Besatzungsmacht Musik: Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914-1949) [1. Aufl.] 9783839419120

Musik hatte im Zeitalter der Weltkriege zahlreiche Funktionen: Sie erklang als Teil der Propaganda, als Instrument der B

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German Pages 336 Year 2014

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Inhalt
Eine Fortsetzung des Krieges mit musikalischen Mitteln? Hegemoniale Funktionen von Musik im Europa der Weltkriege
I. MUSIK ALS BESATZUNGSINSTRUMENT
Einführung
Klänge von Macht und Ohnmacht. Musikpolitik und die Produktion von Hegemonie während der Rheinlandbesatzung 1918 bis 1930
Musik und Nationalgefühl? Emotionaler Weltzugang in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Politischer Genuss durch erlernte Emotionen? Aufführungen der Berliner Philharmoniker im Zweiten Weltkrieg
Denazifizierung mit Debussy. Strategien französischer Musikpolitik im Nachkriegsdeutschland
II. BEDROHTE MUSIK – BEDROHUNG MUSIK
Einführung
Zwischen Anheizen und Ablenken. Zu Wirkungen und Funktionen von Musik in der nazistischen Besatzungspolitik
Die Häftlingsorchester in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Musikalische Gewalt und Emotionsmanagement mit Musik
Music and its Emotional Aspects during the Nazi Occupation of Poland Katarzyna Naliwajek-Mazurek
III. MUSIKALISCHE ANTWORTEN AUF KRIEG UND BESATZUNG
Einführung
Besatzungsmacht Wagner. Der französische Kriegsbann von 1914
Verdrängen durch Überspielen. Musik, Krieg und Kriegsbewältigung am Beispiel des einarmigen Pianisten und Mäzens Paul Wittgenstein
Lili Marleen. Germanische Hegemonie oder Kriegsbeute?
Eine deutsche Jazzgeschichte 1945–1949
Zu den Autoren
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Besatzungsmacht Musik: Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914-1949) [1. Aufl.]
 9783839419120

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Sarah Zalfen, Sven Oliver Müller (Hg.) Besatzungsmacht Musik

Histoire | Band 30

Sarah Zalfen, Sven Oliver Müller (Hg.)

Besatzungsmacht Musik Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914-1949)

Redaktion: Iris Törmer

Der Druck des Sammelbandes wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: MARLENE DIETRICH, entertaining front-line soldiers of the Third Army, 1944 Satz: Iris Törmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1912-6

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Eine Fortsetzung des Krieges mit musikalischen Mitteln? Hegemoniale Funktionen von Musik im Europa der Weltkriege

Sarah Zalfen und Sven Oliver Müller | 9

I. MUSIK ALS BESATZUNGSINSTRUMENT Einführung

Jörg Echternkamp | 33 Klänge von Macht und Ohnmacht. Musikpolitik und die Produktion von Hegemonie während der Rheinlandbesatzung 1918 bis 1930

Stephanie Kleiner | 51 Musik und Nationalgefühl? Emotionaler Weltzugang in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Rebecca Wolf | 85 Politischer Genuss durch erlernte Emotionen? Aufführungen der Berliner Philharmoniker im Zweiten Weltkrieg

Sven Oliver Müller | 103 Denazifizierung mit Debussy. Strategien französischer Musikpolitik im Nachkriegsdeutschland

Andreas Linsenmann | 129

II. BEDROHTE MUSIK – BEDROHUNG MUSIK Einführung

Claudius Torp | 153

Zwischen Anheizen und Ablenken. Zu Wirkungen und Funktionen von Musik in der nazistischen Besatzungspolitik

Hanns-Werner Heister | 159 Die Häftlingsorchester in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Musikalische Gewalt und Emotionsmanagement mit Musik

Juliane Brauer | 187 Music and its Emotional Aspects during the Nazi Occupation of Poland

Katarzyna Naliwajek-Mazurek | 207

III. MUSIKALISCHE ANTWORTEN AUF KRIEG UND B ESATZUNG Einführung

Daniel Morat | 227 Besatzungsmacht Wagner. Der französische Kriegsbann von 1914

Hermann Grampp | 233 Verdrängen durch Überspielen. Musik, Krieg und Kriegsbewältigung am Beispiel des einarmigen Pianisten und Mäzens Paul Wittgenstein

Gesa zur Nieden | 255 Lili Marleen. Germanische Hegemonie oder Kriegsbeute?

Michael Walter | 279

Eine deutsche Jazzgeschichte 1945–1949

Anja Gallenkamp | 299 Zu den Autoren | 327

Eine Fortsetzung des Krieges mit musikalischen Mitteln? Hegemoniale Funktionen von Musik im Europa der Weltkriege S ARAH Z ALFEN

UND

S VEN O LIVER M ÜLLER

I. B ESATZUNGSMACHT M USIK Spätestens seit den Schlachten um die irakische Stadt Falludscha im Jahr 2004, in denen das US-amerikanische Militär versuchte, die Stadt, die sich unter amerikanischer Besatzung als Rebellenhochburg etabliert hatte, zu erobern, ist Musik als Teil und Mittel von Krieg und Besatzung wieder ein Thema. Die Aufständischen wurden hier nicht allein mit Infanterie und Scharfschützen, Jagdbombern und Phosphorgranaten angegriffen – sondern auch mit Musik. Aus riesigen Boxen schallten Lieder von Metallica und AC/DC und wurden Teil des Kriegsgetöses, in dem sie zugleich durch Lautstärke wie durch ihre bestimmte kulturelle Codierung wirken sollten.1 Auch in anderen Stadien des »War on Terror« spielte Musik eine gleichermaßen aggressive wie suggestive Rolle: Vor allem Suzanne Cusick hat mit

1

Vgl. J. Keyser, Troops Blast Music in Siege of Fallujah, Associated Press, 17.4.2004,

http://www.commondreams.org/headlines04/0417-17.htm

(21.03.

2012). Dass AC/DC auf Grund der schottisch-australischen Herkunft der Band keine genuin amerikanische Musik ist, mag den Amerikanern wie Irakern ein überflüssiges Detail gewesen sein.

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ihren Beiträgen über den martialischen Einsatz »lauter Musik« in Internierungslagern der USA für Aufsehen gesorgt2 und anschaulich gemacht, wie Musik als Teil der »white« oder »no-touch torture« Gewalt und Macht über den menschlichen Geist und Körper ausüben kann und infolgedessen in Situationen kriegerischer Konflikte an Bedeutung gewinnt. Dabei stehen Musik und Gewalt oder Musik und Krieg traditionell intuitiv wie normativ in einem Widerspruch. Bildet Musik, die wie keine andere Kunst von den Prinzipien der ästhetischen Harmonie gestaltet wird, nicht per se eine Friedensbotschaft und Friedenskraft, wie Manfred Hermann Schmid meint?3 Die jüngere Forschung hat sich von dieser normativen Sicht auf Musik vielfach abgewandt. Verweise darauf, dass heute »ausgerechnet Musik, die Kunstform, die in den vergangen Jahrzehnten am häufigsten wirksamsten zur Weltverbesserung eingesetzt wurde (…) zum Mittel im ›Krieg gegen den Terror‹ geworden«4 ist, veranschaulichen, dass das Böse auch in der Musik lauert,5 beunruhigen und führen wohl auch deshalb zu einer Konjunktur der akademischen Beschäftigung mit der Thematik. Wie der Zustand des Krieges in unterschiedlichen historischen Kontexten in der Musik reflektiert wird und auch welche Rolle Musik als Militärmusik im Krieg einnimmt, ist daher inzwischen gut erforscht.6 Doch wie

2

S.G. Cusick, You are in a place that is out of the world…: Music in the Detention Camps of the Global War on Terror, in: Journal of the Society for American Music 2 (2008), Nr. 1, S. 1–26.

3

M.H. Schmid, Musik und Krieg, Anmerkungen zum Thema in: A. Firme/R. Hocker (Hg.), Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld 2006, S. 15. Vgl. auch H. Lück/D. Senghaas (Hg.), Vom hörbaren Frieden, Frankfurt/M. 2005; D. Senghaas, Klänge des Friedens: Ein Hörbericht, Frankfurt/M. 2001.

4 5

T. Rapp, Der Krieg der iPods, Amnesty Journal, Dezember 2010. K. Wisotzki/S.R. Falke (Hg.), Böse Macht Musik. Zur Ästhetik des Bösen in der Musik, Bielefeld 2012.

6

Vgl. Beispielsweise M.J. Grant/R. Möllemann/I. Morlandstö/S. Münz & C. Nuxoll, Music and Conflict: Interdisciplinary Approaches, in: Interdisciplinary Science Review special issue: Music and the Sciences 35 (2010), Nr. 2, S. 183– 198 (weitere Arbeiten entstehen derzeit in der Free Floater Nachwuchsgruppe: Music, Conflict and the State an der Universität Göttingen); C.L. Baade, Victory

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zum Krieg nicht nur die militärische Auseinandersetzung in der Schlacht gehört, erschöpft sich die Rolle der Musik nicht in komponierten Märschen und Schlachtenhymnen. Der operative oder strategische Teil des Krieges geht in der Regel mit dem Kampf um die hearts and minds einher oder direkt in ihn über. Es folgt die Phase der Besatzung. Die eigenen Prinzipien und Interessen, für die gestritten wurde – seien sie despotischer Natur, um die besiegte Bevölkerung zu unterwerfen, oder erzieherischer, um die Menschen des besetzten Landes zu verändern – gilt es durchzusetzen. Daher ist Besatzung keine stabile abgeschlossene Situation sondern ein prekärer Zustand, der seitens der Besatzer beständig stabilisiert werden muss und seitens der Besetzten jederzeit destabilisiert werden kann. Im Unterschied zum vorangehenden oder parallel laufenden Kriegsgeschehen, gibt es bei der Besatzung keine finalen Entscheidungen, sie ist ein fortwährend zu erneuerndes Ergebnis hegemonialer Praktiken.7 Besatzung hat prozessualen Charakter und entsprechend wird sie geprägt durch Prozesse: alltägliche Routinen wie Kontrollverfahren, ständige Überwachung und Sortierung, Regulierung des Marktes, die Präsenz von Symbolen oder Wiederholung politischer und militärischer Rituale beeinflussen Besatzungszeiten aber auch die Begegnungen zwischen Unterwerfern und Unter-

Through Harmony: The BBC and Popular Music in World War II, Oxford 2011; C. McWhirter, Battle Hymns. The Power and Popularity of Music in the Civil War, Chapel Hill 2012; S. Goodman, Sonic Warfare: sound, affect & the ecology of fear, Cambridge/MA 2009; P. Moormann/A. Riethmüller/R. Wolf (Hg.), Paradestück Militärmusik. Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik, Bielefeld 2012. Vgl. auch die Filmdokumentation T. Chytroschek/R. Barbato, SONGS OF WAR: MUSIC AS A WEAPON, Enhance TV, Neutral Bay 2011; S. Hanheide, Pace – Musik zwischen Krieg und Frieden, 40 Werkporträts, Kassel/New York 2007. 7

C. Mouffe, The Return of the Political, London/New York 1993, S. 12; E. Laclau/C. Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2006³; im Anschluss an Gramsci, vgl. A. Fischer-Lescano/S. Buckel (Hg.), ›Hegemonie gepanzert mit Zwang‹. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci, Baden-Baden 2007.

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worfenen, die plötzlich zu Freunden oder auch Kollaborateuren werden können.8 So wie Krieg und Besatzung nicht identisch sind, aber unmittelbar mit einander zusammenhängen, sind auch Kriegsmusik und Musik der Besatzung als differenzierte Bestandteile eines musikalischen Kontinuums zu betrachten. »Der Krieg (…) kennt seine eigene Musik«9 – und die Musik hat ihre eigenen Mittel der Kriegführung. Die signalgebende, synchronisierende und anfeuernde Funktion der Militärmusik ist spezifischer Ausdruck der Musik des Krieges. In Situationen der Besatzung mag auch militärische Musik erklingen, aber die Musik der Besatzung erschöpft sich keinesfalls darin. Sie ist in der Regel keine Militärmusik, sondern bildet vielmehr ihr ziviles Gegenstück. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einem per se zivilisatorischen Impetus folgen würde. Musik zu singen, sie im Radio zu hören oder musikalischen Aufführungen beizuwohnen formiert auf kommunikativer, praxeologischer und symbolpolitischer Ebene jene Routinen, welche den Besatzungsstatus aufrechtzuerhalten vermögen. Doch auch wenn ihre Funktion vielfach eine Ablenkung von Krieg und Niederlage sein soll, oder sie die Besatzer als kultivierte Macht erscheinen lassen soll, vermag ihre Kraft zerstörerisch zu wirken. Während das Musikleben im Inland während des Krieges vielfach Einschränkungen hinzunehmen hatte – ökonomische, aber auch zensurbedingte sowie künstlerische und menschliche durch das Auftrittsverbot, die Verfolgung und Vernichtung von Musikerinnen und Musikern – expandierte die Besatzungsmacht Musik. Die Funktionen die Musik als Teil der Okkupation auferlegt und zugeschrieben werden sind zahlreich: Sie erklingt als Propaganda, als Instrument der Besatzung und als Strategie des Widerstandes. Musikstücke ertönen, um die Gemüter zu verschrecken und zu verängstigen und sogar als Folter oder aber um Köpfe und Herzen der

8

G. Kronenbitter/M. Pöhlmann/D. Walter (Hg.), Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2006; D.M. Edelstein, Occupational Hazards: Success and Failure in Military Occupation, Ithaca 2010.

9

M. Herrmann Schmid, Musik und Krieg, S. 16.

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militärisch bezwungenen zu erobern; andere verstummen unter Zensur und Terror.10 Im genannten permanenten Reibungs- und Aushandlungsprozess, den eine Besatzung darstellt, nimmt die Musik ihre Rolle als Besatzungsmacht an. Musik ist nicht nur ein Spielball im prekären Kräftefeld einer Besatzungssituation, sondern sie gestaltet dessen Formierung und Umstrukturierung maßgeblich mit. Der Einsatz bzw. die Einschränkung von Musik benennt und bevorzugt spezifische Deutungen – etwa von kultureller Überlegenheit, der Reichweite einer »nationalen« Kultur, der Nationalisierung bestimmter Musik oder Komponisten, etc. Dies ist aber keineswegs ein einseitiger Prozess, durch den die Besatzungsmacht die besetzte Einheit formt. Als dynamischste, weil am ausgeprägtesten performativ wirkende Kunstform der symbolpolitischen Besatzung, schaffen Musik und Musikleben zugleich auch Räume, um die asymmetrische Beziehung zwischen Besatzern und Besetzten zu verhandeln. Dabei können Annäherungen ebenso wie Abgrenzungen zu Stande kommen, politische Konflikte überspielt oder zugespitzt werden.11

10 Vgl. G. Strobl, The Swastika and the Stage: German Theatre and Society, 1933– 1945, Cambridge 2007; A.v. Saldern/I. Marßolek (Hg.), Zuhören und Gehörtwerden, Bd. 1: Radio im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998; K. Engel, Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris 1940–1944: Film und Theater, München 2003; M. Schwartz, Musikpolitik und Musikpropaganda im besetzten Frankreich, in: Kultur, Propaganda, Öffentlichkeit: Intentionen deutscher Besatzungspolitik und Reaktionen auf die Okkupation, hrsg. v. W. Benz, Berlin 1998. 11 Vgl. B. v. Hülsen, Szenenwechsel im Elsass: Theater und Gesellschaft in Strassburg zwischen Deutschland und Frankreich, 1890–1944, Leipzig 2003; F. Geiger, Deutsche Musik und deutsche Gewalt: Zweiter Weltkrieg und Holocaust, in: A. Riethmüller (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, 1925–1945, Laaber 2004, S. 243–256; I.v. Foerster (Hg.), Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus, Mainz 2001.

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II. M USIKKULTUR

IM

Z EITALTER

DER

W ELTKRIEGE

Die Beiträge in diesem Band bearbeiten die Vielfalt der Funktionalisierung von Musik als Besatzungsmacht und beschränken daher ihren Blick auf einen prägnanten geografischen und zeitlichen Raum. Im Fokus steht das Musikleben unter deutscher Besatzung im Ersten und Zweiten Weltkrieg, die musikalische Besatzungspolitik des Deutschen Reichs, seine sehr unterschiedlichen Besatzungsstrategien im Westen und Osten Europas sowie die Besatzung Deutschlands wiederum durch die Alliierten nach 1945. Der zeitliche Rahmen korrespondiert mit der Erkenntnis der nicht nur militärgeschichtlichen Forschung, dass das »Zeitalter der Weltkriege« ungeachtet seiner tiefen Brüche als historische Einheit betrachtet werden muss.12 Nicht nur die Genese des »totalen Krieges«, die gewaltorientierte Menschenführung und die militärische Mechanisierung, sondern eben auch die Medialisierung und Popularisierung des Krieges sind Ausdruck dessen. Die Zeit markierte eine Ausweitung von Feindschaft, Nationalismus und Rassismus und eine Konjunktur emotionaler und mentaler Anspannung. Gerade die Zwischenkriegszeit als Zeit von unmittelbarer militärischer Besatzung aber auch als Periode, in der diffuse Gefühle von Kriegserfahrung und Fremdherrschaft auf den neuen Konflikt hinsteuerten, verweisen auf die prekäre Situation, welche dieses Zeitalter auch jenseits seiner unmittelbaren diplomatischen und militärischen Konflikte bildete. Weil Krieg und Terror vor allem von deutschem Boden ausgingen, ist es nur konsequent den Fokus auf Deutschland zu legen: Als Aggressor des totalen Kriegs – hegemonial im Westen, despotisch und vernichtend im Osten – erfuhr das Deutsche Reich auch die »totale Niederlage« gegenüber dem (bald auseinanderbrechenden) Bündnis der alliierten Mächte und wurde Austragungsort seiner unterschiedlichen Besatzungsstrategien. Das Deutsche Reich im Zeitalter der Weltkriege bildet insofern nicht nur den viel-

12 Vgl. B. Thoß/H.E. Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002; V. Berghahn, Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt, Frankfurt/M., 2002; siehe E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 37–281; J. Echternkamp (Hg.), Kriegsenden, Nachkriegsordnungen und Folge- konflikte im 19./20. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 2012.

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fach untersuchten Raum ungekannter Ausmaße von Gewalt und Verfolgung, sondern auch ein Untersuchungsfeld, das eine größtmögliche Vielfalt an Besatzungssituationen und -strategien beobachten lässt. In thematischer Hinsicht durchziehen die Leitmotive der emotionalen Aneignung und Funktionalisierung von Musik sowie das Spannungsfeld zwischen nationaler und universaler Konnotation von Musik den vorliegenden Band. Der Fokus richtet sich dabei auf die rezeptionsästhetische Untersuchung musikalischer Praktiken und Bewertungen, denn die historische Bedeutung von Musik resultierte weitgehend aus ihrer Aufführung und Bewertung nicht nur aus ihrer Struktur.13 Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes haben deshalb ihre Analyse überwiegend auf musikalische Ereignisse und deren Wirkung konzentriert, und nur nachrangig auf musikalische Werke. Das Musikleben bietet den analytischen Vorzug, verschiedene Segmente der Gesellschaft nicht als abstrakte Konstrukte, sondern als konkrete Handlungs- und Erfahrungsträger an bestimmten Orten in Aktion beobachten zu können. Musik in dieser Weise in die Geschichte zu integrieren, sensibilisiert für die kulturellen Erfahrungen und Verhaltensmuster vergangener Gesellschaften. Der heuristische Mehrwert einer historischen Analyse der Musikkultur im Zeitalter der Weltkriege liegt in drei Zugängen: Den ersten wichtigen Befund bildet der Umstand, dass musikalische Räume die öffentliche Verhandlung politischer, sozialer und kultureller Relationen ermöglichten und erzwangen. Die Demokratie, das Reich oder die Nation in Klang zu repräsentieren oder auf der Bühne zu inszenieren stellte eine öffentliche Arena her. Die Teilnahme an der Produktion oder dem Konsum von Musik bedeutete die Erschaffung oder die Vertiefung erwünschter sozialer und politischer Beziehungen in einer Gesellschaft.

13 Vgl. S. Bennett, Theatre Audiences. A Theory of Production and Reception, London 1990; C. Small, Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Middleton 1998; H. Danuser/F. Krummacher (Hg.), Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, Laaber 1991; H.-J. Hinrichsen, Musikwissenschaft: Musik – Interpretation – Wissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft 57 (2000), S. 78–101; M. Thompson, Reception Theory and the Interpretation of Historical Meaning, in: History and Theory 32 (1993), S. 248–272; W. Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992.

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Denn Musik bestand und besteht nicht nur aus Melodien und Klängen, manchmal auch Texten und aufgeführten Bildern. Sie geht meist untrennbar mit unausgesprochenen Erwartungshaltungen, Gesten, Verhaltensmustern und Ritualen einher. Durch das wiederholte Zelebrieren dieser Verhaltensmuster kann auch die dadurch implementierte Gesellschaftsordnung, eine bestimmte kulturelle oder politische Autorität oder die Verklärung kultureller Mythen in ihrer Rechtmäßigkeit bestätigt werden. Die Sinnlichkeit musikalischer Aufführungen legitimierte Herrschaft – oder auch den Widerstand gegen sie.14 Zweitens konnte die öffentliche Inszenierung idealer politischer Beziehungen, diese, im Sinne einer hegemonialen Praxis zugleich erzeugen. Dem Konzept des Performativen folgend, kann die Teilnahme an musikalischen Aufführungen als eine Praxis definiert werden, welche gesellschaftliche Ordnungsmuster, Bilder und Werte nicht nur reflektierte sondern kreierte.15 Opernaufführungen, Tanzkapellen und Radiowunschkonzerte können als sensible Indikatoren für das mehrheitsfähige gesellschaftliche Wissen ihrer Zeit gelesen werden; sie sind gleichermaßen Produkte wie Momentaufnahmen der sie umfassenden gesellschaftlichen Vorgänge. Musikalische Praktiken und Bewertungen können damit als Codes verstanden werden, die sozialen und politischen Entwürfe, die Hoffnungen und Ängste einer Gesellschaft zu entziffern. Drittens kommt es darauf an zu bedenken, das Publikum nicht lediglich als Beobachter und passiven Rezipienten musikalischer Spektakel zu be-

14 Vgl. K. Painter, Symphonic Aspirations: German Music and Politics, 1900– 1945, Cambridge/MA 2007; C. Applegate/P. Porter (Hg.), Music and German National Identity, Chicago/IL 2002; sowie die Beiträge in S.O. Müller/J. Toelle (Hg.), Die Politisierung der Oper. Inszenierungen, Bestätigungen und Bedrohungen der gesellschaftlichen Ordnung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007. 15 Vgl. J. Butler, Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Theatre Journal 40 (1988), Nr. 4, S. 519– 553; E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004. bes. S. 31–57; J. Früchtl/J. Zimmermann, Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens, in: dies. (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/M. 2001, S. 9–47.

EINE FORTSETZUNG DES KRIEGES MIT MUSIKALISCHEN MITTELN? | 17

trachten. Die Teilnehmer an den Aufführungen, die Radiohörer und Schallplattenkäufer waren auch in den beiden Weltkriegen selbst Akteure, die die Wirkung der Musik durch ihre körperliche Präsenz, ihren Konsum, ihre Bewertung und ihr Hörverhalten wesentlich prägten. In der sogenannten Unterhaltungsmusik zählten häufige, ja alltägliche Stücke, welche die Mehrheit der Bevölkerung liebte. Die Barrieren zwischen Politikern, Künstlern und Zuhörern bei der Gestaltung einer Aufführung war daher in gewisser Hinsicht durchlässig. Der musikalische Konsum wurde zur alltäglichen Gewohnheit.

III. M USIK

UND

E MOTIONEN

Musik ist für viele Menschen zweifach anschlussfähig: Sie symbolisiert nicht nur unterschiedliche kulturelle Traditionen auf die man sich berufen kann, sie evoziert auch emotionale Reaktionen.16 Dass Musik und Gefühl untrennbar zusammengehören ist ein Gemeinplatz und eine alltägliche Erfahrung. Im Anschluss an die Konjunktur der Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren ist diese den meisten bekannte und doch wissenschaftlich schwer benennbare Beziehung zwischen Musik und Emotionen auf breites auch öffentliches Interesse gestoßen.17 Studien aus den »Laboratorien« konnten demonstrieren, wie Musik zu unmittelbaren Reaktionen im Körper führt: Schauer über den Rücken, Lachen, Kloß im Hals, Tränen, Gänsehaut, Herzjagen, Gähnen, Gefühle in der Magengrube. Der »Schatz, hör‫ ތ‬doch, sie spielen unser Lied!«-Effekt beschreibt im Zusammenhang mit Musik auftretende Gefühle und Erinnerungen, die durch Veränderungen der Herz- und Atemfrequenz und in bildgebenden Verfahren sichtbar gemachte neuronale Impulse messbar werden. Bekannt scheint daher: bestimmte Stücke werden von einer Mehrzahl von Menschen als sehr emotio-

16 I. Cross, Music and meaning, ambiguity, and evolution, in: Miell/ Macdonald/ Hargraves (Hg.), Musical Communication, Oxford/New York 2007, S. 27–43; M. Grossbach/E. Altenmüller, Musik und Emotionen – zu Wirkung und Wirkort von Musik, in: T. Bendikowski u.a. (Hg.), Die Macht der Töne. Musik als Mittel politsicher Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, S. 13–22. 17 P. Bethge, Das Tor zur Emotion, in: Spiegel Special, 01.11.2003, S. 54–57; ders., Die Musik-Formel, in: Der Spiegel, 28.07.2003, Heft 31, S. 130–141.

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nal beschrieben, das heißt als Auslöser mehr oder minder starker vegetativer Reaktionen.18 Zugleich aber belegen diese Studien, dass eben kein kausaler Nexus zwischen einem bestimmten Musikstück und einer spezifischen emotionalen Wirkung besteht. Nicht nur von Kultur zu Kultur, sondern häufig schon zwischen Individuen besteht eine große Differenz, welche Regung eine bestimmte Musik hervorruft. Mehr noch: es existiert nicht nur keine intersubjektive emotionale Reaktion auf Musik, sie ist auch zeitlich variabel. Bereits die Wirkung von Musik auf den Körper, von der Vielfalt an Deutungen, der Hörgewohnheiten und Geschmäcker ganz zu schweigen, unterliegt einer stetigen Veränderung und erweist sich als abhängig von ihrem historischen Kontext.19 Die musikalischen Besatzungspolitiken im Zeitalter der Weltkriege und ihre Wirkungsbreite von Zensur und Vernichtung bis zur Re-Education ergeben daher ein auch kultur- und sozialwissenschaftlich herausforderndes Forschungsfeld, in dem nach der historischen Wirkungsmacht von Emotionen zu fragen ist. Emotionen sind nicht nur neurale Impulse im Gehirn, die den Körper stimulieren. Sie sind soziale Phänomene indem sie Wahrnehmungsmuster strukturieren aus denen sich die Bedeutung von Musik für das jeweilige Publikum ergibt. Emotionen wirken als kulturelle Konstrukte, die durch Lernprozesse angeeignet werden. Sie entstehen aus sozialen Praktiken, formen diese aber auch und beeinflussen die Wahrnehmungen und Handlungsmotivationen von Individuen und Gruppen gleichermaßen.

18 Einen guten Überblick zur Diskussion über das Verhältnis von Musik und Emotion bieten P.N. Juslin/J. A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion: Theory and Research, Oxford 2001; A. Bradley, A Language of Emotion: What Music Does and How It Works, Bloomington/IN 2009; M. Budd, Music and the Emotions: The Philosophical Theories, London 1992; Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. 19 Grossbach und Altenmüller verweisen auf das relativ gut erforschte Beispiel des Einflusses von Hintergrundmusik auf das Einkaufsverhalten. Als Effekt der Gewöhnung im Zuge der Massenmedialisierung bewertet, ist die Bedeutung von Musik auf Kaufdauer und Intensität zwischen den 1960er und 90er Jahren stark Rückläufig, Grossbach/Altenmüller, Musik und Emotionen, S. 14, Vgl. auch Behne: Wirkung und Wirkungslosigkeit von Musik – Konsequenzen für die Musikkulturpolitik, in: H.-W. Heister/W. Hochstein (Hg.), Musik und..., Bd. 3: Kultur Bildung Politik, Festschrift für Hermann Rauhe zum 70. Geburtstag, Hamburg 2000, S. 299ff.

EINE FORTSETZUNG DES KRIEGES MIT MUSIKALISCHEN MITTELN? | 19

Sie haben deshalb einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf historische Prozesse.20 Nach dem heutigen Kenntnisstand ist es noch unklar, ob durch die Emotionen in musikalischen Aufführungen neue Verbände in der Gesellschaft entstehen – oder ob umgekehrt bereits bestehende Gesellschaften sich so musikalisch verständigten. Studien zur sozialen und emotionalen Bedeutung von Musik in Besatzungsregimen können Aspekte dieser grundsätzlichen Frage nach dem Zusammenhang von Musik, den mit ihr verbundenen Gefühlen und den in diesem Nexus konstituierten Gemeinschaften erhellen. Wenn Musik eine emotionale Wirkung hatte, wie wurde diese reflektiert und als Besatzungsinstrument eingesetzt? Verwandelten Emotionen die kulturellen Praktiken der Menschen in Instrumente politischer Akzeptanz und williger Partizipation gegenüber der Besatzungsmacht? Oder machte sie die Begegnung und den Austausch einander fremder Menschen wahrscheinlicher? Führte sie gegebenenfalls Menschen zusammen und ermöglichte eine intensivere Kommunikation oder förderte sie möglicherweise auch die gegenseitige Entfremdung? Die emotionale Aneignung historischer musikalischer Darbietungen ist sicher nicht präzise zu kalkulieren. Doch manche Verhaltensmuster der Musikkonsumenten sind ohne emotionale Bedingungen nur unzulänglich zu verstehen. Durch die soziale Handlung des Konzertbesuchs oder auch

20 U. Frevert, Emotions in History – Lost and Found, Budapest 2011; P.N. Stearns/ C.Z. Stearns, Emotionology: Clarifying the History of emotions and emotional Standards, in: The American Historical Review 90 (1985), S. 813–836; M. Scheer, Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A Bourdieuian approach to understanding emotion, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220; weitere musikspezifische Arbeiten entstehen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, in der Forschungsgruppe »Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas« die geschichtliche Entwicklung der durch Musik ausgelösten Emotionen im 19. und 20. Jahrhundert zum Thema hat. Emotionen werden hier als öffentliche Kommunikationsformen untersucht. Dabei liegt der Schwerpunkt weniger auf der Analyse physiologischer Effekte durch Musik, sondern darauf, wie Gruppen sich diese aneignen. Musik hat die Funktion, sehr unterschiedliche Individuen in einer Gemeinschaft miteinander zu verbinden – oder soziale und politische Feinde zu erschaffen.

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des Singens von Schlagern entstehen sowohl musikalische als auch emotionale Gemeinschaften – sie können den Erfolg einer integrativen Besatzungsstrategie abbilden, oder die Segregation zwischen Besatzern und Besetzten verdeutlichen. Es ist daher wichtig zu fragen, welche Rolle Musik als performative, emotionale und soziale Praxis für Vergemeinschaftungsprozesse und die Kohäsion sozialer Gruppen in den untersuchten Okkupationspolitiken spielte.21 Die Präsentation öffentlich gespielter Musik wie die Teilhabe daran, waren politische Handlungen. In der Macht musikalischer Aufführungen lag eine politische Chance in und nach den beiden Weltkriegen, vor allem weil sie unpolitisch schienen. Ihre mediale Präsenz und die eingeforderte Unterhaltung der Hörer erleichterten beinahe allen Menschen den täglichen Zugang. Bereits hinsichtlich der Besucherzahlen war die Musik allen anderen Künsten überlegen. Doch diese Form musikalischer Herrschaftsstiftung verursachte trotz ihres überwiegenden Wohlklangs eine Zwangssituation. Statt von einer manipulativen emotionalen Disziplinierung der Musikliebhaber auszugehen, verweisen die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes auf die Diversifizierung der Emotionen. Die Erscheinungsformen musikalisch motivierter Emotionen sind vielfältig und die Fragen nach dem »richtigen« musikalischen Geschmack und dem »richtigen« Hörverhalten waren nicht nur ästhetisch umstrittene Phänomene – sie wurden auch politisch und strategisch eingesetzt.

IV. M USIK

UND

N ATIONALISMUS

Die emotionale Prägung, die das Musikleben in den Besatzungssituationen im Zeitalter der Weltkriege erfuhr, war dabei in den seltensten Fällen intrinsischer oder musikimmanenter Natur. Ihre inhaltliche Ausrichtung

21 Vgl. dazu die Überlegungen von N. Cook/N. Dibben, Musicological approaches to emotion, in: Juslin/Sloboda, Music, S. 45–70; T. DeNora, Aesthetic agency and musical practice: New directions in the sociology of music and emotion, in: Juslin/Sloboda, Music and Emotion, S. 161-180; R. Finnegan, Music, Experience, and the Anthropology of Emotion, in: M. Clayton/T. Herbert/R. Middleton (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, NewYork/London 2003, S. 181-192.

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kannte vielmehr ein alles dominierendes Thema: die Nation. Die vielleicht größte Faszination der Kategorie »Nation« liegt in ihrer Unschärfe. Was den verschiedensten Nationalisten die Identifikation ermöglichte, hat der Forschung seit jeher Probleme bereitet. Die Definitionsversuche zu »Nation« und »Nationalismus« sind so unüberschaubar und widersprüchlich wie das Phänomen selbst. Als fruchtbar für die Forschung hat sich Benedict Andersons Konzeption der Nation als einer »vorgestellten Gemeinschaft« erwiesen. Sein konstruktivistischer Ansatz verdeutlicht, dass die »Nation« keine eigentliche Essenz, keine fest gefügte Substanz enthält. Die Nation wird deshalb als »vorgestellt« begriffen, weil der Nationalismus – das ist das sich auf die Kategorie »Nation« beziehende Reden und Handeln – die Gemeinschaft zunächst im Denken ihrer Mitglieder und durch ihre Kommunikation untereinander hervorruft. Ausschlaggebend sind der Glaube und die Selbstbindung der Individuen an »ihre« Gruppe, nicht an eine objektive Realität.22 Das heißt aber nicht, diese Konstruktion der Nation als Herstellung von Unwirklichem zu begreifen und sie »realen« Gemeinschaften gegenüberzustellen. Alle sozialen und kulturellen Gemeinschaften sind immer auch vorgestellte und konstruierte. Entscheidend ist die Tatsache, dass die Nation durch den Glauben an ihre Gemeinschaft zur Realität wird. Indem der Nationalismus seine Bedeutung für die Vorstellungen, Interessen und Emotionen der Menschen erhält, erzeugt er eine handlungsleitende Wirklichkeit.23 Das Ziel der vertonten Nationalmythen in den Konzertsälen, Tanzkapellen und Radios im Zeitalter der Weltkriege bestand somit vor allem darin, vermeintlich gesicherte Wissensbestände in Legitimität umzumünzen. »Nationale« Musik entstand als Ausdruck des politisch motivierten Bedürfnisses, Musik zur Sinnstiftung zu nutzen. Das Beste der eigenen Kulturtradition begriffen die Regierungen und die bürgerlichen Eliten als

22 B. Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 19932. Vgl. E. Gellner, Nations and Nationalism, ND Oxford 1993, und zum damit verwandten Konzept der Nation als »gedachter Ordnung« (Emerich Francis) M.R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232–246. 23 In der prägnanten Formulierung Walker Connors: »What ultimately matters is not what is but what people believe is.« W. Connor, Ethnonationalism. The Quest for Understanding, Princeton/NJ 1994, S. 93.

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»national«. Dazu musste die Musik umgedeutet oder gleich neu geschaffen werden. Diese »Erfindung« nationaler Traditionen erfolgte keinesfalls aus dem kulturellen Nichts, sondern stellte vor allem eine kreative Umwertung und Neuordnung vorhandener Wissensbestände und bestehender sozialer Praktiken dar.24 Vor dem Hintergrund der Politisierung und der Bedrohung tradierter Lebenswelten und Gewissheiten im totalen Krieg, schien gerade die Musik Orientierung zu vermitteln. Diese Nationalisierung der Musik im Zeitalter der Weltkriege war aber ein transnationales Phänomen. In keiner Kriegsgesellschaft fehlte es an Versuchen die nationale Ausrichtung der Kunstmusik und der Unterhaltungsmusik einzufordern. Der Trauermarsch der »Eroica« versprach Einblicke in die Tiefe der deutschen »Volksseele«, Elgars Sammlung von Volksliedern die Renaissance vermeintlich verschütteten britischen Kulturguts. Entscheidend war die Vorstellung der Menschen. Die Musik wurde nicht durch einzelne musikalische Reminiszenzen im »Volkston« (Lieder, Tänze, Märsche), zu einer nationalen Angelegenheit, sondern durch den Glauben der Rezipienten.25 Sowohl die reale als auch die imaginierte kulturelle Vorherrschaft Deutschlands war, dem oben genannten Konzept folgend, unersetzlich für die Selbstdefinition der alliierten Kultur und für die Legitimation der vorgestellten Einheit gegen die Bedrohung von außen. Es ist die dichotome Struktur der Differenzierung, die das zentrale Konzept des Nationalismus am besten beschreibt und die sich auch im Musikleben der Besatzungssituation immer wieder abgebildet findet: Durch das Erkennen und Benennen einer Eigenschaft, welche der eigenen nationalen Gruppe zugeschrieben wird, gilt es andere Faktoren gänzlich auszuschließen. Die nationalistische Wahrnehmung der Welt stellt binäre Unterschiede her, sorgt für eine strenge Trennung zwischen In- und Out-Group. Diese Klassifizierung der Welt stellt die Grundlage moderner sozialer und politischer Entitäten und

24 Vgl. E.J. Hobsbawm, Inventing Traditions, in: ders./T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1–14; H.-U. Wehler, Nationalismus, Geschichte, Formen, Folgen, München 2011. 25 Vgl. E.E. Bauer, Wie Beethoven auf den Sockel kam. Die Entstehung eines musikalischen Mythos, Stuttgart 1992; S.C. Meyer, Carl Maria von Weber and the Search for a German Opera, Bloomington 2003; M. Hughes, The English Musical renaissance and the Press 1850–1914: Watchmen of Music, Aldershot 2002.

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misst, aufgrund der im Konzept enthaltenen Regeln, der In-Group positive und der Out-Group negative normative Qualitäten bei. Nationalistische Selbstwahrnehmung besteht deshalb essentiell aus Ab- und Ausgrenzungsmechanismen, die Out-Groups stigmatisieren.26 Mit anderen Worten, eine nationalistische Beschreibung der Welt ist unlösbar mit der Identifikation des Fremden und dessen Abwertung verknüpft. So gilt das Diktum von Karl W. Deutsch nach wie vor: »Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Herkunft und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist.«27 In gewisser Hinsicht war es gerade die Universalität der Musik, die ihre nationale Aneignung oder ihren nationalen Auftrag ermöglichte. Die politische Ironie war, dass praktisch in ganz Europa jeweils vermeintlich spezifische »nationale« Musik kreiert wurde: Ob Beethovens Sinfonien oder der Kriegsschlager Lili Marleen – der nationalen Aneignung waren ebenso wenig Grenzen zu setzten, wie der internationalen, vermeintlich universellen Ausdeutung. Die zunehmende Ähnlichkeit des Repertoires, der ästhetischen Präferenzen und der darstellerischen Mittel, führten dazu, dass vermeintlich spezifisch nationale Phänomene der kriegführenden Länder und Gesellschaften zunehmend auch als gemeinsame europäische Konventionen gelesen werden können. In diesem Band kommt es darauf an, die Beziehungen zwischen Kriegsgesellschaften und Musikkulturen nicht anhand der vermeintlich getrennten Achsen von Austausch und Kommunikation einerseits und Machtkämpfen und Antagonismen andererseits zu schreiben.28 Zu fragen ist vielmehr, inwieweit das Konzept nationaler Abgrenzung und die Praxis europäischer Angleichung sich gegenseitig bedingten. Auf eine Formel gebracht hieße die hier vertretene Überlegung: Aneignung erfolgte durch Abgrenzung und Abgrenzung wiederum durch Aneignung. Was die Be-

26 Hilfreich neben Anderson, Erfindung der Nation, sind D. Richter, Nation als Form, Opladen1998, S. 86–87; G. Eley/R.G. Suny, Introduction: From the Moment of Social History to the Work of Cultural Representation, in: G. Eley/R.G. Suny (Hg.), Becoming National: A Reader, New York 1996, S. 3–37. 27 Vgl. K.W. Deutsch, Nationalismus und seine Alternativen, München 1972, S. 9. 28 Vgl. zu diesen augenscheinlich getrennten Modellen N.Z. Davis, What is Universal about History? In: G. Budde u.a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 15–20.

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wertung der Musik und des Musikkonsums zeigen, ist die Gleichzeitigkeit und die Interaktion von Nationalismus einerseits und der Glaube an einen harmonischen Wissenstransfer andererseits. Die Durchsetzung »nationaler« Musik bedeutete Austausch, Kommunikation und Imitation aber auch Widerstand und Ausgrenzungen. Erfolgreiche musikalische Vermittlungsversuche existierten nicht jenseits aufgeladener nationalistischer Spannungen, sondern waren gleichsam Teil der Entwicklung. Die meisten Nationalisten begehrten gegen diejenigen hegemonialen Kulturen auf, aus deren Normen sie die eigene Bewegung speisten. Musikalische Kontakte verstärkten somit nicht nur gegenseitiges Lernen und Toleranz sondern auch Entfremdung und Abgrenzung. Der optimistische Glaube, dass gegenseitiges kennen lernen, das Austausch und Vermittlung gleichsam notwendig kulturelle Harmonie und Verständnis zwischen den europäischen Gesellschaften stiftet, wird gerade durch die Rezeption von Musik vielfach widerlegt.29

V. Z UM

THEMATISCHEN

A UFBAU

In der Verbindung einer vielfach nationalistisch aufgeladenen Tradition und der im Spannungszustand der Besatzung zwischen Hoffnung und Horror oszillierenden Emotionen, die im Musizieren und Musikkonsum ihren Ausdruck finden, liegt die Relevanz des Zusammenhangs von Musik, Besatzung und Emotionen; sie macht Musik zu einem bedeutenden Teil von Besatzungspolitik im Zeitalter der Weltkriege. Nicht zuletzt ermöglicht sie die Projektion politischer, kollektiver aber auch individueller Positionen. Musik ist aus dieser Perspektive nicht nur zweckrationales Mittel, kein formbarer oder bloß missbrauchter Gegenstand der Besatzungspolitik. Sie kann selbst zur Besatzungsmacht werden – darauf bauen sämtliche in diesem Band versammelten Analysen auf. Der Dialog von Musik- und Geschichtswissenschaft sowie von Militär- und Emotionengeschichte gewährt

29 Vgl dazu M. Meyer, The Politics of Music in the Third Reich, New York 1991; F. K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt/M. 1982; S.O. Müller, Contacts in Music: Transfers and Rivalries between Britain and Germany around 1900, in: D. Geppert/R. Gerwarth (Hg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain – Cultural Contacts and Transfers, Oxford 2007.

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dabei neue Einblicke in die Fortsetzung des Krieges mit musikalischen Mitteln. Die Untergliederung dieses Bandes trägt dabei den unterschiedlichen Funktionen, welche der Musik im Zusammenhang mit den Besatzungspolitiken dieser Epoche zukamen, Rechnung: Musik wurde im Rahmen der deutschen Besatzungspolitik wie des besetzten Deutschlands selbst zu einem Besatzungsinstrument, das heißt zu einem strategisch eingesetzten Mittel während und nach den Kriegen, um die »Köpfe und Herzen« der Menschen zu erobern. Gezielt eingesetzt im Rahmen der kultur- und symbolpolitischen Dimensionen von Besatzung, sollten musikalische Aufführungen hegemoniale Positionen behaupten. Die im ersten Teil des Bandes versammelten Beiträge machen deutlich, dass es nicht entscheidend war, ob diese Positionen durch abstrakte kulturpolitische Überlegungen vorformuliert waren, die gezielt implementiert werden sollten, oder ob sie erst im musikalischen Alltag der Besatzung entstanden. Sichtbar wird in den untersuchten Fällen, wie musikalische Nationalisierungsansprüche auf der einen und Universalisierungsversuche auf der anderen Seite die Geltung von Musik bei der Aushandlung von Hegemonien bestimmten. Stephanie Kleiner beschreibt in ihrem Beitrag zur Musikpolitik während der Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg wie beispielsweise Richard Wagners Opern gleichermaßen als »Vehikel französischer Machtimplementierung« als auch als »Bestandteil eines ›rheinischen Befreiungskampfes‹« der Deutschen gegen die Franzosen gewendet werden konnten. Das heißt, hegemoniale Praktiken im Bereich der Musik bestanden sowohl darin, eine kulturelle Vormachtstellung zu demonstrieren, als auch darin Beispiele zu generieren, die den eigenen Einfluss auf die Kultur des besetzten Landes zeigten. Auch der Beitrag von Andreas Linsenmann über die musikpolitische Programmatik der französischen reéducation der Franzosen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg demonstriert, wie Nationalisierung und Universalisierung in den Zuschreibungen politischer Funktionen von Musik oszillierten: Um die besiegten Deutschen von ihrem Glauben an die eigene kulturelle Überlegenheit abzubringen, sollte die Bevölkerung durch eine Anerkennung der Leistung französischer Musik zu einer demokratisierenden Wertschätzung von »entnationalisierter« Musik insgesamt erzogen werden. Dabei war eine der wesentlichen Eigenschaften von Musik als Instrument ihr unterhaltender und zugleich Alltagsroutine schaffender Charakter.

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Das heißt, neben militärischer Präsenz, Machtdemonstrationen durch Kontrolle und ggf. Schikanen sowie der expliziten Sprache öffentlicher Propaganda, erschien die Musik nicht nur unpolitisch, sondern bisweilen als erfreuender Zufluchtsort, dessen hegemonialer Anspruch nicht auf den ersten Blick sichtbar war. »Nur nicht langweilig werden. Nur keine Öde. Nur nicht die Gesinnung auf den Präsentierteller legen«30 – diesem strategischen Diktum von Goebbels folgte auch die musikalische Besatzungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland. Tourneen von Orchestern und Opern-Ensembles, Gastauftritte berühmter Künstler und Dirigenten vermochten die Besatzungsziele in eine andere symbolische Sprache zu übersetzen. Nicht schlichte Propagandaformulierungen, sondern der gemeinsame Konzert- oder Opernbesuch von Besatzern und Besetzten, der geteilte Genuss sollten als Element hegemonial eingesetzter Alltagspraktiken auf die Gesinnung des Publikums einwirken. Sven Oliver Müller demonstriert in seiner Darstellung der Tourneen der Berliner Philharmoniker während des Zweiten Weltkrieses, dass Musik dabei keine einfach im Zuge der Besatzungspolitik applizierbare Funktion besitzt. Der Erfolg der Besatzungsmacht Musik beruht stattdessen vielfach – wie in Paris – auf etablierten sozialen Traditionen. Ohne den deutsch-französischen Kulturtransfer im Musikleben der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, hätte der Einsatz von Musik im besetzten Paris nicht als erfolgreiche hegemoniale Strategie betrachtet werden können. Die abgehandelten Beispiele verdeutlichen aber auch, dass der Versuch, durch Musik eine emotionale Überzeugung oder Annäherung zu stiften, häufig an seine Grenzen stieß. Gerade die universelle Dimension, auf welche die musikpolitische Strategie so oft zielte, sorgte eben dafür, dass Musik vielfach mit einer nationalen und nationalistischen Tradition aufgeladen werden konnte. Wie diese Prägung als Form emotionaler Sinnstiftung und Erziehung zur Ergebenheit gegenüber der Nation erfolgen kann, verdeutlicht Rebecca Wolff in ihrer Analyse von Liederbüchern der Wehrmacht und der höheren Schulen. Musik war aber nicht nur ein strategisches Instrument, das der (vor allem emotionalen) Prägung von Besatzern und Besetzten dienen sollte oder eine Arena widerstreitender hegemonialer Positionen bot. Sie war auch Gegenstand und bisweilen sogar Medium kultureller Aggression. Die Bei-

30 Zit. n.: A. Diller, Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980, S. 143.

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träge im zweiten Teil des Bandes befassen sich mit Musik unter dem Einfluss der Besatzung. Dies betraf in erster Linie die Bedrohung bestimmter Kompositionen und musikalischer Praktiken aber auch die Bedeutung, die musikalische Kräfte den Besatzungsmächten zum Trotz erhalten konnten. Der Befund, der mithilfe von Musik heraufbeschworenen Normalität darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Musik auch unmittelbarer Teil der Gewaltausübung von Besatzung war. Durch ihre geschilderte traditionale und emotionale Aufladung birgt die Besatzungsmacht Musik nicht nur Orientierung und Sinnstiftung sondern auch kulturelle Codes, welche die Demütigung der Out-group mit sich zu bringen vermögen. Dies kann sowohl dadurch erfolgen, einer Musik unfreiwillig ausgesetzt zu sein, den Kontext bekannter Musik radikal zu verändern oder aber den Zugang zu gewohnter und geliebter Musik plötzlich verweigert zu bekommen. Wird Musik in diesem Sinne eine Besatzungsmacht, so vermag ihr Einsatz erlernte Assoziationen zu zerstören, Vertrautes zu entfremden und Fremdem eine emotionale und körperliche Wirkungsmacht zu verleihen. Diese Rolle der Musik findet sich im zeitlichen und geografischen Rahmen dieses Bandes als signifikante Erscheinungsform der nationalsozialistischen Ostpolitik wieder – die qualitative Differenz von Kriegführung und Besatzung zwischen West- und Osteuropa wurde mithin auch in der kulturpolitischen Hegemonie Deutschlands sichtbar. Deutsche Gewalt und deutsche Musik stellten nicht unterschiedliche, sondern ähnliche Muster nationalsozialistischer Aggression dar. In seinem Versuch einer Typologisierung der Funktionen von Musik in der nationalsozialistischen Besatzungspolitik, macht Hanns-Werner Heister diese spezifische Wandlung der Musik unter dem Streben des Deutschen Reiches nach Weltherrschaft deutlich. Franzosen und Niederländer wurden einer vermeintlich überlegenen deutschen Musik ausgesetzt, um emotional gewonnen und ästhetisch »belehrt« zu werden. Im besetzten Polen fiel aber auch die musikalische Demonstration deutscher Macht schrecklicher aus: Der Beitrag von Katarzyna Naliwarjek-Mazurek schildert die Breite der Machtausübung deutscher Besatzer im musikalischen Feld vom Berufsverbot polnischer Musiker und der Sperrung musikalischer Aufführungen für das polnische Publikum über die Aneignung polnischer Komponisten (allen voran Frederic Chopin) bis hin zur »Deutschen Musik«, die noch in den Vernichtungslager erklingen musste. Was es bedeutete, in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Musik zu spielen, analysiert Juliane Brauer mit Rückgriff auf

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eine Konzeption von Musizieren und Musik hören als Formen der emotional ausgeübten Gewalt am »wissenden Körper«. Hier wird aber auch deutlich, welche zwiespältige und mitunter paradoxe Funktion Musik erhalten kann. Denn selbst unter Zwang gespielt und im Angesicht der sicheren Vernichtung, spendete Musik den Häftlingen Kraft, um für das Überleben zu kämpfen. Der dritte Teil des Bandes schließlich untersucht das sich häufig überraschend beständig entwickelnde Musikleben und die dabei entstehenden musikalischen Begleiterscheinungen oder Nebenkriegsschauplätze innerhalb der verschiedenen Besatzungssituationen. Sie alle zeigen: auch da, wo Musik gar nicht gezielt von den Besatzungsmächten eingesetzt oder aktiv ins Musikleben eingegriffen wurde, bildete Musik ein Kräftefeld, in dem Fragen der Macht, Ohnmacht und des Wiederstandes, der Hoffnungen und Leiden von Krieg und Besatzung ausgehandelt wurden. Sogar gegen die kulturpolitischen Intentionen der Besatzungsmacht Amerika entwickelten sich Begegnungen zwischen dem Militär angehörenden amerikanischen und zivilen deutschen Jazzmusikern im Nachkriegsdeutschland, die zu einem lebendigen Musikleben und Erblühen des Jazz in Deutschland führten. Anja Gallenkamp zeigt ein Stück dieser informellen musikalischen Besatzungsgeschichte am Beispiel des Frankfurter Jazzlebens in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Oft bedarf eine musikalische Politisierung noch nicht einmal einer tatsächlich Besatzung. In Paris beispielsweise waren die deutschen Truppen noch gar nicht einmarschiert, als die Ikone vermeintlich deutschester Musik, Richard Wagner, bereits als Besatzungsmacht wahrgenommen wurde. Hermann Grampp schildert die Debatte unter französischen Intellektuellen (und mitunter auch einfachen Soldaten), ob die Werke Wagners nicht an sich eine kulturelle Übermacht ausüben würden, von der man sich mindestens in Zeiten des Krieges befreien müsste. War die Zuschreibung Wagners zum Kontinuum deutscher Musik einmütig, so wird an anderer Stelle deutlich, dass eine nationalistische Prägung bestimmter Klänge und Stücke auch hoch variabel sein konnte – während wie nach dem Krieg. Der bei den Soldaten und den nachkriegszeitlichen Hitparaden vieler Länder beliebte Schlager Lili Marleen offenbart sich unter der kritischen zweiten Lektüre von Michael Walter als textlich wie musikalisch hoch anschlussfähiges Stück, dass durch geringe Änderungen der ursprünglich rhythmisch nicht als Militärmusik tauglichen Melodie und

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Dynamik sowie nationale idiomatische Einfärbung zu einem Stück Besatzungsmusik oder Kriegserinnerung zahlreicher verschiedener Länder und ihrer Menschen werden konnte. Darüber wie die ›physischen‹ Folgen des Krieges das Leben der Menschen in und nach Kriegszeiten prägen, thematisch und vor allem visuell besetzen, ist geforscht worden.31 Über die Auswirkungen von körperlichen Verletzungen der Künstler auf das Musikleben ist jedoch relativ wenig bekannt. Am Beispiel des kriegsversehrten und infolgedessen einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, veranschaulicht Gesa zur Nieden die physischen Folgen des Krieges für Kompositionen und den musikalischen Diskurs. Die Besatzungsmacht Musik bildete im Zeitalter der Weltkriege Alltag und Ausnahme zugleich. Sie schuf oder prägte – in den meisten Besatzungssituationen akzeptierte – repetitive Praktiken und Rituale, jene Wiederholungen also, die für den instabilen Zustand der Besatzung so überaus wichtig sind. Selbst wenn die musikpolitische Programmatik es häufig anders formulierte, vermochten es Musik und musikalische Aufführungen dabei aber in der Regel nicht, die Überlegenheit einer »nationalen« Musik über eine andere zu demonstrieren, sondern boten weit häufiger schlicht einen Raum für Zerstreuung und Teilnahme, informellen Austausch oder repräsentative Auftritte. Nicht zuletzt imitieren und evozieren sie einen Zustand gesellschaftlicher Normalität. Dieses gemeinsame Ergebnis der hier zusammen getragenen Studien mag überraschen. Die eigentlich so außergewöhnliche Musik, die aus einem gewöhnlichen Moment etwas Besonderes zu machen vermag, sorgte in den prekären Besatzungszeiten für ein Gefühl von Kontinuität und Sicherheit. Von der Fortsetzung des kulturellen Unterhaltungsangebotes oder durch die musikalische Gestaltung der Radioprogramme an der Front und in Besatzungsgebieten, bis hin zu den aussichtslosen Überlebenskämpfen in den Konzentrationslagern, vermochte Musik an Bekanntes anzuknüpfen, vermittelte Orientierung an erfolgreiche Traditionen und schuf Sicherheit durch Gewohnheit.

31 J. Keegan, The Face of Battle, Harmondsworth 1978; U. Krukowska, Kriegsversehrte. Allgemeine Lebensbedingungen und medizinische Versorgung deutscher Versehrter nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Britischen Besatzungszone Deutschlands – dargestellt am Beispiel der Hansestadt Hamburg, Norderstedt 2006.

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Unter der gezeigten kulturellen Beständigkeit kam gleichwohl der Spannungszustand der Besatzungssituation nicht zur Ruhe. Bestimmte Musikstücke oder Aufführungsformen blieben Antriebskraft und Ausdruck symbolischer Konstruktionen von Sieg und Niederlage und als solches keinesfalls schmückendes Beiwerk der Besatzungspolitik, sondern ein Ort an dem hegemoniale Ansprüche und Widersprüche stets aufs Neue hervorgebracht werden konnten. Kultur und Konflikt markierten eben keine Alternativen, sondern bedingten einander beständig.

I. Musik als Besatzungsinstrument

Einführung J ÖRG E CHTERNKAMP

Musik als Besatzungsinstrument: die Metapher ist ebenso eingängig wie zweideutig. Sie deutet die Instrumentalisierung von Musik zum Zwecke politischer Herrschaft in oder nach einem Krieg im Land des Gegners an (Musik als Medium der Besatzungsmacht); sie weist zugleich auf die mögliche Konsequenz dieser politischen Herrschaft für die Musik hin (Besatzungsmacht als Medium der Musik). Mal ist das Instrument als Werkzeug der Besatzer zu verstehen, mal steht das »Musikinstrument« selbst im Mittelpunkt. Erweitert man diese Ambivalenz um ihre emotionalen Aspekte, wie das im Titel dieses Bandes angelegt ist, eröffnen sich drei verschiedene Perspektiven für die Analyse. Erstens ließe sich das Thema unter musikwissenschaftlichen, musikgeschichtlichen Aspekten betrachten. Hier ginge es um die Entwicklung der jeweiligen Musikkultur, des Repertoires, der Musikstile unter den historischen Bedingungen einer spezifischen Besatzungszeit. Die musikgeschichtliche Leitfrage zielte auf mögliche Kontinuität angesichts politischer, militärischer und kultureller Diskontinuität. Zweitens könnte die Betrachtung in erster Linie den Gefühlen auf dem kulturellen Feld der Musik in der historischen Konstellation einer Besatzungsherrschaft gelten. Unter diesem emotionsgeschichtlichen Gesichtspunkt wäre beispielsweise herauszuarbeiten, inwieweit Musik in der sozialen Praxis, als performativer Akt der Musikdarbietung oder des Musikhörens, Gefühle hervorrief und welche Funktionen diese emotionalen Reaktionen in der spezifischen historischen Situation für die verschiedenen Seiten besaß. Die musikalische Dimension böte insoweit den Ansatzpunkt für eine Gefühlsgeschichte von Krieg und Nachkrieg.

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Drittens lenkt die Formulierung »Musik als Besatzungsinstrument« den Blick vor allem auf die historische, genauer: die politik-, kultur- und militärgeschichtliche Dimension der Vergangenheit. Aus diesem Blickwinkel stehen konkrete Besatzungsregime zu unterschiedlichen Zeiten im Vordergrund. Um ihre Funktionsmechanismen, um das Verhältnis von Besatzungsmacht und besetzter Bevölkerung, um die Folgen der Besatzungserfahrungen für Krieg und Nachkrieg geht es in erster Linie. Die Betrachtung der musikalischen Dimension hat dann die methodische Funktion des gezielten Erkenntnisgewinns. Anders formuliert: Die Analyse von Musik als einem Besatzungsinstrument hieße Musik als heuristisches Instrument zur Analyse von Besatzung zu nutzen. Insofern ginge es erst in zweiter Linie um die Musik selbst und um die Emotionen, die sie auslöst. In den empirischen Fallstudien, auch dieses Bandes, werden diese drei Perspektiven nicht unabhängig voneinander oder nacheinander eingenommen, schließlich geht es jeweils um denselben Gegenstand. Gleichwohl lohnt es sich, so lautet die Prämisse, sie immer wieder analytisch auseinanderzuhalten, aus zwei Gründen. Zum einen verschiebt sich mit der Wahl der Perspektive der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses, zum anderen schließt die Betrachtung auf unterschiedliche Weise an die Fachdiskurse an, die sich mit dem interdisziplinären Zugriff auf die Trias von Musik, Emotionen und Besatzung verbinden. Vor diesem Hintergrund stehen die folgenden Überlegungen, die eher systematischer als empirischer Natur sind. Sie sollen nicht zuletzt die konkreten Fälle einzuordnen helfen, welche dann die vier Beiträge in diesem Kapitel vor Augen führen.

I. Wählt man für die Annäherung an das Thema den letztgenannten Zugang – wie es für den vorrangig an Krieg und Nachkrieg Interessierten naheliegt –, fällt sogleich der Mehrwert ins Auge, den eine Musik- und Emotionengeschichte von Besatzungsherrschaft verspricht. Auf der einen Seite ist das Thema ganz im Sinne einer »erweiterten« Militärgeschichte,1 die längst

1

Vgl. B. Ziemann/T. Kühne (Hg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000; J. Echternkamp/W. Schmidt/T. Vogel (Hg.), Perspektiven der Militärgeschichte.

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kulturgeschichtliche Ansätze integriert hat (ohne freilich ihren Gegenstand im Kulturalismus zu verlieren), die daher der im weitesten Sinne »musikalischen« Dimension der Vergangenheit gegenüber offen ist und die schließlich ein großes Interesse für die emotionale Seite einer hochemotionalen Zeit entwickelt hat. Wie sonst ließen sich die aktiven und passiven Gewalterfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angemessen erklären? Zu einer solchen Kulturgeschichte des Krieges zählen Studien über die Repräsentationen des Krieges und seiner Soldaten in den Medien, auf Fotografien, im Film. Auch das Verhältnis von Kunst und Krieg, die Vereinbarkeit von Musik und Militär gehören dazu; dabei geht es nicht nur um die Geschichte der Militärmusik, sondern auch die der Popularmusik.2 Hinzu kommt, dass die Militärgeschichte über das engere Feld der Kriegsgeschichte hinaus auch die Bedingungen und die Folgen von Krieg in den Blick genommen hat. Was die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrifft, um die es hier geht, sind die Jahre nach 1918 und 1945 dezidiert als »Nachkrieg« in den Blick genommen worden, nicht mehr nur als eine Zeit des Aufbruchs in die Gegenwart, als Beginn der Demokratisierung durch die Besatzungsmächte, als Vorgeschichte der deutschen Teilung, um nur die Vierzigerjahre zu nehmen.3 Auf der anderen Seite fügt sich die Frage nach Musik als einem Besatzungsinstrument in die neuere Entwicklung der Besatzungsgeschichte ein, die »Besatzung« nicht mehr auf Besatzungspolitik verkürzt. Der bis in die Achtzigerjahre vorherrschende Blick »von oben«, der vor allem der Herrschafts- und Verwaltungspraxis galt, wurde zugunsten einer Multiperspektivität aufgegeben, die mit dem Blick »von unten« die besetzte Bevölkerung betrachtet und differenzierter nach unterschiedlichen sozialen Gruppen, nach sozialem Handeln zwischen den beiden Polen Zusammenarbeit

Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, München 2010. 2

Zum Krieg als Thema der Popularmusikforschung vgl. A. Firme/R. Hocker (Hg.), Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld 2006.

3

K. Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001; J. Echternkamp, Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945–1949, Zürich 2003.

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und Widerstand fragt.4 Zu dieser Entwicklung gehört auch ein gewandeltes Verständnis der asymmetrischen Beziehung, die jede Besatzung per definitionem prägte. Nicht die einseitige Beeinflussung der dominanten Seite, sondern die wechselseitigen Austauschprozesse, der Prozess des Kulturtransfers, der Adaptation des Neuen und der Aktualisierung des Alten stehen im Mittelpunkt. Das widerspiegelt sich in dem Interesse an Musik als einem Instrument, das die Besatzer nutzten, aber auch die Besetzten, um mit der Besatzung umzugehen. Diese Verschiebung hatte, wie die folgenden Beiträge zeigen, Konsequenzen für die Quellenwahl. Wurden für die Studien zur Besatzungspolitik vor allem die Dokumente der Besatzungsmacht herangezogen – mit all den quellenkritischen Problemen, die eine solche Abhängigkeit gerade im nationalsozialistischen Fall bedeutet –, so verbreiterte sich die Quellenbasis nun um die sogenannten Ego-Dokumente der »Besetzten«, aber auch die Selbstzeugnisse des einfachen Soldaten. So nimmt Rebecca Wolf für ihre Frage nach dem emotionalen und kognitiven Mischungsverhältnis von Musik und Nationalgefühl Feldpostbriefe deutscher Soldaten ebenso unter die Lupe wie das Liederbuch der Wehrmacht »Morgen marschieren wir«. Auf einem anderen Blatt steht, welche Deutungen der jeweiligen Besatzung in der Nach-Besatzungszeit zugewiesen wurden. Diese Frage schlägt jedoch nicht nur ein neues methodisches Kapitel auf, das die Musikpolitik eines Besatzungsregimes unter erinnerungsgeschichtlichen Gesichtspunkten behandelt. Sie gibt auch den Blick auf Wechselbeziehungen in der Abfolge von wechselnden Besatzungsregimen frei. So wäre die strategische Rolle, die Musik in der französischen Umerziehungspolitik nach 1945 gespielt hat, nicht verständlich ohne die Erfahrung der deutschen Kulturpolitik in Frankreich, die den Franzosen eine Vorstellung von der deutschen Konzeption einer »deutschen Musik« und dem Selbstbild der Deutschen als weltweit einzigartigem Kulturträger vermittelt hat.5 Nimmt man beide Weltkriege und Besatzungszeiten in den Blick, wie das im Folgenden der Fall ist, um Kontinuitäten und Brüche herauszuarbeiten, kann die Musik- und Emotionengeschichte einen Beitrag zum »Zeitalter der Weltkriege« leisten, genauer: zu der damit verbundenen Periodi-

4

Vgl. nur für das Baltikum S. Lehmann/R. Bohn/U. Danker (Hg.), Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt, Paderborn 2012.

5

Vgl. den Beitrag von Andreas Linsenmann in diesem Band.

EINFÜHRUNG | 37

sierungsproblematik. Ob und inwieweit es sinnvoll erscheint, die Jahre zwischen 1914 und 1949 in einem epochalen Zusammenhang zu betrachten (statt etwa die Verquickung von Holocaust und Krieg als eine Zäsur zu betonen), mag sich auch an dem Umgang mit den besetzten Ländern festmachen. Der »zweite Dreißigjährige Krieg« hatte auch eine musikpolitische Dimension.6

II. Die vorübergehende Kontrolle eines fremden Territoriums durch einen anderen Staat oder eine Staatenallianz bilden ein spezifisches Bedingungsgefüge, wobei im Hinblick auf die Besatzungspolitik und ihre Akzeptanz weiter zu unterscheiden wäre, ob diese Kontrolle bis auf weiteres bestehen sollte oder, wie im Fall der Rheinlandbesetzung, von vornherein zeitlich befristet war. Das Signum der Besatzung: das asymmetrische Herrschaftsverhältnis und seine Konfliktträchtigkeit, legt hegemonietheoretische Grundannahmen nahe. Dazu kann man in der Tat, wie Stephanie Kleiner das tut, die älteren, auf die Spannungen zielenden politikwissenschaftlichen Überlegungen Ernst Fraenkels und die über Antonio Gramscis ökonomisches Modell hinausgehenden hegemonietheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe miteinander kombinieren. Interpretiert man dann die Besatzungssituation als den »labilen Vollzug widerstreitender diskursiver und inszenatorischer Praktiken«, die zumindest vorübergehend auf Stabilität drängen, lässt sich die genuin musikpolitische Dimension nicht zuletzt dank der angebotenen Begrifflichkeit umso genauer fassen. So wird für den Fall einer Besatzungsallianz deutlich, dass die hegemoniale Trennlinie keineswegs nur zwischen Besatzungsmacht und besetzter Bevölkerung, sondern auch zwischen den Besatzungsmächten selbst verlaufen konnte, die entlang interalliierter Gräben um ihre Position innerhalb der Vorherrschaft einen kulturpolitischen Kampf ausfochten.

6

J. Echternkamp, 1914–1945: Ein zweiter Dreißigjähriger Krieg? Vom Nutzen und Nachteil einer Deutungskategorie der Zeitgeschichte, in: S.O. Müller/C. Torp (Hg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Probleme und Perspektiven, Göttingen 2009, S. 265–280.

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Mit dieser Prämisse lohnt es sich aus dem besatzungsgeschichtlichen Blickwinkel, nach den Funktionen der Musik in ihren verschiedenen Erscheinungsformen unter den Bedingungen einer Besatzung zu fragen (statt etwa von einer Typologie der Musikformen auszugehen). Als erstes ist die Legitimationsfunktion zu nennen, die das vermeintlich Unpolitische für das Politische besaß. Ginge man von der europäischen Musikgeschichte aus, läge die Frage nahe, ob und inwiefern die Musik einer bestimmten Epoche für politische Interessen genutzt, ja missbraucht oder zum Streitobjekt verschiedener Parteien wurde. Geht man umgekehrt von der Besatzungsgeschichte aus, lautete die Frage, inwieweit politische Interessen – hier: einer Besatzungsmacht – ihren Ausdruck auch auf dem ästhetischen Feld der Musik gefunden haben? Im ersten Fall ginge es, etwa unter dem Gesichtspunkt von Kontinuität und Diskontinuität, um die Konsequenzen politischer Herrschaftsverhältnisse auf das Repertoire, Aufführungspraktiken, auf das Künstlerleben, aber auch auf die Möglichkeiten und Usancen des Publikums sowie nicht zuletzt darum, welche Bevölkerungsteile überhaupt (noch) als Publikum in Frage kamen.7 Im zweiten Fall dreht sich vieles um Art und Inhalt und um die performative Praxis der Musik, wie sie das Besatzungsregime festgelegt hat. Musik wurde zu einem hörbaren Staatssymbol vor allem dann, wenn sie während eines Staatsaktes gespielt wurde oder wenn sie in der Funktion staatlicher Repräsentation, das heißt in extremer Ausprägung als Nationalhymne daherkam. Derart national kodierte Lieder, vermeintlich »deutsche« Musik, repräsentierte die (gedachte oder reale) politische Einheit und verkörperte die siegreiche Nation. In diesem Kontext war Musik »Germania vertont«.8 Im NS-Regime war denn auch per Dienstvorschrift geregelt, dass das Musik- und Trompeterkorps des Heeres das Deutschlandlied nur zu besonderen Anlässen und die Nationalhymnen anderer Staaten nur in Ausnahmefällen zu spielen hatte.9

7

Vgl. den Beitrag von Sven Oliver Müller in diesem Band.

8

J. Gabriel, Staatssymbolmusik: Germiana vertont, in: P. Moormann/A. Riethmüller/R. Wolf (Hg.), Paradestück Militärmusik. Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik, Bielefeld 2012, S. 69–79.

9

Bestimmungen für Musik- und Trompeterkorps des Heeres vom 1.9.1936, Berlin 1936 (H.Dv.32): »die vaterländischen Weihelieder (Deutschlandlied und Horst Wessel-Lied) dürfen nur bei solchen dienstlichen, amtlichen oder feierli-

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Hochgradig staatssymbolisch aufgeladen war zudem die Musik des Militärs: die Militärmusik. Von den Soldaten der Besatzungsmacht selbst dargeboten, wurde diese Musik zweifelsfrei als Symbol staatlicher Macht erkannt. Insbesondere die von Blaskapellen in Marschformation intonierte Marschmusik, seit dem späten 19. Jahrhundert auch der rhythmisch einfache Choral, kamen in den Augen der Besetzten einer musikalischen Demonstration der neuen Staatsmacht gleich. Historische Kontinuität ließ sich dabei durch den Choral von Leuthen herstellen, der an den Sieg der preußischen Armee unter Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg über die Österreicher erinnerte. »Nun danket alle Gott / der große Dinge tut an allen Enden«: Diesen Text kannte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedes Schulkind.10 Für den deutschen Fall resultierte die herrschaftsstabilisierende (und identitätsstiftende) Bedeutung von Musik aus ihrer nationalistischen Überhöhung.11 Im Nationalsozialismus wirkten ältere Deutungsmuster der Musikgeschichte fort, in denen die normative Dichotomie von deutscher Innerlichkeit und nicht-deutscher Äußerlichkeit vor allem auf dem kulturellen Feld der Musik konstruiert wurde. Normativ war diese Gegenüberstellung deshalb, weil die vermeintlich deutsche Musik mit einer harmonischen Musik par excellence in eins gesetzt wurde, in der sich die Überlegenheit der Deutschen über die Anderen manifestiere. Der NS-Komponist Hans Baumann12, 1939 bis 1945 die meiste Zeit Kompanieführer einer Propa-

chen Anlässen gespielt werden, bei denen der Rahmen, der Ernst und die Größe der Veranstaltung eine besondere Veranlassung zum Spielen dieser geben« (1. 4, 1) Das Spielen »fremdländischer Nationalhymnen« war auf Anlässe wie internationale Sportveranstaltungen zu beschränken und bedurfte der Genehmigung des Kommandeurs (1.4, 2). 10 S. Keil, Der »Choral von Leuthen« – ein preußisch-deutscher Mythos, in: Die Tonkunst 4 (2007), S. 442–449. 11 Vgl. C. Applegate/P. Potter (Hg.), Music and German National Identity, Chicago/IL 2002. 12 S. Kröger, Schatten der Vergangenheit. Leben und Werk Hans Baumanns. Universität Kiel, Kiel 1994; W. Mogge, »Und heute gehört uns Deutschland …« Karriere und Nachwirkungen eines Liedes 1933–1993, in: P.U. Hein/H. Reese (Hg.), Kultur und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Arno Klönne. Frankfurt/M. u.a. 1996, S.

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gandakompagnie und neben Heinrich Spitta ein »Hauptlieferant von Melodie und Text der HJ«13, verdeutlichte den Grundgedanken durch die Gegenüberstellung von deutscher und amerikanischer Musik. Die deutsche Musik – Bach, Mozart, Beethoven – »weck(t) niemals jene Raserei, die in Amerika die Hörer echter Negergesänge mit wollüstigem Schauder füllt«, wurde den Soldaten versichert. Jazz verursache einen »Rausch […] im leiblichen Bereich. Unsere Musik aber entrückt«. Beruhigung sollte diese Gegenüberstellung von Klassik und Jazz auch im übertragenen Sinn vermitteln. In der Überzeugung deutscher Soldaten, durch deutsche Musik jenseits des Alltäglichen eine weltumspannende Harmonie und Ordnung wahrnehmen zu können, lag »besonders im Kriege, der Trost«. Die deutsche Musik selbst schien der Zerstörungskraft des Krieges entrückt: »keine Bombe, kein Phosphorregen vermag unsere Musik anzurühren«.14 Die nationalsozialistische Deutung der Musiktradition lief auf die Verquickung von Musik- und Militärgeschichte hinaus: Wo es als ausgemacht galt, dass »Deutschland das am meisten musikliebende und musikschöpferische Land der Erde« war, schien selbstverständlich, dass die Musik auch in der

101–109; M. Reich-Ranicki, Der Fall Baumann, in: ders., Literarisches Leben in Deutschland. Kommentare und Pamphlete, München 1965. Soldatischer Gehorsam, Frontkameradschaft, Opferbereitschaft und Tod fürs Vaterland waren wiederkehrende Motive. Nach dem Krieg arbeitete Baumann als Kinder- und Jugendbuchautor und Übersetzer von russischer Literatur. 13 Noch scheinbar harmlose, bis heute gesungene Lieder wie Baumanns »Es geht eine helle Flöte / der Frühling ist über dem Land« (1938) symbolisieren die politische Aufbruchsstimmung. Auf den ersten Blick propagandistisch und Standardrepertoire der Hitler-Jugend, der SA und des Reichsarbeitsdienstes war das Lied »Es zittern die morschen Knochen« (1932) mit den Versen ›Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt‹. T. Phleps, »Es geht eine helle Flöte...« Einiges zur Aufarbeitung der Vergangenheit in der Musikpädagogik heute, in: Musik & Bildung 27 (1995), H. 6, S. 64-74, Internet: http://www.unigiessen.de/~g51092/floete.html#_ftn1 (25.03.2012). 14 Von der Macht der Musik. Drei Legenden und eine Betrachtung, Stuttgart o.J. (= Schriftenreihe zur Truppenbetreuung, Heft 46), 4 u. 6 (Vorwort: Hans Baumann). Vgl. F.K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt/M. 1982, S. 107– 164 (Kap. »Tonkunst – deutsch bis ins Mark, Ein Sommernachtstraum – arisch«).

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Wehrmacht einen Platz einnahm, »wie ihn andere Völker nicht kennen«. Doch die musiknationalistische Grundannahme führte darüber hinaus zu einer militärpropagandistischen Botschaft: Der Soldat der Wehrmachte kämpfte todesmutig nicht nur für den Erhalt seines Vaterlandes, sondern auch »für den Bestand der deutschen Musik«.15 Die politische Musikgeschichte des Dritten Reiches kennt viele Beispiele dafür, dass eine Karriere im NS-Regime auch für Komponisten, Dirigenten und Musikschriftsteller ohne entsprechende Huldigungen in Wort und Ton kaum möglich war.16 Man denke nur an Hitlerkantaten, an Soldaten- und HJ-Lieder. Der von oben organisierte Musikbetrieb zielte einerseits mit nationalistischer Verve auf die Verbreitung der erwünschten Musik, andererseits in rasseideologischer Konsequenz auf die Verdrängung der jüdischen Künstlerinnen und Künstler. Zugleich gab es allerdings Nischen für »undeutsche« Musik. Direkt oder indirekt übte der inkriminierte Jazz seinen Einfluss aus, und das mit ihm assoziierte Saxophon war trotz seiner »nicht-arischen« Provenienz in manchem Musikfilm zu sehen.17 Für die Besatzungstruppen besaß die Musik, zweitens, eine militärische Mobilisierungsfunktion. Indem die Musik mit ihrem Rhythmus die Soldaten zusammenschweißte, ob im Gleichschritt oder im Sturm eines Angriffsgefechts, sollte sie noch im Zweiten Weltkrieg die militärische Effizienz steigern. Das ist nichts Neues. Interessanter ist an dieser Stelle der ideologische Überbau, der Musik zu einem Besatzungsinstrument auch in diesem Sinne machte. Als der »Chef-Ideologe« der NSDAP, Alfred Rosenberg, 1940 über die mobilisierende Wirkung der Musik räsonierte, stellte er die physische Bewegung in einen Zusammenhang mit der geistigen Willensbildung. Rosenberg wählte als Beispiel eines der seinerzeit bekanntesten Stücke, den Hohenfriedberger Marsch – der Ruhmesmarsch der preußischen Armee, der an den Sieg Friedrichs II. über die Österreicher erinnerte: »Drum, Kinder, seid lustig / und allesamt bereit«. Dass zu seinen Klängen Millionen Soldaten in den Tod gezogen seien, nahm Rosenberg als Zeichen dafür »wie sehr der heldische schmetternde Klang einen Willen zu erzeu-

15 P. Winter, Musikpflege in der Wehrmacht, in: Jb. der deutschen Musik 1 (1943), S. 55–58, hier: S. 58. 16 Vgl. die Pionierstudie von Prieberg, Musik im NS-Staat. 17 Zum Jazz in der Besatzungszeit 1945–1949 vgl. den Beitrag von Anja Gallenkamp in diesem Band.

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gen vermag, der sich motorisch in höchste leibliche Energiespannungen umsetzt«.18 Rosenberg mischte dieser Mischung von Musik und Militär die nationale Zutat bei. Mobilisierung durch Musik setzte nationalkulturelle Kompatibilität voraus. Nur nationale Klänge vermochten dem deutschen Volk einen derartigen energetischen Schub zu geben. Die erforderliche emotionale Disposition des Publikums wurde hier, ganz in der Lesart des Nationalismus, völkisch definiert. Musik als Besatzungsinstrument sollte schließlich, das ist die dritte Funktion, zur Integration derer beitragen, die sie hörten oder gegebenenfalls gemeinsam ins Werk setzten. Hier ist nach den Adressaten zu unterscheiden. Einerseits ging es um die Truppe. Die Soldaten, aber auch die Angehörigen der Zivilverwaltung, die sich weitab von der Heimat befanden – viele von ihnen zum ersten Mal – konnten sich durch Musik als Teil eines größeren Ganzen wahrnehmen. Das regelmäßige Singen und Hören eingängiger Melodien, das gemeinsame Musizieren war deshalb ein Teil der Truppenbetreuung.19 Das Gemeinschaftsgefühl sollte sowohl unter den Soldaten selbst als auch zwischen den Soldaten und der Heimat geweckt und bekräftigt werden. In der Frühzeit des Zweiten Weltkriegs gab es dazu eine besondere Form des geteilten Musikerlebnisses, das Front und Heimat verbinden sollte: das »Wunschkonzert für die Wehrmacht«. Die populärste Rundfunksendung des Dritten Reiches, die der Berliner Reichsrundfunk vom 1. Oktober 1939 bis zum 1. Mai 1941 am Sonntagnachmittag von 16 bis 20 Uhr ausstrahlte, überwand mit den guten Wünschen, den Grüßen der Angehörigen und dem Spendenaufruf für das »Winterhilfswerk« nicht nur die sozialen Grenzen, sondern auch die räumlichen Grenzen zwischen Front und Heimat, die Grenzen zwischen ziviler Gesellschaft im Reichsgebiet und der militärischen Gesellschaft an der Front oder in der Etappe. Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie sorgte der Rundfunk so für die musikalische Inszenierung der militarisierten Volksgemeinschaft. Freilich blieb dieses musikalische »Wir-Gefühl« grundsätzlich auf die »Volksgenossen« beschränkt.

18 A. Rosenberg, in: Die Musik, Mai 1940, S. 274. 19 Vgl. F. Vossler, Propaganda in die eigene Truppe. Die Truppenbetreuung in der Wehrmacht 1939–1945, Paderborn 2005; A. Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg: Konzeption, Organisation und Wirkung, in: Militärgeschichtliche Zeitung 59 (200), S. 407–434.

