupt existiert“; ähnlich Frank/Lange (2010: 15-16): „Ohne Zweifel sind Bild und Sprache nicht identisch. […] Allerdings ist strittig, ob diese Differenzen so essentiell sind, dass sie einander ausschließende Wahrnehmungen bedingen“. 87 Vgl. etwa Krügers (2005: 90) Hinweis auf „jenes kognitive Potential, das dem Bild als einem Medium der unbegrifflichen und nicht-diskursiven Artikulation im Kontext kultureller Produktion und Erkenntnisbildung in besonderer Weise zur Verfügung steht“; dagegen Bryson (1988: 188): „Of course painting possesses a discursive aspect. Its narrative dimension, its legible structures, its iconography, its denotations and connotations are all discursive“.
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und Textwissenschaften“ (Frank/Lange 2010: 16) zu verfallen.88 Schon Genette (1982: 536-549) wägt im Zuge der Ausweitung des Modells der Hypertextualität auf die Malerei89 (und die Musik) im 79. Kapitel fein ab zwischen Ähnlichkeiten, die die Übertragung erst ermöglichen, und Unterschieden, die in deren Zuge unweigerlich hervortreten: „Tout objet peut être transformé, toute façon peut être imitée, il n’est donc pas d’art qui échappe par nature à ces deux modes de dérivation qui, en littérature, définissent l’hypertextualité, et qui, d’une manière plus générale, définissent toutes les pratiques d’art au second degré, ou hyperartistiques […]. Mais il me semble utile d’y jeter un bref coup d’œil, limité par prudence à la peinture et à la musique, pour faire apparaître au passage quelques similitudes ou correspondances qui révèlent le caractère transartistique des pratiques de dérivation, mais aussi quelques disparités qui signalent la spécificité irréductible, à cet égard au moins, de chaque art.“ (Genette 1982: 536)90
In der Folge nominiert Genette (1982: 546) zwei Bereiche, in denen er die jeweilige Spezifizität der „pratiques hyperesthétiques“ verortet sieht und die beide in der Diskussion um den Unterschied zwischen Bildern und Texten eine prominente Rolle spielen: „Les matériaux et les techniques susceptibles de transformation et d’imitation ne sont pas les mêmes, les modes d’existence et de réception, les statuts ontologiques des œuvres présentent des différences parfois fondamentales“. Was den letzteren Komplex anbelangt, der sich eben nicht nur
88 Vgl. für diesen Einwand Bal/Bryson (1991: 176): „Recent attempts to connect verbal and visual arts, for example, tend to suffer from unreflected transfers, or they painstakingly translate the concepts of one discipline into the other, inevitably importing a hierarchy between them“. Das Problem scheint dabei jedoch weniger im Substantiv („transfers“) oder im Verb („translate“) zu liegen, die Bal/Bryson dazu anregen, die Semiotik – als „supradisciplinary“ und „not bound to a particular object domain“ (ebd.) – in Anschlag zu bringen, als in den diese modifizierenden Adjektiven und Adverbien („unreflected“, „painstakingly“). 89 Unnötig zu erwähnen, dass sein erstes Beispiel (Genette 1982: 536-537) die ‚Defigurationen‘ der Mona Lisa sind, „un exercice assez commun“. 90 Vgl. Genette (1982: 546): „En signalant ou en rappelant le caractère universel des pratiques hyperartistiques, je ne préconise donc nullement une extrapolation à tous les arts des résultats – s’il en est – d’une enquête sur l’hypertextualité. Mais plutôt une série d’enquêtes spécifiques concernant chaque type d’art, où les parallélismes ou convergences éventuels ne devraient en aucun cas être postulés a priori, mais observés après coup“.
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ontologisch, sondern auch rezeptionstheoretisch formulieren lässt91, wird häufig die ‚A-Temporalität‘ (Steiner 1985: 57) der Bildbetrachtung gegenüber der linearen Abfolge der Textlektüre angeführt: „a painting appears to be visible all at once rather than abstractly unfolding over time“ (ebd.). Die Iterationen dieses Gedankens sind Legion.92 Diesem Mythos der „Unmittelbarkeit und Simultaneität“ (Rosen 2003: 163) der Bilder (als Korollar zu dem der Linearität der Texte) ist entgegenzuhalten, dass auch die Betrachtung von Bildern ein in der Zeit ablaufender Prozess ist: „looking at an image is a radically temporal process“ (Bryson 1988: 184). Ob auf der Ebene der Wahrnehmung (der sakkadischen Augenbewegungen) oder der des Verstehens (der interpretativen Erschließung) sind das Sehen von Bildern und das Lesen von Texten keineswegs diametral entgegengesetzte Akte. Wenn sich innerhalb des von Lessing etablierten Koordinatensystems von Zeit und Raum überhaupt ein differenztheoretisches Argument formulieren lässt, so betrifft es weniger die fehlende Zeitlichkeit („all at once“) des Bildes als seine
91 Schon zu Lessings Zeiten, der die Differenz an den jeweiligen Ausdrucksmöglichkeiten von Malerei und Literatur festmachte, formulierte etwa Jonathan Richardson (der Ältere) aus Rezeptionssicht: „The business of painting is to do almost all that discourse and books can, and, in many instances, much more, as well as more speedily“ (zit. Brassat 2005: 59). Vgl. dagegen Lessings (1987: 114) Argument im 16. Kapitel des Laokoon: „Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen“. Im weiteren Verlauf untersucht Lessing freilich vor allem die Möglichkeiten der Malerei, jenseits solch bequemen Verhältnisses zu ihrem Gegenstand trotzdem Handlungen darzustellen (und analog die Poesie Körper), an der zeitlosen Räumlichkeit ihrer Zeichen rüttelt er jedoch nicht. Für eine Variante, die sich ähnlich wie Genette beide Optionen (ontologische oder rezeptionsästhetische Differenz) offenhält vgl. Bryson (1988: 187): „I would […] like to suggest that the text-flow or intertextuality functions rather differently from the image-flow or image interpenetration“. 92 Vgl. etwa Barthes (1964: 87): „Die Abbildung ist gewiß gebieterischer als die Schrift, sie zwingt uns ihre Bedeutung mit einem Schlag auf“; Kafalenos (2001: 141): „The visual representation is available to the viewer in its entirety all at once“.
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charakteristische Räumlichkeit („in its entirety“)93: während uns das Bild typischerweise als überschaubarer Raum gegenübertritt (das Paradigma des Tafelbildes), tun Texte dies zumeist in gefalteten Räumen (das Paradigma des Buches). Dies bedeutet, dass sich hypertextuelle Relationen – verstanden als transtextuelle Beziehungen eines Textes als Ganzem im Unterschied zu den punktuellen intertextuellen (im engeren Sinne) Bezugnahmen, die im Text lokalisierbar sind94 – lassen sich in der Lektüre nur schwerlich im Durchgang durch einen textuellen Raum aufrechterhalten, der als Konvolut begegnet. Sie bleiben deshalb entweder auf kurze Texte beschränkt, die sich der Übersichtlichkeit eines Bildraumes annähern (bis hin zur Möglichkeit eines ‚vergleichenden Lesens‘ von nebeneinander ‚ausgebreiteten‘ Texten), oder sie laufen Gefahr, die ganzheitliche Referenz im Dickicht eines transplanen Textraumes aus den Augen zu verlieren: „le pastiche, la charge, la forgerie ne procèdent que d’inflexions fonctionnelles apportées à une pratique unique (l’imitation) […], et à l’exception possible de la continuation, chacune de ces pratiques ne peut donner lieu qu’à des textes brefs […]. La transposition, au contraire, peut s’investir dans des œuvres de vastes dimensions, comme Faust ou Ulysse, dont l’amplitude textuelle et l’ambition esthétique et/ou idéologique va jusqu’à masquer ou faire oublier leur caractère hypertextuel.“ (Genette 1982: 292)
Der Bildraum hingegen steht in Gänze vor Augen („in its entirety“), weshalb ‚totale‘ Referenzen auf andere Bilder eine weitaus wichtigere Rolle spielen und vielleicht sogar den Normalfall der Interpiktorialität bilden.95 93 Vgl. Boehm (1994a: 38), der von der „Totalität“ der Bilder ungeachtet des „Wechselspiel[s] zwischen sukzedierender und simultanisierender Sicht“ spricht. 94 Zu diesem restriktiven Intertextualitätsbegriff vgl. Genette (1982: 9): „La ‚traceދ intertextuelle selon Riffaterre est donc davantage (comme l’allusion) de l’ordre de la figure ponctuelle (du détail) que de l’œuvre considérée dans sa structure d’ensemble, champ de pertinence des relations que j’étudierai ici“. 95 Im Übrigen mag die Unterscheidung von überschaubarem Bildraum und gefaltetem Textraum zu einem guten Teil erklären, warum Comics eine prominente Rolle in der Erforschung interpiktorialer Relationen (nicht nur im vorliegenden Band) einnehmen: in ihnen werden Bilder in einer textuellen Topologie, dem gefalzten, geschnittenen und gebundenen Buch, ausgestreut, die eben keine flache und begrenzte Fläche als Spielstätte der Bezüglichkeit vorsieht. Comic books (oder eben graphic novels) bieten deshalb die Gelegenheit, Varianten intratextueller Interpiktorialität zu analysieren, von denen ihre Lesbarkeit maßgeblich abhängt. Ähnliches ließe sich wohl für den Film behaupten, besonders in seiner die Linearität der Vorführung durchbrechenden
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Was den anderen von Genette angesprochenen Bereich betrifft („Les matériaux et les techniques“), so ist ihre Materialität ein weiterer gängiger Kandidat für die spezifische Differenz von Bildern: „Painting […] is intimately linked to ‚embodiment( “ދBryson 1988: 189)96. Die Unterscheidung von Bildern und Texten entlang dieses Kriteriums führt jedoch zu einer fragwürdigen Konstruktion von Textualität als körperlos oder unkörperlich, als ‚reine Information‘: „Texts form a multi-dimensional space in which a variety of other texts, none of them original, blend and clash. They are intrinsically intertextual […]. Texts are like this because they possess no embodiment. They are sheer information. Paintings are otherwise. Paintings possess embodiment […] Embodiment counters intertextuality as the unique counters the order of the same. Since the signs of painting are never sheer information, but in their embodiment are part of material practice, they are information thoroughly inhabited and interpenetrated by non-information: ‚embodiment ދis a concept which deconstructs the opposition between matter and information, upon which the concept of ‚the text( ދas information outside material practice) rightly or wrongly has been built. By virtue of their embodiment, paintings offer a resistance to intertextuality which texts do not.“ (Bryson 1988: 192)
Diesem Mythos der Immaterialität des Textes, den die Betonung der Materialität der Bilder zumindest impliziert,97 ist entgegenzuhalten, dass auch Texte verkörund an der Organisationsform des Buches orientierten Darreichungsform als DVD (mit Kapitelstruktur, Bonusmaterial im Anhang, Vor- und Zurück‚blättern‘ usw.). Allerdings werfen Bewegtbilder (und das mag erklären, warum sie in diesem Band zumindest unterrepräsentiert sind) das zusätzliche Problem auf, dass ihre Stillstellung im Screenshot, die eine Reproduktion und eine Bildanalyse allererst ermöglicht, selbst ein interpiktorialer Akt der Transformation ist. Filmbilder und Stills „stehen in einer Palimpsestbeziehung, ohne daß man sagen könnte, daß das eine über dem anderen liegt oder das eine dem anderen entnommen ist“ (Barthes 1990: 66; vgl. die Hinweise in Krüger 2005: 94-96, sowie Schmidt 2005). Eher in den Gegenstandsbereich einer transmedialen Narratologie gehören solche Verweisbezüge zwischen (bewegten) Bildsequenzen, deren Relation wesentlich über die ‚erzählte‘ Geschichte vermittelt ist; für ein Beispiel vgl. Isekenmeier (2009: 212-214). 96 Vgl. die Gegenübersetzung von Verkörpern und Vertreten bei Boehm (1994b: 332). 97 Vgl. etwa Krüger (2005: 105-106), dem es „zunächst vor allem darum [geht], Interpikturalität und Intermedialität substantieller in ihrer strukturellen Heterogenität zu erfassen. […] Was vor diesem Hintergrund die Anwendung des Palimpsest-Begriffs als besonders lohnend und ertragreich erscheinen läßt, ist der Umstand, daß der zentrale Analyseansatz stets die konkrete, materielle Gegebenheit des Bildes, also der mikro-
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pert sind: die Anordnung der Worte auf der Druckseite (bis hin zu dem Punkt, an dem die Textgestalt in der konkreten Poesie selbst Bildcharakter annimmt), die Beschaffenheit von Papier, Einband und Bindung (im Falle einer Zirkulation in Buchform) und die Eigenarten verschiedener Schrifttypen und Formatierungen sind sehr wohl bedeutungstragende ‚materiale Praktiken‘.98 Ebenso ist das in diesem Zusammenhang als genuine Möglichkeit der Sprache häufig erwähnte ‚wörtliche‘ Zitat als verlustlose Wiederholung eine Fiktion; tatsächlich ändert natürlich jedes Zitat die materialen Eigenschaften der Bezugsstelle und modifiziert so auch ohne den es umgebenden zitierenden Text deren Sinn. Dass etwa in literaturwissenschaftlichen Texten die Zeilenumbrüche in Gedichten durch Einfügung eines Schrägstrichs ‚zitiert‘ werden (wie in den Bryant-Zitaten unter IV.1) ist nur die letzte und offensichtlichste einer Kette von Veränderungen an deren Textkörper. So gilt ganz streng genommen auch für das sprachliche Zitat, was gemeinhin als charakteristisch für piktoriale Formen der zitierenden Bezugnahme angenommen wird: „Streng genommen gibt es in der bildenden Kunst Zitate im Sinne ‚wörtlicher‘ Wiederholungen überhaupt nicht […]. Ein gemaltes ‚Zitat‘ ist immer eine Transformation“ (Zuschlag 2006: 97). Es geht also nicht darum die einmalige Materialität des Bildes der reinen Wiederholung des Zitats entgegenzusetzen, sondern darum, Zitation von vornherein als hinsichtlich des Materials transformativ zu denken: „Das Zitat im intermedialen Kontext verlangt nach der Abkehr vom Kriterium der identisch reproduzierbaren Elemente und richtet die Konzentration auf die Verweisfunktion“ (Berger 2012: 13). Für eine Typologie der Interpiktorialität bedeutet dies, die „konkrete, materielle Gegebenheit des Bildes“ (Krüger 2005: 105) systematisch zu berücksichtigen.99 Das (piktoriale) Zitat wäre dann als diejenige Art der Bezugnahme zu denken, die in dieser Dimension und nur in ihr vom Vor-Bild abweicht (vgl. V.).