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Denn andererseits besaß die Konstruktion sozialer Kohärenz – wie stets – eine Kehrseite: die Abgrenzung nach außen. Wo die Demonstration von nationaler Zugehörigkeit durch geteilte Musik dazu diente, die Grenzen zwischen Besatzungsmacht und besetzter Gesellschaft auch auf dem ästhetischen Feld zu ziehen, überlagerten sich Integrations- und Legitimationsfunktion. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür ist die deutsche Besatzungspolitik im »Generalgouvernement«. Jener Teil Polens, der zwischen 1939 und 1945 von den Deutschen militärisch besetzt, nicht aber dem Reichsgebiet eingegliedert war, sollte nach den Plänen der Nationalsozialistischen und des Generalgouverneurs Hans Frank »judenfrei« gemacht werden, um als Siedlungsraum für deutsche Volksgenossen zu dienen. Der Massenmord an den Juden ging mit der rasseideologischen Unterdrückung der Polen als slawischer »Untermenschen« einher. In dieser hegemonialen Konstellation symbolisierten die konkreten Formen deutscher Kultur die rassische Überlegenheit im konkreten militärisch-politischen wie im übertragenen kulturellen Sinn. Ein Solistenabend im Theater der SS und Polizei, ein Kammermusikabend im Institut für Deutsche Ostarbeit oder ein Konzert der »Philharmonie des Generalgouvernements«: Wenn in Krakau auf Litfaßsäulen für deutsche Musikveranstaltungen geworben wurde, signalisierten die Plakate den Vorübergehenden nicht nur die kulturelle, sondern auch die militärische Vorherrschaft der Besatzungsmacht. Dazu gehörte die Umwidmung zentraler Orte des Kulturlebens. So wurde das Krakauer Theater bereits Mitte Dezember 1939 als »Deutsches Theater« neu eröffnet. Die Anwesenheit des NSDAP-Funktionärs Frank unterstrich den symbolpolitischen Akt der Inbesitznahme auf dem Feld des Musiklebens. Die Anbindung an das Reich wurde symbolisch weiter gestärkt zum einen durch die Einladung einzelner prominenter Männer und Frauen aus dem Reichsgebiet ins Theater nach Krakau, zum anderen durch die Tourneen von Solisten und Kammermusikensembles, die in Krakau Konzerte gaben. Die symbolische Inbesitznahme blieb nicht auf die Hauptstadt des Generalgouvernements beschränkt. Die Reichweite des hegemonialen Projekts erstreckte sich soweit gen Osten, wie »deutsches Musikleben […] hinausstrahlt in den weiten

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Weichselraum und weiter hinaus nach Galizien«.20 Wo der Besatzungsherrschaft eine frühere territoriale Zugehörigkeit vorausging (wie im Rheinland, wo etwa die französische »Rheintheorie« in der Zwischenkriegszeit überkommene Deutungsmuster parat hielt, oder wie im Generalgouvernement zwischen 1939 und 1945), ließ sich die institutionelle Renaissance des nationalen Musiklebens in die Tradition älterer Formen und Inhalte stellen. Dieser Gewinn an Legitimation durch Tradition konnte in dem Fall die »neue« symbolische Ordnung als Rückkehr zur alten zusätzlich absichern. Polnische Männer und Frauen gehörten nicht dazu; ihnen wurde der Konzertbesuch verboten. Komplexer stellte sich die Situation in Westeuropa dar. Auf der einen Seite gingen Gewalt und Musik auch hier zusammen. In den besetzten Gebieten Westeuropas hinterließen die Raubzüge des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR) ihre Spuren. Der Sonderstab Musik des ERR sammelte, katalogisierte, verschickte massenhaft Musikalien, die den geflohenen, deportierten oder bereits ermordeten Juden gehörten.21 Und auch in Westeuropa spiegelten sich rasseideologische Überzeugungen in der Gestaltung und Wahrnehmung des Musiklebens wider. Musik war beispielsweise auch in Belgien ein Besatzungsinstrument. Ein »Sonderführer« am Sender Brüssel verkündete den Lesern der Zeitschrift für Musik 1941 die Errungenschaften hegemonialer Musikpolitik: Nach dem ersten Weltkrieg hätten »die Verfechter einer gesunden germanisch-vlämischen Kunst« unter politischem Druck, unter Aufführverboten und der mangelnden Veröffentlichung ihrer Noten gelitten. Die Verbreitung des Judentums und Brüsseler Intellektuelle hätten systematisch die Aufführung einer »bekenntnishaften deutschen Musik« verhindert. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht sei dieser vlamenfeindlichen Kulturpolitik schließlich ein Ende gesetzt worden. Der Sonderführer erklärte den Erfolg weniger mit Zwangsmaßnamen – wie im Generalgouvernement – als mit dem durch die Besatzung gestiegenen Einsichtsvermögen der Besetzten. »Mit der wachsenden Erkenntnis einer großgermanischen Bluts- und Schicksalsgemeinschaft begann man«, hieß

20 A. Lemke, Deutsches Musikleben in Krakau, in: Zeitschrift für Musik, September 1942, S. 369-398, vgl. den Beitrag von Katarzyna Naliawjek-Mazurek in diesem Band. 21 Vgl. W. de Vries, Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940–1945, Köln 1998.

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es in der Musikzeitschrift, »auch die deutsche Musik als die natürliche und unerschöpfliche Kraftquelle zu begreifen, die nach der Entfernung aller fremdrassigen Einflüsse der vlämischen uns einzig und allein die notwendigen Reserven zuführen mußte.«22 Auf der anderen Seite lässt sich – mit Sven Oliver Müller – die Kulturpolitik des Reiches in Frankreich, den Niederlanden und in Belgien als der Versuch interpretieren, zumindest die Eliten der besetzten Länder, die den Weg in Opernhäusern und Konzertsäle fanden, von der deutschen Hochkultur zu überzeugen, so die eigene Herrschaft zu rechtfertigen und die Menschen zur collaboration zu bewegen. Im Gegensatz zum Theater, das Sprachkompetenz voraussetzte, bot sich das Konzert als ein entsprechendes »Besatzungsinstrument« an.23 Die zahlreichen Gastauftritte der Berliner Philharmoniker sind ein aussagekräftiges Beispiel. Sie stehen zugleich für eine besatzungs- und kulturpolitische Praxis: die schlaglichtartige Präsentation der deutschen Kunst durch die vorübergehende Präsenz der Künstler. Gastspiele und Tourneen sollten in diesem Fall auch die Verbindung zwischen Besatzungsmacht und Besetzten durch die gemeinsame Überzeugung von der Güte der deutschen Musik untermauern. In methodischer Hinsicht bietet dieser Blick nach West- und Osteuropa einen weiteren historischen Zugang: den Vergleich. Musikpolitik als Herrschaftstechnik eignet sich als Tertium comparationis des synchronen Vergleichs des Besatzungsregimes oder des Besatzungsalltags verschiedener kriegführender Staaten. Die konzeptionellen Überlegungen in der Nachkriegszeit – wie sie vor allem der Leiter des Bureau des Spectacles et de la Musique (BSM), René Thimonnier, für die französische Besatzungsspolitik anstellte – knüpften an das Deutungsmuster der nationalsozialistischen Musik-Propaganda unmittelbar an.24 Die Direction de l’Education Publique in Baden-Baden, die unter der Leitung von Raymond Schmittlein für das öffentliche Bildungs-

22 N. Spanuth, Deutsche Musik im besetzten Gebiet, in: Zeitschrift für Musik, Juli 1941, 459–460. 23 Vgl. auch M. Schwartz, La musique, outil majeur de la propagande culturelle des Nazis, in: M. Chimènes (Hg.), La vie musicale sous Vichy, Brüssel 2001, S. 89–108. 24 A. Linsemann, Musik als politischer Faktor. Konzepte, Intentionen und Praxis französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949/50, Tübingen 2010.

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wesen zuständig und die Federführung des Umerziehungsprogramms besaß, hatte sich das Ziel gesteckt, die vermeintlich unauflösliche Verknüpfung von Rasse, Volk und Musik zu zerschlagen. Der Konstruktion einer rasseideologisch hergeleiteten Vorstellung von einer spezifisch »deutschen Musik« und ihrer Sonderrolle in der Welt während des Krieges folgte ihre Dekonstruktion nach dem Krieg. Die musikpolitische Komponente der französischen Besatzungsherrschaft zielte zum einen darauf, diesen »Musikchauvinismus« (Andreas Linsemann) durch ein kulturelles Deutungsmuster zu ersetzen, das Musik nicht nationalistisch als Kulturgut eines Volkes definierte, sondern humanistisch als Eigentum der Menschheit. Im Rahmen der Reeducation sollten die Deutschen auch auf dem ästhetischen Feld der Musik von ihrer Selbstbezogenheit weg- und zu einer Weltoffenheit hingeführt werden. Hier lag der tiefere Sinn der rund 2500 Konzerte, die das BSM im ersten Nachkriegsjahrzehnt organisierte. Dargeboten wurden nicht nur französische, sondern auch preußisch-deutsche Werke – galt Beethovens (Schillers) »Ode an die Freude« nicht allen Menschen? Zum anderen ging es der französischen Seite ganz im Sinne des ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Sendungsbewusstseins auch darum, für die französische Musik zu werben. Freilich tat sich die Schere des Widerspruchs umso weiter auf, je deutlicher die Besatzungsmacht auf die Strahlkraft ihrer »eigenen« Musik wie Claude Debussy, Georges Bizet und Maurice Ravel setzte, um das Prestige der grande nation zu steigern. Die musikalische Erziehung der Deutschen zur Weltoffenheit lag insofern quer zur Repräsentations- und Legitimationsfunktion der Besatzungsherrschaft der Franzosen. Zu klären wäre noch, inwieweit die französische Kulturpolitik mit ihrem Kurzschluss von rasseideologischen Musik-Parolen auf das Überlegenheitsgefühl des deutschen Volkes der NS-Propaganda aufsaß und das Bemühen um deren ästhetische Neukonzeption an der Vielfalt des musikalischen Geschmacks vorbeiging – gegen den die Propaganda ja Front gemacht hatte! Auch aus diesem Grund nimmt es nicht wunder, dass eine Chanson-Sängerin wie Edith Piaf das deutsche Publikum auf ihren Tourneen begeisterte.

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III. Die Überlegungen wie auch die Beiträge zeigen darüber hinaus eine Besonderheit von Musik in Krieg und Nachkrieg. Für den Vorzug der Reichweite des Mediums wurde der Preis seiner relativen Unschärfe gezahlt. Die Formulierung aus der Sicht der Besatzungsmacht weist auf den emotionalen Überschuss, der in der Musik grundsätzlich angelegt war und auch, ja insbesondere zu Kriegszeiten seine Wirkung entfaltete. Musik als Besatzungsinstrument ging in den genannten Funktionen nicht auf. Das gemeinsame Singen und Musizieren oder das gemeinsame Hören eines Liedes im Rundfunk diente nicht nur der politischen Legitimation von Besatzungsherrschaft, der militärischen Mobilisierung oder der sozialen Integration im Sinne des jeweiligen Regimes. Im Gegenteil: Musik erschloss Rückzugsräume. Das traf auf den Soldatenalltag ebenso zu wie auf die Lebensverhältnisse der Besetzten. Musik lenkte ab, bot emotionale Entlastung, diente der Besinnung, war ein Ventil der Sehnsucht nach Heimat. Davon zeugen beispielsweise die von Wolf untersuchten Feldpostbriefe. »Musik, Musik, Musik!« – mehr behauptete die Sängerin Erika Rökk zu ihrem Glück nicht zu benötigen. Dass die emotionale Entlastung eine nationale Konnotation der Musik nicht voraussetzte (wie es Rosenberg gerne gehabt hätte), zeigte vor allem Lili Marleen, jenes Lied, das frontübergreifend zur Projektionsfläche von Sehnsüchten, Ängsten und Wünschen wurde.25 Auch eine Opernaufführung hielt semantische Überschüsse bereit: im musikalischen »Erlebnisraum« boten einem deutsch-französischen Publikum nicht zuletzt das Rhein-Motiv, aber auch »Richard Wagner« als symbolträchtige Figur divergierende Identifikationsangebote, die den Kurzschluss von Kulturpropaganda und ästhetischer Umsetzung verhinderten (Kleiner). Lieder, vor allem als Teil der Liturgie, boten Strukturen an, die im Chaos des Krieges als wohltuend empfunden wurden. Man muss gar nicht an Marschmusik denken, um diese Ordnungsfunktion von Musik zu begreifen, wie sie Musikkapellen in Marschformation verkörpern. Die militärische »Ausrichtung« der Musik manifestierte sich in der »Ausrichtung« der Musiker. Die Anweisungen und Planskizzen der einschlägigen Dienstvor-

25 H. Frey, Und jeden Abend Lili Marleen. Zur Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg, in: Moormann/Riethmüller/Wolf (Hg.), Paradestück Militärmusik, S. 123–150.

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schriften spiegeln das anschaulich wider. Sie skizzierten, wie etwa das Musikkorps eines Jäger-Regiments in Exerzier- oder Marschordnung anzutreten hatte oder wie der Trompeter sein Instrument zu Fuß, im Gefecht und zu Pferde zu tragen hatte: »Mundstück nach rechts oben vorwärts, das Schallstück auf dem rechten Oberschenkel ruhend«.26 Die funktionale Polyvalenz der Musik zeigte sich besonders eindrücklich dort, wo es nicht um Zeitvertreib, sondern um Leben oder Tod ging: in den Konzentrationslagern. Einerseits gehörte das Singen auf Befehl zur Herrschaftspraxis der SS. Lagerkapellen und Häftlingsorchester in den Außenlagern entstanden auf Anordnung. Andererseits zählte das gemeinsame Singen und Musizieren zu den Lebensstrategien der Häftlinge, sei es im Rahmen des erzwungenen Musizierens, sei es im spontanen Singen, von dem heimlich verfasste Liederbücher und -kompositionen im KZ Sachsenhausen zeugen.27 Manchmal rettete Musik Leben. Weil er Klavier spielen konnte, bewahrte ein Offizier der Wehrmacht, Wilm Hosenfeld, den Juden Wáadysáaw Szpilman in Warschau vor dem Tod.28 Wenngleich man hier kaum von einem Vergemeinschaftungseffekt reden kann, wie ihn das gemeinsame Musikhören in einem größeren Kreis durch die emotionale Wahrnehmung auslöste, weist das bekannte Beispiel doch auf eine verbindende Wirkung der Musik hin, die in den Augen des Besatzungsregimes dysfunktional war. Schließlich sei nur daran erinnert, dass Musik auch

26 Bestimmungen für Musik- und Trompeterkorps des Heeres vom 1.9.1936, Berlin 1936 (H.Dv.32). Vgl. aus soziologischer Sicht auch I.-J. Werkner, Musik im Militär – Bedeutung und Funktion am Beispiel des Großen Zapfenstreichs, in: G. Kümmel/S. Collmer (Hg.), Soldat – Militär – Politik – Gesellschaft. Facetten militärbezogener sozialwissenschaftlicher Forschung, Baden-Baden 2003, S. 103–113. 27 J. Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin 2009. H.J. Keden, Musik in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2005, S. 40–46; vgl. den Beitrag von Juliane Brauer und Katarzyna Naliwajek-Mazurek in diesem Band. 28 Vgl. den Film »Der Pianist« (R: Roman Polánski, 2002); W. Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, hg. v. T. Vogel, München 2004.

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Friedensbotschaften vermittelte; klassische Kompositionen reflektierten auch die Angst vor der Kriegsgewalt und die Sehnsucht nach Frieden.29 Interpretiert man Besatzungsherrschaft als eine auch symbolische Ordnung, lässt sich Musik als eines der symbolischen Felder verstehen, das man unter den Bedingungen einer Besatzungsherrschaft metaphorisch als »Kriegsschauplatz« bezeichnen könnte. Musikpolitik war dann ein Teil des Kampfes um jene labile symbolische Ordnung, deren asymmetrischer Zuschnitt sich, sozusagen, im Laufe des Gefechts konstituierte und rekonstituierte. Musik war eine Waffe in der Hand des Überlegenen, aber auch des Unterlegenen. Anders formuliert: Außer der herrschaftsstabilisierenden master narrative, der Bedeutungszuschreibung der Musik durch die Besatzungsmacht, existierten counter narratives. Deren subversiver Charakter resultierte nicht aus dem unmittelbaren Widerstand, sondern aus der mittelbaren Abweichung von der offiziellen Lesart, die einer anderen narrativen Logik folgte als der, die den Deutungen der Besatzungsmächte die Richtung vorgab. Nationalisierung und Entnationalisierung von Musik sind zwei entgegengesetzte Logiken, die in den folgenden Beiträgen immer wieder durchschimmern. Noch eine weitere Verbindung stellt die folgenden Beiträge in einen aufschlussreichen Zusammenhang. Unterscheidet man die Besatzung während des Krieges von der Besatzung nach seinem Ende als zwei unterschiedliche hegemoniale Konstellationen, lassen sich beide aufeinander beziehen. Bestand die Bedeutung der Musik als Besatzungsinstrument während des Zweiten Weltkrieges vor allem darin, auch die symbolische Ordnung des Besatzungsregimes durch ostentative Repräsentation der (deutschen, arischen) Kulturhoheit zu stabilisieren, verschob sich der Akzent nach 1945 im Zuge der Demokratisierungs- und Umerziehungspolitik auf das Bemühen, die »Mentalität« und Identität der deutschen Bevölkerung mit ästhetischen Mitteln zu verändern, sie gleichsam zu entnationalisieren. Dieser »positive« Impuls durch französische Aufführungen und die »negative« Politik der Kontrolle und Zensur deutscher Kulturaktivitäten waren, wie Andreas Linsemann in seinem Beitrag zeigt, die zwei Seiten der

29 Vgl. die Auswertung von D. Senghaas, Wie die Friedensproblematik in klassischer Musik intoniert wird, in: Moormann/Riethmüller/Wolf (Hg.), Paradestück Militärmusik, S. 265–275; ders., Wie den Frieden in Töne setzen? In: ApuZ 11/2005, S. 7–14.

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Musikpropaganda in der französischen Besatzungszone. Der Blick von der (französischen) Besetzung des (deutschen) Rheinlandes30 über die Besatzung Frankreichs durch Deutschland bis zur (französischen) Besatzung des deutschen Südwestens nach 1945 eignet sich dazu, die Studie der Bedeutung von Musik mit der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen zu koppeln.31

30 Vgl. den Beitrag von Stefanie Kleiner in diesem Band. 31 Vg. dazu J. Echternkamp/S. Martens (Hg.), Militär in Deutschland und Frankreich 1770–1870. Vergleich, Verflechtung und Wahrnehmung zwischen Konflikt und Kooperation, Paderborn 2012.

Klänge von Macht und Ohnmacht Musikpolitik und die Produktion von Hegemonie während der Rheinlandbesatzung 1918 bis 1930 S TEPHANIE K LEINER

I. E REIGNISGESCHICHTLICHE UND INSTITUTIONELLE H INTERGRÜNDE Als Folge der militärischen Kriegsniederlage Deutschlands besetzten Truppen der alliierten Siegermächte Großbritannien, Frankreich, Belgien und der USA ab November 1918 die linksrheinischen Gebiete Deutschlands samt den drei Brückenköpfen um Köln, Koblenz und Mainz.1 Das gemein-

1

Siehe zu den Details des Verlaufs der Rheinlandbesatzung 1918–1930 zahlreiche Darstellungen: M. Pawley, The watch on the Rhine. The military occupation of the Rhineland, 1918–1930, London 2007; A.-M. Lauter, Sicherheit und Reparationen. Die französische Öffentlichkeit, der Rhein und die Ruhr (1919–1923), Essen 2006; T. Koops/M. Vogt (Hg.), Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten, 1919–1930 und 1945–1949. Ergebnisse einer Tagung des Bundesarchivs in der Universität Trier vom 12. bis 14. Oktober 1994, Koblenz 1995; F. Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930, Essen 1992; D.G. Williamson, The British in Germany, 1918–1930, Oxford 1991; P. Hüttenberger/H. Molitor (Hg.), Franzosen und Deutsche am Rhein, 1789–1918–1945, Essen 1989; W.A. McDougall, France’s Rhineland diplomacy, 1914–1924, Princeton 1978 sowie K.L. Nelson, Victors

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sam mit dem Versailler Vertrag im Juni 1919 abgeschlossene Rheinlandabkommen bestimmte die genaueren Richtlinien der alliierten Besatzung, die in erster Linie die Entmilitarisierung des Rheinlandes überwachen und die planmäßige Einhaltung der deutschen Reparationszahlungen sicherstellen sollte.2 Langfristig sollte so eine Situation politischer, militärischer und wirtschaftlicher Stabilität und Sicherheit geschaffen werden.3 Um dies zu erreichen, wurde das Rheinland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die Anwesenheit der Alliierten wurde auf maximal 15 Jahre befristet. Es war vorgesehen, dass die vier Zonen nach fünf, zehn und fünfzehn Jahren geräumt werden sollten. Da die USA den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, zogen die amerikanischen Truppen allerdings bereits 1923 wieder ab, ihre Besatzungszone wurde von Frankreich übernommen.4 Besatzung wird nachfolgend im Sinn des Politikwissenschaftlers David M. Edelstein als die zeitlich befristete Kontrolle eines bestimmten (Staats-) Gebietes durch einen anderen Staat oder eine Gruppe alliierter Staaten verstanden.5 Da im Fall einer Besatzung ausdrücklich kein Anspruch auf eine langfristige oder gar permanente Herrschaftsausübung verfolgt wird, sind militärische Besatzungen von ähnlichen Formen der Kontrolle wie Annexion, kolonialer Herrschaft und Prozessen des von außen (mit) gesteuerten Nation-building abzugrenzen, da diese in der Regel einen

divided. America and the allies in Germany, 1918–1923, Berkeley/Los Angeles/London 1975. Ich bin Sven Oliver Müller, Sarah Zalfen und Iris Törmer dankbar für die Gelegenheit, in diesem Text einen spezifischen Aspekt von Musikpolitik mit konzeptionellen Zugängen rekonstruieren zu können, die in meiner kurz vor der Drucklegung stehenden Dissertation nicht berücksichtigt sind. Siehe zu dem grundsätzlichen Anliegen, die ideen- und politikgeschichtlichen Valenzen von Oper und Festspiel zu erfassen, deshalb auch S. Kleiner, Staatsaktion im Wunderland. Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930), München 2012 (im Druck). 2

Siehe ausführlich in: McDougall, France’s Rhineland diplomacy, S. 67ff.

3

Siehe dazu: D.M. Edelstein, Occupational hazards. Success and failure in military occupation, Ithaca/New York 2008, hier S. 3.

4

Zu den Einzelheiten des Versailler Vertrages und des Rheinlandabkommens siehe: Pawley, The watch on the Rhine, 16ff.

5

Siehe dazu ausführlich: Edelstein, Occupational hazards, S. 3.

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engmaschigeren und zeitlich ausgedehnteren Modus der Einflussnahme implizieren. Für Edelstein benötigen Besatzungsregime neben militärischen auch administrativ-institutionelle Interventionsmöglichkeiten, um das besetzte Gebiet kontrollieren zu können. Im Fall der alliierten Rheinlandbesatzung der Zwischenkriegszeit erfüllte diese Funktion die im Januar 1920 ins Leben gerufene so genannte Interalliierte Rheinlandkommission.6 Als oberste Verwaltungsbehörde löste dieses ausdrücklich zivile Gremium die Kontrolle des besetzten Gebietes durch militärische Instanzen ab. Gegenüber den deutschen Behörden war die Kommission, deren Vorsitz der Hohe Kommissar Frankreichs, Paul Tirard, innehatte, weisungsberechtigt: Sie konnte Verordnungen erlassen, die die Sicherheit und den Unterhalt der alliierten Truppen gewährleisten und für den ungestörten Fortgang des öffentlichen Lebens Sorge tragen sollten. Die Alliierten konnten unter anderem Beamte ernennen und abberufen, die Presse- und Versammlungsfreiheit einschränken und in Fragen der Rechtsprechung eingreifen.7 Demgegenüber vertrat das so genannte Reichskommissariat für die besetzten rheinischen Gebiete die Interessen der betroffenen deutschen Länder. Obgleich das Rheinlandabkommen den besetzten Gebieten weitgehende administrative Selbstständigkeit zusagte, nahm das Gros der rheinländischen Bevölkerung die Okkupation als Fortsetzung der kriegerischen Auseinandersetzungen wahr,8 wenngleich es auch wiederholt Separationsversuche gab, die das Ziel verfolgten, eine vom Reich unabhängige rheinische Republik zu schaffen.9 Besonders hitzig verlief der Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland. Seit langem schwelende Auseinandersetzungen um den Rhein als

6

Siehe zur Etablierung und Funktion der Interalliierten Rheinlandkommission exemplarisch: E. Fraenkel, Military occupation and the rule of law. Occupation Government in the Rhineland, 1918–1923, London/New York/Toronto 1944, S. 81ff.

7

Die Ordonanzen der Interalliierten Rheinlandkommission siehe ausführlich bei: Fraenkel, Military occupation and the rule of law, S. 237ff.

8

Siehe exemplarisch: K. Wachendorf, Zehn Jahre Fremdherrschaft am deutschen Rhein. Eine Geschichte der Rheinlandbesetzung von 1918–1928, Berlin 1928, S. 16.

9

Siehe zum Verlauf der separatistischen Aufstände im Rheinland u.a. Pawley, The watch on the Rhine, S. 51ff.

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nationale Grenze und kulturelle Demarkationslinie wurden – nach den wechselseitigen Besatzungserfahrungen von 1792/94 bis 1814, 1870/71 und 1914/18 – neuerlich ausgetragen, insbesondere in zahlreichen polemisch geführten kulturpolitischen Kontroversen. Auf Seiten des Rheinlandes setzte ein propagandistisch geführter Kampf um den ›Mythos Rhein‹ ein, den man erneut als ›Deutschlands Strom‹, nicht aber als seine Grenze zurückgewinnen wollte.10 Dem hielten französische Publizisten wie Maurice Barrès die so bezeichnete Rheintheorie entgegen, ein geschichts- und kulturpolitisches Programm, das den Anspruch Frankreichs auf den Rhein als Ostgrenze legitimieren sollte: Dem Rheinland wurde eine besondere historische, geographische und kulturell-religiöse Nähe zu Frankreich attestiert, den Rhein stilisierte man zur »europäische>n@ Kulturscheide«, die den französisch-preußischen Gegensatz geographisch festschrieb.11 Indem die Rheintheorie an die Epoche der Revolution und die napoleonische Ära anknüpfte, erhob sie das Rheinland zu einem geläuterten, ›besseren‹ Deutschland, das auf Grund des historischen Erbes eigentlich Frankreich zugezählt werden musste. Da Frankreich zudem sowohl 1870/71 als auch 1914/18 von deutschen Truppen besetzt worden war, strebten Teile der politischen und militärischen Eliten Frankreichs aus sicherheitspolitischen Bedürfnissen zunächst an, mit dem Rheinland einen oder mehrere entmilitarisierte, von Frankreich kontrollierte Pufferstaaten gegen Deutschland zu schaffen – eine Strategie hegemonialer Einflussnahme, die allerdings bei Amerikanern und Engländern auf beträchtlichen Widerstand stieß.12 So-

10 Dies als Anspielung auf die 1813 publizierte Broschüre von Ernst Moritz Arndt, ›Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze‹, mit der Arndt die Loslösung des Rheinlandes von Frankreich forderte und den Rhein in der Zeit der Freiheitskriege und der nationalen Einheitsbewegung zum »Ausgangspunkt deutscher Kultur« ausrief. Siehe ausführlich in: L. Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1994, S. 171ff. 11 Zur Genese der französischen Rheintheorie siehe ausführlich: W. Kreutz, Französische Rheintheorie und französische Kulturpolitik im besetzten Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Koops/Vogt, Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten, S.19–37. 12 Zu den konkreten Zielen Frankreichs siehe vor allem: McDougall, France’s Rhineland diplomacy, S. 33ff. Zur Wahrnehmung und Einschätzung der Besat-

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wohl die USA als auch England machten sich demgegenüber für eine gemäßigte Politik stark; wirtschaftliche Interessen spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Überzeugung, dass langfristige Stabilität nur durch die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts autonomer Nationalstaaten garantiert werden könne.13 Der Versailler Vertrag und das Rheinlandabkommen sahen schließlich eine Kompromisslösung vor: Frankreich akzeptierte das Angebot eines »Garantiepaketes«, das ihm im Falle eines deutschen Angriffs die militärische Unterstützung der USA und Großbritannien zusicherte, und stimmte im Gegenzug der befristeten alliierten Besatzung des Rheinlandes zu.14 Mit der Ratifizierung des Dawes-Planes im August 1924, vor allem aber in Folge des Vertrages von Locarno (1925) und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1926) änderten sich die politischen Koordinaten Europas dann noch einmal grundlegend, eine kurze Phase politisch-ökonomischer Stabilisierung und transnationaler Kooperation begann. Dies hatte auch für die Rheinlandbesatzung Konsequenzen, da die Legitimationsbasis einer militärischen Okkupation mit der Wiederaufnahme Deutschlands in das europäische Mächtekonzert zusehends dahinschwand.15

zung innerhalb der französischen Öffentlichkeit siehe: Lauter, Sicherheit und Reparationen. 13 Zu den widersprüchlichen Zielsetzungen der Alliierten siehe: McDougall, France’s Rhineland diplomacy, S. 3ff. 14 Siehe in: Lauter, Sicherheit und Reparationen, S. 56. 15 Siehe exemplarisch: Williamson, The British in Germany. 1918–1930, S. 263ff. Im Januar 1926 begann die Räumung der britischen Zone mit dem Hauptsitz Köln, die Engländer verlegten ihre Rheinarmee nun nach Wiesbaden. Nachdem der Young-Plan 1930 die Reparationszahlungen des Deutschen Reiches geregelt hatte, räumten die alliierten Truppen das Rheinland früher als ursprünglich vorgesehen: Die britischen Truppen verließen ihre Besatzungszone schon 1929, im Sommer 1930 zogen dann auch die französischen Truppen ab. Zur letzten Phase der Rheinlandokkupation siehe exemplarisch: Pawley, The watch on the Rhine, S. 167ff.

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II. K ONZEPTIONELLER R AHMEN : H EGEMONIETHEORIE UND H UMANGEOGRAPHIE DER M USIK Diese knappe Schilderung des ereignisgeschichtlichen Hergangs der alliierten Rheinlandbesatzung lässt die brisant-dramatische Gemengelage des Zeitabschnitts nur erahnen. Als zeitnaher Beobachter deutete der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel diese Epoche bereits in der 1944 publizierten Studie Military occupation and the rule of law. Occupation Government in the Rhineland, 1918–1923 als »symptomatic link in the chain that connects the two great catastrophes of our period«, repräsentiere sie doch »a chapter of modern history in which ›the greatness and misery of a victory‹ found one of its most tragic expressions«.16Auffallend ist, dass Fraenkels Darstellung die kulturpolitischen Auseinandersetzungen jener Jahre nahezu vollständig ausklammert – eine Leerstelle, die bei einem noch recht nah am zeitgenössischen Geschehen Argumentierenden umso mehr überrascht, als die kultur- und symbolpolitischen Dimensionen von Besatzung die beteiligten Akteure durchaus umtrieben. Zahlreiche jüngere politik- und geschichtswissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich mit der alliierten

16 Fraenkel, Military occupation and the Rule of Law, S. 3f. Fraenkel, der mittlerweile vor allem durch seine demokratie- und politiktheoretischen Analysen – besonders die erstmals 1964 veröffentlichte Aufsatzsammlung Deutschland und die westlichen Demokratien – in den Rang eines Klassikers der Politikwissenschaft aufgerückt ist, hat diese Arbeit im amerikanischen Exil verfasst: 1938 war der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in die USA ausgewandert, wo er 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm und in den amerikanischen Staatsdienst eintrat. Weithin rezipiert wurde seine 1941 veröffentlichte Analyse des NS-Staates, The Dual State. Auch die Rheinland-Studie war durch Fraenkels Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus geprägt; er entwarf sie vor dem Hintergrund des Scheiterns der Versailler Friedensordnung und im Hinblick auf eine Besatzung Hitler-Deutschlands. Indem Fraenkel auf Inkonsistenzen der alliierten Besatzungsherrschaft nach 1918 hinwies und nach Gründen ihres Versagens suchte, wollte er ein abermaliges Scheitern eines alliierten Besatzungsprojektes nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges verhindern. Siehe H. Buchstein/G. Göhler, Ernst Fraenkel, in: W. Bleek/H.J. Lietzmann, (Hg.), Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton, München 2005, S. 151–164.

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Rheinlandbesatzung der Zwischenkriegszeit beschäftigen, berücksichtigen deshalb auch kulturelle Facetten; sie lassen die Musik als mögliches Medium von Besatzungsmacht jedoch außen vor.17 Nachfolgend soll daher der Frage nachgegangen werden, wie Musikaufführungen dazu beitragen konnten, die asymmetrischen Beziehungen zwischen Siegern und Verlierern, Besatzern und Besetzten zu gestalten, die Konfliktlinien zwischen den Besatzungsarmeen sowie zwischen Besatzern und besetzter Bevölkerung zu vertiefen, gegebenenfalls aber auch zu glätten. Es wird davon ausgegangen, dass hegemoniale Positionen maßgeblich im Modus symbolischer Repräsentationen von Sieg und Niederlage, Triumph und Schande, Eigenem und Fremdem erstritten werden mussten. Musikalisch-szenische Darbietungen waren deshalb auch nicht eine Facette eines instabilen, sich permanent wandelnden Kräftefeldes, sondern sie brachten es maßgeblich mit hervor.18 An Analysen Fraenkels kann hierbei insoweit angeknüpft werden, als diese die Besatzungsherrschaft als ein konfliktförmig verfasstes, im Regelfalle massiv umkämpftes Terrain beschreiben und dadurch den Blick auf asymmetrische Konstellationen und Aus-

17 Anna-Monika Lauter und Franziska Wein etwa gehen in ihren Arbeiten ausführlich auf kultur- und geschichtspolitische Aspekte ein und berücksichtigen beispielsweise die pressepolitischen Diskurse Deutschlands und Frankreichs, die geschichtspolitischen Debatten um die Rheingrenze sowie herausragende Ereignisse der politischen Festkultur wie die Rheinische Jahrtausendfeier 1925. Siehe dazu ausführlich: Lauter, Sicherheit und Reparationen, S. 88ff.; Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Gerhard Brunn geht in seinem Aufsatz »Französische Kulturpolitik in den Rheinlanden nach 1918 und die Wiesbadener Kunstausstellung des Jahres 1921« ebenfalls auf kulturpolitische Strategien ein; siehe in: Hüttenberger/Molitor (Hg.), Franzosen und Deutsche am Rhein, S. 219–241; Mit dem Programm der französischen Rheintheorie setzt sich der Beitrag von Wilhelm Kreutz (»Französische Rheintheorie und französische Kulturpolitik im besetzten Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Koops/Vogt, Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten, S.19–37), auseinander. 18 Vgl. zur Hervorbringung gesellschaftlicher Ordnungsmuster durch musikalischer Inszenierungen und ihre Rezeption: S.O. Müller, Musik als nationale und transnationale Praxis (Einleitung), in: ders./L. Raphael (Hg.), Demarcation and Exchange. »National« music in 19th century Europe, in: Modern European History 5 (2007), S. 22–38, hier S. 29f.

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handlungskämpfe lenken. Fraenkel beschreibt die Schwierigkeiten, angesichts verschiedenartiger Rechtstraditionen eine für alle Beteiligten bindende Rechtssituation zu schaffen, er schildert die divergierenden Zielsetzungen und die daraus resultierenden Spannungen innerhalb der alliierten Besatzungsmächte und analysiert die Haltung der rheinländischen Bevölkerung gegenüber den Alliierten, die zumeist zwischen harscher Feindseligkeit – etwa gegenüber Frankreich – und einvernehmlicher gegenseitiger »disinterestedness« – im Falle der amerikanisch-deutschen Beziehungen – changierte.19 Konstellationen politischer, rechtlicher, militärischer und wirtschaftlicher Macht werden als Ergebnis von Aushandlungskämpfen interpretiert. In ihrem Beharren auf dem grundsätzlich pluralistisch-konfliktförmigen Charakter des politischen Prozesses zeigen seine Analysen frappierende Ähnlichkeiten zu den hegemonietheoretischen Überlegungen Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, die den jüngeren politik- und sozialwissenschaftlichen Theoriediskurs maßgeblich mitgeprägt haben.20 Um die alliierte Rheinlandbesatzung zwischen 1918 und 1930 im Licht hegemonietheoretischer Implikationen interpretieren zu können, lohnt es sich, Fraenkels Analysen der Rheinlandbesatzung mit Hilfe der Herangehensweise Mouffes und Laclaus heuristisch weiterzudenken, obgleich seine mit

19 So referiert Fraenkel die amerikanische Position im Anschluss an Aussagen Henry T. Allens; siehe in: Fraenkel, Military occupation and the rule of law, S. 106. Hierbei ist freilich darauf hinzuweisen, dass die Rheinlandbesatzung auch innerhalb der französischen Öffentlichkeit umstritten war. So weist Anna-Monika Lauter darauf hin, dass die französische Linke die Kosten der Besatzung sowie die Größe der Rheinarmee heftig kritisierte. Siehe dazu: Lauter, Sicherheit und Reparationen, S. 358ff. 20 Siehe vor allem: E. Laclau/C. Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 20002. Ernst Fraenkel betont auch in seinen späteren demokratietheoretischen Überlegungen die wichtige Rolle »kontroverser Willensbildung«, setzt hierbei aber einen stabilen, nicht weiter verhandelbaren Grundkonsens über die elementaren ›Spielregeln‹ dieses agonalen Prozesses voraus. Vgl. hierzu ausführlich: G. Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus. Politiktheorie und Emigrationsforschung bei Ernst Fraenkel, in: Politische Vierteljahresschrift 27 (1986), S. 6-27, hier S. 12ff. sowie Buchstein/Göhler, Ernst Fraenkel, S. 160.

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normativen Absichten verbundenen Strukturanalysen substanziell kaum mit einem neomarxistisch-poststrukturalistischen Ansatz zusammengeführt werden kann. Wo Fraenkel die Besatzungssituation nämlich zur Voraussetzung seiner Analyse macht, ja sie gewissermaßen a priori setzt und in ihrem Vollzug durchleuchtet, lässt sie sich im Anschluss an Laclau und Mouffe als ein permanent hervorzubringendes Produkt hegemonialer Praktiken deuten. Laclau und Mouffe selbst schließen an die hegemonietheoretischen Ausführungen Antonio Gramscis an, der Hegemonie als einen Kampf unterschiedlicher sozialer und politischer Gruppierungen innerhalb nationalstaatlicher Formationen deutete. Besonderes Gewicht legte er dabei auf die herrschaftssichernde Funktion von zivilgesellschaftlichen Hegemonieapparaten wie Massenmedien, Kirche, Schule und Wissenschaft, betonte zugleich aber das kritisch-subversive, etablierte Machtkonstellationen durchbrechende Potential kultureller Praktiken.21 Für den Kampf um die Gewinnung hegemonialer Positionen innerhalb der verschiedenen Foren der Zivilgesellschaft prägte Gramsci die vielzitierte Metapher des »Stellungskrieges«, um zu veranschaulichen, dass »hegemoniale Geländegewinne« stets vorläufig und umkämpft sind.22 Laclau und Mouffe radikalisieren diese Hegemonietheorie Gramscis, lösen sie aus der Bindung an ökonomische Logiken und stützen sie auf die Behauptung, dass die Schließung gesellschaftlicher Formationen als unaufhörlicher Prozess stets neuer, temporärer Fixierungen von Sinn begriffen werden muss.23 Hegemonie deuten sie als einen genuin antagonistisch verfassten »Typus politischer Beziehungen«24, sie bezeichnet eine »Logik des Politischen«, die nicht

21 Zu Gramscis Begriff der Hegemonie und der Hegemonieapparate siehe: A. Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 4, hg. v. K. Bochmann u. W.F. Haug unter Mitwirkung von P. Jehle, Hamburg 1992, S. 816. Zur Diskussion von Gramscis Hegemoniebegriff siehe ausführlich: S. Kebir, Gramscis Zivilgesellschaft. Alltag, Ökonomie, Kultur, Politik, Hamburg 1991, S. 74ff. 22 Siehe diese Lesart von Gramscis Hegemonietheorie bei: O. Marchart, Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d 12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008, S. 21. 23 Siehe zur Hegemonietheorie Mouffes und Laclaus ausführlich: O. Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998. 24 Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 184.

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mehr stabil einem bestimmten gesellschaftlichen Feld zugewiesen werden kann, sondern auf dem unruhigen, strategisch zu besetzenden »Terrain hegemonialer Artikulation« angesiedelt ist.25 Anregungen dieses Theorieangebotes aufnehmend, lässt sich die Besatzungssituation der Zwischenkriegszeit somit als labiler Vollzug widerstreitender diskursiver und inszenatorischer Praktiken beschreiben, die unausgesetzt auf wenigstens temporäre »hegemoniale Stabilisierung« drängen.26 Um Hegemonie beanspruchen zu können, mussten die beteiligten Akteure sie – und damit in gewisser Hinsicht auch sich – situativ stets neu erzeugen und aktualisieren. Welche Bedeutung konnte hierbei aber der Musik zukommen? Wie sehr Laclau und Mouffe sprach- und diskursanalytische Traditionen fortschreiben, lässt sich daran ermessen, dass einer der wenigen Texte, in denen sich eine explizite Stellungnahme zur politischen Relevanz von Kunst findet, ein Interview Mouffes ist, das bezeichnenderweise Hans Haackes Reichstagsinstallation »Der Bevölkerung« zum Ausgang nimmt.27 Und damit gewissermaßen konzeptionell auf sicherem Boden verbleibt. Um die genuin musikpolitischen Dimensionen der hegemonialen Konstellationen während der Besatzungszeit deshalb besser rekonstruieren zu können, finden sich im Folgenden auch Anklänge an einige neuere human- (beziehungsweise kultur- oder auch medien-) geographische Arbeiten. Sie stellen ein Vokabular bereit, das die performativen, affektiven Wirkungen von Musik besonders eindrücklich nachvollziehbar werden lässt, indem sie Emotionen nicht als mentale Zustände von Akteuren, sondern als gemein-

25 O. Marchardt, Eine demokratische Gegenhegemonie. Zur neo-gramscianischen Demokratietheorie bei Laclau und Mouffe, in: A. Fischer-Lescano/S. Buckel (Hg.), ›Hegemonie gepanzert mit Zwang‹. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci, Baden-Baden 2007, S. 105–120, hier S. 106f. Zum Begriff der Artikulation siehe zudem ausführlich: Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 141ff. 26 M. Nonhoff, Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie – Einleitung, in: Ders. (Hg.), Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, S. 7–24, hier S. 11f. 27 C. Mouffe, »Every form of art has a political dimension.« Chantal Mouffe, interviewed by Rosalyn Deutsche, Branden W. Joseph, and Thomas Keenan, in: Grey Room 02 (Winter 2001), S. 98–125.

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same, zeit-räumlich situierte Praxis beschreiben.28 Zugleich geben sie einen konstruktiven Rahmen vor, in dem sich die möglichen Grade instrumentellen Agierens abwägen lassen. Ob und inwiefern die Musik nämlich als Besatzungsinstrument gedeutet werden kann, hängt auch davon ab, wie ihre Nähe zu inhaltlich festgefügten politischen Agenden eingeschätzt wird. Dieses Spektrum kann reichen von der Idee einer semantischen Spezifik auch der klanglichen Eigenschaften von Musik, etwa im Sinne einer genuin nationalen Tönung, über die Deutung, dass in der Schaffung von soundscapes Affekt und Überzeugung besonders effektiv zusammenfinden, bis hin zu der Ansicht, dass mittels Musik eine programmatisch offene, ideologische Verkrustungen überwindende Atmosphäre geschaffen werden kann. Gerade deshalb lassen sich diese humangeographischen Diskussionen überzeugend an die poststrukturalistisch inspirierte Hegemonietheorie anbinden: Wenn Musik als emotionale Praxis verstanden wird, in deren Verlauf sich zwar temporär semantische Eindeutigkeiten spüren lassen mögen, die aber als situatives Geschehen immer auch affektive Überschüsse produziert, ist eine ähnliche Bewegung beschrieben wie die zwischen einer permanenten Schließung und Öffnung hegemonialer Formationen. Musikalische Inszenierungen, so lassen sich diese Einsichten für die Analyse der Besatzung aufgreifen, vermochten insofern auf Grund ihrer besonderen affektiven Potenziale einen gleichsam zwingenden Sog zu entfalten und dem Anspruch auf hegemoniale Überlegenheit besonderen Nachdruck zu verleihen.

28 Zu nennen sind hier (in chronologischer Reihenfolge): S.J. Smith, Beyond geography’s visible worlds: a cultural politics of music, in: Progress in Human Geography 21 (1997), S. 502–529; N. Wood/S.J. Smith, Instrumental routes to emotional geographies, in: Social & Cultural Geography 5 (2004), S. 533–548; N. Thrift, Intensities of feeling: towards a spatial politics of affect, in: Geografiska Annaler 86B (2004), S. 57–78; V. Morley/K. Somdahl-Sands, Music with a message: U2’s rock concerts as spectacular spaces of politics, in: Aether: The Journal of Media Geography VII (2011), S. 58–74; N. Wood, Playing with ›Scottishness‹: musical performance, non-representational thinking and the ›doings‹ of national identity, in: Cultural Geographies, vorab online publiziert am 13.01.2012 DOI: 10.1177/1474474011420543. Siehe auch B. Massumi, Of microperception and micropolitics. An interview with Brian Massumi, 15. August 2008, in: Inflexions: A Journal for Research-Creation 3 (Oktober 2009), S. 1–20 (inflexions.org; Zugriff am 10.02.2012).

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Entsprechend ging die Bedeutung sämtlicher musikpolitischer Maßnahmen während der Besatzungszeit eben nicht auf in einer propagandistischen Funktion.29 Kulturelle Artikulationen erschöpften sich nicht in solchen klaren ästhetischen Umsetzungen politischer Interessen und Ziele; vielmehr übernahmen sie eine Wirklichkeit erzeugende und deutende Funktion. Deshalb soll nun in drei kurzen Fallstudien gezeigt werden, wie die asymmetrischen Identifikationen als Besatzer beziehungsweise als Besetzte in symbol- und musikpolitischen, affektiv aufgeladenen Praktiken hervorgebracht wurden. Auch wenn musikalische Aufführungen von Angehörigen der Besatzungsarmeen wie von Seiten der besetzten Bevölkerung regelmäßig besucht wurden, legten sie ihren außeralltäglichen Charakter nicht ab, konnten Routinen suspendieren und transzendieren. Mithilfe ihrer eingängigen Klang-, Text- und Bildwelten schufen Opernaufführungen und Festspiele atmosphärisch verdichtete Erlebnisräume, die das anwesende Publikum emotional affizieren und die Presse zu entsprechend eindrücklichen Berichten animieren konnten. Im Sinne der Analyseweise von Laclau und Mouffe ließe sich sagen, dass dabei flottierende Elemente wie der ›Rhein‹ oder ›Richard Wagner‹ semantische Überschüsse erzeugten, die für das eigene hegemoniale Projekt gleichsam gezähmt und nutzbar gemacht werden und damit zugleich Differenz erzeugende »Grenz-Fronten« gegenüber dem Anderen, Fremden markieren sollten.30 Besondere Aufmerksamkeit richtet sich daher auf die Frage, wie sich situativ erzeugte, aber gewöhnlich langfristig wirksame emotionale Bindungen und Zugehörigkeitsgefühle und eine vertraglich befristete Besatzungsherrschaft zueinander verhielten, und ob es möglich war, diese verschiedenartigen zeitlichen Logiken aufeinander abzustimmen.

29 In seiner Untersuchung der französischen Kulturpolitik im Rheinland nach 1918 betont Gerhard Brunn vor allem die propagandistischen und kulturimperialistischen Aspekte der alliierten Kulturpolitik. Siehe ausführlich: Brunn, Französische Kulturpolitik in den Rheinlanden nach 1918 und die Wiesbadener Kunstausstellung des Jahres 1921, S. 219–241. Zur konzeptionellen Schwäche einer rein intentionalistischen Deutung siehe auch Thrift, Intensities of Feeling, S. 64ff. 30 Zur Funktion der flottierenden Elemente innerhalb hegemonialer Konstellationen siehe ausführlich: Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 175ff.

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III. D REI

HEGEMONIALE

K ONSTELLATIONEN

Es werden nun drei hegemoniale Konstellationen vorgestellt, in denen im Modus ästhetischer Inszenierung und Deutung verschiedene Adressierungen hegemonialer Ansprüche nachvollzogen werden können. In einem ersten Abschnitt werden interalliierte Konfliktlagen in den Blick genommen. Aufwändige ästhetische Inszenierungen sollten dazu beitragen, dominante Positionen herzustellen und Gefolgschaft zu organisieren: Erst indem sie sich symbolisch als Besatzer konstituierten, konnten die Alliierten tatsächlich Herrschaft ausüben und sich voneinander abgrenzen. Hieran anschließend werden die antagonistischen Beziehungen zwischen der alliierten Besatzung und der besetzten rheinländischen Bevölkerung thematisiert: Beide Seiten waren bemüht, temporäre Asymmetrien zu fixieren beziehungsweise zu lösen, so dass sich Praktiken hegemonialer Grenzziehung hier besonders eindrücklich nachvollziehen lassen. In einem dritten Abschnitt wird eine unmittelbar aus der Beendigung der alliierten Besatzung im Sommer 1930 hervorgehende hegemoniale Konstellation vorgestellt, die bereits auf die Post-Besatzungszeit verweist und in der die deutungskulturellen Eliten des ehemals besetzten Rheinlands ihr hegemoniales Projekt eines ›rheinischen Befreiungskampfes‹ nun in eine symbolische Waffe gegen die Weimarer Demokratie überführten. 1. Hegemoniale Auseinandersetzungen zwischen den Besatzungsmächten im besetzen Rheinland Wie umfassend die hegemoniale Kontrolle über die besetzten Gebiete ausgeübt werden sollte, war unter den Alliierten keineswegs eindeutig festgelegt, sondern unterlag permanenten Aushandlungskämpfen, die letztlich auch zur Desintegration der alliierten Politik beitrugen.31 Kulturpolitische Maßnahmen boten auf den ersten Blick nur wenige Reibungspunkte. Für die alliierten Besatzer gehörte es zum Alltag, regelmäßig Kunstausstellungen, Theater- und Opernaufführungen zu besuchen.32 Jenseits eines Interesses an den ästhetischen Darbietungen bot sich den militärischen und zivilen Besatzungseliten hier die Gelegenheit zu informellem Austausch

31 Siehe hierzu auch Nelson, Victors divided, S. 39f. 32 Siehe exemplarisch H.T. Allen, Mein Rheinland-Tagebuch, Berlin 1923.

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und zur wirkungsvollen Demonstration alliierter Machtfülle. Exemplarisch zeigen dies die Memoiren des französischen Generals Henri Mordacq, der in Wiesbaden, einem Hauptort der französischen Besatzungszone, stationiert war. Anschaulich berichtet Mordacq von einem gemeinsamen Opernbesuch mit dem britischen Marschall Wilson: Die beiden hochrangigen Militärs besuchten 1920 »eine Wagner-Vorstellung im Opernhaus-[…] – selbstverständlich in der Kaiserloge, (die mir reserviert war)«, wie Mordacq hervorhob, widmeten dem Geschehen auf der Bühne oder der musikalischen Orchesterbegleitung aber nur wenig Aufmerksamkeit.33 Vielmehr nutzten sie die Gelegenheit, um über die Zeit zu sprechen, »da wir versuchten, >...@ dem französischen und dem englischen Generalstab klarzumachen, daß der große Krieg nahe sei >...@. Wir hatten nur wenig Gehör gefunden; aber letzten Endes ist der Sieg ja doch gekommen >...@«.34 Während des Opernbesuchs tauschten beide gemeinsame Erinnerungen an ihre militärischen Erfolge aus. Als vor allem ziviles festliches Ereignis unterbrach der gemeinsame Opernbesuch außerdem den militärischen Alltag, wobei der informell-zwanglose Umgang fernab militärischer Etikette eine emotionale Annäherung und eine Festigung ihres Status als alliierte Besatzer bewirkte: »Welches wären wohl die Gedanken und Empfindungen Wilhelms II. gewesen, wenn man ihm sechs Jahre vorher gesagt hätte, dass ihn eines Tages ein englischer Marschall und ein französischer General ersetzen würden in dieser Loge >...@? Frau Wilson erklärte mir, diese Abendveranstaltung hätte eine starke Gemütsbewegung 35

bei ihr ausgelöst; stets werde ihr dieser Abend eine ganz große Erinnerung sein.«

Während das gemeinsame Kunsterlebnis in der hier geschilderten Passage dazu diente, gegenseitige Verbundenheit zu bekunden und eine Situation harmonischen Konsenses zu erzeugen, kritisierte der kommandierende General der amerikanischen Truppen, Henry T. Allen, Frankreichs Versuch, innerhalb der Alliierten eine hegemoniale Position erstreiten zu wollen: Im Sommer 1921 – man feierte den 100. Todestag Napoleon Bonapartes – fanden in Wiesbaden zwei groß angelegte Ausstellungen statt, die

33 H. Mordacq, Die deutsche Mentalität, Wiesbaden 1927, S. 19. 34 Ebd., S. 19f. 35 Ebd.

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repräsentative Werke französischer Malerei und Plastik seit dem 16. Jahrhundert sowie besondere Exponate französischer Innenarchitektur von Ludwig XVI. bis Napoleon zeigten.36 Bei der Eröffnung im Juni 1921 waren nicht nur hochrangige französische Militärs und Politiker, sondern auch Künstler und Schriftsteller sowie Vertreter der anderen alliierten Besatzungsmächte anwesend.37 Paul Tirard gab dabei für die rund 250 geladenen Gäste ein üppiges Diner. Anschließend war eine Galaaufführung von Richard Wagners Oper Das Rheingold geplant – »das alles dient zur Verherrlichung der Franzosen am Rhein«, wie Allen in seinem Tagebuch festhielt.38 Diese Demonstration französischer Überlegenheit erinnerte Allen »in mancherlei Hinsicht« an die aufwändigen Inszenierungen politischer Macht, die er 1898 »als Gast des deutschen Kaisers« erlebt hatte.39 Was Allen hier also kritisierte, war der »Versuch großen Stiles, das Ansehen des Oberkommissars der französischen Republik im Rheinlande zu erhöhen«, indem dieser nun gewissermaßen die Position zu besetzen suchte, die der deutsche Kaiser vor dem Krieg innegehabt hatte.40 Galadiner und Opernaufführung bezeichneten somit genuin hegemoniale Praktiken, die die französischen Besatzungseliten als machtvoll handelnde Akteure konstituieren und zugleich die nachgeordnete Position der übrigen alliierten Mächte festzuschreiben suchten. Erstaunlicherweise zeigte sich Allen nicht weiter verwundert darüber, dass ausgerechnet eine Wagner-Oper als geeignetes Vehikel französischer Machtimplementierung dienen sollte. Über die Motive der französischen Initiatoren der Aufführung kann nur spekuliert werden, allerdings erscheint es plausibel, dass bei der Wahl dieses Werkes weniger die Person Richard Wagners – und damit einer der maßgeblichen Exponenten deutscher Nationalkultur – den Ausschlag gab, sondern dass hier etwas anderes, nämlich die symbolische Dimension des Rheins und der Rheingrenze, thematisiert

36 Siehe dazu ausführlich: Lauter, Sicherheit und Reparationen, S. 113–134 sowie Brunn, Französische Kulturpolitik und die Wiesbadener Kunstausstellung des Jahres 1921, S. 233ff. 37 Brunn, Französische Kulturpolitik und die Wiesbadener Kunstausstellung des Jahres 1921, S. 233ff. 38 Allen, Mein Rheinland-Tagebuch, S. 141. 39 Ebd. 40 Ebd.

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werden sollten. Der in den Orchesterklängen des Werkes mystisch beschworene Rhein ließ sich im Kontext der Wiesbadener Ausstellungen umstandslos als pars-pro-toto-Figur für das besetzte Rheinland deuten und wurde dadurch Teil eines hegemonialen Projektes: Die Operninszenierung konnte dem anwesenden Publikum suggestiv die erfolgreiche Niederschlagung deutscher Großmachtpolitik durch die alliierten Besatzer gleichsam zu Gehör bringen und damit eindrücklich in Erinnerung rufen. Doch ein weiteres Moment kommt hinzu: Indem man Das Rheingold im Rahmen eines grandiosen alliierten Machtspektakels aufführte, wiederholte und bekräftigte man die Okkupation des besetzten Gebietes, ja man eignete sich das Rheinland nun gewissermaßen symbolisch an. Dies kann allerdings nicht so sehr als propagandistische Geste eines selbstsicheren Hegemons gewertet werden. Der von Frankreich initiierte Versuch, innerhalb der alliierten Formation eine dominante Position einzunehmen, war vielmehr in hohem Maß labil. Das aufwändig inszenierte Ereignis konnte nicht dazu beitragen, die übrigen Besatzungsmächte auf die eigene Seite zu ziehen. Die Schilderungen Allens machen vielmehr deutlich, dass die opulente Zurschaustellung französischer Machtfülle die militärisch-politischen Konflikte zwischen den Besatzungsmächten eher vertiefte. An die Opernaufführung schloss sich eine »Truppenschau auf den Straßen« der Stadt an, die von Festreden Paul Tirards und des französischen Bildungsministers Léon Bérard flankiert wurde. Beunruhigt hielt Allen fest, dass Bérard dabei »öffentlich erklärte, die beste Friedensgarantie wäre das Wehen der interalliierten Flaggen am Rhein«.41 Der Festakt hinterließ bei Allen den Eindruck, dass »Frankreichs Hartnäckigkeit in seiner Rheinlandpolitik durchaus nicht mit dem Versailler Vertrag übereinstimmt«.42 Allen zeigte sich irritiert durch die offensive Kultur- und Musikpolitik Frankreichs, das sich gewissermaßen zum Sprachrohr der alliierten Interessen aufschwang und damit einen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit von Vorgehensweisen erhob, die den Haltungen und Absichten der übrigen Alliierten zuwider liefen. Komplexe politische Anliegen ließen sich im Medium von Musik und Kunst einerseits zwar wirkmächtig pointieren und verknüpfen; andererseits befeuerte diese offensive französische Kulturpolitik den hegemonialen Kampf um die Vorherrschaft in den besetzten Ge-

41 Ebd. 42 Ebd.

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bieten. Der Versuch, die Partikularität der eigenen Position zu überwinden und mit dem Signum interalliierter Einheit zu versehen, stieß hier an seine Grenzen. 2. Der Kampf um musikpolitische Hegemonie am Beispiel der deutsch-französischen Beziehungen in Wiesbaden Hegemoniale Kämpfe, in deren Verlauf die Positionen von Besatzern und Besetzten immer wieder neu zugewiesen wurden, verliefen gerade innerhalb der französischen Besatzungszone in einer emotional aufgeladenen, gleichsam hochgerüsteten Atmosphäre und wurden vielfach in den Kategorien von Sieg und Niederlage, Macht und Ohnmacht, Triumph und Schande interpretiert. Beispielhaft veranschaulichen lässt sich dies anhand der Memoiren Henri Mordacqs: Die Präsenz »unserer tüchtigen Soldaten« wurde im Ritual der täglich stattfindenden Wachablösung vor dem Wiesbadener Stadtschloss, der einstigen Residenz Kaiser Wilhelms II., ostentativ hervorgehoben, und besonders »das Intonieren unserer Kriegsmärsche vor dem kaiserlichen Schloß« rief der Bevölkerung Wiesbadens »jeden Tag ins Gedächtnis«, dass »wir uns an Ort und Stelle als Machthaber ganz wohl fühlten«.43 Mordacq notierte freimütig, dass dies zwar »vom rein militärischen Standpunkt aus« nicht notwendig gewesen sei, als »Zeremonie« aber in hohem Maß »symbolisch wirkte«.44 Dass Mordacq die stets zu wiederholende symbolische Fixierung und Absicherung des militärisch-politischen Status quo für notwendig hielt, weist auf die prekäre Verstrebung der alliierten Besatzungsmacht hin. Dass eine solche Zurschaustellung hegemonialer Stärke in der besetzten Stadt als gezielte Provokation empfunden wurde, belegen anschaulich die Äußerungen des Kulturpublizisten Robert Prechtl, der sich 1919 in der Berliner Zeitschrift Der Spiegel zum »Fall Wiesbaden« wie folgt äußerte: »Man kriegt ein dickes Herz. Es wird einem mit einemmal (sic!) sichtbar, was das ist: besiegt. Unsere Herren und Gebieter machen sich breit in unserm Land. >...@ Besiegt! Unterworfen! Die schwarzen Truppen marschieren vorbei – >...@, die Offi-

43 Mordacq, Die deutsche Mentalität, S. 19. 44 Ebd.

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ziere mit langen Spaden, martialische Kerle – und die Fahnen, die Fahnen! Zerschossen, ausgebleicht in hundert Gefechten, aber leuchtend vom Ruhm, die furchtbarste Militärmacht der Welt zu Boden geworfen zu haben, zerrieben zu haben, von der Erde weggefegt zu haben.«

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Im Unterschied zu den übrigen Alliierten versuchte Frankreich, mithilfe der eigenen Nationalkultur – etwa durch aufwändige Ausstellungsprojekte, eine offensiven Pressepolitik oder französischer Sprachkurse – Hegemonie zu generieren,46 ein Ansinnen, das auf deutscher Seite eine Welle aggressivchauvinistischer Reaktionen auslöste. In weiten Teilen des besetzten Rheinlands stieß Frankreichs Versuch, eine Konstellation alliierter Stärke und deutscher Schwäche herzustellen, auf Ablehnung. Neben dem Stadtschloss nahmen die französischen Truppen mit dem Wiesbadener Theater einen weiteren symbolpolitisch relevanten Raum ein: Seit seiner feierlichen Eröffnung im Beisein Wilhelms II. im Jahr 1894 markierte das Theater einen Zentralort urbaner Festkultur, wurde nun aber folgerichtig von den französischen Militärs in den Prozess symbolischer Herrschaftsabsicherung eingebunden. So war die ehemalige Kaiserloge für die kommandierenden Militärs um General Mordacq zu reservieren, ein bestimmtes Kartenkontingent musste exklusiv an die französischen Militärangehörigen abgegeben werden.47 Die Sitzverteilung im Theaterraum bildete die erzwungene Änderung der militärisch-politischen Situation allerdings nicht nur ab, sondern brachte die Konstellation von alliierter Herrschaft und machtloser Subordi-

45 R. Prechtl, Wiesbaden. Eine politische Kulturfrage, in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, Flugblatt Nr. 14/15, November 1919, S. 1– 6, hier S. 1f. 46 Siehe etwa zum Einsatz geschichtspolitischer Propaganda ausführlich: Wein, Deutschlands Strom, Frankreichs Grenze sowie Kreutz, Französische Rheintheorie und französische Kulturpolitik im besetzten Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Koops/Vogt, Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten, S. 19–37. 47 Diese Bestimmungen wurden allerdings recht bald gelockert: Ab Mitte 1920 mussten Teile der requirierten Plätze bezahlt werden, ab 1925 wurde die Vergabe von Freiplätzen und Vergünstigungen für Besatzungsangehörige ganz eingestellt. Siehe dazu: den Bericht »Theater und Kurhaus in der Besatzungszeit« in: Rheinische Volkszeitung, 1. Juli 1930 in: Staatstheater Wiesbaden, Spezial-Akten betrf. die Befreiungsfeier in: HHStAW, Abt. 428, Nr. 343.

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nation der rheinländischen Bevölkerung erst mit hervor: Allabendlich wurden hegemoniale Positionen hier buchstäblich zugewiesen, Machtverhältnisse neu sortiert: Indem General Mordacq die Kaiserloge erfolgreich für sich beanspruchen konnte, wurde er als eigentliches Zentrum der Macht adressierbar. Dem einheimischen Publikum führte diese buchstäbliche Inbesitznahme des Theaters die eigene gesellschaftliche Deklassierung vor Augen. Statt einer in der neueren Forschung betonten Herstellung von emotionaler Intimität unter Fremden im gemeinsamen Akt des Musikhörens, präformiert die Sitzordnung das Erleben hier andersartig und produziert vor allem Abneigung: Empört notierte die Presse nämlich, dass die französischen Theaterbesucher während der Vorstellung ihre Kopfbedeckungen aufbehielten, die Garderobe mit auf den Platz nahmen, »bei falscher Platzwahl kurzerhand über die Sitze« kletterten oder gar »mit brennender Zigarette im Theater« umher promenierten – Gesten, die als arrogante Zurschaustellung alliierter Dominanz gewertet wurden, so dass mancher »Kampf« auszustehen war, »bis die Anpassung an hiesige Art, ein Bühnenkunstwerk zu genießen, vollzogen war«.48 So forsch sich die französischen Besatzungstruppen hier zeigten, so angestrengt mussten sie ihre Machtposition stets aufs Neue aktualisieren und absichern. Recht rigide Zensurbestimmungen, die dem Wiesbadener Theater vor allem in der Anfangszeit der Besatzung auferlegt wurden, weisen darauf hin, dass man das Theater – seit jeher ein Forum wirkungsvoll zu Schau gestellter Emotionalität – auch als gefährlichen Quellpunkt potenzieller antifranzösischer Agitation beargwöhnte. Eine Reihe polizeilicher Zensurmaßnahmen sah deshalb neben anderem vor, dass »ohne Erlaubnis der Orts-Militärbehörde« und ohne die Vorlegung und »beglaubigte Annahme« des Programms keine Theatervorstellungen

48 Siehe dazu: Theater und Kurhaus in der Besatzungszeit, in: Rheinische Volkszeitung, 1. Juli 1930. Siehe zum Befund emotionaler Intimität in Settings, in denen Musik zur Aufführung kommt, exemplarisch Wood/Smith, Instrumental routes, S. 539f. sowie Morley/Somdahl-Sands, Music with a Message, S. 68. Indem diese Ansätze relationistisch argumentieren und – in den Worten Massumis – Emotionen (beziehungsweise je nach terminologischer Präferenz auch Affekte) als happening in-between begreifen, sind sie für historische Rekonstruktionen so aufschlussreich. Siehe Massumi, Of microperception, S. 1 sowie S. 2ff.

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stattfinden durften.49 Eine Spielerlaubnis wurde davon abhängig gemacht, dass die Intendantur die Verantwortung für Opern- und Schauspielinszenierungen übernahm. Die Theatermitglieder wurden unter Androhung von Sanktionen aufgefordert, den »Text der Rollen nicht willkürlich durch Extempores« zu verändern.50 In Wiesbaden wiederum entstand der Eindruck, dass man »das besetzte Gebiet >...@ durch Sättigung mit französischem Geist« gewissermaßen »en passant« erobern wolle.51 Tatsächlich regte Paul Tirard an, französische Opern- und Schauspielensembles nach Wiesbaden kommen zu lassen, »und zwar selbstverständlich die besten, wie Comédie-Française, Opéra, OpéraComique«.52 Die französische Theaterpolitik sah vor, dass in jeder Spielzeit eine Reihe von französischen Opern und Schauspielen aufgeführt werden mussten. Es handelte sich dabei etwa um Werke von Molière, Bizet, Gounod und Cherubini, aber auch um so schillernd-hybride, gewissermaßen zwischen den Kulturen oszillierende Künstler wie den in Berlin geborenen Giacomo Meyerbeer, der lange Jahre abwechselnd in Berlin und Paris lebte, seine größten Erfolge aber in Paris feierte, wo er mit Opern wie Robert le Diable (1831), Les Huguenots (1836) oder Le Prophète (1849) brillierte. Vielsagend ist auch das Beispiel Jacques Offenbachs, denn als in der Spielzeit 1920/21 Offenbachs Großherzogin von Gerolstein inszeniert wurde, hagelte es von deutscher Seite Proteste: Wenngleich Offenbach auch in Köln geboren worden war, so wisse doch jeder – so hieß es in einem Schreiben des preußischen Innenministeriums –, »dass er später Fran-

49 Vgl. in: Intendantur des Königlichen Theaters Wiesbaden, General-Akten betr. Massnahmen während der Besetzung des Wiesbadener Theaters durch den Feind, Bd. I: 1918–1919, in: HHStAW, Abt. 428, Nr. 368. 50 Siehe hierzu einen Aushang im Wiesbadener Theater vom 15. Dezember 1918, in: Intendantur des Königlichen Theaters Wiesbaden, General-Akten betr. Massnahmen während der Besetzung des Wiesbadener Theaters durch den Feind, Bd. I: 1918–1919, in: HHStAW, Abt. 428, Nr. 368. 51 Siehe in: Theater und Kurhaus in der Besatzungszeit, in: Rheinische Volkszeitung, 1. Juli 1930. 52 Mordacq, Die deutsche Mentalität, S. 115.

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zose geworden ist und sich durch einen wütenden Deutschenhaß hervorgetan hat«.53 Der Bereich der Musikpolitik war allerdings auch in dieser von Misstrauen und Aggression geprägten Besatzungssituation keine eindimensionale Angelegenheit, in der ein Hegemon wie Frankreich nach Belieben schalten und walten konnte, während die Bevölkerung des Rheinlands zum unterlegenen Befehlsempfänger herabgestuft wurde. Musikpolitische Praktiken können eher als ein dynamisches Feld beschrieben werden, wo Phasen der sich verhärtenden Abgrenzung mit Phasen der Annäherung abwechselten. Hier wird ein grundsätzliches Dilemma dieser Besatzungskonstellation sichtbar: Wollte sie längerfristig Sicherheit und Stabilität bewirken, war sie folgerichtig darauf angewiesen, eine auch emotionale Annäherung zwischen Besatzern und Besetzten zu fördern. Was Edelstein als notwendig für das Gelingen von Besatzungsherrschaft im Allgemeinen anführt, nämlich eine durchdachte, Emotionen und Überzeugungen gleichermaßen berücksichtigende hearts-and-minds-Strategie, kann auf die konkrete Situation der Rheinlandbesatzung übertragen werden. Es ging auch hier darum, eine Atmosphäre der Kooperation zu erzeugen und die Besatzungsherrschaft dadurch abzusichern.54 Allerdings bewirkte diese Abschleifung einer asymmetrischen Beziehung eigentlich eine Auflösung der genuinen Besatzungskonstellation, und dieser Logik von Besatzungsherrschaft waren sich auch die Alliierten bewusst. Ihre kulturpolitischen Maßnahmen changierten deshalb zwischen Distanz und Nähe und unterlagen dabei schwer kontrollierbaren Wandlungsrhythmen. Im Juni 1921 etwa führte ein gemischtes Ensemble deutscher und französischer Sänger und Musiker in Wiesbaden Charles Gounods Oper Faust auf, eine Veranstaltung, die – so schildert es Mordacq – einen »bedeutenden Erfolg« erzielte; denn die »Deutschen schätzten nicht nur die prächtige Stimme unserer Sänger hoch ein, sondern besonders auch deren Spiel«, während die »der Vorstellung beiwohnenden Franzosen >...@ ihrerseits warmherzigen Beifall für die deutschen Künstler« fanden.55 Indem ein

53 Siehe hierzu ein Schreiben des preußischen Innenministeriums an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 2. Dezember 1920, in: GStA PK, Berlin, I. HA, Rep. 151m Finanzministerium, IC, Nr. 8201. 54 Siehe hierzu Edelstein, Occupational hazards, S. 58. 55 Mordacq, Die deutsche Mentalität, S. 116.

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deutsch-französisches Künstlerensemble Faust aufführte, schuf man einerseits einen Raum gemeinsamen ästhetischen Erlebens – und damit also dann doch so etwas wie eine musikalisch hervorgebrachte Zone emotionaler Intimität, die gegenseitige Annäherung und transnationale Kooperation begünstigte. Andererseits lässt sich die Aufführung durchaus als Strategie musikpolitischer Hegemonisierung beschreiben: Gounods 1861 uraufgeführte Oper wurde im Rahmen einer nationalistische Lesarten begünstigenden Rezeptionsgeschichte von Seiten des deutschen Feuilletons als Machwerk und platte Adaption der Goetheschen Stoffvorlage abgetan – schließlich stand hier ein Herzstück des deutsch-nationalkulturellen Kanons zur Debatte.56 Indem im Kontext der Wiesbadener Kunstausstellungen also gerade diese Oper aufgeführt wurde, aktualisierte die französische Kulturpolitik die Aneignung eines nationalkulturellen Mythos und markierte damit die Dominanz der eigenen Position. Der Versuch, mithilfe klassischer Kunstmusik eine emotionale Annäherung zwischen der Bevölkerung des Rheinlandes und Frankreich zu bewirken, stieß fortan immer häufiger an Grenzen. Mordacq machte zwar keinen Hehl aus seiner großen Verehrung für Wagner, diesen »göttliche>n@ Wagner«, der, wie er meinte, durch »sein Genie und sein fruchtbringendes Können alle anderen Komponisten der ganzen Welt in den Schatten« stelle.57 Allerdings entzündete sich gerade an der Person und der symbolischen Position Wagners ein aggressives hegemoniales Gegennarrativ, das trotzig die Überlegenheit der deutschen Nationalkultur behauptete und in der Anrufung der eigenen Nationalkultur bereits auf eine andersartige, nämlich durch langfristige Traditionsbestände abgesicherte Zeitordnung Bezug nahm, damit aber zugleich die temporär gesetzte äußere Zäsur der Okkupationsherrschaft in Frage stellte. Die Musik galt aus Sicht der deutungskulturellen Eliten des Rheinlands nicht nur als besonders authentische Ressource nationalkultureller Identität, sie wurde von deutscher Seite geradezu zur

56 Siehe hierzu exemplarisch: U. Kramer, »Musik durch und durch in deutschem Geiste«. Die Deutschen und »ihr« Goethe auf der Opernbühne anhand von Gounods Faust, in: C.-H. Mahling/K. Pfarr, (Hg.), Deutsche Musik im Wegekreuz zwischen Polen und Frankreich. Zum Problem musikalischer Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Tutzing 1996, S. 165–174. 57 Mordacq, Die deutsche Mentalität, S. 133.

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›Waffe‹ im Kampf mit einem verhassten Feind hochstilisiert.58 Der bereits erwähnte Kulturpublizist Robert Prechtl etwa rief das Wiesbadener Theater in einigen überregional publizierten Beiträgen zum Schauplatz eines nationalen Verteidigungskampfes und zum Gründungsort einer nationalkulturellen Erneuerungsbewegung aus. Prechtl attestierte dem Theater vor dem Hintergrund der Besatzung »>h@öchste politische Wichtigkeit«, da man hier Zeuge »der unzerbrochenen Macht deutschen Geistes« werden könne.59 Nach dem Ende des Krieges war es nun das Feld der Kultur, auf dem »deutsche und französische Kunst die Klinge« kreuzten.60 Dies wurde mittels einer aggressiven rhetorischen Strategie, die den bewaffneten Kampf verklärte, ganz offen als eine Art Kriegserklärung beziehungsweise als revanchistisches Programm formuliert: »Hier ist Kampfboden! Hier leite eine Revanche ein, deutsches Volk! Mit deinen Waffen, mit den Waffen deiner Zukunft, mit den Waffen des Geistes! Hier, wie nirgends, steht dir die Arena offen!«61 Um den ungebrochenen Behauptungswillen des besetzten Rheinlandes nach außen zu demonstrieren, sollten auf den rheinländischen Bühnen nun die »Kerntruppen deutscher Musik« aufmarschieren.62 In erster Linie dachte Prechtl hier an die Opern Beethovens, Webers und Wagners, denn gerade Richard Wagners Opern verkörperten für ihn »wie kein zweites Kunstwerk« das Wesen »des deutschen Genius«.63 Richard Strauss und Hans Pfitzner fanden ebenfalls wohlwollende Erwähnung. Daneben sollte aber auch die »leichte Kavallerie« zum Einsatz kommen, etwa die »himmlischen lustigen Weiber« oder die »unsterbliche Fledermaus«.64 Schließlich vertraute Prechtl ganz auf das »Tankgeschwader

58 Zu Vorstellung von Musik als Medium »through which ideas of nation can be created and negotiated«, aber auch zu der These, wie wichtig es dabei ist, an Traditionen möglichst kontinuierlich anzuknüpfen, siehe Wood, Playing with ›Scottishness‹, S. 4 und S. 16. 59 Prechtl, Wiesbaden. Eine politische Kulturfrage, S. 6. 60 So der Frankfurter Regisseur Richard Weichert in: Der Fall Wiesbaden, in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, Flugblatt Nr. 14/15 (November 1919), S. 7–11, hier S. 7. 61 Prechtl, Wiesbaden. Eine politische Kulturfrage, S. 4. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd.

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absoluter Musik« – gemeint waren die Symphonien Beethovens, Bruckners und Brahms‫ ތ‬sowie Bachs Matthäus-Passion oder Beethovens Missa solemnis.65 Mit der Beschwörung des ›unzerbrochenen Willens‹ zur Selbstbehauptung sowie mit dem Verweis auf einen nationalkulturellen Kanon wollte Prechtl das Feld hegemonialer Artikulation neu vermessen: Indem nationalkulturelle Traditionsbestände ganz unverblümt martialisch als Kavallerie und Tankgeschwader charakterisiert wurden, mit denen die kulturpolitischen Ambitionen Frankreichs niedergerungen werden sollten, beanspruchte er innerhalb des hegemonialen ›Stellungskrieges‹ eine aktiv-aggressive Rolle, die auf eine – um im Bild zu bleiben – Schleifung der von Frankreich gezogenen Grenzen hinwirkte. Die Situation der Rheinlandbesatzung kann hier mit Gramscis Metapher des Stellungskrieges tatsächlich adäquat beschrieben werden: Einmal erstrittene dominante Positionen ließen sich nicht dauerhaft durchsetzen, sondern wurden fortwährend von anderen Akteursgruppen bekämpft. In diesem labilen Kräftefeld deutete sich bereits frühzeitig ein Scheitern der französischen expansion culturelle im Rheinland an.66 Angesichts der als demütigend erlebten Besatzungssituation intonierte man nach 1918 vielerorts erneut das altbekannte Deutungsmuster einer ungebrochenen nationalkulturellen Größe Deutschlands. Schon in den kulturimperialistischen Debatten vor 1914 hatte dieses den Anspruch auf wirtschaftliche Expansion und politisch-militärische Hegemonie mit einer selbstherrlich behaupteten Überlegenheit deutscher Kultur kurzgeschlossen. Diese Argumentation bildet auch den Standpunkt der

65 Ebd. 66 Siehe zum Programm der Expansion culturelle: Kreutz, Französische Rheintheorie und französische Kulturpolitik, S. 22. Mit dem Beginn des Ruhrkampfes im Januar 1923 und dem daraus erwachsenden passiven Widerstand der deutschen Bevölkerung radikalisierte sich die politisch-militärische Gemengelage im Rheinland, so dass gemeinsamen Opernaufführungen und ähnlichen kulturpolitischen Maßnahmen die Grundlage entzogen wurde. Hinzu kamen innenpolitische Gründe, denn die neuen Linksregierungen unter Eduard Herriot und Aristide Briand betrachteten den bisherigen Kurs alliierter Besatzungspolitik skeptisch und verfolgten demgegenüber eine Politik des Ausgleichs und der Verständigung. Siehe ausführlich bei: Kreutz, Französische Rheintheorie und französische Kulturpolitik, S. 34f.

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lokalen bildungsbürgerlichen Eliten treffend ab. Hier formte sich in den Jahren der Rheinlandbesatzung ein Narrativ aus, das sich 1923, dem Jahr des Ruhrkampfes, zusehends radikalisierte. Im Dezember dieses Jahres fand in Wiesbaden eine Festwoche zur Wiedereröffnung des Theaters statt, das im Frühjahr durch einen Brand teilweise zerstört worden war. Man feierte im Kreis »markante>r@ Vertreter der städtischen Behören« sowie im Beisein von »Offiziere>n@ der Hohen Interalliierten Kommission« und ihrer Damen mit einer Festvorstellung von Wagners Lohengrin.67 Obgleich also hochrangige Vertreter der alliierten Eliten im Opernhaus anwesend waren, thematisierten die Pressedarstellungen die Situation der Besatzung meist nur am Rande. In emphatischem Duktus wandten sie sich demgegenüber mit Formeln völkischer Einheitsund Eigentlichkeitsrhetorik an die lokale Bevölkerung, wobei die Oper zum Symbol nationaler Selbstbehauptung verklärt wurde. Die anwesenden Kritiker deuteten die Oper, die seit ihrer Uraufführung 1850 stets nationale Hoffnungen und Ängste befeuert hatte, und der geradezu der Status einer »politische>n@ Manifestation« zuerkannt wurde,68 auch im Krisenjahr 1923 als ein »national-deutsches Festspiel«.69 Dabei passte man die Inszenierung den ästhetischen Bedürfnissen des zeitgenössischen Publikums an: Das ritterlich-romantische Element, das in den Inszenierungen des 19. Jahrhunderts sehr prominent betont worden war, trat in den Hintergrund. Lohengrin wurde nicht länger als Ritter und »strahlend schöne>r@ Mann mit herrlichem Vollbart« dargestellt, sondern als »Hüter des heiligen Gefäßes« und als »Gottgesandte>r@ voll priesterlicher Weihe« präsentiert.70 Das Schicksal des ebenso rätselhaft-tragischen wie charismatischen Helden interpretierte die Presse als »Gleichnis unserer selbst«, denn, so meinte man, in Lohengrin »sehen wir uns selbst«.71 Nachdrücklicher ließ sich der eminent identifikatorische Gehalt der Oper kaum formulieren, betonte eine solche

67 Wiesbadener Tagblatt, 21. Dezember 1923. 68 R. Brinkmann, Lohengrin, Sachs und Mime oder Nationales Pathos und die Pervertierung der Kunst bei Richard Wagner, in: H. Münkler/H. Danuser (Hg.), Deutsche Meister – Böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen 2001, S. 206–221, hier S. 217. 69 Rheinische Volkszeitung, 10. Dezember 1923. 70 Rheinische Volkszeitung, 21. Dezember 1923. 71 Ebd.