strukturelle Bereich des Werkes bleibt, das heißt, daß ästhetische Erfahrung in untrennbarer Weise in Hinblick auf die Materialität des Werkes begriffen wird.“ 98 Vgl. Frank/Lange (2010: 45): „Nicht das Material, die Stofflichkeit an sich, sondern dessen Funktionalität innerhalb der symbolischen Ordnung sind entscheidend“. Ansätze einer „semiotic theory of typography, according to which culturally sanctioned meanings are manifest within the specific dimensions of printing types“ (Jackson 2000: 151) finden sich bei Edgar Allan Poe, der von den „signifying qualities of letterforms“ (ebd. 148) und anderer Parameter gedruckter Schrift überzeugt war (vgl. auch Jackson 2001). 99 In diesem Sinne ist Krüger (2005: 106) zuzustimmen, wenn er anmerkt, dass darin „ein maßgeblicher Unterschied zu Genettes Unternehmung“ liegt.
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IV.3 Interpiktorialität als Gedächtnis der Bilder Um als bedeutungsgenerierende und differenzprozessierende ‚Maschinen‘ zu funktionieren, sind interpiktoriale Verfahren darauf angewiesen, von den Betrachterinnen der sie initiierenden Bilder erkannt zu werden. Dies kann mithilfe verschiedener Arten der Markierung von Referenzen erreicht werden, die in der Intertextualitätsforschung ausführlich untersucht wurden (vgl. etwa Broich 1985a, Helbig 1996) und die sich zumindest teilweise auf Bildverweise übertragen lassen. Dies gilt für diverse Signale im „werkimmanenten Kommunikationssystem“ (Broich 1985a: 41), etwa in Form des Bildes im Bild oder in Gestalt von Stilkontrasten100, ebenso wie für die „Markierung in Nebentexten“ (Broich 1985a: 35), von der im Allgemeinen angenommen wird, dass sie für (gemalte) Bilder von größerer Bedeutung sei als für Texte: „titles are probably the most crucial intertextual mechanism in painting. […] In fact, probably no art is as dependent on subtexts from another art to complete its own meaning as painting“ (Steiner 1985: 62).101 Andererseits kann die Kenntnis des Bezugsbildes nicht selten vorausgesetzt werden, wenn es Teil des Bildgedächtnisses (vgl. Frank/ Lange 2010: 58-61) ist. Im Jargon der Intertextualität: für kanonische Texte liegt die „Signalschwelle“ (Broich 1985a: 33) unter Umständen sehr niedrig: „So kann ein Autor z.B. auf jede Markierung verzichten, wenn sein eigener Text auf Texte verweist, die einem breiteren Lesepublikum bekannt sind. Dies ist etwa bei Verweisen auf Klassiker oder die Bibel häufig der Fall“ (ebd. 32). Allerdings sollte das kulturelle Gedächtnis nicht als statischer Aufbewahrungsort kanonisierter Bilder oder als träge Traditionsmasse – als Arsenal vorgeprägter Pathosformeln, „nationale[r] Bildervorrat“ (Hebel 2013: 10) oder als 100 Vgl. für den analogen Fall des Buches im Buch Broich (1985a: 39): „Eine Markierung kann […] im inneren Kommunikationssystem vorgenommen werden, dadurch also, daß die Charaktere eines literarischen Textes andere Texte lesen, über sie diskutieren, sich mit ihnen identifizieren oder sich von ihnen distanzieren“; sowie ebd. (42) für den Stilkontrast als Markierung „in einer Weise, von der nur die Leser, nicht aber die Charaktere des Textes Kenntnis haben“. 101 Vgl. Sitt/Horányi (1993: 17) mit Bezug auf die Hommage (und vor dem Unterkapitel „Das ‚Bild im Bild‘“): „Meist ist dies im Titel angedeutet und nicht unbedingt im Werk selbst bildlich abzulesen“. Dagegen behauptet Genette (1982: 17) die Wichtigkeit paratextueller Hinweise auch für Texte, besonders bei extensiven Formen der Hypertextualität, namentlich Joyces Ulysses: „l’hypertextualité se déclare le plus souvent au moyen d’un indice paratextuel qui a valeur contractuelle: […] Ulysse [le titre français] est un contrat implicite et allusif qui doit au moins alerter le lecteur sur l’existence probable d’une relation entre ce roman et l’Odyssée“.
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bürgerlicher Bildungsbestand102 – vorgestellt werden. Es gibt nicht auf der einen Seite ein Bildgedächtnis, das als Voraussetzung oder Grundlage der Erkennbarkeit impliziter, nicht (oder kaum) markierter Bezüge dient, und auf der anderen Seite die interpiktorialen Referenzen, die mit seiner Hilfe entschlüsselt werden können.103 Vielmehr ist das „kulturelle[m] Bilderrepertoire“ (Schade/Wenk 2011: 140)104 ein interpiktoriales Konstrukt und jeder vermeintliche Rückgriff darauf ist zugleich ein performativer Akt seiner Hervorbringung.105 Interpiktoriale Referenzen verrichten Arbeit an einem Bildgedächtnis, das ihr kulturelles Sediment ist106: „Interpictorially charged pictures partake actively – in a culturally and politically significant way – in what scholars of iconography have called the ‚Bildgedächtnis]…[ ދ. The individual picture with its possible network of interpictorial references is the tangible site in the cultural flow of images and the stepping stone into the visual archive of a culture.“ (Hebel 2013: 10)
Interpiktorialität ist der Ort des, sie ist das Gedächtnis der Bilder.107 In einem anderen Sprachspiel reformuliert oder von einem anderen „Angriffswinkel“ (Debray 2003: 9) aus betrachtet, dem der Mediologie: wenn sich 102 Vgl. Moreth-Hebel/Hebel (2007: 38): „Visual literacy beruht […] zu einem erheblichen Maße auf der Fähigkeit der Rezipienten zur kenntnisreichen Partizipation am visuellen Repertoire und kollektiven Gedächtnis einer Kultur“. 103 Vgl. die Formulierung dieser traditionellen Sichtweise mit Bezug auf Texte bei Stierle (1983: 11): „die diffuse Intertextualität der Topoi […] setzt einen literarischen Kanon voraus, der allen gemeinsam ist“. 104 Vgl. dort auch die Diskussion zu Lacans écran und Silvermans screen. (Schade/ Wenk 2011: 138-141). 105 Vgl. Stierle (1983: 15): „Die intertextuelle Gegebenheit ist nicht nur die Funktion eines semiotisch abgerufenen Vorwissens, das der Rezipient ins Spiel zu bringen hat. Der Text vielmehr spielt den Bezugstext herein, und zwar in einer Artikuliertheit, Reliefhaftigkeit, die das Ganze des intertextuellen Bezugstexts nicht einfach als Wissen voraussetzt, sondern es im Medium seiner konkreten Aufgerufenheit erscheinen läßt“. 106 Vgl. Samoyault (2001: 95) der von Intertextualität als „le travail de mémoire opéré par les textes“ spricht; sowie ebd. (58): „La mémoire de la bibliothèque, la conscience de la répétition et de la modélisation par autrui sont aussi le substrat de nombreux jeux littéraires“. 107 Vgl. für die Intertextualität Samoyault (2001: 6): „Qu’est-elle d’autre, en effet, que la mémoire que la littérature a d’elle-même?“.