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Rezeptionsweise doch das »seelische >...@ Zusammenklingen« der im Theater versammelten Festgemeinde, der sich im musikalisch-szenischen Erlebnis gleichsam die »Seele unseres Volkstums« zu offenbaren schien.72 Im Pressediskurs wurde eine ganz bewusst in aurale Metaphorik gekleidete Neubestimmung nationalkultureller Identität initiiert, die die bislang fixierte Position der Ohnmacht überwinden sollte. Gerade im besetzten Rheinland fand das nationale Pathos, das die Oper durchwirkt, ein besonderes Echo, und so sprach die Presse denn auch vom Zauber »innerster Freude«, die die Aufführung beim deutschen Publikum entfachte, und die gleichzeitig den »Ausländern« »Achtung und Ehrerbietung vor deutscher Kunst« abringen musste.73 Euphorisch beschwor man die »Weihe gemeinsamen Erlebens«74, die ein »Hinschmelzen in selig-tragischer Erschütterung« bewirkt habe.75 Und mit Blick auf die Reaktion des Publikums wurde bilanziert: »Es war mehr als Jubel – es war Ergriffenheit!«76 Statt Zwietracht nun also Einheit. Beinahe wirkt es so, als ob emotionale Blockaden sich nun endlich wieder gelöst hätten und die musikalisch induzierten, nationalistisch getönten Gefühlsintensitäten wieder hingebungsvoll genossen werden konnten. Die Presseberichte verklärten das Theater zu einer Arena der symbolischen Selbstschöpfung. Die Musik Wagners, so hoffte man, konnte einem »krankenden Volk« aufs Neue die »Kraftquellen völkischer Verbundenheit« erschließen und die Volksgemeinschaft der Zukunft in der »Weihe gemeinsamen Erlebens« begründen.77 Die suggestive Wucht der Musik Wagners sollte das anwesende deutsche Publikum somit im Sinne der nationalen Idee affizieren. Demgemäß postulierte die Presse, dass die Lohengrin-Aufführung gleichgerichtete Emotionen performativ hervor-

72 Ebd. Siehe mit ganz anderem empirischen Material und unter Verwendung einer humangeographischen Methodologie (u.a auch Interviews) den Befund von Wood, Playing with ›Scottishness‹, S. 17: »>…@ part of the reason why ›Scottish‹ musical performances acquired such emotional power was that they were understood to be sources of familiarity, security and stability.« 73 Magdeburgische Zeitung, 20. Dezember 1923. 74 Rheinische Volkszeitung, 19. Dezember 1923. 75 Rheinische Volkszeitung, 21. Dezember 1923. 76 Hamburger Fremdenblatt, 27. Dezember 1923. 77 Rheinische Volkszeitung, 19. Dezember 1923.

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bringen und die erhoffte Wiedergeburt einer organisch verbundenen Nation vorbereiten konnte. Die Oper erhob sie damit zum operativ wirksamen Symbol einer »Zukunftshoffnung«, die die »Trostlosigkeit« der Gegenwart zu überwinden versprach.78 Im Grunde wurde damit aber bereits eine Situation der Post-Besatzung imaginiert; denn indem sich die hier vorgestellten Pressestimmen selbstbewusst an eine zu restituierende Nation wandten und gleichzeitig die Präsenz der Alliierten ostentativ ignorierten, verweigerten sie ihnen die Anerkennung als Besatzer, ja entzogen ihnen gleichsam das Terrain kultureller hegemonialer Artikulation. Die hier geschilderte Episode aus dem Jahr 1923 erinnert in ihren Grundzügen auffallend an die vorangehend erwähnte Rheingold-Galaaufführung aus dem Jahr 1921. Erneut hatte man auf ein Werk Richard Wagners zurückgegriffen, um das eigene hegemoniale Projekt plausibilisieren zu können. Indem man eine bestimmte Lesart der Oper Lohengrin privilegierte und zu tagespolitischen Ereignissen in Beziehung setzte, wurde die Opernaufführung sukzessive zum Bestandteil eines ›rheinischen Befreiungskampfes‹. 3. Das Ende der alliierten Rheinlandbesatzung 1930 Das Ende der alliierten Okkupation im Jahr 1930 wurde im ganzen Rheinland mit Konzerten, Flugschauen und Sportturnieren ausgelassen gefeiert. Reichspräsident Paul Hindenburg besuchte mehrere Städte, um den gerade errungenen »Sieg« des »Germanentums« über das »Romanentum« mitzufeiern.79 In einer in Wiesbaden vorgetragenen Grußadresse bestärkte er die nationalistische Haltung der regionalen Eliten, indem er zu parteiübergreifender »Einigkeit« aufrief, um das Vaterland »einem besseren, helleren Tag« entgegenführen zu können.80 Demgegenüber waren die Stimmen, die den Truppenabzug als einen politischen Sieg der Weimarer Demokratie und einer europäischen Verständigungspolitik interpretierten, deutlich in der Unterzahl. Je länger sich die Rheinlandokkupation hinzog, umso stärker wurde sie als doppelte Besatzungssituation wahrgenommen: Neben die unmittelbar realpolitisch-militärische Besatzung trat immer mehr die

78 Wiesbadener Tagblatt, 31. Dezember 1923. 79 Wiesbadener Tagblatt, Sonderausgabe, 30. Juni 1930. 80 Wiesbadener Städtische Nachrichten, 1. Juli 1930, 7. Jg., Nr. 28.

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Vorstellung einer mittelbar wirksamen symbolpolitischen Okkupation Deutschlands durch das System einer vermeintlichen Versailler Erfüllungspolitik, die sich in der Weimarer Republik zu manifestieren schien. Bereits zu Beginn der Besatzung hatte sich im Rheinland ein aggressiv-nationalistisches Gegennarrativ gegen die hegemoniale Politik der Alliierten zu formieren begonnen, das sich seit 1923 zusehends radikalisiert hatte. 1930 war das Motiv des ›rheinischen Befreiungskampfes‹ so wirkmächtig geworden, dass es eine immer größere Anzahl gesellschaftlicher Forderungen zusammenband und eine Vielzahl von Akteuren hinter sich vereinen konnte. Indem es die Enttäuschung über die Fortdauer der Okkupation mit der Ablehnung der Weimarer Demokratie sowie der Hoffnung auf ein nationales Wiedererstarken kurzschloss, artikulierte es nicht nur die spezifischen Interessen der rheinländischen Bevölkerung, sondern konnte auch über den regionalen Rahmen hinaus einen immer größeren Anspruch auf Akzeptanz erheben. Damit hatte es sich als hegemoniales Deutungsmuster etabliert, das in der Folgezeit einen enormen appellativen Sog entfalten sollte. Wie wirkmächtig sich im Motiv des ›rheinischen Schicksalskampfes‹ antidemokratische, völkisch-nationalistische und antialliierte Impulse zu einer hegemonialen Artikulation verknüpften, soll abschließend am Beispiel der rheinischen Befreiungsfeiern 1930 verdeutlicht werden, mit denen vielerorts das Ende der Besatzung gefeiert wurde. In Wiesbaden führte man auf einem eigens hergerichteten Festplatz in der »freien Natur«, im »Rahmen ragender Bäume«81 ein so genanntes Befreiungsfestspiel auf, das den Titel Deutschlands Strom trug:82 Rund 3.000 Schulkinder, Mitglieder der lokalen Sportvereine sowie Schauspieler und Musiker des Theaters wirkten an diesem von Reichskunstwart Edwin Redslob verfassten Festspiel mit, das den Rhein zum Sinnbild eines geknechteten und nun sich mächtig erhebenden Deutschland erhob.83 Chorischer Sprechgesang und rhythmische Bewegung charakterisierten das Festspiel, mit dem eine »Flamme von Begeisterung und Jubel« entzündet werden sollte, die Klassenunterschiede und parteipolitisch motivierte Konflikte beseitigen und ein neues Gemein-

81 Wiesbadener Tagblatt, 9. Juli 1930. 82 Ebd. 83 E. Redslob, Befreiungs-Festspiel ›Deutschlands Strom‹. Chorische Dichtung zur Feier der Rheinland-Befreiung, Wiesbaden 1930.

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schaftsgefühl wecken sollte.84 Nach einem feierlichen, von Fanfarenbläsern eingeleiteten Festzug begrüßte ein Herold den von Bewegungschören verkörperten »Chor der Flüsse«.85 Diese beklagten das Fehlen des Rheins, den der »welke Hass« fremder Truppen in die Fron gezwungen habe.86 Sodann betrat der gefesselte Rhein selbst die Szene und forderte die rheinische Bevölkerung auf, seiner »Ketten Bande« zu lösen.87 Daraufhin machten sich Bauern, Winzer, Schiffer und Fischer zur Befreiung auf, wobei die rheinische Bevölkerung explizit »alle Schichten unserer Nation« repräsentieren sollte.88 Das glücklich zu Ende geführte gemeinschaftliche Befreiungswerk gipfelte schließlich in der Errichtung eines weithin leuchtenden »Strahlendom>s@« der »Freiheit«, der aus »Nacht und Tiefen« unter freiem Himmel aufgestellt wurde.89 Mit der opferwillig und kampfentschlossen auftretenden Volksgemeinschaft, dem Niederringen des verhassten Feindes, dem martialischen ›Sprengen der Ketten‹ und der Errichtung eines sakral aufgeladenen Freiheitstempels formulierte das Festspiel eine Lesart des historischen Geschehens, die entlang der Kategorien von Sieg und Niederlage, Freund und Feind, Gut und Böse, Eigenem und Fremdem verlief und den Abzug der Alliierten als triumphalen Befreiungsschlag einer geeinten Volksnation interpretierte. Das Festspiel-Spektakel wollte eine neue symbolische Ordnung inaugurieren, innerhalb derer die rheinländische Bevölkerung nicht mehr in der Position des Unterworfenen und Besiegten verharrte, sondern in das Gewölbe eines ›freiheitlichen Strahlendoms‹ – denn als solcher wurde der restituierte Nationalstaat in emphatischer Überhöhung gedeutet – zurückkehren konnte. Indem es also die temporär wirksamen symbolischen Rahmungen der alliierten Besatzungseliten sprengte und zerschlug, kam ihm eine identifikatorische und machtstabilisierende Funktion zu. Zudem griff das Festspiel – das Bild der leuchtenden Flamme deutet es an – auf eine Metaphorik des Lichtes und des nahenden Heils zurück: Der Rhein wurde im abschließenden Hymnus zu einem bezugreich aufgeladenen Kollek-

84 Wiesbadener Tagblatt, 7. Juni 1930. 85 Redslob, Befreiungs-Festspiel ›Deutschlands Strom‹. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Wiesbadener Tagblatt, 9. Juli 1930. 89 Redslob, Befreiungs-Festspiel ›Deutschlands Strom‹.

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tivsymbol, mit dem der rheinische Befreiungskampf und das Einheitsbewusstsein der deutschen Nation beschworen und gleichsam eschatolgisch aufgeladen wurden. Die Presse erhob das Festspiel ausdrücklich in den Rang einer »symbolisch-kultische>n@ Handlung«, appellierte es doch an tiefliegende Gefühlsdispositionen des Publikums.90 Nation und Festspiel gingen hier eine ostentative Allianz ein: Mit Beschwörungsformeln der Einheit und Eigentlichkeit wurde die Nation als eine auf Ewigkeit hin entworfene Größe vorgestellt und zum Fluchtpunkt historisch-zeitlicher Abläufe erhoben.91 Die auf zeitlose Dauer hin angelegte Nation wurde der befristeten, stets im Vorläufigen verharrenden Besatzungskonstellation entgegengestellt, die damit zugleich überwunden wurde. In auffallender Weise erinnert die hier skizzierte Befreiungsfeier bereits an die Heilsideologie, die Aufmärsche und Massenansammlungen des Nationalsozialismus. Ihr Erfolg, so könnte man schlussfolgern, leitete sich aus der Tatsache ab, dass sie an bereits etablierte kollektive Deutungsmuster anknüpfte, zugleich aber situationsbedingte Gefühlslagen und Stimmungen berücksichtigte und medial eindrücklich aufbereitete. Im Grunde stellte man auf diesem Weg ein durch die Rheinlandbesatzung kurzfristig unterbrochenes, im Grund aber latent weiterhin wirksames, sich nun aber radikalisierendes Sinnkontinuum wieder her. Das Festspiel Deutschlands Strom markierte somit zugleich die symbolische Wiederaneignung des besetzten Gebietes, wobei ein enormer inszenatorischer Aufwand betrieben wurde, um die Macht des Rheinsymbols nun im Sinn der deutungskulturellen Eliten des Rheinlands zu arretieren und auf Dauer zu stellen. Im Sommer 1930 deutete sich allerdings schon an, dass die fortwährend sich wandelnden hegemonialen Artikulationen ein

90 Rheinische Volkszeitung, 8. Juli 1930. 91 Siehe zur symbolischen Selbstherstellung des Nationalstaates als einer auf Ewigkeit angelegten Formation: M. Herzfeld, Cultural intimacy. Social Poetics in the Nation-State, New York/London 20052, S. 21: »The nation-state is ideologically committed to ontological self-perpetuation for all eternity. While it may seek to embrace technological or even social change >...@, it perpetuates the semiotic illusion of cultural fixity and may well try to impose a static morality on others. The technology for the construction of this timelessness pragmatically connects a mythological notion of pure origins with respect for perfect social and cultural form >...@.«

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derart zerfurchtes Kampffeld aggressiver Selbst- und Fremdzuschreibung hervorgebracht hatten, das eine stabile, langfristig befriedete Konstellation internationaler Sicherheit und Kooperation in weite Ferne rücken ließ.

IV. S CHLUSSBEMERKUNGEN Die hier skizzierten Fallbeispiele haben drei Stationen der alliierten Rheinlandbesatzung zwischen 1918 und 1930 abgeschritten und dabei charakteristische hegemoniale Konstellationen vorgestellt. Ernst Fraenkels Analysen des Besatzungsprozesses aufgreifend, wurde die permanente Konflikthaftigkeit von Besatzungsherrschaft betont, mit Hilfe von Überlegungen Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes aber auch konzeptionell fortentwickelt: Anders als bei Fraenkel nahe gelegt, wurde für die hier entwickelte Argumentation der Kontext der Besatzung nicht vorausgesetzt, sondern es wurde ganz bewusst auf seine permanente Hervorbringung im Vollzug der Besatzung abgehoben. Die Besatzung selbst ist ein immer nur vorläufiges Produkt unabschließbarer und prekärer hegemonialer Artikulationen und Praktiken. Als genuin instabiles Gefüge bezeichnet sie einen symbolischen Kampfplatz, auf dem sich die beteiligten Akteure als Besatzer und Besetzte erst konstituieren und permanent um die asymmetrische Zuweisung von Macht und Ohnmacht ringen müssen. Aus diesem Grund erwies sich auch Gramscis Metapher des hegemonialen ›Stellungskrieges‹ als ergiebig, weil sie gesellschaftliche Vollzüge in »ein unübersichtliches Grabensystem« eingebettet sieht, das sich immer wieder verschiebt und wo sich auch auf dem Feld der Kultur allenfalls temporär »Schanzen« einnehmen lassen.92 Musikalisch-szenische Aufführungen versprachen hierbei Möglichkeiten, Sinn zu fixieren, indem sie – um mit Laclau und Mouffe zu sprechen – eine partielle Schließung gesellschaftlicher Vollzüge erreichen93 und das unruhige Feld hegemonialer Artikulationen stabilisieren, ja gleichsam anhalten sollten. Insofern können die vorgestellten Inszenierungen von Opern wie Richard Wagners Rheingold und Lohengrin sowie das von Edwin Redslob verfasste chorische Festspiel Deutschlands Strom in der Tat als

92 Marchardt, Hegemonie im Kunstfeld, S. 25. 93 Siehe hierzu: Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 150.

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Instrumente einer hegemonialen Okkupationspolitik gedeutet werden. Um sich innerhalb des Terrains antagonistischer Auseinandersetzungen behaupten und in ihrer Akteursmacht konstituieren zu können, versuchten die Akteure jene flottierenden Elemente zu besetzen, die wie der ›Rhein‹ oder das Opernschaffen Wagners wichtige ›Waffen‹ innerhalb der hegemonialen Deutungskämpfe darstellen konnten. Mitunter musste ein enormer inszenatorischer und performativer Aufwand betrieben werden – das Beispiel der ›rheinischen Befreiungsfeiern‹ im Sommer 1930 konnte dies veranschaulichen –, um eine dominante Position einnehmen zu können. Im Verlauf der Analysen trat allerdings auch zutage, wie vielen Störungen und Ungereimtheiten diese genuin prekären Stabilisierungen ausgesetzt waren. Dies hat insbesondere mit der zu Beginn des Aufsatzes eingeführten spezifischen Zeitlichkeit von Besatzungsherrschaft zu tun. Das im Grunde unabschließbare, gerade auch im Medium der Musik und ihrer Deutung ausgetragene Hervorbringen hegemonialer Positionen blieb immer auf eine von außen gesetzte, zeitliche Zäsur verwiesen: das formale, vertraglich fixierte Ende der Besatzung. Die ursprünglich auf insgesamt 15 Jahre hin entworfene, dann aber nach zwölf Jahre beendete Rheinlandbesatzung wurde durch die Besatzungsmacht Musik demnach zwar mit hervorgebracht, konnte durch sie aber zu keinem Zeitpunkt wirksam abgesichert werden. Da sich im Medium der Musik ausagierte Emotionen kaum terminieren lassen, sondern immer neue Zukunftshorizonte erzeugen94, und sich zugleich musikalische Inszenierungen stets in Traditionen einbetten ließen, die aufgrund einer lang zurückreichenden Kontinuität ihrerseits in eine

94 Es mag einer gewissen auch politischen Radikalität der Ansätze geschuldet sein, aber viele der in Fußnote 28 genannten Aufsätze argumentieren damit, dass die in der musikalischen Praxis erzeugte Emotionalität eine zukunftsweisende Öffnung mit sich bringt, die sich gegen eindeutige Festlegungen auf den (politischen) Status quo sträubt. Das Argument hier ist insofern vorsichtiger angelegt, es rekurriert nicht auf Widerstands- oder Emanzipationspotenziale, sondern begnügt sich mit einem Hinweis auf disparate zeitliche Logiken. Emotionale Praktiken der Musik und zeitlich fixierte Besatzungsregime lassen sich so lange nicht zur Deckung bringen, wie die Besatzung sich nicht mit einer legitimen historischen Tiefendimension und einer plausiblen Zukunftsvision, in dem hier diskutieren Fall etwa im Sinne einer Selbstransformation hin zu einer deutsch-französischen Überlappungszone, verbinden lässt.

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offene Zukunft hineinprojiziert werden konnten, wurde die äußere zeitliche Zäsur symbolisch bereits im Vollzug der Besatzung immerzu überschritten und damit – so ließe sich zuspitzen – dementiert. Und zwar von Seiten der Besatzer wie – besonders eindrücklich – der Besetzten. Auf dem Schauplatz von Musik und ihrer Deutung ließen sich hegemoniale Ansprüche abwehren, etwa wenn in Gestalt einer Oper wie Lohengrin ein gut ausgestattetes Archiv wirkmächtiger Symbolik nationaler Einheit und Größe zu Gebote stand. Zugleich aber gestattete es ein fast unmerklicher, in den Analysen aber offen gelegter Adressatenwechsel die Position der Besatzer beinahe gänzlich zu ignorieren: Bereits während der Besatzungszeit ließen sich auf dem Feld der Musik hegemoniale Ansprüche formulieren, die nicht mehr den alliierten Besatzern, sondern den um Deutungsmacht innerhalb von Deutschland kämpfenden – und sich hierüber formierenden – politischen Lagern galten. Durch einen historisch lang zurückreichenden Kanon klassischer Kunstmusik ab- und aufrufbare Emotionen zielten auf eine ebenso langfristige, im Kern nationale Bindung und Zusammengehörigkeit; sie hätten sich vermutlich allenfalls durch den – letztlich gescheiterten – Versuch einer ebenso zukunftsweisenden, transnationalen Musikpolitik umdirigieren lassen.

Musik und Nationalgefühl? Emotionaler Weltzugang in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts R EBECCA W OLF

Die Bedeutung von Musik, von Kunst im Allgemeinen, scheint sich zu verändern, wenn sie unter nationalen Vorzeichen eingesetzt wird. Die Beigabe des Nationalen ordnet der Kunst eine Funktion zu, die weit über ästhetische Anwendungsgebiete hinausreicht, die vielmehr Relevanz im Aktuellen, Alltäglichen, Gesellschaftlichen und Politischen erhält.1 Hierbei, so die Vermutung, spielt die Emotion der Musizierenden selbst sowie die der Zuhörenden eine entscheidende Rolle. Im Folgenden soll die Frage danach, ob und wie Musik mit Nationalgefühl in Verbindung gesetzt werden kann, die Gedanken leiten. Lässt sich dieses Gefühl überhaupt fassen und wie kann man ihm nachspüren? Dabei ist eine genaue Definition von Nationalgefühl wahrscheinlich kaum möglich, es verweist auf das individuelle Gefühl eines einzelnen Subjekts, das sich zugehörig fühlt zu einer Gruppe, sich in ihr geradezu wiedererkennt und dies unter politischen Vorzeichen. Hinzukommen sollte aber noch eine gewisse Anziehungskraft, eine innere Bewegung, die die Gemeinschaft bezeugt. Die Momente der inneren Bewegtheit, der Rührung, erfuhren bereits in der Romantik sinnesphysiologische Erklärungsversuche. Der Vorgang der Rührung durch Musik wurde vielfach vor dem Hintergrund einer mechani1

Vgl. weiter P. Ihring, Art. »Nationale/Nation«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. v. K. Barck et al. Bd. 4, Stuttgart 2010, S. 377–404.

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schen Vorstellung des Körpers erklärt, wobei das Hören von Musik innere Regung auslöst und sodann Gefühle erzeugt.2 Diese Vorstellung spricht eine Passivität der Hörenden und Fühlenden an, die zugleich die Bereiche der Manipulation, zumindest der Erziehung und Prägung miteinbezieht. Momente der Rührung entstehen bei Naturerlebnissen, bei allgemein sinnlicher Anregung oder geistlich-kontemplativer Konzentration; zu fragen ist für diesen Kontext aber, wie dies mit einer politisch konstruierten Nation und deren mehr oder weniger ausgebildetem Weltbild in Verbindung steht. Die Untersuchung des Verhältnisses von Musik und Nationalgefühl soll auf zwei Wegen erprobt werden: einmal als Darstellung der Thematik um Nation und Partizipation durch Musik, ein andermal als Auslöser eines bestimmten Gefühls; während des Zuhörens und beim Musizieren oder Singen selbst. Mit Kriegsende 1871 und der Errichtung einer Staatsnation suchte sich Deutschland nochmals verstärkt als Kulturnation. Noch 1895 wird in einem Versuch der Geschichtsschreibung eines deutschen Nationalgefühls die fehlende Würdigung der eigenen Kunst bemängelt. Georg Liebe, Assistent am königlichen Staatsarchiv, benennt hier zunächst in einer Rede zur Bismarckfeier in Magdeburg als Tradition des deutschen das preußische Nationalgefühl und spricht gleichzeitig von »Selbstgefühl«.3 Gleich darauf beschreibt er die Trennung zwischen Vaterlandsgefühl auf politischer Seite und der Hinwendung zur Prosa des Nachbarn Frankreich und verurteilt letztere als »weltbürgerliche Schwärmerei«.4 Seinen Aufruf, sich vielmehr der eigenen Kultur zu widmen, bekräftigt er gleich zu Beginn mit der Nennung des Ziels, nämlich eine »Abneigung gegen fremde Art« zu erzeugen und zu bekräftigen.5

2

Vgl. weiter C. Welsh, Hirnhöhlenpoetik. Anthropologische Theorien zur Wahrnehmung in Literatur und Ästhetik um 1800, Freiburg/Br. 2003. Dies.: »Töne sind Tasten höherer Sayten in uns«. Denkfiguren des Übergangs zwischen Körper und Seele. In: G. Brandstetter/G. Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 73–89.

3

G. Liebe, Das deutsche Nationalgefühl in seiner geschichtlichen Entwicklung. Vortrag, gehalten zur ›Bismarck-Feier‹ in der Deutschbund-Gemeinde zu Magdeburg am 27. März 1895, Magdeburg 1895, S. 12.

4

Ebd., S. 13.

5

Ebd., S. 3.

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Die territoriale Zusammenführung schien auch eine gefühlte Einheit über die Musik mit sich zu bringen, so dass Selbstvergewisserung und Identitätsbildung hierüber erfolgen konnten. Lieder vermochten dabei die Vorstellungen von deutscher Männlichkeit und Weiblichkeit, von der Bedeutung der Naturdenkmäler, wie beispielsweise dem Rhein, besonders nachhaltig zu manifestieren. Zwar waren diese Topoi bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt, doch brachte die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs eine extremere, gar militante Form des Nationalismus, also des ausformulierten Bezugs auf die Nation, mit sich. Eine emotionale Verankerung erfolgte durch Gesang, durch gehörtes wie selbst praktiziertes Singen, und durch die prägende Wirkung der Wiederholung. Bereits Goethe beschreibt das Involviertsein des gesamten Körpers und Geists in actio und passio des Musikhörens und Musizierens in seiner Fragment gebliebenen Tonlehre; er nennt eine geradezu physiologische Anregung zum Musizieren durch das Hören und die Affekte, wodurch sich die Klänge einzuschreiben scheinen. Dass die genannte Verankerung durch Wiederholung im noch jungen Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts besonders eindringlich, ja geradezu eine Übertreibung der Beteuerung von Vaterlandsliebe stattfand, zeigt schon auf verbal-sprachlicher Ebene die inflationäre Kopplung des Adjektivs »deutsch« mit allen erdenklichen Tugenden.6 Die stetige Verinnerlichung und Berufung auf literarisch-musikalische Ahnen bringe, so Richard Wagner, eine unerwünschte Politikferne mit sich und berge die Gefahr des Phlegmas: »Nichts schmeichelt dem Hange zur Bequemlichkeit und Trägheit mehr, als sich eine hohe Meinung von sich beigebracht zu wissen.«7 Ein Verharren in der Beteuerung nationaler Identität also behindert die Entwicklung neuer Ideen, zum einen vermutlich im Bereich der künstlerischen Produktion ebenso wie andererseits auf dem Gebiet politischen Handelns und Denkens. Wie aber sind nun Vaterlandsliebe, also innerlicher Bezug zur Nation und musikalischer Affekt zusammenzuführen? In zwei Abteilungen sollen im Folgenden Beispiele untersucht werden.

6

Siehe weiterführend R. Grotjahn (Hg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation, München 2009.

7

R. Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. X, Leipzig 18983S, S. 49.

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I. I NNERLICHKEIT

UND

G EISTLICHKEIT

René Descartes nennt in seinen passions de l’âme von 1649 sechs ursprüngliche Affekte (les passions primitives). Neben Hass, Begehren, Freude und Traurigkeit sind die für die hier gestellte Frage relevanten Affekte auf den ersten Blick das Staunen (l‫ތ‬admiration) und die Liebe (l‫ތ‬amour). Unter dem Staunen ist mehr eine Erregung der Seele durch das Herbeiführen einer Überraschung statt einer anhaltenden Leidenschaft zu verstehen und so scheint die Liebe verheißungsvoller, genauer gesagt einer ihrer Unteraspekte: die Ergebenheit (la dévotion). Die Liebe als durch Körperlichkeit hervorgerufene Emotion, die die Verbindung mit einem Gegenüber sucht, wird in der Ergebenheit bezogen auf Gott und wirkt sich in andächtiger Haltung ihm gegenüber aus. Doch die weltlich-staatliche Seite wird nicht außer Acht gelassen, denn: »Man kann aber auch Ergebenheit gegenüber seinen Fürsten haben. Für sein Vaterland, für seine Stadt, ja selbst für einen bestimmten Menschen, den man mehr als sich selbst schätzt.«8 Auswirkung dieser Ergebenheit ist, dass man die Bewahrung des geliebten Objekts oder Wesens höher als die eigene setzt, im Extremfall gar dafür sterben würde. Hier scheint sich auch das Nationalgefühl einzufügen, wenn die Vaterlandsliebe höher als das eigene Individuum gesetzt wird. Die Liebe zu Gott wird beeindruckender Weise, oder vielleicht aus diplomatischen Gründen, von Descartes mit der Ergebenheit unter einen weltlichen Herrscher und damit auch unter dessen Regierungssystem gleichgesetzt. Für die Emotionen würde dies eine Ähnlichkeit von Ergebenheit der Nation ebenso wie der Religion gegenüber bedeuten. Die Diskrepanz, die die Untersuchung von Emotionen im Verhältnis zur Nation erschwert, liegt darin, dass Affekte mit dem einzelnen Subjekt in enger Verknüpfung stehen. Da aber das Nationalgefühl eng mit der Gemeinschaft und der Masse verknüpft ist, muss nach der Beziehung von »emotionalem und kognitivem Weltzugang«9 einer Nation gefragt werden.

8

R. Descartes, Die Leidenschaften der Seele. Übers. von K. Hammacher, Hamburg 1996², II. Teil, Art. 83, S. 129, siehe auch Art. 69–72, S. 109–113. [Les passions de l’âme, Paris 1649].

9

J. Tanner, Unfassbare Gefühle. Emotionen in der Geschichtswissenschaft vom Fin de siècle bis in die Zwischenkriegszeit, in: U. Jensen/D. Morat (Hg.), Ratio-

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Und weiterführend: Ist Nationalgefühl die Ergebenheit eines einzelnen zur Nation oder die Liebe einer ganzen Nation? Der Vorgang selbst ist demnach freilich ebenso von Interesse wie das Subjekt selbst. Ein möglicher Weg öffnet sich über die Mythifizierung von Symbolen und deren Verwendung in der Inszenierungsweise eines Staates. An einem Beispiel verfolgt Bernhard Kroener die Entwicklung eines solchen Mythos, seine Instrumentalisierung und damit seine Bedeutungsebenen: Anhand des als Choral von Leuthen bekannt gewordenen »Nun danket alle Gott« stellt er die Entwicklung der Indienstnahme des Chorals als preußisch-sakrales Symbol dar, die eng verwoben ist mit dem jeweiligen gesellschaftspolitischen Umfeld.10 Der Choral erhielt, so Kroener, »vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik im Lichte des Nationalsozialismus eine dezidiert pseudosakrale Funktion. In enger Verbindung mit dem Friedrichmythos sollte innerhalb der Bevölkerung das Bewußtsein, eine politische Schicksalsgemeinschaft zu bilden, historisch legitimiert vorgeführt werden.«

Auch in der Schule kommt der Choral zum Einsatz, als »Bestandteil des Erziehungsprogramms«11. Besungen wird das Überflügeln des Gegners als preußische Waffe, die Zutaten hierzu sind der Held, also Friedrich der Große, seine todesmutigen Soldaten sowie die göttliche Hilfe. Mit Hitlers Machtübernahme wird die Heilsbotschaft ganz auf die Diesseitigkeit bezogen. Der Mythos wird zu einer Chiffre und symbolisiert die Verknüpfung von Preußentum und Nationalsozialismus und das als zukunftsweisende Verbindung. Im Krieg dient der Choral zur Beschwörung

nalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen, München 2008, S. 35–59, 37. 10 B.R. Kroener: »Nun danket alle Gott«. Der Choral von Leuthen und Friedrich der Große als protestantischer Held. Die Produktion politischer Mythen im 19. und 20. Jahrhundert. In: G. Krumeich/H. Lehmann (Hg.): ›Gott mit uns‹. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 105–134. 11 Ebd., S. 109, 119.

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des Durchhaltewillens. Christliche Demut und Dank für Gottes Beistand wurden dann längst nicht mehr angesprochen.12 Doch ließ sich die religiös-geistliche Komponente tatsächlich so einfach ausschalten, indem sie öffentlich nicht mehr angesprochen wurde? Zwei Quellenkörper aus dem Zweiten Weltkrieg sollen hierfür exemplarisch herangezogen werden: Feldpostbriefe deutscher Soldaten und das Liederbuch der Wehrmacht Morgen marschieren wir. Liederbuch der deutschen Soldaten. Im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht, herausgegeben von Leutnant Hans Baumann, Klavierausgabe, Potsdam 1939. Letzteres versammelt Lieder zum Soldatenleben, viele Volkslieder verschiedener deutscher Regionen, alte Lieder sowie Loblieder auf den Preußenkönig. Vielfach thematisiert ist erstaunlicherweise auch der Tod, der ehrenvolle Tod fürs Vaterland, aber auch der individuelle, der das alltägliche Leben der Soldaten wie selbstverständlich begleitet. Viele Lieder zu Wein, Weib und Gesang sind zu finden und zur Liebe, einmal zur einzigen, treuen, daheimgebliebenen Frau, zum anderen zu der Geliebten, die in der langen Zeit der Abwesenheit des Soldaten einen anderen gefunden hat. Die Angst vorm Verlassenwerden wird deutlich angesprochen. Zentral sind zudem die Topoi Natur und Farben, wehende Fahnen, das Marschieren und die Marine. Es überrascht die Aufnahme des Volksliedes »Die Gedanken sind frei«, dessen vielfältige Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht. Vielleicht sollte die Aufnahme ins Wehrmachtsliederbuch an die Verwendung des Liedes im Zuge der Studentenverbindungen des 19. Jahrhunderts anschließen und eine Traditionslinie begründen. Zum Einsatz kommen sollten die Lieder dem Vorwort zufolge »für Singstunden, Feiern und Kameradschaftsabende«. Eine christlich-religiöse Komponente lässt sich in diesem Buch tatsächlich nicht finden. Wie aber ist das Verhältnis der Soldaten des Zweiten Weltkriegs zur Musik, spielen Gefühle und das Religiöse nicht doch eine besondere Rolle, welche Informationen dazu liefern die erhaltenen Briefe? In einzelnen

12 Siehe auch das sogenannte Plöner Liederbuch: Marschierende Jugend. Plöner Liederbuch. Im Auftrage der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Schloß Plön von deutschen Jungen gesammelt und zusammengestellt von Otto Spreckelsen. Neufassung 1938, Itzehoe in Holstein, S. 41: »Vivat! Jetzt geht’s ins Feld!« ist ein Lied auf Friedrich den Großen und das Wunder, das geschieht, wenn wenige Soldaten gegen einen übermächtigen Gegner den unerwarteten Sieg erreichen.

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Zeugnissen der Sammlung von Feldpostbriefen des Museums für Kommunikation in Berlin13 ist die Rede von Unterhaltungsmusik im Radio und im Varieté, von Konzerten in den besetzten Gebieten, vom Musizieren am Abend mit Akkordeon und Gitarre auf der Stube und an Feiertagen. Einzelne Soldaten berichten zudem von besonderen Erfahrungen durch das Klavierspiel. Letzteres schienen sie regelrecht herbeizusehnen und vermerken die lange Entbehrung. Tatsächliche Gefühlsäußerungen erlauben sich die Soldaten im Einsatz nicht. Bemängelt wird die Unmöglichkeit des wirklichen Kennenlernens untereinander etwa in einem Brief von 1943: »Dazu fehlt aber die Gelegenheit, da keiner mit seinen innersten Gedanken und Gefühlen herauskommt. [...] Zu einem engeren Bund kann es aber erst kommen, wenn man sein Herz aufschließt.«14 Gefühle werden nun eher in den Briefen nach Hause

13 Feldpostsammlung des Museums für Kommunikation Berlin: http://www. museumsstiftung.de/feldpost.

Siehe

zu

den

Feldpostbriefen

des

Ers-

ten Weltkriegs B. Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegsund Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997. 14 Feldpostsammlung des Museums für Kommunikation: Brief: Ludwig Kerstiens an seine Tante am 14.3.1943. Über seine weniger gebildeten Mitsoldaten schreibt er: »Ihr Denken und Leben kreist um die Pole der (schweren) Arbeit und der Entspannung. Diese aber finden sie in der leichten d.h. meistens leichten Unterhaltung (Variete, Spielfilm) und Alkohol. Besonders das letztere wird hier doppelt groß geschrieben. Ihr Schönheitsempfinden erstreckt sich fast ausschließlich auf Filmschauspielerinnen und ›schöne‹ Mädchen. Du brauchtest nur einmal den Kitsch anzusehen, der hier die Stube schmückt, und die ›Musik‹ anzuhören, die hier angestellt wird. Mit diesen hat man nun so gut wie gar keine gleichlaufende Gefühle oder dieselben Interessen. Wenn man ihnen aber seine Ansichten, nur die Freude an der Schönheit der Natur, nahebringen wollte, würde man entweder verlacht oder als Großsprecher und Eingebildeter verhöhnt und ausgeschlossen. Das wäre ja vollkommen falsch. Das könnte man höchstens bei einem, dem man schon näher gekommen ist. Aber der Ansatzpunkt, wo man anfangen kann, der fehlt eben. Die Kameradschaft, alles Schöne und weniger Angenehme miteinander zu teilen, jeden überall behilflich zu sein usw., hat damit nichts zu tun. Sie ist eine Selbstverständlichkeit. Aber zu einem engeren Bund kann es erst über den Weg des Kennenlernens und Verstehenlernens, das ist das Wichtigste, kommen. Dazu fehlt aber die Gelegenheit, da keiner mit sei-

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formuliert und haben in vielen Fällen ihren Auslöser im Musikhören und Musizieren. »[...] Gestern habe ich mir ein erstklassiges Vergnügen geleistet abends. Ich ging in eines der berühmtesten und schönsten Kabrettlokale von Paris, welches ich schon voriges Jahr besuchen wollte, ins ›Casino de Paris‹. [...] 1 Bild war auch (gewiss aus Sympathie) ›Walzer aus Wien‹, und dazu spielte die übrigens sehr gute Musik, ,An der schönen blauen Donau‹. Du kannst Dir denken dass mir bei diesen Tönen, trotz der Begeisterung für die Revue, ein bisschen das Herz weh tat.«15

Unterhaltungsmusik und Erinnerung werden hier also beschrieben und der Versuch gemacht, durch die Beschreibung der Pracht einer Revue dem Kriegsalltag etwas entgegen zu setzen. Ablenkung und das Gefühl der Sehnsucht sind hier ausformuliert. Allzu viel Rührung sollte ein Soldat freilich nicht zeigen und so leuchtet ein, dass auch folgende Aussage ihren Weg nur in einem Brief nach Hause finden konnte: »Zum Glück bewohnt noch ein Funktrupp das Haus, der einen Apparat immer auf Musikempfang eingestellt hat. Man wird ja manchmal, beim Hören schöner Melodien, ganz weich, aber es ist doch etwas Abwechslung. Gestern Abend war wundervolle ital. Opernmusik. Meine Kerze war abgebrannt und ich lauschte im Dunkeln der schönen Klänge.«16

Besonderen Eindruck machte der Schlager, der uns heute als Lili Marleen bekannt ist: »Als ich am 9. November mein Nachtlager bezog und mich schlafen legen wollte, war im Radio ein Wunschkonzert [...], da fühlte ich mich wie zu Hause [...]. Zuletzt spielten sie ein Lied, das wir hier schon sangen, als wir mal die 14 Tage in Ruhe

nen innersten Gedanken und Gefühlen herauskommt. ›In Gesellschaft muß man den Schlüssel vom Herzen ziehen‹, sagte Goethe einmal unter Kameraden auch, wenn man nicht der Masse beistimmt. Zu einem engeren Bund kann es aber erst kommen, wenn man sein Herz aufschließt.« 15 Brief: Lenz an Mizzi am 26.8.1943. 16 Brief: Hans-Joachim S. an seine Frau am 24.10.1944.

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lagen, es hieß ›unter der Laterne…‹ ich wußte nie wo dieses Lied herkam, ich dachte das hätten sich unsere Landser selbst gedichtet, und da hörte ich es auf einmal im Radio. Wir nennen das Lied ›Der Marsch der besoffenen Offiziere.‹ […] Dieses Leben hier grenzt an eine vollkommene Verblödung, wenn wir hier ein paar Jahre wären, dann würden wir stumpfsinnig wie eine Kuh.«17

Auch hier erzeugt das Hören von Musik eine Rückbesinnung auf frühere, bessere Zeiten und ermöglicht eine innere Flucht aus dem Kriegsalltag, der sonst keine geistige Herausforderung stellte. Lili Marleen schien es diesem Soldaten angetan zu haben, er schreibt auch in folgenden Briefen darüber. Seine Suche nach einem Klavier in der ukrainischen Umgebung ist erfolgreich und so berichtet er seinen Eltern vom Musizieren. Neben dem bekannten Schlager gibt er hier auch das Horst Wessel Lied zum Besten.18 Kurze Zeit darauf wird Lili Marleen auch in einem Konzert vorgetragen, sogar in deutscher Sprache, was als sehr gelungenen Schluss eines ukrainischen Konzerts und als besonders schönes Erlebnis beschrieben wird.19 Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Soldaten hätten ihren

17 Brief: Karl Nünnighoff an seine Eltern am 11.11.1941. Vgl. zu Lili Marleen z. B.H. Frey, Und jeden Abend Lili Marleen. Zur Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg, in: P. Moormann/A. Riethmüller/R. Wolf (Hg.), Paradestück Militärmusik. Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik, Bielefeld 2012, S. 125–150. 18 Brief: Karl Nünnighoff an seine Eltern am 2.2.1942. 19 Brief: Karl Nünnighoff an seine Eltern am 26.3.1942: »Ich habe ja auch schon mal etwas schönes erlebt in diesem verkommenen Land und zwar vor einigen Tagen, da war ich wieder mal im Varietee, dort war ein ukrainisches Konzert. Mitwirkende waren, eine Kapelle und ein gemischter Chor von wirklich reizenden Mädels und ein paar Männer. Sie sangen Volkslieder, deren Text wir allerdings nicht verstanden, aber vor jedem Lied wurde uns von einem Mädel, die sehr schön deutsch sprach, der man aber trotzdem ansah, daß sie sich sehr anstrengen mußte und richtig zu sprechen, erklärt, um was es sich bei dem Lied handelte. Dann waren u.a. auch Mädels unter ihnen, die dann mit Klavierbegleitung Stücke aus deutschen Operetten in deutscher Sprache, Solo sangen. So z.B. ›Die Fledermaus‹, ein Stück aus der Oper oder Operette ›Faust‹, das ›Glühwürmchen‹ und andere Stücke aus Paul Lingkes Operetten. Zum Schluß

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Alltag mit Musik bestritten, doch es sei hier nochmals angemerkt, dass nur ein Bruchteil der Briefe der Feldpostsammlung überhaupt auf Musik eingeht. Und es finden sich auch ganz andere Beschreibungen von Ablenkung durch Musik, die im aktuellen Kampfgeschehen eingesetzt wurde. 1941 erreichte ein Brief mit folgender Nachricht die Verwandtschaft zu Hause: »Ich habe eine tadellose Besatzung. Wir verstehen uns. Wenn wir unsere Bomben geworfen haben, wird auf dem Heimflug die erste Zigarette geraucht u. mittels des Peilgerätes Nachrichten u. Tanzmusik gehört. Das ist eine Erholung. Zu Hause angekommen gibt’s heiße Suppe, Bohnenkaffee, Eier usw. Uns fehlt es an nichts.«20

Hier also lesen wir von einer Art Vorläufer für die bekannt gewordene Methode der US-Soldaten, während der Angriffe im Zweiten Irakkrieg per mp3 Heavy Metal zu hören als Aufputsch- oder Ablenkungsmittel. Zwar ist im Beispiel von 1941 nicht die Rede davon, während des Angriffs selbst Musik zu hören, doch die Funktion der Ablenkung und der Erzeugung des Abstands zum eigentlichen Töten wird hier deutlich. Einen gänzlich anderen Kontext stellt dagegen Musik im religiösen Umfeld dar. Vergleicht man die erhaltenen Briefe, so handelte es sich hierbei um eine Ausnahmesituation im Kriegsalltag. Nicht zuletzt war schließlich christlich-religiöse Kontemplation kein Ziel der NS-Politik, und trotzdem ergab sich diese Nische. Berichtet wird 1939 von einem Gottesdienst: »Anschließend sollte Heiliges Abendmahl stattfinden. Ich hatte wohl Lust, daran teilzunehmen, aber als während des Gebetes gedankt wurde, daß unsere Waffen gesegnet wurden und ähnliches, da konnte ich nicht mehr recht mitbeten und so unterließ ich es dann und ging nach dem Segen mit aus der Kirche. Es ist ein Segen, daß es liturgische Ordnung und Lieder gibt, sodaß man daran Erbauung finden kann.«21

sang dann der Chor das Lied von der Laterne vor dem großen Tor auch in deutscher Sprache.« 20 Brief: Georg Fulde an seine Schwester am 29.9.1941. 21 Brief: Heinz Rahe an seine Ehefrau am 1.10.1939.

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Auch wenn es der Schreiber herbeisehnt, der Gottesdienst bietet ihm keine Rückzugsmöglichkeit, der Kriegsalltag nimmt auch hier Einzug beziehungsweise wird der religiöse Kontext geradezu dafür verwendet, den Krieg weiterzutreiben. Und auch ein anderer Brief desselben Soldaten zwei Jahre später bezeugt diese Ausnahmesituation und -stellung derer, die sich im Krieg dem Religiösen hinwenden wollen: »Vielleicht erkennst Du, mein Lieb, daß wir Soldaten doch auch in dieser Hinsicht in einer Not uns befinden, so daß manches in einem etwas anderen Licht erscheint. Diese Verflachung ist ganz gewiß auf geistlichem Gebiete festzustellen. Wenn Du die Berichte von dieser Woche gelesen hast und weißt, daß ich weder Karfreitag noch am 1 Ostertage zur Kirche gehen konnte, dann kannst Du Dir unschwer ausmalen, welche Wirkungen das ausüben muß. Sehr froh war ich, daß ich am Karfreitag wenigstens abends zur Kirche gehen und wenigstens am Abendmahl teilnehmen konnte. Aber man fühlt sich doch ein wenig als outsider, es ist doch im Soldatenleben so ganz anders, als wenn man Pastor ist. Augenblicklich lese ich die Psalmen.«22

Die beschriebenen, durch Musik ausgelösten Gefühle decken eine ganze Bandbreite ab, von Heimaterinnerung, Sehnsucht, sensibler Innerlichkeit, geistlicher Erbauung, intellektueller Erhebung ebenso wie von direkter Zerstreuung nach dem Angriff und einfacher Freude; Musik dient hierbei der Unterhaltung und Ablenkung vom Kriegsalltag ebenso wie der Besinnung, oftmals wird sie einer geistigen Verarmung entgegen gesetzt. Der christliche Ritus, das Singen und Hören von Chorälen scheint ein nicht unwesentlicher Bestandteil zu sein, war aber selten möglich, da der Krieg vor dem Gebet nicht Halt macht.

II. E RZIEHUNG

DURCH GEMEINSAMES

S INGEN

Eine besondere Gelegenheit, Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen und zugleich pädagogisch zu agieren, und dies vor dem Hintergrund oder der Vorgabe, Freizeit zu gestalten ergab sich in besonderem Maße durch das Singen. Die Verbindung von Musik mit Text ist hier freilich naheliegend und lässt auf eingängige Art und Weise sprachliche Ausformulierungen zu.

22 Brief: Heinz Rahe an seine Ehefrau am Ostersonntag 1941.

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Hilfreich für die Untersuchung dieses Themenkomplexes ist eine umfassende Studie von Matthias Kruse zum Schulmusikbuch für die höheren Schulen Frisch gesungen! und zu seinen Auflagen von 1909 bis 1941. Eine deutliche Umarbeitung erfuhr das Lehrwerk nach 1933. Die ideologische Ausrichtung des Schulwesens ab 1933 fand auch mithilfe der Lieder der »Bewegung« statt, durch die die entsprechenden Schlagworte weitergegeben wurden. Außerdem wurden im Musikunterricht Lieder für öffentliche Feiern nationalsozialistischer Prägung einstudiert. Der Schwerpunkt auf Musiktheorie, der bis dahin für dieses Musikbuch maßgeblich war, wurde zurückgedrängt zugunsten der »Ideologievermittlung«. Ergänzungshefte wie Frisch gesungen im neuen Deutschland. Vaterlands- und Marschlieder für die deutsche Schuljugend waren als Begleiter auf Wanderungen und Ausflügen gedacht. »Ziel der Nationalsozialisten war es, das Lied der ›Bewegung‹ als neues ›Volkslied‹ in der Bevölkerung zu verbreiten. Es sollte vom deutschen Volk als gemeinsames Bekenntnis zu Führer und Vaterland gesungen werden.«23 Ein anderes Liederbuch für die Schule war Der Musikant, erstmalig erschienen 1923, hier in einer Neuauflage von 1936 vorliegend.24 Zuerst ist die Widmung auffällig, sie lautet: »Dem deutschen Volke durch seine Jugend«; wie das Vorwort betont, soll sich der Stil der Jugend auf alle auswirken und verbreiten. Dieser Vorgabe zufolge geht es hier also nicht um eine Erziehung der Schüler zu etwas, sondern um die Präsentation ihres eigenen und neuen Lied- und Gedankenguts. Ähnliche Formulierungen trifft man auch in anderen Sammlungen an. Das Buch soll die Teilnahme an einem »innerlich verbundenen Menschenkreise«, die Gemeinschaft des Volkes und eine neue Verinnerlichung befördern. Die breit angelegte Sammlung beinhaltet Volkslieder, sogenannte Kunstlieder teils mit Märchenthematik, Opernausschnitte, Lieder zum Tanz und aus verschiedenen Regionen des Landes und ist durchzogen von Chorälen. Es gibt auch eine eigene Abteilung zur Weihnachtszeit. Unter der Abteilung »Ein- und mehrstimmige Gesänge mit und ohne Instrumentalbegleitung«, die mit einem großen Porträt Johann Sebastian

23 M. Kruse, »Frisch gesungen!« Studien zur Geschichte des Schulmusikbuches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Hamburg 1992, vor allem S. 223–226. 24 Der Musikant. Lieder für die Schule [1923], hg. v. Fritz Jöde, Wolfenbüttel, Berlin Neue Ausgabe 1936.

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Bachs gekennzeichnet ist, finden sich »Deutsche Choräle«, »Alte geistliche Lieder« und »Aus geistlichen und weltlichen Kantaten«. Dieses Kapitel nimmt immerhin über 60 Seiten ein. Von besonderem Interesse ist die daran anschließende letzte Abteilung: »Deutschland im Lied«, die mit einem großes Hakenkreuz eingeleitet wird. Auch der Choral von Leuthen ist abgedruckt unter dieser letzten Abteilung. Dieses Kapitel endet mit dem Bibelvers »Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen«. Die genaue Angabe der Bibelstelle, 1. Korinther 13,13, wird hier nicht angeführt, lediglich »Die Bibel« gilt als Verweis. Ist eine genaue Kenntnis nicht nötig, nicht erwünscht? Ist dieser Vers nur einer von vielen, neben Zitaten anderer Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts? Oder soll der Bibelvers die deutlich der NS-Ideologie angehörenden Texte abschwächen? Dieser Verdacht liegt nahe, und zudem konnte so auch die gläubige Bevölkerung einen Weg finden, sich mit den Liedern zu identifizieren. Eingeordnet ist die NS-Ideologie in eine Liedersammlung, die als neu und zukunftsweisend bezeichnet wird, aber zu einem großen Teil traditionell angebundene Orientierung an die Musikgeschichte, genauer an die Wiederentdeckung der Polyphonie bewirbt. Der Versuch, die Musikgeschichte unter nationalen Vorzeichen anzupassen, zeigt sich hier. Die Jugend, so wird zudem suggeriert, stößt diese Renaissance selbst an, neues auf der Basis und Begründung einer alten Tradition zu schaffen. Während dieses Buch wohl für den üblichen Schulgebrauch konzipiert war, ist die ideologische Ausrichtung bei Liederbüchern für Eliteschulen um einiges deutlicher. Als Beispiel konnte das als Plöner Liederbuch bekannte Marschierende Jugend aus dem Jahr 193825 eingesehen werden. Hier ist kein Anknüpfen an eine als deutsch definierte musikalische Tradition zu finden, vielmehr stehen die neuen Lieder der Bewegung im Vordergrund. Von einfacher Struktur und Eingängigkeit sind zwar oftmals auch Volkslieder und Choräle, doch bieten diese eine Bandbreite an thematischen Assoziationen. Der Großteil der Lieder der Plöner Sammlung dagegen ist Aufruf zum Krieg, musikalisch besonders eingängig durch gefällige

25 Marschierende Jugend. Plöner Liederbuch. Im Auftrage der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Schloß Plön von deutschen Jungen gesammelt und zusammengestellt von Otto Spreckelsen, Neufassung 1938, Itzehoe in Holstein.

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Intervallstruktur, Fanfarenmotivik und häufige Punktierungen, die wohl marschartige Beschwingtheit und Kraft ausdrücken wie wecken sollen. In beiden Liederbüchern finden sich Lieder wie »Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren...« (Baldur von Schirach/Hans-Otto Borgmann) aus dem Film Hitlerjunge Quex, das Horst Wessel Lied und Lieder des HJ-Komponisten Heinrich Spitta, doch sind diese Lieder im Musikant für alle Schulen am Ende versammelt und dort auch noch von Volksliedern und Chorälen unterbrochen, sogar mit einem Bibelvers versehen, in der Liedersammlung für die Eliteschüler bilden sie dagegen den Hauptbestandteil und stehen zu Anfang. Als Absicht der Herausgeber allgemein verbreiteter Schulmusikliederbücher könnte vermutet werden, dass sie durch das Einstreuen der »neuen« Lieder einen Übergang schaffen wollten. Diese sollten neben Volksliedern und Chorälen gesungen werden, und somit Eingang in den Alltag finden. Bei den Schülern der NS-Elite wurde dieses langsame Heranführen wohl nicht für nötig befunden, hier ist eine klare und deutliche Richtung vorgegeben und vermittelt. Es kann hier sicher von Eindimensionalität gesprochen werden. Und stetige Wiederholung sowie schnelle Erlernbarkeit dieser Lieder taten wohl ihr Übriges zur nachdrücklichen Vermittlung des verbalen Inhalts.

III. A USKLANG Die angesprochenen Beispiele sind nun unterschiedlicher Art und können auch nur einen Ausschnitt des Komplexes von Musik und Nation vor der Folie von Gefühlsäußerungen und -erzeugung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bieten. Es fällt aber doch auf, wie häufig Musik als Rückzugsort und zur Ablenkung dient. Sie scheint außen vor, wenn es um die Ausübung direkter Gewalt geht, sie scheint in vielen Fällen unschuldige Unterhaltung, Gelegenheit des Erinnerns und Wünschens zu sein und doch ist sie aufgeladen mit Bedeutung und Funktionalität. Wenn es nicht der Text von Liedern direkt ist, der klare Aussagen trifft, so vermitteln doch die Kombinationen der Liedersammlungen Traditionen und Richtwerte. Ob hier historische Entwicklungslinien wie die Deutschlands zu Preußen verstärkt oder musikhistorische Mythen zur Ermutigung des »Selbstgefühls« konstruiert

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werden, Musik dient als starkes Instrument zur Abgrenzung nach außen und wiederholten Bestärkung nach innen. Um auf Descartes zurück zu kommen, ist in den untersuchten Beispielen aus heutiger Sicht die Kopplung von Ergebenheit in religiöser wie staatlicher Hinsicht durchaus verständlich. Wie in den Beispielen genannt, kann interpretiert werden, dass das Gefühl der Ergebenheit wie in mancher Schulbuchsammlung religiös motiviert wurde, um es dann auf nationalistisches Gedankengut anzuwenden. Ein zunächst suggerierter Rückzugsort ins Private und Religiöse wird umgewandelt und existiert dann nicht mehr. Doch die emotionale Öffnung, die zumindest bei Teilen der Bevölkerung das Religiöse erreichte, wird als Eingang genutzt. Zur Beeinflussung scheint also die religiöse Verwendung von Musik immer wieder von Nutzen zu sein. Und auch dort, wo das religiöse Element fehlt, zeigen die Beispiele Fälle von plötzlichem Umschwung. Das zunächst unterhaltsame Singen, teils zur Kurzweil oder als erfreulicher Teil von Veranstaltungen, kann aufs Deutlichste umschlagen in Musik der Okkupation und des Kampfes wie das Horst Wessel Lied. Auch das Zurückstellen des Individuums hinter die Bedeutung des Herrschers und der Regierungsform wird von Descartes unter der Definition der Ergebenheit bereits ausformuliert. Der Tod fürs Vaterland und die Traditionslinie auf den Preußenkönig, die im Wehrmachtsliederbuch als Themen zu finden sind, wären hier einzuordnen. Aber unter der Prämisse, dass der Einsatz des Lebens von Soldaten immer aufzubringen ist. Anders ist dies freilich, wenn solche Lieder in Büchern für Kinder und Jugendliche erscheinen. Nicht nur, dass hier der Nachwuchs eiserne Regeln von klein auf lernt, vielmehr wird die damit einhergehende absolute Ergebenheit unter den Herrscher eingeübt, ja sich selbst und gegenseitig zugesungen. Von Liebe im Dekartes’schen Sinn kann hier längst keine Rede mehr sein. Ein sakraler Moment kann entstehen in Situationen von Rührung, sei sie ausgelöst durch Musik aus vergangener Zeit oder besserer Zukunft, die im Fall der Feldpostbriefe oftmals an die Heimat und das Familienleben erinnert, oder in besonders erhabenen, außergewöhnlichen Augenblicken. So sei hier abschließend auf ein Beispiel aus dem Ersten Weltkrieg verwiesen. Johannes R. Becher berichtet über den Kriegsbeginn 1914, den er auf dem Münchener Odeonsplatz erlebte. Vor der Residenz hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Besonders musikalisch-akustische Ereignisse

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scheinen hier die gespannte Situation zu verdeutlichen, wenn nicht gar zu begründen: »An der Feldherrnhalle baute sich, die Stufen empor, eine Menschenmauer auf. Tausende schwiegen erwartungsvoll in die Nacht hinein. Ganz unten, beim Siegestor, glommen zahllose Fackelpunkte. Als wir uns zum Residenzplatz durchgezwängt hatten, der innen für den Aufmarsch der Abordnungen aller Münchener Regimenter gesperrt war, dröhnte von der Feldherrnhalle her der bayrische Defiliermarsch. [...] Das Dröhnen der Musikkapelle, von Paukenstößen und Trommelschlägen verstärkt, rückte von der Residenzstraße her näher. Die ersten Fackelreihen schwenkten nach links ab. Durch das Schmettern der Bläser und das Geprassel der Trommeln hindurch stampfte der dumpfe, gleichmäßige Takt der Paradeschritte. Die Truppenteile in Feldgrau, mit grauem Helmüberzug, bogen in den Platz ein. [...] Kommandos. Mitten im Spiel, mit einem Ruck, setzte die Musik aus. Es war atemlos still. Es war so still, daß die Fackeln leise knisterten und daß das Weinen eines kleinen Kindes überlaut von einer Ecke des Platzes herüberdrang. Ich hielt den Atem an. Alle hielten den Atem an. Mit allen zusammen hielt ich den Atem an. Ich wagte kaum, das Gesicht in dieser Stille seitwärts zu wenden. Eine Stille schien auf die andere zu folgen. Ich staunte, wie leblos still es auf einem menschenüberfüllten Platz sein kann. Dorthin mußte ich schauen, wohin alle schauten: zum ersten Stock der Residenz hinauf. Ein Schatten glitt durch das Leuchten der offenen Balkontüren. Der König war an die Brüstung des Balkons vorgetreten. Ganz leise, gepreßt klang die Musikkapelle wie eine unterirdische Begleitung zu dem hochfahrenden Sturm der Menschenstimmen, die die ›Wacht am Rhein‹ sangen. Mit ihrem ganzen aufgewühlten Gesicht sangen sie. Viele schluchzten. Frauen knieten. Auch ich hatte den Hut abgenommen. Eine unwiderstehliche Gewalt hatte ihn mir herabgerissen. Ich wußte nicht, ob ich sang oder ob ich nicht mitsang. Ich hielt wieder den Atem an, aber ich hörte mich mitsingen.«26

Die anschließende Ansprache des Königs scheint hier nur Beiwerk, vielmehr beeindruckt der Moment der Stille, der die Masse zwang, inne zu halten und gemeinschaftlich zu singen. »Ein neues gewaltiges Brausen entstand: ›Deutschland, Deutschland über alles!‹« Eine Dramaturgie, zumindest eine nicht recht zu fassende Energie wird hier beschrieben, die den einen in der Masse aufgehen lassen,

26 Süddeutsche Zeitung Nr. 43 vom 20.2.2008, S. 48.

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ihn zwingen, Teil zu haben und aktiv zu werden. Besonders die Extreme von Stille und tosendem Dröhnen beeindrucken. Die Bewegung der Masse wird zur inneren Bewegtheit und lässt den außerordentlichen Moment entstehen, der starke Emotionsäußerungen hervorbringt. Klanglandschaft und allen bekannte Musik lassen auf unnachgiebige Weise auch alle partizipieren.

Politischer Genuss durch erlernte Emotionen? Aufführungen der Berliner Philharmoniker im Zweiten Weltkrieg S VEN O LIVER M ÜLLER *

   Ein Mann sitzt allein in einem weiträumigen Saal, viele leere Sitzreihen vor sich. Man sieht ihn von hinten, die Bühne beobachtend. Er lauscht einer Probe – gespielt auf einer Orgel, die zum Zeitpunkt der Fotographie erst vor kurzem installiert worden ist. Das Bild zeigt einen Hörer, der sich still auf eine Aufführung klassischer Musik konzentriert. Möglicherweise versucht er, die Schönheit der Musik zu fühlen, um seiner Alltagsroutine für einen Moment zu entfliehen. Auf den ersten Blick ist weder der Hörer noch sein Verhalten überraschend; beides entspricht dem erwarteten Stereotyp einer gebildeten Hörerschaft in den meisten europäischen Konzertsälen und Opernhäusern. Auf den zweiten Blick ist die Szenerie aber keineswegs konventionell. Diese Probe fand in der Nürnberger Kongresshalle im Jahre 1936 statt. Das Hakenkreuz an der gegenüberliegenden Wand verrät dem Betrachter, dass es sich bei diesem Saal um den Austragungsort des NSDAP Parteitages handelt. Und der Mann, der hier ruhig klassische Musik genießt, ist Adolf Hitler.1

*

Ohne die produktive und kritische Hilfe von Benjamin Mascheck wäre dieser Beitrag nicht zustande gekommen.

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Abbildung 1: Adolf Hitler in einer Konzertprobe in Nürnberg 1936

                Dieser Beitrag beschäftigt sich mit kulturellen Traditionen und akzeptierten emotionalen Konventionen in europäischen Konzerthallen und Opernhäusern im Zweiten Weltkrieg. Der Fokus dabei liegt auf Krieg, Musik und Emotionen. Diese zentralen Phänomene sind eng miteinander verbunden. Jede einzelne dieser Kategorien ist – bereits isoliert betrachtet – schwer zu bestimmen, aber doch wissenschaftlich erfasst. Ihre komplexen Interdependenzen jedoch bleiben ein Desiderat der Forschung. Einen hilfreichen und praxisbezogenen Zugang könnte der Blick auf ein konkretes Fallbeispiel ermöglichen: die öffentliche Rezeption der Berliner Philharmoniker in Deutschland und in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Sinnvoll ist es das Zusammenwirken zwischen nationalsozialistischer Kulturpolitik, Künstlern und Publikum zu untersuchen, um die Aufmerksamkeit auf die politische Dimension scheinbar unpolitischer kultureller Praktiken zu richten. Die hier als Praktiken interessierenden Formen der 1

Foto von Heinrich Hoffmann, Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek, München: 70, Nr. hoff-13631.

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Kommunikation sind die Wahrnehmungsmuster und die sozialen Verhaltensstandards des Publikums. Vor dem Hintergrund des bewaffneten Konflikts zwischen beiden Ländern scheint es auf den ersten Blick wenig verwunderlich, dass Musik eher als ein kulturelles Schlachtfeld diente, statt gegenseitigen Respekt zwischen den Kombattanten zu erzeugen. Hier wird ein anderer Ansatz gewählt. Aufgrund der Bedingungen des Krieges, ist es beinahe zwingend danach zu fragen, ob auch die Konzerte der Philharmoniker und der musikalische Spielbetrieb insgesamt, zu neuen Formen der Verständigung führten. Ist es möglich, entscheidende Veränderungen der Aufführungspraktiken der Künstler und der emotionalen Praktiken des Publikums auszumachen? Hat der neue Krieg neue Verhaltensstandards im Publikum hervorgebracht, neue Emotionen im Musikleben erzeugt? Vieles spricht dafür, dass es keinesfalls so war. Die Publikumsreaktionen die sich beobachten lassen, erinnern oft an tradierte Formen des Musikkonsums und an die bereits erlernten emotionalen Regeln. Es kommt darauf an zu fragen, in wieweit das Musikleben erfolgreich politisiert und ideologisiert und damit zu einem Baustein nationalsozialistischer Herrschaft in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten wurde. Die Aufführung »deutscher« Kompositionen während der Besatzungszeit in Frankreich können als ein Beispiel für eine erfolgreiche, scheinbar harmonische Botschaft im Kontext politischer Herrschaftsansprüche verstanden werden. Eine umfassende Geschichte nationalsozialistischer Musikpolitik muss noch geschrieben werden.2 Dieser Artikel verweist lediglich auf einen

2

Vgl. K. Engel, Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris 1940–1944: Film und Theater, München 2003; M. Schwartz, Musikpolitik und Musikpropaganda im besetzten Frankreich, in: W. Benz (Hg.), Kultur, Propaganda, Öffentlichkeit: Intentionen deutscher Besatzungspolitik und Reaktionen auf die Okkupation, Berlin 1998, S. 55–78; E. Collotti, Deutsche Nationalitäten- und Kulturpolitik im Adriatischen Küstenraum, in: Benz, Kultur, S. 79–104; A. Steinweis, German Cultural Imperialism in Czechoslovakia and Poland 1938–1945, in: International History Review 13 (1991), S. 466–480; C. Klessmann, Die Selbstbehauptung einer Nation: Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandbewegung im Generalgouvernement 1939–1945, Düsseldorf 1971; I. Grünberg, Wer sich die Welt mit einem Donnerschlag erobern will: Zur Situation und Funktion der deutschsprachigen Operette in den Jahren 1933–1945, in: H.-W. Heister (Hg.), Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland,

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neuen Aspekt und lenkt das Augenmerk auf die Wechselwirkung zwischen Emotionen und Nationalismus in den Konzerten der Berliner Philharmoniker. Die Hypothese besagt, dass die Kontinuität der musikalischen Tradition und die emotionalen Praktiken des Publikums die politische Akzeptanz der nationalsozialistischen Herrschaft über Frankreich verstärkte. Die nationalsozialistische Kulturpolitik überschattete bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die europäische Musikgeschichte. Diese zielte zunächst nur auf das Reichsgebiet, dann aber den gesamten Kontinent. Für die Eliten des nationalsozialistischen Staates stellte Musik – ganz besonders »deutsche« Musik – die höchst mögliche kulturelle Perfektion dar, die es über ganz Europa zu verbreiten galt: mit allen Mitteln. Dabei erweist sich die Zuschreibung eines spezifisch deutschen Charakters der Kunstmusik als nationalistische Perspektive, die mehr über die Wahrnehmungen und kulturellen Konstruktionen der Deutschen verrät als dass sie etwas über das Musikleben Europas aussagen könnte.3 Dieser Prozess verwandelte Kunstmusik in eine ausschließlich deutsche Errungenschaft mit all den zugehörigen ästhetischen und sozialen Traditionen. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde Musik zu einem Instrument kultureller Besatzungspolitik. Deutsche Gewalt und Deutsche Musik stellten in diesem Zusammenhang nicht etwa unterschiedliche, sondern ähnliche Muster nationalsozialistischer Aggression dar. Aufgrund des unerwarteten militärischen Erfolgs des nationalsozialistischen Deutschland zu Beginn des Krieges, boten sich nun verschiedene Möglichkeiten, andere europäische Staaten mit den Mitteln erzwungener kultureller Partizipation zu unterwerfen. Tourneen ganzer Oper-Ensembles sowie Gastauftritte be-

Frankfurt/M. 1984, S. 227–242; U. Fremy, Die Hamburgische Staatsoper als Frontbühne, in: Heister, Musik und Musikpolitik, S. 91–97. 3

Vgl. K. Painter, Symphonic Aspirations: German Music and Politics, 1900– 1945, Cambridge/MA 2007; C. Applegate/P. Porter (Hg.), Music and German National Identity, Chicago/IL 2002; M. Kater, Die missbrauchte Muse: Musiker im Dritten Reich, Reinbek b. Hamburg 1998; B. Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst: Untersuchungen zur Dichotomie von »hoher« und »niederer« Kunst im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel 1987; C. Applegate, Bach in Berlin, Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the St. Matthew Passion, Ithaca/NY 2005, S. 45–79.

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rühmter Künstler und Dirigenten riefen dabei sowohl Widerstand als auch Akzeptanz dieser kulturellen Machtdemonstrationen hervor.

I.

D ER S PIELBETRIEB DER B ERLINER P HILHARMONIKER

Konzerte der Berliner Philharmoniker gab es bereits zu Friedenszeiten in ganz Europa. Im Jahre 1937 etwa veranstaltete die Reichskulturkammer eine »Feier des Deutschtums« in Paris. Der Höhepunkt des neun Tage langen Programms war eine Aufführung von Richard Wagners Die Walküre unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler. Als sich Hitlers Interesse im darauffolgenden Jahr dem Sudetenland zuwandte, achteten die Besatzer darauf das von langer Hand geplante Gastspiel der Philharmoniker in der Tschechoslowakei durchzuführen. Ludwig van Beethovens Oper Fidelio wurde in Wien zwei Wochen nach der deutschen Besetzung aufgeführt und von der führenden Propagandazeitung Völkischer Beobachter als Akt der Konsolidierung eines »Größeren Deutschlands« interpretiert.4 Diese aufgezwungenen kulturellen Werbekampagnen dienten der Nazielite dazu, die Überlegenheit ihrer eigenen Kunst zu demonstrieren um dadurch die Herzen des Publikums sowohl in Deutschland als auch in den besetzten Gebieten zu erobern. Die Botschaft des Naziregimes war klar: Wenn Musik eine überlegene Form der Kunst ist, dann ist Deutsche Musik elementarer Bestandteil des deutschen Volkes.5

4

Völkischer Beobachter, 9. September 1937. Vgl. A.E. Steinweis, Art, Ideologie, and Economics in Nazi Germany: The Reich Chamber of Music, Theatre and the Visual Arts, Chapel Hill/NC 1993; G. Strobl, The Swastika and the Stage: German Theatre and Society, 1933–1945, Cambridge 2007.

5

Vgl. I. v. Foerster (Hg.), Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus, Mainz 2001; J. Tambling, Opera and the Culture of Fascism, Oxford 1996; M. Walter, Hitler in der Oper: Deutsches Musikleben 1919–1945, Berlin 1999; M. Meyer, The Politics of Music in the Third Reich, New York 1991; F.K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt/M. 1982; Heister, Musik und Musikpolitik; J. Wulf, Musik im Dritten Reich, Gütersloh 1963; H. Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek b. Hamburg 1963.

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Musikkultur wurde als mächtiges Instrument der Konsenspolitik angesehen – d.h. als Instrument der Herstellung und Darstellung von Einigkeit und Anerkennung. Das mächtige Deutschland, das Land der Musik und der Musiker, hatte das Bedürfnis die Massen von seiner Größe zu überzeugen – innerhalb und außerhalb seiner Grenzen. Speziell das französische, holländische und belgische Publikum wurde zum Ziel Deutschlands kultureller Invasion. Binnen Wochen nach der Eroberung von Paris eröffnete man die Konzertsäle und Opernhäuser und erhielt den Spielbetrieb aufrecht. Hochkultur sollte hier nicht nur die Arbeiter an der Heimatfront emotional an das nationalsozialistische Regime binden, sie sollte vor allem die Eliten der besetzten Gebiete von der Überlegenheit deutscher Kultur und damit in einem zweiten Schritt von der Legitimität der Besatzung überzeugen in dem sie an ihre bereits erlernten emotionalen Rezeptionsmuster anknüpfte. Bereits zwei Wochen nach Beginn der Besatzungsphase gaben die Berliner Philharmoniker im Juli 1940 drei Konzerte in Paris und Versailles. Das Ziel war nicht nur die Erwartungshaltung deutscher Soldaten in Frankreich und der deutschen Öffentlichkeit zu erfüllen, sondern vor allem die Kollaboration französischer Bürger zu fördern.6 Im Gegensatz zu Konzerten und Opern erschien der Administration das Theater aufgrund der Sprachbarriere ein weniger attraktives Medium für eine subtile kulturelle Werbestrategie zu sein. Die Anzahl der Konzerte, die die Berliner Philharmoniker im Ausland veranstalteten hatte sich im Vergleich mit den Zwischenkriegsjahren drastisch erhöht. In den ersten 50 Jahren ihrer Existenz (1885–1935) gaben sie 384 Konzerte außerhalb Deutschlands – davon 303 zwischen 1933 und 1944. Weit über 200 Konzerte fanden allein in den Kriegsjahren statt.7 Von

6

Vgl. A. Mitchell, Nazi Paris: The History of an Occupation 1940–1944, New York 2008, S. 27–36. Das »Annuaire Général du Spectacle en France 1942– 1943« verkündete 1943: »Seit dem Waffenstillstand sind die deutschen Militärund Zivilbehörden mit unermüdlichem Eifer für die Wiederaufnahme des ›kulturellen Dialogs‹ tätig, der durch die Ereignisse unterbrochen war. … Diese Bekundungen stellen den Ausdruck einer versöhnlichen Haltung dar und bereiten so den Boden für einen sicheren und dauerhaften Frieden.« Zit. n. Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 398.

7

P. Muck, (Hg.), Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, Tutzing 1982, S. 3.

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1940 bis 1942 spielten die Berliner Philharmoniker in vielen Städten in den Besetzten Gebieten (Amsterdam, Brüssel, Antwerpen, Gent, Ostende, Lille, Paris, Metz und Straßburg). Ihre Aufführungen wurden oft von Gastauftritten der Preußischen Staatsoper und von einem Opern Ensemble unter der Leitung von Franz Lehar begleitet.8 Das Mannheimer Nationaltheater führte 1941 Wagners Die Walküre in der Opéra Garnier in Paris auf. Ein paar Tage später wurde die Aufführung in französischer Sprache wiederholt – eine kluge Propagandastrategie, weil kulturelle Gleichberechtigung die politische Abhängigkeit überdeckte. An den Zuschauerzahlen gemessen, waren besonders die Aufführungen deutscher Opernensembles im besetzten Frankreich ein beachtenswerter öffentlicher Erfolg.9 Diese Gastspiele waren weder unpolitisch noch harmlos. Die Hamburger Staatsoper veranstaltete im Jahre 1942 eine Tournee mit Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail in Paris und Brüssel – stolz die kulturelle Einheit der »Nordischen Rassen« proklamierend.10 Deutschlands kulturelle Kriegsziele in Polen unterschieden sich grundsätzlich zu seiner Strategie in Frankreich. An Stelle einer vermeintlich friedlichen Überzeugungsleistung durch Hochkultur, fand hier kulturpolitische Macht- und Gewaltdemonstration statt. Der Aggressor versuchte, kulturelle Institutionen und Traditionen zu zerstören, in dem er das polnische Publikum von Aufführungen ausschloss und diese nur für die deutschen Besatzer öffnete. Die Konzerte der Deutschen Oper in Posen oder in der »Philharmonie des Generalgouvernements« in Krakau fanden zwar statt, jedoch unter völliger Abwesenheit der polnischen Öffentlichkeit und

8

Vgl. F. Trümpi, Politisierte Orchester: Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus, Köln 2011, S. 286–298; Muck, Orchester, S. 153–155.

9

Vgl. B. v. Hülsen, Szenenwechsel im Elsass: Theater und Gesellschaft in Strassburg zwischen Deutschland und Frankreich, 1890–1944, Leipzig 2003, S. 359– 424; K. Engel, Deutsche Film- und Theaterpolitik im besetzten Paris 1940–44, in: Benz, Kultur, S. 35–54.

10 Die Tournee sollte zur »Vertiefung der kulturellen Fühlungsnahme und Zusammenarbeit mit den uns art- und wesensverwandten Völkern im nordischen Raum« führen. C. Werckshagen, Die Hamburgische Staatsoper in Flandern, Hamburg 1942, S. 1.

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nur für deutsche Staatsbürger und ihre Verbündeten.11 In denjenigen Fällen, in denen das jeweils einheimische Publikum nicht gänzlich ausgeschlossen wurde, kam es allerdings zu den erwarteten feindlichen Reaktionen des Publikums, wie aus den SS-Sicherheitsdienstberichten über Konzerte der Berliner Philharmoniker in Krakau, Bukarest, Budapest und Zagreb im Oktober 1943 hervorgeht.12 Doch auch viele polnische Musikfreunde versuchten sich in musikalischer Normalität. Marcel Reich-Ranicki berichtet, wie er sich im Zweiten Weltkrieg in Berlin »der nationalsozialistischen Propaganda zum Trotz« vor allem für Wagner Opern begeisterte. Noch in den letzten Wochen des Warschauer Ghettos habe man dort »Bach und Beethoven, Schubert und Schumann, Brahms und Bruckner – also, wie überall in der Welt, vornehmlich deutsche Musik (gespielt). Ich werde nie vergessen, mit welcher Hingabe im Ghetto geprobt, mit welcher Begeisterung in dürftigen Sälen musiziert wurde. … Die Konzerte im Ghetto waren überfüllt. Je schrecklicher die Zeiten, desto dringender wird offenbar Musik benötigt«.13 Ein zentraler Aspekt im Kontext der Musikrezeption im Zweiten Weltkrieg scheint auf der Hand zu liegen, denn er betrifft nicht allein die Konzerte der Berliner Philharmoniker. Leidenschaftlich gezeigte Emotionen sind musikimmanent. Durch den Konzertbesuch wird das Publikum sowohl zu einer musikalischen als auch zu einer emotionalen Gemeinschaft. Wichtig ist es zu fragen, welche Rolle Musik als performative soziale Praktik für Vergemeinschaftungsprozesse und die Kohäsion sozialer Gruppen spielt. Den Blick auf eine Geschichte der Emotionen im Musikleben zu lenken eröffnet deshalb eine wertvolle Forschungsperspektive, die nicht nur der erweiterten Beschreibung verschiedener Kontexte dient, sondern auch die Untersuchung des Publikums in Verbindung mit seinen Verhaltensmustern

11 Siehe auch der Artikel von Katarzyna Naliwajek-Mazurek in diesem Sammelband; weiterhin A. Lemke, Deutsches Musikleben in Krakau (1942), in: Wulf, Musik im Dritten Reich, 325–327. Vgl. Steinweis, »Imperialism«, S. 466–480; F. Geiger, Deutsche Musik und deutsche Gewalt: Zweiter Weltkrieg und Holocaust, in: A. Riethmüller (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, 1925– 1945, Laaber 2004, S. 243–256. 12 Vgl. Trümpi, Politisierte Orchester, S. 293. 13 M. Reich-Ranicki, Rede über das eigene Land. Zwischen deutscher Welt und deutscher Gegenwelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.1994.

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und Präferenzen ermöglicht.14 Hier interessieren die Repräsentationen von Emotionen, ihre gezeigten Ausdrucksformen. Besonders die öffentlichen Aufführungen von Musikkultur können als spezifische emotionale Umgangsformen mit musikalischen Reizen betrachtet werden. Aber wie lassen sich Emotionen im Musikleben des Zweiten Weltkriegs erfassen? Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn die Quellen geben zunächst wenig Verwertbares oder auch nur Auffälliges her. Was die Forschung benötigt, ist eine Analyse der Sprache der Künstler und der Hörer, der deutschen Administration und der französischen Presse und der damit Verknüpften emotionalen Bewertungen aus verschiedenen Quellen. Es ist entscheidend, auf die kleinen Veränderungen im Repertoire, in der Einstellung von Künstlern und vor allem dem Verhalten des Publikums zu achten. Eine detaillierte Analyse kann dieser Artikel nicht leisten. Deshalb ist dies hier nur der Versuch, neuen Erkenntnismöglichkeiten vorzustellen – eher eine Frage als eine Antwort. Allerdings scheint die Analyse der öffentlichen Reaktionen auf Konzerte der Berliner Philharmoniker außerhalb Deutschlands ein erhellendes Beispiel für die eben beschriebenen Zusammenhänge zu sein.

II. M USIKER

UND

D IRIGENTEN

Die Berliner Philharmoniker waren ein international anerkanntes Orchester, das bereits seit 1922 unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler stand. Er war es auch, der sich direkt nach Hitlers Machtergreifung an das Propagandaministerium unter der Leitung von Joseph Goebbels wandte, um mit ihm einen Vertrag über die direkte Zusammenarbeit mit dem Ministerium auszuhandeln.15 Dieser zahlte sich für Einkommen, Karriere und Lebens-

14 Neue methodische Ansätze liefern U. Frevert, Emotions in History – Lost and Found, Budapest 2011; die Beiträge in Geschichte und Gesellschaft 35/1 (2009); J. Gerhard, Soziologie der Emotionen: Fragestellungen, Systematik, Perspektiven, München 1988; U. Frevert u.a. (Hg.), Gefühlswissen: Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt/M. 2011; L. Ciompi/E. Endert, Gefühle machen Geschichte: Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama, Göttingen 2011. 15 Vgl. Trümpi, Politisierte Orchester, S. 81–96.

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spanne der deutschen Musiker deutlich aus. Orchestermitglieder der Berliner Philharmoniker waren vom Militärdienst befreit und nahmen nicht am Kriegsgeschehen teil – ganz im Gegensatz zu den Mitgliedern anderer Orchester. Um diese Vorteile zu erlangen, willigten die meisten Orchestermusiker in die politische Strategie des nationalsozialistischen Regimes ein und nahmen an Konzerten in den besetzten Gebieten teil. So ist es wenig überraschend, dass Goebbels im August 1944 alle Konzertsäle schließen ließ – mit Ausnahme der Berliner Philharmonie.16 Der Prozess der Arisierung machte jedoch auch vor den Mitgliedern der Philharmoniker nicht halt; vier herausragende Musiker wurden schon 1934 gezwungen, das Orchester zu verlassen und gingen daraufhin ins Exil: Der erste Konzertmeister Szymon Goldberg, die Solocellisten Nikolai Graudan und Joseph Schuster sowie der Violinist Gilbert Back. Zur gleichen Zeit traten ungefähr zwanzig Orchestermitglieder der NSDAP bei; die meisten aber nahmen einfach nur an den Konzertreisen teil. Manche von ihnen machten allerdings keinen Hehl aus ihrer politischen Überzeugung, wie z.B. der Violinist Hans Woywoth, der zur Orchesterprobe in SA-Uniform erschien, oder der Cellist Wolfgang Kleber und der Violinist Werner Buchholz, die Propagandaartikel für das Mitteilungsblatt der Philharmoniker verfassten. Anders als bei den Wiener Philharmonikern, deren Mitglieder zu 42% in die NSDAP eingetreten waren, bestand die Mehrheit der Berliner Philharmoniker nicht allzu vehement auf die parteipolitische Gleichschaltung des eigenen Orchesters.17

16 Wichtige Studien zur Geschichte der Berliner Philharmoniker im Zweiten Weltkrieg sind M. Aster, Das Reichsorchester: Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus, München 2007; Trümpi, Politisierte Orchester; P.M. Potter, The Nazi ›Seizure‹ of the Berlin Philharmonic, or the Decline of a Bourgeois Musical Institution, in: G.R. Cuomo (Hg.), National Socialist Cultural Policy, London 1995, S. 39–65; S. Stähr, Am Abgrund der Geschichte: Die Ära Furtwängler, das Dritte Reich und der Krieg, in: Stiftung Berliner Philharmoniker (Hg.), Variationen mit Orchester: 125 Jahre Berliner Philharmoniker, Berlin 2007, S. 136–170; Painter, Symphonic Aspirations, S. 245–251. 17 Vgl. Aster, Reichsorchester, S. 93–122; Trümpi, Politisierte Orchester, S. 138– 145; Mitchell, Nazi Paris, S. 37–44.