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zwei medial vermittelte Interaktionsformen unterscheiden lassen, deren eine (Kommunikation) darin besteht, „eine Information im Raum innerhalb ein und derselben räumlich-zeitlichen Sphäre zu transportieren“ (ebd. 11), während die andere (Übermittlung) darin besteht, „eine Information in der Zeit zwischen unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Sphären zu transportieren“ (ebd.), dann ist Interpiktorialität (wie Intertextualität) das Bindeglied oder die Schnittstelle zwischen beiden, zwischen dem „Zirkulieren der Botschaften zu einem gegebenen Zeitpunkt“ (ebd.) und all dem, „was mit der Dynamik des kollektiven Gedächtnisses zu tun hat“ (ebd.)108. Das interpiktorial verweisende Bild ist ein Akt der Kommunikation, der zur Produktion seiner „Botschaft“ auf einen „Vektor“ (ebd. 16) der Übermittlung setzt. Es ist „organisierte Materie“ (ebd. 15), die sich an zeitgenössische Adressaten als Publikum wendet, um zu überzeugen, zu werben usw., und sich zugleich, im selben Atemzug, als Monument der Erinnerung den „materialisierte[n] Organisation[en]“ (ebd.) der Übermittlung zur Aufbewahrung anbietet. Bilder, die (sich an andere Bilder) erinnern, lassen sich so etwa vom Museum prozessieren (in die Prozession der Bilder, die das Museum ist, eingliedern), selbst wenn sie innerhalb des Rahmens der Bedürfnisse produziert wurden.109
V. T YPOLOGIE
INTERPIKTORIALER
B EZÜGE
Wie bei jedem Klassifikationsschema liegen Nutzen und Nachteil einer Typologie interpiktorialer Relationen eng beisammen. Auf der einen Seite verspricht sie eine Systematisierung und in gewissem Maße auch Vereinheitlichung der Terminologie. Mehr noch als die schon erwähnte bloße Vielfalt nur dürftig voneinander abgegrenzter Begriffe scheint dies für das Feld der Interpiktorialität wünschenswert, da einige der gebräuchlicheren Begriffswörter auch in uneigentlicher Redeweise verwendet werden, was ihren terminologischen Gehalt weiter untergräbt.110 Auf der anderen Seite läuft die typologische Ordnung stets Gefahr,
108 Vgl. dagegen apodiktisch Debray (2003: 12): „es gibt keine Kontinuität zwischen diesen beiden Typen von Phänomenen“. 109 Vgl. für die Begrifflichkeiten in diesem Absatz die Tabelle in Debray (2003: 24). 110 Vgl. etwa Bals Zitatbegriff (1999: 10), der nicht nur mehrdeutig ist („In this study, quotation is seen in a number of distinct ways, each of which illustrates – through its theoretical consequences – one aspect of the art of the present and the art of the past“), sondern diese verschiedenen Bedeutungen durch bewegliche Anführungszeichen gleichsam aus sich selbst heraus generiert („This theoretical argument will be
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zur Taxonomie zu werden, zum Gesetz einer Ordnung, das der Behandlung von Einzelphänomenen oder Sonderfällen eher Widerstand leistet, als sie befördert. Den ersten Kapiteln von Genettes (1982) strukturalistischer Klassifikationsapparatur der Hypertextualität mag deshalb durchaus kritisch begegnen, wer Bildbezüge für „anders und vielleicht noch vielfältiger als Textrelationen“ (Gelshorn 2007: 57) befindet. Allerdings ist schon bei Genette das Projekt einer vollständigen terminologischen Durchdringung oder gar Normierung seines Feldes vielfach gebrochen und im Bewusstsein seines Scheiterns vorgebracht.111 Wichtiger als die verbindliche Kodifizierung eines Katalogs klassifikatorischer Termini sind in jedem Falle die Kriterien zur Erstellung eines typologischen Tableaus („Tableau Général des Pratiques Hypertextuelles“, Genette 1982: 45). Doch gerade dort liegt bei Genette mit den beiden Achsen „relation“ (transformation vs. imitation) und „régime“ (ludique vs. satirique vs. sérieux) einiges im Argen. Deshalb soll zwar an der tabellarischen Präsentation als klassischem Modell112 festgehalten werden, die Kriterien in Vorspalte und Tabellenkopf jedoch entsprechend der folgenden Bemerkungen modifiziert werden. Die Unterscheidung von Transformation und Imitation ist notorisch problematisch: „J’appelle donc hypertexte tout texte dérivé d’un texte antérieur par transformation simple (nous dirons désormais transformation tout court) ou par transformation indirecte: nous dirons imitation“ (Genette 1982: 16). Dies liegt zum Teil daran, dass Genette über weite Strecken nicht nur ihre Explikation, sondern auch ihre Exemplifikation vermeidet.113 Am Nächsten kommen dem noch seine Ausführungen zu Ulysses und Aeneis und ihr Verhältnis zur Odyssee:
built up in dialogue with works by contemporary artists who ‚quote ދCaravaggio: […] only a few [of these artists] quote Caravaggio ‚literally“ދ, ebd. 21). 111 Das augenfälligstes Beispiel hierfür findet sich gleich in der zweiten Fußnote: „Il serait temps qu’un Commissaire de la République des Lettres nous imposât une terminologie cohérente“; vgl. Thomson (1986: 159-160): „c’est l’ironie qui caractérise le mieux le ton du livre. […] Genette serait-il devenu ‚déconstructionniste ދde sa propre théorie?“. Zum terminologischen Dickicht der Intertextualität vgl. die Aufzählung von Formen der Einzeltextreferenz bei Broich (1985b: 49): „Zitat, Motto, Cento, Übersetzung, Bearbeitung, imitation (im klassizistischen Sinn), Paraphrase, Resümee, Kontrafaktor [sic!] und viele andere mehr“. 112 Unverändert abgedruckt etwa in Samoyault (2001: 42). 113 Vgl. Thomson (1986: 162): „Ce qui fait problème, c’est que nulle part dans Palimpsestes […] on ne trouve une démonstration détaillée ou explicite de fonctionnement de ces modèles“.
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„La transformation qui conduit de l’Odyssée à Ulysse peut être décrite (très grossièrement) comme une transformation simple, ou directe: celle qui consiste à transposer l’action de l’Odyssée dans le Dublin du XXe siècle. La transformation qui conduit de la même Odyssée à l’Énéide est plus complexe et plus indirecte, malgré les apparences (et la plus grande proximité historique), car Virgile ne transpose pas, d’Ogygie à Carthage et d’Ithaque au Latinum, l’action de l’Odyssée: il raconte une tout autre histoire (les aventures d’Énée, et non plus d’Ulysse), mais en s’inspirant pour le faire du type (générique, c’est-à-dire à la fois formel et thématique) établi par Homère dans l’Odyssée (et, en fait, également dans l’Iliade), ou, comme on l’a bien dit pendant des siècles, en imitant Homère. L’imitation est sans doute elle aussi une transformation, mais d’un procédé plus complexe, car – pour le dire ici d’une manière encore très sommaire – il exige la constitution préalable d’un modèle de compétence générique (appelons-le épique) extrait de cette performance singulière qu’est l’Odyssée (et éventuellement de quelques autres), et capable d’engendrer un nombre indéfini de performances mimétiques.“ (Genette 1982: 14-15)
Schon für sich genommen wirft diese Passage die Frage auf, ob nicht Joyces Transformation ebenfalls indirekt ist, sofern auch sie die Konstruktion eines Modells verlangt, das die konkrete Handlung der Odyssee in eine übertragbare Struktur verwandelt und das dann ebenfalls zur Grundlage weiterer Hypertexte werden könnte, die wahlweise Dublin und/oder das 20. Jahrhundert durch andere Zeiten und Räume ersetzen. Mit der gleichlautenden Beschreibung beider Verfahren als ‚Extraktion‘ scheint Genette dies wenige Sätze später zuzugestehen, wobei zugleich deutlich wird, das hinter der Unterscheidung von Transformation und Imitation diejenige von Handlung und Stil steht: „Joyce en extrait un schéma d’action et de relation entre personnages, qu’il traite dans un tout autre style, Virgile en extrait un certain style, qu’il applique à une autre action. Ou plus brutalement: Joyce raconte l’histoire d’Ulysse d’une autre manière qu’Homère, Virgile raconte l’histoire d’Énée à la manière d’Homère“ (ebd. 15). So sehr er sich auch bemüht, Stil als formal-thematischen Komplex zu reklamieren,114 am Ende entgeht die Gegenüberstellung von Transformation und Imitation nicht ihrer Rückführung auf die zugrundeliegende Unterscheidung einer formal-stilistischen und einer semantisch-thematischen Ebene.115 Transformation
114 Vgl. Genette (1982: 107): „le concept de style doit être pris ici dans son sens le plus large: c’est une manière, sur le plan thématique comme sur le plan formel“. 115 Vgl. die fortlaufenden Paarbildungen entlang dieser Linie, etwa die von Transformation „d’une manière purement formelle“ und Imitation „[d’]une certain manière […] caractérisée“ (Genette 1982: 16), die „différence entre une transformation sémantique (parodie) et une transposition stylistique (travestissement)“ (ebd. 42), oder die
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heißt „dire la même chose autrement“, Imitation „dire autre chose semblablement“ (ebd.).116 Diese Trennung, die für die narrationslogische Unterscheidung von Handlung und Erzählstil plausibel und überhaupt für die Intertextualitätsforschung unhintergehbar scheint,117 ist natürlich aus (bild-)phänomenologischer Sicht fragwürdig: „We routinely hear […] that formalism deals with form whereas iconography deals with ‚content ދor meaning. But a dichotomy of form and content corresponds to nothing whatsoever in our actual sensory experience of whole artifacts or whole artworks“ (Davis 2011: 46).118 In der Bild-Erkennung sind beide Aspekte untrennbar aufeinander bezogen, in ‚rekursiven Relationen‘ (ebd. 37) miteinander verbunden119. Aus der Sicht einer allgemeinen Theorie der Visualität ist jegliche Isolation eines dieser Aspekte gegen einen anderen bestenfalls analytische Fiktion, schlimmstenfalls Verdinglichung eines bloß heuristischen Konstrukts: „the great methods of professional art history – formalism, stylistic analysis, and iconography – could be said to correspond analytically or in their epistemology to the natural ontology, to the order, relations, and differentiations of integrated aspect-perception in the visual field“ (ebd. 48).120
Unterscheidung von „transpositions en principe (et en intention) purement formelles“ und „transpositions ouvertement et délibérément thématiques“ (ebd. 293). 116 So auch kurzerhand Zuschlag (2006: 93-94): „Innerhalb der Hypertextualität unterscheidet Genette zwischen den beiden Verfahren der (einfachen oder direkten) Transformation und der (komplexen oder indirekten) Imitation. Bei der Transformation bleibt das Thema identisch, es wird jedoch in einem anderen Stil behandelt. […] Bei der Nachahmung bleibt der Stil identisch, es wird jedoch auf ein anderes Thema angewendet“. 117 Vgl. Grivel (1983), dessen anders organisierte Typologie (ebd. 65-66) sie ebenfalls mitführt: „Das intertextualisierte (variierte, serielle) Element kann entweder ‚formell‘ [sic!] (Dialogismus Bachtins) oder ‚inhaltlich‘ (Thematismus Bachelards) determiniert sein“ (ebd. 67). 118 Vgl. Davis (2011: 48): „Dis-integrated aspect-seeing is not seeing at all“. 119 Vgl. Davis (2011: 46): „If formalism and iconography must be distinguished at all, they should be ranged as positions on a continuum or, better, as way-stations in a circuit or loop“. 120 Vgl. Davis (2011: 37): „Analysis of the separate aspective successions can provide heuristic starting-points. But only starting-points. And the substantive reifications of aspective successions that typify extreme or high formalism […], stylistic typology […], the iconography of motifs […] involve a severe – in fact, a fatal – theoretical error“.
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Mit Blick auf die spezifische Bildpraxis der Interpiktorialität stellt sich die Situation dagegen so dar, dass ungeachtet der tatsächlich häufig anzutreffenden gleichzeitigen Modifikation von ‚Form‘ und ‚Inhalt‘ im Vollzug der Referenz die Transformation einer von zwei ‚Aspektivitäten‘ dominant ist: entweder steht die Piktorialität (im schon erwähnten Sinne Davis’) im Mittelpunkt121 oder – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks und ohne das weite Feld der Bilder einschränken zu wollen – die ‚Malweise‘ (analog zum unverbindlichen Begriff der Schreibweise)122. Die gleiche Sache anders sagen bedeutet dann, die ‚Malweise‘ zu transformieren, die Piktorialität aber (weitgehend) intakt zu lassen. Was Davis (2011: 188) als „preservation of object-resemblance throughout a series of variations in its configuration“ für die Bildwahrnehmung von Tauben festhält, ist letztlich nichts anderes als der interpiktoriale Raum der einfachen oder direkten Transformationen Genettes: „They will continue to recognize and respond to the shape or type of shape despite what we might call formal and stylistic differences in its various presentations or representations“ (ebd.). Entsprechendes gilt für die Imitation als Veränderung der Piktorialität unter Beibehaltung der ‚Malweise‘. Das zweite Kriterium, das Genette heranzieht, um im Inneren der zwei zuvor unterschiedenen ‚Relationen‘ Transformation und Imitation verschiedene Typen zu differenzieren, ist das der ‚Funktion‘: „Ma classification n’est donc structurale qu’au niveau de la distinction entre grands types de relations hypertextuelles, elle redevient fonctionnelle au niveau de la distinction entre pratiques concrètes“ (Genette 1982: 42). Auch diese drei- (ebd. 45) bzw. sechsgliedrige (ebd. 46) Unterscheidung ist problematisch, rekurriert sie doch erstens auf eine Differenzierung von hohem und niederem Stil sowie hohen und niederen Gegenständen, wie sie aus der rhetorischen Einteilung der genera elocutionis bekannt ist (vgl. Lausberg 1963: 154-155). ‚Satirisch‘ etwa bedeutet für Genette entweder eine stilistische oder eine inhaltliche Herabtransformation eines Bezugstex121 Vgl. Davis (2011: 150): „A picture […] replicates the unpredictable visual event of like-lookingness, the visual event in which matter or mark is seen as something-orother, as looking-likeness, a visual event in which that something-or-other can be seen in the mark. As I will put it, we replicate pictoriality: we pictorialize the marks when we replicate what they have been seen-as in order to see just this thing in them“. 122 Vgl. Nünning (2008a: 647): „in einem weiten und relativ unspezifischen Sinne fungiert der Terminus ‚Sch[reibweisen]‘ […] als Sammelbegriff zur Bezeichnung ganz unterschiedlicher Aspekte der Textgestaltung (z.B. Stil, Metaphern, rhetorische Figuren, Symbole) und wird oft weitgehend synonym mit ‚literar[ische] Darstellungsverfahren‘ verwendet“.
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tes, die er auch als Trivialisierung bezeichnet (1982: 291). So definiert er etwa die Travestie (satirische Transformation) in explizitem Rückgriff auf die antike hohe (gravis) Stillage wie folgt: „Le travestissement burlesque récrit donc un texte noble en conservant son ‚action ;]…[ ދc’est ensuite transposer le style, constamment noble (gravis) de son récit et des discours de ses personnages en style familier, voire vulgaire“ (ebd. 80-81). Die satirische Imitation, die er charge nennt, wird entsprechend als „nouveau texte noble pour l’appliquer à un sujet vulgaire“ (ebd. 35) bestimmt. Spätestens beim Versuch einer Übertragung auf Bildbezüge wirft dieses Rekurs auf die Höhenlagen der Literatur freilich die Frage auf, wie in Abwesenheit eines kanonisierten Schemas zu ihrer Differenzierung zwischen hohen und niederen (piktorialen) Stilen und Gegenständen zu unterscheiden wäre. Während Genette für seine Diskussion von Vergil-Travestien auf die sogenannte ‚Rota Virgilii‘ zurückgreifen kann,123 existiert keine vergleichbar verbindliche Ordnung etwa der ‚Höhe‘ von Bildern, zumal für solche eines 20. Jahrhunderts, dem die Unterscheidung von hoher und niederer (trivialer) Kunst (und Literatur) selbst suspekt geworden ist.124 Zweitens deuten schon die Bezeichnungen bei Genette darauf hin, dass seine beiden Kriterien (Relation bzw. Regime) nicht zusammenkommen wollen: ‚Travestie‘ ist nicht einfach der genuine Typus von hypertextueller Beziehung, der sich ergibt, wo Transformation und Trivialisierung sich treffen, sondern die Abkürzung von ‚burlesker Travestie‘ (ebd. 80) und damit eine bloße Umbenennung des Sachverhalts, dass es sich um eine Transformation mit satirischer Funktion handelt; ‚Charge‘ ist ein anderer Name für „pastiche héroï-comique“ (ebd. 35), also satirischer Imitation, und steht neben ‚Pastiche‘ als Bezeichnung einer spielerischen Imitation (ebd. 45). Mit anderen Worten: die strukturalen Typen der Beziehungen von Texten sind derart unabhängig von den Funktionen solcher Bezugnahme, dass deren mögliche Kombinationen in einer hypertextuellen Praxis selbst wieder mit Bezeichnungen versehen werden müssen, die auf der einen Seite die Beziehung, auf der anderen die Funktion ausdrücken. Eine Auslassung der Funktionsbezeichnung führt zu der terminologisch verwirrenden Situation, dass dann etwa zwischen Pastiche und heroisch-komischem Pastiche unterschieden wird.125 Letztlich bleibt die Frage ihrer Funktion dem Unterfangen, Bezugsformen zu typologisieren, also fremd. Nicht nur sind die möglichen Funktionen von Refe-
123 Vgl. die Abbildung unter http://www.anr-caim.fr/c.html. 124 Vgl. die obigen Bemerkungen zur ‚Banalisierung‘ von Bryant bei Hemingway. 125 Vgl. Rose (2011: 4): „we also need to distinguish between pastiche and comic pastiche“.
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renzen mannigfaltig126, sondern die spezifische Funktion einer einzelnen Referenz lässt sich auch nicht verbindlich festschreiben. Was aus einer Perspektive oder zu einem bestimmten Zeitpunkt als ‚spielerischer‘ Bezug erscheint, mag aus anderem Blickwinkel oder zu anderer Zeit als ‚polemisch‘ aufgefasst werden.127 Ein synchrones Beispiel für eine ‚funktional grenzgängerische‘ piktoriale Darstellung könnte etwa folgender Pastiche128 des britischen Zeichners Royston Robertson sein, dessen Homepage das Motto „For gag cartoons, humorous illustrations, caricatures, comic strips“ ziert, das gleichsam als generalisierte Funktionshypothese für seine Bilder gelten kann (‚humoristisch‘). Der fragliche „art cartoon“ (Abb. 1) wurde 2009 im Satiremagazin Private Eye veröffentlicht (‚satirisch‘). Er zeigt neben einer in leicht veränderter Farbgebung gestalteten zeichnerischen Nachbildung129 von Picassos Femme en Pleurs von 1937130 ein in den gleichen Farben und in (fast) demselben kubistischen Stil gehaltenes Bild eines Mannes, dessen (Gesichts-)Ausdruck sich offensichtlich von dem der Frau bei Picasso unterscheidet und eher als sarkastisch zu beschreiben wäre. Die Reproduktion des Picassos und Robertsons Pseudo-Picasso sind so nebeneinander angeordnet, dass sich die Figuren von Mann und Frau anzusehen und die dem Mann parapiktorial zugeschriebenen Worte an die Frau gerichtet scheinen. Als derartiges Mise-en-scène des Dialogs zwischen beiden Bildern ist 126 Vgl. Samoyault (2001: 5): „La reprise d’un texte existant peut être aléatoire ou consentie, vague souvenir, hommage affiché ou encore soumission à un modèle, subversion du canon ou inspiration volontaire“; für Bilder entsprechend Frank/Lange (2010: 48-49): „Die Begegnung kann als Verdoppelung, Verstärkung, Harmonie, komplementäre Ergänzung, Kontrast, Widerspruch oder Konflikt angelegt sein. […] [D]ie komplexe Struktur des Bildes erzwingt die aufmerksame Betrachtung und Interpretation der Effekte, welche die Präsenz mehrerer Bildkulturen in einem Bild zeitigen“. 127 Diese zwei Funktionen liegen sich in Genettes (1982: 46) ‚Rosette‘ von sechs Funktionen gegenüber (die beiden anderen ‚Paare‘ sind ironisch vs. ernsthaft und satirisch vs. humoristisch) 128 Vgl.
http://www.roystoncartoons.com/2009/09/art-cartoon-im-so-very-sorry.html:
„It is traditional when producing cartoons based on works of art to put ‚After…ދ followed by the name of the artist. Out of respect, this often takes the form of ‚Apologies… ދwhich I have used here“. ‚À la manière de…‘ ist die klassische Form dieses parapiktorialen (und -textuellen) Pastiche-Signals (vgl. Reboux 2009). Alle Zitate von Robertson stammen aus diesem Blogeintrag. 129 „It was drawn with coloured brush pens, as I thought that would be better than using Photoshop. And yes, I used a lightbox to get the ‚Weeping Woman ދright“. 130 Vgl. http://www.tate.org.uk/art/artworks/picasso-weeping-woman-t05010.
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der Cartoon zugleich ein ‚ironischer‘ Kommentar auf die Dialogizität interpiktorialer Bezüge im Allgemeinen, indem er diese auf die Ebene der Alltagskommunikation (herab-)transformiert.131 Abbildung 1: Royston Robertson, „Picasso’s Lesser-Seen Pull Yourself Together, Woman“ (2009)
Quelle: http://www.roystonrobertson.plus.com/privateeye.htm
Darüber hinaus spricht auch nichts gegen eine ‚ernsthafte‘ Lesart der Referenz, die gewiss etwas über Geschlechterverhältnisse zu sagen hat, seien es ‚unsere‘ Klischees der Rollenverteilung, sei es der misogyne Charakter einer bestimmten Art von (männlichem) Humor.132 Und vielleicht – nur vielleicht – hat dieser „on-
131 Zu dieser Funktionshypothese passt auch, dass die Gegenüberstellung im Bewusstsein dessen erfolgt, dass es sich um einen „cheap gag“ handelt, wie Robertson selbstironisch anmerkt. 132 Robertson spricht von seinen Bedenken, die genuine Trauer, die im Picasso artikuliert ist, durch die Zusammenstellung als übertrieben oder überzogen darzustellen
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spec gag“, wie Robertson ihn nennt, dieser Witz auf gut Glück, sogar etwas über die Geschlechterpolitik bei Picasso zu sagen, über den merkwürdigen Kreuzungspunkt, den Weeping Woman einnimmt, ist es doch zugleich ein Porträt seiner ‚Muse‘ Dora Maar133 und eine Universalisierung weiblichen Leidens134, das häufig in einen Werkzusammenhang mit Guernica gestellt wird. Jedenfalls hängt die Zuschreibung einer Funktion (nicht nur) in diesem Beispiel vom eigenen Standpunkt wie der Blickrichtung ab und aufgrund dieser Unverbindlichkeit kann eine Typologie der Interpiktorialität keine „universale[n] Theorie der Interikonizität“ (Zuschlag 2006: 96) sein: mit ihrer Hilfe lassen sich „die Formen konkreter Bezüge zwischen Bildern differenziert bestimmen und beschreiben“, nicht jedoch der „Betrachter und seine Rolle bei der Erfassung und Verarbeitung interikonischer Bezüge adäquat berücksichtig[en]“ (ebd.). Letzteres muss einem ‚mehrdimensionalen Modell‘ (ebd.) vorbehalten bleiben, in dem die „formale und inhaltliche Klassifizierung, also die Typologie der Erscheinungsformen von Interikonizität“ einhergeht mit „einer Analyse der funktionalen und historischen Voraussetzungen und Kontexte“ (ebd.) – liegt also jenseits des hier gesetzten Rahmens. Für das folgende Schema von Typen interpiktorialer Bezüge (Tab. 1) wird Genettes Tabelle daher wie folgt verändert: An die Stelle der strukturalen Unterscheidung von hypertextuellen ‚Relationen‘ tritt das Kriterium der ‚Aspektivität‘; an die Stelle der funktionalen Differenzierung von hypertextuellen ‚Regimes‘ tritt eine Skalierung des strukturellen ‚Abstandes‘ zwischen den jeweils aufeinander bezogenen Bildern eines Typs. Diese verläuft jeweils ausgehend von der exakten Kopie, die ihr Bezugsbild „in Format, Technik, Motiv und Stil so exakt wie möglich wiederholt“ (Zuschlag 2012: 91)135 zu einer maximalen Modifikation des jeweiligen Aspekts, die für die ‚Malweise‘ von der Materialität über die Formalität zur Stilistikalität136, für die Piktorialität vom Detail über das
(„The painting is about bereavement in the Spanish Civil War, and I wondered whether it was a suitable subject for a cartoon“), indem er sie dadurch etwa an einen Diskurs über (weibliche) Hysterie anschließt. 133 Vgl. Picasso (zit. Malraux 1976: 138): „Dora, for me, was always a weeping woman“. 134 Vgl. Picasso (zit. Malraux 1976: 138): „I was able to paint her [Maar] as a weeping woman. That’s all. And it’s important, because women are suffering machines“. 135 Vgl. Genettes (1982: 547) Bestimmung der Kopie als „transformation nulle“. 136 Davis (2011: 10) versteht unter „formality“ „the apprehension of sensuous configuration in artifacts“ oder „the level of shape and color, that is, of configuration seen as autonomous form“ (ebd. 51); „stylisticality“ ist „[s]imilarity between artifacts seen