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Abbildung 2: Die Berliner Philharmoniker spielen 1935 vor den Spitzen des Staates

 Dieses Bild zeigt die Nazielite 1935, wie sie nach einer Aufführung von Beethovens Fünfter Symphonie dem Orchester applaudiert. Hitler, Göring und Goebbels sind in der ersten Reihe gut sichtbar, während sich der Dirigent Wilhelm Furtwängler vor seinem Publikum verbeugt.18 Diejenigen Symphonien, die von deutschen Komponisten geschrieben worden waren, dienten als ideologische Botschaft – vorgetragen von Musikern die als Botschafter des Naziregimes agierten. Sie stellten das musikalische Rahmenprogramm des NSDAP-Parteitags in Nürnberg und das der Olympischen Spiele während sie weitere reguläre Konzerte für andere nationalsozialistische Organisationen gaben. Ohne eine eingehende Analyse der Konzertberichte in den Zeitungen und Briefen ist eine plausible Aussage über die positive emotionale Rezeption des Publikums kaum zu treffen. Wichtig aber für das Verständnis dieser Ausprägungen nationalistischer Strategien war das persönliche Interesse der Führungselite an der Schönheit, an der Ästhetik der klassischen Musik. Adolf Hitler ist dafür das signifikanteste Beispiel. Im Jahre 1938 wurde Anton Bruckners Siebte Symphonie unter 18 Nachdruck in Stiftung Berliner Philharmoniker, Variationen mit Orchester, S. 158.

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der Leitung Hans Weisbachs ausgewählt um als Vorspiel zu einer Rede Hitlers im Rahmen einer Kulturkonferenz zu fungieren. Es ist kein Zufall, dass Radio Hamburg das Adagio dieser Symphonie bei der Übertragung spielte, die Hitlers Tot am 1. Mai 1945 bekannt geben sollte; von den Berliner Philharmonikern – dirigiert von Wilhelm Furtwängler: erneut sollte das Publikum emotional vorbereitet werden.19 In einem Memorandum des SS-Sicherheitsdienstes aus dem Jahre 1940 wurde die politische Relevanz, die das nationalsozialistische Regime Dirigenten wie Furtwängler oder Karajan für das Gelingen von Aufführungen außerhalb Deutschlands beimaß, deutlich.20 Folgt man der Logik von Ronald Hardwoods Theaterstück Taking Sides, ließe sich Wilhelm Furtwängler als ein kultureller Sklave des nationalsozialistischen Deutschlands betrachten.21 Diese Einschätzung verliert aber durch den Vergleich Furtwänglers mit einem anderen berühmten Dirigenten an Plausibilität. Herbert von Karajan war nicht nur Hermann Görings favorisierter Dirigent, sondern biederte sich der Nazielite mit einem Maß an Freiwilligkeit und Eigeninitiative an – er trat immerhin zweimal in die NSDAP ein, was deutlich werden lässt, weshalb die Metapher eines willigen Opportunisten eher im Fall Karajan angebracht scheint. Der junge Österreicher hatte dem Nationalsozialismus seit 1933 treu gedient und war ab 1935 Parteimitglied. 1938 dirigierte er Wagners Tristan und Isolde an der Berliner Staatsoper und wurde von der nationalsozialistische Presse als »Wunder Karajan«22 gefeiert. Eine solche mediale Zuschreibung ist vielsagend, besonders in emotionshistorischer Perspektive. Ein Begriff wie das »Wunder Karajan« drückt

19 Vgl. Painter, Symphonic Aspirations, S. 245–251. 20 »Die starke mitreißende Wirkung, welche den deutschen kulturellen Veranstaltungen im Ausland erst ihren eigentlichen Sinn verleihe, sei in entscheidendem Masse vom Einsatz einer großen Dirigentenpersönlichkeit abhängig. Nach allen vorliegenden Äußerungen ist diese zwingende Kraft, die im gesamten Ausland die deutsche Musik zum stärksten kulturpolitischen Faktor macht, vor allem bei W. Furtwängler und H. v. Karajan vorhanden.« Zit. n. H. Bleyl, Klassische Musik als Propaganda-Medium? Zur politischen Funktion der Auslandsreisen der Berliner Philharmoniker für den NS-Staat, Hildesheim 1998, S. 40. 21 Vgl. B.W. Wessling, Furtwängler: Eine kritische Biographie, München 1985. 22 Vgl. P. Uehling, Karajan: Eine Biographie, Reinbek b. Hamburg 2008.

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Überlegenheit und Überraschungspotential gleichermaßen aus. Er repräsentiert die emotionale Verfasstheit nicht nur des Publikums bei dieser spezifischen Aufführung sondern, durch mediale Verbreitung, den Topos kultureller Überlegenheit in der ganzen Gesellschaft. Der Blick auf einige visuellen Darstellungen Karajans im Kriege ist an dieser Stelle hilfreich. Karajan war ein erfolgreiches Medienphänomen. Bei der öffentlichen Präsentation seiner neuen Plattenaufnahme mit den Berliner Philharmonikern im Jahre 1940 wurde der Klassische EMI Werbeslogan verwendet: »Die Stimme seines Herrn«. Leider offenbart der Spruch gleichzeitlich auch Karajans politische Orientierung.

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Abbildung 3: Herbert von Karajan bei einer Probe im besetzten Paris 1943

Dieses Bilderserie, aufgenommen bei einer Probe im besetzten Paris, ist besonders aussagekräftig.23 Sie stammt aus einem Artikel einer französischen Zeitung in der Karajans Schlagtechnik und sein Habitus während einer Probe mit dem Orchester beschrieben werden. Aufschlussreicher als die gezeigten neun Fotos sind die emotionalen Beschreibungen der Probe

23 P.H. Verlhac, Herbert von Karajan: Bilder eines Lebens, Berlin 2007, S. 32.

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unter jedem dieser Bilder. Karajans Gestaltungskraft wird durch gefühlsbetone Begriffe und emphatische Bewertungen illustriert. Diese durch Emotionen evozierte Vermittlung zwischen Komposition und Kunstwerk zielt darauf die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen – und eine Gemeinschaft aus deutschen und französischen Musikfreunden zu belegen. Dadurch wird die politische Dimension vermeintlich harmloser Emotionen greifbar. Um einige Beispiel zu geben – Nr. 2: »Par des gestes très doux il contient encore la mélodie qui voudrait s‫ތ‬épanouir« (Mit seinen sanften Gesten kontrolliert er die Hebungen in der Melodie); Nr. 3: »Et maintenant d‫ތ‬un mouvement libre et vaste, il la fait s‫ތ‬élever de tout sa puissance sonore« (Mit seinen freien und ausladenden Bewegungen sorgt er für den mächtigen Klang der Musik); Nr. 5: »De sa main gauche, il accentue gaiement l‫ތ‬étincelant scherzo« (Fröhlich dirigiert er das brillante Scherzo mit der linken Hand); und Nr. 8: »Toutes les forces sont déchaînées. Le chef d‫ތ‬orchestre s‫ތ‬abandonne à l‫ތ‬ivresse des sons« (Alle Macht wird freigelassen. Der Dirigent vergisst sich im musikalischen Rausch).24 Ist es überraschend, dass das Musikleben Europas in Bezug auf Aufführungen klassischer Musik im Zweiten Weltkrieg so wenige Überraschungen zu bieten hatte? In Deutschland und Frankreich, in Italien und den Niederlanden führten die Berliner Philharmoniker das etablierte symphonische Repertoire, d.h. die Werke von Mozart bis Bruckner, in bestehenden Konzert- und Opernhäusern vor sozial ähnlich zusammengesetzten Hörerschaften auf. Hier dominierte nach wie vor das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, keine Reichen aber wohlhabende Besucher aller Altersklassen und beider Geschlechter – auch wenn der Anteil jüngerer Männer im Publikum durch den Militärdienst deutlich zurückgegangen war. Die politische Situation änderte sich, aber der musikalische Kanon nicht. Unter der Leitung von Clemens Krauss spielten die Berliner Philharmoniker in Paris im Jahre 1942 Werke von Franz Schubert und Richard Wagner. Es ist dabei durchaus bemerkenswert, dass Schuberts Unvollendete zusammen mit dem Trauermarsch aus der Götterdämmerung aufgeführt wurde. In diesem Konzert zeigte sich die Gleichzeitigkeit deutscher Propaganda und nationalsozialistischer Untergangsprophezeiung. Die Kompositionen Maurice Ravels, Claude Debussys und Hector Berlioz ver-

24 Ebd., S. 37.

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schwanden beinahe gänzlich aus dem Pariser Programm. In den Jahren 1939/40 bestand ca. 60% des gesamten Repertoires aus Werken sechs vermeintlich deutscher Komponisten: Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Anton Bruckner, Franz Schubert, Wolfgang Amadeus Mozart – und Richard Wagner.25 Thomas Mann spekulierte hellsichtig: »Die Deutschen sollte man vor die Entscheidung stellen: Goethe oder Wagner. Beides zusammen geht nicht. Aber ich fürchte, sie würden Wagner sagen.«26 Glücklicherweise hatte er Unrecht. Die Berliner Philharmoniker spielten Auszüge aus Wagners Opern zwar regelmäßig, aber die Gesamtzahl der Aufführungen war aufgrund der oft kostspieligen Inszenierungen national und international deutlich rückläufig. Wagner nützte politisch – war aber ein finanzielles Debakel.

III. R EPERTOIRES

UND

R EZEPTION

Viele deutsche Musikliebhaber glaubten, dass die klassische Musik das wahre Kriterium sei, durch das sie sich kulturell von ihren Nachbarn unterschieden. Sie konstruierten Kunstmusik als eine exklusiv deutsche Errungenschaft. Das machte es der Nazielite leicht, mit ihren nationalistischen, kulturchauvinistischen Dogmen der legitimen Überlegenheit an diese Vorstellungen anzuknüpfen und Musik als Unterdrückungsinstrument zu verwenden, dass hegemoniale Strukturen erfahrbar machte und so dabei half, Gewalt gegen die Unterlegenen zu legitimieren.27 Diese Strategie der vermeintlichen Zementierung sichergeglaubter kultureller Standards war auch

25 Vgl. Trümpi, Politisierte Orchester, S. 235–249; G. Budde/M. Witkowski, Beethoven unterm Hakenkreuz: Das Oldenburgische Staatsorchester während des Nationalsozialismus, Oldenburg 2007. 26 Thomas Mann, Brief an Julius Bab, 14.9.1911, in: N. Wagner (Hg.), Über Wagner. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Stuttgart 2003. Vgl. Hans Rudolf Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt/M. 2006. 27 Vgl. S. Friedländer (Hg.), Richard Wagner im Dritten Reich, München 2000; D.B. Dennis, Beethoven in German Politics, 1870–1989, New Haven/CT 1996, S. 142–174; A. Riethmüller, Musik, die ›deutscheste‹ Kunst, in: J. Braun (Hg.), Komponisten in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1997, S. 91– 104.

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eine emotionale Praxis um den Herausforderungen des Krieges zu begegnen. Im Zweiten Weltkrieg suchten die Politiker der Alliierten wie der Achse nach musikalischen Genies. Manche Versuche erwiesen sich als international schwer absetzbare Exportartikel: Vergeblich erklärte das Reichspropaganda-Ministerium den Ungarn Franz Liszt und den Polen Frederic Chopin zu deutschen Genies. Der Beethovenkult ist ein wichtiges Beispiel dieser emotionalen Kommunikation. Aber welcher Beethoven ist gemeint? Seine Symphonien waren zentral für das Repertoire der Berliner Philharmoniker in der Kriegszeit – sie stellten 17% des gesamten Konzertprogramms dar.28 In der nationalsozialistischen Version galt Beethoven als titanenhaft, deutsch und dem Fremden überlegen. Deutlich wird diese Strategie beispielweise anhand eines Plakats zum »volkstümlichen« (sic) Beethoven Fest in Bonn 1939, dass durch den Rückgriff auf etablierten visuelle Muster um Besucher warb.29 Abbildung 4: Werbeplakat zum Beethovenfest in Bonn 1939

28 Vgl. Bleyl, Klassische Musik, S. 41f. 29 Eine Abbildung dieses Plakats von Hans Pape findet sich in Stiftung Schloss Neuhardenberg (Hg.), Das »Dritte Reich« und die Musik, Berlin 2006, S. 50.

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International werbewirksamer und politisch erfolgreicher aber war die Strategie der Briten, die auf die Wirkung einer gemeinsamen europäischen Musiktradition setzten. Ihr Geniekult erfüllte einen universellen Auftrag. Verwendet wurde bezeichnenderweise Musik aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts – gegen das Deutschland des 20. Jahrhundert. Im Gegensatz zu Wagner oder Mendelssohn, ließ sich Beethoven viel schwerer von einer Nation vereinnahmen, viel schwerer einer kriegführenden Partei zuordnen. In London spielten die Orchester das gleiche klassische Repertoire, doch die kulturellen Kriegsziele unterschieden sich. Im Gegensatz zu Deutschlands Machtdemonstrationen entschied sich die BBC für eine eher humanistische Perspektive auf Hochkultur. Sie betonte, dass Beethoven nicht nur ein deutscher Held sei, sondern auch ein Freund aller Menschen und Nationen. Der österreichische Dirigent Fritz Busch, der als Immigrant in London lebte, organisierte eine Konzertreihe mit allen Beethovensymphonien für das Radio. Allerdings nutze die BBC später die ersten vier Noten der Fünften Symphonie als Erkennungsmelodie ihrer Kriegsnachrichten. Festzuhalten bleibt, dass das gleiche musikalische Werk sowohl die politischen und emotionalen Vorstellungen der nationalsozialistischen Diktatur als auch der britischen Demokratie reflektierte. Die Reichweite möglicher Konnotationen mit ein und derselben Komposition war sehr groß.30 Beethoven war sowohl Quelle deutscher Freude als auch deutscher Angst, was seine Kompositionen zu noch mächtigeren Werkzeugen der Kulturpolitik machte. Tageszeitungen und Fachzeitschriften ließen verlautbaren, dass der Klang der Eroica zur emotionalen Hymne einer neuen Ära des deutschen Volkes geworden sei.31 In den USA sprach sich der italienische Stardirigent Arturo Toscanini angesichts dessen öffentlich für eine größere politische Autonomie der Kunstmusik aus. Er war über die breite öffentliche, international und national geführte Diskussion über den Anteil an kriegerischen Gefühlen im ersten Satz von Beethovens Eroica verärgert. Stattdessen solle doch eher über Beethovens Kunst gesprochen werden:

30 Vgl. Dennis, Beethoven, S. 166–174. 31 Vgl. E. Buch, Beethovens Neunte: Eine Biographie, Berlin 2000, S. 266–280; Dennis, Beethoven, S. 143–151.

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»Some say this is Napoleon, some Hitler, some Mussolini. For me it is simply Allegro con brio.«32 Allerdings stellt sich die Frage, ob Künstler überhaupt in der Lage waren nationalistisch bewertete Kompositionen in transnational wirkungsmächtige Aufführungen zu verwandeln. Diese Entwicklung wäre ohne den Glauben an eine emotionale Gemeinschaft auf Basis kulturellen Austausches kaum denkbar gewesen. Die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland schien ein ideales Beispiel für gleichberechtigten Kulturtransfer zu sein. In beiden Ländern näherten sich in der Zwischenkriegszeit der Spielbetrieb und das Repertoire zunehmend an. Zwischen 1920 und 1930 reisten Sänger, Regisseure, Dirigenten und Komponisten regelmäßig zwischen den Ländern und Städten hin und her und tauschten sowohl Konzepte als auch Geschmäcker aus. Insbesondere die beiderseitige Bewunderung absoluter Musik zeigt in diesem Zusammenhang deutlich die Wirkmächtigkeit des französisch-deutschen Kulturtransfers – vor 1940. Danach kann unter den Bedingungen deutscher Besatzung auch im Musikleben von einem Kulturtransfer nicht mehr die Rede sein. Der steigende Grad in der Ähnlichkeit des Repertoires und der ästhetischen Präferenzen ist Indikator einer gemeinsamen europäischen Tradition. Die nationalistischen Spezifika der Musik erscheinen wiederum als Zuschreibungen aus dem politischen Interesse heraus, Identität durch Abgrenzung zu generieren. Sie sind damit aber freiwilliges wie oft unfreiwilliges Resultat eines jahrzehntelang erfolgreichen kulturellen Austausches.33 Es sind genau diese Prozesse von Aneignung und Abgrenzung, die kontinuierlich die Kulturvarianten einer Gesellschaft formen. Solche kulturellen Entitäten können in ihrer Konflikthaftigkeit ohne genaues Augenmerk auf die Interaktionsmechanismen zwischen ihnen nicht fruchtbar untersucht wer-

32 Zit. n. M.E. Bonds, Music as Thought: Listening to the Symphony in the Age of Beethoven, Princeton/NJ 2006, S. 113. Vgl. H. Danuser, Weltanschauungsmusik, Schliengen 2009, S. 254–264. 33 Vgl. J.C.E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy: Music and Emotions in Transatlantic Relations, 1850–1920, Chicago/IL 2009; S.O. Müller/L. Raphael (Hg.), Demarcation and Exchange: »National« Music in 19th Century Europe, in: Journal of Modern European History 5 (2007); P.V. Bohlman, The Music of European Nationalism. Cultural Identity and Modern History, Santa Barbara/CA 2004.

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den. In genau diesem Spannungsverhältnis wird die Attraktivität interkultureller Beziehungen als Analysegegenstände deutlich.34 Diese Wahrnehmungsformen müssen jedoch politisch vermittelt werden um gesellschaftliche Geltung zu erzielen. Erfolgreiche Politik benötigt deshalb Übertreibung. Herrscher und Beherrschte zeigen – unabhängig vom politischen System – gleichermaßen den Willen, eine Situation im Sinne der eigenen öffentlichen Darstellung zu definieren. Wer in der politischen Arena bestehen und ihre Interaktionsformen strukturieren will, muss im Rahmen der gesellschaftlichen Vorbedingungen handeln um sein Anliegen verständlich zu machen. Das Ziel dieser Vorgehensweise ist die Erlangung legitimer Macht durch ihre Darstellung. Theatersäle wurden gemäß bürgerlicher Visionen und Interessen üppig geschmückt während sich Rituale um die Besuche von Aufführungen herausbildeten, die dazu dienten, das etablierte kulturelle Erbe weiter zu festigen. Dies konnte nur mit Hilfe des ungebrochenen Optimismus und des unbedingten Willens sowohl der Herrscher als auch des Publikums gelingen.35 Die Handlungs- und Wahrnehmungsmuster des Konzertpublikums sind habituell über Dekaden entstanden und helfen, die gelungenen Auftritte der Berliner Philharmoniker im Zweiten Weltkrieg zu erklären. Weil ihre Konzerte dem Souverän die Ausübung von Macht ermöglichte, hatten sie politische Konsequenzen und können als eine Herrschaftsstrategie der Eliten betrachtet werden. Parallel hierzu konsumierte das Bürgertum weiterhin Kulturgüter gemäß seiner ästhetischen und sozialen Präferenzen – hauptsächlich ohne deren politische Tragweite und Implikationen wahrnehmen zu wollen. Die »Schönheit« einer musikalischen Aufführung machte die Invasoren und die Besetzten, die Künstler und das Publikum, zu Gefangenen ihres eigenen, ausgeklügelt durch Bildung angeeigneten, ästhetischen Paradigmas. Der gemeinsame Fokus auf die empfundene Schönheit der

34 Vgl. die Beiträge in S.O. Müller/J. Toelle (Hg.), Bühnen der Politik: Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008. 35 H. Münkler, Politik als Theater: Die Inszenierung der Politik nach den Vorgaben der Kunst, in: H. Danuser/H. Münkler (Hg.), Zukunftsbilder: Richard Wagners Revolution und ihre Folgen in Kunst und Politik, Berlin 2002, S. 274–286; H.G. Soeffner/D. Tänzler (Hg.), Figurative Politik: Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002; W. Lepenies, Kultur und Politik: Deutsche Geschichten, Wien 2006.

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Musik stellte alle Beteiligten in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Jeder, der den vorgegebenen ästhetischen Parametern musikalischer Kommunikation nicht folgte war leicht zu identifizieren und auszugrenzen. Das Wissen um Stile, Dirigenten und die Relevanz der Berliner Philharmoniker war eine Quelle der Macht. Es entschied darüber, wer zur gebildeten, sozial privilegierten Oberschicht gehörte – und wer nicht. Die Deutschen unterstützten politische Kontrolle mit Hilfe musikalischer Freuden. Das französische Publikum nahm am Musikleben aktiv teil und versuchte über die Dauer des Krieges kulturelle wie soziale Routine zu bewahren. Die Deutschen und die Franzosen, die Eroberer und die Eroberten, versuchten auf der einen Seite, durch die Aufführung von elitärer Kunstmusik, die politische Stabilität der nationalsozialistischen Herrschaft zu legitimieren und auf der anderen Seite den eigenen Sozialstatus und ästhetischen Genuss beizubehalten. Nur eine Minderheit der französischen Zuschauer dechiffrierte die Konzerte der Berliner Philharmoniker als nationalistische Strategie. Opernhäuser und Konzertsäle sind allerdings ein öffentlicher Raum potentiell gleichberechtigter Partizipation. Konzerte erlangten politisches Gewicht, weil in ihnen selbst die Repräsentanten des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Mitwirkung der französischen Gesellschaft angewiesen waren – das machte sie attraktiv. Die Inszenierungen musikalischer Werke durch den Staat und die parallelen Inszenierungen sozialer Hierarchien durch die Eliten beeinflussten durch mediale Berichterstattung ein breiteres Publikum und generierten so genau diejenigen Räume, in denen deutscher Nationalismus durch kulturelle Kommunikation entstand.36 Die sozialen Beziehungen im Musikleben wurden durch emotionale Erfahrungs- und Lernprozesse gefestigt. Öffentlich verfügbare Emotionen ermutigen Menschen leichter miteinander zu kommunizieren. Deshalb ist die Kommunikation im Musikleben dann besonders erfolgreich, wenn Gefühle sich öffentlich akzeptiert ausdrücken lassen, wenn positive Emotionen und mehrheitsfähige sichtbar werden. Die Teilnahme an Konzerten diente als Identifikationsmerkmal für Individuen gleichermaßen die »guten« Emotionen zeigten und über sozialen Status verfügten. Dies erlaubte

36 Vgl. Aster, Reichsorchester, S. 279–305; Applegate/Porter, National Identity; H. Danuser/H. Münkler (Hg.), Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Laaber 2000.

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den Initiierten zwischen der Elite Zugehörigen und nicht Zugehörigen zu unterscheiden. Die bekannten, affirmativen Emotionen genießen lernen bedeutete, das bürgerliche Ideal der Selbstdisziplin zu verinnerlichen und auszuleben.37 Deshalb ist es nicht überraschend, dass weder die deutschen noch die französischen Musikliebhaber ambitioniert versuchten, aus ihrem kulturellen Gefängnis auszubrechen und sich außerhalb der etablierten kulturellen Sphären zu bewegen – jenseits der gewünschten harmonischen Emotionen im Musikleben. Um diesen Umstand zu begreifen, ist es wichtig, das Verhalten von Künstlern, Konsumenten und Kritikern zu beobachten. Das Ziel wäre, die soziale Funktion dieser Unterhaltungsform zu erkennen und die Überzeugungen und Verhaltensweisen des Publikums zu analysieren. Letztendlich scheinen die meisten Hörer, die emotional im Musikleben beteiligt sind, wünschenswerte und fröhliche Emotionen zu erwarten. Beispiele dieser Erwartung und Verhaltensmuster liefern die zwei Konzerte der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Eugen Jochum in einer Pariser Fabrik im Jahre 1941. Es ist schwierig, mit letzter Sicherheit die Emotionen der Künstler zu erkennen – von denen des aus Arbeitern und Bürgern bestehenden Publikums ganz zu schweigen. Aber eine andere Quellengruppe mag hier hilfreich sein: Die Beschreibungen eines deutschen Künstlers in seinem Tagebuch und Ausführungen eines französischen Hörers in mehreren Briefen. Der deutsche Cellist Buchholz pries die fröhliche Atmosphäre bei der Aufführung und die Gastfreundschaft des Publikums. Über politische Aversionen berichtete er nichts.38 Aber wie hat das französische Publikum die Aufführung empfunden? Diese Frage ist schwer zu beantworten ohne weitere Analyse der Egodokumente aus dem privaten Fundus der Zuschauer. Nach dem heutigen Forschungsstand war es allerdings noch nicht möglich, einen entscheidenden Unterschied im Publikumsverhalten vor und nach 1940 auszumachen – weder in Bezug auf

37 Vgl. die wichtigen Beiträge zur Rolle der Emotionen in der Musikgeschichte in P.N. Juslin/J.A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion: Theory and Research, Oxford 2001; sowie A. Bradley, A Language of Emotion: What Music Does and How It Works, Bloomington/IN 2000; M. Budd, Music and the Emotions: The Philosophical Theories, London 1992; Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. 38 Vgl. Aster, Reichsorchester, S. 314–316; H. Sarkowicz (Hg.), Hitlers Künstler: Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2004.

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klassische Konzerte, deren Künstler oder das Repertoire. Die Schlussfolgerung, die aus diesem Befund zu ziehen sind lauten, dass die breite Mehrheit der Hörerschaft Konzerte besuchte, um eine subjektive, diffus als positiv empfundene physische wie emotionale Stimulation zu erfahren, die durch erlernte Repräsentationen von Emotionen, die in einem gegebenen sozialen Kontext geteilt werden, explizierbar wurden. Dieser Prozess ist es, der das Publikum durch soziale Praktiken formiert und auf diese Weise dazu führt, dass Beethovens Kompositionen von Hörern beider Länder kulturell und somit auch ästhetisch als »schön« erkannt wird – und nicht als Herrschaftsstrategie, die emotionalen Widerstand verdient. Als die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Hans Knappertsbusch am 12. Juni 1944 ein Konzert im Théâtre National abhielten, war es vollständig ausverkauft. Hunderte Zuhörer feierten die Aufführung frenetisch und verlangten nach Zugaben.39 Alternative Wahrnehmungsmuster lassen sich denken: Manche Gefühle können mit anderen kombiniert werden um eine Prädisposition zu verstärken. Vielleicht empfand das französische Publikum Neid als es die Berliner Philharmoniker im besetzten Paris sah. Neid verstärkte vielleicht das Ehrgefühl – und Ehrgefühl den Ärger. Auf der einen Seite haben wir ähnliche musikalische Erwartungshaltungen und harmonische Emotionen beim französischen Publikum. Auf der anderen Seite gibt es nur wenige Berichte über Störungen des Konzertbetriebs durch Zuschauer. Diesem Befund folgend erscheint es plausibel, dass die Mehrheit der Zuhörer weiterhin das klassische Repertoire genoss. Allerdings gab es einige Ausnahmen von der Regel. Besonders in Lyon und Marseille während des Vichy Regimes kam es zu sowohl organisierten als auch spontanen öffentlichen Akten des Widerstandes. Im Mai 1942 spielten die Berliner Philharmoniker eine symphonische Konzertreihe in diesen Städten. In Marseille versuchte das Publikum die Musiker durch konstantes, lautes Klatschen zu verärgern. Trotz strenger Polizeikontrollen in Lyon zeigen die Quellen, dass einige Zuschauer politische Flugblätter im Konzertsaal verteilten – außerdem wurde vor Ende des Konzerts von einigen Wenigen die Marseillaise angestimmt. Diejenigen, die einfach nur in

39 Vgl. Engel, Deutsche Kulturpolitik, S. 287f.; Stiftung Neuhardenberg, Das »Dritte Reich«.

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Ruhe zuhören wollten, fühlten sich durch Rufe wie »à bas les boches« davon abgehalten.40 Die Einwohner unter dem Vichy Regime sahen sich im Verhältnis zu Paris geringeren drakonischen Strafen ausgesetzt. Es kam nicht zur Anwendung von Gewalt gegen das Publikum. Bürgerliche Rebellen bevorzugten das persönliche Risiko dadurch zu minimieren, dass sie fremde kulturelle Praktiken aus der Ferne angriffen. Als Reaktion entschied Goebbels, die öffentlichen Aufführungen deutscher Künstler in Vichy Frankreich vorerst einzustellen.41 Was geschah mit den Berliner Philharmonikern nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes? Furtwängler durchlief seinen Entnazifizierungsprozess erfolgreich – als »Mitläufer« eingestuft. Nur eine Handvoll Musiker wurden gezwungen, das Orchester zu verlassen – einschließlich Kleber und Buchholz, die beide schnell neue Anstellungen in anderen Orchestern fanden. Der Intendant Gerhart von Westermann behielt seine Position wie schon im NS-Staat. Im Jahre 1954, nach Furtwänglers Tod, übernahm Karajan dessen Platz als Dirigent und leitete das Orchester 34 Jahre lang bis zu seinem eigenen Tod 1989, was die längste Periode eines Orchesters unter demselben Chefdirigenten auch im internationalen Vergleich darstellt.

 IV. S CHLUSSBEMERKUNGEN : EMOTIONALE K OMMUNIKATION Emotionen im Musikleben erleichterten die aggressive deutsche Kulturpolitik. Die emotionale Gemeinschaft des französischen elitären, bürgerlichen Publikums half ihnen dabei, ihre soziale Gemeinschaft, gemeinsam etablierte Gewohnheit, Geschmack und Künstler zu erhalten. Diese Rezeptions-

40 Vgl. Engel, Deutsche Kulturpolitik, S. 258–268. 41 Vgl. Bleyl, Musik, S. 40f. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges demonstrierten Musikfreunde auf der ganzen Welt gegen die politische Fehlentwicklung der Berliner Philharmoniker im Nationalsozialismus. Im Jahre 1955 beispielsweise versammelten sich Demonstranten in New York vor der Carnegie Hall und protestierten lautstark gegen ein Gastspiel dieses Orchesters in den USA.

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strategie erhöhte durch die emotionale Kontinuität im Musikleben die politische Stabilität in den Städten und Metropolen. Die Wirkmächtigkeit von Gefühlen ermöglichte öffentliche Kommunikation. Die emotionalen und kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den Deutschen und den Franzosen im Musikleben waren vermutlich größer als die Unterschiede. Zu einem gewissen Grad lassen sich daher ähnliche Musikgeschmäcker mit ähnlichen musikalischen Emotionen während des Zweiten Weltkriegs beobachten. Wichtig ist es, die Phänomene Krieg, Musik und Emotionen nicht zu trennen, sondern sie miteinander in Beziehung zu setzten. Kulturellen Beziehungen oder politische Probleme entstehen durch die Kommunikation der kollektiven Akteure. Menschen müssen Unterschiede zuerst kreieren, um von ihnen beeinflusst zu werden. Jedes kulturelle Phänomen, besonders die hochgeschätzte »ernste« Musik, kann so zum politischen Thema werden, falls die Rezipienten entscheiden es zu einem zu machen. Die meisten deutschen und französischen Hörer kauften Eintrittskarten für eine unpolitische Unterhaltung – das nationalsozialistische Regime tat das nicht, es hatte eine klar politische Agenda. Die Wirkungsreichweite emotionaler Kommunikation, d.h. die Partizipation der Veranstalter, der Musiker und des Publikums zwischen Deutschland und Frankreich abzuwägen fördert teils ernüchternde Resultate zu Tage – historisch wie moralisch. Die Eliten, Künstler, Journalisten und Hörerschaften beider Länder strebten musikalische Ähnlichkeiten an. Diese Kommunikation entwickelte sich nicht analog zum eskalierenden militärischen Konflikt, sondern war sein »harmonisches« Gegenstück. Das hochkulturelle Aufeinandertreffen beider Gesellschaften in der »ernsten« Musik half dabei, die politische Stabilität im besetzten Frankreich zu gewährleisten. Keine gefühlte Einigkeit hält auf Dauer. Jeder sucht nach der »echten« Kunst, der »echten« musikalischen Aufführung. Emotionen benötigen Zeit um als Praxis wirkmächtig zu werden – sie fallen nicht vom Himmel und entstehen auf irgendeine Weise an nur einem Abend. Die Konzerte der Berliner Philharmoniker und die emotionale Verhaltensweisen auf den Rängen blieben bemerkenswert ähnlich, sogar in Ländern mit sehr unterschiedlicher musikalischer Tradition. Vielleicht ist das Ergebnis dieses Arguments zu simpel: Wir finden ähnliche Konzertsäle, mit den gleichen Repertoires, ähnlichen Künstlern und sehr ähnlichen Zuhörern, die ähnliche Verhaltensweisen mit ähnlichen affirmativen Emotionen verbinden. Was

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sich nur selten entdecken lässt, sind Anzeichen für kulturelle Experimente oder emotionale Störungen: Das Ergebnis ist politische Partizipation ohne neue Emotionen. Die Konzerte der Berliner Philharmoniker in Deutschland und im Rest von Europa verdeutlichen den Grad, in dem Politik hier keine leicht abzugrenzende Kategorie ist, sondern das Objekt von Projektionen und Zuschreibungen. Durch beiderseitiges Verständnis entscheidet das Publikum in beiden Ländern, was politisch ist und was politisch wird. Deshalb können scheinbar unpolitische Kommunikationsakte der Künstler oder des Publikums leicht in hoch politische transformiert werden – der Konzertsaal wird so zum politisierten Kommunikationsraum. Dieses Phänomen eröffnet nicht nur eine neue Perspektive auf die vermeintlich getrennten Sphären der Kunst und der Politik, sondern lehrt, dass um die politische Dimension der Musik als Kunstform zu erkennen, Aufführungen sowohl als gewünschte politische Fakten als auch als kontroverse Ereignisse zu betrachten sind.

Denazifizierung mit Debussy Strategien französischer Musikpolitik im Nachkriegsdeutschland A NDREAS L INSENMANN

Im Januar 1946 formulierte der Leiter der in Baden-Baden residierenden Direction de LҲEducation Publique (DEP), Raymond Schmittlein1, einen 1

Raymond Schmittlein, 1904 in Roubaix geboren, kam aus einer aus dem Elsass stammenden Familie, die Großmutter väterlicherseits war gebürtige Mainzerin. Nachdem eine Verletzung die 1924 eingeschlagene Offizierslaufbahn, die Schmittlein zur Rheinarmee nach Wiesbaden sowie nach Marokko geführt hatte, beendete, knüpfte er an frühere theologische Studien an und studierte in Paris Medizin, Slawistik und Germanistik. In Vorbereitung auf die Agrégation d’Allemand unterrichtete er 1931/32 in Berlin, wo er auch seine spätere Frau, eine Deutsche, kennenlernte. Von 1934 bis 1938 wirkte er im Auftrag der Kulturabteilung des Pariser Außenministeriums als Lektor in Kaunas, sowie anschließend als Leiter des französischen Gymnasiums sowie des Institut français in Riga. Bei der Niederlage Frankreichs schloss er sich Charles de Gaulle und der Résistance an. 1944 war er an der Konzipierung von Bildungsreformen für das künftige Frankreich beteiligt. Nach seiner Tätigkeit in Deutschland wirkte der hoch gebildete Schmittlein, der auch eine Reihe linguistischer, literaturgeschichtlicher sowie historischer Studien publiziert hat, unter anderem als Minister im Kabinett von Pierre Mendès-France. (Vgl. C. Defrance, Raymond Schmittlein (1904–1974). Leben und Werk eines französischen Gründungsvaters der Universität Mainz, in: M. Kißener/H. Mathy (Hg.), Ut omnes unum sint

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Jahresplan für seine Behörde – eine Behörde, in deren Händen das gesamte öffentliche Bildungswesen in der französischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg lag und die wesentlich mit der rééducation, der Umerziehung der Deutschen, betraut war.2 Eine von drei Seiten dieses Papiers war den Beaux Arts, den Schönen Künsten gewidmet. Darin heißt es: »Eine wichtige Aufgabe fällt in dieser Sektion […] der rééducation zu, vor allem im Bereich der Literatur und der Musik. […] Es geht darum, den Deutschen jene ihrer Meisterwerke ins Bewusstsein zu rücken, die vom Ideal des Friedens, der Freiheit und des Weltbürgertums [Deutsch i. Orig.] inspiriert sind.« 1946, so Schmittlein weiter, werde man die Grundlagen dafür legen, »die nazistischen Wurzeln im geistigen deutschen Leben zu eliminieren«, und »ein neues Ideal« zu stiften, das die Deutschen wieder verbinden müsse »mit den westlichen und demokratischen Traditionen«.3 Rééducation, reeducation, «Umerziehung« war eines der zentralen Schlagwörter der Politik der Besatzungsmächte nach der deutschen Kapitulation von 1945. Mit der Entnazifizierung versuchten die Alliierten die Nazi-Ideologie justizförmig zu beseitigen, die reeducation sollte komplementär dazu als politisch-kulturelles Aufklärungsprogramm den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung vor Augen führen und Anhaltspunkte für ein Welt- und Menschenbild vermitteln, das – wie etwa Schmittlein dies ausführt –, ausgerichtet sein sollte auf Toleranz, Weltoffenheit und Demokratie.4 Nicht wenige Deutsche empfanden

(Teil 1). Gründungspersönlichkeiten der Johannes Gutenberg-Universität, Stuttgart 2005, S. 11–31; Dies., Raymond Schmittlein (1904–1974), ein Kulturmittler zwischen Deutschland und Frankreich? in: Der Intellektuelle und der Mandarin: für Hans Manfred Bock, Kassel 2005, S. 481–502). 2

Zur umfangreichen Literatur zur Arbeit der DEP s. zusammenfassend insbesondere C. Defrance, La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin 1945–1955, Strasbourg 1994 sowie S. Zauner, Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945–1949, München 1994.

3

Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche (AOFAA), AC 67/1, No. 1303/DGAA/EDU, Plan de travail pour 1946, signé Schmittlein, 10.1.1946, S. 3. Übersetzung, auch nachfolgend, durch den Verfasser.

4

Aus der umfangreichen Literatur zur amerikanischen und zur alliierten Umerziehungspolitik sei lediglich hingewiesen auf zwei umfassende und systematisch vertiefende Studien: K.-E. Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? Re-edu-

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dies indes als selbstherrliches Aufdrängen und waren kaum bereit, sich die Leitideen der Umerziehung in einem eilfertigen Umlernen zueigen zu machen. Propagiert hatten den Begriff re-education zunächst die Amerikaner – ausgehend von einer Debatte über Deutschland und die Deutschen,5 die zu der Einschätzung geführt hatte, der Nationalsozialismus sei als Resultat des deutschen Nationalcharakters zu verstehen und die Deutschen als Volk somit in ihren Verhaltensmaßstäben krankhaft deformiert.6 Die Franzosen machten sich den Terminus, dessen wörtliche Übersetzung »Umerziehung« zeitgenössisch häufig synonym mit »Demokratisierung« verwendet wurde, rasch zueigen und füllten ihn auf ihre eigene Art und Weise. Sie interpretierten die bald in etwas abgemildert klingender Diktion als re-orientation propagierte reeducation als Mandat dafür, Impulse zu geben und Strukturen für eine langfristige geistige Neuorientierung in Deutschland zu schaffen. Das taten sie unter anderem durch Bildungseinrichtungen – am prominentesten etwa durch die Wieder-Eröffnung der in napoleonischer Zeit aufgelösten Mainzer Universität im Mai 1946. Dass den Künsten in der französischen Umerziehungs- und Kulturpolitik eine besondere Rolle zukam, ist bereits gut beforscht. Akribisch aufge-

cation-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945–49, Düsseldorf 1970; K.-H. Füssl, Die Umerziehung der Deutschen. Jugend und Schule unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1945–1955, Paderborn 1994. 5

Initiierend v.a. R.M. Brickner, Is Germany Incurable? Philadelphia 1943. Zur amerikanischen Diskussion um die Re-education siehe u.a. F. Hentschke, Demokratisierung als Ziel der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland und Japan, 1943–1947, Berlin 2001, S. 86f.

6

Zur britischen Kontroverse über die Ursachen des Nationalsozialismus sowie daraus abzuleitender Schlussfolgerungen für die Nachkriegspolitik, in denen v.a. der langjährige leitende Beamte im Foreign Office und das spätere OberhausMitglied, Lord Robert Gilbert Vansittard, Prominenz erlangte, indem er mit rhetorischer Schärfe eine Kontinuitätsthese verfocht, wonach in der deutschen Geschichte eine Tendenz zu Militarismus, Imperialismus und radikalem Nationalismus zu erkennen und von einem pathologischen »deutschen Charakter« auszugehen sei, geprägt von autoritärem Denken, Gewaltverherrlichung und Brutalität, siehe maßgeblich J. Später, Vansittard. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göttingen 2003, insbesondere S. 443f.

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arbeitet sind neben der Rolle des Kinos7 die Theatergastspiele8 und eine Reihe viel beachteter Kunstausstellungen.9 Nur Fragmentarisches wusste man allerdings lange zur Musik. Die hier vertretene These lautet nun – wie bereits in den eingangs zitierten Passagen angedeutet –, dass erstens Raymond Schmittlein mit dem genannten Jahresplan die Weichen dafür stellte, dass der Musik in der französischen Kulturpolitik eine wichtige, phasenweise sogar herausgehobene Rolle zukam, dass er zweitens mit dieser Entscheidung nicht eigenem Ermessen sondern Überlegungen eines seiner Mitarbeiter folgte und dass, ausgehend davon, drittens die Franzosen in einer breit angelegten Propagandaanstrengung gerade mittels der Musik auf politisch wirksame Interpretationsmuster und Werthaltungen der Deutschen Einfluss nehmen wollten. Ziel war es, mit ästhetischen Mitteln systematisch die Mentalitäts- und Identitätskonstruktion der deutschen Bevölkerung zu verändern.10 Um dies hier darzulegen gilt es zunächst kurz auf den Ideengeber und prägenden Akteur der französischen Musikpolitik im Nachkriegsdeutschland einzugehen. Sodann sollen zugrunde liegende Konzepte analysiert und deren Relevanz diskutiert werden. Weiter sind Repertoirestrategien in den Blick zu nehmen und in den Kontext einer Gesamtbilanz der französischen

7

L. Thaisy, La politique cinématographique de la France occupée 1945–1949,

8

Dies., La place du Cinéma et du Théâtre dans la politique culturelle de la France

Villeneuve-d’Ascq 2006. en Allemagne occupée (1945–1949), Lille (Univ. Diss) 2002; dies., Les tournées théâtrales françaises en ZFO (1945–1949), in: Allemagne d’aujourd’hui, Nr. 151/Janvier–Mars 2000, S. 162–177. 9

M. Schieder, Expansion/Integration. Die Kunstausstellungen der französischen Besatzung im Nachkriegsdeutschland, München/Berlin 2003 sowie ders., Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen, Berlin 2005 (insbesondere S. 19–74); Zur französischen Ausstellungspolitik vgl. ferner: V. Séguéla, Les Exposition d’art moderne en Zone d’Occupation Française en Allemagne (1945–1950), in: G. Monnier/J. Vovelle (Hg.), Art sans frontières, Paris 1994, S. 175–181.

10 Siehe dazu umfassend: A. Linsenmann, Musik als politischer Faktor. Konzepte, Intentionen und Praxis französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949/50, Tübingen 2010.

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Musikpropaganda zu stellen, um abschließend Einordnungen und Bewertungen vorzustellen zu können.

I. P RÄGENDER A KTEUR In Schmittleins Kulturbehörde, die über eine Hierarchie bis auf die Ebene der Kreise verfügte, gab es einen eigenen Stab für die Bereiche Theater und Musik: das Bureau des Spectacles et de la Musique (BSM), das bis zu 26 Mitarbeiter zählte. Anspruch des Baden-Badener Stabes war es, in der französischen Zone für alles zuständig zu sein, »was die Bereiche Theater und Musik anbelangt«.11 Mit Blick auf das deutsche kulturelle Leben wurde ein doppelter Arbeitsauftrag definiert: Erstens die negativ-repressive Funktion, sämtliche kulturellen Aktivitäten und Institutionen auf deutscher Seite zu beaufsichtigen und zu zensieren – im Juli 1946 konstatiert der Generalverwalter der Besatzungszone, Emile Laffon, das BSM kontrolliere »praktisch alle deutschen künstlerischen Darbietungen«.12 Der zweite zentrale Aspekt bestand in einer Aufgabe der, wie man formulierte »positiven Propaganda«: die Planung und Durchführung französischer Theater-, Musiksowie Varieté- und Ballett-Tourneen. Ab Mai 1946 hatte ausschließlich das BSM die Befugnis, französische Künstler zu Gastspielen nach Deutschland zu bringen.13

11 AOFAA, AC 62/3: Note 2716/BSM/NG, L’Administrateur Thimonnier, Chef du Bureau des Spectacles et de la Musique à Monsieur le Directeur Général de l’Education Publique Schmittlein, Objet: Besoins en personnel, Baden-Baden, 12.7.1946, S. 1. 12 AOFAA, 62/1, Objet: Transfert des recettes afférentes aux tournées artistiques, Baden-Baden 10.7.1946, S. 1; S. ebenso: AOFAA, AC 528/5, No. 3767/DGAA/ EDU/BA/BSM/NG, Note sur la mission, les moyens d’action et les realisations du Bureau des Spectacles et de la Musique, Baden-Baden, 13.11.1946, S. 1. 13 AOFAA, 486/3, Décision No. 7 du Général de Corps d’Armée Koenig Commandant en Chef Français en Allemagne concernant l’organisation et le contrôle des spectacles dans la zone française d’occupation. Veröffentlicht im Journal Officiel du Commandement en Chef Français en Allemagne, No. 26, 15.6.1946.

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An der Spitze der Dienststelle stand bis Oktober 1950 Marie René Hilaire Thimonnier, den man als die prägende Gestalt der französischen Theaterund Musikpolitik im besetzten Nachkriegsdeutschland bezeichnen kann. So erschließt es sich aus den Akten und so sah es auch der französische Oberkommandierende in Deutschland, General Marie-Pierre Koenig, der Thimonnier 1949 als »die Seele« der künstlerischen Expansion Frankreichs in Deutschland bezeichnete.14 Thimonnier, 1900 in Poitiers geboren, war ein brillanter, vielseitiger Kopf. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, legte er einen enormen Bildungseifer an den Tag. Zwischen 1925 und 1934 erlangte er in Paris und Nancy Diplome und höhere Lehrerlaubnisse in Philosphie, Literatur und Musik. Dies, obwohl er währenddessen bereits als Lehrer tätig war. Hier eröffnet sich ein Zusammenhang, der Thimonnier später für eine Verwendung als Kulturoffizier in Deutschland besonders prädestiniert haben dürfte: Die erste Anstellung als Volksschullehrer übernahm Thimonnier von Oktober 1923 bis Oktober 1925 im Dienst der Hohen Interalliierten Kommission in den von alliierten Truppen besetzten Rheinlanden. In dieser Zeit wurzelt offenbar seine profunde Vertrautheit mit und seine Begeisterung für die deutsche Kultur, insbesondere die Musik. Auch der zweite Wirkungsort lag im Schnittfeld deutscher und französischer Einflüsse: Ab 1925 arbeitete Thimonnier als Lehrkraft in Anbindung an den Staatsbergbau im Saargebiet, das damals unter französischer Völkerbundverwaltung stand. 1935 wurde er nach Paris versetzt, wo er eine Position als Professeur des lettres annahm. Die Kriegsjahre erlebte er in deutscher Gefangenschaft. Nach der Befreiung zog es ihn jedoch wieder nach Deutschland, wo er sich als Kontrolloffizier verpflichten ließ und dabei bereits Erfahrung in der Kulturvermittlung vorweisen konnte, hatte er sich im Offizierslager im sauerländischen Soest doch im kulturellen Leben engagiert. Hinzu kommen jedoch auch künstlerische Fähigkeiten, denn Thimonnier hat komponiert. Zumindest zwei seiner Werke sind im Druck erschienen, darunter eine dreisätzige »Sonatine d‫ތ‬été« für Klavier und Violine, die 1948 der Mainzer Musikverlag B. SchottҲs Söhne herausgegeben hat. Ein

14 AOFAA, AAA 4402 personnel, Renseignements demandés par la Grande Chancellerie à l’appui de toute proposition pour la Légion d’Honneur faite par le Ministre des Affaires Etrangères, 14.1.1949, S. 2.

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erhellendes Licht auf das intellektuelle Format dieses Offiziers wirft freilich noch ein weiter Aspekt: Thimonnier beschäftigte sich mit sprachwissenschaftlichen Fragen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich veröffentlichte er eine Reihe von Arbeiten zur Systematik und Didaktik der französischen Orthographie, die als méthode Thimonnier Eingang in die Schulpraxis sowie in die Sprachwissenschaft gefunden haben.15 Für die Gesamtheit dieses Werkes zeichnete ihn 1971 die Académie française mit dem Prix Broquette-Gonin aus,16 1973 erhielt der Wissenschaftler, Pädagoge und Künstler darüber hinaus den Ordre National de Mérite.

II. K ONZEPTIONELLE G RUNDLAGEN René Thimonnier hat die französische Musikpolitik nicht nur praktisch gestaltet, er hat sie auch konzeptionell vorbereitet und theoretisch untermauert. In einem umfangreichen Grundsatzpapier17 analysiert Thimonnier bereits Anfang Juli 1945 psychologische Grundlagen einer französischen Musikpropaganda und leitet daraus das Konzept einer systematischen Umerziehung mit musikalischen Mitteln ab. Ziel sei es, »Vorurteile zu zerstören sowie den Massen wie den Eliten einige sorgfältig ausgewählte Leitthemen einzuschärfen«. Es gehe darum »Schritt für Schritt ein ganzes Volk, […] an neue Arten zu denken, zu fühlen und zu handeln heranzuführen«.18 Thimonniers Ausgangsprämisse lautet dabei, dass Musik für die Deutschen eine ganz herausragende Rolle spiele. Er verweist auf die »beeindru-

15 R. Thimonnier, Le système graphique; Ders., Code orthographique et grammatical, Paris 1970; Ders., Pour une pédagogie rénovée de l’orthographe, Paris 1974 ; Ders., L’orthographe raisonée. Mémento orthographique et grammatical, 11 Bde., Paris 1976–1978 ; Ders., Les trentes problèmes de l’orthographe, Paris 1967. 16 R. Thimonnier/J. Desmeurzes, Les 30 problèmes de l’orthographe, Paris 1979, S. IV. 17 AOFAA, AC 528/5, Centre d’Organisation du Gouvernement Militaire en Allemagne, Division Propagande-Information, Section Théâtre, Sous-Section musicale, Projet d’organisation et de propagande, Principes d’une propagande musicale française en Allemagne occupée, René Thimonnier, Paris 3.7.1945. 18 Ebd., S. 1.

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ckende Zahl« musikalischer Institutionen, auf die Breite der Musikpflege bis in die familiäre Sphäre hinein und schlussfolgert, nur in Deutschland habe »die Musik überall ihren Platz und ihre Rolle«, sie sei für die Deutschen »nicht eine schlichte Unterhaltung, sondern vielmehr ein vitales Bedürfnis«.19 Der Autor rekurriert auf Kunstreligion und Geniekult des 19. Jahrhunderts und kommt, ähnlich wie etwa Thomas Mann in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« zum Ergebnis, dass in Deutschland Musik einen ersten Platz im gesellschaftlich-künstlerischen Interesse der Nation einnehme.20 Er untermauert die These der exzeptionellen Bedeutung der Musik für die Deutschen mit Alltagsbeobachtungen, mit Analysen zur Mentalität und mit den Argumentationsfeldern der Ideengeschichte und der Philosophie. Der Musiker sei in der deutschen Rezeption der einzige, dem es gelinge, »das Wesen der Welt wirklich zu durchdringen«, er sei »der wirkliche Gelehrte und der wirkliche Poet«. Polemisch spitzt er diese Anschauung zu: »Verglichen mit Bach, Mozart und Beethoven ist Goethe, bei all seinem Genie, nur ein heidnischer Blinder«.21 Der Autor räumt ein, dass man diese Auffassung als »sperrig und obskur« ansehen könne, gleichwohl müsse man sie »als eine historische Tatsache akzeptieren«. Thimonnier stützt diesen Appell, indem er den deutschen Musikenthusiasmus in einem geistesgeschichtlichen Koordinatensystem herleitet: Ausgehend von Johann Sebastian Bach und Friedrich Schiller22

19 Principes (wie Anm. 17), S. 1. Unterstreichungen, auch nachfolgend, wie in der Quelle. 20 T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt/M. 2001, S. 315, S. 332. 21 Principes (wie Anm. 17), S. 3. Unterstreichungen wie im Original. 22 Schiller entwirft, angeregt durch Kants »Kritik der Urteilskraft« (1790) wie auch aufgrund seiner Enttäuschung über den Verlauf der französischen Revolution, in seinen auf das Jahr 1793 zurückgehenden Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« wenig systematisch jedoch mit großer humanistisch-idealistischer Verve eine Ästhetik, die welthistorischem Geschehen durch utopisches Denken beizukommen versucht. Das Konzept ist das einer ästhetischen Lösung, »weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert« (2. Brief). Im Rahmen eines Bildungsideals, das den Menschen über Geschmack und Schönheit zu Sittlichkeit (21. Brief), bzw. »zur Wahrheit und zur Pflicht« (23. Brief) und damit letztlich auch zu Urteilskraft und Moralität erziehen soll, beschreibt Schiller eine kulturoptimistische Wirkungsästhetik, in der er den

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habe die überhöhende Idee von Musik Georg Wilhelm Friedrich Hegel »inspiriert«, 23 bevor sie schließlich ihren »endgültigen Ausdruck« in der Philosophie Arthur Schopenhauers24 und in der Musik Richard Wagners25

Künsten eine enorme erzieherische Funktion zumisst. Die Rolle der Musik ist hierbei durch ihre »Affinität zu den Sinnen« (22. Brief) eine wichtige, wenngleich keine zentrale. Vgl. F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2005, S. 11, 82, 92, 87. 23 In seinen »Vorlesungen über die Ästhetik«, die er in Berlin in den Jahren 1823, 1826 und 1828/29 hielt, geht Hegel ausführlich auf die Musik ein und entwickelt, weniger musikalische Erfahrungen zugrunde legend als eine vorausgesetzte theoretische Systematik auch auf die Musik übertragend, eine Musikphilosophie, in der eine objektive Inhaltsästhetik in Spannungsverhältnis zu einem Begriffsfeld von Innerlichkeit, Subjektivität und Seele tritt. Diese Polarität wird unter anderem deutlich, wenn Hegel der Musik einerseits »elementarische Macht« auf den »Sitz der inneren Veränderung, das Herz und Gemüt« zuschreibt und als Beispiel etwa die Marseillaise anführt, deren suggestive, mobilisierende »Gewalt« während der Französischen Revolution zwar »nicht zu leugnen« sei. Die »eigentliche Begeisterung« aber finde ihren Grund »in der bestimmten Idee, in dem wahrhaften Interesse des Geistes, von welchem eine Nation erfüllt« sei und das durch die Musik »zur augenblicklich lebendigeren Empfindung« gehoben werden könne, »indem die Töne, der Rhythmus, die Melodie das […] Subjekt mit sich fortreißen«. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 3. Bd., Stuttgart 1964, S. 147, 151. 24 In Schopenhauers Kunstphilosophie nimmt die Musik, zu der er sich im Wesentlichen in § 52 des dritten Buchs des ersten Bandes von »Die Welt als Wille und Vorstellung« äußert, eine Sonderstellung ein. Begreift er die Künste an sich als Ideen im platonischen Sinne, geht die Musik in ihrer Bedeutung weit hierüber hinaus und wird in ihrer immateriellen, nicht-rationalen Struktur zu einem Abbild des für Schopenhauers Metaphysik axiomatischen Begriffs des »Willens«, unter dem er das innerste Wesen der Welt an sich versteht. Schopenhauer akzentuiert damit zudem den romantischen Geniebegriff, in dem der Künstler ein Organ darstellt, durch das hindurch dieses innerste Wesen der Welt sich äußert. Vgl. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, ungek. Ausg., Köln 1966. 25 Thimonnier nimmt die Musik Richard Wagners in erstaunlicher Weise in Schutz. Zwar räumt er ein, der »Wagnersche Zaubertrank« habe viele Deutsche

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gefunden habe. Solchermaßen als »Dogma der allgemeinen Bildung« akzeptiert, sei sie mehr oder weniger zum »Allgemeingut des kultivierten Bürgertums wie der Volksmassen« geworden. Problematisch sei diese Entwicklung freilich dadurch geworden, dass der idealtypisch verkürzte Deutsche, wie der Autor feststellt, »seine eigene Musik für jeder anderen überlegen« halte. Und damit gelangt er an einen Kernpunkt seiner Argumentation: »Wie könnte er da nicht überzeugt sein, einer auserwählten Rasse anzugehören?« Der postulierte enge Zusammenhang zwischen Hochschätzung der Musik – verbunden mit einem tendenziell chauvinistischen musikalischen Nationalstolz – und der Idee einer in letzter Konsequenz rassischen Vorrangstellung stellt ein Schlüsselargument in Thimonniers Analyse dar. Seine These lautet26: Die Überzeugung der Deutschen ein »überlegenes Volk« zu sein, gründe sich »zu großem Teil auf die Gewissheit, […] das einzige wirklich musikalische Volk zu sein«.27

»trunken gemacht« und mit zu dem »blutigen Abenteuer« der Entfesselung zweier Weltkriege beigetragen. Zugleich trennt er die Musik scharf von außermusikalischen und explizit ideologisch-politischen Implikationen. Wagner sei im negativen Sinne »germanisch« lediglich durch »seine obskure Philosophie, seine Vorliebe für barbarische Legenden, verschwommene Allegorien und seinen blindwütigen Drang nach Vorherrschaft«. In seiner Musik sei Wagner jedoch »Weltbürger« (Principes (wie Anm. 17), S. 6). Auch Raymond Schmittlein sah im Einfluss der Wagnerschen Musik und der damit verbundenen Deutungen ein Problem. Es sei notwendig, die Jugend von den »Wagnerschen Alpträume[n]«, die ihre Phantasie »vergiftet« hätten, zu befreien, erklärte er im Zusammenhang mit den Grundsätzen des Unterrichts an Gymnasien. Das WagnerProblem steht für ihn in einer Reihe von Faktoren, die »notwendigerweise Totalitarismus und Diktatur« hervorgebracht hätten: ein »von romantischen Schriftstellern und preußischen Militärs künstlich eingeredet[er]« Nationalismus, die »Philosophie des Übermenschen« und die »Verherrlichung heldischer Tugenden«. Zit. n.: Zauner, Erziehung, S. 146f. 26 Principes (wie Anm. 17), S. 7. 27 Einen solchen Kausalnexus zwischen vermeintlicher musikalischer und allgemeiner Überlegenheit hatte, ohne dass Thimonnier darauf Bezug nehmen würde, explizit auch Hitler behauptet. In seiner »große[n] Kulturrede« auf der Kulturtagung des Parteitags der NSDAP in Nürnberg am 7. September 1937 erklärte er, die »höchsten musikalischen Wunderwerke« seien nur »auserwählten […]

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Das Selbstbild musikalischer Überlegenheit hat für den Kulturoffizier das Denkmuster einer allgemeinen Überlegenheit vorgeformt, es war Bedingung wie Fundament dieser Ideologie. Das Feld der Musik dränge sich für die Zwecke der rééducation folglich geradezu auf. Denn: Wenn man die Deutschen dazu bringe, zuzugeben, dass die Musik kein »Monopol Deutschlands« sei, würde dadurch mit logischer Konsequenz »eine der grundlegenden Schichten der rassistischen und pangermanistischen Philosophie in sich zusammen stürzen«. Resultat wäre, so die Annahme, nicht nur eine Unterminierung der Überlegenheits-Ideologie sondern geradezu eine Umkehrung der identifikatorischen Effekte: »Eines der Kernargumente deutscher Propaganda« würde gegen sich selbst gewendet und damit »zu einer Waffe für die gegnerische Propaganda«.28 Die Musik wird gewissermaßen als wirkungsvoller Hebel erachtet, mit dessen Hilfe tragende Elemente des fatalen Selbstbilds der Deutschen aus den Angeln gehoben werden könnten. Hiervon ausgehend entwickelt Thimonnier ein Konzept, das auf nichts weniger abzielt, als »die ästhetischen Konzeptionen eines ganzen Volkes zu verändern«. Es lässt sich als Methodik einer musikalischen Umerziehung verstehen, die, um im pädagogischen Wortfeld zu bleiben, gewissermaßen zu einem Lernprozess führen sollte, von dem Thimonnier eine Modifikation von Rezeptions- und Perzeptionsmustern und damit einen substantiellen Beitrag zur Veränderung der deutschen Mentalität erhoffte.

Völkern« allgemein verständlich, da nur diese über Antennen für die Aufnahme dieser »feinsten Ausstrahlungen seelischer Empfindungen« verfügten. Mehr noch: »Die wahrhaft hohe künstlerische Leistung« sei »die seltenste begnadete Äußerung einer einem Volk geschenkten inneren Veranlagung oder besonderen Fähigkeit«. Sie sei »daher auch der schlagende Beweis für die einem Volke in die Wiege gelegte höhere Bestimmung«. Zit. nach: A. Hitler, Reden zur Kunst und Kulturpolitik 1933–1939, hrsg. u. kommentiert v. R. Eikmeyer, Frankfurt/ M. 2004, S. 147. 28 Beinahe wortgleich argumentiert Schmittlein in einem Schreiben vom November 1945, in dem er ausführt, Kulturpropaganda diene der Umerziehung der Deutschen, indem sie diese veranlasse, »die Idee einer kulturellen Überlegenheit« zu revidieren, die eine der leitenden Ideen der rassistischen Propaganda gewesen sei. Vgl. AOFAA, AC 62/1, No. 841/DGAA/EDU, Baden-Baden, 20.11.1945, S. 1.

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Sollte dabei zunächst in einer ersten Phase an Bekanntes angeknüpft werden, etwa mit Werken von Berlioz, Bizet, Gounod, und Honegger, so sollten in einer zweiten Phase Zuschreibungsmuster aufgebrochen werden. Der deutsche Musikhörer sollte an Werken, die er schätzt, das spezifisch Französische erkennen, an Berlioz etwa eine »Klarheit des Stils«, und somit in dieser zweiten Phase – man könnte hier von einem Lernziel im Umerziehungskonzept sprechen – die Fixierung auf das »eigene« Repertoire allmählich abbauen.29 Die dritte Phase ist die entscheidende. Hier sollte aufklärerisch die Inanspruchnahme musikalischer Meisterwerke als Beleg für nationale Überlegenheit aus den Angeln gehoben werden. Man müsse zeigen, dass das Werk großer Musiker aus Frankreich oder Deutschland etwas anderes widerspiegele als das »spezifische Genie einer Rasse«, sondern dass diesem Werk »eine sehr viel allgemeinere Tragweite und eine zutiefst humane Bedeutung« innewohne.30 Hier formuliert er ein flammendes Plädoyer gegen jedweden Musikchauvinismus. Dieser basiert für den Autor auf der Verkennung einer postulierten elementaren allgemein menschlichen und damit verbindenden Qualität von Musik. Überdies bedeute er ein Korsett der Vereinnahmung, in das man die Großen der Musikgeschichte gegen ihren Willen gezwängt habe: Die »größten Genies der Musik« hätten sich nahezu immer bemüht, »die zu engen Rahmen hinweg zu fegen, in die ihre Landsleute sie zwängen wollen«. Mehr oder weniger bewusst würden sie stets danach streben, »über die nationale Ebene hinaus zu wachsen, um zu einer Musik zu gelangen, in der jeder Mensch, welcher Nation er auch angehören mag, finden kann, was ihn anspricht«. Dies untermauert er beispielsweise mit italienischen und französischen Stileinflüssen bei Bach und mit dem Umstand, dass Beethoven die »Ode an die Freude« seiner 9. Sinfonie der gesamten Menschheit gewidmet habe.31 Ziel der vierten Phase musikalischer Umerziehung wäre schließlich die grundsätzliche Erweiterung des kulturellen Horizonts ohne Blickverengungen, Chauvinismen und Überlegenheitsdünkel. Wäre dies auf musikalischem Terrain erreicht, wäre dies für Thimonnier gleichbedeutend mit einer weit reichenden Veränderung des deutschen Mentalitätsgefüges. Thimonnier entwirft das Idealszenario einer deutschen Öffentlichkeit, die, nachdem

29 Principes (wie Anm. 17), S. 5. 30 Ebd., S. 5. Unterstreichungen wie im Original. 31 Ebd., S. 6.

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sie einmal mit den zunächst fremden ästhetischen Werten vertraut gemacht wurde, gerade aufgrund ihrer »Empfindsamkeit« und Musikalität »auch immer anspruchsvoller« werde und von sich aus das Bedürfnis entwickle, den musikalischen Horizont kontinuierlich zu erweitern.32 Die musikalische Umerziehung würde demnach nicht in einem bestimmten Status enden, sondern in eine Dynamik münden, wobei in der Erwartung des Autors die ästhetische Befreiung in unmittelbarer Wechselwirkung mit einer entsprechenden allgemeinen geistigen Entwicklung stünde.

III. R ELEVANZ Soweit die Theorie. Es drängt sich freilich die Frage auf, welche Aussagequalität und welche praktische Relevanz diesen Überlegungen zuzumessen ist. Ambitionierte Konzepte und hochfliegende Pläne waren damals ja keine Seltenheit. Zu dieser wichtigen Frage einige Anhaltspunkte: Erstens ist in den Quellen festzustellen, dass die Formulierungen Thimonniers eine hohe Verbindlichkeit hatten. Raymond Schmittlein und sogar die Spitzen der Besatzungsadministration beriefen sich auf diese Analysen und diese Argumentationskette.33 Dies konkretisierte sich zweitens dahingehend, dass sich Instruktionen an die Landesgouverneure zur allgemeinen Wiederzulassung kultureller Veranstaltungen im Dezember 1945 weitgehend auf Thimonniers Ausführungen stützten.34 Drittens wies – wie eingangs zitiert – Raymond Schmittlein in seinem Arbeitsplan für die DEP für das Jahr 1946 im Bereich der Schönen Künste der Musik zusammen mit der Literatur den ersten Platz in der Umerziehungspolitik zu. Dies entspricht exakt einer Forderung Thimonniers. Man könnte also sagen, dass seine Denkschrift einen Exposé-Charakter hatte und als Handlungsanleitung genommen wurde. Viertens verdient eine vertragsähnliche Regelung zwischen der DEP

32 Ebd., S. 6. 33 Dazu detailliert: Linsenmann (wie Anm. 10), S. 87f. 34 Archives Nationales (AN) F 21 5130, 3A, Instructions provisoires concernant la reprise des activités artistiques autorisées par l’administrateur général adjoint pour le gouvernement militaire de la zone française d’occupation à partir du 15 Octobre, 2.12.1945.

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und der Informationsabteilung vom Januar 1946 Beachtung. In diesem Schriftstück bestätigten die Direktoren beider Behören einen Vertrag über das Orchester des in Vorbereitung befindlichen Südwestfunks (SWF). Die Direktoren verpflichteten dabei den SWF im Hinblick auf das musikalische Programm auf eine »gemeinsame Politik«, »deren Prinzipien vom Leiter des Bureau des Spectacles et de la Musique definiert« und »vom Leiter der Section Radio« »bestätigt« worden seien.35 Fünftens sind die Konzertprogramme anzusprechen, die leider nur lückenhaft vorliegen. Sieht man sich die vorhandenen Programme an, lassen sich die skizzierten Phasen nicht ohne weiteres nachvollziehen. Gleichwohl ist belegbar, dass das BSM auf die Gestaltung der Konzertprogramme Einfluss genommen hat. Die Festlegung der musikalischen Inhalte oblag maßgeblich dem Baden-Badener BSM und namentlich dessen Leiter. Was die Differenzierung in Phasen angeht, ist relativierend anzumerken, dass man anfangs von einer weit längeren Besatzungszeit ausging. Die Rede war zunächst von Jahrzehnten. Und in ähnlichen Dimensionen dachte auch Thimonnier. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass dem Konzept einer Umerziehung mit musikalischen Mitteln eine hohe Relevanz zuzumessen ist.

IV. R EPERTOIREPOLITIK Das zeigt sich insbesondere, wenn man die Repertoirepolitik der »positiven Propaganda« näher in den Blick nimmt. Zum einen diente die Musikpropaganda dazu, deutschen Konzertbesuchern Meisterwerke der französischen Schule nahe zu bringen.36 Das Spektrum war dabei indes weit gespannt. Es

35 AOFAA, AC 490/7, No. 1398/DGAA/DEP bzw. No. 1404/DGAA/EDU, Convention, Baden-Baden, 28.1.1946. Namentlich bezog man sich auf »principes d’organisation et de propagande«, was darauf schließen lässt, dass man insbesondere die Principes (wie Anm. 17) zugrunde legte. 36 In einer Zwischenbilanz der Musikpropaganda bis Dezember 1946 heißt es, dem deutschen Publikum werde durch die französischen Tourneen Gelegenheit gegeben, »die Meisterwerke« der »größten Komponisten« Frankreichs kennenzulernen. Explizit ist dabei die Rede von Rameau, Berlioz, Franck, Debussy, Ravel und Roussel. AOFAA, AC 4617/DGAA/EDU/BA/BSM/NG, Activité du

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reichte vom gregorianischen Gesang bis zur in den 1940er Jahren erst im Entstehen begriffenen Musique concrète. Schwerpunkte lassen sich einerseits im von der Idee einer ars gallica inspirierten »modernen Klassizismus« des späten 19. Jahrhunderts feststellen, andererseits war auch Musik des 20. Jahrhunderts stark vertreten. Allein bis Januar 1948 verzeichnet die BSM-Bilanz im Kontext des SWF-Orchesters 40 Ur- oder deutsche Erstaufführungen37 – so etwa von Claude Debussys Martyre de Saint-Sébastian mit dem Chor des französischen Rundfunks am 10. und 11. November 1946 in Baden-Baden.38 Ein wichtiges weiteres Charakteristikum des ästhetischen Profils lässt sich anhand der Auflistung des Repertoires für die Tourneen vom Oktober 1946 bis Juli 1947 aufzeigen.39 Für diesen Zeitraum war die Aufführung von Werken folgender Komponisten vorgesehen: Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Georges Bizet, Jean-Baptiste Bréval, Frédéric Chopin, Emmanuel Chabrier, Claude Debussy, Jean Delannoy, Vincent d‫ތ‬Indy, Gabriel Fauré, Jean Françaix, César Franck, Christoph Willibald Gluck, Josef Haydn, Georg Friedrich Händel, Jean Hubeau, Jacques Ibert, Franz Liszt, Wolfgang Amadeus Mozart, Darius Milhaud, Françis Poulenc, Maurice Ravel, Albert Roussel, Robert Schumann, Igor Strawinsky, René Thimonnier, Antonio Vivaldi und Henryk Wieniawsky. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass für Komponisten nationale Zuordnungen häufig eine unzulängliche Kategorie darstellen, so finden sich doch eine Reihe von Namen, die der deutsch-österreichischen Musiktradition zugeordnet werden können. Dies verweist auf einen entscheidenden Punkt: Werke des deutsch-österreichischen Repertoires nah-

Bureau des Spectacles et de la Musique, 1.8.1945 au 31.12.1946, Baden-Baden 13.2.1947, S. 1. 37 AOFAA, AC, 521/4, No. 7317/DGAA/EDU/BA/BSM/NG, Activité du Bureau des Spectacles de 1945 à 1948, Baden-Baden, 13.1.1948, S. 6. 38 AOFAA, AC, 62/3, No. 3905/DGAA/EDU/BA/BSM/NG, Objet: Activité de Monsieur Cannac, Baden-Baden, 25.11.1946. 39 AOFAA, AC 486/7a, Calendrier des Spectacles. Période du 1er Janvier au 15 Juillet; AOFAA, AC 486/7a, Calendrier des Spectacles. Période du 1er Octobre au 31 Décembre 1946), AOFAA, AC 486/7a, Prévisions pour l’année 1946 – 1947, Programmes musicaux). Die Dokumente beinhalten nur vereinzelt Angaben über konkrete Werke.

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men in der französischen Musikpropaganda einen beträchtlichen Anteil ein.40 Man kann daher von einer Doppelstrategie sprechen: Sowohl das französische als auch das deutsch-österreichische Repertoire bildeten die tragenden Säulen der Konzertreihen des BSM. Dies hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens sah man bereits in den französischen Interpreten einen Propagandafaktor41. Die Presseresonanz lässt darauf schließen, dass dieses Kalkül nicht ins Leere ging. So schreibt etwa ein Rezensent der Stuttgarter Nachrichten anlässlich eines Konzerts des Loewenguth-Quartetts im Juni 1950 in Ludwigsburg: »Gestehen wir es ehrlich ein: ein Streichquartett von solcher Vollendung haben wir heute in Deutschland kaum.« Er rühmt »Eleganz, Klarheit des Aufbaus« und »subtilsten Klangsinn«, um sodann direkt den von Thimonnier als Ausgangspunkt seines Umerziehungskonzepts konstatierten deutschen Musikchauvinismus offen anzusprechen: »Für manche Hörer, die der Versuchung nationaler Verallgemeinerung (›deutsche Tiefe und französische Oberflächlichkeit‹) nicht widerstehen können«, schreibt er, »dürfte es aber eine Überraschung gewesen sein, mit welcher Verinnerlichung das Loewenguth-Quartett Beethoven spielte«. »Andachtsvoller« könne man »die ergreifende Cantilena des Opus 130« nicht spielen, »beethovenscher« die »weisheitsvolle Einsamkeit dieses Spätwerks« nicht ausdeuten. So sei

40 Das vermerkte anerkennend auch der Leiter der Abteilung Kunst im Staatssekretariat Kultus, Erziehung und Kunst von Württemberg-Hohenzollern in einem zusammenfassenden »Bericht über das Kultur- und Kunstleben in Südwürttemberg und Hohenzollern«, erstellt auf der Basis von Berichten aus den Städten und Kreisen. Dort heißt es im Abschnitt zur Musik, »eine grössere Anzahl hervorragender französischer Künstler« habe in Südwürttemberg konzertiert und in ihren Programmen stünden »die deutschen Klassiker und Romantiker an erster Stelle, vor allem Bach und Beethoven«. Daneben würden »moderne Komponisten wie Hindemith, der sehr lange nicht gespielt werden konnte und Ausländer wie Ravel, Debussy, Strawinski u.a. in steigendem Maße berücksichtigt«. Vgl. Staatsarchiv Sigmaringen (StaA Sigm.) Wü 80-T1, Bericht vom 25.10.1946, gez. Rosengarten, S. 6. 41 AOFAA, AC 67/1, [keine Nr.] DGAA/EDU/BA, Objet: Principes d’action culturelle, Baden-Baden, Février 1947, S. 6.

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»Beethoven, von französischen Künstlern interpretiert«, zum »Höhepunkt eines der schönsten Kammermusikabende seit langem« geworden.42 Zweitens und vor allem jedoch entsprach es dem Konzept: Um den Gewohnheiten des deutschen Publikums entgegen zu kommen, sollte in der Propaganda »der deutschen Musik« zunächst »der wesentliche Platz überlassen«43 werden, schreibt Thimonnier in seiner Denkschrift. Erst in der vierten Phase der Umerziehungs-Strategie sollten Konzerte ausschließlich mit Werken der französischen Schule eingeplant werden. Dann, so hoffte Thimonnier, würde sich etwa der »Zauber der debussyschen Kunst« dem deutschen Konzertbesucher gänzlich erschließen. Überdies deckte sich die Einbindung des deutsch-österreichischen Repertoires mit den eingangs zitierten Vorgaben Schmittleins. Das »neue Ideal« für die deutschen Konzertbesucher sollte sich auf Meisterwerke stützen, die man von einem Ideal des Friedens, der Freiheit und des Weltbürgertums getragen sah. Diese Inhalte an Musik präzise festzumachen ist alles andere als einfach und oft vielleicht gar nicht wirklich stichhaltig möglich. Man behalf sich mit einer zeitlichen Eingrenzung: Als positive Referenz galt vor allem die Zeitspanne von der französischen Revolution bis zum Jahr 184844, wobei implizit die vorausgehende Klassik als des Nationalen eher unverdächtig und insofern ebenfalls als akzeptabel galt.

V. G ESAMTBILANZ Bis 1950 organisierte das BSM bis zu 2.500 Konzerte, an denen 33 verschiedene französische Orchester, Chöre, Kammermusikensembles, JazzFormationen sowie 42 Instrumental- und Vokalsolisten mitwirkten. Mit diesem teils als geradezu inflationär charakterisierten45 ungemein breiten Angebot erreichte man insgesamt etwa zwei Millionen Konzert- und Thea-

42 AOFAA, AC 534/5, Stuttgarter Nachrichten, 3.6.1950, Ein Meisterquartett, Das Loewenguth-Quartett in Ludwigsburg. 43 Principes (wie Anm. 17), S. 10. 44 AOFAA, AC 67/1, No. 1303/DGAA/EDU, Plan de travail pour 1946, signé Schmittlein, 10.1.1946, S. 3. 45 AOFAA, AC 62/3, Reorganisation des Services des Spectacles, Baden-Baden, 1.3.1949, S. 5.

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terbesucher, wobei der Anteil der Deutschen bei Konzerten mit 92 Prozent eine außerordentlich hohe Quote erzielte.46 Bis 1947 nahmen Varietés im Tournee-Programm, das im selben Jahr auch auf große Städte der britischen und amerikanischen Zone ausgedehnt wurde, einen nicht geringen Anteil ein – vor allem Revuen, die unter Titeln wie Cocktail du Rythme oder Un peu de Paris leichte Unterhaltung boten. Dergleichen war beim Publikum beliebt und finanziell erfolgreich, in der Kulturbehörde allerdings umstritten, meinte man doch, solch triviale Zerstreuung diene nicht dem Ansehen Frankreichs. Nach anderthalben Jahren wurde dieser Teil des Tournee-Angebots daher auch beendet. Obwohl es zwischen Varietés und Musik stets eine strikte Trennlinie gab, kann man einige Gastspiele aus dieser Sparte jedoch der Musikrubrik zurechnen, so Tourneen mehrerer französischer Jazz-Orchester, die, wie auch Auftritte von Chanson-Stars wie Yves Montand und Edith Piaf auf geradezu enthusiastische Resonanz stießen. Das Publikum, hieß es etwa in einem Bericht zu einer Tournee von Edith Piaf und der Compagnons de la Chanson im Oktober 1945, dränge sich förmlich zu Veranstaltungen dieser Art und bezahle »egal was man verlangt« – sei es, weil es durch einen Star angezogen werde, sei es, weil es fest davon ausgehe, dass »man sich vergnügen« könne. Die Karten für die Piaf-Konzerte waren auf exorbitante 30 Reichsmark festgesetzt worden47 und wurden dennoch »innerhalb eines halben Tages« verkauft.48 Aber auch für klassische Musik konnte sich das Publikum begeistern. Ein besonders sprechendes Beispiel dafür, dass die französische Musikpropaganda durchaus auf Offenheit für neue geistig-ästhetische Impulse stieß und das von Thimonnier formulierte Ziel einer musikalischen Horizonterweiterung nicht gänzlich Wunschdenken entsprang, gibt ein Bericht des

46 AOFAA, AC 67/1, 10443/CCSG/EDU, Documentation générale concernant l’oeuvre accomplie en Z.F.O. de 1945 à 1949 par la Division Education Publique, Baden-Baden, 24.6.1949. 47 Im März 1947 betrug der durchschnittliche Preis für eine Eintrittskarte bei einer französischen Kulturveranstaltung in Deutschland 2,50 Reichsmark. 48 AOFAA, AC 62/1, No. 841/DGAA/EDU, Baden-Baden, 20.11.1945, S. 2.

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Kreisdelegierten von St. Wendel.49 Dort war am 29. Januar 1946 das Calvet-Quartett aufgetreten und der Kreisdelegierte berichtete hochgestimmt, dieses Ereignis habe »wirkliche Begeisterung« hervorgerufen. Überall in der Bevölkerung sei man hellauf begeistert. Nicht nur die Ausführung sei als »unvergleichlich« befunden worden. Gerade die Wahl der Stücke sei »außerordentlich glücklich« gewesen. »Die Saarländer kennen natürlich Mozart und Beethoven sehr gut«, schreibt er. Wenn sie auf ein Quartett von Ravel auch zunächst zurückhaltend reagiert hätten, »wie bei jedem neuen Stück«, so habe das Werk sie doch schließlich »erobert« und sie hätten es für eine »sehr schöne Sache« befunden. Viele Leute würden nun auf ihn einreden, das Calvet-Quartett müsse baldmöglichst wieder in St. Wendel gastieren. Man dürste förmlich nach solcher Musik, fasst der Berichterstatter zusammen.50 Eine solche Resonanz war jedoch nicht die Regel und die Reichweite der klassischen Darbietungen insgesamt beschränkt. Ensembles wie das Calvet-Quartett bildeten das Rückgrat der Musikpropaganda. Zwar gab es einzelne Operetten- und Opernaufführungen, etwa von Debussys Pélléas et Mélisande und auch große Ensembles wie das Orchester des Pariser Conservatoire (Cadets du Conservatoire), die Musique de la Garde Republicaine oder das Orchestre de la Radiodiffusion unternahmen Tourneen in Deutschland. Auch gastierten Chöre wie der Chor des französischen Rundfunks, der Choral Marcel Couraud, der Chorale de la Cathédrale de Strasbourg, und die Petits Chanteurs à la Croix de Bois, die hier oft unter »Pariser Sängerknaben« firmierten. Das Gros der Konzerte bestritten indes Solisten und Kammermusikensembles. Gerade bei den kleinen Besetzungen bot man jedoch oft Formationen von internationalem Renommee auf, wie das Pierre Jamet-Quintett, das Pasquier-Quintett oder das Loewenguth-Quartett. Aber auch bei den Virtuosen konnte man viele zur ›ersten Garde‹ rechnen, darunter Pianisten wie Monique Haas, Monique de la Bruchollerie, Jacques Février oder Jean Doyen, Cellisten wie Paul Tortelier, Pierre Fournier und Andre Navarra, Violinisten wie Henri Merckel und Jacques Thibaud, aber auch die Sopranistin Ninon Vallin, die Harfinistin France Vernillat oder den Flötisten Jean-Pierre Rampal.