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Motiv zum Thema verläuft137. Diese Abfolgen sind als skalierbar oder ‚aufbauend‘ zu verstehen, insofern sich Bildreihen konstruieren lassen, die in beliebig feinen Abstufungen vom einen Ende der Skala zum anderen führen. Das Spektrum reicht zum Beispiel für die Mona Lisa von der digitalen Reproduktion (etwa auf der Website des Louvre138) über in Gestalt und Form anders konfigurierte speed paintings (etwa des Berliner Künstlers Martin Mißfeldt139) bis hin zu Bildern, die die formale Transformation am Computer konsequenter durchführen, wie ein Giclée-Druck des ‚Image-Makers‘ Rafa Jenn140, in dem die Heitere bis an die Grenze der Erkennbarkeit pixelisiert dargestellt wird (Abb. 2). Jenns Bild, inzwischen auch als GelaSkin erhältlich141 und damit das Gedächtnis an das da Vinci-Gemälde einmal mehr in den kunstfernen Alltag prolongierend, ist ein gutes Beispiel dafür, was es bedeutet, die Grenzen der Form in Richtung einer stilistischen Transformation zu überschreiten. Dies kann den Rückgriff auf den charakteristischen Stil eines einzelnen ‚Bildermachers‘ (oder einer Bewegung, einer Schule usw.) bedeuten („To see style in an artifact is to sense its attributability to a maker“, Davis 2011: 49), was im Falle Jenns eine durchaus mögliche Sichtweise ist, betrachtet man ähnlich gelagerte Arbeiten wie etwa seine Dear Andy genannte Travestie von 2009, die einen von Warhols (meist titellosen) Marilyn Monroe-Siebdrucken in ähnlicher Weise verarbeitet.142 as caused by their having a common origin“ (ebd. 76). Zum Verhältnis von Form(alität) und Stil(istikalität) vgl. die folgenden Beispiele. 137 In Analogie zur Musik soll ‚Thema‘ der umfassende Begriff für den Bildgegenstand sein, der um ein zentrales Motiv oder mehrere Motive arrangiert ist, die wiederum aus unzähligen Details zusammengesetzt sein können. Vgl. die rhetorische Definition des Gegenstandes der Rede als ‚Stoff‘ („als zwecks Bearbeitung gestellte Aufgabe auch ‚Thema‘ […] genannt“, Lausberg 1963: 20). 138 Unter http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/portrait-de-lisa-gherardini-epouse-de-fran cesco-del-giocondo. 139 Vgl. http://www.martin-missfeldt.de/kunst-bilder/speed-paintings-2/mona-lisa-kopie. php; dort findet sich auch ein dreiminütiges Video der etwa drei Stunden dauernden Anfertigung des digitalen Gemäldes von 2007. 140 So die kurze Selbstbeschreibung auf seinem Twitter-Account unter https:// twitter.com/RafaJenn. Zur Pseudonymität Rafa Jenns vgl. http://denversyntax. com/ issue14/art/rafa/rafa.html. 141 Vgl. http://www.gelaskins.com/gallery/Rafa_Jenn/You_Know_What_I_Mean; GelaSkins sind „removable art skins and cases designed to personalize and protect portable devices“. 142 Nachgerade zwingend ist diese Lesart für Bilder wie Fernando Boteros Mona Lisas von 1963 und 1978.
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Abbildung 2: Rafa Jenn, You Know What I Mean (2009)
Quelle: http://www.rafajenn.com/art_and_design.html
Andererseits entsteht Stilistikalität auch dadurch, dass Verfahren der formalen Transposition wie sie beispielsweise Grafikprogramme (in Menüform) anbieten bis zu einem Punkt durchgeführt werden, an dem die mediale Eigenart des transformierten Bildes seine Piktorialität zu überlagern droht. In diesem Sinne ist die digitale Pixelisierung weniger für Jenn oder eine bestimmte Gruppe von Bildproduzenten charakteristisch, als für die Möglichkeiten eines piktorialen Dispositivs (etwa aus Grafiktablet und Bildsoftware), das dann der „common origin“ (Davis 2011: 76) derartiger Bilder ist.143 Damit ist auch klar, dass die Medialität eines Bildes für seine Klassifikation bedeutsam ist. Um bei Bildpunkten zu bleiben: ein grob aufgerasterter (in Rasterpunkte zerlegter) schwarz-weißer Abdruck einer Farbfotografie in einer Tageszeitung kann noch als Reproduktion durchgehen; eine fein pointillisierte (in Tupfer in Reinfarben zerlegte) Version eines tachistischen Gemäldes hingegen stellt bereits eine Travestie dar.144 143 Vgl. die Definition von Stil als „ein Set sinnlicher Qualitäten, die sich nicht nur in einem, sondern in mehreren voneinander unterscheidbaren Objekten in Variation finden können“ (Locher 2011: 414). 144 Für die Abbildungen in diesem Band gilt, dass nicht reproduzierbare Aspekte (Farben, Größe usw.), die für die Argumentation relevant sind, im Text nachgereicht
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Bei Jenns Bild ist die Piktorialität (gerade noch) erhalten: es zeigt noch immer die Mona Lisa. Es ist jedoch nicht schwer sich vorzustellen, dass eine noch weiter getriebene Modifikation der ‚Malweise‘ zu Bildern führt, die sich schließlich von ihrem (interpiktorial bestimmten) Gegenstand lösen, deren Stilistikalität also über ihre Piktorialität ‚triumphiert‘. In dieser Linie ist Abstraktion, also „die Entkräftung des Abbildes, und, zugleich damit, die Entdeckung genuiner und produktiver Leistungen des Bildes selbst“ (Boehm 1994a: 16), zu verstehen als die Fortführung der Travestierung bis zum Äußersten, von der Entgegenständlichung zur Gegenstandslosigkeit.145 Dass Piktorialität als Kategorie in einer typologischen Ordnung interpiktorialer Bezüge auftaucht, heißt mitnichten, die Reichweite einer Theorie der Interpiktorialität von vornherein auf gegenständliche Bilder einzuschränken (oder gar auf den gegenständlichen Aspekt solcher Bilder). Gleichwohl machen diese gewiss ihren Kernbereich aus und auch in den Beiträgen zu diesem Band stehen sie im Mittelpunkt.146 werden. Dies gilt auch für Angaben zur Materialität der reproduzierten Bilder (verwendete Materialien, Textur usw.), die die interessierte Leserin in den meisten Fällen über die Quellenangaben rekonstruieren kann. 145 Vgl. die Beschreibung von Victore Pasmores Die Spitzenklöpplerin von 1938-1939 als Travestie von Vermeers gleichnamigem Gemälde bei Krüger (2005: 104) einerseits: „Pasmore setzt sich dabei weniger mit dem gegenständlichen Motiv des Bildes, als vielmehr mit der Weise seiner Darstellung, weniger mit dem Was als vielmehr mit dem Wie des Bildes auseinander […] und wendet die Darstellung, wenn man so will, damit entschieden ins Modernistische, indem er die Blickkonzentration vom gegenständlichen Sujet auf den materiellen Farbauftrag, auf malerische Flächenwerte als dem neuen, eigentlichen ‚Gegenstand‘ des Bildes umlenkt und damit den künstlerischen Akt der Entgegenständlichung, treffender gesagt: der Abstraktion, als prozeßhaft sich ereignenden Vollzug im Gemälde selbst verankert“; andererseits Zuschlags (2002: 174-175) Ausführungen zu K.R.H. Sonderborgs Berlin 14.II.57 (II) 18.26-19.57 h (Alexanderschlacht – Altdorfer) von 1957 als die Piktorialität des Bezugsbildes hinter sich lassend: „Angeregt von der Struktur der unteren Bildhälfte mit den unzähligen vertikal, diagonal und horizontal ausgerichteten Lanzen transferiert Sonderborg die Vorlage in eine gegenstandslose, flächendeckende Komposition […]. Sonderborg blendet das von Altdorfer dargestellte historische Geschehen aus und konzentriert sich ausschließlich auf die Art und Weise, wie Altdorfer die Lanzen, die die Dynamik des Schlachtgeschehens bestimmen, als scheinbar chaotisches, dabei jedoch wohl-kalkuliertes, formal-kompositorisches Element einsetzt“. 146 Vgl. Bryson (1988: 183): „I am restricting my discussion of the image to representational painting to stop matters from getting completely out of hand“.
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Die Bezeichnungen der einzelnen Typen interpiktorialer Bezüge sind – wo möglich – entsprechend der analogen intertextuellen Praktiken gewählt. Für die globalen interpiktorialen (‚hyperpiktorialen‘) Bezüge sind dies: Facsimile (für die Nullstufe der Interpiktorialität, in der sowohl ‚Malweise‘ als auch Piktorialität erhalten bleiben), Reproduktion (für meistenteils technisch reproduzierbare Bilder, die vom Bezugsbild ‚nur‘ in seiner Materialität abweichen, formale und stilistische Parameter sowie die Piktorialität jedoch nach Möglichkeit nicht verändern), Travestie („la réfection d’un tableau, dont on conserverait le sujet et les principaux éléments de structure, dans un autre style pictural“, Genette 1982: 538), Parodie (für minimale Modifikationen der Piktorialität)147 und Pastiche (für deren maximale Modifikation unter Beibehaltung der ‚Malweise‘)148. Ergänzt werden diese Bezeichnungen für jeweils minimale (Reproduktion bzw. Parodie) oder maximale Differenz (Travestie bzw. Pastiche) durch einen Begriff mittlerer Reichweite, der durch entsprechende Attribuierung auf die beiden Aspekte verteilt wird (formal vs. thematisch): den der Transposition.149 Was nun Bilder anbelangt, die beide Aspektivitäten ihrer Bezugsbilder zugleich manipulieren, so ist derjenige Aspekt als dominant anzusehen, der zu höherem Grade einer Modifikation unterzogen wurde. Findet sich ein Bild für beide Aspekte in der gleichen Spalte wieder (was freilich für Travestie und Pastiche ausgeschlossen ist, da es sich dann schlicht um ein anderes, nicht interpiktorial korrelierbares Bild handelte) so ist im Allgemeinen die Änderung der Piktorialität als wichtiger anzusehen: Duchamps L.H.O.O.Q. von 1919 ist zum 147 Für diesen restriktiven Parodiebegriff vgl. Genette (1982: 40): „Je propose donc de (re)baptiser parodie le détournement de texte à transformation minimale“; sowie ebd. (291): „La parodie peut se résumer à une modification ponctuelle, voire minimale“. 148 Vgl. Genette (1982: 539): „la peinture connaît aussi l’imitation indirecte qui est, dans tous les arts, le propre du pastiche: imitation de la manière d’un maître dans une performance nouvelle, originale et inconnue dans son catalogue“. 149 Der Begriff ist gewissermaßen terminologisch verfügbar, wird er doch weder traditionell für eine intertextuelle Beziehung verwendet, noch in der Intertextualitätsforschung selbst einheitlich verwendet. Bei Genette (1982: 291) dient er als Synonym für „transformation sérieuse“, „sans nul doute la plus importante de toutes les pratiques hypertextuelles“; zuvor hatte Kristeva (1974: 60) ihn als Ersatz für ‚Intertextualität‘ selbst vorgeschlagen: „Le terme d’intertextualité désigne cette transposition d’un (ou de plusieurs) système(s) de signes en un autre, mais puisque ce terme a souvent été entendu dans le sens banal de ‚critique de sources ދd’un texte, nous lui préférons celui de transposition, qui a l’avantage de préciser que le passage d’un système signifiant à un autre exige une nouvelle articulation du thétique“.
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Beispiel eine Parodie auf der Grundlage einer Reproduktion;150 Das Titelbild zu Truffle Eater: Pretty Stories and Funny Pictures von Oistros (Humbert Wolfe)151, ist eine motivische Transposition, auch wenn sie durchaus von der ‚Malweise‘ (dem Zeichenstil) ihres Vor-Bildes abweicht, das heißt auch eine formale Transposition darstellt (Abb. 3). Abbildung 3: Archibald Savory, [Titelbild zu Oistros’ Truffle Eater] (1933)
Quelle: http://www.macarenses.co.uk/My%20Collection.htm#STRUWWELPETER_SATIRES_
150 Vgl. Zuschlag (2002: 173, meine Hervorhebungen): „Mit wenigen Strichen verwandelt Duchamp Mona Lisa in einen Mann und spielt damit sowohl auf die Androgynität der Portraitierten als auch auf Leonardos Homosexualität an. Zudem setzt Duchamp seine Signatur auf die (von ihm manipulierte) Reproduktion der Mona Lisa“. Vgl. Gamer (2007: 136), der zufolge Duchamp „eine vollständige Reproduktion der Mona Lisa als ‚Grundlage‘ [wählt], auf der er seine ikonoklastische Geste anbringt“. 151 Die Propagandabroschüre enthält Geschichten wie „The Story of Adolf Head-inAir“ (vgl. Rhodes 1993: 38-39) oder „The Story of Goering who would not have the Jews“ (vgl. Gohrbandt 2008: 8-10; dort auch der Hinweis auf Savory als Illustrator).
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Den genannten hyperpiktorialen Typen von Relationen entsprechen schließlich jeweils partielle, nur einen begrenzten Teil oder bestimmte Eigenschaften des Nach-Bildes betreffende Varianten, die wiederum in enger Anlehnung an ihre intertextuellen Pendants modelliert werden können. Was den partiellen Minimalfall der Modifikation anbelangt, das ‚partielle Facsimile‘ als Versuch, (Teile) eines Bezugsbildes auch in seiner Materialität in ein neues Bild einzubauen, sind allerdings die interpiktorialen Möglichkeiten vielfältiger als die intertextuellen. Letztere sind aufgrund der ‚gefalteten‘ Natur textueller Räumlichkeit invasiver, sodass der Installation in den Post-Text, dem ‚Einkleben‘ des übernommenen Materials (Collage), fast immer dessen ‚Zerschneiden‘ (Cut-up) vorausgeht. Zudem wird die Materialität des Prätextes (Schrifttyp und -größe, Zeilenumbrüche und -abstände usw.) meist im Prozess der Vervielfältigung eingeebnet, sodass er der Leserin am Ende nur mehr als Zitat begegnet. So ist beispielsweise für die Leserinnen von Robert Coovers The Public Burning (1977) kaum mehr ersichtlich, dass dessen Text durch die materiale Reorganisation tausender Ausschnitte aus anderen Texten (u.a. Zeitungs- und Zeitschriftenschnipseln) entstanden ist, da deren Layout und Formatierung für das Buch vereinheitlicht wurden. Hingegen lässt sich ein ‚überschaubares‘ Bild auch ohne Zerstückelung in ein neues Bildwerk einbauen, etwa wenn ein Künstler „ein vorgängiges Original, zum Beispiel eines anderen Künstlers, in das eigene Werk [integriert], wofür es im Œuvre von George Segal, Martin Kippenberger und Braco Dimitrijeviü Beispiele gibt“ (Zuschlag 2006: 97). Wichtiger als die Frage, ob es sich bei dem eingebauten Bild(teil) um ein Original handelt, ist freilich, ob dessen abweichende Materialität in der Zirkulationspraxis erhalten bleibt. Coover arbeitete für seine Cut-Ups ja auch mit ‚originalen‘ Ausschnitten etwa aus TIME; diese verstauben jedoch als ‚Manuskript‘ in der Houghton Library der Harvard University. Dagegen werden etwa Dimitrijeviüs Werke der Serie ‚Triptychos Post Historicus‘ in Museen ausgestellt, wodurch die materiale Differenz zwischen den integrierten Bildern und den sie umgebenden Installationen erhalten bleibt.152 Ungeachtet dessen müssen natürlich auch im bild-enden Fall die Materialien am/im bezugnehmenden Bildwerk ‚befestigt‘ werden (bei Dimitrijeviü bisweilen an der Decke), sodass die Bezeichnung dieses Typs als Collage gerechtfertigt scheint,153 zumal sich ‚Installation‘ aufgrund seiner soeben reaktualisierten Bedeutung als Raumkunstwerk verbietet. 152 Im Unterschied zu den Reproduktionen dieser Werke (etwa unter http://braco dimitrijevic.com/index.php?album=tryptichos), die die Bezugsbilder in ‚bloße‘ Zitate transformieren. 153 Der Begriff ist also wörtlich zu nehmen. Samoyault (2001: 60) nennt etwa Cut-Ups eine „littéralisation de la notion de collage“; Klotz (1976: 187) spricht von „Zitie-
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Ausgehend von der ‚minimalen‘ Transformation in der Collage lassen sich zwei Linien partieller Interpiktorialität unterscheiden, die sich jeweils durch fortschreitende Einpassung in das bezugnehmende Bild unterscheiden und sich so einer Verschleifung oder Verdunkelung des Bezuges annähern – entweder indem die ‚Malweise‘ des übernommenen Bild(teil)es immer mehr dem seiner neuen Bildumgebung angepasst wird, während seine Piktorialität erhalten bleibt,154 oder indem umgekehrt einzelne Züge seiner formal-stilistischen Gestaltung in immer stärkerem Maße auf das Nachbild übergreifen, während von seiner Piktorialität abgesehen wird. Die Skalierung nach dem Grad der Modifikation eines Aspekts ist für partielle Referenzen also zugleich ein umgekehrter Gradmesser ihrer Markierung (oder ein Gradmesser ihrer Unmarkiertheit).155 Nimmt ein Bild eine (Teil-)Reproduktion eines anderen Bildes in sich auf, so handelt es sich um ein Zitat;156 die Einpassung (eines Teils) der Piktorialität eines Bildes in ein anderes Bild durch formale Transposition kann Paraphrase genannt werden, da ihr der ebenfalls punktuelle textuelle Versuch entspricht, das Gleiche mit eigenen Worten zu sagen („dire la même chose autrement“, Genette rung im montierten Werk“, die „hervor[hebt], was im organisierten Kunstwerk unterdrückt wird, nämlich den Sachverhalt der Deplazierung“. 154 Vgl. Sitt/Horányi (1993: 13): „Es [das Zitat] wird zwar durch die Verwendung gebrochen, doch es bleibt, um seine gewünschte Wirkung zu erzielen, unverschliffen mit dem neuhinzugewonnenen Kontext“. Für Klotz (1976: 186-187) hingegen bedeutet schon das Zitat eine vollständige Vereinnahmung durch das organisierte Kunstwerk. „Sie [die organisierten im Unterschied zu den montierten Werken] verwahren und begründen, was sie zitieren, im eigenen Werk. Sie gemeinden es ein in dessen Stil und Illusionsraum. Zwar verweist das Zitat nach draußen, auf seinen Herkunftsort, doch ist ihm alle Fremdartigkeit genommen“. 155 Vgl. für die den Aspekt der ‚Malweise‘ betreffende Linie Rosen (2003: 163, Zitat im Zitat aus Sitt/Horányi 1993: 11), die das „Bildzitat“ definiert als „die ‚unverschliffenen, für jeden erkennbaren Partien, die aus anderen Bildern entlehnt bzw. entnommen sind‘“, wohingegen eine „Allusion“ vorliege, „wenn der Bezug weniger deutlich signalisiert ist“. Genette vermischt die Unterscheidungen von globalen/lokalen und unmarkierten/markierten Referenzen, indem er Intertextualität als „hypertextualité ponctuelle et/ou facultative“ (1982: 19), Hypertextualität dagegen als „massive et déclarée“ (ebd. 18, 19) bestimmt. Vgl. den Hinweis auf den „état implicite (et parfois tout hypothétique) de l’intertexte“ (ebd. 9) und die Einschränkung seines Untersuchungsgebietes auf Gattungen, die als „officiellement hypertextuels“ (ebd. 19) anzusehen sind. 156 Vgl. Goodman (1984: 65): „Ein Bild zitiert ein anderes nur dann direkt, wenn es sowohl darauf Bezug nimmt als auch es enthält“.