49 AOFAA, AC 509/1, No. 1198/M, Gouvernement Militaire de la Sarre, Cercle de St. Wendel, Le Capitaine Simonot, Délégué du Cercle à Monsieur le Colonel, Gouverneur de la Sarre, Beaux-Arts, St. Wendel, 1.2.1946. 50 Ebd.

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Und unter den Dirigenten, die unter Vermittlung des BSM mit dem BadenBadener Südwestfunk-Orchester arbeiteten, finden sich Namen wie Hans Schmid, Günther Wand, Heinrich Holreiser, Paul Sacher, Werner Egk, Hans Rosbaud, Bertil Wezelsberger, Henri Tomasi, Roger Desormière, Ernest Bour sowie Bela von Czilery.51

VI. E INORDNUNGEN

UND

B EWERTUNGEN

Wie lässt sich die französische Musikpropaganda im Nachkriegsdeutschland nun einordnen und bewerten? Zweifellos war die Musikpropaganda mit getragen von einem traditionellen französischen Sendungsbewusstsein. Bereits im Grundlagendokument wirft Thimonnier in die Waagschale, Frankreich müsse »seiner zivilisatorischen Mission« treu bleiben.52 Überdies sind auch handfeste Interessen nicht zu verkennen, etwa das nach verstärkter Verbreitung des französischen Repertoires in Deutschland sowie musikwirtschaftlichem Nutzen. Darüber hinaus lassen sich jedoch eine Reihe von Funktionen und Intentionen erkennen und thesenhaft abstrahieren. Zu nennen ist hier insbesondere das Motiv der Prestigesteigerung, das als ein zentraler Beweggrund des französischen kulturellen Engagements überhaupt identifiziert werden kann. Kulturveranstaltungen wurden demnach als Instrument betrachtet, mit dem das kulturelle und mittelbar auch allgemeine Ansehen Frankreichs gestärkt werden konnte. Ziel war es, ein, wie in Anlehnung an den Kultursoziologen Pierre Bourdieu formuliert werden kann, »symbolisches Kapital« zu generieren und zu mehren – einen Apparat von Zuschreibungen zu beeinflussen, der mit Begriffen wie Prestige, Renommee und Reputation umschrieben werden kann.53

51 Ministère des Affaires Etrangères (MAE), Archives diplomatiques, RC 82, No. 9677/CC/INF/SPECT/RT/GM, Rapport mensuel pour la période du 20 septembre au 20 octobre 1948, 27.10.1948, S. S. 1. AOFAA, AC, 521/4, No. 7317/DGAA/EDU/BA/BSM/NG, Activité du Bureau des Spectacles de 1945 à 1948, Baden-Baden, 13.1.1948, S. 5f. 52 Principes (wie Anm. 17), S. 8. 53 Zur Bedeutung des Prestiges in der internationalen Politik siehe u.a. R. Gilpin, War and Change in World Politics, Cambridge 1981, S. 30f.

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Wesentlich war aber auch eine Legitimationsfunktion: Das kulturelle Engagement gehörte zu dem komplexen Apparat an expliziten und impliziten Begründungen, mit denen Frankreichs Rolle als Besatzungsmacht gerechtfertigt und gestützt wurde – sowohl gegenüber der deutschen Bevölkerung als auch gegenüber den anderen Besatzungsmächten und in innerfranzösischen Diskursen. Ferner steht außer Frage, dass Kulturveranstaltungen stets auch der Repräsentation dienen – im Sinne der Darstellung, Inszenierung und Aurasteigerung. Gerade Musik eignet sich aufgrund ihres suggestiven Potenzials sowie ihrer häufigen relativen Deutungsoffenheit hierfür besonders und Musik wurde von der Besatzungsmacht Frankreich auch hierfür genutzt. Nicht zuletzt kann auch von einer Einflussfunktion gesprochen werden. Kulturelle Strahlkraft wurde als ein Mittel verstanden, Einfluss in einem ganz allgemeinpolitischen Sinne zu erlangen beziehungsweise auszubauen. Durch Kultur erworbenes »symbolisches Kapital« sollte in politisches Kapital überführt werden und gewissermaßen zur Akkumulation politischer Bonität beitragen. Erkennbar wird diese Intention etwa, wenn im Mai 1949 postuliert wird, durch die Kulturpropaganda sei in der französischen Besatzungszone eine neue französische »Einflusszone« entstanden.54 Die Kulturpropaganda lediglich unter diesen Gesichtspunkten erklären zu wollen, griffe allerdings zu kurz. Gewiss sind diese Punkte zu gewichten; gewiss deuten sich auch Motive an wie ein Ringen um Anerkennung, latente Minderwertigkeitskomplexe und der Versuch, französischer Musik auf dem deutschen Musikmarkt mehr Gewicht zu verschaffen; und zweifellos lässt sich die Kulturpropaganda nicht aus dem Kontext einer Besatzungspolitik herauslösen, die von zuweilen harschem Auftreten und einer harten Entnahmepolitik geprägt war. Ein Mangel an Brot und Kartoffeln einerseits und ein Überfluss an Kultur andererseits – das erschien in den Augen vieler Zeitgenossen doch als befremdlicher Widerspruch.55

54 AN – F 21 5130, 3 L, Note No. 2331/CC/INF/SPECT/RT/GM, Note à l’attention de MM. les membres de la Commission interministerielle, BadenBaden, 27.5.1949, S. 2. 55 Zur Problematik des Auseinanderklaffens zwischen unzureichender Versorgungslage und Alltagsnöten einerseits, sowie einem üppigen kulturellen Angebot andererseits siehe auch: E. Wolfrum, »Zeit der schönen Not« – Kultur als Umerziehung und Trostspenderin, in: ders. u.a. (Hg.), Krisenjahre und Auf-

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Aber bei der Bewertung der französischen Nachkriegs-Kulturpolitik muss wesentlich auch der Umerziehungs-Impetus gesehen werden – das Bestreben, enge, selbstbezogene kulturelle Muster zu dekonstruieren sowie Angebote für eine Horizonterweiterung und eine emotionale Annäherung an Frankreich zu machen. Bei der Musik lässt sich dies klar als Ausgangspunkt und zentrales Movens belegen.

bruchszeit. Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945–1949, München 1996, S. 203–212.

II. Bedrohte Musik – Bedrohung Musik

Einführung C LAUDIUS T ORP

Die folgenden Beiträge widmen sich der Musik unter nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft. Angesichts der Tatsache, dass die Musikwissenschaft erst spät, wie die meisten anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen in den neunziger Jahren, auf breiterer Front begonnen hat, ihre braune Vergangenheit aufzuarbeiten, verwundert es nicht, dass sich die Forschungslage zu diesem Themenkomplex noch rudimentär ausnimmt.1 Dass die weitere Arbeit daran anspruchsvoll sein wird, weil sie transnationale und komparative Studien in größerer Zahl sowie den grenzüberschreitenden historiographischen Dialog verlangt, deuten die hier versammelten Studien bereits an. Mehr noch: Sie liefern, neben aufschlussreichen empirischen Befunden zu den Grundzügen der nationalsozialistischen Musikpolitik im Besatzungsregime – vor allem auf polnischem Territorium – sowie zur Musikpraxis in den Konzentrationslagern, darüber hinaus Perspektiven und methodische Anregungen für die weitere Forschung. Einige übergreifende Beobachtungen, die von der Lektüre dieser Beiträge inspiriert sind, lassen sich im Vorgriff herausfiltern, um das Erkenntnispotenzial zu umreißen, das in der Beschäftigung mit den kulturellen Bedingungen des im Zweiten Weltkrieg von Deutschen besetzten Europas liegt.

1

Vgl. nur P.M. Potter, Musikwissenschaft und Nationalsozialismus. Der Stand der Debatte, in: H. Lehmann/O.G. Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren, Göttingen 2004, S. 129– 144; L.M. Koldau, Musik im Nationalsozialismus, in: W. Faulstich (Hg.), Die Kultur der 30er und 40er Jahre, München 2009, S. 209–232.

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Zunächst ist daran zu erinnern, dass zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaftspraxis unterschieden werden muss – nicht um eine grundsätzliche Differenz zwischen beiden zu postulieren, sondern um je nach zeitlicher und räumlicher Verortung im Kriegsverlauf und akteursbedingter Konstellation die wechselseitigen Bezüge zu verdeutlichen. Ideologische Konstanten trafen auf veränderliche musikpolitische Strategien. Wie festgezurrt und im hermetischen Weltbild des völkischen Nationalismus verankert die ideologischen Leitlinien bereits vor der »Machtergreifung« gewesen sind, zeigt das Rundfunkduell zwischen Joseph Goebbels und Erwin Piscator, das 1930 im Berliner Rundfunk zum Thema »Nationale oder internationale Kunst« veranstaltet wurde. Goebbels überrollte den führenden sozialistischen Theatermacher der Weimarer Republik geradezu mit einem metaphysischen Sermon über die »völkische Gebundenheit« jedes Kunstwerks. Sie wurzele nicht etwa im Sprachlichen, sondern in der Person des Künstlers selbst, der als Angehöriger einer Nation immer zugleich die »Summe aller organischen Fähigkeiten eines Volkes« verkörpere. Piscators Einwand, zahlreiche Werke würden international rezipiert und besäßen universelle Bedeutung, konnte Goebbels nicht gelten lassen: Die »Meistersinger« beispielsweise, die in Musik, Text und Weltanschauung »das Deutsche vom Deutschen« seien, hätten nur deshalb internationalen Erfolg, weil hier »der Deutsche zu so einer vollendeten Tatsache geworden [sei], dass es [sic!] auch über nationale Grenzen hinweg anerkannt, verehrt und bewundert werden kann.«2 Schon an diesen Äußerungen war abzulesen, dass die NS-Kulturpolitik zum einen ihren Angelpunkt in der nationalen Zugehörigkeit der Künstler suchen würde, zum anderen den Kulturtransfer nur als Einbahnstraße und Ausfluss des völkisch-deutschen Kulturnationalismus konzipierte. Und doch kam es vor, dass die Besatzungspolitik von den ideologischen Vorgaben abwich. Das mochte einmal von den individuellen Vorlieben der selbstherrlichen Verwaltungsstäbe abhängen. So konnte etwa der Gauleiter Wilhelm Kube, Generalkommissar von Weißruthenien, es riskieren, die Werke der deutsch-jüdischen Komponisten Mendelssohn Bartholdy und Offenbach zu verteidigen. Kube, selbst überzeugter Antisemit, hatte gegen-

2

Das Rundfunkduell in einem hörenswerten reenactment durch Frank Castorf und Gregor Gysi ist zugänglich unter: http://www.bildton-volksbuehne.de/gregorgysi-frank-castorf-im-radioduell (Zugriff 29.3.2012).

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über seinen Mitarbeitern allerdings Mühe, ästhetische durch rassistische Argumente zu beglaubigen: »Es stehe einwandfrei fest, dass die Juden Kunst hätten. Diese rühre von den 6% nordischen Blutsanteil her, die die Juden hätten, evtl. auch von den westischen und romanischen Einflüssen.«3 Auch wenn er zum persönlichen Vorteil die Spielräume nutzte, die ihm seine Position gewährte, hielt sich Kube an die Grenzen des Sagbaren. In anderen Fällen reflektierte ein Wandel in der Reglementierung der Musik das vom Kriegsgeschehen abhängige machtpolitische Kalkül. Nur so ist zu erklären, warum in Polen nach der militärischen Wende im Ostfeldzug ein laxerer Umgang mit klassischer Musik und Konzerten eingeschlagen wurde, während bis 1941/42 eine rigorose Unterdrückung jeder für die polnische Bevölkerung öffentlich verfügbaren Kunstmusik stattgefunden hatte. In diesem Zusammenhang weist Katarzyna Naliwajek-Mazurek unter anderem darauf hin, dass deutsche Soldaten zunächst die Chopin-Denkmäler zerstörten, später aber ein Chopin-Museum in Krakau als propagandistischer Ausdruck deutschen Kulturwillens eröffnet wurde. Die ideologischen Leitlinien prägten mithin die Kulturpolitik, determinierten sie aber nicht in allen Ausprägungen und Phasen gleichermaßen. Ob auch in anderen Ländern als in Polen die Grenzen des kulturpolitisch Machbaren sich sukzessive von den Vorgaben der reinen Lehre des völkisch-rassistischen Nationalismus lösten und einem flexibleren, auf Machterhalt und Ausbeutung gerichteten Regime gehorchten, bleibt abzuwarten. Auf der Ebene der konkreten Besatzungspolitik ist sodann festzuhalten, dass die soziale Funktionalität der Musik ausgesprochen vielfältig und von den konkreten Umständen ihrer Performanz abhängig gewesen ist. Die eine Seite des Spektrums der möglichen Indienstnahmen markiert Hanns-Werner Heisters Diagnose, dass das Musikleben unter der Besatzung entscheidend dazu beitrug, die »Illusion der Normalität« zu vermitteln. Auf der anderen Seite gilt für die Parallelgesellschaft der Konzentrationslager, was Juliane Brauer für Auschwitz-Birkenau herausgearbeitet hat: dass dort die vertraute Musik gewaltsam in die neuen Rituale des Tötens und der Disziplinierung gezwungen wurde und damit ihre emotionale Qualität grundlegend veränderte, nur noch in Ausnahmefällen Trost zu spenden vermochte und überwiegend als ein weiteres Instrument der Erniedrigung erschien.

3

Aus den Akten des Gauleiters Kube, bearb. von H. Heiber, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4 (1956), S. 67–92, S. 90.

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Die Differenz zwischen diesen beiden Formen der Stimmungslenkung durch Musik enthüllt ein Lehrstück an Herrschaftssoziologie: Wo die Aufrechterhaltung komplexer ökonomischer Austauschbeziehungen im Interesse der Machthaber lag, waren diese auf ein Mindestmaß an Folgebereitschaft angewiesen, was der kulturellen Enteignung und emotionalen Überwältigung eine letzte, wenn auch weit gezogene Grenze setzte. Eine solche Grenze existierte in Auschwitz nicht, wo die Herrschaft auf roher körperlicher Gewalt ruhte und damit frei war, auch alle anderen Arten der psychischen Unterwerfung durchzuexerzieren. Ferner wird an diesen Beispielen deutlich, dass weniger die Musik selbst als vielmehr ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen für die Besatzungsgeschichte von Belang sind. Das betrifft nicht nur die Beutezüge des Rosenbergschen »Sonderstabs Musik«, denen Instrumente, Partituren und Literatur zum Opfer fielen,4 sondern auch das Verbot von Konzerten, die Schließung von Konservatorien, Orchestern und Radiosendern sowie die Veränderung der Programme nach den Zensurbestimmungen. Was das aus der Sicht der Besetzten gerade auch emotional bedeutete, darüber wissen wir noch zu wenig und entschiedener als bislang sollte zukünftig dort, wo die Quellen es zulassen, auf die Hörerlebnisse in den besetzten Gebieten fokussiert werden – nur auf diese Weise wird langfristig zu beantworten sein, ob das Musikleben unter deutscher Besatzung eher eine Ressource von Widerstand oder von Folgsamkeit darstellte. Im Hinblick auf die nach rassistischen Kriterien verfahrende Zensur und die Haltung der von der Überlegenheit deutscher Musik überzeugten Exekutoren ist eine andere Schlussfolgerung angebracht. Die Beurteilung der Musik nach dem vollkommen sachfremden Merkmal der rassenbiologischen Zugehörigkeit von Musikern und Komponisten fügte sich in die Inund Exklusionspraktiken der Volksgemeinschaft. Deutsche und »Fremdvölkische« sollten sich für alle wahrnehmbar nicht zuletzt durch die ihnen als Musikschaffende wie Hörer zugängliche Musik unterscheiden. Die nationalsozialistische Zensur hatte zudem für die Binnenintegration und Sinnstiftung der Anhänger einen großen Vorteil: Im wesentlichen war sie auch von beschränkten Subalternen problemlos durchführbar, da die antisemitische Brille die listenförmige und personenbezogene Exklusion – etwa

4

Vgl. hierzu W. de Vries, Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940–45, Köln 1998.

EINFÜHRUNG | 157

nach dem simplen Abgleich mit dem »Lexikon der Juden in der Musik« – verlangte. Zum Vergleich: In der Weimarer Republik waren die bildungsbürgerlich motivierten Zensurbehörden niemals um eine werkbezogene Qualitätsdiskussion herumgekommen. Das hatte den Effekt, dass der liberale Ausgleich der Interessen schließlich unter den Vorkämpfern der Zensur in Weimar überwiegend Frustration verbreitete. Der NS-Staat erschien dagegen handlungsfähig, weil er den ästhetischen Debatten auswich. Auch wenn seine Wurzeln ins 19. Jahrhundert zurückreichen, hatte sich der Anspruch auf deutsche kulturelle Hegemonie, der in der musikpolitischen Reglementierung der Nationalsozialisten zum Ausdruck kam, erst im völkischen Weltbild gegen äußere Herausforderungen derart verkapselt, dass er weder vom anhaltenden Siegeszug des massenmedialen Konsums noch von der kulturellen Begegnung während der Besatzungsherrschaft zu irritieren war.

Zwischen Anheizen und Ablenken Zu Wirkungen und Funktionen von Musik in der nazistischen Besatzungspolitik H ANNS -W ERNER H EISTER

Vorweg und durchweg ist immer wieder zu fragen: Was kann Musik überhaupt leisten? (Musik, das heißt konkret die mit ihr befassten Menschen und die mit ihr verbundenen Tätigkeiten.) Mit Musik und ihrer Realisierung werden emotive und kognitive, politische und soziale, schließlich auch reale und symbolische Räume (Marsfeld Paris, Krakauer Burg, das Nationale) besetzt und gefüllt. Die Wirksamkeit von Musik wird in der Regel gern überschätzt – auch das ist wohl schon ein Stück Verschleierung und Ablenkung von wirklichen, materiellen Interessen: wie in der gesellschaftlichen Praxis, so in deren Analyse. Einen hohen Stellenwert hat sie tatsächlich für Befindlichkeiten, Stimmungen usw. für, aber auch gegen den Nazismus. Dazu zählen auch nationale »Identitäten« durch und als »Emotionen«. Die wiederum haben speziell gegen Besatzungen aller Art, zumal gegen hemmungslos terroristischen Nazismus durchaus ihr eigenes Recht und historisch-politisch damals in mancher Hinsicht relativ progressiven Sinn, allerdings nicht an sich und nicht in jedem Fall. Dadurch wie generell in ihrer Dialektik von Einverleibung und Abgrenzung ist Musik auch Teil der Auseinandersetzungen um Hegemonie.

160 | HANNS-WERNER HEISTER

I. Z U Z IELEN , F ORMEN UND V ERFAHREN NAZISTISCHEN B ESATZUNG

DER

Besatzung ist Teil der in sich differenzierten Gesamtstrategie der Politikund Kriegsziele des NS-Systems. Die großen Linien der Besatzungspolitik haben ihren perspektivischen Fluchtpunkt im Streben des Nazismus nach Weltherrschaft, mit dem konkreten Kern Herrschaft über Europa. Dem dient der Fächer von Verfahren zwischen List und Gewalt, Vernichtung und Bestechung, Besänftigung und Terror sowie ein Fächer von musikalischen Materialien etwa zwischen schmetternden und einschmeichelnden Klängen, sentimentalen und brutalen Musikstücken. Insofern werden Grundzüge der innenpolitischen Strategien und Taktiken des Nationalsozialismus im Prinzip wohl ebenso auch im Ausland angewandt: Es geht um extreme Herrschaft und Machtausübung im Dienst partikularer Interessen – daher die übergreifenden Parallelen. Generell besonders intensiv verfolgt gerade auch unter Besatzungsbedingungen werden die Juden ebenso wie SozialistInnen usw. – vor allem die jüdische Bevölkerung im Prinzip wohl noch konsequenter als im Inland.1 Differenzen ergeben sich in der jeweils spezifischen Konfiguration von Zielen und Methoden im Einzelnen, wiederum verschieden je nach Ländertyp. Grob zu unterscheiden sind vorab »Westen« und »Osten« (»Slawen« bzw. »Bolschewisten«2). Differenzierungen nach den Typen Okkupa-

1

Und hier gab es Kollaborateure in wohl allen Ländern. Eine rühmliche Ausnahme scheint Dänemark gewesen zu sein – hier gab es bekanntlich eine große nationale Rettungsaktion für Juden.

2

»Anders als in den übrigen besetzten Ländern, in denen die deutschen Besatzungsdienststellen nur zurückhaltend in die ökonomischen Verhältnisse eingriffen und vor allem auf eine Kooperation mit der einheimischen Wirtschaft setzten, war es im Bereich der UdSSR von vornherein das Ziel, die sowjetische Wirtschaftsführung zu beseitigen und eine Kolonisations- und Raubbauwirtschaft zu etablieren. Sämtliche Betriebe und wirtschaftlichen Ressourcen des Landes sollten unter Regie des Wirtschaftsstabes Ost von deutschem Personal gelenkt und für die deutsche Kriegswirtschaft nutzbar gemacht werden.« (http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00763/index-10.html.de, 10.2.2011) – Kein Wunder: Denn in den »übrigen besetzten Ländern« waren die »ökonomischen Verhältnisse« ebenfalls »marktwirtschaftli-

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tion, Protektorat, Annexion ebenso wie nach Fragen von Völkerrecht und Kriegsrecht in der rechtlich-politischen Konstitution von Besatzung wie in ihrer Praxis seien hier nur als Raster genannt. Methodisch ist also auch hier das Problem der Spezifik im Auge zu behalten: Was ist gleich wie im »Reich«, was verschieden? Generell zu bedenken sind neben dem gemeinsamen Schicksal des Besetztwerdens die vielen Unterschiede zwischen den besetzten Ländern: Zum einen aus ihrer je eigenen Geschichte, zum andern durch Art, Grad und Dauer der Besetzung. Entsprechendes gilt für Art und Grad und überhaupt Möglichkeiten wie Angebote zur Kollaboration. Implizite Kollaboration gab es auch längst vor 1939, vor der eigentlichen, militärisch vermittelten Besatzung im Krieg. Nicht wenige Regierungen sympathisierten mehr oder minder offen mit dem Faschismus, ob Polen unter Pilsudski oder Portugal oder Rumänien oder Ungarn unterm »Reichsverweser«. Die offiziellen Demokratien, allen voran Frankreich und Großbritannien sowie die USA, sympathisierten nicht offen, aber hofften, NS-Deutschland als anti-»bolschewistisches« Bollwerk gegen die Sowjetunion verwenden zu können. Die De-jure-Neutralität der »Nichteinmischung« im Spanischen Bürgerkrieg, »Appeasement«-Politik mit der kampflosen Preisgabe der Tschechoslowakei usw. waren de facto Parteinahmen für den Natonalsozialismus. Noch im Krieg ging das vor allem mit dem kampflosen »drole de guerre« Frankreichs weiter.3 Die NS-Besatzung dauerte jeweils nur wenige Jahre, am längsten – abgesehen vom Sonderfall der Annexion Österreichs mit etwa 8 Jahren – in der Tschechoslowakei etwa 7 und in Polen etwa 5 Jahre. Auch deshalb

che«; hier dagegen andere, eben die einer prinzipiell anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. 3

Thomas Mann z.B. zeigte ziemliche Einsicht darin, dass europäische Regierende den Nazismus förderten. Ausf. s. in H. Koopmann (Hg.), Thomas-Mann-Handbuch, Frankfurt/M. 20053, S. 44. Heute wird diese historische Erfahrung im Interesse aktueller Herrschaft umfunktioniert und missbraucht für die ständige neokoloniale Einmischung, wie seit jeher im Interesse der Herrschenden und nicht der Bevölkerungen, die da angeblich geschützt und deren Menschenrechte gewahrt werden sollen, ob in Afghanistan, Jugoslawien, im Irak, in Libyen, Syrien usw. Auch da geht es in Wahrheit stets wesentlich um geostrategische und/oder Rohstoff-Interessen.

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überwiegen negative, destruktive Veränderungen bei weitem die positiven – wobei »positiv« hier freilich sehr relativ ist, je nach Perspektive. Beachtlich ist jedenfalls, wieviel Zerstörung und Unheil die Nazis in solch kurzer Zeit anrichten konnten. Die »Blitzkriegs«-Strategie findet hier Parallelen. Und Krieg als generelle Verdichtung von Ereignissen ist Rahmenbedingung. Besetzungen im Zug des Rückzugs – vor allem Italien 1943, Balkan, Ungarn 1944 – sind Sonderfälle. Hier dürfte es im Wesentlichen auch kultur- und musikpolitisch nurmehr um ökonomisch-politische Kernbereiche gegangen sein: Beute oder Zerstörung, und überdies Ermordung möglichst vieler politisch oder rassistisch Stigmatisierter, vor allem also »Juden« sowie »Zigeuner«. Die Vorgeschichte zeigt ebenfalls Ähnlichkeiten wie Unterschiede, im jeweiligen Land wie im Verhältnis zu Deutschland. So waren die zahlreichen Reisen deutscher Musiker und Musikerinnen ins Ausland Teil einer Propaganda-Strategie: Deutschland sollte als kulturell hochstehend, normal, gar friedlich dargestellt werden – und gleichzeitig als mächtig bis übermächtig: Mit so großer und schöner Musik.... Analoges gilt für die vielen Gastierenden aus dem Ausland im »Reich« (s.u.). Die nazistische Propaganda bereitete unterschwellig den ideologischen Boden für die praktisch-realen Eroberungen, die dann bis Stalingrad immer mehr Bodengewinne und immer mehr Blutverluste brachten. Und die – ihrerseits propagandistisch vermittelte – Musik-Realisierung bereitet innen- wie außenpolitisch die Eroberungen nach und sichert sie ideologisch ab. Sie sollte es jedenfalls, skeptischer formuliert. Dergleichen ergänzende Rahmungen sind auch Auftritte in als Umfeld dienenden neutralen Ländern4, vor wie während des Krieges (was zweierlei ist: manche schlossen sich dem vermeintlich unaufhaltsamen Nazismus an). Auch dort dient Kultur- und Propagandapolitik mit Konzerten von Größen aus NS-Deutschland dazu, zu beeindrucken, einzuschüchtern, komplementär auch Illusionen von Normalität zu wecken. Das alles geht selbstver-

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Neutral heißt vor allem, dass das Land keinem der militärisch-politischen Bündnisse angehörte. Der Orientierung besonders der »Eliten« nach gab es, abgesehen von den Fünften Kolonnen nationaler faschistischer Bewegungen, dagegen oft mehr oder minder mit dem Nazismus sympathisierende Strömungen, die Wirtschafts- wie Asylpolitik usw. prägten.

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ständlich nicht ohne eine Menge Hand- und Kopflanger.5 Die praktischen Musiker und (wenigen) Musikerinnen verbinden beides. Komponisten, Musikpublizisten, Musikwissenschaftler dienten hauptsächlich als Kopflanger, legten allerdings gegebenenfalls auch gern selbst Hand an und machten sich praktisch beim Beutemachen nützlich und langten ungeniert zu wie etwa der Göttinger Musikologe Wolfgang Boetticher und andere mehr.

II. A BSTOSSUNGEN UND R EIBUNGSFLÄCHEN , R EPRESSION UND E XPLOITATION 1. Welt-Herrschaft und -Krieg – Musik als »deutsche Wertarbeit« ›Weltherrschaft‹ als Zielsetzung ist trotz der im Ganzen notwendig wahnhaften Züge in Teilen realistischerweise auf Vormachtstellung beschränkt – eine Hegemonie allerdings, die Herrschaft über (fast ganz) Europa und die Sowjetunion bzw. »Rußland« als eurasischen Block einschließt. Gerade weil das Ziel Weltherrschaft letztlich illusorisch ist6, verwendet der NS

5

Das sind nicht vorrangig die »kleinen Leute« am Ende der Befehlsketten. Sie erledigten die Drecksarbeit von Beleidigung bis Ermordung. Erheblich wichtiger sind die in den oberen und mittleren Etagen der privatwirtschaftlichen oder staatlichen und staatsförmigen Apparate, also »Wirtschaft«, Verwaltung/Bürokratie, Polizei, Militär, Justiz, NSDAP und anderes, zu dem selbstverständlich auch ›Kultur‹ zählt. Lukrative Posten wurden durch endemische Korruption noch lukrativer. Letztere wurde allerdings oft durch Fanatismus wiederum etwas eingeschränkt (nicht jedoch z.B. im Fall Frank & Gattin in Polen). So beklagten Kalle und Ziffel in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen, nicht einmal mit Geld könne man Recht und Gerechtigkeit bekommen.

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Aggressiv unterfütterte deutsch-nationale Angst führt nicht nur zur Verkehrung von Angriff in Verteidigung gegen einen vermeintlichen, befürchteten, vermuteten Angriff (heute: preemptive strike). Sie zeigt sich auch als Angst, im Kampf zu verlieren. So dirigiert Furtwängler ein Werkskonzert in Berlin am 21.12.1939, also mitten in einem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug, bei dem ein riesiges Hitler-Bild auf dem Podium steht (so viel zum Thema »unpoliti-

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umso extremere Mittel, um es nach der Art eines credo quia absurdum doch noch durchzusetzen – »weitermarschieren«, »bis alles in Scherben fällt«, wie es in dem beliebten NS-Lied heißt. Weltherrschaft wie darin integrierte Besatzung stehen im Zusammenhang mit Krieg. (Beide sind ohne diesen nicht zu haben.) Krieg nun ist selbst wie der NS ein Ausnahmezustand, die Zuspitzung des Gesamtkomplexes ›Gewalt‹. Implizit oder explizit ist dieses Ziel ›Weltherrschaft‹ im Nazismus von Anfang an angelegt. So ist auch die Stärkung des eigenen Nationalen zwischen Schlachtschiffbau und Opernpflege ein Mittel zum Zweck, fremde Nationen zu unterdrücken – und dies wiederum nicht im Dienste der nationalen und sozialen Interessen aller Deutschen. Der musikpolitisch wichtige Staatsrat Hans Severus Ziegler, Organisator der Ausstellung »Entartete Musik« 1938 bei den »Reichsmusiktagen« in Düsseldorf, fasst »Politik« als umfassende Betreuung des »Volkes« und des »nationalen Daseins«; Kulturpolitik ist für ihn dementsprechend »Betreuung der Seele des Volkes«, Pflege des Völkischen, des »Volkstums«. Dann kommt er, in freilich ideologischer, verschleierter Form, zur Sache, zu den nazistischen Zielen: »Der Politiker wie der Kulturpolitiker haben das gleiche Ziel: Schaffung einer starken Nation und Sicherung ebenso ihrer materiellen wie ihrer ideellen Lebensbasis, 7

Sicherung ihres Daseins nach außen und Vertiefung ihres Daseins nach innen.«

In politisch-ökonomischen Klartext übersetzt solche Verlautbarungen Thomas Mann in seinem berühmten Brief vom Neujahr 1937 an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn: »Sinn und Zweck des nationalsozialistischen Staatssystems ist einzig und kann nur sein: das deutsche Volk unter unerbittlicher Ausschaltung, Niederhaltung, Austil-

sche«, autonome Kunst) und über dem Ganzen ein Transparent »[Wir] kapitulieren nie!« Abbildung in H. Haffner, Furtwängler, Berlin 2003, S. 331. Zu Fragen des angstbedingten erneuten »Griffs nach der Weltmacht«, eines solchen Glaubens an einen »Endsieg« sowie generell zu der mehrschichtigen Auseiandersetzung mit europäischen Traditionen vgl. neuerdings F. Tomberg, Das Christentum in Hitlers Weltanschauung, München 2012. 7

Zit. nach A. Dümling/P. Girth (Hg.), Entartete Musik. Eine kommentierte Rekonstruktion zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938, Düsseldorf 19933, S. 129.

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gung jeder störenden Gegenregung für den ›kommenden Krieg‹ in Form zu bringen, ein grenzenlos willfähriges, von keinem kritischen Gedanken angekränkeltes, in blinde und fanatische Unwissenheit gebanntes Kriegsinstrument aus ihm zu ma8

chen.«

2. Weltgeltung deutscher Musik als Herrschaftlegitimation Die Weltgeltung deutscher Musik9, aufgepumpt zur »Weltherrschaft«10, ließ sich als Ausdruck wie als Mittel der Weltherrschaft ganz anderer Entitäten auffassen und ausnutzen, in letzter Instanz eben der des deutschen Unternehmertums samt der von ihm angeeigneten »deutschen Wertarbeit«. Im Sinne dessen, was heute als creative class firmiert (ein eingetragenes pseudowissenschaftliches Markenzeichen) stützen sich große deutsche Musik und deutsche Großunternehmen wechselseitig in der Begründung einer deutschen Vorherrschaft. Die Musik Beethovens z.B., die ja wirklich nicht schlecht ist, ist einer der sinnlich-sinnfälligen, künstlerisch-ästhetischen Beweise dafür. Was so groß ist, bedarf einer schon weit weg beginnenden Vorwärtsverteidigung, damals etwa am Elbrus (im Kaukasus), heute noch östlicher am Hindukusch. Deutsche Musik, Menschen und Militär im Zeichen eines gemeinsamen Schicksals verknüpft auch der Präsident der »Reichsmusikkammer« Peter Raabe.11 Dabei sollen die beiden letzteren erstere schützen gegen Gefahren und Angriffe – bekanntlich verfolgten ja »jüdische Bolschewisten« deutsche Musik als »entartet«; auch hatte z.B. das relativ kleine Polen mit dem »Überfall auf den Sender Gleiwitz« »Großdeutschland« angegriffen, woraufhin am 1. September 1949 »zurückgeschossen« wurde.

8

T. Mann, Politische Reden und Schriften, hrsg. von H. Bürgin, Band II, Frank-

9

Es gab sie jedenfalls im euro-amerikanischen Raum wie in Japan.

furt/M. 1968, S. 399. 10 Es gab sie nie. 11 Über den Musikbetrieb während des Krieges, in: Zeitschrift für Musik 106 (1939), S. 1030; vgl. K.H. Kowalke, Music Publishing and the Nazis: Schott, Universal Edition and Their Composers, in: M. Kater/A. Riethmüller (Hg.), Music and Nazism. Art under Tyranny, 1933–1945, Laaber 2003, S. 191–218, Anm. 9, S. 207; s.a. M. Meyer, The Politics of Music in the Third Reich, New York 1991, S. 179.

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Weltgeltung oder gar »Weltherrschaft« der »deutschen Musik« sind zwar etwas weniger brutal als die der deutschen »Industrie« oder des Militärs. So gab es schon seit dem 19. Jahrhundert eine weitverbreitete, wenngleich nie unangefochtene Anerkennung der »deutschen« Musik besonders, vielleicht sogar fast ausschließlich allerdings nur im Segment der Klassik und da der Instrumentalmusik. Dieses Segment war tonangebend hauptsächlich im Bereich der Ideologie, nicht der musikkulturellen Praxis. Dennoch gab es auch gegen diese Hegemonie nationale Widerstände. Nicht unangefochten heißt z.B.: Der offensive französische Anti-Wagnerismus geht bis hin zur Annahme eines Vorrangs der »französischen« Musik. So oder so bleiben Feinheiten wie die musikalisch-politische korrektere Bezeichnung ›österreichisch-deutsche‹ Musik weitgehend unberücksichtigt. Auch der noch im Habsburgerreich geborene Schönberg glaubte, er habe mit seiner Zwölftontechnik der »deutschen Musik« die »Weltherrschaft« für die nächsten 100 Jahre gesichert. Trotz dieser Bescheidenheit – nur 100 statt 1000 – waren es tatsächlich allenfalls im Zeichen des Serialismus gut 10, von Ende der 1940er bis Ende der 1950er, und in einem relativ schmalen Segment der Musik und Musikkultur. Der Respekt gegenüber der »deutschen« Musik wiederum war eingebettet in eine europäische Bewunderung, vorrangig bei den »Eliten«, für die »durchschlagenden« Erfolge des Nazismus (und das war dann wieder unter anderem rückgekoppelt mit deutscher Musik). Das galt auch für überseeische Nationen, besonders wohl USA und Argentinien. In sozialpsychologisch fundierten autoritären Prägungen – Macht und Herrschaft als solche beeindrucken samt ihrem Ausdruck in ästhetisch-sinnlicher Monumentalität usw. – konnten sogar »Eliten« und Massen einen gemeinsamen Nenner finden. Die Berichte über manchmal wundersame Wirkungen deutscher Musik sind in der Regel selbst Propaganda – das macht es schwerer, ohne eingehende Auswertung auch einheimischer Quellen Belegtes über Wirkungen und Funktionen zu sagen. Aber auch einheimische Quellen, jedenfalls die veröffentlichten (Zeitungen zumal) unterlagen der Zensur und lügen natürlich insoweit wie gedruckt. Objektives lässt sich immerhin indirekt erschließen. »In Den Haag begann [… 1940] das Berliner Philharmonische Orchester mit seiner Konzertreise im Rahmen der Truppenbetreuung. Unter der Stabführung von Knap-

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pertsbusch und Jochum wurden insgesamt 18 Konzerte in Holland, Belgien und Frankreich durchgeführt, nachdem bereits eine Reihe von Konzerten unter [Hermann] Abendroth vor den Soldaten in Dänemark stattgefunden hatten. Während der Pause – es war nach dem Klavierkonzert B-dur von Mozart, das Elly Ney spielte kam einer der Generäle der Luftwaffe auf mich zu. ›Diese Gewalt der Gegensätze‹, sagte er, ›morgen fliegen meine Leute wie alle Tage wieder gegen 12

England, kämpfen, fallen und siegen!‹«

Letzteres ist selbst nochmal Propaganda in Potenz. Bekanntlich ging die »Luftschlacht« über England bald für den Nazismus verloren. Musik tröstet auch da, z.B. einen Luftwaffen-General: »Heute können sie eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so still ist es im Raum! Wissen Sie, das Leben ist reich an Gegensätzen, und weil es so reich an Gegensätzen ist, darum ist es unbegreiflich schön ...«.

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Schön ist es, wenn Verteiler von Massenvernichtungswaffen und Tod vom Leben schwärmen. Es macht sich schließlich gut und ist lehrreich zu lesen, wie schon hier Angriffskriege als Verteidigung westlicher Werte und deutscher Musik gerechtfertigt werden. Zwei ›einfache Musketiere‹, die ein Autogramm von Knappertsbuch wollten, meinten: »Wenn wir nicht wüßten, was wir zu verteidigen haben, dieser Mozart, dieser Beethoven, die würden es uns lehren. […]« Und ein Matrose, nachdem Knappertsbusch die Tannhäuser-Ouvertüre als Zugabe spielen ließ: »Das hat doch Richard Wagner damals so sicher gewußt wie wir heute, (...) daß das deutsche Wesen einmal doch in der Welt siegen würde.«14 Die hohe Musik erscheint als Avantgarde, die militärisch eingebettete Musik als Arrièregarde, als Nachhut und Sicherung des Erreichten. »Großkonzerte der deutschen Wehrmacht«, etwa am 9. Juli 1940 in Paris kurz nach dem Waffenstillstand, feierten die Eroberungen, aber mit einer

12 C.M. Holzapfel, Krieg und Kunst, in: Die Musik 33 (1940), H. 1, S. 3, zit. n. D. Kolland, Frontmusik, in: H.-W. Heister (Hg.), »Entartete Musik« 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Saarbrücken 2001, S. 674–699, hier S. 674 13 Ebd. 14 Ebd.

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realistisch ziemlich verhakelten Verbindung von Ideellem und Materiellem – das illustriert einmal mehr die Verschränkung von List und Gewalt. »So kann die deutsche Militärmusik dazu beitragen, den Sieg der militärischen 15

Gewalt zum Sieg deutscher Überzeugungskraft zu vertiefen.«

3. Unterwerfung oder Vernichtung des Entgegenstehenden Es liegt in der Logik der Sache – obwohl diese letztlich wie bei allem Streben nach Weltherrschaft eine Logik des Irrsinns ist –, dass möglichst total alles aus dem Weg geräumt oder vernichtet werden muss, was diesem Ziel entgegensteht. Das gilt im Zusammenhang Krieg / Besatzung zunächst für feindliche Nationen pauschal, die und soweit sie sich nicht unterwerfen. Zug um Zug mit den Annexionen und dann Besatzungen im Krieg geht es dann ins Detail nach jenen Mustern, die bereits im Innern praktiziert wurden. Feinde – nicht nur Feindbilder – sind generell alle, die diesem obersten Ziel entgegenstehen. Sie sind zum einen politisch definiert, also Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, auch Christen, soweit keine »Deutschen« sondern Anhänger eines Christentums mit menschlichem Gesicht. Zum anderen ist das Fremde, Andere rassistisch und speziell antisemitisch mitdefiniert – wie im Innern, so auch auf fremder Erde außen. Der Kanon des Verbotenen16 hatte auch im »Reich« selbst unscharfe Ränder – das war im Prinzip herrschaftstechnisch vorteilhafter. 3.1 Ambivalenz des Nationalen. Verbote und Vertreibung versus Indienstnahme Das alles ist nochmals verschärft unter den Bedingungen der Besatzung – verschärft deshalb, weil nun das frühere ›Außen‹, auf das gewisse diplomatische Rücksichten zu nehmen waren, zum ›Inneren‹ wird; verschärft auch, weil trotz kollaborierender Strömungen und Schichten nun doch, wie im Krieg überhaupt, trotz der jeweiligen internen Spaltungen Nation gegen Nation steht. Nationalismus ist dabei notwendig zwiespältig. Sosehr er im Deutschen Reich selbst betont wird, so ambivalent ist er außerhalb – ging 15 Zit. n. F.K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt/M. 1982, S. 397. 16 Ausf. P.W. Jacob, Musica prohibida – Verbotene Musik. Ein Vortrag im Exil [Buenos Aires 1939], hrsg. und kommentiert von F. Pohle, Hamburg 1991.

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es doch um Suprematie »der Deutschen« über andere Nationen. Daraus ergibt sich als ein Grundprinzip die Unterdrückung eben auch der jeweils nationalen Musik. (Die Regel duldet zahlreiche Ausnahmen.) So häufen sich einerseits mit Kriegsbeginn Aufführungs-Verbote »feindstaatlicher« Musik, jedenfalls zunächst. Repertoire-Konzessionen finden sich aber doch immer wieder: Kompromisse in der Propaganda und im ÄsthetischKünstlerischen – praktisch-real aber kompromisslose Auspressung. Aus taktischen Gründen kann durchaus die nationale Karte auch bei Feindstaaten gespielt werden. So heißt es beispielsweise in einer »Vorlage für den Herrn Minister«: »In Durchführung unserer Grundlinie ›Angehöriger der Ostvölker = Bolschewist = Bestie‹ war auch die Anordnung herausgegeben worden, keine Musik russischer Komponisten mehr im Rundfunk oder in Konzerten zu bringen. Aufgrund unserer neuen Richtlinie ist es meines Erachtens notwendig zu überprüfen, wieweit diese damalige Anordnung noch aufrecht erhalten bleiben kann, wenn wir für unsere Propaganda eine sachliche Fundamentierung schaffen wollen. […] Ich halte es, schon um Stalin bei seiner nationalrussischen Agitation den Wind aus den Segeln zu nehmen, für zweckmäßig, auch die russischen Komponisten (Tscheykowski [sic], 17

Rimski-Korsakoff, Glinka usw.) wieder zur Aufführung zuzulassen.«

Die Frage des Nationalen bildet vorwiegend Reibungsflächen und nur indirekt Anknüpfungspunkte. So wurde gerade im »Osten« EigenständigNationales unterdrückt. Musikalische Hochkultur wurde in Polen zwangsweise zu »abgesunkenem Kulturgut« (Friedrich Naumann), und ebenso wie die nationale Musik verboten: »Indeed, policy restricted musical offerings to entertainment, while all music of higher pretension in / addition to national songs, folk music and marches were to be forbidden.«18

17 Im Bestand des »Reichsleiters Propaganda«; evtl. Vorlage von Tießler; ca. 1943, BA Berlin NS 18/304. – Zum Kontext ausf. S. Wenzel, »Entartung« in der Musik. Aspekte eines Begriffssystems, in: Heister, Entartete Musik, S. 308–333. Dokumentation »Verfolgung und Vernichtung«. 18 Meyer, Politics, S. 184f.

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Es versteht sich, dass schon als eine Art Negation der Negation in den besetzten Ländern jeweils die nationale wie gar die – sowieso viel seltenere – sozial kritische Musik als Widerstand interpretiert und so gut wie möglich praktiziert wurde.19 Das gilt nicht zuletzt für Musikmachen unter den Extrembedingungen der Ghettos und Lager. 3.2 Nationale und soziale Frage, Widerstand, musikalische Volksfront Widerstand in einem mehr oder minder breiten sozialen und politischen Bündnis gegen Nazismus / Besatzung im »eigenen« Land ist tatsächlich national, auch wenn das »Eigene« oft genug fremdes Privateigentum ist. Nationale Aufwallungen sind freilich meist wenig verlässlich im Hinblick auf Soziales und Demokratisches. Auf den ersten Blick grotesk-komisch, auf den zweiten aber sogar Ausdruck eines barbarischen Ästhetizismus ist es, wenn nach dem Motto des »fiat ars, pereat mundus« ein führendes Mitglied beklagt: »Was mich als Musiker am meisten ärgerte, war, daß neben allen Ungeheuerlichkeiten, die diese Gleichschaltung oftmals bedeutete, ihr auch unsere gute, in aller Welt bekannte und berühmte Militärmusik zum Opfer fiel.«20

Auch in der guten Alten Zeit von Habsburgermonarchie, 1. Weltkrieg und Austrofaschismus diente freilich die gute Militärmusik schlechten Zwecken, nämlich der Ästhetisierung und Propagierung des staatlich konzessionierten Mordens. Aber »Hier gilt‫ތ‬s der Kunst!«21:

19 Einige besonders komplexe und raffinierte Beispiele in den Niederlanden bei A. Weisman, Wilhelmus van Nassouwe/Ben ik van Duytschen bloet ... »Ich, Willem van Nassau, bin als solcher ein Niederländer«. Zu einigen Ambivalenzen der NS-Propaganda in den besetzten Niederlanden, in: H.-W. Heister (Hg.), Die Ambivalenz der Moderne, Protest, Opposition, Widerstand, Berlin 2007, S. 45– 114. 20 O. Strasser, Und dafür wird man noch bezahlt. Mein Leben mit den Wiener Philharmonikern, München 19792, S. 134 21 Slogan der ersten Bayreuther Festspiele nach 1945, im Sommer 1951. Zit. n. H. Barth (Hg.), Der Festpielhügel. Richard Wagners Werk in Bayreuth 1878 – 1976, München 1976, S. 144.

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»Von nun an mußte bei den Musikkapellen […] der in Deutschland übliche 'Schellenbaum' mitgetragen werden. Mit seinem erbärmlichen Geklingel […] machte er 22

die Marschmusik unausstehlich.«

Wenn das alles gewesen wäre … Abhängig von Standpunkt und Perspektive kann als Kehrseite ein Kollaborations- und Bestechungsangebot auch als Widerstand interpretiert werden. So etwa in der »Rest-Tschechei«, in der Tschechoslowakei als »Generalgouvernement Böhmen und Mähren«. Dort wurde die deutsche Absicht, das Protektorat restlos auf die Kriegswirtschaft auszurichten, radikal umgesetzt: Kriegsunwichtige Produktionsstätten wurden geschlossen, andere zu Großbetrieben vereinigt und unter staatliche Verwaltung gestellt, zudem wurden ab Jahresende 1941 große Gruppen tschechischer Arbeitskräfte ins »Reich« abgestellt.23 Trotz dieser für den »Osten« nicht untypischen Unterdrückungs- und Ausbeutungspolitik gab es schon wegen der relativ langen Dauer der Besatzung auch Ansätze zu ›Aufbau‹ bzw. Weiterführen der Musikkultur. Sobald sich jedoch ernsthaft Widerstand auch nur verbal äußerte, wurde er erbarmungslos ausgelöscht.24

22 Strasser, Und dafür..., S. 134; im Übrigen ist der Alt-Österreich-Nationalist über sein eigenes Nationales wenig informiert: Das »unausstehliche« Musikinstrument entstammt der osmanischen Janitscharenmusik, und die findet sich just z.B. bei Mozart mehrfach im Typus des Alla turca, zumal in dem relativ bekannten Singspiel Die Entführung aus dem Serail. 23 Dennoch gab es auch hier Kollaboration, nicht nur in der Slowakei, sondern auch im »Protektorat«. Ausf. W. Oschlies, Das deutsche Protektorat Böhmen und

Mähren

(1939–1945)

und

seine

tschechischen

Kollaborateure,

http://www.shoa.de/zweiter-weltkrieg/deutsche-besatzungspolitik/1867-das-deut sche-protektorat-boehmen-und-maehren-1939-1945-und-seine-tschechischen-ko llaborateure-.html (17.02.2011). 24 Ausf. z.B. F.K. Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 373f. sowie Prieberg, Musik, S. 395f.

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4. Prinzip Beutemachen. Kompromisse zwischen Kooperation und Vernichtung Beim Streben nach »Weltherrschaft« der »deutschen« Musik geht es nicht nur um Ideologisches, sondern auch um Ökonomisches wesentlich um Beutemachen. ›Beute‹ ist Material aller Art, von Rohstoffen (Öl war auch schon damals gerade für Transport/Krieg unentbehrlich, im übrigen auch als Ausgangsstoff in der chemischen Industrie) über wertvolle Musikinstrumente und Autographen bis zu »Menschenmaterial«. Die Raubzüge schließen aber auch Besudelung, Beschädigung, Vernichtung ein – eine künstlerische und kulturpolitische Strategie der »verbrannten Erde«, die der Nazismus freilich nicht erfunden hatte. Hier ist zu unterscheiden: 1. Beute aus den besetzten Ländern ins »Reich«, in der Doppelgestalt von einerseits Material, Waren aller Art, Geld bzw. Kapital und anderseits von Menschen als Arbeitskräften. 2. Beute in den besetzten Ländern – Absatzmärkte für eben auch musikalische Waren oder für anlagesuchendes Kapital (Verlage, Schallplattenindustrie) sowie Arbeitsplätze für Musiker aus dem »Reich«. 4.1 Schaffung von Arbeitsplätzen – durch Ausschlüsse, Vertreibung, Ermordung Nur an dem, was als Rest übrigbleibt, dürfen dann Menschen und Institutionen aus den besetzten Ländern selbst mehr oder minder kollaborierend sich gütlich tun. Das System der »Marktwirtschaft« geht hier einerseits weiter, als business as usual, samt der ›normalen‹ Konkurrenz der Musiker und Musikerinnen sowie der Komponierenden, Musikpublizisten und Musikwissenschaftler. Andererseits überformt und verformt der NS durch außerökonomischen Zwang und Gewalt wie durch rechtliche und administrative Maßnahmen manche Marktmechanismen zugunsten einzelner Gruppen – so werden prinzipiell vor allem »führende« Unternehmen, aber personell »die Arischen« bevorzugt. Diese Veränderungen auf dem Markt gab es im »Reich« wie in den jeweils besetzten Ländern. Deportation und Ermordung vor allem von Juden schufen Arbeitsplätze. Aber wer besetzte sie in den besetzten Ländern?25

25 Ausf. P. Olivier, The Fate of Professional French Jewish Musicians Under the Vichy Regime, http://orelfoundation.org/index.php/journal/journalArticle/the_

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Hier speziell ist also zu fragen: Wo blieben die einheimischen Musiker und Musikerinnen? Wer trug die Musikkultur? Den Vorrang hatten wohl oft mit Deutschen besetzte (Neu-)Gründungen. Ein »Deutsches Theater der Niederlande« in Den Haag z.B. wurde Anfang 1942 als Zwei-Sparten-Theater gegründet, »with mixed though largely German personnel«.26 In Polen hatte die ›Enthauptungs‹-Politik gegen Kultur und Bevölkerung noch andere Züge. Kultur und Bildung sollten minimiert, Polen und Deutsche segregiert werden. »Members of the Warsaw Philharmonic Orchestra were not to be permitted in any orchestra of the Reich, while that famous ensemble was confined to perform at a 27

cafe. […] Poles were not allowed to attend concerts by and for German.«

Korruptions- wie kulturelle Repräsentationsbedürfnisse veranlassten allerdings Generalgouverneur Hans Frank zu Kompromissen. Da Musiker aus dem »Reich« schwer für seine Orchester zu bekommen waren, ließ er seinen Dirigenten Hanns Rohr aus München stattdessen Polen engagieren: »an irony considering Nazi policy and the belief in German musical superiority. Polish musicians – though underpaid – collaborated in the fashioning of the cultural facade behind which the greatest barbarities were performed upon their countrymen. 28

[…] Gradually Poles were also admitted to concerts.«

Gegen Ende glich sich auch die Musikpolitik gegenüber Polen der im Westen an, wenngleich nicht ohne nationalistisch-rassistische Einschränkungen. »In recognition of a common anti-Soviet front, even though mixed groups were denied permission to perform in Germany.«29 Dies wie die propagandistisch noch gesteigerte Größe der deutschen Musik dient in diesem Kontext dazu, die Marktanteile auch von objektiv weniger großen, aber laut NS-Klassifikation »gottbegnadeten« Komponisten wie Pfitzner

fate_of_professional_french_jewish_musicians_under_the_vichy_regime/ (21.02.2011). 26 Meyer, Politics, S. 183. 27 Ebd., S. 184. 28 Ebd., S. 186. 29 Ebd., S. 186.

o.J.

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und anderen zu vergrößern. Wenn wirklich große Komponisten verboten und vertrieben sind, kann die dadurch entstehende ›funktionelle Leerstelle‹ im Repertoire durch groß- und kleindeutsche Klein- und Mittelmeister gefüllt werden – also Pfitzner statt Mahler oder Schönberg usw.; Entsprechendes gilt bei Musikern und Musikerinnen – Orchesterstellen, Lehrerstellen an Schulen und Musikschulen. Deutsche KünstlerInnen betätigten sich daher rege im besetzten Ausland. Dazu zählt der Fall des »deutschesten« aller Komponisten Hans Pfitzner. Nach einer Aufführung von Pfitzners Oper Das Herz in Ulm 1938 und einer erneuten Klage wegen Vernachlässigung seiner Werke wurde Pfitzner nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs von führenden NSFunktionären als »deutschester der zeitgenössischen deutschen Komponisten« eingeladen, seine Werke in den besetzten Gebieten wie den Niederlanden, dem Elsass und in Paris aufzuführen. […] Im besetzten Holland dirigierte er 1941 eigene Werke, und im besetzten Paris 1942 wohnte er einer Aufführung des Palestrina bei. »[…] Weiterhin erhielt er [unter anderem] 1942 den Wartheländischen Musikpreis – ein annektiertes polnisches Gebiet.«30 Bezeichnenderweise setzt der Autor, dem es um Apologie geht, nicht »Mäzen« sondern »Polenschlächter« in distanzierende Gänsefüßchen: »Generalgouverneur Hans Frank, ›Polenschlächter‹ und vielfältiger Mäzen, erweist sich auch Pfitzner gegenüber als großzügig und beliefert ihn mit Rotwein; dessen Dankbarkeit schlägt sich [unter anderem ...] in einem kleinen Widmungswerk (op. 31

54 – passenderweise [sic!] im Polonaisen-Rhythmus) nieder.«

In Gegenrichtung zum Waren-, Dienstleistungs- und partiell Kapitalexport in Form deutscher Musik und MusikerInnen in besetzte Länder gibt es auch den Import aus diesen oder (noch) freien ins »Reich« – freiwillig statt gezwungen. Wie Deutsche, so nutzten auch AusländerInnen in einer Mischung von Kollaboration, Business und Normalität Freiräume, leerge-

30 http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Pfitzner (03.02.2011) 31 J.P. Vogel, Hans Pfitzner. Leben – Werke – Dokumente, Zürich und Mainz 1999, S. 164. Etwas genauer ist hier der Wikipedia-Artikel. Das Werk heißt Krakauer Begrüßung. Es »wurde Anfang Dezember 1944 in Krakau […] unter der Leitung von Hans Swarowsky uraufgeführt (bei der Wiederholung dirigierte Pfitzner selbst).«

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räumte Stellen zum Besetzen im Reich selbst. Ökonomische Interessen und Sympathie mit dem Nazismus stützten sich wechselseitig, wenn ausländische Kollaborateure weiter dessen Interessen bedienten.32 Denn Opportunismus, Anpassung, Unterwerfungsbereitschaft sind natürlich keine Natureigenschaften »der Deutschen« und deutscher KünstlerInnen. Strawinsky, sowieso kein Gegner der Nazis, höflich gesagt,33 dirigierte gern noch 1938, als neue Musik – auch von ihm – und jüdische sowieso längst verfemt waren, Sibelius ließ sich hofieren (wie auch andere »nordische« Komponisten, etwa der Isländer Jon Leifs oder der Norweger Christian Sinding), und noch während des Kriegs gastierten ausländische Musiker, aus besetzten wie aus neutralen Ländern, wie z.B. oft Alfred Cortot, Willem Mengelberg und andere in NS-Deutschland. 4.2 Zwangsarbeit, Material und »Menschenmaterial« Ein wichtiger Teil der Beute sind die Arbeitskräfte – zum einen für die Produktion, zum andern für die Destruktion, also Soldaten. Einen winzigen Bruchteil dieser Arbeitskräfte bilden die musikalischen. Einige werden ins Reich verschleppt, manche gehen auch freiwillig, nicht unbedingt speziell als musikalische Beute34, die Mehrheit muss (oder darf) wohl für die Besatzer oder die eigenen Landsleute aufspielen.35 Teil der Besatzungspolitik ist schließlich auch die Betreuung ausländischer Arbeiter im »Deutschen Reich«. Die Unterschiede zu Funktionen von Musik für die Deutschen scheinen dabei oft eher graduell als prinzipiell.

32 Vgl. Meyer, Politics, S. 157. 33 Vgl. z.B. Kowalke, Music. Er war und blieb auch Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. (Meyer, Politics, S. 162). 34 Das wäre noch empirisch zu untersuchen und nachzuweisen 35 Vgl. die Dienste von Jazzmusikanten und überhaupt Unterhaltungs-/TanzmusikerInnen nach 1945, besonders für die US-Besatzer – freilich unter ziemlich anderen, erheblich freiheitlicheren Bedingungen – umso mehr, weil ja die »Neger« in USA wie US-Army selbst unterdrückt waren. Das war auch ein Stück nach der ersten Welle in den 1920er Jahren erneuerter interkulturelle Aneignung. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und des bipolaren Weltsystems, das dem Neoimperialismus und -kolonialismus gewisse zivilisatorische Schranken auferlegte, sind die Bedingungen auch der US-Besatzung erheblich unfreiheitlicher; vgl. Irak, »Afpak« usw.

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Auch hier soll Musik vor allem unterhalten und Illusionen wecken oder bestärken. So fordert ein »Schnellbrief« vom 29. Mai 1941, den ein Mitarbeiter aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda »über Herrn Reichshauptamtsleiter Walter Tießler« an die Parteikanzlei in München richtete,36 15.000 Liter Benzin, um »für die kulturelle und unterhaltende Betreuung der Arbeitslager mit ausländischen Arbeitern in Deutschland« zu sorgen und »Künstlertruppen« zum »Einsatz zu bringen«. »Da die Betreuung der ausländischen Arbeiter aus wehrwirtschaftlichen, politischen und propagandistischen Gründen äusserst wichtig und dringlich geworden ist, wird gebeten, den notwendigen Kraftstoff zur Verfügung zu stellen [… – und das kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion]. […] Die Rüstungswirtschaft und die Landwirtschaft beschäftigen z.Zt. in Deutschland 1.462.183 freiwillige ausländische Arbeitskräfte.

37

Durch die Betreuung dieser grösstenteils in Lagern untergebrachten

Menschen in unterhaltender Hinsicht während der Freizeit wird die Leistung gesteigert werden können. Dagegen wird bei Ausserachtlassung dieser Massnahmen eine Leistungsminderung und somit eine Unzufriedenheit zu verzeichnen sein. Die Disziplin und Ruhe in den Lagern wird durch die Eintönigkeit und Stumpfsinnigkeit, also Gleichgültigkeit, untergraben. Spionage- und Sabotageakte werden eine grosse 38

Gefahr für die Werke bilden, falls keine Ablenkung in der Freizeit erfolgt.«

Als ideologisches Druckmittel wird schließlich auch noch hier das Phantasma von der »Überlegenheit deutscher Kultur« verwendet: »Die Bestrebungen der deutschen Reichsregierung, das Ausland von den deutschen Leistungen auf dem Gebiet der Kultur und Wirtschaft zu überzeugen, würden bei

36 BAB NS 18/171 37 Spätestens der handschriftliche Vermerk »Fremdvölkische« für die Ablage sagt über die »Freiwilligkeit« einiges aus. »Fremdvölkische« waren nach einer Definition von Himmler 1940 ein »führerloses Arbeitsvolk«, das »den Deutschen gehorsam« zu sein und jährlich Arbeitssklaven zu stellen habe. (Vgl. z.B. W. Benz, Feindbild und Vorurteil. Beiträge über Ausgrenzung und Verfolgung, München 1996, S. 471). Hervorhebungen H.-W. H. 38 Zit. n. Wenzel, Entartung, S. 323.

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Ausserachtlassung dieser unserer Betreuungsmassnahmen auch illusorisch wer39

den.«

Ein charakteristisches Beispiel für den herren- und unmenschlichen Elitedünkel der »Deutschen«, die ihrerseits in Herren und Knechte gespalten blieben, findet sich in einer Rede Himmlers auf einer SS- und Polizeiführertagung in der Feldkommandostelle Hegewald bei Shitomir vom 16. September 1942.40 Himmler befiehlt, gerade die »Gutrassigen« der Ukrainer aus ihren nationalen Bindungen herauszulösen. Wie etwa einst bei der »Knabenlese« für die Janitscharen des Osmanischen Reichs sollen sie gesondert organisiert werden. »Die Gutrassigen werden in jeder Kompanie zunächst einmal herausgesucht und kommen in die 1. Komp. hinein. Diese 1. Komp. hat Deutsch zu lernen und muß viel, viel mehr leisten, als die anderen, muß sich tadellos benehmen, und, wenn sie dann wirklich soweit sind wie eine deutsche Komp., dann bekommen sie als Belohnung die Genehmigung, daß sie auf der Straße ein deutsches Lied singen dürfen. Ich weiß, Sie lassen die anderen deutsche Lieder singen, damit sie die deutsche Sprache lernen. Auf der Straße aber verbiete ich, daß die Schutzmannschaften deutsche Lieder singen. Sie haben in ihrer und nicht in unserer Sprache zu singen! Die Sprache des Herrn haben sie soweit zu lernen, daß sie ›rechts um‹ und ›links um‹ ver41

stehen.«

Dieses Konzept soll nicht nur für die Sowjetunion gelten, sondern für ganz Europa – typischerweise nennt hier Himmler den Gegenpol zur Besatzungspolitik-Typologie im Osten, nämlich Frankreich, das in diesem Punkt gleichbehandelt werden soll: »In die 1. Komp. kommen diejenigen, die wir herausholen wollen in Rußland und auch sonst in ganz Europa – ich stelle mir das bei Frankreich genauso vor –; konsequent über Hunderte von Jahren holen wir immer wieder, was auf der Welt da ist,

39 Ebd. 40 R. Opitz (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945, Bonn 19942, Nr. 139, S. 921–930; Zitat S. 924. 41 Ebd.

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zu uns ins Mutterland

42

herein. Wir werden dadurch stark und die anderen schwach 43

und uns nie gefährlich.«

Noch raffinierter und weiter dachte Hitler; so schon 1938 bei seiner Eröffnungsrede zur »Zweiten Großen Kunstausstellung« in München; komplementär zum Raub des Positiven in fremden Ländern soll den »Fremdvölkern« das »entartete« Negative überlassen bleiben: »Es freut uns, wenn Demokratien diesen rückwärtsstrebenden Elementen ihre fortschrittlichen Tore öffnen.«44

III. A NKNÜPFUNGSPUNKTE . P ARTIELLE ODER PRINZIPIELLE SOZIAL - UND INTERESSENSPEZIFISCHE Ü BEREINSTIMMUNGEN 1.

Schein der Normalität im Ausnahmezustand. »Unpolitische Musik« als Illusion, Ablenkung und Ausrede

Ein Ausdruck wie Mittel der Illusionierungs- bzw. Ablenkungsfunktion ist auch vor und über den NS hinaus besonders die Ideologie der Autonomie der Kunst und speziell der »unpolitischen« Musik. Ihr entspricht faktisch die Ablenkungs-Funktion der Musik. »An Zerstreuung sollte wenigstens kein Mangel sein«, gerade auch im Krieg.45 Konzerte waren daher »will-

42 Also ein eindeutiger Signalbegriff für den hier ja auch gemeinten Kolonialismus. Himmler beruft sich denn auch wenig später auf das Vorbild England/Indien. 43 Opitz, Europastrategien. 44 Zit. n. C.-P. Warncke, Pablo Picasso 1881–1973. Teil I: Werke 1890–1936, Teil II: Werke 1937–1973, hrsg. von I.F. Walther, Hong Kong u.a. 2007, 23b. 45 Entsprechendes gilt auch für das Rauchen. Besonders für Frontsoldaten wie für »kriegswichtige« Branchen versuchten die Nazis, fast bis zum Schluß Tabak zur Verfügung zu stellen. Ausf. K.H. Roth/J.-P. Abraham, Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944, Hamburg 2011.

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kommene Ablenkung«.46 Manche gingen freilich zugestandenermaßen ins Konzert nicht so sehr, weil sie kunstspezifische »Entrückung« suchten, »sondern eher, weil es so wenig andere Möglichkeiten gab, sich zu zerstreuen«.47 Für die übergreifenden Zwecke des Nazismus taugte gerade auch wegen der Sicherung einer möglichst breiten und weitreichenden Massenloyalität drinnen wie draußen die direkte Nazifizierung in der Regel weniger als die indirekte. Denn so konnte der Schein der Normalität48 noch besser gewahrt werden als durch eine Mobilisierung, wie sie besonders vor und kurz nach dem Machtantritt gepflegt wurde, und auch im Triumphalismus im Zuge der Besetzungen immer wieder durchschlug. Musik trägt zur Illusion von Normalität sogar unter den Extrembedingungen der Konzentrations- und Vernichtungslager bei: als Schein des Schönen wie als dünne Tünche formell-scheinhafter Rechtsförmigkeit bei Strafen, Hinrichtungen. Allerdings konnte sie je nach Bedingungen und Situation auch Widerstand artikulieren wie fördern. Die Behauptung von »Normalität« war manchmal sogar explizit Teil der NS-Propaganda. 2. Ideologische Konzessionen und ökonomische Gewinne Verknüpft mit dem Verhältnis von Innen und Außen, Reich und Ausland kamen sich gerade bei der Verfolgung des Prinzips business as usual Ökonomie und Ideologie öfter in die Quere. Wohl bis Kriegsbeginn – die Datierungen wären zu überprüfen – war der Export von als »entartet« gebrandmarkter Musik durchaus nicht verboten. Das zeigt z.B. eine interne Anweisung der Universal-Edition Wien: »14. IV.1939. / an Auslieferung zur genauesten Beachtung / Lt. Anordnung zum Schutze musikalischen Kulturgutes vom 29. III. 1939 sind Werke jüdischer Komponisten innerhalb Deutschlands vom Verleger nicht mehr auszuliefern, Event. vom Sortiment einsehende Bestellungen sind mit dem entsprechenden Hinweis zurückzuschicken.

46 Strasser, Und dafür..., S. 166f. 47 Strasser, Und dafür..., S. 171 48 Vgl. dazu auch Meyer, Politics, S. 142f. u.ö.

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Der Export dieser Werke ist gestattet. / Bestellungen deutscher Grossortimenter auf solche Werke müssen ausdrücklich den Vermerk ›für Export‹ tragen, andernfalls sie ebenfalls mit entsprechendem Vermerk zurückzuschicken sind. […] In jedem Zweifelsfalle ist vor Ausführung der Bestellung bei Herrn Deczey (JudenAlphabet nachsehen) anzufragen. Kann Herr D. keine klare Auskunft geben, ist Herr Schenk [der Unterzeichner der Anweisung] zu fragen. Ob diese Verordnung nun auch für die in die Musikgeschichte eingegangenen jüdischen Komponisten (z.B. Mendelssohn) gilt, ist noch klarzustellen. Bis zur Klarstellung besser nicht auslie49

fern.«

Der Schlussabschnitt zeigt vorauseilenden Gehorsam ebenso wie Angst. Vor allem zwei Gründe dürften für diese Liberalität verantwortlich sein: der NS-Bedarf an Devisen, und, hier eher untergeordnet, das Bedürfnis, den Nazismus als ›normal‹ darzustellen. Auch hier war die Herrschafts- und Machtausübung zwar terroristisch, aber »marktwirtschaftliche« Konkurrenzmechanismen50 wirkten durchaus weiter:

49 Zit. n. Kowalke, Music, Abbildung 6, S. 195. – Hervorh. HWH.; Ausf. zu diesem Problemkreis vor allem S. Fetthauer, Deutsche Grammophon. Geschichte eines Schallplattenunternehmens im »Dritten Reich«, Hamburg 2000 und dies., Musikverlage im »Dritten Reich« und im Exil, Hamburg 2004. 50 Zur »Polykratie« vgl. unter anderem B. Sponheuer, »Nationalsozialismus«, in: L. Finscher (Hg.), MGG, 2., neubearbeitete Ausgabe, Sachteil Bd. 7, Kassel u.a. 1997, Sp. 25–43 – Die Nazis machten sich nicht einmal die Mühe, eine explizit faschistische bzw. »nationalsozialistische« Ästhetik auszuarbeiten. (Das ist nebenbei bemerkt einer der vielen und nicht unwesentlichen Unterschiede zum Proto-Sozialismus; in dessen Rahmen wurde bekanntlich vor allem in der Sowjetunion die Theorie des »Sozialistischen Realismus« skrupulös und systematisch entwickelt, wenn auch gerade im Fall der Musik nicht wirklich entfaltet, sodaß sie hier in der Regel wenig einleuchtend und ergiebig wirkt. Freilich wurde die Theorie als Doktrin oft genug auch skrupellos durchgesetzt.) Implizit gab es natürlich eine nazistische (Musik-)Ästhetik, aber eben keine systematische. Soweit ich sehe, wurde eine solche mühsame Re-/Konstruktion bis heute noch nicht gemacht. Für die Herrschaftszwecke des NS genügten umrißhafte Verbote und Schranken. Sie waren zwar im Falle der »Juden« erheblich deutlicher konturiert und wurden drastischer exekutiert, aber eben nur, weil das »Jüdische« personell relativ leicht dingfest zu machen war. Ansonsten gelang es auch

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»(C)ompeting jurisdictions

51

and power struggles within the Third Reich over

responsibility for censorship and the conduct of business, the potential ramifications of restrictions on music publishing for international trade and foreign currency reserves, and the desire to maintain an image of ›business as usual‹ in the ›land of 52

the music‹ shielded the music pusblishing industry«.

Das entscheidende Stichwort ist wieder business as usual, teils wirklich, teils durch die terroristischen Rahmenbedingungen doch scheinhaft. Das business selbst blieb so oder so lukrativ. Schließlich aber: image, der Anschein und Schein von Normalität – letztlich war es ja eben doch die Normalität eines staatsterroristisch vermittelten Ausnahmezustands. 3. Funktionalisierung der Kunst-Autonomie »Denn der Betrieb mußte weitergehen« – so der bereits mehrfach zitierte Musiker und Musikfunktionär Strasser zu seiner Übernahme von Leitungsfunktionen bei den Wiener Philharmonikern unmittelbar nach der Annexion Österreichs ab 12. März 1938. Noch nach fast vier Jahrzehnten kommt er nicht einmal auf die Idee, ob dieses »Weitermachen« vielleicht doch problematisch gewesen sein könnte. Immerhin trug solche geschmeidig-schmierige Betriebsamkeit mit dazu bei, dass die Privilegierten auch »den Zweiten Weltkrieg ohne Schaden überstehen konnten«. So sorgte denn auch Strasser damals maßgeblich dafür, den Klangkörper unter Furtwängler »den Machthabern [zu] präsentieren und so unsere Position [zu] festigen«.53 Dieses »wie eh und je« galt ebenso unter Besatzungsbedingungen.54

da trotz wirklich vieler und bemühter Anstrengungen der deutschen Musikwissenschaft nicht, »Das Jüdische« in der Musik wirklich zu definieren – wenig Wunder, da eine wahnhafte Fiktion schwer rational zu begründen ist. Der Mangel an ästhetischem System war jedoch ein herrschaftstechnischer Vorzug. Er machte Geschäfte möglich und die Unterdrückungsmethoden flexibler und verstärkte die Angst, unscharf begrenzte Schranken zu überschreiten und sich dadurch Sanktionen auszusetzen. 51 Vgl. dazu auch Meyer, Politics, S. 141. 52 Kowalke, Music, S. 173; Hervorh. H.-W.H. 53 Strasser, Und dafür..., S. 130–136 54 Ebd., S. 164

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Fiat ars, pereat mundus … Gerade in der Besatzungspolitik handelt es sich im Hinblick auf Kunst und besonders Musik häufig um das, was ich entsprechend einer Realparadoxie ›Funktionalisierung der Autonomie‹ nenne.55 Der bloße Zugriff, die Funktionalisierung durch Kontexte und Einbettung in die Gesamtpraxis des Nazismus genügte oft. Das zumal dort, wo die Kopplung von Musik und Politik überhaupt als degoutant galt, damit auch das offen »Nationalsozialistische« inopportun schien – so nicht zuletzt in der Auslandspropaganda: Sie forcierte in der Regel »große«, »deutsche« Musik als kulturelles Korrelat des Großdeutschen Reichs. Meyer betont z.B. die Kontinuität mit konservativem, darum nicht antinazistischem Akzent im Auswärtigen Amt.56 Da kam es auf die Fassade an, auf diplomatische Wahrung des Scheins. Was die Außenwirkung im Ausland selbst anlangt, erscheint auch hier die Mobilisierung weniger effektiv als die Maskierung. Ausschließlich wegen Furtwängler oder Knappertsbusch oder gar Elly Ney werden wenige Niederländer in eine SS-Division eingetreten sein. Aber viele mochten sicherlich die schöne Musik, zumal die von Mozart, und manche waren danach vielleicht eher bereit, die unschönen »Kollateralschäden« der deutschen Besatzung zu überhören und zu übersehen. Und noch wichtiger war vielleicht der schiere Schein der Normalität. Die Funktionalisierung der Autonomie dient dann sogar als Ausrede besonders post festum für heteronomes Sich-in-Dienst-nehmen-lassen; nicht nur bei Furtwängler, sondern auch bei vielen anderen wie z.B. dem

55 So sehr die Autonomie-Ideologie als Ausrede und Rechtfertigung für blindes Weitermachen taugt, so wenig dazu, auch nur – um der Kunst willen – der Vereinnahmung der Musik zu widerstehen. Das zeigt der durch die Naivität, mit der er über eine objektive Paradoxie hinweggleitet, verblüffende Satz von Prieberg, Musik, S. 249: »Den meisten Künstlern ging es allerdings um Musik und weiter nichts, und deswegen stellten sie sich der HJ zu Meisterkonzerten zur Verfügung.« 56 Meyer überschätzt allerdings die Differenzen zwischen AA und anderen Ministerien oder der NSDAP erheblich – merkwürdig angesichts des Fakten- und Gedankenreichtums. Inzwischen (2010/2011) zählt nach neuen und umfangreichen Untersuchtungen, wie seitens der DDR bereits in den 1960er Jahren bekanntgemacht, das AA ebenfalls zu den verbrecherischen Organisationen in Sinn der Klassifikation der »Nürnberger Prozesse«. Meyer, Politics, S. 140ff.

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NSDAP-Mitglied (seit 1. März 1940) Elisabeth Schwarzkopf (was ihren sängerischen Fähigkeiten nicht schadete, aber ihrer Karriere und ihrem Einkommen nützte). Angesichts ihrer nicht zu leugnenden »Gesangsauftritte auf Parteiveranstaltungen und während des Krieges vor Einheiten der Waffen-SS [... argumentierten] Verteidiger Schwarzkopfs [...] mit ihren Beteuerungen, immer strikt Kunst und Politik getrennt zu haben und selbst ein unpolitischer Mensch zu sein«.57 Das mit dem »Unpolitischen« ist zwar substanziell töricht und funktionell verlogen, in der Sache jedoch nicht gänzlich falsch: Es entspricht allgemeinbürgerlicher Ideologie von der unpolitischen Kunst und den dito KünstlerInnen. Eine Beimengung von »Nation« und »ewig« baut sogar eine Brücke vom »Unpolitischen« zurück zur NS-Propaganda: »Gewiß zeugt die Kunst, zumal die Musik,

58

von der Nation, der sie entstammt.

Aber von deren ewigem Wesen, nicht deren Tagespolitik. Kunst steht in Wahrheit, obwohl von ihnen ausgehend, über den Nationen. Es ist die politische Funktion der Kunst – gerade in unserer Zeit –, überpolitisch zu sein.«

59

Auch dieses »Unpolitische« dient jedoch – nur etwas indirekter – drinnen wie draußen demselben ökonomisch-politischen und herrschaftstechnischen

57 http://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_Schwarzkopf (25.2.2011). Ausf. dazu O. Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet: Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991; vgl. auch ders, Politische Propaganda der amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 bis 1950: Ein Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges in der Presse-, Kultur- und Rundfunkpolitik, Universität Wien 1982 (Dissertation). 58 Abgesehen von der eingangs kritisierten Vermengung von Kunst generell und Musik speziell ist eine unanswered question, warum gerade die Musik besonders Nationalzeuge sein soll. Bei der notwendig in irgendeiner Nationalsprache verfassten Literatur (eingeschlossen selbst frühere linguae francae wie Sumerisch, Aramäisch, Griechisch, Latein) läge das immerhin näher. 59 K. Höcker (Hg.), Wilhelm Furtwängler. Dokumente – Berichte und Bilder – Aufzeichnungen, Berlin 1968, S. 96, zit. n. Haffner, Furtwängler, S. 330. – Zum Begriff des Politischen in Bezug auf Musik s. u.a. H.-W. Heister, Politische Musik, in: MGG, hg. v. L. Finscher, Sachteil, Bd. VII, Kassel, Stuttgart u.a.1997, Sp. 1661–1682.

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Zweck: der »totalen Mobilmachung« für die militärische und/oder wirtschaftliche Eroberung von Rohstoffen und Absatzmärkten, für die Eroberung von »Lebensraum« vor allem im Osten, für die Unterwerfung der »Untermenschen« unter die Herrenrasse. 4. Truppenbetreuung Sowieso war die eingegrenzte Realisierung autonomer Musik funktional auch für die, die sie machten, jedenfalls die Professionellen. Musizieren war indirekter Militärdienst, war Kompensationsleistung, in das System eingespannt: »Die Freistellung vom Militärdienst barg die Verpflichtung in sich, bei offiziellen Veranstaltungen aller Art mitzuwirken.« So war etwa »bei einer Heeresgruppe in Frankreich ein Konzert für die Soldaten zu spielen« – insgesamt drei, in Besançon und Dijon.60 Auch beim Spezialfall der Truppenbetreuung zeigt sich die Doppelfunktion von Musik, polar Mobilisierung und Pazifizierung: Aufbau heroischer Gefühle und Abbau von Frustrationen, aggressive Hinlenkung auf den Feind und anti-depressive Ablenkung von alltäglicher Misere auch im Ausnahmezustand. (Die dialektische Mischung von Euphorisierung und Dämpfung ist den Funktionsfeldern von Nikotin oder Alkohol mindestens vergleichbar.)61

60 Strasser, Und dafür..., S. 170 61 Heute wird schon wieder wichtig getan mit dem Thema »Tod des Soldaten als […] Herausforderung« – impliziert oder propagiert werden heroische, irrationale Rituale und Feiern und sonstige Ästhetisierungen statt vernünftige Politik und Kriegsvermeidung im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung, des Sozialen und Nationalen; kurzum: Kult statt Kultur. Vgl. Der Tod des Soldaten als demokratische Herausforderung. Ein internationaler Vergleich, geleitet von Manfred Hettling (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und Jörg Echternkamp (Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam), Wissenschaftszentrum Berlin, 24.–26.10.2007. Vgl. aber auch u.a. M. Euskirchen, Militärrituale. Die Ästhetik der Staatsgewalt. Kritik und Analyse eines Herrschaftsinstruments in seinem historisch-systematischen Kontext, Berlin 2004; http://www.diss.fu-berlin.de/ diss/receive/FUDISS_thesis_000000001292

(8.2.2011).

Die

wirklich

de-

mokratische Herausforderung wäre es jedenfalls, Krieg und damit Soldaten wie deren Tod abzuschaffen bzw. überflüssig zu machen.