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1982: 15); die stilistische Absorption der Piktorialität eines Bildes kann Anspielung („an implied or indirect reference to a person, place, or event“, Werlock 2000: 17) heißen. Als Beispiele aus der unerschöpflichen Fülle der GiocondaNachbilder können dienen: das L.H.O.O.Q.-Zitat in Fieldtrip to the Louvre von Nelson De La Nuez (dem selbsternannten „King of Pop Art“)157 aus dem Jahr 2000158; die Mona Lisa-Paraphrase in Fernand Légers La Joconde aux Clefs von 1930; die Figur der Mona Lisa in Charles Adams’ I Think You Know Everybody von 1979.159 De La Nuez’ und Adams’ Bild beruhen auf einer ähnlichen Bildidee, indem sie Figuren aus bekannten Gemälden in einem neuen Bildraum zusammenbringen, unter ihnen jeweils die Gestalt aus (einer der Fassungen von) Edvard Munchs Der Schrei der Natur. Der Vergleich zeigt deutlich die Differenz von Zitat und Anspielung: während bei De La Nuez der Ausschnitt aus einer Reproduktion von Duchamps Bild einmontiert ist und sich durch erkennbare Schnittkante und deutlichen Stilkontrast (der durch die Anwesenheit weiterer zitierter Figuren von Botticellis Venus bis Mr. Magoo noch verstärkt wird, vgl. Rose 2008: 116-117)160 vom umgebenden Raum, dem Inneren eines Busses, deutlich abhebt, ist die Mona Lisa in Adams’ Cartoon Teil einer nicht weniger illustren Gesellschaft (die u.a. Velazquez’ Infantin Margarita Teresa und die beiden Figuren aus Grant Woods American Gothic umfasst), die sich jedoch abgesehen von basalen Unterschieden in Größe und Perspektive nahtlos in den Innenraum des Hauses einfügt, in dem sie empfangen wird. Insofern bei De La Nuez der Bezug auf andere Bilder unübersehbar ist, während Adams nur mehr auf Figuren aus diesen Bildern zurückgreift, die er einander ‚anähnelt‘, ist das Zitat der stark markierte, die Anspielung der kaum markierte Fall.161 157 Vgl. http://www.kingofpopart.com. 158 Vgl. für eine Abbildung (nebst Busride to the Louvre von 1994, das die da VinciMona Lisa zitiert) und eine terminologisch etwas verwirrende Besprechung Rose (2008: 115-117, hier 116): „In den Bildern von Nelson De La Nuez werden […] Verfahren der Parodie, wie die unerwartete Zusammenstellung von gutbekannten (bzw. ‚veralteten‘) Bildern, benutzt, um den Pastiche zu ‚komisieren‘ bzw. ins Komische zu ziehen“. 159 Für die letztgenannten Bilder von Léger und Adams vgl. http://www.mus.ulaval.ca/ lacasse/cours/Seminaires/Oeuvre/intertextualite.htm. Adams’ Titel erinnert nicht zufällig an den von Jenn, nur im Plural. 160 Dieser massive Rückgriff auf Bildzitate macht De La Nuez’ Bild beinahe zu einem piktorialen Cento („un ouvrage entièrement composé de citations“, Samoyault 2001: 35). 161 Dies fällt allerdings ob der Prominenz der meisten Bilder/Figuren in diesen Beispielen kaum ins Gewicht, wobei die bekanntesten, allen voran die Mona Lisa, als Le-
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Diese Markierung durch Stilkontrast sollte nicht verwechselt werden mit expliziten Signalen der Bezüglichkeit wie (im Falle von Texten) den Anführungszeichen, bezüglich derer gerne die doppelte Behauptung geäußert wird, sie seien für textuelle Zitate unerlässlich, während sie den Bildern fehlten.162 Was den ersten Punkt anbelangt, sind Anführungszeichen zwar eng mit ‚unserer‘ Vorstellung vom Zitat (als Rückgriff auf ‚geistiges Eigentum‘) verbunden, aber für das Vorliegen eines Zitats sind sie keinesfalls unerlässlich: ein nicht ‚angeführtes‘ Zitat, in der Intertextualitätsforschung bisweilen als gute literarische Praxis Implizitat genannt163, bleibt Zitat.164 Umgekehrt lassen sich auch Paraphrase und Allusion, die üblicherweise ohne Anführungszeichen auftreten, explizit als intertextuelle Bezüge kennzeichnen, indem etwa der Titel des herangezogenen Buches genannt wird.165 Bezüglich des zweiten Punktes, des Fehlens von bildli-
sehilfen für die weniger bekannten fungieren. Je esoterischer und vereinzelter jedoch die (hochkulturellen) Bezugspunkte der Anspielung, desto eher erscheint sie als „Probe […] auf den Bildungsbesitz“ (Lausberg 1963: 134), während für das Zitat in jedem Falle erkennbar bleibt, dass auf Vorbilder referenziert wird. Anders gesagt: dass zitiert wird, ist auch noch dann erkennbar, wenn nicht klar ist, was zitiert wird. 162 Vgl. etwa Gelshorn (2007: 56) über die „anhaltende Diskussion“, „ob Bilder überhaupt im strengen Sinne ‚zitieren‘ können, da ihnen zum Beispiel die ‚Anführungs-‘ oder ‚Anmerkungszeichen‘ des Textes fehlen“; vgl. Zuschlag (2006: 97): „Andere Möglichkeiten [als paratextuelle] der Markierung eines Zitats in einem Text, wie beispielsweise die Anführungszeichen, fehlen hingegen in der bildenden Kunst“. Dass die Diskussion in der Tat schon länger anhält, belegen Sitt/Horányi (1993: 21) mit einem ohne Nachweis zitierten Diktum Gombrichs („Die bildende Kunst wie die Musik kennt keine Anführungsstriche“). 163 Vgl. Samoyault (2001: 44): „L’impli-citation […] désigne la citation implicite, entièrement fondue dans le texte d’accueil“. Es sei daran erinnert, dass auch das TextZitat die Materialität der Bezugsstelle ändert und sie dem bezugnehmenden Text angleicht („entièrement fondue dans le texte d’accueil“), was wiederum einen Stilkontrast nicht ausschließt. 164 Nur deshalb stellt die unmarkierte Übernahme von Textstellen in wissenschaftlichen Arbeiten ein (Teil-)Plagiat dar (und deren unterschiedliche ‚Schreibweise‘ oft das beste Indiz für dessen Aufdeckung). 165 Samoyault (2001: 44) unterscheidet „référence précise“ – „Il peut s’agir d’un titre (en italiques) et d’un nom d’auteur, d’un nom de personnage et d’un nom d’auteur, etc.“ – und „référence simple“ – „la mention d’un nom (d’auteur, de mythe, de personnage) ou d’un titre“. Für wissenschaftliche Texte hat der Literaturverweis (in Klammern oder in Fußnoten) eine ähnliche Funktion.
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chen Anführungszeichen, ist festzuhalten, dass auch das Bild explizite Verweissignale kennt, was Goodman am Nachdrücklichsten hervorgehoben hat: „Welches sind aber die Mittel, mit denen ein Bild auf ein anderes Bezug nimmt, das es enthält? Mit anderen Worten, was ist das bildliche Analogon von Anführungszeichen? Eins ist wohl klar: Wie man einen Ausdruck in Anführungszeichen setzt, so kann man ein Bild direkt zitieren, indem man es mit dem Bild eines Rahmens umgibt; und es gibt weitere Mittel mit gleicher Wirkung, etwa indem es auf einer Staffelei befindlich oder an der Wand hängend gemalt wird.“ (Goodman 1984: 65-66)166
Die Besonderheit einer solchen Markierung von Bezüglichkeit vermittels Metaisierung, also der Darstellung eines Bildes im Bild (Stoichita 1998; Stoichita 2002), besteht darin, dass sie zum einen dazu tendiert, statt auf ein individuelles Vor-Bild auf eine ‚vorbildliche‘ generische ‚Malweise‘ zu rekurrieren;167 zum anderen wird durch die Rahmung das Bild-im-Bild gegen seine neue Bildumgebung abgegrenzt und dadurch ‚totalisiert‘, also zum abgegrenzten Raum hyperpiktorialer Praktiken gemacht. Ein Bild im Bild, das seine Piktorialität in die Formalität vorgängiger Bilder einkleidet,168 ist deshalb keine Paraphrase, sondern das Zitat einer formalen Transposition. Mit anderen Worten: das Bild im Bild wird aufgrund seiner Begrenzung nicht zum Teil eines anderen Bildes, sondern es handelt sich um ein „Mit- und Gegeneinander der differenten Bilder“ (Brassat 2005: 54). Die gesamte Problematik der (bildlichen) Anführungszeichen liegt insofern quer zur Typisierung von Erscheinungsformen der Interpiktorialität, steht mithin zu ihren partiellen Ausprägungen sogar windschief. Sie kann deshalb als „Sonderfall interpikturaler Relation“ (Rosen 2003: 163) hier nicht weiter berücksichtigt werden. Abschließend seien noch die partiellen Pendants zu den hyperpiktorialen Formen der Modifikation der Piktorialität ge- und benannt: der Parodie entspricht das, was in Ermangelung eines besseren Begriffswortes Fehlzitat oder 166 Dass Goodman (1984: 66) nachfolgend die Differenz von sprachlichem und bildlichem Zitat in der Einmaligkeit von Gemälden sucht, bedeutet nicht nur eine massive Einschränkung der Reichweite des Bildbegriffs, sondern auch eine Fortsetzung des Mythos der Immaterialität der Sprache („im technischen Sinne von Replik gibt es keine Repliken von Bildern, so wie es Repliken von Wörtern gibt“). 167 Vgl. das Beispiel des Pala di San Marco (um 1440) in Brassat (2005: 52-56), das ein „fiktive[s] Täfelchen“ (ebd. 54) enthält, für das sich Fra Angelico „historisierender Mittel, ‚eines anderen Sprache‘ bedient [hat]“ (Bachtin zit. ebd.). 168 Wie das Bild Fra Angelicos, „das noch jenen Goldgrund aufweist, den die Pioniere Masaccio und Alberti verworfen hatten“ (Brassat 2005: 54).
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Miszitation genannt werden könnte, also ein geringfügig verändertes Zitat (vgl. das Bryant-Zitat bei Hemingway unter IV.1). Als Beispiel – um ein letztes Mal bei der Mona Lisa zu bleiben – mag Malewitschs Komposition mit Mona Lisa von 1914 (vgl. Gamer 2007: 127-130 sowie den Beitrag von JUDITH ELISABETH WEISS in diesem Band) dienen. Darin wird genauso verfahren wie in Duchamps Parodie, ihrem ganzheitlichen Pendant: eine (Teil-)Reproduktion wird partiell übermalt. Allerdings gehören die hinzugefügten ‚Pinselstriche‘ bei Malewitsch der ungegenständlichen Ordnung des umgebenden Bildes an, weshalb weniger eine minimale Änderung der Piktorialität gegeben ist, als eine Ablösung von ihrem gegenständlichen Gehalt impliziert wird.169 Das Bezugsbild erscheint, so ließe sich fast sagen, in Malewitschs Komposition unter (doppelter) ‚kreuzweiser Durchstreichung‘ (um auf Derrida anzuspielen). Ausgehend von diesem Fall, in dem die ‚Malweise‘ des umgebenden Bildes das zitierte Bild buchstäblich überlagert (während seine Piktorialität ‚darunter‘ erhalten bleibt), kehren sich die Verhältnisse bis zum äußersten Fall eines ‚selektiven Pastiches‘ um, in dem ein Moment der Stilistikalität des Bezugsbildes in das Nach-Bild als Ganzes übergeht (während sich seine Piktorialität verliert). In Anlehnung an Genette, der allerdings mit dem „balzacisme“ (1982: 103) eine intertextuelle und deshalb präziser lokalisierbare Ausformung des punktuellen Pastiches beschreibt – „je forme une nouvelle performance singulière, que je peux légitimement considérer comme (et places dans) un pastiche de Balzac“ – und das Suffix ausdrücklich als Begriff empfiehlt, kann diese Variante interpiktorialer Bezüglichkeit ‚Ismus‘ heißen.170 Unter Voraus-Setzung dieses ‚imprakti169 Vgl. Gamer (2007: 129): „Die Mona Lisa wird zur Marginalie degradiert; stattdessen rückt die suprematistische Formenwelt ins Zentrum der Komposition: Malewitsch verschiebt den Schwerpunkt von der gegenständlichen zur ungegenständlichen Kunst“. 170 Genette (1982: 105-106) befindet diese Bezeichnung für zugleich folgerichtig und unmöglich („Le plus algébrique, mais le moins praticable, serait peut-être de lexicaliser le suffixe lui-même, trait commun à toutes ses applications spécifiques: tous ces calques translinguistiques, tous ces idiotismes transplantés seraient simplement, et tout court, des ismes“) und einigt sich dann (mit sich selbst) auf ein anderes Begriffswort: „Il faudra nous contenter de mimétisme“ (ebd. 106). Im Übrigen benutzt er zur Bezeichnung von ‚Ismen‘ auch schlicht das Wort ‚Imitation‘ (kursiv), was in Anbetracht der Opposition von Transformation und Imitation (recte) auf der obersten Ebene seiner Typologie vielleicht nicht die allerbeste Idee ist. Präzise ist jedoch seine Gegenüberstellung von ‚Ismus‘ als lokaler, Pastiche als globaler Variante ein und desselben Typs: „L’imitation est donc aux figures (à la rhétorique) ce que le pastiche est aux genres (à la poétique). L’imitation, au sens rhétorique, est la figure
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kablen‘ Begriffs (und also mit weniger Skrupel als Genette, aber gewiss dem gleichen Ernst), sei sodann für die partielle Variante der motivischen Transposition der Terminus ‚Age‘ vorgeschlagen, von dem ausgehend dann je nach Funktion Hyponyme wie Hommage oder Persiflage gebildet werden können. Als Beispiel für eine ‚Age‘ mag dienen: der Comic Tales of the Black Freighter in der Graphic Novel Watchmen (Moore/Gibbons 1995). Bisweilen auf verschiedene Weisen nach dem Paradigma des Bildes-im-Bild markiert171, bisweilen in unmarkierter Form (als Panels von Watchmen) präsentiert, erzählt die intermittierend auftretende, über fünf Kapitel verteilte Bild-Sequenz dieses ‚Binnen-Comics‘ eine als solche nur unzureichend beschriebene ‚Piraten-Geschichte‘ der makabren Art mit dem Titel „Marooned“.172 Eingelassen in ein äußerst verworrenes Netz von interpiktorialen und auch intertextuellen Verweisen, lässt sich „Marooned“ zum einen als Paraphrase auf die Piraten-Comics von E.C. aus den 1950er Jahren betrachten („the E.C. giants such as ‚Piracy ދand ‚Buccaneers“ދ, Moore/Gibbons 1995: V.31), die – etwa in der Farbgebung – der Rahmen-Erzählung angenähert ist;173 zum anderen (und dominant) handelt es sich um eine ‚Age‘ an den Zeichenstil Joe Orlandos (Homm-Age), der in den frühen 1950er Jahren für EC Comics arbeitete, nicht jedoch im Piraten-Genre. „Marooned“ ist eine ‚orlandoesk‘ gezeichnete ‚andere‘ Geschichte – also isoliert von der sie umgebenden ‚Rahmen‘-Erzählung betrachtet eine thematische Transposition („dire autre chose semblablement“, Genette 1982: 15) –, was nicht weiter verwunderlich ist, da sich Gibbons für seine Zeichnungen zu „Marooned“ an einer tatsächlich von Orlando eigens für Watchmen gezeichneten splash page aus der Tales of the Black Freighter-Episode „The Shanty of Edward Teach“ orientierte (ebd. V.30).174 Dadurch, dass jedoch auch der ‚Rest‘ (also der Hauptélémentaire du pastiche, le pastiche, et plus généralement l’imitation comme pratique générique, est un tissu d’imitations“ (ebd. 104). 171 Etwa als ‚Comic-Buch im Panel‘ (Kap. III, S. 1) , als ‚Comic-Seite im Panel‘ (III.2) oder als ‚von Sprechblasen aus der Rahmenerzählung überlagertes Panel‘ (III.2). 172 Vgl. die Kurzzusammenfassung in Textform als Teil der als Reprint aus dem (fiktiven) Buch Treasure Island Treasury of Comics ausgegebenen Abhandlung über Tales of the Black Freighter (Moore/Gibbons 1995: V.29-32). 173 Diese Farbgebung, für die John Higgins als selten genannter dritter ‚Autor‘ verantwortlich zeichnet, konnte dann ihrerseits wieder als Vorbild für die neu kolorierten Wiederauflagen von E.C.-Serien aus den 1950er Jahren wie ‚Crime SuspenStories‘ dienen, die in den 2000er Jahren als ‚The EC Archives‘ erschienen. 174 Im Text wird „Marooned“ dem (fiktiven) Comic-Künstler Walt Feinberg zugeschrieben, der die Serie vorgeblich von Orlando übernommen hatte (Moore/Gibbons 1995: 31).