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Furtwängler versuchte, keine Veranstaltungen in besetzten Gebieten zu dirigieren. Das war freilich – bis zu einem Höhe- und Umschlagspunkt schon vor der Wende von Stalingrad – oft nur eine Frage des Zeitpunkts. Ein gestern noch freies Land war heute schon ein besetztes. »Obwohl Furtwängler z.B. ablehnte, mit den Berliner Philharmonikern im besetzten Frankreich aufzutreten, machte er sich dennoch dem Regime auch nützlich – und sei es nur dadurch, daß er der verbliebenen geistigen Elite das illusionäre Gefühl einer trotz allem noch heilen deutschen ›Geistigkeit‹ vermittelte.«62

Die »deutsche ›Geistigkeit‹« ist freilich selbst ein Stück Illusion und jedenfalls unter den gegebenen Umständen nicht ohne deutschen »Ungeist«, faschistische Barbarei zu haben. Einer der Aufträge vom Propagandaministerium als Dienstherr des Berliner Philharmonischen Orchesters war es, etwa 1939 bei den Maifestspielen in Florenz die Matthäuspassion zu dirigieren – »aber dies schien ihm keine Korrumpierung, wie es sich schlimmstenfalls um Sympathiewerbung handelte und Belange der NSDAP nicht zum Zuge kamen«.63 Wieder erscheint die im aktuellen Kontext gerade für besetzte Länder allzu feinsinnige Trennung von »Deutsch« und NS, obwohl es sie gab, hier als subjektive Legitimierung, sogar nachträglich. Außerdem ist da das Gewissen aus finanziellen Gründen dehn- und korrumpierbar. Furtwängler konzertierte gern in der Schweiz auch wegen seiner in Schweizer Franken zu leistenden Unterhaltszahlungen für die dort lebende Exfrau.64 Die Tröstungs-Funktion von Musik, letzte Zuflucht oft, wirkt höchst ambivalent. Auch in größerem, gesellschaftlichem Maßstab verhindert das ein Problem-Bewusstsein, weil es, wie großenteils der Alltag, mit Kunst und Kultur, mit dem Schönen, weitergeht, als ob alles in Ordnung wäre. Die Nazis haben diese Dimension selbst bewusst ausgenützt – so besonders zynisch in dem Propagandafilm über Theresienstadt Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, der das Überleben dort in Hunger und Angst als eine Art Sommerfrische bzw. Musikfreizeit darstellt. Richtig und berechtigt gegen das politisch Blind-Verblendende »Weiter so!« dürfte in jedem Fall Thomas Manns geradezu entgeisterte Antwort auf

62 Jungheinrich 1986, S. 186f. 63 Prieberg, Kraftprobe, S. 372 64 Ausf. dazu Haffner, Furtwängler.

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Kritik der im NS-Reich Zurückgebliebenen sein. Im September 1945 begründete er Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe: »Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, ›Kultur‹ zu machen in Deutschland, während rings um einen herum das geschah, wovon wir wissen. Es hieß die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken. [. . .] Ein Kapellmeister, der, von Hitler entsandt, in Zürich, Paris oder Budapest Beethoven dirigierte, machte sich einer obszönen Lüge schuld – unter dem Vorwande, er sei ein Musiker und mache Musik, das sei alles. Lüge aber vor allem schon war diese Musik auch zu Hause. Wie durfte denn Beethovens ›Fidelio‹, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? Es 65

war ein Skandal, daß er nicht verboten war.«

65 In: T. Mann, Politische Reden und Schriften, Bd. 3, Frankfurt/M. 1968, S. 181. Dazu ein aktueller Nachtrag. Jochen-Martin Gutsch: EINHEIT / Frontbesuch in Seoul, Der Spiegel, 1/2012, berichtet: »De Maizière pfeift eine Melodie aus ›Fidelio‹, einer Oper, sagt er, die in der DDR verboten war, wegen der Zeile: ›Oh, welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben!‹ Johannes Ludewig, der alte Bahn-Chef und Ost-Beauftragte, ruft dem koreanischen Wirt zu: ›Und das nächste Mal sehen wir uns dann in Hanoi!‹ Die ganze Gruppe lacht. ›Nee, Mensch, du meinst Pjöngjang!‹« Dummheit, die nicht verboten ist, paart sich mit Lüge, die nicht nur im Kampf gegen den Bolschewismus stets erlaubt ist. »Korrektur« Der Spiegel, Hamburg, 3/12, S. 11: »Die Aufführung der Oper ›Fidelio‹ war in der DDR nicht verboten.« Diesmal war es also mit der Wiederbelebung der bereits staatsoffiziellen »Totalitarismus«-Doktrin nichts.

Die Häftlingsorchester in den nationalsozialistischen Konzentrationsund Vernichtungslagern Musikalische Gewalt und Emotionsmanagement mit Musik J ULIANE B RAUER

I. »… IN A USCHWITZ EINLEITUNG

FRÖHLICHE

M USIK

SPIELEN «

»Wir spürten alle, dass diese Musik infernalisch ist«, heißt es in den Erinnerungen des Auschwitzüberlebenden Primo Levi. »Es sind nur wenige Motive, etwa ein Dutzend, und alle Tage, morgens und abends, dieselben: Märsche und Volkslieder, die jedem Deutschen lieb und teuer sind. Sie haben sich in unsere Köpfe eingegraben, und sie werden das Letzte sein, was wir vom Lager vergessen sollen: des Lagers Stimme sind sie, der wahrnehmbare Ausdruck eines konzipierten Irrsinns und eines fremden Willens, uns zunächst als Menschen zu vernichten, um uns dann einen langen Tod zu bereiten.«1

Primo Levi brachte mit dieser Charakterisierung Musik in den Zusammenhang mit etwas dämonischem, grauenhaften, aber auch gefährlichen, vielleicht sogar boshaften. Musik besitzt in dieser Beschreibung eine negative 1

P. Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, Frankfurt/M./Wien 1988, S. 82–83.

188 | JULIANE BRAUER

Wirkmächtigkeit, die der bis heute oft vorherrschenden romantischen Vorstellung ihrer besonderen ethischen und moralischen Qualität als der »holden Kunst«ʹ entgegenläuft. Doch finden sich in den Erinnerungsberichten Überlebender auch immer wieder Beschreibungen von der Musik als »Trösterin der Traurigen«3. Oft genug lässt sich der Hinweis darauf finden, dass die Liebe zur Musik beim Überleben half, Musikinstrumente zu Lebensrettern wurden. Musik von Schubert, Dvorak, Bach oder Verdi – um nur einen Bruchteil des Repertoires der Lagerkapellen aufzuzählen4 – stellten den »verfluchten Takt der Angst«5 und konnten gleichsam eine »Waffe gegen die unerträgliche Last des Daseins, gegen Müdigkeit, Abgestumpftheit und Kleinmut« sein.6 Musik – so lehrt die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationsund Vernichtungslager – in ihrer Variabilität in Deutung, Wirkung und Gebrauch ist nicht von sich aus moralisch gut. Über Musik im Konzentrationslager zu schreiben, bedeutet daher nicht weniger, als diese verwirrende Gleichzeitigkeit von Musik als »holder Kunst« und »infernalischem Irrsinn« zu berücksichtigen. Die Überlieferungen zu den Häftlingskapellen in den verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslagern sind lückenhaft. Eine Geschichte der Häftlingskapellen zu rekonstruieren erweist sich daher als problematisch jedoch nicht als unmöglich. So erschienen in den letzten zwanzig Jahren beachtliche kleinere und größere Dokumentationen von Musik im

2

Der Komponist Franz Schubert verewigte 1817 diesen Hymnus »An die Musik« seines Freundes Franz von Schober in eines seiner bekanntesten Lieder, siehe Op. 88 no. 4, D. 547.

3

Siehe B. ýervinka, Die Musik, die Trösterin der Traurigen und die Aufmunterung der Tapferen, o.O. o.J., Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen (AS) P3 ýervinka, Bohumir, S. 2.

4

S. Gilbert, Music in the Holocaust, Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps, Oxford 2005, S. 212f. listet beispielhaft das Repertoire des Sachsenhausener Orchesters auf.

5

M. Fritz, Essig gegen den Durst, Wien 1986, S. 22

6

K. Štancl, Auch das Lied ist dort Waffe geworden. Erinnerungen an die Kulturtätigkeit im Konzentrationslager Sachsenhausen in den Jahren 1939– 1942, Ústí nad Orlicí 1985, Übersetzung aus dem tschechischen, in: Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste, Berlin (ALA) 46, S. 1.

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nationalsozialistischen Lagersystem.͹ Dank dieser akribischen Forschungsarbeit ist mittlerweile davon auszugehen, dass es kaum ein nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager gab, in dem nicht auf Befehl der Lagerkommandantur Häftlingsorchester spielten.8 Überreste sind es vor allem – Zeichnungen von einzelnen Musikern beziehungsweise ganzer Orchester,9 Konzertprogramme10 oder von der SS angefertigte Fotos,11 – die die Existenz der Lagerorchester dokumentieren und erste Einblicke in Funktionalisierung und Repertoire der Orchester geben. Einen vielschichtigen Zugriff auf Wahrnehmungen von Lageralltag erlauben Erinnerungen der überlebenden Musikerinnen und Musiker, die publiziert sind12 oder in den Archiven der Gedenkstätten lagern. Aber auch

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Siehe dazu den Forschungsbericht in: J. Brauer, Musik in Sachsenhausen, Berlin 2009 und die sehr ausführliche Bibliographie in G. Fackler, »Des Lagers Stimme«. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern, Bremen 2000, S. 596–610.

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Selbst in den ausschließlich zur Vernichtung gebauten Lagern, wie Belzec, Sobibor und Treblinka erklang Musik von Häftlingskapellen. Siehe A. Dahm, Musik in den nationalsozialistischen Vernichtungszentren Belzec, Sobibor und Treblinka, in: musica reanimata 23 (1997), S.1–11.

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Zum Beispiel aus Sachsenhausen, Außenlager Falkensee, siehe Brauer, Musik, S. 78f.

10 Ebd., S. 65ff. 11 Siehe http://digitalassets.ushmm.org/photoarchives/ (eingesehen am 19. September 2011), Foto: #81216 (das zeigt das Orchester des Stammlagers Auschwitz beim Sonntagskonzert 1941) und siehe Foto der Gedenkstätte Auschwitz http://en.auschwitz.org.pl/m/index.php?option=com_ponygallery&func=detail& id=1149&Itemid=3 (eingesehen am 19. September 2011), zeigt das Orchester des Stammlagers Auschwitz 1941. 12 Publizierte Lebensberichte gibt es vor allem von überlebenden Musikern und Musikerinnen der Auschwitzer Lagerkapellen: E. Bejarano, Man nannte mich Krümel, hrsg. vom Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik e.V., Hamburg 1991; F. Fénelon, Das Mädchenorchester in Auschwitz, München 199713, erste deutschsprachige Ausgabe 1981, erstmalig erschienen in Paris 1976 unter dem Titel, Sursis pour l’orchestre. Témoignage recueilli par Marcella Routier (Koautorin); A. Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben, Bonn 1997; H. Meyer, Musste es denn Musik sein? In: H.-W. Heister (Hg.), Musik im Exil,

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in den Berichten anderer Häftlinge wird gelegentlich an die Orchester erinnert.13 Gerade diese Ego-Dokumente vermitteln eine Vorstellung davon, wie die Häftlingskapellen organisiert waren und zu welchen Anlässen die Musikerinnen und Musiker welche Musik spielen mussten. Auch wenn es sich um nachgängige Zuschreibungen handelt, ist in den Erinnerungen festgehalten, was es für die Musikerinnen und Musiker, für die zuhörenden Häftlinge bedeutete, unter den Bedingungen von Terror, Gewalt und Willkür mit Musik konfrontiert zu sein. Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde 1941 als Nebenlager von Auschwitz als Vernichtungslager einzig zu dem Zweck gebaut, schnell und effizient Menschen zu töten. Die deutsche Lager-SS ermordete bis 1945 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau circa eine Millionen Deportierte. Das erste Häftlingsorchester in Auschwitz-Birkenau entstand im Sommer 1942 im Männerlager.14 Im April 1943 folgte die Gründung eines reinen Frauenorchesters im Lagerbereich für die Frauen.15 Darüber hinaus gab es zeitweise in anderen Lagerbereichen, wie

Frankfurt/M. 1993, S. 29–40; H. Sachnowitz, Auschwitz. Ein norwegischer Jude überlebte, Frankfurt/M. u.a. 1981; C. Schumann, Der Ghetto-Swinger, München 1997; J. Stroumsa, Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993; D. Walda, Trompettist in Auschwitz. Herinneringen van Lex van Weren, Amsterdam 1989; S. Laks, Musik in Auschwitz, Düsseldorf 1998 (polnische Erstausgabe 1978); K. Shuldman, Jazz Survivor. The Story of Louis Bannet, Horn Player of Auschwitz, London 2005. 13 Als eine neue und bisher wenig beachtete Quelle zur Geschichte der Lagerorchester sind digitale Archive zu sehen, in denen Videointerviews mit Überlebenden versammelt und unterschiedlich gut und intensiv verschlagwortet sind, siehe beispielsweise das Visual History Archive des Shoah Foundation Institutes, http://dornsife.usc.edu/vhi/. 14 H.-L. Kreuzheck, Kapellen der Hölle. Die offiziellen Lagerkapellen in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, Teil 1, in: Informationsblatt, hg. v. Musik von unten 8/17 (1995), S. 44 listet für den Komplex Auschwitz weiterhin Kapellen auf für das Stammlager, die Außenlager Fürstengrube, Gleiwitz I, und Jawischowitz. 15 Zur Geschichte des Frauenlagers siehe: I. Strzelecka, Women, in: Y. Gutman u.a. (Hg.), Anatomy of the Auschwitz Death Camp, Washington 1994, S. 393– 411. Ausführlicher zur Geschichte der Auschwitzer Lagerkapellen Kreuzheck,

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dem »Theresienstädter Familienlager« und dem »Zigeunerlager« Häftlingskapellen, über die jedoch nur spärliche Informationen vorliegen. Sowohl das Männer- als auch das Frauenorchester in Auschwitz-Birkenau hatten repräsentative Funktionen. Sie spielten zu offiziellen Anlässen, wenn hochrangiger Besuch erwartetet wurde oder auch an Sonntagen auf dem Appellplatz. SS-Führer (auf Stuhlreihen sitzend) und Häftlinge (in blockweiser Aufstellung) bildeten gleichermaßen das Publikum. Weiterhin mussten die Musiker- und Musikerinnen zur Unterhaltung der höheren SSFührer bei ihren privaten Feiern oder zu deren Entspannung nach Mordaktionen musizieren. Die Hauptaufgabe der Häftlingskapellen bestand jedoch darin, Lagerabläufe zu strukturieren und zu begleiten. So spielte das Frauenorchester regelmäßig an der »Rampe« zur Ankunft der neuen Deportierten. Die SS-Führer bestellten die Häftlingsorchester ebenfalls zu Selektionen, forderten die Musikerinnen und Musiker auf, den Gefangenen im Krankenbau vorzuspielen, bevor diese selektiert wurden. Die meisten Erinnerungen von Überlebenden beziehen sich auf das morgendliche und abendliche Spielen der Häftlingsorchester beim Aus- und Einmarsch der Arbeitskolonnen am Lagertor. Diese Situationen des erzwungenen Musizierens werden von den Musikern und Musikerinnen zugleich als besondere Qual beschrieben wie auch als Chance ihr Leben zu retten. Ebenso ambivalent lesen sich Erinnerungen von Mithäftlingen an die Musik der Lagerorchester, einerseits als Folter andererseits als willkommene Ablenkung. ‡” Musiksoziologe Christian Kaden bezeichnet das Spezifische der Musik in ihrer »Macht der Lebensresonanz«. Mit dieser »nimmt sie Stellung zur Vielspältigkeit des Menschen, immer wieder aber so, daß sie sich auf die eine oder die andere Seite schlägt«.16 Doch stellt sich bezüglich der Musik in den Konzentrationslagern die Frage, was genau diese Lebensresonanz war und was sie bewirkte? Am Beispiel des auf Befehl der SS entstandenen Männer- und Frauenorchesters im Lager Auschwitz-Birkenau steht folgend die Indienstnahme und die ambivalente Wirkmächtigkeit von Musik in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern

Kapellen und G. Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz: Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996. 16 C. Kaden, Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozeß, Kassel u.a. 1993, S. 14 (Hervorhebung im Orig.).

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im Mittelpunkt.17 Zu welchen Anlässen erklang Musik? Was bedeutete es für die Musiker und Musikerinnen in Situationen von Gewalt und Mord zu musizieren? Konnten die Gefangenen angesichts dieser Vereinnahmung durch die SS Musik überhaupt noch als Hilfe, Hoffnung oder Trost wahrnehmen? Es ist zu vermuten, dass die Wirkung von Musik entscheidend von den Situationen abhing, in denen sie präsent war, von der momentanen Verfasstheit der Musizierenden und der Zuhörenden, ihrem Vermögen der Musik Bedeutungen zuzuschreiben, den Erinnerungen, die damit verbunden waren und den Emotionen die daraus entstanden. Folgend werden Emotionen als Analysekategorie eingeführt, um die divergierende Wirkmächtigkeit von Musik im Lager Auschwitz zu beschreiben und zu erklären. Einführend gilt es, das Verhältnis von Musik und Emotionen zu klären. Der zweite Teil erläutert den Begriff der musikalischen Gewalt. Abschließend wird danach gefragt, wie Überlebende Musik als Überlebensmittel beschrieben und was das mit Emotionsmanagement zu tun hat.

II. M USIK

UND

E MOTIONEN

Die emotionale Wirkmächtigkeit von Musik lässt sich anhand der individuellen Musikwahrnehmung und Reaktion beschreiben. Was hier als schneller Vorsatz daher kommt, entpuppt sich rasch als methodisches Kernproblem. So ist es unbestritten, dass »Musik eine tiefe Verbindung zu unserem emotionalen Leben hat«, so die Philosophin Martha Nussbaum, »aber die Natur dieser Beziehung ist schwer zu beschreiben«.18 So untersuchen unzählige Studien den Zusammenhang von Musik und Emotionen und beschreiben ihre Ergebnisse aus verschiedenen disziplinären Perspektiven.19 Bezeich-

17 Die Wahl dieser beiden Kapellen begründet sich in der Zugänglichkeit von publizierten Erinnerungen und bisher geleisteter Forschungsarbeit. 18 M. Craven Nussbaum, Upheavals of thought: the intelligence of emotions, Cambridge/MA 2001, S. 249. 19 Siehe dazu vor allem des neue Handbuch P.N. Juslin/S. Sloboda, Handbook of music and emotion: theory, research, applications, Oxford u.a. 2010; der schwedische Psyschologe Patrick N. Juslin nimmt eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet ein.

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nenderweise aber kümmern sich hauptsächlich Psychologen, Neurowissenschaftlicher und Musikpsychologen um den Zusammenhang von Emotionen und Musik. Diese suchen und finden die emotionale Wirkmächtigkeit von Klängen oder Musik auf einer physischen, biologisch basalen Ebene und reklamieren dieses Forschungsgebiet daher für sich. Diese Studien verbindet eines: eine essentialistische Vorstellung von Emotionen und davon wie sich diese im menschlichen Körper generieren. Im Mittelpunkt dieser Forschung steht daher die Suche nach einem sicht- und messbaren Nachweis für die universelle Verbindung von Musik und Emotionen. Auch wenn diese Studien zeigen, dass es Auswirkung von Musik auf das vegetative Nervensystem von Menschen gibt – basierend auf einem divergierenden Verständnis von Emotionen ist noch lange kein Konsens darüber erzielt, wie Musik Emotionen indiziert, beeinflusst oder wie über Musik Emotionen kommuniziert werden. Fragen nach individuellen Hörgewohnheiten und deren Wandel, nach Musiksozialisation, nach Vorlieben- und Abneigungen und vor allem nach den Gründen dafür, Fragen nach dem persönlichen Gebrauch und Genuss von Musik finden in diesen Forschungssettings kaum Platz. In der Fluidität und Unbestimmtheit von Emotionen liegt deren methodische Produktivität. Es wird vorgeschlagen, Emotionen (hier synonym zu Gefühlen verwendet) weder als rein körperliche Reaktionen auf äußere Reize, noch als ausschließlich kulturelles Konstrukt zu verstehen. Emotionen seien – so die Kulturwissenschaftlerin Sarah Ahmed – »intentional auf etwas gerichtet«, würden demnach in der Beziehung zu einem realen oder imaginierten Objekt entstehen.20 Sie prägen den Kontakt des Selbst mit dem Anderen und sie sind die Markierungen, die der/die oder das Andere im Körper des Wahrnehmenden hinterlassen. Somit sind Emotionen die Vermittlerinstanz zwischen Körper/Geist und Gesellschaft, eine zentrale Dimension von Erfahrung und Erkenntnis. Durch die immer wieder neuen Qualitäten von Wahrnehmungen und Kontakte von »Innen« nach »Außen« und vice versa unterliegen Emotionen ständigen Wandlungen.

20 S. Ahmed, Collective feelings: Or, the impression left by Others, in: Theory, Culture & Society 2 (2004), S. 25–42. So sehr diese Überlegungen versuchen das liminale Phänomen der Gefühle zu erfassen, so sehr beschreibt Ahmed dennoch ganz klar Gefühle als soziale Konstrukte.

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In diesen Überlegungen wird die Bedeutung des Körpers besonders deutlich. Er ist das Medium der Einprägung aber auch Akteur der Ausprägung von Emotionen. Monique Scheer plädiert daher, Emotionen – im Sinne von »Doing Emotions« – als eine Form von Praktik des »wissenden Körpers« zu definieren.21 Entscheidend hierbei ist die Beschreibung des wissenden Körpers, als ein Produkt biologischer und kultureller Faktoren. Damit steht dieses Konzept für die konzeptionelle Vereinigung vom Körper, Geist und Gesellschaft.22 »The Body is actor and instrument. It is not conceived of as an assembly of organic material and processes alone, but as a knowing body, one that stores information from past experiences and contributes it to human activity and consciousness.« 23

Weiterführend argumentiert Scheer in Anlehnung an Bourdieusche Begrifflichkeit, dass eben dieser wissende Körper »tief geprägt vom Habitus« ist,24 somit wissend sei durch eingelagerte Verhaltensweisen, Haltungen, Denkgewohnheiten, Neigungen und Emotionen. Gleichzeitig aber würde auch die Beschaffenheit des Körpers, sein Wissen die Grenzen dessen definieren, was wahrnehmbar ist und in Habitus transformiert werden kann. Entscheidend an dieser Argumentation ist, dass der Habitus nach Bourdieu und damit auch der wissende Körper historisiert werden muss, denn der Habitus sei verkörperlichte Geschichte, internalisiert als zweite Natur, als solche vergessen und dennoch im Körper wirksam, so die Argumentation

21 M. Scheer, Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Defining Emotion, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220. 22 Zum wissenden Körper als »mindful body« siehe auch: N. Scheper-Hughes/ M.M. Lock, The Mindful body: A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Medical Anthropology Quarterly 1 (1987), S. 6–41. Dieses Konzept versucht die Dualismen Geist/Körper, das Selbst/das Andere, das Individuelle und die Gesellschaft zu überwinden und darin die Vorstellungen vom individuellen Körper als physisches Artefakt, vom sozialen Körper als kulturelles Symbol und vom politischen Körper als Symbol für Macht und Kontrolle zu einem umfassenderen Körperverständnis zu verbinden. 23 Scheer, Emotions, S. 6. 24 Ebd.

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Monique Scheers.25 Emotionen resultieren aus dem körperlichen Wissen und sind eine gelernte Praktik des Körpers, und bewirken gleichzeitig Veränderungen im Körper. »The skillful use oft the body in automatic movements, impulses, and activations is a learned practice, transmitted not by genes, but by society, and making lasting changes on the body and brain.«26

Daran anknüpfend werden hier Musikwahrnehmung und die Produktion von Musik als emotionale Praktiken verstanden. Der wissende Körper ist der Akteur beim Hören der Musik. Er ist gebunden an habitualisierte Erfahrungen und Erwartungen, an Verhaltensweisen, Denkgewohnheiten, Vorlieben und Geschmack. Er hat in einem bestimmten historisch wandelbaren soziokulturellen Umfeld gelernt, Musik wahrzunehmen und ihr eine bestimmte Bedeutung zuzumessen. Somit werden im Prozess der Musikwahrnehmung bestimmte Emotionen im Körper mobilisiert und über den Körper ausagiert (zum Beispiel durch Tränen, Schweißausbruch, Herzklopfen). Unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager änderten sich die gewohnten Umstände des Musizierens und Musikhörens radikal, sowohl in Situationen befohlener Musik als auch in den Praktiken heimlichen Musizierens. In diesen Konstellationen der radikalen Umkehrung gewohnter sozialer Voraussetzungen ist zwangsläufig auch ein Wandel der Musikwahrnehmung erkennbar, wie noch detaillierter beschrieben werden soll. So entschied sich in der konkreten Situation und abhängig von den Beteiligten, welche Wirkung Musik auf den Menschen haben konnte, wie sie diese empfanden, ob als Qual oder Wohltat, ob als Auslöser von Angst oder Zuversicht, ob Musik ein wirkungsvolles Herrschaftsinstrument für die SS oder eine Überlebensressource für die Gefangenen im Konzentrationslager war. Diese zwei gegensätzlichen Seiten der Musik gilt es, genauer unter der Perspektive ihrer emotionalen Wirkmächtigkeit aufzuschlüsseln.  

25 Ebd. 26 Ebd., S. 7.

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III. »…, DASS DIESE M USIK INFERNALISCH M USIKALISCHE G EWALT

IST «:

Die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, so die Überlegungen des Soziologen Wolfgang Sofsky, waren »Laboratorien der Gewalt, befreit von allen Hemmungen« und geprägt von entgrenzter Grausamkeit. Es konnte »fast alles erprobt, wiederholt, gesteigert oder abgebrochen werden, ohne Bindungen, ohne Normen oder Ziel«.27 Auch die Musik prägte sich, losgekoppelt von ihren zivilisierten sowie zivilisierenden Kontexten, in den Lagern in bis dahin unbekannten Formen aus und wurde zu einem Instrumentarium der Gewalt. Anknüpfend an obige Überlegungen zum wissenden Körper, wird hier vorgeschlagen, den gängigen soziologischen Gewaltbegriff auszuweiten. Gewalt wird demnach nicht mehr nur als ein physisches, sichtbares Verletzten des Körpers verstanden sondern als ein Angriff auf den wissenden Körper. Die Transformation der eben nicht nur physischen Gewalt in den wissenden Körper erfolgt über Emotionen. »Gewalt«, so führt Trutz von Trotha aus, »ist eine Wirklichkeit der Gefühle, die die Menschen oft überwältigen und der entgrenzten Gefühle, der sinnlichen Erfahrung, der Emotionen und der Fantasie.« 28 Somit steht im Mittelpunkt von Gewalt der wissende Körper mit seinen eingelagerten Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Neigung. Die Macht, auf diesen Körper einzuwirken, ihn zu beeinflussen oder zu formen steht symbolisch für Fremd- oder Selbstkontrolle, wobei Fremdkontrolle mit gewaltsamer Verformung des wissenden Körpers einhergeht, die Fremddefinition und damit auch im äußersten Fall der Zerstörung der subjektiven Welt. Das Selbst als Ressource von Widerstand und damit auch von Überleben ist verletzt, im äußersten Fall sogar zerstört.

27 W. Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1997, S. 35. 28 Gleichzeitig unterstreicht von Trotha, dass diese Tatsache weitgehend unbeachtet bleibt, T. v. Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: ders., Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Sonderhefte 37 (1997), S. 9–56, hier S. 26.

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Um die besondere Gewalt im Musikgebrauch in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern zu spezifizieren, werden folgend drei Perspektiven berücksichtigt. • • •

Musizieren als Gewalterfahrung Musikhören als Gewalterfahrung Gewalttätigkeit der Musikbefehlenden

1. Das Musizieren als Gewalterfahrung Musik in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern erklang zur Demütigung, Misshandlung, Täuschung, Selektion und Ermordung von Gefangenen. Die Reaktionen der Musikerinnen und Musiker auf das erzwungene Musizieren in den oben benannten Situationen sind vielfältig. An die besondere Verzweiflung jedoch, nicht nur Zeugen der alltäglichen Misshandlungen und Demütigungen zu sein, sondern diese sogar musikalisch begleiten zu müssen, erinnern sich die Musikerinnen und Musiker aus den Orchestern des Lagers Auschwitz-Birkenau häufig. So beschrieb die Musikerin Esther Bejarano, die 1943 nach AuschwitzBirkenau kam, diese »ungeheure psychische Belastung«, wenn das Frauenorchester an der Rampe die Neuankommenden mit Musik empfing: »Für uns Musikerinnen war es besonders schlimm, dass wir nach einigen Wochen abkommandiert wurden, um am Tor zu stehen und zu spielen, wenn neue Züge kamen. Wir wussten, dass die vielen Menschen, die aus den Waggons strömten, in den Gaskammern enden würden, und wir mussten ihnen bei ihrer Ankunft in Auschwitz fröhliche Musik spielen.«29

Die jüngste Polin aus dem Ensemble bat den Lagerkommandanten gar um eine Versetzung aus dem Musikerblock, da sie »moralisch daran zerbrach, unter den Verhältnissen im Lager Musik machen zu müssen«. Die Polin gab als Grund »seelische und körperliche Erschöpfung« an, so die Erinnerung von Helena Dunicz-Niwínska, die auch im Frauenorchester spielte. Sie selbst betonte, wie anstrengend, nervenanspannend die Arbeit im Musikkommando war. An diesem »Zwang, spielen zu müssen« zerbrachen

29 Bejarano, Man nannte mich Krümel, S. 23.

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einige der Frauen, sie »fielen in Despression. Sie konnten nicht mehr spielen, nahmen keine Nahrung mehr an, mussten manchmal ganze Tage insgeheim ›beurlaubt‹ werden«.30 Neben dieser besonderen psychischen Belastung, war das Halten der Instrumente, das Lesen von Noten und das Produzieren von Tönen bei Kälte, in dünner Kleidung, hungrig, krank und übermüdet mit dem Wissen, dass ein falscher Ton den Ausschluss aus dem Orchester und damit den Tod bedeuten könnte, eine besondere Form von musikalischer Gewalt. Während das Musizieren an der Rampe zum einen die Funktion hatte, die Ankommenden über die tatsächlichen Bedingungen des Lagers hinwegzutäuschen, Panik und Unruhe unter den Gefangenen zu vermeiden und zum anderen den SS-Männern zur Unterhaltung und Ablenkung diente, symbolisierte das tägliche Aufspielen am Lagertor als »heiligen Ort der Macht«31 zum Aus- und Einmarsch der Arbeitskolonnen die absolute Macht der SS über die Häftlinge und über den wissenden Körper der Gefangenen. Gerade die Erkenntnis, dass die Musiker und Musikerinnen selbst diesen »verfluchten Takt der Angst«32 für ihre Mithäftlinge spielen mussten, erzeugte eine Verzweiflung, ein »großes moralische Leiden«33, das in den nachträglichen Erinnerungen auch als Scham und Schuld interpretiert wird. Der Musikbefehl in den Situationen von absoluter Überlegenheit und Machtdemonstration kontrastierte die habitualisierten Musizierpraktiken und damit verbundenen emotionalen Erwartungshaltungen der Musikerinnen. Das Musikrepertoire bildete einen Querschnitt mitteleuropäischer Konzertsäle: Schubert, Strauß, Bach, Beethoven, Brahms, Arien von Puccini, Rossini, Verdi und populäre Schlager.34 Diese Kompositionen hatten die (überwiegend) Laienmusikerinnen vor der Deportation zu abendlichen Hauskonzerten gespielt, im privaten oder halböffentlichen Raum, zum eigenen Vergnügen. Der Befehl nach genau dieser Musik an den neuralgi-

30 Alle Zitate des Absatzes aus: H. Dunicz-Niwínska in: Die Auschwitz-Hefte, Band 2. Texte der polnischen Zeitschrift Przeglad Lekarski über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz, S. 144f. 31 Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 23. 32 Fritz, Essig gegen den Durst, S. 22. 33 Dunicz-Niwínska, Auschwitz-Hefte, S. 145. 34 Siehe Knapp, Frauenorchester, S. 75f.

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schen Orten absoluter Macht stellte daher einen schmerzhaften Bruch mit konditionierten Erwartungen, den erinnerten Emotionen dar. Die Wahrnehmung der Musikerinnen und Musiker jedoch war nicht nur geprägt vom Beobachten des Leidens der Mitgefangenen, sondern auch von der Verzweiflung, als Handlanger der Macht zu diesem Leiden der Mithäftlinge beizutragen zu müssen. Mit der Musik stellten sich daher neue Emotionen wie Wut, Verzweiflung, Scham und gleichzeitig Angst ein. Diese negativen Emotionen strukturierten die Wahrnehmung der Musikerinnen und Musiker um und prägten sich dem wissenden Körper ein. Nunmehr war Musik kein Vergnügen mehr, keine Quelle von Erholung, Freude und gesellschaftlicher Reputation. Der wissende Körper verinnerlichte die Musik zusammen mit den Wahrnehmungen von Hilflosigkeit, Entsetzen und Angst. Diese Transformation verletzte und zerstörte in einigen Fällen sogar die Identität der musizierenden Häftlinge, führte zur psychischen Auszehrung und damit auch zur körperlichen Erschöpfung. So überlieferte der Dirigent des Männerorchesters in Birkenau Szymon Laks eine hohe Suizidrate. Er selbst führt diese Selbsttötungen auf den hohen Grad der Verzweiflung der Musiker zurück.35 2. Musikhören als Gewalterfahrung Kaum ein Erinnerungsbericht von Auschwitz-Überlebenden kommt ohne den Verweis auf die quälende Präsenz der Marschmusik aus: »Ihnen [der SS] behagt die Musik am Lagertor, die Gefangenen hat sie gequält. Jene wollen von diesen selbst noch demonstriert haben, wie sehr sie sie im Griff, an der Gurgel haben«, so die Überlebende Mali Fritz. »Diese verfluchte Musik, wie ein wohliges Grunzen über solche Zustände. Beim Einmarsch ins Lager diese Irrenhaus-Musik, die bemühen sich wirklich im Takt zu spielen, warum nur? Unsere gespenstische Kolonne muss aussehen, als kämen wir aus dem Erdinneren gekrochen. Und links, und links und links, zwei, drei […] dieser verfluchte Takt der Angst.«36

35 S. Laks, Musik in Auschwitz, Düsseldorf 1998, S. 52. 36 Fritz, Essig gegen den Durst, S. 22.

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Auch Primo Levi benannte in seinen Erinnerungen die offensichtlichste Funktion der Marschmusik am Eingangstor, dem symbolischen Mittelpunkt der absoluten Macht: Der Rhythmus des Marsches sollte die Körper der Gefangenen disziplinieren,37 ihren »Willen ersetzen«, wie Primo Levi wortwörtlich schrieb: »Wenn diese Musik ertönt, wissen wir, daß sich die Kameraden draußen im Nebel wie Automaten in Marsch setzen. Tot sind ihre Seelen, und die Musik treibt sie dahin wie der Wind das welke Laub und ersetzt ihren Willen.«38 Die Erinnerungen an die Kapellen sind vor allem geprägt von dem Eindruck der akustischen Unmittelbarkeit der Musik, dem Unvermögen, sich ihrem diktatorischen Rhythmus zu widersetzen. Hier offenbart sich das Ohr als ein schutzloses Sinnesorgan. Die Gefangenen waren gezwungen, die Musik zu hören, ihr Körper war dieser Wahrnehmung ausgesetzt und wurde damit über die Musik verletzbar. Absolute Macht demonstrierte sich in diesen Situationen subtil, dennoch nicht weniger effizient. Der SS gelang es nicht nur, den Körper physisch anzugreifen und zu verletzen, sondern auch, dem wissenden Körper negative Emotionen einzuschreiben (wie Angst, Schmerz, Wut, Hilflosigkeit und Verzweiflung), die in den Situationen der Musikwahrnehmung entstanden. Eine besondere Art der Verzweiflung lässt sich eben aus dem Medium der Musik erklären. An dem Zusammenprall von Erinnerungen an eine glücklichere Vergangenheit mit den negativen Emotionen, die im konkreten Musikerlebnis des Lagers entstanden, zerbrachen einige Gefangene innerlich. Dieser absichtsvolle Angriff auf den sozialen Körper führte zu Schmerz und zur Verzweiflung über den Verlust der Würde, der Identität als Mensch, den Verlust der Vergangenheit und damit auch den Verlust der Hoffnung auf eine Zukunft. Dieses innerliche Zerbrechen fand seine Entsprechung im Äußerlichen, der physische Körper wurde aufgegeben, wenn der Lebenswille fehlte. Verzweiflung ist daher zu Recht, nach Wolfgang

37 W.H. McNeill, Keeping together in time. Dance and drill in human history. Cambridge/MA 1995, S. 101f. arbeitete heraus, welche positiven emotionalen Vergemeinschaftungseffekte Marschieren hatte, auch hier wurde die ursprünglichen Effekte im Konzentrationslager ins Gegenteil verkehrt. Marschieren hatte nicht mehr die Funktionen, gemeinschaftliche Stärke zu empfinden, sondern vereinzelte die Gefangenen in ihrem Leid, mit dem Marschrhythmus mithalten zu müssen. 38 Levi, Mensch, S. 82–83.

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Sofsky, als eine »umfassend gewalttätige Emotion« zu sehen, eben weil sie »ein Zerbrechen des leiblichen Selbstbezuges« bedeutete und damit »eine übermächtige unaufhaltsam vorrückende Pein«.39 3. Musikbefehl als Gewalttätigkeit Von Seiten der SS gibt es keinerlei Überlieferung über die Musik der Lagerorchester. Die zahlreichen Hinweise jedoch darauf, dass der Musikbefehl zum einen an Lagertor und Rampe, also den symbolischen Zentren der absoluten Macht erklang und zum anderen einzelne SS-Führer Musik häufig zum Vergnügen und zur Erholung einforderten, spricht dafür, dass Musik wegen dieser doppelten Bedeutung so häufig erklang. Der gepflegte »Genuss« der Musik sollte moralische Überlegenheit demonstrieren. Die SS-Führer, für die die Häftlingsmusiker und Musikerinnen zu jeder Tagesund Nachtzeit auf Befehl bekannte Melodien der klassischen Orchesterliteratur spielen mussten, konnten sich durch den demonstrativen gepflegten Genuss der Musik während der Sonntagskonzerte oder nach nächtlichen Mordaktionen40 als kulturelle, gebildete Menschen darstellen und damit ein Gegenbild zu den Gefangenen entwerfen, denen sie ihr Menschsein, ihr Selbst, die dem Körper inhärente Kultur zu zerstören versuchten. Denn »Kultur«, so Wolfgang Sofsky, »ist der Inbegriff all der Mittel und Formen, mit denen der Mensch seinem Leben Gestalt und Ausdruck, Ordnung und Substanz gibt. […] Kultur ist Selbsterweiterung, Selbsterzeugung, Selbstdarstellung in einem.«41 Der Befehl nach Musik markierte weiterhin eine besondere Form von Aktionsmacht, die anders als in der Soziologie der Gewalt immer betont, ohne körperlichen Einsatz der Täter, hier der Befehlenden auskommt. Die Musik selbst, ihre Performanz, ihr Klang, ihre Wahrnehmung in Situationen absoluter Macht über den menschlichen Körper, die Musik selbst war das Medium der Gewalt. Sie erzeugte diese besondere Intensität der Verzweiflung und Hilflosigkeit, sie war Teil des wissenden Körpers und stellte das

39 Sofsky, Traktat, S. 76f. 40 Dunicz-Niwínska, Auschwitz-Hefte, S. 145; siehe auch die Erinnerung Fania Fenelons in: N. Frank, Nach Mord Schumanns Träumerei, in: Stern 41 (1980), S. 280–283. 41 Sofsky, Traktate, S. 212.

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kulturelle Selbst in den Situationen der Konzentrations- und Vernichtungslager in Frage. Der Mangel an offensichtlicher Kennzeichnung der Gewaltaktion, also dem körperlichen Einsatz, um den Anderen zu verletzen, überraschte diejenigen umso mehr, die sie erleiden mussten. Umso einfacher und effizienter war diese Form der Gewalt jedoch für diejenigen, die sie ausübten. Es handelt sich hierbei um eine Form der »no-touch torture«, auch wenn es diesen Begriff in jener Zeit noch nicht gab.42

IV. E MOTIONSMANAGEMENT

DURCH

M USIK

Wie eingangs beschrieben, changieren die Erinnerungen an Musik im Konzentrationslager zwischen musikalischer Gewalt und Musik als Überlebensmittel. So gab es jenseits der Dimension der befohlenen Musik selbstbestimmte musikalische Aktivitäten,43 Situationen, in denen die Gefangenen auf eigenen Wunsch und für sich und andere musizierten. Diese freiwillig gespielte Musik war der SS nicht unbekannt, sie bewegte sich zwischen formeller Erlaubnis, Duldung und regelrechtem Verbot. Für Auschwitz-Birkenau sind nur sehr wenige Situationen selbstbestimmter Musik überliefert, die auf unregelmäßiges eher zufälliges Musizieren verweisen. So spielten beispielsweise einzelne Musiker und Musikerinnen in kleineren Ensembles manchmal am Sonntag für die Gefangenen, vor der Häftlingsküche oder im Krankenbau. Die Musik sollte Trost und Zuversicht spenden oder Ablenkung anbieten. Bernhard Klieger erinnerte sich an eine solche Situation: »Wir standen herum, jeder von uns seine Tragödie im Herzen tragend […] und hörten Tangos Foxtrott und andere Schlagermusik mit Tränen in den Augen an, aber wir blieben stehen, wir gingen nicht weg. Ein Heißhunger nach Abwechslung hatte uns ergriffen.«44

42 Zu Musik als No-touch-torture unter anderem in Befragungstechnicken des CIA siehe ausführlicher S.G. Cusick, Music as torture/Music as weapon. In: Revista Transcultural de Mùsica. Transcultural Music Review 10 (2006). 43 Der Systematisierungsvorschlag stammte von G. Fackler, Des Lagers Stimme, 2000. 44 B. Klieger, Der Weg, den wir gingen. Reportage einer höllischen Reise, Bruxelles-Ixelles 1963, S. 38.

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Anita Lasker-Wallfisch berichtete von einem Kammermusikabend im Block der Musikerinnen, als einem seltenen Ereignis: »Damit hoben wir uns im wahren Sinne des Wortes über das Inferno, in dem wir lebten, in Sphären hinaus, die nicht von den Erniedrigungen einer Existenz im Konzentrationslager berührt werden konnten.«45 Esther Bejarano beschrieb wiederum gegenteilig: »Musik war kein Vergnügen mehr. Wir haben nur auf Befehl gespielt, nie für uns selbst. Ich habe immer gern gesungen, aber das Singen ist mir in Auschwitz vergangen.«46 Der Verlust der Musik als ÜberlebensressourceͶ͹ jedoch – so wie einige Erinnerungen es beschrieben – war eine Konsequenz aus der negativen Neuprägung des Musikerlebnisses in Auschwitz-Birkenau. Der Violinist Jacques Stroumsa beschrieb, wie einige Musiker aus dem Orchester sonntags mit einer Auswahl klassischer Musikstücke in die Krankenbaracken gegangen sind, um »mit unseren bescheidenen Mitteln […] den kranken Mut zu machen«.48 Über dreißig Jahre später traf er in Haifa auf einen Überlebenden aus Auschwitz, der sich mit überschwänglicher Freude erinnerte, wie Stroumsa im Krankenbau Mozarts A-Dur Sonate spielte. Diese Musik half dem Kranken »seelisch, die schlimmen Stunden im Revier zu überstehen«,49 so die Einschätzung Stroumsas. Doch die überlieferten Erinnerungen an das Musizieren im Krankenbau sind zwiespältig. So schickte die Lagerkommandantur die Orchester oder kleinere Ensembles in das Krankenrevier zum Musizieren bevor eine Selektion stattfand. Dieses Ritual transformierte die Musiker und Musikerinnen zu Todesboten. Der Dirigent des Männerorchesters Szymon Laks überlieferte, dass zu Weihnachten 1943 holländische Musiker im Krankenbau »tröstliche« Weihnachtslieder spielen sollten. Die Idee stammte vom Lagerkom-

45 Lasker-Wallfisch, Wahrheit erben, S. 127. 46 E. Bejarano, Das Singen ist mir in Auschwitz vergangen, in: Kontrapunkt 2 (1989), S. 18f. 47 So argumentiert die Soziologin Maja Suderland, dass kulturelle Identität als »Überlebensressource« in den Konzentrationslagern zu definieren sei, siehe M. Suderland, Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager, Frankfurt/M./New York 2004. 48 J. Stroumsa, Geiger in Auschwitz. Ein jüdisches Überlebensschicksal aus Saloniki 1941–1967, Konstanz 1993. 49 Ebd., S. 46.

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mandanten. Zunächst reagierte ein Teil der Kranken mit »Weinen und Schluchzen auf die unverhoffte Musik […] als ob sie nicht glauben konnten, dass das Wirklichkeit war«.50 Szymon Laks berichtete weiter, wie hilflos die Musiker diesem Weinen gegenüberstanden. Doch dann wurden sie von den Kranken rausgeworfen: »von allen Seiten erklangen mühsam artikulierte Rufe, immer zahlreicher, dann ein Schreien […] Raus mit Euch, lasst uns doch wenigstens in Ruhe krepieren.«51 Aus diesen vereinzelten Erinnerungen über das mehr oder weniger selbstbestimmte Musizieren lässt sich zunächst erkennen, dass Musik Ablenkung bedeutete, den Gefangenen Trost spenden konnte. Kultur wurde im Verständnis des Soziologen Zygmunt Bauman zu einer Lebensstrategie, um »den Geruch des Todes zu unterdrücken«.52 Doch die divergierenden Beschreibungen des Musizierens im Krankenbau und im Block des Frauenorchesters geben vorranging Aufschluss über das Verhältnis der berichtenden Musiker und Musikerinnen zur Musik. Während Jacques Stroumsa bis zu seinem Lebensende die Geige, respektive die Musik, als sein Überlebensmittel beschrieb, überrascht es kaum, dass sich seinen Erinnerungen die positiv generierten Emotionen der Musikerfahrung eingeschrieben haben und damit in seinem »Erinnerungsmuster« eingewoben waren. Auch für Anita Lasker-Wallfisch ist Musik ein bestimmender Teil ihres Lebens. 1949 war sie Mitbegründerin des English Chamber Orchestra und bis heute ist sie als Cellistin aktiv.53 Die Erinnerungen Szymon Laks wiederum sind dominiert von Situationen musikalischer Gewalt. So reflektierte er in seinem Buch: »Es fehlt nicht an Publikationen, die mit einer gewissen Emphase berichten, dass die Musik den elenden Gefangenen den Mut und die Kräfte zum Überleben gab. Andere dagegen berichten, dass diese Musik den Gegeneffekt hatte, die Unglücklichen zu

50 zitiert nach: Knapp, Frauenorchester, S. 246. 51 Laks, Musik, S. 108. 52 Z. Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, Frankfurt/M. 1994, S. 48. 53 Zur Biographie von Anita Lasker-Wallfisch siehe: http://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001580;jsessionid=BD9B97B76B4FBF626 F9EA49E4603C2C8?wcmsID=0003 (eingesehen am 21. September 2011)

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demoralisieren und damit zu ihrem früheren Ende beigetragen hat. Ich persönlich stimme dem Letzteren zu.«54

Das Gleiche gilt für die zuhörenden kranken Häftlinge. Welche emotionalen Signale aus ihrer Musikwahrnehmung resultierten, lag nicht an der Musik, sondern vor allem an der physischen Verfassung, der habitualisierten Musikrezeption und den neu geprägten Erfahrungszusammenhängen von Musik im Lager.

V. F AZIT Auffällig ist, dass Erinnerungen an selbstbestimmtes Musizieren in Auschwitz-Birkenau im Vergleich mit Konzentrationslagern wie Sachsenhausen nur selten zu finden sind. Während die Mehrzahl der Erinnerungen an Musik in Sachsenhausen die positive Kraft der Musik betonten, deren Hilfe beim Überleben,55 lassen sich nur einige vereinzelte Erinnerungen an Musik in Auschwitz-Birkenau finden, die sich nicht auf deren quälende Präsenz in den oben genannten Situationen beziehen. Doch ein genauer Blick auf Lebensbedingungen verweist auf entscheidend Unterschiede. So konnten sich die Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen Räume und Zeiten für selbstbestimmte musikalische Aktivitäten suchen und nutzen, während die Struktur und Organisation des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau kaum Möglichkeiten für selbstbestimmte Beschäftigung ließ. Das scheint eine Erklärung für die gravierenden Unterschiede in den Erinnerungen zu sein. Ein weiterer Unterschied ist im Musikgebrauch zu sehen. In kaum einem anderen Lager war Musik so präsent im Lageralltag als Herrschaftsinstrument. In den meisten Erinnerungen von Auschwitzüberlebenden gibt es Verweise auf die Musik am Lagertor. In diesen wiederkehrenden Situationen von musikalischer Gewalt hat sich das Musikerleben der Gefangenen radikal verändert. Musik prägte sich dem wissenden Körper nun mehr als etwas Gefährliches ein, verknüpft mit Angst, Verzweiflung, Wut und Scham. Soweit die Erinnerungen der wenigen Überlebenden überhaupt eine Aussage dazu ermöglichen, scheint

54 Laks, Musik, S. 16. 55 Siehe Brauer, Musik in Sachsenhausen.

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es, dass es insbesondere in Auschwitz-Birkenau kaum mehr möglich war, Musik als Überlebensressource zu nutzen. Genau diese Beobachtung verweist auf die Notwendigkeit, das Musikerleben als eine emotionale Praktik des wissenden Körpers zu beschreiben, ihn als Akteur der Bedeutungszuschreibung von Musik und Medium der Überschreibung mit neuen musikalischen Erfahrungen ernst zu nehmen. Aus den Veränderungen des Musikerlebens lassen sich deutlich Überschreibungen des Habitus erkennen, die wiederum Körperpraktiken ausprägten. Genau aus diesem Grund war es vielen Musikern und Musikerinnen nach ihrer Befreiung für lange Zeit oder auch nie wieder möglich, zu musizieren. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Wie die Musik wirkte, hing entscheidend von den Situationen ab, in denen sie präsent war und aus denen sie gelernt wurde. So oder so wurde Musik für die Lager-SS und Gefangenen zu einer neu zu deutenden und zu integrierenden Praktik. Ob in Situationen von Gewalt oder selbstbestimmten Musizierens, generierte die Musikwahrnehmung Emotionen, die sich dem wissenden Körper neu einschrieben und dort wirksam wurden, ob als musikalische Gewalt oder als Überlebensressource. Genau darin liegt die Macht der Musik, ihre »Vielspältigkeit« und aus diesem Grunde musste Musik auch in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern wie selbstverständlich erklingen.

Music and its Emotional Aspects during the Nazi Occupation of Poland K ATARZYNA N ALIWAJEK -M AZUREK

Music was politicized and exploited in manifold ways in Nazi-occupied Poland. Goebbels and other ideologists of the Third Reich recognized the psychological impact of music and the possibilities of using it for ideological purposes. They were convinced that the interrelation between art and human emotions is susceptible to manipulation. Thus, the belief in the usefulness of music for propaganda became the foundation of Nazi music policy in occupied Polish territories. What differentiated it from other propagandistic abuses of music in the past was the coalescence of systematic extermination policies directed toward conquered ethnicities considered as racially unacceptable and inferior (Jews and Roma; to a lesser extent Slavs; Poles, Czechs, and Russians) and the organization of musical life for the privileged (mainly Reichsdeutsche, Volksdeutsche, Ukrainians, and accepted ethnic groups of »related blood«, such as Swedes, Danes, French, Italians, and Hungarians1). In the skillfully planned strategy at its different levels and in concrete implementation, music served paradoxically both to degrade and humiliate the vilified victims and to glorify the idealized Nazi power. This article explores and describes different forms of »musical occupation«, such as Nazi limitation of access to music for former Polish

1

Regarding the concept of ethnicities of »related blood«, compare, for example, E. Nathans, The Politics of Citizenship in Germany: Ethnicity, Utility and Nationalism, Oxford/New York 2004, p. 228.

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citizens as well as censorship of musical life, and discusses the emotional value of music for various groups in altering sociocultural conditions. Ideological, political, and emotional motivations of Nazi music policy are analyzed as fundamental reasons for the appropriation of music and the transformation of its role. This refers among others to Nazi military and administrative centers established in the occupied Eastern European territories, where, after a process of dispossessing and exterminating selected strata of society, were meant to become centers of Nazi cultural and scientific enlightenment for the ethnic groups considered as racially superior or tolerable, to fulfill Nazi aesthetic postulates and accompany major official state events.

I. I DEOLOGICAL AND P OLITICAL B ACKGROUND N AZI M USIC P OLICY IN O CCUPIED P OLAND

OF

Not surprisingly, the Nazi military conquest of Poland was accompanied by an ideological campaign. Quite surprisingly though, music, treated as a notable example of the cultural supremacy of the Third Reich, was one of the arguments used in this campaign. The argumentation used in the pages of Die Musik and other Nazi journals and newspapers aimed to prove that all artistically valuable phenomena in Polish music history were the result of their German origin. A series of articles published from September 1939 in Die Musik exemplifies this approach. The journal was led at that time by Dr. Herbert Gerigk, one of the most aggressive proponents of Nazi ideology in music, best known for his Lexikon der Juden in der Musik (Lexicon of Jews in Music, 1940). Gerigk‫ތ‬s article, published in September 1939 on the first page of the journal, expressed his satisfaction over the »liberation of Danzig«, arguing that this area was German also from the cultural point of view and that, in this light, the leading article of this issue, Vom deutschen Geist in der polnischen Musik (On the German Spirit in Polish Music), which follows, gains particular importance.2 Its author, Kurt

2

»Inzwischen hat die Wehrmacht auf Befehl des Führers den frechen Herausforderungen und Machtgelüsten der Polen ein Ende gesetzt. Mit dem Vordringen unserer Truppen werden täglich große Teile alten deutschen Siedlungslandes frei. Seit der Zeit der Ordensritter gehört auch dieses Gebiet zu den deut-

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Hennemeyer, enumerated countless examples of exploitation of the great German heritage by Polish artists, at the same time wishing to achieve a typical totalitarian manipulation, stating that »the intuitive ideas of the Polish Volk […] have always truly recognized and valued the greatness of the German Volk, the limitless power of the German spirit upon the development of Poland«,3 and anticipating further abuses of Chopin by Nazi propaganda.4 A politically contaminated aesthetics undoubtedly existed before and was written afterwards; this approach, however, resulted from a broader ideological plan, and its application conducted throughout the occupation of Poland resulted in the destruction of Polish musical life and the annihilation of Jewish and Roma musical culture. The means used to attain these goals varied depending on whether the given territory was incorporated into the Third Reich (such as Warthegau directed by the Gauleiter Arthur Geiser,

schen Kulturlandschaften, deren geistige Ausstrahlungen Jahrhunderte hindurch die Nachbarvölker entscheidend beeinflussten. Der deutschen Musik fiel vom 13. Jahrhundert ab dabei eine führende Rolle zu. Städte wie Graudenz, Bromberg, Thorn und manche waren schon damals nicht nur die militärischen und politischen Stützpunkte und Kochburgen des Deutschtums, sondern gleichzeitig kulturelle Mittelpunkte ihres Landschaftsraumes. Am Beispiel der Musik lassen sich diese starken und ununterbrochenen Einwirkungen der deutschen Kultur mit am besten ablesen. In diesem Zusammenhang kommt unserem Leitaufsatz, Vom deutschen Geist in der polnischen Musik besondere Bedeutung zu.« 3

Vom deutschen Geist in der polnischen Musik, von Kurt Hennemeyer (Frankfurt a.d. Oder), Die Musik 1939, No. 12, p. 797: »Die Einsichtideen des polnischen Volkes – auch sie werden in Polen wieder zu Worte kommen können – haben immer in realem Sinn diese Größe des deutschen Volkes, die unbegrenzte Macht des deutschen Geistes in seinem Einfluss und die kulturelle Entwicklung Polens, erkannt und gewürdigt.«

4

»Und wenn der sterbende Frederic Chopin als sein musikalischen Vermächtnis den Wunsch an seine Freunde richtete: ›Als Andenken an mich spielt Mozart!‹, dann entrichtete dieser stolze und zugleich edle Pole noch in seiner Todesstunde einen letzten Gruß und Dank an jenes nicht minder Stolze und gleichermaßen edle Volk der Deutschen, dem er und mit ihm das ganze Polen auf allen Gebieten seines völkischen Lebens den Aufstieg verdankten.« Ibid.

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who introduced strict segregation and deportations and total Germanization) or into the Generalgouvernement (where the Polish and Jewish populations from the annexed territories were concentrated). In the aftermath of the Ribbentrop-Molotov Pact, Poland was partitioned between the USSR and the Third Reich. The Reich-annexed territories were further divided into the Provinces of Pommern, Danzig-Westpreussen, Ostpreussen, and Warthegau. The remaining area was termed Generalgouvernement für die besetzten polnische Gebiete and divided at first into four and, after the 1941 Operation Barbarossa, into five districts: Warschau, Radom, Lublin, Krakau, and Galizien. In the following years, major effort and funding were devoted to transforming the main cities of former Polish territories into centers of Nazi power and culture, where the entertainment and official functions of music assigned by the propagandists to the institutions established by the Nazis in lieu of former Polish operas, philharmonic orchestras, etc., were to represent the ethos and potency of the Nazi state. Musical events organized there were used to various aims: proof of German cultural hegemony and to strengthen the social and emotional bonds of the Nazi public.5 At the same time, already since September 1939, policies applied in the occupied territories were directed against Polish culture and education in the realm of the Generalplan Ost, the extreme form of Lebensraum concept and the Drang nach Osten ideology. On 29 October 1939, at a conference in àódĨ in which Reich Minister Dr. Seyss-Inquart, Minister of Propaganda Dr. Goebbels, and others took part, the Generalgouverneur Hans Frank, newly appointed by Hitler, stated: »Only such possibilities of education may be placed at the disposal of the Poles as would show them the hopelessness of their national destiny. For this reason only bad films or

5

As it was pointed out in German Wartime Society 1939–1945: Politicization, Disintegration, and the Struggle for Survival, »National Socialism attached great importance to certain socializing bodies for the education and indoctrination of the male population – both with an eye to the training of future conscripts and regular troops, and in connection with the creation of the Volksgenossen, or the ›national comrades‹ […] it was the dense network of social relationships between the troops that may very well have been a precondition for putting the German war of extermination into effect.« R. Blank et al., Germany and the Second World War, Vol. IX/I, Oxford 2008, p. 716 and 753.

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ones laying stress on the greatness and power of the Germans, could therefore be considered.«6 All universities and schools of higher education, among them music conservatories, were indeed closed or transformed into German schools for Germans, and clandestine educational activity was brutally repressed. The reasons for such a policy are explained in Frank‫ތ‬s diary in 1942, who thought that a »large educated group of non-Germans would always present the most serious threat to German ambitions of sovereignty«.7 For instance, after the Sonderaktion Krakau at the Jagiellonian University in November 1939, which was meant to terrorize the academic milieu and suppress Polish university teaching, the Institute of German Work in the East (Institut für Deutsche Ostarbeit) was established at the closed Jagiellonian Library in Cracow in 1940. Its role was to plunder the cultural heritage of Poland and to find proof of the essentially German character of this region. Hans Frank stated in his opening speech that »the establishment of the Institute means the resumption of the historical mission that Germanism is to fulfill in this place« and the »restitution of all that which the Poles took away from the German spirit and German influence in this territory«.8 Historic buildings both in Warsaw and Cracow

6

»Einleitend führte Herr Generalgouverneur aus: ›Den Polen dürfen nur solche Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, die ihnen die Aussichtslosigkeit ihres völkischen Schicksals zeigten. Es könnten daher höchstens schlechte Filme oder solche, die die Größe und Stärke des Deutschen Reiches vor Augen führen, in Frage kommen. Es werde notwendig sein, dass große Lautsprecheranlagen einen gewissen Nachrichtendienst für die Polen vermitteln.‹ Reichsminister Dr. Goebbels sprach sich grundsätzlich in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Herrn Generalgouverneurs gegen die Einrichtung eines polnische Theater-, Kino- und Kabarettbetriebes aus. Es würden in den größeren Städten und Märkten stationäre Lautsprecheranlagen aufgestellt werden, die zu bestimmten Zeiten Nachrichten über den Stand der Lage und Befehlsparolen für die Polen geben.« Tagebuch des Herrn Generalgouverneurs für die besetzten polnische Gebiete, in: S. Piotrowski, Hans Franks Tagebuch, Warszawa, Polskie Wydawnictwo Naukowe 1963, übersetzt von K. Weintraub, p. 278. English translation quoted after: S. Piotrowski, Hans Frank’s Diary, Warszawa, Polskie Wydawnictwo Naukowe 1961, p. 110.

7

Tagebuch…, op. cit., quoted in S. Piotrowski, Diary… op. cit., p. 113.

8

Law Reports, op. cit., vol. 14, p. 29.

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were either appropriated and transformed into symbols of the new state and new German order (Royal Wawel Castle renamed »Krakauer Burg«9) or destroyed when considered inseparable from Polish national history (Royal Castle in Warsaw). Despite the efforts of Polish musicians to reconstruct musical life after the destructions of September 1939, philharmonic and operatic concerts were prohibited: »The Poles are to be completely deprived of opportunities of listening to the radio. The suggestion made by Otto, the Mayor of Warsaw, that we take over the Warsaw Orchestra is completely unacceptable.«10 Already in autumn 1939, all radios in the possession of Poles and Jews had to be turned in to the Nazi authorities; the use of a radio was later punished with imprisonment, torture, and, ultimately – the penalty of death. A confidential circular sent in 1940 by the Department of Education and Propaganda of the Generalgouvernement allowed »some forms of primitive entertainment«; that is why the kind of music generally accepted by the German authorities to be played by Polish musicians at this time were cabaret songs and operetta arias.11 As Hans Frank stated in his instruc-

9

On 29 October 1939 »Herr Generalgouverneur führte aus […] Der Wawel in Krakau werde nur mehr die Bezeichnung Krakauer Burg tragen.« Tagebuch…, op.cit., p. 278.

10 Ibid., p. 111. 11 »Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete. Abteilung: Volksaufklärung und Propaganda. Hernn Kreishauptman.... [blank], den … [blank] 1940. Betr. Kulturpolitische Richtlinien [...] 3. Musik. Polnische musikalische Darbietungen sind zu gestatten, wenn sie nur der Unterhaltung dienen; Konzerte, die durch ihr hochstehendes Programm den Besuchern ein künstlerisches Erlebnis vermitteln sollen, sind verboten. Aus der polnischen Musik sind zu verbieten: Märsche, Volks-Nationallieder, sowie alle klassischen Stücke. Auch die Musikprogramme in Kaffehäusern sind genehmigungspflichtig. [...] 4. Theater. [...] Die Vorführung des ernsten Schauspiels und Oper sind für Polen verboten. [...] 5. Kleinkunst. [...] Zu verbieten sind alle Darbietungen die das polnische Volkstum darstellen.« C. Regamey, Muzyka polska pod okupacją niemiecką [Polish Music under German occupation], »Horyzonty. MiesiĊcznik poĞwiĊcony sprawom kultury. Ilustrowane pismo polskie na emigracji – bezpartyjne i apolityczne« [Horizons. A monthly cultural review. Illustrated Polish Émigré Review – nonpartisan and apolitical]. Freiburg 1946, No. 1, p. 17.

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tion in March 1940, »Performances of Polish and German artists together are prohibited, [...]. As far as Polish artists are concerned, there are no obstacles to lowering the level or imbuing their programmes with erotic feeling. Nonetheless all performances representing the life of the Polish nation are prohibited.«12 The Polish Radio was liquidated as well as its orchestra and all the other orchestras, musical associations, and institutions. The publication of books, journals, diaries, and music was banned on 24 October 1940. Polish musical life in Warsaw, which was the most important music center in the Generalgouvernement, could take place only in cafés, organized mainly by musicians themselves (e.g., pianist and composer Bolesáaw Woytowicz) or by jobless actors. This specific concert life was also controlled to a considerable extent, as all the café programs (music and texts) had to be submitted for censorship.

12 See Okupacja i ruch oporu w Dzienniku Hansa Franka 1939–1945 [Occupation and Resistance in Diary of Hans Frank], vol. I, 1939–1942, ed. by Z. Polubiec, transl. from German by D. Dąbrowska/M. Tomala, Warszawa 1970. Selected German editions: Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, hrsg. v. W. Präg und W. Jacobmeyer, Stuttgart 1975; Deutsche Politik in Polen 1939–1945: aus dem Diensttagebuch von Hans Frank, Generalgouverneur in Polen, hrsg. v. I. Geiss und W. Jacobmeyer, Opladen 1980. Read also R.C. Lukas, The Forgotten Holocaust. The Poles under German Occupation 1939–1944, New York 1986, p. 105: »German authorities allowed Poles to attend only third-rate theatrical productions, often pornographic in nature. Since the Union of Polish Stage Artists forbade its members to perform in German-controlled theatres, this meant that actors and actresses frequently became singers or gave recitations at coffee houses where people drank ersatz coffee and ate minuscule pastries. From time to time, some Polish actors violated the prohibition and appeared in performances that were propagandistic and anti-Polish; for this, the underground punished these offenders. The Nazis produced an anti-Semitic play, ›Quarantine‹ (Kwarantanna), which the Poles boycotted; nowhere did this play gain ›either recognition or spectators‹ among the Polish people.« Quoted from Dwa Lata Okupacji w Polsce, in: Madajczyk, Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce, p. 135; Marczak-Oborski, Teatr Czasu Wojny, p. 63.

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In June 1940, Hans Frank gave permission for Poles to attend secondary vocational schools as well as for training in artistic skills;13 still, as he stated on 12 September 1940, »no Pole shall be able to have the chance to acquire a higher education at State institutions«.14 Thus, as the Warsaw Conservatory was liquidated, a Staatliche Musikschule of secondary level was established in the building. Only orchestra musicians were educated there officially. However, Polish teachers who worked there illegally also taught composition and conducting. Even though its director was a German musician, Albert Hösl, appointed in 1943, the post of vice-director was held by a well-known Polish pedagogue and composer, Kazimierz Sikorski. In autumn 1940, at the solemn celebrations of the first anniversary of the Generalgouvernements proclamation, Hans Frank established a symphony orchestra in Cracow, as the Philharmonic of the Generalgouvernement, and the Theater der Stadt Warschau (Theatre of the City of Warsaw) in the building of the closed Teatr Polski. This cultural institution was intended primarily for Germans, with Polish musicians playing in the orchestra and German conductors. Later, however, it was directed towards a Polish audience as well, primarily with operetta repertoire, and gradually also symphonic concerts were introduced. Frank himself explained the motivation behind his decisions, stating at a conference on 14 April 1942 that: »We have to create at least the appearance that the General Government is a sort of trustee area on the Greater German territory. We cannot finish off the struggle and solve the problem of Poland by putting 16 million bullets in the backs of 16 million Poles. So as long as the Poles are alive, they must work for us and we must enlist them in this process.«

15

A month earlier, on 18 March 1942, during a meeting of the district and chief officers of the Generalgouvernement NSDAP held at the Kings‫ ތ‬Hall of the Wawel Castle, he explained:

13 At a conference on 18 June 1940. Cf. S. Piotrowski, Diary… op. cit., p. 111. 14 Ibidem. 15 Piotrowski, Hans Frank’s Diary, op.cit., p. 115.

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»We are still cold-bloodedly continuing the fight to attain our goals. Gentlemen, you see how the state organs work, you see that we do not refrain from anything and dozens of people are put up against a wall. It is necessary, just because the healthy mind shows that we cannot spare the blood of foreign nations while the best German blood is sacrificed. […] That is why if any Polish leading forces appear, they should be relentlessly destroyed, and with ruthless energy. This should not be publicized; it should happen tacitly. And if we afford the luxury of allowing the Poles types of philharmonics, which we display to foreign journalists, it doesn‫ތ‬t matter at all. People play music according to our wishes, and when they are no longer useful to us, we shall dissolve this institution.«16

16 Quoted after Piotrowski, Tagebuch des Herrn Generalgouverneurs für die besetzten polnische Gebiete, op. cit. (p. 354): »Reichsleiter Dr. Frank ergreift darauf das Wort zu folgenden Ausführungen […]: Im Übrigen geht der Kampf und die Durchsetzung unserer Ziele eiskalt weiter. Sie sehen, wie die staatlichen Organe arbeiten, Sie sehen, dass man vor nichts zurückschreckt und ganze Dutzende von Elementen an die Wand stellt. Das ist schon deshalb notwendig, weil hier eine einfache Überlegung sagt, dass es nicht unsere Aufgabe sein kann, in einem Zeitpunkt, und dem das beste deutsche Blut geopfert wird, fremdvölkisches Blut zu schonen. [...] Deshalb muss alles, was sich noch an polnischer Führungskraft zeigt, immer wieder mit rücksichtsloser Energie vernichtet werden. Das braucht man nicht an die große Glocke zu hängen, es sollte stillschweigend geschehen. Und wenn wir uns den Luxus gestatten, eine Art Philharmonie den Polen zu gewähren, die wir den ausländischen Journalisten zeigen, so bedeutet das gar nichts. Die Leute machen Musik in unserem Sinne und wenn wir sie nicht mehr brauchen können, lösen wir dieses Institut auf. Im Übrigen muss man das alles mit Vernunft und Ruhe betrachten. Wir unterhalten Landesschulen und technische Fachschulen, wir lassen Medizinalpraktikanten ausbilden, die aber keinen akademischen Rang oder Titel erhalten können.« (Arbeitstagung der Distriktsstandortführer und Amtsleiter des Arbeitsbereiches Generalgouvernement der NSDAP im Königssaal der Burg zu Krakau am 18. März 1942). English translation by the author of the article, edited by Andrea Bohlman.

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II. M USIC C ENSORSHIP P OLITICAL C HANGE

AS THE

R EFLECTION

OF

Propagandistic goals were among others realized through Nazi censorship regulations, which were introduced according to racial and political principles in the Generalgouvernement and in the Reich-incorporated former Polish territories. The racial bans were stable and fundamental, such as the ban on performing music by composers of Jewish origin by Polish musicians. The ban on playing »Aryan« music by Jews in the ghettos was used by the Nazi authorities to close the symphonic orchestra in the Warsaw ghetto. Other politically motivated bans were subject to change. Modifications of censorship rules reflected changes on the military fronts and the configurations of the Third Reich‫ތ‬s allies and enemies. Music used as a tool for the manipulation of public opinion was a particularly sensitive domain, where these often abrupt shifts were evident. Bans introduced at the beginning of the occupation, such as the ban on playing Chopin, were modified, while others were introduced. With the invasion of the Soviet Union in June 1941, despite the intensification of terror,17 a certain shift in Nazi cultural policy could be observed in the Generalgouvernement. The performance of some Polish music was permitted in Cracow, while, already before Operation Barbarossa, a ban on performing Russian music by Poles was enforced. It seems that paradoxically it was the Wannsee Conference in January 1942 and the decisions taken concerning Die Endlösung (the Final Solution of the Jewish Question) that was the background for further liberalization concerning the repertoire and access of the Polish public to Nazi-organized concert life. The aggressive anti-Semitic and anti-Soviet propaganda in the official German press for Poles was accompanied by the marketing of German benevolence toward Polish culture. While previously Chopin‫ތ‬s music was prohibited, and several of his statues were destroyed (the most famous example was his monument in Warsaw blown up by German soldiers in May 1940), in 1942 the ban on playing Chopin was not only lifted but Nazi authorities encouraged collaborationists, and even

17 »The order of 2 October 1943 concerning the ›combating of attempts against the German work of reconstruction‹ permitted all: executions, tortures, plunder, as it was punished only by death or deportation to concentration camps.« Law Reports, op. cit., vol. 14, p. 28.

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exerted pressure on other Polish musicians, to perform this previously forbidden music. Unquestionably, the propaganda directed by the occupiers could be first of all viewed as part of a mind-controlling smoke screen, whose main purpose was to obfuscate the essential goal – the persecution of Poles and the mass extermination of Jews. On 16 December 1941, Hans Frank told the Cabinet of the Generalgouverneur: »We must annihilate the Jews wherever we find them and wherever it is possible, in order to maintain there the structure of Reich as a whole.« Analogously, Joseph Bühler, deputy Governor and State Secretary of the Generalgouvernement, who gave a speech at the first concert of the Generalgouvernement Philharmonic Orchestra, attended the Wannsee Conference as the representative from the Generalgouverneurs office and stated to the other conference attendees the importance of solving »the Jewish Question in the Generalgouvernement as quickly as possible«. By 25 January 1944, Frank estimated that there were only 100,000 Jews left.18 Efficiently organized looting of art works (e.g., precious collections of prints, manuscripts, and paintings) was regulated by decrees issued by Frank at the turn of 1940, by which »the entire movable and immovable property of the former Polish State, within the Government-General, together with all accessories, and including all claims, shares, rights and other interests, was sequestrated.« As described in Bühler‫ތ‬s trial documentation: »While in the analogous decree, issued in the incorporated territories, the chief reason for confiscations and sequestrations was the ›strengthening of Germanism‹, he decree issued by Frank stated that confiscation or sequestration could be ordered when tasks ›serving the public interest‹ were carried out. For instance, private property could have been seized because it was ›financially unremunerative or antisocial. […] By this decree, the so-called abandoned property, i.e., of people who left the country owing to the circumstances of war or as a result of deportation, and of Jews, was also seized‹.«19

18 Law Reports, op. cit., vol. 14, p. 35. 19 Bühler’s trial, op. cit., pp. 29–30. Chopin’s family portraits of 1829 painted by AmbroĪy Mieroszewski (1929) are one of many examples of lost paintings. Their reproduction preserved to this day only thanks to Leopold Binental, who published them in his books in the 1930s. As his origin was Jewish, his collec-

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Alfred Rosenberg, who gave in his Myth of the Twentieth Century (Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 1930) a metaphoric comparison of Nazi usurpations to a mystic chord, »The Germanic conquest of the world is not boundless expansion, but enhanced forcefulness – that is, a willed action – the sweet sacred chord, to which Schubert attributed omnipotence,«20 became a man of action, instrumental in the systematic plundering of musical instruments and scores – mainly of Jewish property in Germany but also in occupied countries – as the establisher of the Sonderstab Musik. Ultimately, as Stanisáaw Piotrowski argued, »it was not till the turn of the tide at Stalingrad, when defeat was staring the Third Reich in the face that Frank began, for tactical reasons, to introduce certain and, in any case, insignificant changes into his cultural policy towards the Poles as well. In Cracow he opened a Chopin ›Museum.‹«21

In a speech given in Berlin on 25 January 1944, the Generalgouvernemeur described this as an »undertaking that cost me a little money but which found a response in the gallant and somewhat romantic temperament of the Polish nation and had a wonderful effect in the sphere of the cultural

tion was looted while he was still in Warsaw. Thanks to Paderewski he obtained a Swiss visa, but he was arrested in France and murdered in Auschwitz in 1944. Information on L. Binental was provided to the author of the article by Hanna Wróblewska-Strauss, to whom I extend my thanks. 20 »Die Musik Bachs und Beethovens ist nicht die höchste erreichbare Stufe der Verflüchtigung der Seele, sondern bedeutet gerade den Durchbruch einer Seelenkraft ohnegleichen, die nicht bloß stoffliche Fesseln abstreift (das ist nur die negative Seite), sondern etwas ganz Bestimmtes ausspricht, wenn dies auch nicht immer gleich schwarz auf weiß nach Hause getragen werden kann. Die germanische Weltüberwindung ist nicht uferlose Ausweitung (was ›Verflüchtigung‹ wäre), sondern gesteigerte Eindringlichkeit (d. h. willenhafte Tat), der ›süße heilige Akkord‹, dem Schubert die Allmacht zuschrieb. Der Wille ist Seelenprägung für eine zielbewußte Energie, gehört also in die zielsetzende (finale) Betrachtungsweise, während der Trieb mit der ursachenerforschenden (kausalen) Denkweise verbunden ist.« A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, chapter: Der aestethetische Wille, München 1934, S. 406. 21 Piotrowski, Hans Frank’s Diary, op. cit., p. 116.

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propaganda«.22 At the same time, the event was presented in the official Generalgouvernements press in the context of supposed Alsatian origins of Chopin (whose family name was to be Schopping) and the Germanic kernel of his music, in an attempt to appropriate his music for German culture. One of the most tragic paradoxes of the time of Nazi occupation however is the fact that the very places which were the scenes of propagandistic musical life and expansion of the Nazi state, became, at the same time, the setting for the cruellest persecution and extermination; again Warsaw and Cracow are the most telling examples. The situation of music and musicians in the ghettos and during deportations to mass extermination camps brings evidence of the other facets of Nazi music policy and its emotional contents.

III. E MOTIONAL A SPECTS THE G ENOCIDE

OF

M USIC

AND

Music was omnipresent in sites of genocide and maltreatment such as prisons, ghettos, concentration and death camps. This seemingly paradoxical fact has been subjected to research and analyced.23 It is clear that for the oppressors, from the emotional point of view, music was one more means of psychological torture and manipulation of the victims. Certainly, music was exploited as a psychological weapon before. Nevertheless, just as mass-murder reached unprecedented dimension during Nazi rule, the extent of exploiting music in the process of persecution and extermination was extreme. Numerous examples demonstrate how music was intentionally used by the Nazis to augment the suffering and to divest the victims of their dignity even at the moment of death or specifically at the moment of their death. During child deportation from Páaszów camp to the death camp, children‫ތ‬s songs were played through loudspeaker systems to augment the already unbearable suffering of parents, separated from their children at this very moment. At the Treblinka death camp, where the elite of the Jewish

22 Ibidem. 23 E.g. the study by G. Fackler, Des Lagers Stimme – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936, Bremen 2000.

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musicians perished (former members of the Warsaw Philharmonics and of several other ensembles, composers and performers), one of the most famous among popular music composers – Artur Gold was used by the camp commandants to provide entertaining background music. Music was also exploited to drown out the sounds of killing or torture. Thus, radio broadcasts were used during interrogations in Gestapo prisons and music was played through loudspeakers during mass killings of Jews in the Aktion Erntefest, which was ordered in Majdanek, Poniatowa, Trawniki and other camps of the Lublin District on 3 November 1943, by Reichsführer-SS Heinrich Himmler. At the Janovska Camp in Lvov distinguished musicians, such as composer Jakub Mund, Józef Herman, and the conductor Leon Striks, were forced to play in the camp orchestra. Among several criminals responsible for the despicable torture and killing of prisoners in this camp was a former café player, SS-Obersturmführer Richard Rokita.24 He made musicians play during executions and forced them to perform a special song for other prisoners just before their execution. It was a well known tango before the war, originally entitled Tango Plegaria with music by Eduardo Bianco.25 In the Nazi version, with the title changed to – on the one hand explicit, on the other mocking – The Death Tango it was played with new words:

24 The account of the subsequent steps of mass extermination and sadistic torture of Jews from Lvov was given by Filip Friedman, Zagáada ĩydów lwowskich, »Wydawnictwa Centralnej ĩydowskiej Komisji Historycznej przy Centralnym Komitecie ĩydów Polskich« No. 4, àódĨ 1945. Cf. also Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, vol. 7, p. 496 ff. On p. 497, the orchestra is thus described: »Die Deutschen führten ihre Folterungen, Mißhandlungen und Erschießungen bei Musikbegleitung aus. Zu diesem Zweck errichteten sie ein besonderes Orchester, das aus Gefangenen bestand. Sie zwangen Professor Stricks und den bekannten Dirigenten Mund, dieses Orchester zu leiten. Sie forderten Komponisten auf, eine besondere Melodie zu komponieren, die sie den Todestango nannten. Kurz vor der Auflösung des Lagers erschossen die Deutschen sämtliche Mitglieder des Orchesters.« 25 My thanks for this information go to Bret Werb, music curator at the United States Memorial Holocaust Museum, Washington.

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»Hörst du wie die Geige schluchzend spielt? Blutig klingen ihre Töne Hörst du wie dein Herz sein Ende fühlt? Das Todestango spielt Hab' kein Angst, mein Lieb'. Sand wird deine Leiche decken Sternenkerze dient als Brenner Und als Polster dient dir nur ein Stein Doch glücklich wirst du sein so ganz allein. Schüsse fallen, Kugeln knallen, Segregieren! Gift! Nur spielen Und der Tod packt dich in Hand Drum sei fertig und bereit.«

It is already a well documented fact, that Auschwitz and other camp orchestras had to play primarily during the march and return of Kommandos from work, but also during Nazi staff orgies. According to Helena Dunicz-NiwiĔska, who was a member of the Women‫ތ‬s Orchestra (she was transported from Lvov and had the number 64118), senior SS officers came after the selection to relax to the sounds of Grieg, Schumann, and Mozart, lower rank SS ordered the orchestra to accompany their orgies. One of the few Polish women‫ތ‬s orchestra musicians, Zofia Cykowiak (Auschwitz number 44327), remembered Alma Rosé, who was the conductor of the orchestra, and her emotions: »Almas Spiel hat auch uns fasziniert. Man spürte, dass die Musik, die sie dort zu machen hatte, ihre ganze Welt war, in die sie sich mit aller Kraft flüchtete, wenngleich es für sie ein Drama war, sie in einer so unmenschlichen Welt machen zu müssen. Ich weiß es von ihr selbst. Sie vertraute es mir an, als wir bei einem Transport von Jüdinnen zusahen, die aus dem Lager für die Gaskammer ausgesondert wurden, also im vollen Bewusstsein ihres Schicksals. Sie wurden nackt auf offenen 26

Lastwagen transportiert. Sie schrien und verzweifelten.«

26 Z. Cykowiak, Erinnerung an Alma Rosé (September 1985), Archive of the Museum Auschwitz-Birkenau.

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Another prisonner, Esther Bajerano, thus remembered the suffering of being forced to play: »Wenn sie hingegangen sind zur Arbeit war das noch nicht so schlimm, aber wenn sie zurückgekommen sind, und man hat diese vielen Menschen gesehen, die gestützt wurden, und man hat sie gehalten, weil sie kaum noch laufen konnten. Das war für uns schlimm. Wir standen mit Tränen in den Augen. Wir haben geweint und immer haben wir gesagt, mein Gott, wenn wir das jetzt nicht machen, dann gehen wir ins Gas. Ja, das war ein Befehl von der SS: Wir mussten spielen. Wir sind eben ausge27

wählt worden, um zu spielen, und darum haben wir das gemacht.«

For the oppressed, music represented the expression of freedom, independence of spirit and opposition to imposed rules. Despite constant danger, music was played and sung clandestinely by inmates of prisons and camps. In the repertoire created in the camps and ghettos, we can observe a characteristic transformation of the lullaby genre. From a song destined to put a child to sleep, they became songs (often written to the same melodies) that were created to accompany the children‫ތ‬s death. Several examples of such songs are found in this tragic chapter of song history, a few of them can be quoted as an example. One was found in the clothes of a girl prisoner, of unknown identity, who died at the Majdanek camp. She noted the words written to the melody of a popular Polish lullaby Na Wojtusia z popielnika on a scrap of paper. From the text, we learn that her first name was ElĪunia, which is a Polish diminutive of Elisabeth. The opening sentence is modeled bitterly on the typical beginning of children‫ތ‬s tales: »Once upon a time there was…« (»Es war ein Mal...«), yet it rapidly turns away from this traditional narrative device, used over centuries to create a sense of security and calm before a child went to sleep, to the world of uttermost suffering and loneliness at the threshold of death: »Byáa sobie raz ElĪunia / umieraáa sama / Bo jej ojciec na Majdanku / w OĞwiĊcimiu mama. (Once upon a time there was little Beth / she was lonely dying / ‘cause her father at Majdanek / at Auschwitz her mummy).«

27 Esther Bajerano born Loewy gave her account on 29 April 1994. She was transported to Auschwitz in April 1943 and had number 41948. Archive of the Museum Auschwitz-Birkenau.