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Teil) von Watchmen in einer ähnlichen ‚Malweise‘ gehalten ist (wozu neben Gibbons eben auch Higgins seinen Teil beigetragen hat), ergibt sich für „Marooned“ der Eindruck eines ‚Kompromiss-Stils‘ (vgl. Brassat 2005: 54), der zum Teil auf die Formalität des gesamten Comics überzugreifen scheint.175 Diese Hommage an Orlando kann dann ihrerseits als ‚Lesehilfe‘176 für eine noch übergriffigere, den ganzen Comic formatierende Bezugnahme dienen, die nur ein einzelnes Merkmal der Stilistikalität von Watchmen betrifft: die Panelanordnung. Diese von ihrem Gegenstand gänzlich losgelöste, pastichisierende Referenz besteht in dem von Gibbons konsequent verwendeten nine-panel grid und gilt entweder dem EC Comics-Zeichner Harvey Kurtzman177 oder Steve Ditko, der diese Seitengestaltung unter anderem für seine 1967 eingeführte Figur des Mr. A (Witzend #3, 1967) verwendete178. Ditko betreffend ergibt sich als 175 Oder mit einer musikalischen Analogie ausgedrückt: „Tales of the Black Freighter acts as a counterpoint, making connections and drawing parallels with the main narrative“ (Millidge 2011: 128). 176 Für das Konzept der Lesehilfen vgl. nochmals Wolf (2008a: 327) bezüglich intermedialer Referenzen: „In der verdeckten I[ntermedialität] kann die Nachweisbarkeit […] zum Problem werden, namentlich in einer wichtigen Unterform: der Imitation bzw. Inszenierung eines fremden Mediums, d.h. im Versuch, in einem Medium (oft bis an die Grenzen von dessen Möglichkeiten) ein anderes Medium unter ‚ikonischer‘ statt ‚referentieller‘ Zeichenverwendung nachzuahmen, z.B. wenn ein literar[ischer] Text durch bestimmte Strukturen der Musik angenähert wird. In der Regel bedarf es zur Erkennbarkeit der I[ntermedialität] hierbei einer ‚Lesehilfe‘ (in paratextuellen Hinweisen, Bildunterschriften o.ä.). Diese Hilfen gehören zur zweiten Unterform verdeckt intermedialer Bezüge: der intermedialen Thematisierung, bei der unter üblicher Verwendung der Zeichen des einen Mediums auf ein anderes Medium referiert wird: z.B. in der Beschreibung eines Gemäldes in der literar[ischen] Ekphrasis“. Wichtiger noch als parapiktoriale Hinweise, die für das hier besprochene Beispiel ebenfalls zu finden sind, ist die Idee, dass ‚manifeste‘ Bezüge (so Wolfs Gegenbegriff zu den ‚verdeckten‘) auf die Spur von weniger offensichtlichen (nicht explizierten oder in geringerem Umfang markierten) Referenzen führen. 177 Vgl. Gibbons (zit. Millidge 2011: 128): „A lot of the storytelling in Watchmen is actually Harvey Kurtzman storytelling. The nine-panel grid comes largely from the EC Comics of the forties and fifties“. 178 Vgl. Gibbons (zit. http://www.comicsbulletin.com/interviews/3482/watching-thewatchmen-with-dave-gibbons-an-interview/): „I never really thought about the question of imposing order on Mr. A or The Question. I think that was just where Ditko was at in 1967 and 1968, that in order to get the amount of story he wanted into those pages, it dictated a nine-panel grid“.
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zusätzliche Lesehilfe, dass die Figur des Rorschach eine Anspielung auf Mr. A ist: der ähnlich (allerdings in Weiß) gekleidete, ebenfalls die Rollen des Detektivs und des Rächers erfüllende Mr. A wird in die fiktionale Welt von Watchmen übertragen und nahtlos in dessen Bilderwelt eingegliedert.179 Mit ihm und über ihn hinaus eignen sich Moore und Gibbons selektiv Ditkos Methode des Seitenaufbaus an: ein Ditkoismus.180 Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob nicht mit diesen ComicBeispielen – der sich über etliche Einzelbilder erstreckenden ‚Age‘ an Orlando und vor allem den die Comic-Seite als „panelübergreifende[n] Bildraum“ (Schürer 2008: 158) betreffenden Ditko-‚Ismus‘ – die Grenze des Feldes der Interpiktorialität überschritten ist. Vielleicht lässt sich das wiederkehrende Muster der diagrammatischen Anordnung der Einzelbilder auf der Seite tatsächlich bereits als ein Phänomen der ‚Interdiagrammatizität‘ lesen.181 Andererseits hat das Gitternetz des Comics durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit den perspektivischen Schemata, die sich aus der Linienführung des jeweiligen Bildes speisen und mit denen die Kunstgeschichte die in diesen Bildern inszenierte Raumanschauung veranschaulicht, um deren (Zentral)Perspektiv-Ismus zu rekonstruieren (vgl. etwa Panofsky 1974b, besonders die „Textfiguren“ 6 und 7). Die Panelan179 Vgl. Moore (zit. http://www.vicsage.com/misc/rorschach.php): „I did hear that someone was interviewing Steve Ditko and asked him whether he’d seen Watchmen and this character in it called Rorschach and he said ‚Oh yes, I know that, he’s the one who’s like Mister A, except Rorschach is insaneދ.“ 180 Ein vergleichbares Phänomen sind die diversen ‚Ismen‘ der Lichtgestaltung im Film, wie etwa der Menzelismus in Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975). Dazu Fischer (2004: 177): „man hat den Eindruck eines homogenen Lichtschleiers, der diese Aufnahmen bis in die dunklen Bereiche hinein durchtränkt. Die geringe Schärfentiefe […] verstärkt diesen Sfumato-Effekt und steigert den flächig-malerischen Charakter dieser Sequenzen. Daraus entsteht aber eine Lichtstimmung, wie wir sie erst aus dem 19. Jahrhundert kennen, etwa in Adolph Menzels (1815-1905) populärstem Bild, dem Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci“. Für Hinweise zu einem Constable-Ismus der Ausleuchtung in Karel Reisz’ The French Lieutenant’s Woman von 1981 vgl. Chatman (1990: 180, Anm. 38). 181 Ein den Rahmen dieses Bandes übersteigendes und trotz des neuerlichen Interesses am Diagramm als ‚Zwischending‘ von Text und Bild (vgl. Thürlemann 2011; Krämer 2009) bisher wenig beachtetes Gebiet. Für ein Beispiel interdiagrammatischer Kunst vgl. die auf Oliver North’s Flowcharts zur Iran-Kontra-Affäre zurückgehenden „global networks“ von Mark Lombardi (vgl. Hobbs 2003: 32-33). Dass auch der Comic eine Zwischenstellung zwischen (überschaubarem) Bild und (gefaltetem) Text einnimmt, wurde schon festgehalten.
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ordnung weist somit zumindest eine Familienähnlichkeit mit einzelbildlichen Praktiken auf und gehört insofern noch in den Bereich der Interpiktorialität.182 Eine eingehende Untersuchung des nine-panel grid als ‚symbolische Form‘ steht unterdessen noch aus. Die Ergebnisse des vorausgegangenen Parcours durch die Erscheinungsformen der Interpiktorialität fasst die folgende Tabelle zusammen. Dabei stellt sich das Problem, dass viele Termini, die Bezüge ausdrücken, eine einseitige Orientierung am Bezugsbild zu artikulieren scheinen,183 was dem dialogischen Charakter interpiktorialer Bezüge zuwider liefe. Es wurde daher versucht, dies bei der Wahl der Begrifflichkeiten zu berücksichtigen, so sie nicht auf traditionelle Begriffe (der Intertextualitätstheorie) zurückgreift. Statt wie zuvor von Transformation, Modifikation oder Änderung soll deshalb schlicht von ‚Abweichung‘ die Rede sein. Das Bezugsbild ist Vor-Bild nur im Sinne eines Vorgängers, nicht eines Musters oder Modells; es weicht ebenso sehr von seinem Nach-Bild ab wie umgekehrt.184
182 Vgl. Meteling (2010: 23): „Genauso wie der Geschichte der Literatur als literarische Reihe somit eine latente Intertextualität zugrunde liegt, gilt auch für die Geschichte des Comics, versteht man sie als pikturale Reihe, ein Modell der Interpikturalität, also ein Konzept, in dem sich Bilder auf andere und das heißt: auf ältere Bilder beziehen“. 183 Vgl. Schulte-Middelich (1985: 199): „Trotz einer Vielzahl höchst aufschlußreicher Textbeispiele bleibt als Schwäche unübersehbar, daß die Genettesche Systematik zu eng angelegt und einseitig an der Frage nach der Bewertung des Prätextes orientiert ist“. Konkret zum Begriff des Palimpsestes Stierle (1983: 24): „Der Begriff verfehlt […] das Besondere der intertextuellen Verweisung in anderer Richtung“. 184 Die Bezeichnung eines Bezugs-Textes als Prätext hat dagegen den Vorzug, dass das Präfix neben der zeitlichen Bedeutung auch eine räumliche hat, die den ‚vorgängigen‘ Text zugleich als ‚Vorwand‘ oder ‚Scheingrund‘ (engl. pretext > lat. Praetextum) ausweist. Vgl. die Überlegungen in Rose (2011: 8, Anm. 19): „The term pretext for the work parodied has also not been used because of its associated meaning of pretence in English, although the term pre-image might be considered as a synonym for the image on which a pictorial parody is based, as well as a literal translation of the German ‚Vorbildұ that is otherwise translated as ‚modelދ, ‚exampleދ, or ‚prototype“ދ.
partiell (selektiv)
total (hyper-)
Piktorialität
partiell (punktuell)
total (hyper-)
‚Malweise‘
Aspekt der Abweichung
Grad der Abweichung
Post Historicus‘
z.B. Dimitrijeviü, ,Triptychos
Collage
z.B. Appropriation Art
Facsimile
Minimale Abweichung
minimal