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The same traditional lullaby melody was used by Miriam Harel in the song Jadą dzieci (Yiddish title Die Kinder furn; The Children are going), which she wrote after the deportation action called »the Great Shpera«, when children under the age of ten from the Lodz ghetto were taken in a large transport to the place of execution in Kulmhof on Ner river. The fact that the same lullaby melody was used in these circumstances is probably due to the fact that it is a melancholic, even sad melody, minor key, in a slow tempo. Several tragic songs of this type were written in Yiddish; one of them, A Lullaby for my Little Son in Crematorium, is a threnody sung by Aron Liebeskind to the well-known melody by Alexander Vertinski after his wife and son were murdered in Treblinka; he was forced to witness their death and to work there at the crematorium, and it is where he sang his »lullaby.« After his escape from Treblinka, he was captured again and brought to Sachsenhausen, where he sang in an illegal choir led by Rosebery d‫ތ‬Arguto and where he became a friend of Aleksander Kulisiewicz, who translated his threnody to Polish and memorized it.28 Deported to Auschwitz-Birkenau, Liebeskind died there between 1942 and 1943. The original Yiddish version is lost, and no English translation exists that is close to the dramatic expression of the Polish version. For people detained and killed in camps, prisons, and ghettos, popular songs of the time of freedom, well-known melodies supplemented with new words, became a method to cope with the unbearable suffering. They became acts of mourning and despair, sometimes also acts of bravery and internal freedom. It could be argued that, in a sense, these and other forms of musical resistance in these unimaginable circumstances transcended the hegemonic structures of music imposed by the Nazis.

IV. C ONCLUSION The emotional motivations behind the use of music for propagandistic and other goals during the Nazi occupation of Poland seem to provide essential insight into the process of the appropriation of music for the domination-

28 The recording by Aleksander Kulisiewicz is preserved at the United States Memorial Holocaust Museum, Washington.

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obsessed leaders of the Nazi state. It is significant that Hans Frank‫ތ‬s Credo (as termed by his biographer Dieter Schenk), with which he reopened his diary on 10 February 1937 (after a ten- year break), was stirred by a ceremonial philharmonic concert conducted by the great Furtwängler, with Freischütz Ouverture, Brahm‫ތ‬s Fourth Symphony, and Beethoven‫ތ‬s Seventh. The profound need for music, which was the sole power capable of providing him with such moments of sublimation of his ambitions and emotions, to conduct them to the sphere of »the noble«, »the inspired«, »the grandiose«, was certainly one of the reasons why the Generalgouvernement orchestra was created. Only a state legitimized by the divine energy and genius of Beethoven‫ތ‬s music could be a valid construction, conforming to the highest ideological standards of Nazi supremacy. True conquest could not be fulfilled by military means, it became a »spiritual victory« only through the realization of this sacred ideal, omnipresent in Nazi writings, the cultural – thus also musical – hegemony. This deeply instilled belief was the motivation not only for the creation of the »Chopin Museum«, presented by Nazi propaganda as the »monument of German magnanimity«, but also for musical tortures of prisoners in genocidal actions and sites.

III. Musikalische Antworten auf Krieg und Besatzung

Einführung D ANIEL M ORAT

In der Geschichte der Globalisierung stellt das Zeitalter der Weltkriege eine widersprüchliche Epoche dar. Zum einen zeigt die Ausweitung der beiden zunächst europäischen Kriege zu Weltkriegen den hohen Grad internationaler Verflechtung, der Anfang des 20. Jahrhunderts bereits erreicht war. Die Kriege setzten zudem abertausende Soldaten und Zivilisten über nationale Grenzen hinweg in Bewegung und produzierten so auch neue Formen des kulturellen Austauschs. Zum anderen fand dieser kulturelle Austausch jedoch unter veränderten Bedingungen von Herrschaft und Gewalt statt. Die beiden Weltkriege führten daher auch zum Abbruch vieler internationaler Austauschverhältnisse, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, und zu einer Renationalisierung der kulturellen Beziehungen. In der Geschichtswissenschaft wird deshalb bisweilen von einer »De-Globalisierung« im Zeitalter der Weltkriege gesprochen.1 Diese paradoxe Konstellation spiegelt sich auch in der europäischen und nordamerikanischen Musikkultur. Im 19. Jahrhundert lassen sich mit Blick auf die europäische Musik- und besonders die Opernkultur parallele Prozesse der Nationalisierung und Europäisierung beobachten, wie unter anderem Philipp Ther gezeigt hat.2 Einerseits bildeten sich spezifisch natio-

1

J. Osterhammel/N.P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 20074, S. 63.

2

Vgl. P. Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815– 1914, Wien/München 2006; ders., Das Europa der Nationalkulturen. Die Natio-

228 | DANIEL MORAT

nale Opernkulturen heraus und die Musik trug maßgeblich zur kulturellen Nationsbildung in den europäischen Ländern bei. Andererseits fand dieser Prozess aber in den meisten europäischen Nationen parallel statt und war zudem von einem hohen Maß an kulturellem Austausch begleitet. So wurden etwa die Opern Richard Wagners zwar als deutsche und die Opern Giuseppe Verdis als italienische Werke wahrgenommen, sie wurden aber in ganz Europa und zum Teil weltweit gespielt und gewannen transnationalen Einfluss. Vor allen Dingen die deutsche Musik wurde im 19. Jahrhundert zugleich als national und als universell wahrgenommen, wie etwa die Rezeption der deutschen Symphonik und besonders der Musik Beethovens in Nordamerika zeigt.3 Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnten sich diese Prozesse der gleichzeitigen Nationalisierung und Internationalisierung der Musik tatsächlich parallel vollziehen und wechselseitig unterstützen. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs gerieten sie jedoch in Konflikt miteinander. Wie sollte im Moment der kriegerischen Auseinandersetzung mit der national konnotierten Musik umgegangen werden? Konnte die Musik des Gegners angesichts der militärischen Konfrontation noch gespielt werden? Was bedeutete überhaupt »Musik des Gegners«? Im Moment des Krieges musste der nationale oder universale Charakter der Musik neu ausgehandelt werden. Um diese Aushandlungsprozesse geht es in drei der folgenden vier Beiträge. Sie machen dabei zugleich deutlich, dass der kulturelle Austausch unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung nicht zum Erliegen kam, sondern nur unter andere Vorzeichen gestellt wurde. Darüber hinaus geht es in den hier behandelten Fallbeispielen nicht um Musik als Instrument offizieller Besatzungspolitik, sondern um musikalische Aneignungs- und Abstoßungsformen, die sich einer rein nationalen Logik von Herrschaft und Besatzung teilweise entzogen. »Besatzung« ist dabei nicht als rein militärische Herrschaft zu verstehen, sondern auch als Besatzung der »Herzen und Köpfe« der kriegführenden Gesellschaften. Insofern können Phänomene der musikalischen Besatzung auch »in Abwesenheit« einer militärischen Besatzung auftreten,

nalisierung und Europäisierung der Oper im »langen« 19. Jahrhundert, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 39–66. 3

Vgl. J.C.E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations, 1850–1920, Chicago/London 2009.

EINFÜHRUNG

| 229

wie Herrman Grampp in seinem Beitrag über den französischen Wagnerboykott während des Ersten Weltkriegs schreibt. Tatsächlich war Wagner zunächst einmal vor 1914 eine Besatzungsmacht in Frankreich, und zwar insofern, als er die französischen Opernbühnen beherrschte und Paris um 1900 als Hochburg der europäischen Wagnerbesessenheit gelten kann. Bei Kriegsausbruch im Sommer 1914 fiel Wagner jedoch unverzüglich unter einen Bann und die kulturelle Elite Frankreichs war sich einig, dass Wagneropern während des Krieges auf französischen Bühnen nicht aufgeführt werden könnten. Die französischen Wagnerdebatten der Kriegsjahre, die Grampp nachzeichnet, drehten sich dann hauptsächlich um die Frage, inwiefern man Wagner nach dem Krieg wieder in die Opern- und Konzertprogramme aufnehmen könne. Zugleich wurde in diesen Debatten die Frage nach dem nationalen Charakter der Wagnerschen Musik verhandelt: War Wagner auch in seinem Schaffen ein eminent deutscher Komponist? Oder gilt für seine Musik wie für andere, dass sie als Kunst universal ist und kein politisches Heimatland kennt? Mit einer ähnlichen Frage beschäftigt sich auch Michael Walter in seinem Beitrag über den internationalen Erfolg des Soldatenrührstücks Lilli Marlen, das musikalisch in einem ganz anderen Register spielt als Wagner. Aber auch diese Komposition Norbert Schultzes setzte sich auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit bei deutschen Frontsoldaten 1941 bald über Schützengräben und nationale Grenzen hinweg. Zunächst die britischen, dann auch die amerikanischen Soldaten fanden Gefallen an dem vom Soldatensender Belgrad regelmäßig ausgestrahlten Stück und eigneten es sich als »Kriegsbeute« an. Englische, aber auch französische, italienische und andere Fassungen wurden eingespielt, das Lied war auch nach 1945 ein internationaler Erfolg. Doch blieb es mit seinem Zapfenstreich und seinem Marschrhythmus nicht auch in den übersetzen Fassungen ein typisch deutsches Lied? Und infiltrierte damit nicht eine deutsche Militärschnulze die Herzen und Köpfe der alliierten Soldaten? Dies war lange Zeit die herrschende Meinung. Walter kann in seiner genauen Analyse der Komposition und ihrer verschiedenen Fassungen jedoch zeigen, dass das Stück in seiner musikalischen Anlage keineswegs als typisch deutsch zu gelten hat und dass einzelne typisch deutsche Elemente wie das Trompetensignal des Zapfenstreichs in den übersetzen Fassungen häufig durch andere Elemente ersetzt wurden. Die Grundlage für den internationalen Erfolg des Lieds, so Walter, liegt gerade nicht in seinem vermeintlich deutschen Charakter,

230 | DANIEL MORAT

sondern vielmehr in seiner musikalischen Mehrdeutigkeit und Verwandlungsfähigkeit. Im Fall des nach 1945 in Deutschland gespielten Jazz ist die Frage der nationalen Zugehörigkeit dagegen einfacher zu beantworten: Jazz war eindeutig amerikanische Musik und er wurde auch in Deutschland als solche rezipiert. Das Interessante ist dabei jedoch, wie Anja Gallenkamp in ihrem Beitrag zeigt, dass Jazz in den USA rassistisch klar als schwarze Musik gekennzeichnet war und deshalb im Rahmen der offiziellen amerikanischen Kulturpolitik in Deutschland nicht gefördert wurde. Die deutsche Aneignung des Jazz im Nachkriegsdeutschland, die Gallenkamp am Beispiel Frankfurts nachzeichnet, profitierte daher zwar von der Präsenz der amerikanischen Soldaten, von ihren Radiosendern, Militärkapellen und Musikclubs. Sie erfolgte aber nicht aufgrund von Anreizen der Besatzungsmacht ›von oben‹, sondern auf Initiative einiger deutscher Jazzbegeisterter ›von unten‹. Sie steht damit zugleich paradigmatisch für den Siegeszug des »irresistible empire« Nordamerika im Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das den transatlantischen Kulturtransfer nicht (nur) mit militärischer Macht, sondern vor allen Dingen mithilfe der Reize des Konsums und der Populärkultur beherrschte.4 Im Beitrag von Gesa zur Nieden geht es nicht um die Auseinandersetzung um nationale Musikstile unter den Bedingungen militärischer Hegemonie, sondern um die musikalische Bewältigung von Kriegsfolgen am Beispiel des einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein. Der Spross der berühmten Wiener Industriellenfamilie verlor im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm, setzte seine Karriere als Pianist nach dem Krieg aber nichtsdestotrotz erfolgreich fort. Zugleich gab er als Musikmäzen Klavierwerke für die linke Hand in Auftrag und trug so maßgeblich zur Erweiterung des linkshändigen Klavierrepertoires im 20. Jahrhundert bei. Zur Nieden ordnet diese zunächst ungewöhnlich scheinende Karriere in den breiteren Kontext der gesellschaftlichen Reintegration der Kriegsversehrten ein. Dabei zeigt sie, dass Wittgensteins Anspruch, den Verlust seines rechten Arms mit »eisernem Willen« zu überspielen, dem Paradigma der bürgerlichen Kriegsbewältigung folgte und so mit allgemeinen Mechanismen der politischen und gesellschaftlichen Kriegsverdrängung korrespondierte. Das von

4

Vgl. V. de Grazia, Irresistible Empire. America's Advance through TwentiethCentury Europe, Cambridge/MA u.a. 2005.

EINFÜHRUNG

| 231

ihm geförderte Repertoire folgte dabei einer nostalgischen Orientierung an der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts und trug so zur Festigung eines romantischen musikalischen Kanons in der Zwischenkriegszeit bei, der die Kluft des Ersten Weltkriegs überbrücken sollte, »als wenn nichts geschehen wäre«.

Besatzungsmacht Wagner Der französische Kriegsbann von 1914 H ERMANN G RAMPP

Der August 1914 läutete nicht nur den Anfang vom Ende des europäischen bürgerlichen Zeitalters ein, sondern er markierte zugleich den radikalsten Bruch in der Geschichte der Rezeption der Kunst Richard Wagners auf französischem Boden. Der europäischste aller Künstler des 19. Jahrhunderts war nicht nur Brennpunkt einer brodelnden folie culturelle im Frankreich des Fin de siècle, sondern er wurde auch, im Umkehrschluss, mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum umstrittensten Objekt der kulturellen Auseinandersetzung zwischen den beiden Erbfeinden – zumindest auf französischer Seite. In den Wochen des nationalistischen Kriegstaumels gelangte Frankreich vom Höhepunkt der Wagnerbesessenheit zwischen 1900 und 1914 zu einem vom Krieg induzierten völligen Stillstand der Wagnerpflege. Wagners Macht über die Franzosen wirkte auch ex negativo: In Abwesenheit einer deutschen Besatzung von Paris provozierte das Symbol Wagner eine virulente öffentliche Ablehnung, so dass statt des deutschen Militärs zumindest der deutsche Komponist als Bedrohung präsent zu sein schien. Auf der anderen Seite überrascht eine ungebrochene Zuneigung zum Werk Wagners durch die Bevölkerung, wie aus Feldpostbriefen von Frontsoldaten ersichtlich wird.

234 | HERMANN GRAMPP

I. Z UM F ORSCHUNGSSTAND Wenn man die Fülle an Arbeiten berücksichtigt, die vornehmlich zur literarischen und musikalischen Wagner-Rezeption in Frankreich publiziert worden sind, so frappiert, dass ihre erdrückende Mehrheit die Glanzzeit des wagnérisme vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs behandelt, und dass mit dem massiven Bruch der Wagner-Rezeption des Jahres 1914 auch ein Einbruch des Forschungsinteresses einherzugehen scheint. Gewiss, die wesentliche Periode der Aneignung der Kunst und der Schriften Richard Wagners in Frankreich war die Phase von 1861 bis 1914, von Baudelaires »Geburtsurkunde des französischen Wagnerismus« bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.1 Es waren die Literaten, Intellektuellen und Musiker des Fin de siècle, die in Wagner den Verkünder einer neuen Kunst und den Vorreiter der künstlerischen Avantgarde schlechthin sahen. Die Periodisierung von 1861 bis 1914 ist für die Analyse des Phänomens äußerst sinnvoll und wird dem markantesten Einschnitt der französischen Wagner-Rezeption, dem Jahr 1914, völlig gerecht. Es ist auch eine Tatsache, dass mit dem Ausbruch des Krieges die Wagnerpflege in Frankreich abrupt endete. Gleichwohl, die Diskussion um den deutschen Komponisten endete mit dem Kriegsausbruch keineswegs – ganz im Gegenteil. Umso mehr überrascht, dass die meisten Studien, die sich mit dem Thema befassen und das Jahr 1914 als Schlusspunkt setzen, nicht einmal einen kurzen Ausblick auf die Kriegs- bzw. Nachkriegszeit bieten und allenfalls eine kursorische Erwähnung bereithalten. In dem bis heute den Forschungsstand wiedergebenden Band »Von Wagner zum Wagnérisme« von 1999 geht so gut wie kein Beitrag über 1914 hinaus.2 Sehr typisch für viele Texte zum französischen Wagnerismus

1

Baudelaire verteidigte Wagner gegen seine Kritiker kurz nach dem »Tannhäuser-Skandal« vom März 1861: C. Baudelaire, Richard Wagner et Tannhäuser à Paris, in: Revue européenne, 1. April 1861. Der Text markiert den Ursprungsmoment der Wagner-Bewegung in Frankreich. Die Charakterisierung als »Geburtsurkunde des französischen Wagnerismus« stammt von: E. Koppen, Wagnerismus – Begriff und Phänomen, in: U. Müller/P. Wapnewski (Hg.), RichardWagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 610–624, hier S. 611.

2

A. Fauser/M. Schwartz (Hg.), Von Wagner zum Wagnérisme. Musik, Literatur, Kunst, Politik, Leipzig 1999. Der Titel der Tagung von 1995 lautete: »Der

BESATZUNGSMACHT WAGNER

| 235

ist die pauschale Erwähnung des Rezeptionsbruchs im Nebensatz, ohne näher darauf einzugehen.3 Der einzige Aufsatz des Tagungsbandes, der in der Person Henri Lichtenbergers einen Mittler von Wagners Kunst als durchgehende Tradition vor und nach dem Ersten Weltkrieg zum Thema hat, streift die Kriegsepoche nur en passant.4 Den besten chronologischen Gesamtüberblick bietet in erstklassiger Manier Manuela Schwartz im ersten Teil ihrer Untersuchung zu d‫ތ‬Indys Fervaal (1999), in welchem sie »Die Musik Richard Wagners in Frankreich zwischen 1869 und 1914« beschreibt.5 Diese Darstellung ist bis heute unübertroffen und ersetzt in Vollständigkeit und Qualität den ersten Versuch einer Gesamtschau, den Gerald D. Turbow 1984 im Rahmen eines Sammelbandes zum Wagnerismus in der europäischen (und nordamerikanischen) Kultur und Politik vorlegte. Turbow fasst grob die Beziehungen Wagners zu Paris sowie vor allem den literarischen Wagnerismus zusammen, gerät aber nicht über das Jahr 1891 hinaus.6 Es sei von den Überblick-

›Wagnérisme‹ in der französischen Musik und Musikkultur (1861–1914)«. Im Tagungsband wurde die zeitliche Limitierung stillschweigend entfernt, wodurch eine breitere Behandlung des Themas suggeriert, aber nicht eingelöst wurde. 3

Stellvertretend für diese Beobachtung sei das einzige Zitat aus dem Vorwort erwähnt, das die Zeit nach 1914 betrifft: »Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges trat der Wagnérisme zwar in eine neue Phase ein; diese war jedoch unlösbar mit ihrer Vorgeschichte verbunden.« Ebd., S. 10.

4

Der einzige Satz zum Thema lautet: »Der Erste Weltkrieg bedeutete für die französische Wagner-Rezeption (…) eine extreme Belastungsprobe.« H.M. Bock, ›Richard Wagner ist das größte Ereignis des deutschen Geistes seit Goethe.‹ Henri Lichtenberger als germanistischer Autor und Beobachter der Wagner-Rezeption in Frankreich, in: ebd., S. 199–225, hier S. 220.

5

M. Schwartz, Wagner-Rezeption und französische Oper des Fin de siècle. Untersuchungen zu Vincent d’Indys Fervaal, Sinzig 1999, S. 1–120. Auch hier wird die nächste Phase des französischen Wagnerismus nach 1914 nur mit einem Halbsatz abgehandelt: »(…), bevor am 3. August 1914 Deutschland Frankreich den Krieg erklärte und damit die Diskussion um Richard Wagner in Frankreich erneut eine brisante politische Dimension erhielt.« Ebd., S. 17.

6

G.T. Turbow, Art and Politics: Wagnerism in France, in: D.C. Large/W. Webber (Hg.), Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca/London 1984, S. 134–166.

236 | HERMANN GRAMPP

darstellungen schließlich noch der Begleitband zur Pariser Ausstellung »Wagner et la France« von 1983 erwähnt, der sich zwar bis zum Jahr 1945 erstreckt, dem Ersten Weltkrieg jedoch nur 3 Seiten einräumt und überhaupt die Zeit nach 1914 allenfalls stiefmütterlich abhandelt.7 Studien, die das Schicksal Wagners in Frankreich während der Grande Guerre und der Zwischenkriegszeit zum Thema haben, sind rar gesät, zumeist muss man in allgemein gefassten Überblicksbänden nach Informationen suchen: In der 1987 von Elaine Brody vorgelegten Untersuchung zum »musikalischen Kaleidoskop« in Paris zwischen 1870 und 1925 wiederholt die Autorin in dem Wagner gewidmeten Kapitel längst Bekanntes, von Wagners Aufenthalten in Paris bis zur Entwicklung des wagnérisme seit 1860 und geht bei dieser Beschreibug entgegen der Suggestion des Buchtitels nicht über das Jahr 1900 hinaus.8 Es finden sich Spuren in Kenneth E. Silvers 1989 erschienenen Studie der Wechselwirkung zwischen der Pariser Kunst-Avantgarde und dem Ersten Weltkrieg, allerdings konzentriert er sich nahezu ausschließlich auf Léon Daudets antiwagnerianische (und antiromantische) Streitschrift Hors du joug allemand von 1915.9 Die wertvollsten Darstellungen zum politisch-musikalischen Rahmen und dessen Implikationen für die französische Wagner-Rezeption vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg stammen aus der Feder der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Jane Fulcher (1999; 2005).10 Esteban Buch widmet sich in einem Aufsatz der deutschen Musik in Paris während des Ersten Weltkrieges (2004),11 schließlich existieren zwei Abhandlungen,

7

M. Kahane/N. Wild (Hg.), Wagner et la France, Paris 1983, S. 86–88.

8

E. Brody, Paris. The Musical Kaleidoskope 1870–1925, New York 1987, S. 21–

9

K.E. Silver, Esprit de Corps. The Art of the Parisian Avant-Garde and the First

59. World War, 1914–1925, Princeton 1989, insb. S. 22f. und 208. 10 J.F. Fulcher, French Cultural Politics & Music. From the Dreyfus Affair to the First World War, New York/Oxford 1999; dies., The Composer as Intellectual. Music and Ideology in France 1914–1940, New York/Oxford 2005. 11 E. Buch, ›Les Allemands et les Boches‹: la musique allemande à Paris pendant la Première Guerre mondiale, in: Le Mouvement social, Nr. 208, Juli–September 2004, S. 45–63.

BESATZUNGSMACHT WAGNER

| 237

die sich ausschließlich »dem Fall Wagner« im Frankreich des Ersten Weltkrieges widmen, die beide von Marion Schmid vorgelegt wurden (2004; 2008).12 Angesichts dieser kargen Ausbeute in der zeitgenössischen Forschung nimmt es fast nicht wunder, dass die ausführlichsten Behandlungen des Themas und zugleich die besten Material- und Quellensammlungen direkt nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht wurden: Der Musikkritiker Jean Marnold bearbeitete 1920 den »Fall Wagner«, der Übersetzer von Wagners Schriften, Jacques-Gabriel Prod‫ތ‬homme, widmete seine Monographie von 1921 dem Thema »Richard Wagner et la France«.13 Der vorliegende Aufsatz soll die Diskontinuität der französischen Wagnerrezeption aufzeigen, welche im Jahr 1914 den größten Einschnitt ihrer Aufführungsgeschichte erfährt, zugleich aber die Kontinuität der Auseinandersetzung mit der Kunst Richard Wagners in Form einer lebhaften Wagnerdebatte im Frankreich des Ersten Weltkrieges hervorheben. Der Bruch von 1914 war fundamental und von äußerlicher wie geistiger Natur, doch die Kräfte einer auf sehr breiter Basis stehenden Wagner-Tradition sorgten dafür, dass nach dem erzwungenen Stillstand von 1914 bis 1919 zunächst die Nachfrage des Opern- und Konzertpublikums, dann aber auch ein neu generiertes wissenschaftlich-musikalisches Interesse die Kontinuität der französischen Wagnerrezeption garantierte.

II. D ER E INSCHNITT

VOM

A UGUST 1914

Massiv war der Bruch, den Wagners Werk in Paris im Jahre 1914 ereilte: Am 23. Juli – dem Tage des österreichischen Ultimatums an Serbien – wurde, ohne dass dies den Parisern bewusst sein konnte, mit Lohengrin

12 M. Schmid, Moderne und Reaktion im Frankreich des Ersten Weltkrieges: Der Fall Richard Wagner, in: P. Ernst/S.A. Haring/W. Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, S. 319–344; und: M. Schmid, À bas Wagner, in: B. Kelly (Hg.), French Music, Culture, and National Identity, 1870–1939, Rochester 2008, S. 77–91. 13 J. Marnold, Le cas Wagner, Paris 1920; J.-G. Prod’homme, Richard Wagner et la France, Paris 1921, hier insbesondere der zweite Teil: »La Question Wagner depuis la guerre«, in: ebd., S. 31–91.

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zum letzten Mal Wagner auf der Bühne des repräsentativen Palais Garnier gegeben, bevor sich, wie in Bayreuth, dem anderen Zentrum der internationalen Wagnerpflege, der Vorhang über Wagners Werk senken sollte. Es gibt wohl keinen anderen Komponisten, dessen Aufführungsschicksal mit all seinen glorreichen Höhen und tiefen Fällen so sehr mit den politischen Zeitläufen seiner Rezeptionsgeschichte verwoben ist wie Wagner. Der Bann, der sich in Frankreich ab August 1914 über Wagners Musik legte, war absoluter als derjenige von 1870, als der »Preußenmusikant« zwar für gut 20 Jahre auf französischen Bühnen unaufführbar gewesen war, sich aber von 1873 an behutsam in den Konzertsälen und den privaten Salons durchsetzen konnte, bis der endgültige Durchbruch seines Werkes auf der Bühne durch die Pariser Lohengrin-Aufführung im Jahre 1891 gesichert war. Zwischen Juli 1914 und November 1919 allerdings war die Eliminierung der Wagnerschen Musik in Frankreich total – als direkte Folge der deutschen Kriegserklärung vom 3. August 1914. Die Zeitspanne von 1900 bis 1920 zeigt sowohl den absoluten Höhepunkt als auch den größten Bruch der französischen Wagnerrezeption, wobei der Einschnitt von 1914 für den westlichen Nachbarn des Deutschen Reiches von einer besonderen Fallhöhe gekennzeichnet war. Um die Jahrhundertwende hatte die europäische Wagnermanie mit ihrem Zentrum Paris ihre Klimax erreicht und zumindest hinsichtlich der Popularitätswerte bis 1914 angehalten.14 Von 1891, dem Jahre des endgültigen Durchbruchs durch Wagners Lohengrin, bis 1914 wurden an 1.111 Abenden im Palais Garnier WagnerOpern gezeigt.15 Im gleichen Zeitraum gab es immerhin noch 306 Meyer-

14 Die französische Wagner-Begeisterung erreichte in den 1890er Jahren ihre höchste Intensität, was unter anderem an der Statistik französischer Besucher bei den Bayreuther Festspielen abzulesen ist. Während bei den ersten Festspielen 1876 noch 59 Franzosen nach Bayreuth pilgerten, waren es 1891 bereits 382, bevor im Jahre 1896 mit 840 Festspielgästen aus Frankreich der Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht wurde. Vgl. »Fremdenliste« 1876 bis 1914 (A 2500–I bis –XII), in: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth. 15 Gemeint sind die zehn »Bayreuth-Opern« vom ›Fliegenden Holländer‹ bis ›Parsifal‹.

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beer-Abende16 und 822 Mal Gounod17: Wagner aber dominierte bei weitem das Repertoire und entsprach demnach nicht nur offenbar dem Geschmack (und der Nachfrage) des Publikums, sondern sorgte zudem für ein volles Haus, also für sichere Einnahmen, was für Operndirektoren damals wie heute ein wesentliches Argument für die Programmgestaltung ist. Das »Bühnenweihfestspiel« Parsifal, das nach Ablauf der Schutzfrist 1913 auf allen Bühnen des Erdballs gespielt werden durfte, hatte am 4. Januar 1914 im Palais Garnier Premiere und wurde bis zum 3. Juli des Jahres insgesamt 35 Mal gegeben.18 Diese Parsifal-Serie ist nicht nur letzter Fluchtpunkt einer WagnerFolie, die in dieser Form in späteren Zeiten nicht wieder entstehen sollte, sondern zugleich absoluter Höhepunkt der Aufführungsgeschichte von Wagners Werken in Frankreich, die mit dem Jahr 1914 ihren letzten großen Vorkriegstriumph sowie den tiefstmöglichen Fall erleben sollte.

III. 5 FÉVRIER 1916:

EINE

W AGNER -R UNDFRAGE

Stellvertretend für die französische Wagner-Debatte während des Ersten Weltkrieges kann eine Rundfrage gelten, die die Diskussion um Richard Wagner zum Gegenstand hatte: Am 5. Februar 1916 – gut zwei Wochen vor Beginn der desaströsen Stellungsschlacht, die mit dem Angriff der deutschen Truppen auf die Festung Verdun am 21. Februar begann – lancierte Jean Poueigh19 in der Zeitschrift La Renaissance politique, littéraire et artistique in einer für die Dritte Republik sehr typischen Enquête, also einer Befragung der kulturell-intellektuellen Öffentlichkeit, die für den

16 Mit den vier Hauptwerken: Robert le diable, Les Huguenots, Le Prophète und L’Africaine. 17 Mit zwei Werken: Faust und Roméo et Juliette. Nachweis für diese Zahlenangaben bei: J.-G. Prod’homme, Richard Wagner, S. 38–40. 18 Ebd., S. 38, Fußnote 1. 19 Jean Poueigh (1876–1956), war ein französischer Komponist, Musikwissenschaftler und Kritiker. Schüler der Schola Cantorum de Paris.

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französischen Musikbetrieb der Kriegsjahre brisanteste Frage: »Doit-on jouer Wagner après la guerre?«20 Die 21 von Poueigh angefragten Persönlichkeiten, nahezu ausschließlich Repräsentanten der musikalischen und literarischen Öffentlichkeit, stehen in gewisser Weise repräsentativ für die Haltung des kulturellen Frankreichs zum Wagner-Bann der Jahre 1914–1919: Der Musikbetrieb lag nach dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen zunächst brach. Als am 29. November 1914 der geregelte Konzertbetrieb wieder aufgenommen wurde, herrschte der unausgesprochene und unhinterfragte Konsens, dass Wagner während des Krieges nicht gespielt werden könne. Der glühende Wagnerianer André Messager schreibt etwa: »Ich denke, dass inmitten unserer beklemmenden Zeit Wagner und die deutsche Musik keinen großen Belang hat. Die Frage, ob man später die Wagnerschen Werke wieder oder nicht wieder spielen sollte, lässt mich momentan in einem Zustand völliger Indifferenz.«21 Zum anderen kam bei den Beteiligten die gebührende (zumindest rhetorische) patriotische Pflicht zum Tragen. Wieder Messager, der an das soeben vorgetragene Zitat anfügt: »Vernichten wir zunächst einmal die Deutschen: das sollte unser Ziel sein. Diskutieren können wir danach.«22 Ähnlich ausweichend argumentieren Gabriel Astruc, der Gründungsdirektor des Théâtre des Champs-Elysées, und der Musikkritiker Camille Bellaigue. Erstaunlich ist, dass zwei erklärte Antiwagnerianer den liberalsten Standpunkt einnehmen und die Wiederaufnahme der Wagner-Pflege nach dem Krieg explizit einfordern: Der Astronom Camille Flammarion, der einzig »fachfremde« unter den Befragten – wohl aber durch seinen jüngeren Bruder Ernest Flammarion, den Begründer der Verleger-Dynastie, mit

20 »Soll man nach dem Krieg (wieder) Wagner spielen?«. In: La Renaissance politique, littéraire et artistique, 5. Februar 1916, S. 1912–1915. 21 »Je trouve qu’au milieu des angoisses de l’heure actuelle Wagner et la musique allemande présentent bien peu d’intérêt. La question de savoir si on pourra ou non jouer plus tard les oeuvres wagnériennes me laisse pour le moment dans la plus complète indifférence.«, ebd., S. 1913f. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem französischen Original stammen vom Autor. 22 »Anéantissons d’abord les Allemands: voilà le but; nous discuterons après.« Ebd., S. 1914.

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dem entsprechenden kulturellen Kapital ausgestattet –, bekennt, die Musik Wagners nicht zu lieben, sie solle aber wieder gespielt werden, denn: »Wer will, soll sie anhören.«23 Der Historiker und Begründer der modernen Gallienforschung, Camille Jullian, verlangt die Wiederaufnahme der Wagnerschen Werke am engagiertesten, da man ja auch niemandem verbieten könne, den Kölner Dom anzusehen oder Goethe zu lesen: »Ein Werk der Kunst oder der Wissenschaft gehört nicht einem bestimmten Land.«24 Zugleich müsse man jedoch das Recht zugestehen, Wagner zu kritisieren, ohne in jene blinde Verehrung zu verfallen, die Jullian im Halbjahr des großen Erfolgs von Parsifal beobachtet haben will. Schließlich waren in dieser Rundfrage auch die beiden Hauptvertreter des großen Wagnerstreits von 1914–1918 beteiligt, die die publizistische Auseinandersetzung darum, ob man nach Ende der Kriegsauseinandersetzungen wieder Wagner spielen dürfe, maßgeblich dominierten und sich im Laufe des Krieges zu zwei regelrechten Antipoden der Wagnerdebatte entwickelten, obschon doch beide zu den Wagnerianern der ersten Stunde gehört hatten: Zum einen Camille Saint-Saëns, der die Debatte im September 1914 im Écho de Paris losgetreten hatte, zum anderen Vincent d‫ތ‬Indy, einem glühenden Patrioten, doch immer noch überzeugten Wagnerianer. Entsprechend konträr fallen die Antworten aus: Während Saint-Saëns in Wagner das Symbol des militärischen Feindes sieht, das es nicht zu unterstützen gilt, und darüber hinaus Wagnern schädlichen Einfluss auf die französische Musik (vulgo: die Komposition) unterstellt, verteidigt d‫ތ‬Indy Wagners Werk als über die Zeiten und Nationen erhaben und hält es für »antipatriotisch«, die Franzosen dieses »bewundernswerten Elements der künstlerischen Erziehung zu berauben«.25 Vier Aspekte sind bemerkenswert: Zum ersten ist in der Fragestellung die implizite Übereinkunft enthalten, dass Wagners Musik während des Krieges nicht gespielt werden solle, da ausschließlich die Zeit nach dem Kriege zum Gegenstand gemacht wird.

23 »Les entendra qui voudra.«, Ebd. S. 1913. 24 »Une oeuvre d’art ou de science n’appartient pas à un pays. «, ebd., S. 1913. 25 »Il serait vraiment antipatriotique de priver tous ceux qui, dans notre pays, s’intéressent à la musique, à la peinture, à la littérature, d’admirables éléments d’éducation artistique.« Ebd., S. 1913.

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Selbst die virulentesten Wagner-Verteidiger (etwa die beiden Dirigenten Camille Chevillard und André Messager), die die Frage mit einem klaren »Ja« beantworten, verschieben die Wiederaufnahme der Wagnerpflege wie selbstverständlich auf die Nachkriegszeit. Die im September 1914 einsetzende Anti-Wagner-Debatte hat eineinhalb Jahre später zumindest dieses unhinterfragte Fait accompli geschaffen. Zweitens: Keiner der Befragten bezweifelt Wagners Bedeutung in der Musik- und Kulturgeschichte: Nahezu niemand argumentiert musikästhetisch.26 Der damalige Direktor der Pariser Oper, Jacques Rouché bemerkt: »Die (Wagner-)Frage ist in Wahrheit völlig außerhalb des Bereichs der Musik angesiedelt.«27 Zum dritten schwingt in nahezu jeder Antwort mit, dass die Person Wagner in Kriegszeiten ein politisches Problem ist. Bezeichnenderweise wird oft mit Preußentum, Wilhelm II. oder gar Friedrich dem Großen argumentiert, um den Bann der Wagnerschen Musik zu begründen. Nicht nur, dass Wagner kein »musikalisches Problem« darstellt, vielmehr ist die Debatte um seine Aufführbarkeit während des Krieges eine ausschließlich politische Streitfrage. Viertens und letztens fällt auf, dass neben der politischen Rechtfertigung des Wagnerbanns durch die Kriegssituation der Großteil der Meinungen auf eine Empfindung, ein sentiment zurückzuführen ist, welches die persönliche Haltung eines jeden bestimmt.28 Letztlich geht es dieser Rundfrage nicht um eine rationale Beurteilung der Situation, sondern möchte der Gefühlslage der Befragten auf den Grund gehen.

26 Die Ausnahme bildet Saint-Saëns. 27 Jacques Rouché: Direktor der Pariser Oper von 1915 bis 1945. »Elle est en réalité complètement en dehors du domaine musical.« Ebd., S. 1914. 28 So der Initiator Jean Poueigh wörtlich ein seinem Kommentar zur Rundfrage : »La question est toute de sentiment, elle ne relève aucunement de l’esthétique«, ebd., S. 1915.

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IV. »À BAS W AGNER !« – D IE A NTI -W AGNER D EBATTE IM F EUILLETON Am 19. September 1914, »zu einem Zeitpunkt, als noch niemand überhaupt an die Wiederaufnahme des Konzertlebens dachte«29, begann Camille Saint-Saëns mit einer Serie von Artikeln im nationalkonservativen LҲÉcho de Paris30 eine virulente Anti-Wagner-Debatte, die er im Jahre 1916 unter demselben Titel Germanophilie beim Pariser Verlag Dorbon-Ainé zu einer 96-seitigen Broschüre zusammenfasste.31 Camille Saint-Saëns, zum Zeitpunkt der Artikelserie seinen 79. Geburtstag feiernd, war gleichsam der Grand Seigneur der französischen Musik.32 1860 ständiger Gast in Wagners Salon zu dessen zweitem Pariser Aufenthalt, befand er sich bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 nicht etwa in der französischen Heimat, sondern zufällig mit anderen französischen Wagnerianern zu Gast bei Wagner in Tribschen, den »Meister« am Klavier zur Nornenszene der gerade entstehenden Götterdämmerung begleitend.33 Schließlich berichtete er 1876 enthusiastisch von der zyklischen Aufführung des Ring des Nibelungen bei den ersten Bayreuther Festspielen. Der einstige Wagnerianer der ersten Stunde zog nun, 1914, über 30 Jahre nach Wagners Tod, gegen den verderblichen Einfluss des deutschen Komponisten zu Felde. Der Franzose zieh Wagner des Charlatanismus und geißelte die französische Opernkomposition, die Wagners Vorbild zu kopieren trachtete und dabei die eigene Tradition der französischen Klassik verraten habe. Die Folge dieser Analyse müsse nun sein, angesichts der schweren Stunde fürs Vaterland, Wagners Musik vollständig von französischen Bühnen und Konzertpodien zu bannen.

29 Zitat Jean Marnold (1859–1935), Kogründer des Mercure musical und Kritiker beim Mercure de France, enger Freund Ravels. »(...) à un moment où on ne songeait guère encore à la reprise des concerts.«, Marnold, Le cas Wagner, S. 5. 30 »(...) the right-wing nationalist L’Écho de Paris«. Schmid, À bas Wagner, S. 78. 31 C. Saint-Saëns, Germanophilie, Paris 1916. 32 Saint-Saëns lebte vom 8. Oktober 1835 bis 16. Dezember 1921. 33 M. Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München 1995 (ursprünglich 1980), S. 629.

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Sekundiert wurde Saint-Saëns von Auguste Germain34, der kurz vorher eine unvollständige Version von Wagners »Lustspiel in antiker Manier« Eine Kapitulation veröffentlicht hatte, in der durch entsprechende Selektion vor allem die Invektiven Wagners gegen Paris hervorgehoben wurden.35 In ähnlichem Stile wandte sich der Historiker Frédéric Masson gegen Wagner und die gesamte germanische »Kultur« und sprach den Wunsch aus, dass diese »Kultur« nie wieder »unseren Geist beschmutzen dürfe«, um mit dem Aufruf zu enden: »Man wird niemals mehr Wagner in Frankreich spielen.«36 Diese Virulenz im Écho de Paris wurde von Jacques-Gabriel Prod‫ތ‬homme unter anderem auf die Absenz des hauptamtlichen Musikkritikers dieser Zeitung, Adolphe Boschot, zurückgeführt, der seit August 1914 als Kommandant der Infanterie an der Front diente.37 Die Debatte wurde von Antiwagnerianern geführt bzw. angefacht, sie war politisch inszeniert und mit einer emotionalen Indignation, die sich im antideutschen Affekt gegen Wagner spiegelte, begründet. Frédéric Masson, der Veteran von 1870, griff die französischen Wagnerianer an, die »vor etwa 20 Jahren« durch ihre Kampagnen Wagner zu seinem endgültigen Durchbruch verholfen hatten, und unterstellte ihnen, im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 nicht ihren devoir strict erfüllt zu haben.38 Der Verweis auf die Teilnahme 1870 war unter den älteren Jahrgängen ein pauschales Argument, um auf die Notwendigkeit nationaler Pflichterfüllung von 1914 hinzuweisen. Wie es sich für Patrioten gehörte, pochte auch »die andere Seite« – der überzeugte französische Nationalist und Wagnerianer d‫ތ‬Indy – auf ihre Teilnahme im Jahre 1870: Am 5. August 1914 wandte sich Vincent d‫ތ‬Indy – zu jenem Zeitpunkt 63-jährig – an den Kriegsminister, um sich für eine

34 Französischer Dramenautor, 1862–1916. 35 Die Version war entnommen: V. Tissot, Voyage au pays des Millards, Paris 1875. Hinweis dazu bei: Prod’homme, Richard Wagner, S. 33. 36 »On ne jouera plus du Wagner en France.« Frédéric Masson (1847–1923), Autor mehrerer Dutzend Bücher über Napoleon und die Napoleonische Epoche, seit 1903 Mitglied der Académie française: F. Masson, L’Art sans Patrie, in: L’Écho de Paris, 27. September 1914. 37 Prod’homme, Richard Wagner, S. 32. 38 Ihre »strenge Pflicht«. Vgl. Marnold, Le cas Wagner, S. 11.

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Kriegsverwendung zu Verfügung zu stellen und bat, jenes »brennende Verlangen eines alten Freiwilligen von 1870« zu berücksichtigen.39 Unter denjenigen Franzosen, die Wagners Werk während des Ersten Weltkrieges verteidigten, war d‫ތ‬Indy die große symbolische Gegenfigur Saint-Saëns‫ތ‬, da er mit dem Geburtsjahr 1851 ebenso zur älteren Musikergeneration gehörte und als einziger unter den öffentlich auftretenden Wagner-Apologeten ein ähnliches musikalische Prestige wie Camille SaintSaëns aufweisen konnte. Er trat insbesondere durch einen Vortrag an die Öffentlichkeit, den er am 16. April 1915 in den Galeries Georges Petit hielt und der in der Renaissance politique, littéraire et artistique vom 12. Juni 1915 publiziert wurde. Andere bedeutende Komponisten der Zeit sahen die Angelegenheit gelassen, auch wenn sie sich nicht öffentlich äußerten. Claude Debussy schrieb am 18. Oktober 1914 in einem Brief an den italienischen Dirigenten Bernardino Molinari: »Was Wagner betrifft, so wird es schwierig sein, ihn völlig zu eliminieren! Im Übrigen hatte er genug Genie, um seine menschlichen Schwächen allmählich vergessen zu können.«40 Auf der Seite der Anti-Wagnerianer fochten neben Saint-Saëns und Masson der rechtskonservative Schriftsteller und einstige Wagnerianer Maurice Barrès41 sowie Léon Daudet, Mitbegründer der nationalistischen Action française und als junger Mann ebenfalls Anhänger Wagners, der am Ende seiner Schrift LҲentre-deux-guerres von 1915 mit dem berühmten Ausruf schloss: »À bas Wagner!«42 Für Wagner sprachen sich aus der Literaturkritiker Paul Souday, der Schriftsteller und Okkultist Joseph Péladan, der Musikkritiker Jean Marnold sowie – zumindest anfänglich – Jean Cocteau, der im Rahmen des Boykotts deutscher Produkte den berühmten Satz formulierte:

39 »Le désir ardent d’un vieux volontaire de 1870«, zitiert nach: E. Buch, Les Allemands et les Boches, S. 46. 40 »Quant à Wagner, il est difficile de le supprimer tout à fait ! Par ailleurs, il a eu assez de génie pour oublier peu à peu ses faiblesses d’homme.« In: C. Debussy, Correspondance, Paris 2005, S. 1854. 41 M. Barrès, »Les Valkyries et nos jeunes héros«, in: L’Echo de Paris, 3 décembre 1914. 42 Léon Daudet (1867–1942). Zitat nach: L. Daudet, Souvenirs et politiques, Paris 1992, S. 388.

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»Wagner ist ungenießbar, aber ein Genie; die Kunst aus München ist fürchterlich, doch wir sollten sie nicht mit der französischen Gabe sublimer Einfachheit verwechseln. Ich werde meine Zähne nicht mehr mit Odol putzen, aber ich werde mich keineswegs von Schubert, Bach oder Beethoven loslösen.«43

Es ist hier nicht der Ort, die gesamte Debatte in extenso nachzuzeichnen. Die Fronten waren bald verhärtet, der Streit war nicht selten von persönlichen Animositäten geprägt. Innerhalb der Kulturelite herrschte Konsens über die Notwendigkeit, Wagners Musik während der Kampfhandlungen nicht zu spielen. Das Für und Wieder war durch eine Mixtur aus politischen, ästhetischen und persönlich-emotionalen Beweggründen motiviert.

V. »P OUR L ‫ ތ‬ART

IL N ‫ ތ‬Y A PAS DE PATRIE « UND DIE VOX POPULI

– W AGNER

Die Debatte in den Kulturgazetten im nicht direkt vom Krieg betroffenen Paris findet eine erstaunliche Parallele auf der »untersten Ebene« der Kriegsauseinandersetzungen, den Frontgräben im Osten Frankreichs: Der oben erwähnte Kritiker Jean Marnold, der ab Mai 1915 im Mercure de France den publizistischen Kampf gegen Saint-Saëns und Frédéric Masson aufnahm, fasste seine polemischen Artikel nach dem Krieg in dem grundlegenden Dokument Le cas Wagner. La Musique pendant la Guerre zusammen und fügte diesem Band im Anhang 18 Briefe bei, die er aufgrund seiner öffentlichen Verteidigung Wagners von Lesern zugesandt bekommen hatte.44 16 der 18 Briefe stammen von Frontsoldaten, die zu einem großen Teil eine verblüffend klare Haltung zugunsten Wagners einnehmen. Marnold verwendet diese Briefe als Argumentationswaffe im Wagnerstreit, um nach dem Krieg – das Buch wurde 1920 publiziert – seine Haltung zu rechtfertigen. Auch wenn die gedruckten Briefe mit großer Sicherheit eine gezielte Selektion pro-wagnerianischer Äußerungen darstellt, mindert dieser Umstand ihren Wert keineswegs: Sie bezeugen die Haltung eines Teils jener Franzosen, die in direkten Kriegsauseinander-

43 Zitat nach: Le Mot, März 1915, »Soyons raisonnables«. 44 Marnold, Le cas Wagner, S. 246–261.

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setzung mit dem deutschen Feind standen. Dies macht diese Briefe zu einer einzigartigen und herausragenden Quelle. Ein Husarenleutnant schreibt etwa am 8. Mai 1915: »Monsieur, Ich beende soeben die Lektüre ihres ebenso eloquenten wie mutigen Artikels über den Fall Wagner. Ich kenne Sie seit Jahren als Leser Ihrer interessanten Chroniken im Mercure. Ich erlaube mir, im Namen aller kultivierten Franzosen, die sich momentan an der Front befinden und nicht die Muße haben, sich an den intellektuellen Diskussionen zu beteiligen, Ihnen folgendes mitzuteilen: Danke! Dank, dass Sie die Gelegenheit nicht ausließen, jene bestürzenden Irrsinnigkeiten über Wagner so zu zurechtzuweisen, wie sie es verdienten. Irrsinnigkeiten, über die wir höchstens voller Mitleid die Schultern gezuckt hätten, wenn das hohe Ansehen dessen, der sie von sich gab, uns nicht gezwungen hätte, sie anzuhören . Flammende Patrioten ›lateinischer Kultur‹, die wir sind (...), glauben diejenigen von uns, die von den deutschen Granaten verschont bleiben, der tatsächlichen französischen Musik, nämlich jene, die sich, jung und lebendig zwischen Ariane und Pelléas ansiedelt, nicht zu schaden, wenn wir die häufige Aufführung der Meisterwerke des inzwischen klassisch gewordenen Übermenschen Wagner einfordern. Sie bittend, Monsieur, über diesen Brief frei zu verfügen, wie es Ihnen beliebt, bekunde ich Ihnen hiermit meine ausdrückliche Hochachtung und verbleibe mit den besten Wünschen Régis de V…, Leutnant des x-ten Hussarenregiments.« 45

45 »Aux Armées, le 8 mai 1915 Monsieur, Je viens de lire votre éoloquent et courageux article sur le Cas Wagner. Je ne vous connais que pour avoir suivi, depuis plusieurs années, vos intéressantes chroniques du Mercure. Mais, au nom de tous les Français cultivés, actuellement sur le front, et qui n’ont pas le loisir de prendre part aux discussions d’idées, je me permets de vous dire: merci! Merci de n’avoir pas laissé passer sans les relever comme elles le méritent les insanités révoltantes débitées à propos de Wagner, et devant lesquelles on eût haussé les épaules de pitié, si le prestige de celui qui les a émises n’obligeait à les entendre. Patriotes ardents et de ›culture latine‹, n’en déplaise à Junius, ceux d’entre nous qu’épargneront les obus allemands ne croiront pas nuire à la vraie musique française, celle qui, jeune et vivante, se place entre Ariane et Pelléas... et au delà, en réclamant l’exécution fré-

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Ähnliches findet sich in den anderen Briefen. Ein »Jean S.« bekundet am 31. Mai 1915, dass er, sobald er von den Gräben zurückkehre und ein Klavier finde, sofort all jenes von Wagner spielen würde, dessen er sich erinnere, und bittet Marnold, noch weitere Artikel zu schreiben, da diese den Soldaten helfen, all die Projektile des deutschen Trommelfeuers zu vergessen.46 Félicien C. schreibt am 29. Januar 1916: »Wir sind mehrere mit dem Croix de Guerre47 ausgezeichnete Kombattanten und werden, sobald dies uns möglich ist, die Wiederaufnahme der Wagnerschen Werke vehement einfordern; der Unterzeichnende dieses Briefes unter anderem. Während meines letzten Urlaubs hätte ich liebend gerne ein bisschen Siegfried gehört, dessen Motive ich unter den deutschen Granaten gerne pfiff, um mir den Mut von jenem einzuflößen, der das Fürchten nicht kennt.«48

Ein Feldarzt versichert (undatiert), dass sich Marnold auf die Rückkehrer von der Front verlassen könne, wenn es um die Wiedereinforderung von Wagners Werken ginge, ein Marineinfanterist schließlich berichtet am 29. März 1916, wie Soldaten unterschiedlichen Grades bei einem Konzert, unter anderem vor dem General, aus der Walküre sangen, was von den dargebotenen Stücken am meisten gefeiert wurde.49 Ein Leutnant der Artillerie vermerkt, dass selbstverständlich nicht alle Frontsoldaten überzeugte Wagnerianer seien, und dass er und Gleichgesinnte wegen ihrer Verehrung für den deutschen Komponisten durchaus angefeindet werden. Jedoch stellt er fest, dass er »noch keinen einzigen Frontsoldaten [kennen

quente de quelqu’un des chefs-d’oeuvre désormais classiques du surhumain Wagner. En vous priant, Monsieur, de vous considérer comme libre de faire de cette lettre l’usage qu’il vous plaira, je vous demande de vouloir bien trouver ici l’expression de mes sentiments très distingués. Régis de V... Lieutenant au ...e Hussards.« In : Marnold, Le cas Wagner, S. 246f. 46 Die »bocherie turbulente«. Ebd. S. 250f. 47 Dieses wurde am 8. April 1915 von Poincaré gestiftet. 48 Marnold, Le cas Wagner, S. 253. 49 Ebd., S. 254f.

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gelernt habe], der bezüglich Wagners seine Meinung geändert habe, und der, nachdem er Wagner vor dem Krieg geliebt habe, ihn nun plötzlich nicht mehr lieben würde«.50 Schließlich sticht der Brief eines Lesers aus Montevideo hervor, der zwar nicht die Stimmung an der Front wiedergeben kann, jedoch eine Art Konsens all jener herstellt, die sich vom Kampfgeschehen zum Thema Wagner in Frankreich äußerten: »Pour l‫ތ‬art il n‫ތ‬y a pas de patrie.«51 Sehnsucht nach der Musik des »Übermenschen« Wagner, der bei Frontsoldaten verbreitete Topos des »Sich-Mut-Zupfeifens«, just mit Motiven aus Wagners Siegfried, sowie Wagner-Gesangsdarbietungen an der Front: Es verblüfft bei diesem Kaleidoskop von Frontbegebenheiten aus der Feder französischer Soldaten die Verteidigungshaltung gegenüber einem Komponisten, der nach Meinung einiger Pariser Kulturrepräsentanten durch die Kriegssituation Indignation hervorrufen sollte. Es wird deutlich, dass die Wagner-Frage unter den Musikliebhabern an der Front ein wichtiges Thema war, und aus den Berichten geht hervor, dass es genug Soldaten gab, die vor dem Krieg Wagners Musik schätzten und durch die Kriegssituation von dieser Verehrung nicht abzubringen waren. Diese Äußerungen »aus dem Volk« widerspiegeln die Haltung französischer Melomanen zum Thema Wagner, die den Ersten Weltkrieg direkt an der Front erlebten. Den erhitzten Debatten auf hohem feuilletonistischen Ross zum Trotz ist anzunehmen, dass der durchschnittliche und durchweg patriotisch gesinnte französische Wagner-Anhänger eine Trennung zwischen den Kriegshandlungen mit dem wilhelminischen Deutschland und der Verehrung für einen Komponisten, der »vor 33 Jahren gestorben ist«52, zu ziehen in der Lage war. Das oben zitierte Credo des Lesers aus Uruguay, das im Übrigen seit je die Überzeugung der französischen Avantgarde gewesen war, erhebt sich zur grundsätzlichen Feststellung der zitierten Zeugnisse: Die Kunst, zumal jene Richard Wagners, sei eine universelle Kunst und habe kein spezifisches (politisches) Heimatland.

50 Brief vom 5. Juli 1916: »Mais, je peux le dire, je n’ai jamais rencontré un seul homme du front qui ait changé d’opinion sur Wagner et qui, l’ayant aimé devant la guerre, ne continue à l’aimer encore.« Ebd., S. 258. 51 »Die Kunst hat kein Vaterland.« Camilo Ricardo Williams, Brief vom 19. April 1916. Ebd., S. 258–261, hier S. 260. 52 Zitat Jean Marnold, Oktober 1916. Ebd., S. 244.

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VI. W AGNER

UND DER

K RIEG

Die Konzerte nahmen erst langsam wieder ihren Betrieb auf: Am 29. November 1914 gab die Société des Concerts du Conservatoire ihr erstes Kriegskonzert, mit einem dezidiert französischen Programm (Saint-Saëns, Magnard, Franck). Die beiden bedeutendsten Orchester, Lamoureux und Colonne, waren gezwungen zu fusionieren, da ein Großteil der Musiker zum Kriegsdienst eingezogen war, und gaben am 6. Dezember 1914 ihr erstes Konzert in der Salle Gaveau.53 Die Debatte, konzentrierte sich zwar auf Wagner, berührte aber dennoch die Frage nach dem Boykott der deutschen Musik und Kultur im Allgemeinen. In einer Mischung aus Pragmatismus und Heuchelei geriet Beethoven Ende 1915 wieder auf die Konzertbühne, da die französische Musik allein nicht ausreichte, um das Bedürfnis des Konzertpublikums zu stillen – zudem war es gelungen, den Bonner Komponisten aufgrund eines flämischen Großvaters vom Germanentum reinzuwaschen. Debussy bemerkte zu diesem Thema in seiner privaten Korrespondenz süffisant: »Was Beethoven angeht, so hat man soeben glücklicherweise herausgefunden, dass er Flame war! In Bezug auf Wagner übertreibt man! Er behält den Ruhm, in einer Formel Jahrhunderte der Musikgeschichte zusammengefasst zu haben.«54 Sehr aufschlussreich ist der Umstand, dass die Société des Concerts im März 1917 bei einer Tournee in der neutralen Schweiz just Beethoven spielte: »Ein solcher Abend ist um einiges nützlicher für Frankreichs Sache als mehrere Bände an Propagandaliteratur«, wie ein Genfer Kritiker schrieb.55 Als Resümee sei festgehalten, dass die Wagnerdebatte einen grundlegenderen Diskurs verdeckte: Denjenigen über die »deux Allemagnes« und die deutsche »Kultur« im derogativen Sinne. Je nach Haltung des Autors zieht der antiwagnerianische bzw. antideutsche Diskurs stets eine Trennlinie zwischen dem »guten, alten Deutschland« eines Kant, Mozart, Beethoven (manchmal Schumann) und eines »zweiten, aggressiven Deutsch-

53 Buch, Les Allemands et les Boches, S. 52f. 54 Debussy, Correspondance, S. 1845 55 »Une soirée pareille est plus utile à la cause de la France que plusieurs volumes de littérature de propagande.« In: Gazette de Lausanne, 4. April 1917, zitiert nach: Buch, Les Allemands et les Boches, S. 52.

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land« von 1870, repräsentiert durch dessen Vordenker Hegel, vor allem aber durch Wagner (und manchmal Schumann) und die Neutöner Strauss und Mahler. Der Autor und Kritiker Camille Mauclair hob etwa 1916 im Courrier musical seine »Bewunderung für die großen Deutschen der Prae›Kultur‹ (la »pré-Kultur«)« hervor, womit er »Bach, Mozart, Beethoven, Schubert und Schumann« meinte, deren Kunst »unschuldig und rein menschlich« gewesen sei.56 Die andere, tiefer liegende Debatte, wird von einigen Autoren als ein innerfranzösischer Kampf zwischen der Avantgarde und der antimodernen Reaktion gewertet, welche Wagner mit der Romantik und der »verwerflichen neuen Musik« seiner Nachfolger gleichsetzte und daher als bedrohlichen Einfluss der Moderne auszumerzen trachtete.57 Eine Vulgärversion dieses Vorwurfs wurde von einem Frontsoldaten zitiert, der den Angreifern Wagners versteckte niedere Absichten unterstellte und mutmaßte, dass es den französischen »Musikanten« (gemeint sind die Komponisten der Gegenwart) eine Traumvorstellung sein müsse, nicht mehr die »Konkurrenz der Titanen Wagner oder Strauss« fürchten zu müssen.58 Vollzog man nun die Gleichsetzung der von Wagner repräsentierten und bedrohlichen kulturellen Moderne mit dem aktuellen militärischen Feind, so glaubte man sich der Unterstützung »des Volkes« sicher sein zu können. Im Kern appellierten die Antiwagnerianer, ob sie nun mit den »zwei Deutschlands« argumentierten oder nur eine antimoderne Reaktion maskieren wollten, an die Gefühlswelt des »Volkes«, um mit Hilfe der empörten Massen Wagners Musik aus Frankreich zu verbannen. Das Wagner zugewandte Volk, wie aus der Feldpost ersichtlich wurde, sah zwischen der Verehrung Wagners und der patriotischen Pflicht im Felde keinen Widerspruch. Mit Hilfe der Theorie der deux Allemagnes konnte man sogar so weit gehen, an der Front die Werte und die Musik des

56 Camille Mauclair (1872–1945). Zitat aus: C. Mauclair, »Pour l’amour de la fée«, in: Le Courrier musical, XVIIIe année, 1er décembre 1916, S. 3–5. 57 Schmid, À bas Wagner, S. 77–91, insb. S. 87; Silver, Esprit de Corps, S. 22f. und 208. 58 »N’avoir plus à redouter la ›concurrence‹ des titans Wagner ou Strauss, quel rêve pour tous ces musicaillons!« In einem Brief von Louis T., datiert vom 4. Juni 1916, in: Marnold, Le cas Wagner, S. 257f.

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»alten Deutschland« gegen das wilhelminisch-aggressive »neue Deutschland« zu verteidigen. Auch hier war die Bindung der französischen Soldaten (zu Wagner) größer als die kriegsbedingte Instrumentalisierung durch die publizistische Propaganda, die die Franzosen mit einem emotionalen Appell zum Boykott Wagners und der deutschen »Kultur« aufrufen wollte. Im Dezember 1919 wurden zum ersten Mal wieder nach dem Krieg, unter großem Applaus des Publikums, Wagner-Stücke bei einem Pariser Konzert gegeben,59 im Januar 1921 konnte mit der Walküre wieder ein Wagnersches Bühnenwerk in der Opéra Garnier gezeigt werden.60 Zwar hatte sich nach dem Krieg das Verhältnis der französischen Komponisten zu Wagner deutlich abgekühlt, es herrschte ein verbreitetes Katergefühl nach der Wagner-Folie, nahezu ein schlechtes Gewissen, so lange im lähmenden Schatten eines übermächtigen Musikers gestanden zu haben. Das Publikum und die Publizistik aber wandten sich bald wieder mit Vehemenz Wagner zu, wodurch der Bayreuther Meister zumindest in den 1930er Jahren zum am häufigsten gespielten Komponisten auf französischen Konzertpodien wurde. Selbst der – nach 1870 und 1914 – dritte politische Bruch von 1940/1944 sorgte nicht dafür, dass Wagner aus Gründen der politischen Kontamination durch das Hitler-Regime und die deutsche Besatzung in Frankreich verfemt und unspielbar wurde. Die Kontinuität der Pflege auf der Opernbühne setzte bald nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein, und wenn sich auch die französische Komposition der Nachkriegszeit noch weniger auf Wagner berief als jene aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, so ist das auffälligste Merkmal der französischen Wagner-Rezeption jenes der Kontinuität. Der »französische Ring« von 1976 in Bayreuth kann als das Symbol für die herausragende Bedeutung der Wagnerschen Kunst in Frankreich gelesen werden und wird von manchen Beobachtern gar als »bisheriger Höhepunkt [des wagnérisme]« verstanden.61 Der Anteil französischer Festspielbesucher in Bayreuth war bald nach dem Zweiten Weltkrieg wieder beträchtlich, wurde durch den Jahrhundertring von 1976

59 Buch, Les Allemands et les Boches, S. 68f. 60 Kahane/Wild, Wagner et la France, S. 172. 61 U. Müller, Wagner in der Literatur und im Film, in: Müller/Wapnewski, Richard-Wagner-Handbuch, S. 704–730, hier S. 709.

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weiter verstärkt und zeigt durch die bis heute andauernde Intensität, dass in Frankreich eine breite Wagner-Anhängerschaft existiert, die zum einen für volle Häuser bei Wagner-Aufführungen in französischen Operntheatern sorgt, zum anderen eine sehr engagierte Wagnerforschung betreibt, die die beste Traditionen des französischen Wagnerismus in die heutige Zeit überführt. Auch wenn der Bruch des Jahres 1914 radikaler und vollständiger war als je zuvor oder danach, zeigt Wagners kontinuierlicher Erfolg in Frankreich, dass die französische Verehrung für Wagners art sans patrie über jede politische Instrumentalisierung erhaben war.

Verdrängen durch Überspielen Musik, Krieg und Kriegsbewältigung am Beispiel des einarmigen Pianisten und Mäzens Paul Wittgenstein G ESA ZUR N IEDEN

Über den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein lässt sich wohl kein Krüppel-Fox singen, wie ihn der Wiener Kabarettist Peter Hammerschlag (1902–1942) zwischen den beiden Weltkriegen schrieb – auch wenn der Text auf einige rezeptionsgeschichtliche Momente des Falls Wittgenstein durchaus zutrifft: »Krippel haben so was Riehrendes,/ Krippel haben was Verfiehrendes,/ Wenn ich mit einem echten Krippel spiel,/ So ist das stets für mich ein Hochgefühl.«1 Sowohl Mitleid mit Kriegsversehrten als auch die Verdrängung des Krieges und der damit zusammenhängenden politischen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg waren wichtige Grundlagen für Wittgensteins Musikerkarriere – aber eben nur Grundlagen, da das gesellschaftliche Ziel gerade darin bestand, Mitleid und Verdrängung als kulturelle Praktiken selbst vergessen zu machen. Die Karriere des Pianisten Paul Wittgenstein, der im ersten Weltkrieg verwundet wurde und seinen rechten Arm verlor, ist seit langem Gegenstand vieler Studien aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Seit sein Privatarchiv im Jahr 2004 zugänglich gemacht wurde, hat sich vor allem das musikwissenschaftliche Interesse an der Schlüsselfigur des 20. Jahrhunderts für das Klavierrepertoire für die linke Hand allein noch einmal entschei1

P. Hammerschlag, Die Wüste ist aus gelbem Mehl. Groteskgedichte, hg. von F. Achleitner/M. Kiegler-Griensteidl, Wien 1997, S. 111.

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dend verstärkt, zumal Wittgenstein hier viele Originale seiner Auftragswerke an namhafte Komponisten unter Verschluss hielt.2 Die musikwissenschaftliche Forschung konzentriert sich dabei nach wie vor hauptsächlich auf zwei Untersuchungsgebiete: Zum einen auf die von Paul Wittgenstein eingerichteten, in Auftrag gegebenen und gespielten Stücke als einem wesentlichen Beitrag zum Repertoire für die linke Hand allein, samt der davon abhängenden Spieltechnik.3 Zum anderen auf seine Rolle als Mäzen im kompositorischen Werk eines Joseph Labor, Franz Schmidt und weiterer, vor allem Wiener Komponisten.4

2

Vgl. das Vorwort von Irene Suchy, Allan Janik und Georg A. Predota in: Dies. (Hg.), Empty Sleeve. Der Musiker und Mäzen Paul Wittgenstein, Innsbruck 2006, S. 9–12. Die Aufsätze dieses Bandes spiegeln die hautpsächlichen Forschungsthemen zu Paul Wittgenstein wider.

3

Dieser Punkt umfasst sowohl kompositionsgeschichtlich-spielpraktische Studien als auch Untersuchungen aus dem Bereich der amerikanischen »disabled studies«. Zur Spielpraxis siehe A. Sassmann, »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister«. Technik und Ästhetik der Klaviermusik für die linke Hand allein, Tutzing 2010; S. Young-Kim-Park, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand, Aachen 1999. Zu den »disabled studies« siehe B. Howe, Paul Wittgenstein and the Performance of Diasbility, in: The Journal of Musicology 27 (2010), S. 135–180; H. Kingsbury, The Gift, in: Review of disability studies: An international journal 4 (2008), S. 20–29; S. Drees, Befreiungsaktionen. Körperliche Behinderung zwischen Imperfektion und eigenständigem Ausdruckswert, in: Neue Zeitschrift für Musik 169 (2008), S. 18–23; J. Pillet, Main mutilée et musique, in: Médecine des Arts 17 (1996), S. 7–11.

4

Siehe u.a. C. Ottner, ›Paul Wittgenstein gewidmet‹ Erich Wolfgang Korngolds Suite für 2 Violinen, Violoncello und Klavier (linke Hand) op. 23, in: J. Bungardt/M. Helfgott/E. Rathgeber/N. Urbanek (Hg.), Wiener Musikgeschichte. Annäherungen – Analysen – Ausblicke, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 637–660; C. Ottner (Hg.), Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900– 1945. Schwerpunkt: Werke für Paul Wittgenstein, Wien 2009; W. Werbeck, Richard Strauss und Paul Wittgenstein. Zu den Klavierkonzerten für die linke Hand zu ›Parergon zur Symphonia domestica‹ op. 73 und ›Panathenäenzug‹ op. 74, in: Österreichische Musikzeitschrift 54 (1999), S. 16–25.

VERDRÄNGEN DURCH ÜBERSPIELEN

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Neben diesen beiden musikgeschichtlichen Bereichen der einhändigen Spieltechnik und des Mäzenatentums war die Figur Paul Wittgenstein stets auch von biographischem Interesse. Durch das familiäre Umfeld der Wiener Industriellenfamilie Karl Wittgenstein, mit einem ausgesprochenen Sinn für Musik und außergewöhnlichen Kontakten zu Wiener Musikern und Komponisten wie Johannes Brahms und Joseph Joachim, war Paul Wittgenstein von Kindesbeinen an gut in Musikerkreisen situiert, vor allem das Wien zwischen Romantik und beginnender Moderne betreffend. Einschneidende familiäre Ereignisse wie der Selbstmord des Bruders Karl, das Exil der als »jüdischer Abstammung« eingestuften Familie Wittgenstein in den USA sowie die Karrierewege der Geschwister Paul und Ludwig Wittgenstein zwischen bürgerlicher Tradition und künstlerisch-geistiger Emanzipation stellen weitere Anhaltspunkte für eine biographisch motivierte kulturgeschichtliche Untersuchung von Paul Wittgensteins Pianistentätigkeit dar.5 Dieser Artikel greift die bestehenden Forschungen zu den genannten Bereichen auf, um sie stärker als bisher geschehen mit den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen der Zwischenkriegszeit, das heißt mit Krieg, Kriegsverarbeitung und Kriegsverdrängung zu verbinden. Dies soll anhand der Behandlung der sogenannten »Kriegskrüppel« erfolgen, die – so die vielzitierte These Michael Geyers – ihre »Identität erst in der Interaktion von staatlichem und gesellschaftlichem Handeln einerseits und der Mobilisierung der Kriegsbeschädigten andererseits gewann[en]«, für welche also staatliche Maßnahmen, gesellschaftliches Verhalten gegenüber Kriegsbe-

5

Vgl. die Arbeiten von E.F. Flindell, Paul Wittgenstein (1887–1961): Patron and Pianist, in: The Music Review 32/2 (1971), S. 107–127; Ders., Dokumente aus der Sammlung Paul Wittgenstein, in: Die Musikforschung 24 (1971), S. 422– 431; Christoph Landerer, ›Die raffinierteste aller Künste‹ Wittgenstein und die Musik, in: Österreichische Musikzeitschrift 56/11–12 (2001), S. 10–19; I. Suchy/A. Sassmann, ›…freue mich, dass ihr Stück ihnen auch selbst gefällt…‹ Der Pianist und Mäzen Paul Wittgenstein, in: Neue Zeitschrift für Musik 166 (2005), S. 56–59; I. Suchy, Sein Werk – Die Musik des Produzenten-Musikers Paul Wittgenstein, in: Suchy/Janik/Predota, Empty Sleeve, S. 13–36; U. Prokop, Paul

Wittgenstein

und

Margaret

Stonborough.

Zur

Komplexität

der

geschwisterlichen Beziehungsgeflechte innerhalb der Familie Wittgenstein, in: ebd., S. 45–52; B. McGuinness, The brothers Wittgenstein, in: ebd., S. 53–66.

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schädigten und deren Eigeninitiative gleichermaßen bestimmend waren.6 In diese Trias spielen laut Sabine Kienitz viele Momente nicht nur der Kriegsverarbeitung, sondern auch der Kriegsverdrängung hinein. Sie beschreibt die sogenannten Kriegskrüppel als »Opfer der sozialen Indifferenz und der verdeckten Brutalität und damit zugleich [als] Opfer […] des kollektiven Wunsches nach Vergessen und Verdrängen«.7 Diese Momente äußerten sich im öffentlichen Raum der modernen Großstadt, »wo der Kampf um Anerkennung und Akzeptanz, um Sonderstatus und soziale Integration, um Raum und Respekt ausgetragen wurde«.8 Allein aus diesem Grund ist eine kulturgeschichtliche Verortung Paul Wittgensteins in der Zwischenkriegszeit relevant, da dieser als öffentlich konzertierender Pianist auf einem wichtigen Podium bürgerlicher Praxis – des Konzerts – agierte. Auf dieser Basis verspricht der Ansatz Einsichten über die Rolle der Musik in der bürgerlichen Gesellschaft zwischen den Kriegen, die die biographischen Stationen des einarmigen Pianisten noch einmal detaillieren, aber auch über sie hinausreichen: Erstens bietet eine kulturgeschichtliche Einordnung einen gesellschaftlichen Rahmen, um Wittgensteins schnell gefassten Entschluss zu erklären, nach der Amputation seines rechten Arms die Pianistenkarriere fortzusetzen. Zweitens rückt mit diesem Ansatz die Verbindung zwischen Musiker und seinem Publikum stärker in das Blickfeld aus Repertoire, Spieltechnik und biographischen Motiven. Es geht letztlich um den Versuch, Wittgensteins musikalische Aktivitäten als soziales und nicht rein individuelles Handlungsmuster zu beschreiben, in einer Zeit, in der die Verbindung von musikalischen Werken und musikalischer Praxis mit der jeweiligen Lebenswelt die Musikkritik zu bestimmen begann.9 Die Singularität des durchaus einzigartigen

6

M. Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 231.

7

S. Kienitz, Beschädigte Helden. Zur Politisierung des kriegsinvaliden Soldatenkörpers in der Weimarer Republik, in: J. Dülffer/G. Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 204.

8 9

Ebd., S. 203. Vgl. den Abschnitt »Soziologie« in: Andreas Eichhorn, »Republikanische Musikkritik«, in: W. Rathert/G. Schubert (Hg.), Musikkultur in der Weimarer Republik, Mainz 2001, S. 208–210.

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Pianisten und Mäzens Paul Wittgenstein im österreichischen und deutschen Musikleben zwischen den Weltkriegen bleibt dabei in diesem Rahmen dennoch erhalten: Da der wohlhabende und gut ausgebildete Paul Wittgenstein mit allen finanziellen Handlungsmöglichkeiten ausgestattet war, mag er als Beispiel für eigenverantwortliche Funktionalisierungen von Musik zwischen Krieg, Kriegsbewältigung und Kriegsverarbeitung jenseits ökonomischer Einschränkungen des sozialen und kulturellen Handlungsraums gelten.10 Musikalische Aspekte wie Instrumentalpraxis oder auch Werke, die das Kriegsgeschehen verarbeiten, sind auf einer übergreifenden Ebene noch erstaunlich wenig erforscht worden. Während es in der bildenden Kunst und Literatur Studien zu Künstlern gibt, die in ihren Werken die Alltagswelt der sogenannten Kriegskrüppel wiedergaben samt der mitleidsvollen Behandlung, die diese von der bürgerlichen Schicht erfuhren, bezieht sich die Erforschung von Musik und Kriegsbewältigung auf Einzelfiguren von Komponisten oder Musikern, die im Krieg gedient hatten. Neben Maurice Ravel und Alban Berg gehört hierzu auch Paul Wittgenstein. Die schnelle Wiederaufnahme seiner Pianistenkarriere wurde hier oft mit dem Vorbild des einarmigen ungarischen Pianisten Graf Géza Zichy in Verbindung gebracht, viel weniger jedoch mit dem staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Kriegsversehrten, wie er sich z.B. in den Maßnahmen der

10 »Wittgenstein’s carreer makes one wonder about the many other pianists who lost an arm in wartime. It is no coincidence that Zichy and Wittgenstein, the two players to achieve wide fame and success, came from families of great wealth and the highest social standing. How many shattered hopes will we never know of, how many anonymous lives were left unfulfilled?« T. Edel, Piano Music for One Hand, Bloomington/IN 1994, S. 34. Zu weiteren kriegsverletzten Pianisten siehe Sassmann, Technik und Ästhetik der Klaviermusik für die linke Hand allein, S. 95–103. Sassmann misst dem Phänomen eine große Wichtigkeit für die Kompositionsgeschichte der Moderne zu: »Man geht für den Ersten Weltkrieg davon aus, dass 20% der Verwundeten als Invalide galten, ›die entweder zu den Schwerkranken gehörten oder an Folgeschäden litten‹ – eine Generation von Musikern, die das Trauma ihrer kriegsbedingten Invalidität zu überwinden suchte, ohne auf das eigentliche Berufsfeld verzichten zu müssen, wurde so zum maßgeblichen Impulsgeber für die Komponisten.« (S. 95)

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Kriegskrüppelfürsorge oder in Spottliedern äußerte.11 Da sich auch hier Verbindungen zu Paul Wittgensteins Verhalten bieten, wird der Hypothese nachgegangen, inwiefern Wittgensteins musikalische Praxis als Zeugnis der bürgerlichen Kriegsverarbeitung und -verdrängung gelten kann, von dessen Exemplarität aus sich Schlüsse über die Rolle der Musik in der Folge des Ersten Weltkriegs ziehen lassen.

I. S OLDAT , K RIEGSVERSEHRTER

UND

P IANIST

Im Jahr 1958 fasste der Wiener Pianist Paul Wittgenstein, der ob seiner jüdischen Wurzeln kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten emigriert war, seine Tätigkeit als österreichischer Reserveoffizier im Ersten Weltkrieg in folgenden biographischen Stichpunkten zusammen: »I was wounded in the First World War serving as an Austrian Reserve-Officer on the Russian Front near Samosce in Poland. Found by the Russian soldiers, transported to a Russian Hospital, amputated there and after several Hospitals in Chelm, Minsk, Orel, was at last transported to Omsk, Siberia. From there I was sent back as an exchange-invalid.«12

Die Verwundung traf Paul Wittgenstein nur ein gutes halbes Jahr nach seinem Debüt als Pianist vom 1. Dezember 1913 mit dem Wiener Tonkünstlerorchester im Großen Musikvereinssaal und nur kurze Zeit nach

11 Lediglich Theodore Edel erwähnt Konzerte, die Géza Zichy im Mai 1915 für »Kriegskrüppel« in Berlin gegeben haben soll. Edel, Piano Music for one Hand, S. 26. Zu Wien vgl. Peter Andraschkes Ausführungen zu Peter Hammerschlags Das Krüppellied, das nach dem Ersten Weltkrieg entstand und später noch einmal von André Heller erweitert wurde: P. Andraschke, ›Weil i a alter Drahrer bin‹. Über einige Facetten des Wienerliedes und seiner Rezeption, in: Bungardt/Helfgott/Rathgeber/Urbanek, Wiener Musikgeschichte, S. 412–423. 12 »[…] the Pope had had then inaugurated the idea that the belligerent Nations should exchange war invalids in equal numbers over a neutral country. I was exchanged over Sweden.« Brief von Wittgenstein an Joseph Wechsberg vom 5. Februar 1958. Zitiert nach J. Wechsberg, His hand touched our hearts, in: Coronet 25/8 (1959), S. 25.

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seinem Einzug an die Ostfront im August 1914. Nach der Amputation seines rechten Arms und seinem Aufenthalt in diversen russischen Gefangenenlagern kehrte er bereits Weihnachten 1915 nach Wien zurück. Schon in Sibirien, in Omsk, hatte Wittgenstein wieder angefangen, Klavier zu spielen, was ihm mittels einer selbstgebastelten Papp-Tastatur und durch einen freundlichen russischen Offizier auf einem alten Klavier möglich war.13 Es ist überliefert, dass »den […] Russen der starke Lebenswille der Gefangenen [imponierte]«, aber auch, dass viele Lagerleitungen korrupt waren, eine Situation, die dem aus einer reichen Industriellen-Familie stammenden Wittgenstein zugutegekommen sein mag.14 In Wien nahm der kriegsverletzte Pianist sofort ein tägliches mehrstündiges Studium auf, in dem er sich eine Technik für das Klavierspiel mit der linken Hand allein erarbeitete. Bereits ein Jahr nach seiner Heimkehr, am 12. Dezember 1916, debütierte Paul Wittgenstein dann zum zweiten Mal mit dem Wiener Tonkünstlerorchester, diesmal als »einarmiger Pianist« mit einem extra für ihn komponierten Klavierkonzert für die linke Hand allein seines ehemaligen Theorie-Lehrers Joseph Labor, der selbst blind war.15 Der Wiener Kritiker Julius Korngold räumte zwar ein, dass Paul Wittgensteins Klavierspiel nicht nach den Maßstäben des zweihändigen Spiels zu beurteilen sei, fuhr dann aber fort:

13 S. Young Kim-Park, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand, Aachen 1999, S. 19; E.F. Flindell, More on Franz Schmidt and Paul Wittgenstein and their triumph with the E-Flat Concerto, in: Suchy/Janik/Predota, Empty Sleeve, S. 138–141. 14 B. Biwald, Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische MilitärSanitätswesen im Ersten Weltkrieg, Teil 2, Wien 2002, S. 439 und 442. 15 Zu den Stationen von Paul Wittgensteins Wiederaufnahme seiner Pianistenkarriere siehe Suchy, Sein Werk, S. 28–31. Suchy bringt die baldige Konzerttätigkeit Wittgensteins nach seiner Verwundung mit der Einstellung der Familie zu Krieg und Militär als gesellschaftlich-statusmäßige Notwendigkeit zusammen. Wittgensteins Haltung zum Krieg habe sich auch nach der Amputation seines rechten Arms kaum verändert (S. 28). Zur Wichtigkeit von Labors Klavierkonzert für die Wiederaufnahme der Karriere durch Paul Wittgenstein siehe Kingsbury, The gift, S. 20–29.

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»Drücken wir ihm nach seinem erfolggekrönten Debüt die tapfere Hand, die er so glücklich zu verwenden gelernt hat. Aus dem Spiel dieser Linken klingt keineswegs die Wehmut des Künstlers heraus, keine Rechte zu besitzen. Vielmehr der Triumph, diese so leicht entbehren zu können.«16

Und in der Neuen Freien Presse hieß es: »Menschliches und künstlerisches Interesse wirkten an einem Abend zusammen, der ergreifende Zusammenhänge zwischen Krieg und Kunst veranschaulichte. […] Mit einer Willenskraft, die Bewunderung und Rührung wecken muss, schuf sich der hochgestimmte junge Mann gleichsam in seiner Linken auch eine Prothese für die Rechte.«17

Ähnliche Beurteilungen wurden auch noch 1926 geäußert, als Wittgenstein Richard Strauss‫ ތ‬Parergon in Wien aufführte: »Jedenfalls hat die linke Hand ein reiches Betätigungsfeld, und Paul Wittgenstein hält so weit, technisch wie geistig zu fesseln und mitzureißen, ohne dass man sich den Spezialfall gegenwärtig halten müßte. Man vergißt vielmehr vollständig, daß dieser eminente Pianist keine Rechte besitzt, fühlt seinen Triumph mit, sie so leicht entbehren zu können.«18

Paul Wittgenstein, weitere Musiker aus seinem Vorkriegs-Umfeld sowie Presse und Publikum setzen scheinbar alles daran, den kriegsverletzten Pianisten möglichst nahtlos in das Musikleben zu reintegrieren und seine Tätigkeit als Musiker auch unter den eingeschränkten körperlichen Bedingungen zu akzeptieren. Die »Zusammenhänge zwischen Krieg und Kunst« waren vollkommen auf die Zukunft der heimgekehrten kriegsverletzen Soldaten ausgerichtet anstatt die Exponiertheit eines kriegsverletzten Musikers bei der körperlichen Tätigkeit des Musizierens als Anprangerung des

16 Neue Freie Presse, 19. Dezember 1916: Die Uraufführung des Klavierkonzerts in D-Dur von Joseph Labor vom 12. Dezember 1916. Zitiert nach: Young KimPark, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand, S. IX. 17 Neue Freie Presse. Morgenblatt, 19.12.1916, S. 4. 18 Neue Freie Presse, 22. Februar 1926.

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erlittenen Kriegsleidens und des Kriegs als solchen zu deuten. Statt Paul Wittgensteins Einarmigkeit als gesellschaftliches Stigma einzustufen, sprachen die Kritiker gar von einer spieltechnischen Prothese, die sich der Pianist mit seiner Willenskraft und mit einer eigenen Technik erarbeitet hatte. Die Musikkritiker akzentuierten hiermit die Eigenverantwortlichkeit des kriegsversehrten Musikers bei seiner Wiedereingliederung nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft und die Möglichkeit, das vorherige Leben relativ »unversehrt« weiterführen zu können. Die Nahtlosigkeit, mit der Paul Wittgenstein nach der Amputation seine Konzerttätigkeit als Pianist wieder aufnahm, wurde damals und wird auch in der heutigen Forschung aus seiner charakterlichen Eigenschaft eines starken Willens heraus erklärt.19 Neben den Musikkritiken und den Zeugnissen über österreichische Kriegsgefangene in russischen Lagern untermauern dies mehrere Aussagen aus seinem Familienkreis. Hier wurde Paul Wittgenstein sofort nach dem Verlust seines rechten Arms als »unverändert« und »natürlich« bezeichnet. »Leider muss er sich noch einmal einer Operation unterziehen weil durch irgendeine Unterlassung der Stumpf viel zu empfindlich geblieben ist um eine Prothese anbringen zu können, er wird sich in Wien überlegen wann und wo das gemacht werden soll«,

schreibt seine Schwester Hermine als einzige Einschränkung an den Bruder Ludwig Wittgenstein am 16. November 1915 kurz nach Pauls Rückkehr nach Wien.20 Die Natürlichkeit und Unverändertheit stand im starken Ge-

19 Young Kim-Park, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand, S. 19–21. Es ist wichtig zu wissen, dass Musikkritiker den Erfolg einarmiger Pianisten oft mit durch ihre starke Willenskraft erklären, wie z.B. auch bei Géza Zichy und Rudolf Horn. Diese Erklärung ist nicht immer an das Erlebnis des Krieges gebunden (vgl. Zichy), erfüllte aber wohl eine entscheidende Funktion für die Stilisierung von Zichy und Wittgenstein als Vorbilder für die Generation der Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs. Sassmann, Technik und Ästhetik der Klaviermusik für die linke Hand allein, S. 97. 20 Brief von Hermine an Ludwig Wittgenstein vom 16. November 1915 (Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien), zitiert nach:

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gensatz zu dem Paul Wittgenstein, den sich selbst seine Familie nach der Armamputation und des damit angenommenen Karriereendes als Pianist aus der russischen Gefangenschaft zurückerwartete. Pauls Bruder, der Philosoph Ludwig Wittgenstein, befürchtete sogar den unumgänglichen Freitod aufgrund seiner Berufsunfähigkeit als Musiker: »Immer wieder muß ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist. Wie furchtbar. Welcher Philosophie würde es bedürfen, um darüber hinweg zu kommen! Wenn dies überhaupt anders als durch Selbstmord geschehen kann.«21

In der Familie Wittgenstein verbanden sich Krieg mit standesgemäß-notwendiger Teilhabe und gleichzeitig Beruf mit Berufung, koexistierten also bürgerliches Pflichtgefühl und persönliche Verwirklichung in besonders pointierter Weise. Ludwigs Erwartung spiegelt darüber hinaus auch das Mitleid wider, das die Zeitgenossen den sogenannten Kriegskrüppeln im Wien aber auch im Berlin der Zwischenkriegszeit entgegenbrachten.22 Sabine Kienitz beschreibt eindrücklich die Verdienstmöglichkeiten, die den »Kriegskrüppeln« durch ein solches Mitleid quasi zugespielt wurden. Das Berlin der Zwischenkriegszeit war voll mit sehenden Blinden und gehenden Lahmen, die sich in Unterführungen mit leichter Hand ihren Tagelohn verdienten.23 Gleichzeitig stützte sich die künstlerische Avantgarde auf die Abbildung von Kriegskrüppeln zur Anprangerung der Kriegsleiden in der modernen

Young Kim-Park, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand, S. 19–20. 21 Tagebucheintrag von Ludwig Wittgenstein vom 28. Oktober 1914 in: M. Nedo/ M. Ranchetti, Ludwig Wittgenstein: Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt/M. 1983, S. 122. 22 Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, S. 230. 23 Kienitz kommt zu dem Schluß: »Viele arbeitsfähige Männer verfolgten in den Nachkriegsjahren offensiv das Geschäft mit ihrem versehrten Körper, setzen ihre echten oder angeblichen Wunden als moralisches Druckmittel ein und zogen damit einem gutgläubigen Publikum in Zeiten wirtschaftlicher Not das Geld aus der Tasche.« S. Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923, Paderborn 2008, S. 138.

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Stadtgesellschaft. Besonders Otto Dix bildete Kriegsbeschädigte im städtischen Alltagsleben ab, um die gewollte Natürlichkeit zu verhöhnen, mit der man die Kriegsversehrten in die Gesellschaft eingegliedert hatte.24 Neben dieser politisch orientierten Avantgarde hatten auch die Kriegsbeschädigten selbst ein Interesse daran, ihre Verletzungen vor dem kollektiven Vergessen zu schützen, das heißt fortan mit kriegsbezogenen Kontexten zu verbinden, damit die Verstümmelungen als Rechtfertigung der Kriegserfahrung und als Grund materieller Zuwendungen nicht in Vergessenheit gerieten.25 Im Anschluss an eine solche eigenverantwortliche Identitätskonstruktion der Kriegsinvaliden schritt der Staat im deutschen Raum ein, um die gesellschaftliche Eingliederung von Kriegsveteranen zu strukturieren und vor allem zu fördern: Besonders die Erwerbstätigkeit von Kriegsbeschädigten sollte gesteigert werden, indem nicht automatisch Kriegsinvalidenrenten gezahlt, sondern gestuft je nach möglicher Arbeitsleistung verteilt wurden. In Österreich plädierten die Abgeordneten sogar für eine größere Wichtigkeit der Berufs- statt Arbeitsunfähigkeit, wozu das Beispiel eines Musikers angebracht wurde, der zwar nur einen Finger verloren habe, dadurch aber trotzdem seinem Beruf nicht mehr nachgehen könne, obwohl er immer noch eine hohe Arbeitsfähigkeit habe. Verena Pawlowski und Harald Wendelin interpretieren dies als »Ergebnis der Einbeziehung höher qualifizierter Schichten in den Militärdienst«.26 In Bezug auf die Behandlung von Kriegsversehrten lässt sich die Anerkennung der Bedürfnisse höher gestellter Kriegsbeschädigter zudem mit dem Bestreben der bürgerlichen Schicht Wiens nach Ende der Habsburgermonarchie in Verbindung

24 Zu Otto Dix vgl. ebd., S. 11–13 und S. 134ff. 25 S. Kienitz, Beschädigte Helden. Zur Politisierung des kriegsinvaliden Soldatenkörpers in der Weimarer Republik, in: J. Dülffer/G. Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 210–214. Zu der Selbstorganisation von Kriegsversehrten in Verbänden siehe E. Frie, Vorbild oder Spiegelbild? Kriegsbeschädigtenfürsorge in Deutschland 1914– 1919, in: W. Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse, München 19942, S. 570ff. 26 V. Pawlowsky/H. Wendelin, Die normative Konstruktion des Opfers. Die Versorgung der Invaliden des Ersten Weltkrieges, in: L. Cole/C. Hämmerle/M. Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär in der Habsburgermonarchie (1800–1918), Essen 2011, S. 370.

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bringen, »das alte System zu erhalten, anstatt eine Auseinandersetzung mit der politischen und wirtschaftlichen Realität aufzunehmen«.27 In der Kriegskrüppelfürsorge äußerte sich dies folgendermaßen: Schon 1916 wurde eine konkrete Reintegration der Kriegsinvaliden in die österreichische Gesellschaft in fünf Schritten vorgesehen: »1) Erste Heilung, 2) Nachbehandlung (inklusive »Prothesenbeteilung« und Arbeitstherapie), 3) Berufsberatung, 4) Invalidenschulung, 5) Arbeitsvermittlung.« Insgesamt wurde davon ausgegangen, dass die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben auch die soziale Integration beinhalte.28 Dass es »Kriegsbeschädigte […] eigentlich gar nicht geben [sollte]«,29 wird auch in der Fülle von Ratgebern deutlich, die zu neuem Lebensmut und praktischer Gewandtheit im alltäglichen Leben anleiteten. Diese Ratgeber waren zuvorderst an die Unternehmer- und Arbeiterschaft gerichtet, die »nach offizieller Darstellung mit dieser Bilder- und Artikelflut im Sinne einer möglichen Reintegration in den Produktionsprozeß beeinflußt werden« sollten.30 Auf die Musik bezogen diente hier Graf Géza Zichy als Vorbild, der »der erste Pianist war, der tatsächlich einhändig konzertieren musste«.31 In der Zeitschrift für Krüppelfürsorge erschienen zwischen 1916 und 1917 mehrere Artikel zu einarmigen oder amputierten Musikern, die unter Titeln wie »Violinspiel eines Einarmers« weitere Vorbilder für die breite Masse errichteten.32 Allgemein zeigt dieser Befund, dass auf der Ebene der staatlichen Regulierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Kriegsinvaliden und –invalidität eine Zwei-Klassen-Gesellschaft existierte. Die Leitlinien der

27 S. Rode-Breymann, ›Alte‹ und ›Neue‹ Musikmetropolen. Wien und Berlin vor und nach 1918«, in: W. Rathert/G. Schubert (Hg.), Musikkultur in der Weimarer Republik, Mainz 2001, S. 47. 28 Pawlowsky/Wendelin, Die normative Konstruktion des Opfers, S. 372–373. Siehe auch Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, S. 245. 29 Frie, Vorbild oder Spiegelbild? S. 570. 30 B. Ulrich, ›…als wenn nichts geschehen wäre‹. Anmerkungen zur Behandlung der Kriegsopfer während des Ersten Weltkriegs«, in: G. Hirschfeld/G. Krumeich (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch… Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 121. 31 Sassmann, Technik und Ästhetik der Klaviermusik für die linke Hand allein, S. 93. 32 Vgl. die Angaben bei Kienitz, Beschädigte Helden, S. 202.

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Kriegskrüppelfürsorge wurden von Ärzten und höheren Staatsbeamten verfasst, die sich gerne auf adlige Vorbilder und höhere Berufsstände aus bürgerlichen Kreisen beriefen. Diese Leitlinien sollten dann auch bei den Kriegsinvaliden der unteren Schichten angebracht werden. Der Fall Paul Wittgenstein kann in dieser Hinsicht als zeitgemäßes Scharnier zwischen bürgerlicher Verhaltensweise und staatlicher Festschreibung gesellschaftlicher Regeln gelten, die beide und regelmäßig an Beispielen musikalischer Praxis orientiert waren.

II. D ER

EISERNE

W ILLE

Auf musikalischer Ebene galt Paul Wittgensteins eiserner Wille den Musikkritikern als Grundlage für die bemerkenswerte und stetig sich verbessernde Spielfertigkeit des armamputierten Pianisten: »Alles ging und sang so selbstverständlich und überzeugend, dass niemand noch an die überwundenen Schwierigkeiten dachte«, schreibt Max Kalbeck im Neuen Wiener Tagblatt vom 15. Januar 1917 über eine Aufführung der Kammermusikwerke von Labor durch Paul Wittgenstein. Nachdem die Wiener Zeitung vom 18. Januar 1921 festgestellt hatte, dass »die Kraft und Spielgewandtheit des Einarmigen […] noch im steten Wachsen begriffen [sind]«, berichteten im Folgenden viele Kritiker von dem Eindruck der Zweihändigkeit, den Paul Wittgensteins Spiel bei vielen hinterließ. Oft bezog sich die Bewunderung auf die Fortschreibung der Klaviertechnik als daumenbasierte Griff- und Springtechnik, die »mit einer Willenskraft ohnegleichen« aufgebaut sei (Neue Freie Presse, 18. Januar 1932).33 In der Tat ging die nahtlose Akzeptanz des einarmigen Pianisten im Musikleben noch während der Kriegsjahre mit einer fast selbstverständlichen, spieltechnisch erreichten Gleichstellung Wittgensteins mit zweihändigen Pianisten einher, eine Einschätzung, die später – vor allem durch amerikanische Musikkritiker der 1940er Jahre und in Bezug auf Wittgensteins Anschlag und seine Musikalität – vielfach relativiert wurde.34 Auf den Konzertprogrammen erschien

33 Vgl. die Kritiken-Sammlung bei Young Kim-Park, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand, S. IX–XIV. 34 Zu den negativen Kritiken siehe das Kapitel »Wittgensteins Klavierspiel« in: A. Sassmann, ›… alles, was nur möglich ist, aufzufinden und auszugraben.‹ Paul

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die Einarmigkeit Wittgensteins gleichsam als Fußnote, und Programmankündigungen in Berlin ließen es gleich ganz aus, sie in Form der Bearbeitung der musikalischen Werke für die linke Hand allein zu erwähnen. »[…] hier [in Wien] konnte man immer noch sagen, dass sich, abgesehen von seiner Musik, viele Kreise für ihn und sein Schicksal interessierten, aber in Berlin ist er nur Musiker«, schreibt Pauls Schwester Hermine an Ludwig Wittgenstein am 20. März 1917.35 Nach einem anfänglichen Mitgefühl für den kriegsversehrten Künstler – so scheint es – rezipierte das Publikum vor allem seine musikalischen Fähigkeiten und der »empty sleeve«, wie Wittgensteins Tochter Jahrzehnte später einen Aufsatz über ihren Vater betiteln sollte,36 wurde noch während des Krieges vollkommen ausgeblendet, indem er von einer spieltechnisch hervorragenden linken Hand regelrecht überspielt wurde. Der »eiserne Wille«, der Paul Wittgensteins Debüt als einarmiger Pianist mitbestimmte, ist genauso wie sein ganzes Verhalten nach der Amputation in den fünf Leitsätzen des für die deutsche Krüppelfürsorge maßgeblichen Berliner Mediziners Konrad Biesalski präsent: »1. Keine Wohltat – sondern Arbeit für die verkrüppelten Krieger. 2. Zurückschaffung in die Heimat und die alten Verhältnisse, womöglich in die alte Arbeitsstelle. 3. Verstreuung unter die Masse des schaffenden Volkes, als wenn nichts geschehen wäre. 4. Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille besteht, die Behinderung der Bewegungsfreiheit zu überwinden. 5. Darum breiteste Aufklärung aller Stände, zuerst der Verwundeten selber.«37

Die »Aufklärung« bezog sich bei Biesalski darauf, Stigmatisierungen von Kriegsversehrten als »Krüppel« entgegenzuwirken: »Es gibt nur ein Mittel«, schreibt er 1915 in Kriegskrüppelfürsorge. Ein Aufkärungswort zum Troste und zur Mahnung,

Wittgenstein und die Klavier-Sololiteratur für die linke Hand allein, in: Suchy/ Janik/Predota, Empty Sleeve, S. 118–121. 35 Brief von Hermine an Ludwig Wittgenstein vom 20. März 1917, in: B. McGuinness (Hg.), Wittgenstein – Familienbriefe, Wien 1996, S. 34. 36 Suchy/Janik/Predota, Empty Sleeve. 37 K. Biesalski, Wer ist der Führer in der gesamten Fürsorge für unsre heimkehrenden Krieger? In: Tägliche Rundschau, 18.1.1915.

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»über dieses Wort [Krüppel] hinwegzukommen, nämlich umzulernen und nicht unter einem Krüppel ein abschreckendes Jammerbild zu verstehen, sondern den Bruder, der mir nur noch näher steht als vorher. Du, Jüngling oder Fräulein des krankhaft verfeinerten Lebensgenusses von ehedem, reiß den Plunder deiner Selbstsucht ab, ergreife die verstümmelte Hand und schüttle sie herzhaft – sie ging für dich verloren; und du, Held des heiligen Krieges, gewöhne dich an den Gedanken, dass du ›ein bißchen‹ verkrüppelt, aber doch der Alte geblieben bist; wenn du dich da hindurchgerungen hast, so hast du gewonnen und einen goldenen Schatz im Herzen, der dir bis an dein Lebensende ermöglicht, lachend und gottvertrauend weiterzupilgern.«38

Insgesamt sei »der eiserne Wille für den Verstümmelten die beste Prothese«.39 Als bürgerlicher Vertreter füllte nicht nur Paul Wittgenstein seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft dermaßen perfekt aus, sondern auch die Musikkritiker und das Publikum selbst, sodass im Gegensatz zu den bettelnden Kriegskrüppeln auf der Straße eine Stigmatisierung des kriegsversehrten Pianisten überhaupt nicht in Frage kam. Solche Grundsätze einer überspielenden Relativierung der Verletzung durch beide Seiten – die Kriegsinvaliden und den nicht verwundeten Teil der Gesellschaft – wurden schon während des Ersten Weltkriegs nicht nur von Medizinern vertreten, die an der Entwicklung modernster Prothesen mitwirkten und die auch in hohem Maße für die Entwicklung einer passenden Gesetzgebung für die Versorgung von Kriegsversehrten dieses ersten »modernen« Krieges maßgeblich waren. Sie wurden von vielerlei Vertretern aus dem bürgerlichen Lager vorgebracht, die aufgrund von Unfällen oder im Krieg einen Arm verloren hatten und in Kriegszeiten ermutigende Abhandlungen für Kriegsverletzte publizierten, in denen sie sich nicht selten für die staatliche Regelung einer prozentmäßigen Invalidenrente zuzüglich eines ergänzenden Einkommens aus eigener Erwerbstätigkeit aussprachen. Bürgerliche Künstler wurden zu Vorbildern für die breite Masse der Kriegsinvaliden stilisiert, wobei die Musik ein beliebtes Beispiel

38 K. Biesalski, Kriegskrüppelfürsorge. Ein Aufklärungswort zum Troste und zur Mahnung, Leipzig/Hamburg 1915, S. 4. 39 W.J. Ruttmann, Psychologische und pädagogische Fragen der Invalidenfürsorge, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik 14 (1915), S. 461.

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für die erfolgreiche Wiedereingliederung in einen ganzheitlich und nicht nur berufsmäßig verstandenen Vorkriegs-Alltag darstellte: In Bezug auf die konkreten körperlichen Fähigkeiten von Invaliden kommen die Autoren dieser Einarm-Fibeln neben dem Schreiben mit der linken Hand, handwerklichen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten sowie Sport auch immer wieder auf das Musizieren zu sprechen. Hierbei dominierte das vor allem für die k.u.k. Doppelmonarchie schlagende Beispiel des ungarischen Grafen Géza Zichy, der in seiner Jugend seinen rechten Arm bei einem Jagdunfall verloren und sich seitdem eine Technik und ein Repertoire als einarmiger Pianist aufgebaut hatte:40 »Wird er, der geborene Künstler, auch unerreicht bleiben, so hat sein Spiel doch manchem den Mut gegeben, sich wieder ans Klavier, ans Harmonium, an die Orgel zu setzen und mutig mit neuem Lernen zu beginnen«,41 schreibt Eberhardt Freiherr von Künßberg in seiner Einarm-Fibel. Ein Lehr-, Lese- und Bilderbuch für Einarmer aus dem Jahr 1916, bevor er Instrumente auflistet, die – mithilfe besonderer Halte- oder Tragekonstruktionen – auch mit nur einer Hand spielbar sind. Grundlegend für den Erfolg als einarmiger Musiker bleibt jedoch auch für Künßberg in jedem Fall der »eiserne Wille«: Der Freiherr zitiert die Deutsche Instrumentenbauerzeitung von 1915, die darauf hinweist, »daß die Geläufigkeit der Finger in der Musik nur zum geringsten Teil auf gesteigerter körperlicher Fähigkeit, vielmehr fast ausschließlich auf nach und nach erwor-

40 Im Vorwort zur 5. Auflage des Buch eines Einarmigen von Géza Zichy schreibt der Chirurg Anton von Eiselsberg: »Das Buch […] scheint in gegenwärtiger Zeit, wo so mancher Arm verloren geht, von besonderer Bedeutung. […] Das Buch wird den Verstümmelten Trost bringen und zeigen, daß dort, wo ein eiserner Wille vorhanden ist, selbst ein so schwerer Verlust wie der eines Armes leichter getragen werden kann.« G. Zichy, Das Buch eines Einarmigen. Ratschläge zur Aneignung der Fähigkeit, mit einer Hand selbständig zu werden, Stuttgart/Berlin 19165, S. 7. 41 Die genannten Einarm-Fibeln und Handbücher für das alltägliche Leben von Kriegsversehrten streben im Allgemeinen eine breite Zielgruppe an, wie auch die Publikation Die Einarmigen. Ein Aufruf an Staat, Gemeinde, Industrie, Handel und Gewerbe des Juristen Fritz Inwand deutlich macht. F. Inwand, Die Einarmigen. Ein Aufruf an Staat, Gemeinde, Industrie, Handel und Gewerbe, Straßburg 1915.

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bener geistiger Fähigkeit beruht, die bei Finger- oder Handverlust eben nur umgeleitet werden muss«.42

Es ist der eiserne Wille der geistigen Ebene, der zu einer Reintegration und der damit zusammenhängenden Nivellierung der Invalidität und, allgemeiner gesagt, der sichtbaren Kriegsfolgen führt – auch in der Musik. Dies steht unmittelbar in Verbindung mit der Pianistentätigkeit Paul Wittgensteins nicht nur als Berufung, sondern auch als Beruf. Zu beachten ist hierbei, dass Paul Wittgenstein bei seiner Entscheidung für die Pianistenkarriere gegen mannigfachen Widerstand die Tradition der musikbegeisterten Familie Wittgenstein durchbrach, Musik als Rückzugs- und nicht als Arbeitsort zu nutzen.43 Insofern verband sich die musikalische Praxis Paul Wittgensteins als Beruf mit bürgerlichem Pflichtgefühl der Arbeit gegenüber.44 Genau dieser »eiserne Wille« wurde bei der sozialen und beruflichen Integration von Kriegsbeschädigten als fundamental erachtet. Die bürgerlichen Verfasser solcher Fibeln waren zum Großteil gut in die staatlichen Programme für Kriegsinvaliden integriert wie z.B. der frühere Lehrer Fritz Büttner, der ein Musikstudium anvisiert hatte und nach der Amputation seines rechten Arms eine Beamtenlaufbahn einschlug, um durch sein »Streben, Höheres zu erreichen. Mir fehlte doch nicht der Kopf, sondern nur eine Hand« ein »brauchbarer und zufriedener Mensch« zu werden.45 Genauso wie ein solches Streben auch bei Géza Zichy und Paul Wittgenstein vor jeglicher Sicherung des materiellen Lebensstandards gestanden haben mag, sind die Beispiele dieser beiden einarmigen Pianisten eng verflochten mit einem patriotischen Pflichtgefühl gegenüber dem Staat Österreich-Ungarn. Während Géza Zichy persönlich bei Kaiser Franz Joseph vorsprach, auch als Einarmiger in den österreichisch-preußischen

42 Privatdozent Dr. E. Freih. v. Künßberg, Einarm-Fibel. Ein Lehr-, Lese- und Bilderbuch für Einarmer, Karlsruhe 1916, S. 58–60. 43 Suchy, Sein Werk, S. 26. 44 Es scheint darüber hinaus so, als ob sich das Pflichtgefühl fortwährend gleichermaßen auf Paul Wittgensteins musikalische wie auch militärische Karriere bezog. Vgl. E.F. Flindell, More on Franz Schmidt and Paul Wittgenstein and their triumph with the E-Flat Concerto, in: Suchy/Janik/Predota, Empty Sleeve, S. 144. 45 Künßberg, Einarm-Fibel, S. 79.

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Krieg ziehen zu dürfen,46 trat Paul Wittgenstein von Sommer 1917 bis August 1918 zum zweiten Mal freiwillig in den Kriegsdienst, diesmal an der italienischen Front in Riva – aus »der Familienverehrung für das Militär« heraus, wie es Irene Suchy sieht, wobei diese Verehrung als eine zutiefst bürgerliche im Sinne einer Musterbiographie des 19. Jahrhunderts eingestuft werden muss.47 Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass es in Österreich-Ungarn zu Zeiten des Ersten Weltkriegs noch an einer Regelung für Kriegsversehrte fehlte, in die vor allem die Soldaten aus dem Bürgertum integriert werden mussten, ist es anzunehmen, dass alltägliche bürgerliche Praktiken der Kriegsbewältigung besonders ausschlaggebend für die staatliche Festsetzung von Invalidenrenten und die Entwicklung von Wiedereingliederungsprogrammen waren.48 Dass die staatlich organisierte Kriegsbewältigung im Musikleben Wiens und Berlins von Interpreten und Publikum gleichsam vorgelebt wurde, bestätigt allein schon die Tatsache, dass die Musik im Gegensatz zur bildenden Kunst und Literatur generell nicht sehr an der anklagenden Herausstellung von Kriegsinvaliden innerhalb der Antikriegsbewegung partizipierte. Weder die Kriegskrüppelbilder eines Otto Dix noch die dadaistischen Ausführungen eines Raoul Hausmann zur »Prothesenwirtschaft« fanden in der Musik ihr Ebenbild.49 Stattdessen stand bei Interpreten, Komponisten wie auch beim Musikpublikum der »eiserne Wille« der Überspielung von Kriegsverletzungen im Vordergrund. Erklären lässt sich das aus dem bürgerlichen Pflichtgefühl heraus, mit der die höher gestellten Soldaten das Alltagsleben nach der Rückkehr aus dem Krieg wieder aufnahmen – auch um damit die alten Strukturen der Vor-

46 C. v. Kügelen, Nicht Krüppel – Sieger! Gedanken und Erfahrungen eines Einarmigen, Langensalza 1919, S. 58. 47 Suchy, Sein Werk, S. 28f. 48 Die Kriegsversehrten des Ersten »modernen« Weltkriegs machten in Österreich rund 4% der Gesamtbevölkerung aus. Pawlowsky/Wendelin, Die normative Konstruktion des Opfers, S. 362ff. 49 In der bildenden Kunst prangerte vor allem die Avantgarde die Leiden der Kriegskrüppel an, während »offizielle« Künstler an einer »Legitimierung des Ersten Weltkriegs« mitarbeiteten. S. Schweizer, Der Erste Weltkrieg in der Malerei des Dritten Reichs, in: G. Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 143.

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kriegszeit zu gewahren – und aus der Tatsache heraus, dass die Kriegskrüppelfürsorge von den bürgerlichen »Deutungseliten« eingerichtet wurde.50 Bei Paul Wittgenstein war der »eiserne Wille« als Grundsatz einer erfolgreichen Wiedereingliederung aufgrund biographischer Aspekte zwischen bürgerlicher Herkunft und Musikerkarriere besonders stark. Deshalb bleibt es in einem letzten Teil des Aufsatzes zu fragen, wie sich die »geistige Fähigkeit« oder »der Kopf statt des Arms« nicht nur in Bezug auf Paul Wittgensteins öffentliche Pianistentätigkeit, sondern auch sein Repertoire äußerte, das er als Mäzen in Auftrag gab. Von hier aus lässt sich anschließend pointiert beschreiben, welche musikalischen Merkmale die kollektive bürgerliche Kriegsbewältigung in der Zwischenkriegszeit forcierte.

III. D AS

ROMANTISCHE R EPERTOIRE DES KRIEGSVERSEHRTEN M ÄZENS

Wittgenstein trat nicht nur als Pianist hervor, sondern wurde vor allem als Mäzen bekannt, der durch seine mannigfachen, über nationale Grenzen hinweg vergebenen Kompositionsaufträge die Entstehung eines Repertoires für die linke Hand allein entscheidend vorantrieb. In dieser Hinsicht lässt sich festhalten, dass Wittgenstein als Pianist zusätzlich zu seiner Präsenz auf dem Orchesterpodium noch eine Fixierung als Künstler durch für ihn schriftlich niedergelegte Kompositionen kultivierte. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch die übergreifende Einstellung der Gesellschaft zu Kriegsinvaliden:

50 »Dagegen präsentierten die Deutungseliten die technische Neukonstruktion von Körpern in der Nachkriegszeit der Weimarer Republik als ›Wunder‹ oder als innovativen Fortschritt. Gleichzeitig versuchten sie, den Kriegsversehrten mit Prothese als gesellschaftliche ›Normalität‹ zu installieren und – begleitet von rituellen Wiederholungen des immergleichen Satzes von der ›Überwindung des Krüppeltums‹ damit zugleich die Besonderheit der körperlichen Zerstörung durch den Krieg außer Kraft zu setzen.« S. Kienitz, ›Fleischgewordenes Elend‹. Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkriegs, in: N. Buschmann/H. Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 233.

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»Denn dem Pianisten raubte ein idiotischer Schuß im Weltkrieg den rechten Arm, man kann sagen: mehr als sein Leben; aber in künstlerischem Heroismus das Schicksal überwindend, wurde er Virtuose der ihm gebliebenen Linken und erhob seine Einseitigkeit zur Vollendung, ja zur Unerreichbarkeit. Und nun kommt ihm noch Hilfe aus der großen Bruderschaft des Künstlerherzens: Korngold widmet ihm dieses Konzert. […] Paul Wittgenstein spielte ›sein‹ Werk mit einer von der Freude beflügelten Technik: nicht hinsehend, hätte man bei den Doppelakkorden auf zwei Hände geraten. Die Heiterkeit eines Könners erfüllte uns alle, und man glaubte sich dem besten Werk des Komponisten gegenüber, von dem man dies schon beim vorletztenmal, dem Klavierquartett, glaubte.«51

Das Engagement der Komponisten ist nicht nur von Verständnis dem Kriegsinvaliden gegenüber erfüllt, nein es bildet auch die klavierbezogene Kompositionstechnik weiter fort anstatt lediglich ein Werk mit außergewöhnlicher Besetzung zu schaffen. So wie die Entwicklung von Prothesen den technischen Fortschritt der Nachkriegszeit spiegelte,52 galt das Komponieren von einhändiger Klavierliteratur hier als Fortschritt der Kompositionstechnik. Wittgenstein überließ diese gleichzeitig musikalische und Kriegsversehrten-bezogene Entwicklung nicht nur den Komponisten, sondern arbeitete auch selbst an den ihm zugedachten Partituren mit. Insgesamt bevorzugte sein »Kopf« unter seinen Kompositionsaufträgen, die u.a. an Maurice Ravel, Sergej Prokofjew, Paul Hindemith und Benjamin Britten gingen, die für ihn komponierten Werke deutscher Komponisten wie Franz Schmidt, Joseph Labor und Richard Strauss. Ihm »nicht verständliche« Werke von Prokofjew und Hindemith, wie Wittgenstein es selbst beschreibt, weigerte er sich schlicht und einfach aufzuführen und auch zur Aufführung durch andere freizugeben. Insgesamt hielt er die Werke von Strauss, Labor und Schmidt für »musikalisch wertvoller, musikalisch höher stehend, und daher letzten Endes lebensfähiger«, eine Meinung, die er nicht als »österreichischen Lokalpatriotismus« missverstanden wissen wollte.53 In der Tat lässt sich dieser Tatbestand aus Wittgensteins musikalischen Vorlieben und

51 Kritik zur Uraufführung des Klavierkonzerts von Erich Wolfgang Korngold vom 22. September 1924 in: Neues Wiener Tagblatt, 30. September 1924. 52 Kienitz, ›Fleischgewordenes Elend‹, S. 217–218. 53 Flindell, Paul Wittgenstein. Patron and Pianist, S. 123.

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seiner Spieltechnik heraus erklären, die Labor, Schmidt und Strauss jeweils bedienten und die große Ähnlichkeiten mit den oben genannten Grundsätzen der Kriegskrüppelfürsorge aufwiesen. Wittgenstein hatte eine ungemeine Vorliebe für die Musik der Romantik und ihre pianistische Virtuosität, in der er vor dem Ersten Weltkrieg besonders gut ausgebildet worden war und die auch seine Familie an seinem Klavierspiel honorierte.54 Auf Grund dieser auf die musikalische Vergangenheit zurückschauenden statt in die Moderne vorstoßenden Vorliebe scheute er 1931 nicht davor zurück, Solokadenzen in Ravels Klavierkonzert für die linke Hand einzufügen, thematische Abschnitte des Orchesters mit weiteren Klavierpassagen zu untermalen und im Bereich der Instrumentation mehrere Perkussions-Instrumente aus der Partitur zu streichen.55 Diese Eingriffe, die sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-bürgerlichen Wiedereingliederung von Kriegsversehrten als »Kopfarbeit« eines armamputierten Pianisten verstehen lassen, der sich repertoiremäßig reintegriert »als ob nichts geschehen wäre«, verstärkten die Virtuosität des Stücks und auch den Eindruck der Zweihändigkeit auf Kosten von Ravels Instrumentation und dem klanglichem Aufbau des Klavierkonzerts. Allgemein war es Wittgenstein daran gelegen, dass der Klavierpart den Eindruck der Zweihändigkeit erweckte und dass er statt des Orchesters und der Instrumentierung im Vordergrund stand.56 »Je suis un vieux pianiste et cela ne sonne pas!« setzte Wittgenstein Ravel entgegen, der über die Modifikationen der Instrumentation und des Klavierparts in Wut geraten war. »Je suis un vieil orchestrateur et cela sonne!« warf Ravel zurück.57 Zur Debatte stand ein Werk, das viele französische Interpretationen als »Kommentar zur tragischen Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs« (Arbie Orenstein) beschrieben, eine Einschätzung, zu der man in Frankreich u.a. aufgrund des kriegsversehrten Auftraggebers

54 Zu Wittgensteins »romantischer« Ausbildung siehe G.A. Predota, Badgering the Creative Genius: Paul Wittgenstein and the Prerogative of Musical Patronage, in: Suchy/Janik/Predota, Empty Sleeve S. 75–76. Zur Rezeption seines Klavierspiels durch seine Familie siehe Suchy, Sein Werk, S. 24–30. 55 Predota, Badgering the Creative Genius, S. 83–90. 56 Vgl. Sassmann, Technik und Ästhetik der Klaviermusik für die linke Hand allein, S. 165. 57 M. Long, Au piano avec Maurice Ravel, Paris 1971, S. 87.

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Wittgenstein kam, aber die auch mit den Inkursionen eines kriegsmarschähnlichen Teils und des amerikanischen Jazz im Klavierkonzert für die linke Hand zu tun hatte, welche als Hommage an die amerikanischen Streitkräfte eingestuft wurden.58 Im Gegensatz hierzu bedienten sich Labor, Schmidt und Strauss in ihren Werken für Wittgenstein der Folklore und klassischer Gattungen wie Strauss mit der Passacaglia im Panathenäenzug; sie basierten – wie es auch Georg Predota resümiert – auf einem kompositorischen Material, das sich schon aus dem Klavierauszug anstatt aus der gesamten Partitur und ihren instrumentationstechnischen Nuancen offenbarte.59 Zudem kamen Labor, Schmidt und Strauss auch eingehend Wittgensteins Wunsch nach mehr virtuosen Stellen nach. Bei Labor hatte Wittgenstein selbst Kompositionsunterricht gehabt, und Strauss bot dem einarmigen Pianisten den Panathenäenzug als zweites Werk für ihn von selbst an, um weitere Möglichkeiten einer brillanten Spielweise kompositorisch auszuloten.60 Während sich Prokofjew als Komponist des 20. Jahrhunderts vornehmlich darum bemühte, ein möglichst »einfaches« Werk, wie er es ausdrückt, für Paul Wittgenstein zu komponieren, damit es für diesen Pianisten des 19. Jahrhunderts »verständlich« sei, genügten den virtuos-pianistischen Ansprüchen des Mäzen jedoch lediglich die Werke von Franz Schmidt, der Wittgenstein darüber hinaus wiederholt für seine Spielfertigkeiten lobte, die er als »unerhörte Leistung« einstufte.61

58 A. Orenstein, Vorwort, in: A. Orenstein (Hg.), Ravel. Piano Concerto for the Left Hand, London 2009, S. VI. »Un mutilé de guerre en ayant fourni le prétexte, il n’est peut-être pas interdit de penser que Ravel ait voulu en le composant réaliser une image tragique et douloureuse de l’héroisme inutile.« Gil-Marchex, La Revue Musicale, 1938, S. 288, zitiert nach: A. Sassmann, Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Paul Wittgenstein gewidmeten Klavierkonzerte von Maurice Ravel und Sergej Prokofjew, in: Ottner, Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945, S. 280. 59 Predota, Badgering the Creative Genius, S. 71–101. 60 Flindell, Paul Wittgenstein. Patron and Pianist, S. 121. 61 Flindell, Dokumente aus der Sammlung Paul Wittgenstein, S. 431. Vgl. auch G. Predota, ›Der größte Komponist der letzten 20 Jahre…‹ Franz Schmidt im Spiegel Paul Wittgensteins, in: Ottner, Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945, S. 118–160.

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Zusammenfassend lässt sich am Beispiel Paul Wittgenstein zeigen, dass das bürgerliche Musikleben und auch die musikalische Komposition in der Nachkriegszeit stark mit politischen und gesellschaftlichen Mechanismen der Kriegsverdrängung korrespondierte. Dies funktionierte nicht zuletzt, da die heimischen Komponisten der Kriegsverlierer sich auf das Paradigma der bürgerlichen Kriegsbewältigung einstellten, um Wittgenstein einen technisch brillanten Auftritt und somit seine Eingliederung als vollwertiger Musiker auch nach seiner Kriegsverletzung zu ermöglichen. Das Idiom des Verdrängens und Überspielens existierte in dieser Form weder in Frankreich, noch in Großbritannien, die in der Forschung als Vorreiter der aktiven Kriegserinnerung seit dem Ersten Weltkrieg gelten, während eine solche sich in Deutschland erst mit dem Zweiten Weltkrieg herausbildete.62 Da sich die Kriegsbewältigung musikalisch durch eine Konzentration auf die Virtuosität und auf stilistische Merkmale der Musik des 19. Jahrhunderts und somit auch der »großen deutschen Musik« äußerte,63 lässt sich schlussfolgern, dass die Etablierung eines hegemonialen Kanons, wie er dann im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg genutzt werden sollte, nicht allein aus nationalen, sondern auch entgegengesetzt aus Gründen des gesellschaftlichen aber auch individuellen Verdrängens und Vergessens des Krieges in der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte. Wittgensteins »romantisierende Nostalgie«64 war der pointierte, vergleichsweise schon übertriebene65 Schnittpunkt zwischen der staatlich-bürgerlichen und dadurch auch strukturiert-gesellschaftlichen Behandlung von Kriegsversehrten. Zugleich sticht im Beispiel Wittgenstein die musikalisch-technische Komponente der Musik als Abstimmung nicht nur auf bestimmte künstlerische Aufführungssituationen, sondern auf übergreifende politisch-soziale Zusammenhänge heraus; auch Nicht-Komponisten begannen, Musik durch »Kopfarbeit« zu kriegsbewältigenden Zwe-

62 R. Bessel, Violence and Victimhood: Looking back at the World Wars in Europe, in: J. Echternkamp/S. Martens (Hg.), Experience and Memory. The Second World War in Europe, New York/Oxford 2010, S. 232–233. 63 Vgl. A. Dümling, »Musik«, in: W. Benz/H. Graml/H. Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 20075, S. 191–192 64 Predota, ›Der größte Komponist der letzten 20 Jahre..‹, S. 119. 65 Wittgenstein hielt die ihm zu modern vorkommenden Werke als sein Eigentum unter Verschluss.

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cken kompositorisch zu instrumentalisieren. Über den »eisernen Willen« und die »geistigen Fähigkeiten«, die die russischen Offiziere schon bei den österreichischen Kriegsgefangenen in den Gefangenenlagern bemerkten, verstärkten sich instrumentalisierende Tendenzen im bürgerlichen Musikleben der Zwischenkriegszeit. Einerseits im materiellen Ausdrucksgehalt einer Musik des 19. Jahrhunderts (»als wenn nichts geschehen wäre«); andererseits als kompositorische (statt interpretatorische) Vorwegnahme übergreifender politischer und sozialer Maßnahmen. Da Musikleben und Kriegskrüppelfürsorge sowie auch Musik und staatliche Administration überhaupt über das Bürgertum unmittelbar verbunden waren, ist davon auszugehen, dass die bürgerliche Bewältigung des Ersten Weltkriegs zwei wesentliche Merkmale späterer hegemonialer Machtdemonstrationen durch Musik festigte. Während Wittgenstein sich über die Spieltechnik für die linke Hand allein zur Überspielung seiner Invalidität eine musikalische Deutungshoheit auch im kompositorischen Bereich schuf, unterstrich er die Musik der Romantik als kulturelles Paradigma jenes Landes, das er 1938 als Person »jüdischer Abstammung« verließ.

Lili Marleen Germanische Hegemonie oder Kriegsbeute? M ICHAEL W ALTER

Die Geschichte von Lili Marleen (Lied eines jungen Wachtpostens) ist so bekannt, dass sie hier nur kurz skizziert zu werden braucht.1 Das Gedicht wurde 1915 von Hans Leip verfasst und erschien 1937 in dem Büchlein Die Hafenorgel beim Christian Wegner-Verlag in Hamburg. Es wurde zunächst von Rudolf Zink, einem Münchener Komponisten, vertont. Diese Fassung sang auch Lale Andersen. 1938 komponierte Norbert Schultze den Text neu und bot diese Version Lale Andersen zur Aufnahme an. Schultze war wenig später einer der bekanntesten Schlager-Komponisten der NS-Zeit, der allerdings mindestens ebenso bekannt für seine Propagandalieder wie Bomben auf Engeland oder das U-Boot-Lied war. Vom 31. Juli bis 2. August 1939 wurde dann eine Schellackplatte von der Electrola produziert, auf deren BSeite sich das Lied befand (der Komponist firmierte unter dem Pseudonym »Frank Norbert«). Der Verkaufserfolg war mit 700 Exemplaren zunächst dürftig.

1

Eine umfangreiche, gut recherchierte Geschichte des Lieds (mit einer umfassenden Bibliographie), auf die hier verwiesen sei, ist 2010 erschienen: R.S. Rose, Lili Marleen. Die Geschichte eines Liedes von Liebe und Tod, München 2010 (span. Original: Lili Marleen – Canción de amor y muerte, Barcelona 2008). Vgl. auch J. Bush Johns, The songs that fought the war. Popular music and the home front, 1939–1945, Hanover 2006, S. 78–83.

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Ab April 1941 wurde das Lied dann vom Soldatensender Belgrad ausgestrahlt. Es gibt unterschiedliche Versionen, wie das zustande kam, aber für die Rezeption sind zwei Fakten entscheidend: erstens die große Reichweite des Senders, die alle europäischen Frontabschnitte umfasste, aber auch bis Nordafrika reichte. Und zweitens verfügte der Sender über sehr wenige Platten, die dementsprechend häufig gesendet werden mussten. Als das Lied im Juli 1941 für kurze Zeit aus dem Programm genommen wurde, folgten derart viele Proteste, dass Lili Marleen ab dem 18. August 1941 jeden Abend um 21:57 vor den letzten Tagesnachrichten gesendet wurde. Die Rezeption des Lieds war zumindest auf deutscher Seite bei Soldaten und deren Angehörigen hoch emotionalisiert. Norbert Schultze berichtete, dass er Hunderte Briefe erhielt von Frauen, deren Söhne an der Front gefallen waren und erinnerte sich besonders an einen Brief, in dem es hieß: »Mein Sohn ist nun tot, und in seinem letzten Brief erwähnte er unser Lied, ›Lili Marleen‹. Jedes Mal, wenn ich ›Lili Marleen‹ höre, auch heute noch, denke ich an den letzten Brief von meinem Sohn.«2 Ein US-Soldat berichtete von der »überwältigenden Ergriffenheit«3 deutscher Kriegsgefangener beim Singen von Lili Marleen. Lale Andersen fiel 1942 bei den Nationalsozialisten in Ungnade, schon im Dezember 1941 war verboten worden, neue Aufnahmen des Lieds mit Lale Andersen als Interpretin aufzunehmen (das Lied selbst wurde jedoch nicht verboten, sondern weiterhin mit anderen Interpretinnen aufgenommen).4 Lili Marleen war an allen Fronten und bei allen Truppen, deutschen wie alliierten, populär, besonders jedoch in Nordafrika. Angeblich herrschte während des Abspielens von Lili Marleen dort Waffenruhe.5 Die Beliebtheit des Liedes bei den britischen Truppen stellte jedoch für die Verantwortlichen der britischen Propaganda »eine inakzeptable Demütigung des britischen Stolzes dar«,6 der man propagandistisch dergestalt begegnete, dass britische Propagandisten Lili Marleen kurzerhand zur Kriegsbeute

2

Zit. Nach Rose, Lili Marleen, S. 112.

3

Vgl. ebd., S. 212.

4

Vgl. ebd., S. 154–156.

5

Vgl. ebd., S. 129.

6

Ebd., S. 141.

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erklärten,7 was von den Amerikanern übernommen wurde.8 Spätestens ab 1942 breitete sich das Lied über Schallplatte und Rundfunk auch in fremdsprachigen Textversionen in französisch (eine erste Plattenaufnahme, gesungen von Suzy Solidor entstand schon 1941), italienisch, aber vor allem englisch aus. Im selben Jahr sang Lale Andersen eine deutsche Propagandaversion in englisch, deren Text Norman Baillie-Stewart9 verfasst hatte. 1943 erschien eine gedruckte englischsprachige Version in den USA unter dem Titel My Lilli of the Lamplight, im selben Jahr sang Luca Mannheim eine britische Propagandaversion in deutscher Sprache. 1944 erreicht eine RCA-Aufnahme, gesungen von Marlene Dietrich, Platz 13 der amerikanischen Hitparade. Es folgten bis heute unzählige Versionen in unzähligen Schlager-Stilen, von denen die orientalisierende Version Lili sҲen fout10 der libanesischen Sängerin Yasmin Hamdan wohl die vorläufig ungewöhnlichste, aber sicher nicht die letzte Version war.

I. E IN

DEUTSCHES

L IED ?

Lili Marleen sei ein sehr deutsches Lied, so meinte jedenfalls der Germanist François Genton. Es sei in Versionen verbreitet worden, in denen immer

7

Vgl. ebd., S. 141.

8

Vgl. z.B. P.E. Deutschmann, Separation Center. The Army keeps Soldiers sweating to the end but finally turns them back into civilians, in: Life v. 1.10.1945, S. 68 (»As I stepped up and saluted the organ played ›Lili Marlene,‹ the song we have ›captured‹ from the Germans in North Africa [...]«) oder The Billboard v. 14.10.1944, S. 19 (Popular Record Reviews). Spätestens ab 1944 wird in amerikanischen Zeitungen Lili Marleen in der Regel mit dem Hinweis versehen, das Lied sei »captured from the Germans«.

9

Baillie-Stewart war ein britischer Offizier und Nazi-Sympathisant, der nach seiner Verurteilung wegen Hochverrats bekannt geworden ist als der letzte im Tower inhaftierte Brite. Nach Verbüßung der Haftstrafe ging er nach Wien und arbeitet 1939 in Berlin kurzfristig als Sprecher für die englischsprachige Propagandasendung Germany Calling. Danach arbeitete er hauptsächlich als Übersetzer.

10 Eingespielt auf dem Album Drab:Zeen (2003). Die Bearbeitung stammt von Toufic Farroukh.

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die »Ursprungsversion deutliche Spuren hinterläßt«, im Gegensatz zu Liedern, die vollständig an die jeweiligen Zielkulturen angepasst wurden. Genton fährt fort: »der preußische Zapfenstreich zu Beginn, der geheimnisvolle doppelte Vorname im Kehrreim, [...] der Marschrhythmus schaffen eine germanisch-romantische Atmosphäre der individuellen Sehnsucht des Soldaten. […] Die resolute Stimme Lale Andersens hat diese moderne individualistische Sehnsucht der Soldaten über die Sprachbarrieren hinaus bis in die Alliierten Truppen hineingetragen [...]. Die zahlreichen, ja zahllosen englischen und amerikanischen Fassungen weisen – bei allen Unterschieden – auf den deutschen Ursprung hin.«11 Das scheint eine schlüssige Interpretation zu sein, zu der es passt, wenn Jean R. Freedmann in einer 1999 erschienenen Monographie konstatiert, das Lied »contributed to musical hegemony in many different ways and for diametrically opposed causes«.12 Freilich bleibt Freedman die Information, wessen musikalische Hegemonie denn gemeint sei, schuldig. Und Gentons scheinbar so überzeugende Darstellung leidet darunter, dass sie mit falschen Fakten operiert. Das Lied hat in der ursprünglichen Version keinen Marschrhythmus, der preußische Zapfenstreich zu Beginn wird in den meisten Versionen ausgelassen oder nationalisiert, der deutsche Ursprung wurde bewusst – und zum Teil aus kriegspropagandistischen Gründen verschleiert, Marlene Dietrich hat in der entscheidenden Phase der Popularisierung des Liedes bei amerikanischen Truppen keineswegs lasziv gesungen. Worum geht es im Text des Lieds? Ein Soldat trifft sich mit seiner Freundin, eben Lili Marleen, unter einer Laterne vor einer Kaserne und wird vom Zapfenstreich zur Rückkehr in die Kaserne befohlen. Der Soldat befürchtet zu sterben und ist tatsächlich in der letzten Strophe tot, imaginiert aber als lyrisches Ich, dass er quasi als Geist wieder »bei der Laterne« stehen wird. Der letzte Refrain legt aber nahe, dass er dort Lili Marleen eben nicht mehr vorfinden wird.

11 F. Genton, Lieder, die um die Welt gingen: Deutsche Schlager und Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, in: O. Agard/c. Helmreich/H. Vinckel-Roisin (Hg.), Das Populäre. Untersuchungen zu Interaktionen und Differenzierungsstrategien in Literatur, Kultur und Sprache, Göttingen 2011, S. 190–191. 12 J.R. Freedman, Whistling in the dark. Memory and culture in wartime London, Lexington 1999, S. 163.

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In seinem Pessimismus und der spätromantischen Umdeutung des toten Soldaten als Wiedergänger mag der Text Hans Leips tatsächlich sehr deutsch sein. Nicht so in anderen Textversionen. In der englischen Version von Tommie Connor (1944, »Underneath the lantern«) imaginiert der durchaus quicklebendige Soldat die ihn zuhause bei der Laterne erwartende Lili Marleen. In der französischen Fassung von Henry Lemarchand (1940, »Devant la caserne«) ist der Soldat ebenfalls lebendig und erinnert sich sentimental an eine zurückliegende Liebesgeschichte mit Lili Marleen. In der italienischen Version (Nino Rastelli, 1942, »Tutte le sere«) träumt der Soldat jede Nacht von der Rückkehr zu Lili Marleen (»Tutte le notti sogno allor / di ritornar, di riposar, / con te Lili Marleen«). In der von Marlene Dietrich gesungenen Textfassung (»Outside the barracks«), die teilweise auf der italienischen basiert, ist die Laterne verschwunden und wird ersetzt durch das »corner light«, der Soldat muss vom Zapfenstreich nicht in die Kaserne befohlen werden, sondern geht freiwillig und Lili Marleen bekommt kriegsentscheidende Bedeutung, wenn der Soldat beschwört, wie warm es ihm beim Marschieren im Schlamm wird, wenn er nur an Lili Marleen denke: »When we are marching in the mud and cold, / and when my pack seems more than I can hold, / my love for you renews my might, / I'm warm again, my pack is light / it‫ތ‬s you, Lili Marleen, / it‫ތ‬s you, Lili Marleen.« Die erste Frage, die sich stellt ist, was der Text zur Popularität des Liedes beigetragen hat. Die Antwort ist vielleicht banal. Denn wenn man bedenkt, dass das Lied zunächst bei den britischen Soldaten in der deutschen Version bekannt wurde, deren Text sie nicht verstehen konnten, dann kann der Text bei der Popularisierung keine wesentliche Rolle gespielt haben. Die Textinhalte änderten sich mit den vielen Übersetzungen, die es gab – zum Teil mehrere Versionen in einer Sprache (wie englisch) –, und ebenso der zahlreichen Parodien, privaten Umdichtungen und den wenigen Propagandaversionen des Textes. Mit wenigen Ausnahmen behielten alle Versionen jedoch eines bei: den Namen der Frau, Lili Marleen. Dieser war, im Zusammenhang mit der Vertonung, die wesentliche Textmarke, auf die es ankam. Die ständige Wiederholung eines – und nur eines – Frauennamens, war gewissermaßen als ikonisch-semantische Marke ausreichend. Entscheidend war nicht, was der Text für eine Geschichte erzählte, sondern dass diese Geschichte immer wieder auf eines hinauslief, den Namen einer Geliebten. Ob diese Geliebte nun, wie man noch in britischen Nachschla-

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gewerken der 1970er Jahre oder sogar jüngst13 lesen konnte, eine Hure war, ein deutsches Mädel, oder ein amerikanisches girl war dabei völlig nebensächlich, weil es eben um die Frau schlechthin ging. Darum ist es auch verständlich, dass alle Versionen des Liedes, die von einem Mann gesungen wurden, nicht erfolgreich waren, obwohl die Geschichte ja aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird. Aber um diese Geschichte ging es eben nicht, sondern um Lili Marleen »selbst« und was lag näher als diese Lili Marleen mit jener Frau zu assoziieren, deren erotische Stimme man hörte. Schon in den 1960er Jahren war Lili Marleen sehr schnell auf den ästhetischen Hund gekommen und wurde zu einem Schlager umfunktioniert, der zum Beispiel von Connie Francis mit Begleitung einer Hammondorgel fröhlich geträllert wurde. Von Erotik keine Spur – und das ist typisch für die Nachkriegsentwicklung der Umdeutung des Lieds. In den Kriegsjahren war das anders. Die erfolgreichen Versionen, angefangen von der Lale Andersens über die von Lina Termini, Anne Shelton, Suzy Solidor oder Vera Lynn bis hin zu Marlene Dietrich, waren allesamt durch den Vortragsstil erotisch aufgeladen. Allerdings war das in der Regel eine natürliche, »girl-next-door«-Erotik, nicht die stilisierte Erotik von Glamour-Girls, die für die Soldaten nicht erreichbar waren, sondern gewissermaßen eine Erotik auf dem Level einer Allerweltserfahrung, der eine intendierte Schlichtheit des Gesangsstils entsprach. Vera Lynn beschrieb ihre Rolle als britisches »Gegengift« zu Lale Anderson genau in dieser Weise, nämlich als »the rôle of a believable girl-next-door, big sister, universal-fiancée«.14 Die Distanz zum ›Star‹ spielte keine Rolle und wurde, etwa in der frühen burschikosen Version Marlene Dietrichs, vermutlich sogar bewusst eliminiert. Auch Lale Andersens Stimme war in den 1930er Jahren noch nicht so tief und voll wie in späteren Jahren, Andersen wirkte daher fast als würde sie kunstlos singen (was in Wahrheit wohl eine Stilform war, die auf ihre Erfahrungen als Kabarett-Sängerin zurückging). Die folgenden Ausführungen15 beschränken sich paradigmatisch auf einige Kriegsversionen des Liedes, denn für seine Verbreitung sind zunächst

13 S. Bach, Marlene Dietrich. Life and legend, Minneapolis 2011 (1. Aufl. New York 1992), S. 292. 14 Zit. nach Freedman, Whistling in the dark, S. 154. 15 Ich beziehe mich hierbei auf die hervorragende Sammlung Lili Marleen an allen Fronten. Ein Lied geht um die Welt. Das Lied, seine Zeit, seine Interpreten,

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nur sie wichtig. Die musikalisch zu Schlagern umgedeuteten Versionen nach dem Krieg, inklusive derer von Lale Andersen selbst, und von Versionen bis hin zu zeitgenössischen Rockbands sind eher ein Rezeptionszeugnis eines bereits populären Liedes, als dass sie zu seiner Verbreitung beigetragen hätten.

II. M USIKALISCHE M EHRDEUTIGKEIT Schultzes Autograph von Lili Marleen wurde von Johann Holzern veröffentlicht16 und zeigt, dass Schultze ein deutlich melancholischeres Lied vorschwebte als es die meisten späteren Interpretationen nahelegen.

seine Botschaften von Horst Bergmeier, Rainer E. Lotz und Volker Kühne. 7 CD-Box, Hambergen: Bear Family Records (BCD 16022) 2005, ISBN: 978-389916-154-0. Enthalten sind 169 Versionen des Lieds von 1939 bis 2004. – In den Fußnoten wird im Folgenden die Nr. der CD und die Nummer des Tracks genannt (CD 1,1 = CD Nr. 1, 1. Track). 16 J. Holzern, Der lange Weg zum Ruhm. Lili Marleen und Belgrad 1941, Meckenheim 1997 (ergänzte 3. Auflage), S. 15 (ob es sich um das ursprüngliche Autograph handelt, ist nicht klar, jedenfalls aber handelt es sich offensichtlich, was schon aus den Differenzen zu späteren Interpretationen deutlich wird, um die ursprüngliche Version Schultzes).

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Abbildung 1:

Quelle: J. Holzern, Der lange Weg zum Ruhm. Lili Marleen und Belgrad 1941, Meckenheim 1997 (ergänzte 3. Auflage), S. 15

Harmonisch ist das in C-Dur stehende Lied nicht ganz so schlicht wie es beim ersten Blick den Anschein hat. Es werden zwar überhaupt nur 5 Akkorde verwendet (C, d7, e7, F, G). Durch die mehrfach gebrauchten Mollseptakkorde d7 und e7 bekommt das Lied jedoch seine melancholische Note, zumal eine klar ausgeprägte C-Dur-Kadenz kein einziges Mal vor-

LILI MARLEEN

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kommt. Der einzige F-Dur-Akkord markiert den Beginn der zweiten Hälfte der Strophe (»so woll‫ތ‬n«). Die Harmonik wird aus 10 Moll-Akkorden mit Septime und 15 Dur-Akkorden gebildet, so dass die Moll-Akkorde ein unverhältnismäßig großes Gewicht bekommen. Allerdings spielt diese Konzeption Schultzes in der Verbreitung des Liedes keine Rolle. Denn in jenen Arrangements die die Lili Marleen-Version von Lale Andersen aufgreifen17 sowie in dieser selbst wird die Harmonik üblicherweise auf die Grundakkorde der Tonart reduziert und dadurch der Charakter der Begleitung banalisiert. Das folgende Notenbeispiel vom Beginn des Lieds kann das illustrieren. Es entspricht den Lili Marleen-Einzelblattdrucken aus den 1940er Jahren:18 Abbildung 2:

Quelle:

Klaviersatz nach einem italienischen Einzelblattdruck Mitte der

1940er Jahre (Originaltext italienisch)

Gerade diese Banalisierung eröffnete aber die Möglichkeit, Lili Marleen in jedem gewünschten Stil zu spielen. Das ohnehin schon simple harmonische Gerüst Schultzes wurde sozusagen zur charakterfreien und primitiven Struktur, mit der jeder Arrangeur anfangen konnte, was er wollte. Zwar gibt auch die Handschrift Schultzes nicht mehr als ein Gerüst an, das, wie üb17 Das gilt nicht in gleichem Maße für die frühen, von der Andersen-Version von 1939 unabhängig entstandenen Versionen, die sich auch im Arrangement deutlich von dieser unterscheiden und auch auf das durchgängige Austerzen der Melodie verzichten. Die Harmonik späterer Versionen ist natürlich auch abhängig vom jeweiligen Musikstil, hält sich aber im Wesentlichen an das simple Grundmuster. 18 Z.B. denen, die in der genannten CD-Edition abgedruckt sind, aber auch anderen.

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lich, vom Arrangeur in eine aufführbare Form zu bringen war. Aber immerhin wird durch die Komposition eine Richtung für das Arrangement vorgegeben – an das sich der Arrangeur der ersten Fassung mit Lale Andersen nicht gehalten und dadurch die Rezeption des Lieds geprägt hat. Die Tendenz zur Banalisierung ist auch deutlich am rhythmischen Charakter des Arrangements zu erkennen. In Bezug auf Lili Marleen wird in der Sekundärliteratur durchgängig der – zum Krieg passende – Marschcharakter hervorgehoben, der in manchen (aber bei weitem nicht den meisten) späteren Versionen tatsächlich auch vorhanden ist. Das Lied steht zwar im 4/4-Takt, aber das allein macht noch keinen Marsch aus. Im Marsch werden die vier Schlagzeiten des Takts nahezu gleich betont, schon um das gleichmäßige Marschieren auf die Musik zu ermöglichen. Die rhythmische Struktur des Klaviersatzes zielte bei Schultze aber eher auf ein Arrangement als Foxtrott. Im Gegensatz zum Marsch werden nämlich nur das 1. und 3. Viertel des Takts betont. Dazwischen befinden sich Pausen. Das ist ein bekanntes Muster, wenn man die Pausen harmonisch auffüllt: Es ergibt sich ein langsamer Foxtrott, bei dem häufig die erste und dritte Schlagzeit mit einem nachschlagenden schwächeren Rhythmusimpuls versehen werden. Genauso haben zum Beispiel Marlene Dietrich19 und Vera Lynn das Lied gesungen: Dietrich als schnellen Foxtrott, Lynn als langsamen Foxtrott.20 Gegen den Marschcharakter sprechen auch die Pausen auf die erste Schlagzeit in den Takten 6 bis 8 im Klaviersatz, denn dadurch fehlt die für einen Marsch gerade in den Begleitstimmen essentielle Betonung am Anfang des Takts. In vielen Arrangements geht die Vereinfachung der Harmonik mit einer Vereindeutigung des Rhythmus als Marschrhythmus einher, etwa durch die Betonung der marschtypischen punktierten Rhythmen der Singstimme auch im Orchestersatz oder gar durch die Hinzufügung von Punktierungen im Rhythmus der Singstimme. In der arrangierten Lale Andersen-Version von 1939 kann sich der Arrangeur aber nicht über den Charakter des Lieds entscheiden und schwankt zwischen einem nicht sehr ausgeprägten Foxtrott-Muster und Marschelementen wie etwa der penetrant eingesetzten großen Trommel. Diese Uneindeutigkeit der Ursprungs-Version implizierte geradezu die weite Spann-

19 In ihrer frühen Version für die USO (vgl. unten). 20 Dasselbe gilt z.B. auch für die unabhängig von der Andersen-Version entstandenen Versionen von Marga Popp (CD 1,2) und Gloria Astor (CD 1,5).

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weite der späteren Arrangements, bei denen sich Arrangeure nie Gedanken darüber machen mussten, ob sie musikalisch den Charakter des Lieds veränderten, weil dieser nicht in eindeutiger Weise vorhanden war. Die Melodie des Lieds war einfach und von einer Schlichtheit, die kunstvoll zu nennen übertrieben wäre. In der melodischen Engschrittigkeit und dem einfachen Rhythmus lehnt sich Schultze sichtlich an Volkslieder an – bis hin zur überschlagenden effektvollen Sexte bei der Nennung des Namens Lili Marleen. Diese einfache Struktur erleichterte natürlich die Möglichkeit des Nachsingens oder Nachpfeiffens der Melodie. Der Name »Lili Marleen« wird von Schultze musikalisch durch eine metrische Operation hervorgehoben. Während vorher der deklamatorische Akzent immer auf die Takthälfte fällt, wechselt Schultze nun zu einer Betonung jeweils auf der ersten Zählzeit des Takts und versieht die Silbe »-leen« mit einem langen Notenwert, der topisch ›Sehnsucht‹ illustriert. Gleichzeitig ›befriedigt‹ die Nennung des Namens aber auf musikalische Weise. Denn »-leen« geht harmonisch der Dominantseptakkord voraus, der sich dann in die Tonika auflöst. Das ist eine der schlichtesten musikalischen Operationen, um zu einem harmonischen Ruhepunkt zu gelangen, der aber im Zusammenhang mit der auch sonst schlichten Struktur des Liedes effektvoll ist. Mit anderen Worten: Metrisch und harmonisch läuft alles auf diesen Namen »Lili Marleen« hinaus, der musikalisch zugleich die Sehnsucht nach Lili Marleen wie die Erfüllung dieser Sehnsucht suggeriert. Schultze ist allerdings auf Grund der von ihm intendierten Simplizität mit einem Problem des Texts nicht fertig geworden. Im jeweils zweiten Teil der Strophen (bis auf die fünfte Strophe) wechselt das deklamatorische Metrum. Betont wird in der ersten Strophe nicht »só wolln wir úns da [wiedersehn]«, weil das keinen Sinn ergäbe, sondern »so wóll'n wir úns da«, das heißt das Metrum der Dichtung betont im 4/4-Takt die zweite Zählzeit statt der ersten. Schultze vollzieht das in der Komposition nicht nach. Er betont »so«21.

21 In den verschiedenen fremdsprachigen Versionen ist das Problem meist durch eine Übersetzung gelöst worden, die dem Metrum der Musik entspricht. Marlene Dietrich vermeidet das Problem in ihrer deutschsprachigen Version, indem sie statt »so« »dort« singt und den Ton so mit einem sinntragenden Wort versieht.

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Und hier liegt ein entscheidender Umstand der ersten Interpretation durch Lale Andersen: als versierte und am Textsinn orientierte Kabarettsängerin betont sie vollkommen richtig, aber gegen den Takt »so wóll‫ތ‬n«. Dadurch erhält das Lied eine trotzige Note, weil das metrische Gefüge des Marschtakts des Arrangements gewissermaßen aus dem Takt kommt. Diese individuelle metrische Note konterkariert die Uniformität des kollektiven Marschs zugunsten einer Hervorhebung des lyrischen Individuums. Das Lied wird dadurch nicht antimilitaristisch, weist aber für den Hörer auf die Diskrepanz zwischen marschierendem Kollektiv und ›betroffenem‹ Individuum hin.22 Es ist tatsächlich belegt, dass man auf Lili Marleen, vermutlich aufgrund des geschilderten Sachverhalts, nicht marschieren konnte, wenn man es wie Lale Andersen sang (erst in der 5. Strophe betont sie die erste Schlagzeit: »Wénn sich die späten Nebel drehn«). Karl-Heinz Reintgen, der später den Soldatensender Belgrad leiten und dort Lili Marleen senden lassen würde, wollte 1940 in seiner Begeisterung für das Lied, seine Soldaten darauf marschieren lassen: »Es wurde durchgesagt und angestimmt. Doch schon nach dem ersten Vers kam der ganze Verein aus dem Tritt.«23 Die Soldaten dürften die ihnen bekannte Andersen-Version von Lili Marleen gesungen haben, also mit der marschinkompatiblen Betonung, was sie aus dem Tritt kommen ließ. Erst spätere Versionen, bei denen der Marschrhythmus hervorgehoben wurde, änderten die Betonung der Gesangsmelodie in sinnwidriger Weise, um einen echten Marsch aus dem Schlager zu machen. Am auffallendsten ist dies bei einer Interpretation als

22 Andersen intensiviert das auf kaum merkliche Weise durch leichte Temposchwankungen, um bestimmten Textstellen Nachdruck zu verleihen. 23 Holzern, Der lange Weg zum Ruhm, S. 35–36. Hinzu kommt wahrscheinlich, dass beim bloßen Singen, ohne marschrhythmische Begleitung die punktierte halbe Note bei »-een«, die ebenfalls dem Marschrhythmus widerspricht (aber nur in der Melodie) von den singenden Soldaten – der üblichen Tendenz von Laienchören entsprechend, zur rhythmischen Unexaktheit zu neigen – zu kurz gehalten wurde.

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›schwerer‹ Militär-Marsch durch einen deutschen Soldatenchor in der Kriegszeit.24 Nimmt man dies zusammen – den musikalische Sehnsuchtstopos bei Nennung des Namens Lili Marleen, die musikalische Suggestion von Trotz gegen die äußeren Umstände (die den Marschrhythmus unterläuft), die eingängige und leicht nachsingbare Melodie, die Konzentration auf den Namen einer Frau – wird vielleicht erklärbar, warum das Lied auch bei den englischen Truppen populär werden konnte, die zunächst den Text mit Ausnahme des Frauennamens nicht verstanden.

III. I NTERNATIONALISIERUNG N ATIONALISIERUNG

DURCH

Welche Emotionen auch immer Lili Marleen bei den Soldaten hervorgerufen hat: Das Lied hat sie eben zunächst nur bei Soldaten hervorgerufen. Die Lage ist in Bezug auf Deutschland nicht ganz klar, aber zumindest im Hinblick auf die Alliierten ist bekannt, dass in den jeweiligen Heimatländern Lili Marleen zunächst nicht weiter auffiel, sondern zu einem eher unfreiwilligen Importschlager von der Front wurde. Bei den Soldaten populär wurden zunächst eher burschikos oder schlicht gesungene Versionen, bei denen die Frage, um welchen Stil von Unterhaltungsmusik es sich handelte, bedeutungslos war. Im Vordergrund stand das Lied beziehungsweise der Liedgesang als solcher, nicht das Orchesterarrangement und auch nicht der Stimmcharakter der Sängerin als solcher. Das war schon in der Urfassung mit Lale Andersen so, zeigt sich aber auch an der Version, die Marlene Dietrich 1944 in Alaska im Rahmen ihrer Truppenbetreuung bei der United Service Organisation sang.25 Das Tempo ist betont schnell und unsentimental, die Orchesterbegleitung bleibt im Hintergrund, der Charakter ist der eines mit Swing-Elementen gemischten Schlagers. Von Anne Sheltons 1942 in ihrer Radio-Show Calling

24 Die Aufnahme kursiert im Internet meist mit der Angabe, sie stamme von einer »Panzerdivision« oder »Panzergrenadierdivision« bzw. der »1. SS-Panzer-Division Leibstandarte-SS Adolf Hitler« (was wohl kaum zutreffen dürfte). 25 Die Aufnahme ist u.a. auf Youtube abrufbar: http://www.youtube.com/watch? v=oRxR7e2c2L0 [20.9.2011].

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Malta gesungenen Version hat sich keine Aufnahme erhalten. Dass dieser gegenüber den bevorzugten populären Stilen eher neutrale Tonfall der von den Soldaten präferiert wurde, zeigen aber auch die beiden Propagandaversionen (die englische mit Lale Andersen26 und die deutschsprachige mit Lucy Mannheim27), die aufgrund ihrer Funktion vor allem Soldaten als Zielgruppe hatten. Auf die enorme Popularität des Lieds bei den Soldaten reagierten Rundfunkanstalten und Plattenfirmen sehr bald, doch hatten diese ein Zielpublikum vor Augen, das im Rundfunk Unterhaltungsmusik in den gängigen populären Stilen erwartete. Dieser Zielgruppenwechsel bedingte einen musikalischen Stilwechsel, der am auffallendsten bei Marlene Dietrich ist. 1945 sang sie das Lied in Report to the Nation, einer Rundfunksendung, die sich nicht an Soldaten, sondern an das amerikanische Heimatpublikum richtete. Sie sang dort eine wesentlich sentimentalere, aber auch artifiziellere Version des Lieds28 in langsamem Tempo und völlig befreit von Marschelementen, begleitet von Charles Magnante und seinem Orchester. Diese Version, in der Dietrich zum ersten Mal die Textversion »Outside the barracks« sang, wurde mitgeschnitten und dann auf Schallplatte von DECCA vertrieben. Sie ist ebenso nachtclubtauglich wie die Version Anne Sheltons mit dem BBC-Tanzorchester unter Leitung von Stanley Black aus dem Jahre 1944. Dietrichs und wohl auch Sheltons Version zielten auf den amerikanischen Rundfunk- und Schallplattenmarkt und passten sich gut in die vom Publikum präferierten Stile der Unterhaltungsmusik ein. Völlig anders klingt eine 1942 in Paris mit rauchiger und vergleichsweise tiefer Stimme aufgenommene Aufnahme mit Suzy Solidor.29 Die Französin war durch Gastspiele, aber auch als Chansonsängerin in ihrem eigenen Pariser Nachtclub bekannt. Sie macht, im Gegensatz zu den schon genannten Beispielen, aus dem Lied ein erotisch grundiertes französisches Chanson – dessen Erotik aber weit über die girl-next-door-Erotik hinaus sexualisiert ist – mit einem entsprechenden Orchestersatz, bei der die ursprüngliche Akkordeon-Begleitung durch ein Salonorchester ersetzt wird, die Violinen colla parte mit der Gesangsstimme geführt werden und der

26 CD 2,2. 27 CD 4,1. 28 CD 2,17. 29 CD 3,21.

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Bläsersatz immer wieder dezente Impulse gibt. Diese erotisch-sexuelle Komponente wurde in diesem speziellen Fall sicher noch durch Solidors offen lesbischen Lebensstil und die Tatsache, dass sie eines der beliebtesten und bekanntesten Nacktmodelle für zeitgenössische französische Maler war, gefördert. Die Zielgruppe ihrer Interpretation waren wohl kaum Frontsoldaten, sondern das der Mittel- bis Oberklasse angehörende Publikum der französischen Chansons, das auch das Publikum ihres exklusiven Nachtclubs war (Soldaten, die den Nachtclub besuchten, dürften schon wegen der Kosten, aber auch wegen der Ausgangsbeschränkungen den Offiziersrängen entstammt haben). Das Beispiel Suzy Solidors, Anne Sheltons, Marlene Dietrichs und – nach dem Krieg auch Lale Andersens – machen ein Problem des Liedes deutlich: War bei den Soldaten eher ein burschikoser, in fremdsprachigen Fassungen auch aufmunternder Tonfall erfolgreich, so war das für das Publikum ›zu Hause‹, das nicht in einer militarisierten Umgebung lebte, nicht der Fall. Das führte dazu, dass Lili Marleen zielgruppengerecht bearbeitet und dabei durchaus auch nationalisiert wurde. Das galt schon für den deutschen ›Heimatmarkt‹. So erinnert die vom Heyn-Quartett 1941 aufgenommene und auch im Wunschkonzert gesungene Version30 stark an die Comedian Harmonists und die Filmschlager der 1930er Jahre. Das HeynQuartett hatte das Lied, wie einige andere deutsche Interpreten auch, schon vor seiner Erfolgswelle aufgenommen. Gemeinsam ist den meisten dieser Interpretationen, dass sie versuchen, das Lied massentauglich für das Rundfunkpublikum zu machen, etwa indem das Arrangement an die Arrangements von Tanzorchestern angelehnt,31 oder das Lied zu einer Art artifizieller Volksmusik umgedeutet wird.32 Allerdings gelang es deutschen Arrangeuren zunächst nicht, das Lied mit diesen Versionen für den Heimatmarkt zu popularisieren. Das änderte sich vermutlich erst, als einerseits Lili Marleen in der Lale-Andersen-Version auf den deutschen Markt zurückwirkte und andererseits das Lied die Bühne des internationalen Markts betrat. Man kann durchaus sagen, dass die frühen Versionen für das ›breite‹ Publikum dabei nationalisiert worden sind. Oder anders ausgedrückt: Lili Marlen wurde in den Ländern, in denen

30 CD 1,4. 31 Z.B. Marga Popp, CD 1,2. 32 Z.B. Ari-Terzett, CD 1,3.

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das Lied übernommen wurde, einem bereits erfolgreichen Stil eingepasst, der von einheimischen Interpreten gepflegt wurde.33 Denn zur Entgermanisierung des Liedes gehörte auch, dass die fremdsprachigen Versionen – sieht man von den Propagandaversionen ab – jeweils von einheimischen Interpreten gesungen wurden (auch Marlene Dietrich galt in den USA bereits als Amerikanerin, zumal sie größten Wert darauf legte, sich von Deutschland und dem Nazi-Regime zu distanzieren), schon um die Fiktion der »Kriegsbeute« aufrecht zu erhalten. Typisch für diesen Sachverhalt ist, dass Anne Shelton und Vera Lynn nur in Großbritannien mit ihrer englischen Version erfolgreich waren, nicht aber in den USA.34 Von »Kriegsbeute« in Bezug auf Lili Marleen zu sprechen, wäre dennoch verfehlt. Vielmehr wurde das Lied die ›Beute‹ eines hochkommerzialisierten Medienmarkts, der – schon aus Kriegsgründen – weniger globalisiert war als der heutige. Gerade die Nationalisierung machte aber auf ein anderes Problem aufmerksam, nämlich die infolge des preußischen Zapfenstreichs deutliche nationale – also deutsche – Konnotation. In seiner handschriftlichen Fassung hatte Schultze das Signal35 nur am Ende des Lieds vorgesehen, im Arrangement von 1939 erschien es aber bereits einleitend am Anfang. Es bot sich in den nichtdeutschen Versionen an, das Signal durch ein heimisches zu ersetzen. So wird dem Lied in der italienischen Version Carlo

33 Die Diskussion, was denn nun ein nationaler Stil bei Unterhaltungsmusik sei, soll hier nicht geführt werden, aber es ist in den 1930er und 1940er Jahren offensichtlich, dass es national unterschiedliche Stile gab, die natürlich eng an bestimmte Interpreten gebunden waren. 34 Es ließe sich einwenden, dass dies natürlich auch mit der Distributionspolitik der Schallplattenfirmen zusammenhing. Aber selbst wenn das zuträfe, wäre es bezeichnend, dass britische Schallplattenfirmen in den USA keinen Markt für die britischen Versionen des Lieds sahen. Im Übrigen zielt aber gerade das Swing-Arrangement Anne Sheltons (1944, CD 2,10), die auch mit Glenn Miller und Bing Crosby aufgetreten war, ganz offensichtlich auf den amerikanischen Markt. 35 Es handelt sich dabei um das preußische Zapfenstreichsignal, das allerdings im »Großen Zapfenstreich« nicht vorkam. Verwendet wurde das Signal als Einleitung im 1864 von Gottfried Piefke komponierten Düppeler Schanzenmarsch.

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Butis36 (1942) einfach das italienische Zapfenstreichsignal vorangestellt, die Ritirata. In der tschechischen Version von Lilly Hodácová37 (1942) wird ebenfalls ein (vermutlich militärisches) Trompetensignal verwendet, in der Fassung Suzy Solidors wird ein, vermutlich nicht-militärisches Trompetensignal am Anfang angedeutet. In der Fassung der Belgierin Christiane Houdez38 (1942) werden gleich zwei Trompeten am Beginn signalartig verwendet, aber wohl ebenfalls ohne Bezug zu realen Militärsignalen. Das trifft möglicherweise auch auf das Trompetensignal am Beginn der Fassung der Chansonnière Nita Berger zu.39 Das verwendete reale oder fiktive Signal hing, wenn es denn verwendet wurde, naheliegender Weise von der politischen Lage ab, das heißt ob es als politisch kompromittierend eingestuft wurde, oder aufgrund der Nähe des jeweiligen Landes (worunter auch die Besatzung zu verstehen ist) zum nationalsozialistischen Regime quasi als Reverenz vor Deutschland wirken durfte oder sollte, oder ob es nur als musikalisches Element ohne politische Konnotation aufgefasst wurde, was allerdings die Ausnahme war. In Italien konnte man das preußische Signal offenbar auch problemlos verwenden, wie die Aufnahme Lina Terminis40 (1942) zeigt, aber bevorzugt wurde es nicht, denn im gleichen Jahr spielte Meme Bianchi41 das Lied mit einem fiktiven sehr kurzen Signal ein, während Tina Arpisella42 wiederum die Ritirata voranstellte. In der finnischen Version A. Aimos43 wird zwar der preußische Zapfenstreich verwendet, aber in einer rhythmisch und melodisch so verzerrten Form, das man geneigt ist zu glauben, dem Trompeter sei nicht bewusst gewesen, dass es sich hier um ein Militärsignal handelt. Die andere, überwiegend genutzte Möglichkeit war natürlich, das Signal ganz zu eliminieren und durch eine Einleitungsfloskel zu ersetzen, die den musikalischen Stil des nachfolgenden Arrangements eindeutig klar machte. Es gab nach dem Krieg aber auch völlig absurde Lösungen, etwa

36 CD 3,14. 37 CD 3,8. 38 CD 3,19. 39 CD 3,20. 40 CD 3,15. 41 CD 3,16. 42 CD 3,13. 43 CD 3,24.

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wenn das Schlagersängerpaar Adam & Eve 196744 das Trompetensignal durch einen Ausschnitt des (fälschlich) so genannten »River-KwaiMarschs«45 ersetzte. Die eigentliche und vermutlich vom Komponisten nicht beabsichtigte Qualität des Lieds Lili Marleen ist, dass es sich in alle denkbaren Varianten von Unterhaltungs- und Popmusik verwandeln ließ und lässt, zum Marsch, zum Swing, zur Polka, zur Volksmusik, später zum Rock‫ތ‬n Roll und immer wieder zu einem Lied, in dem aktuelle Schlagermodelle aufgegriffen wurden. Das Lied eröffnet die Möglichkeit für immer neue Versionen, die der jeweiligen Zielgruppe sehr genau angepasst werden können. Was dabei erhalten bleibt, ist die melodische Grundstruktur von Lili Marleen. Das Arrangement (teilweise auch die Harmonik) wird jedoch zielgruppengerecht verändert. Das führt bis 1945 vor allem zu einer Aufteilung in Versionen für die Front und für den Heimatmarkt, wobei die Frontversionen weniger nationalisiert wurden als die für den Heimatmarkt, weil in ersteren die Sängerinnen sich durch ihre Tongebung bewusst als ›Mädchen von nebenan‹ stilisierten. Fragt man nun nach den Emotionen, die das Lied auslöste, also danach ob sozusagen ein deutsch-melancholisches Emotionsmuster durch die Verbreitung des Lieds hegemonial geworden ist, so lässt sich die Frage zumindest ab dem Zeitpunkt verneinen, an dem die ersten nicht-deutschsprachigen Fassungen auftauchten. Viel eher lässt sich das Gegenteil konstatieren: Das Lied wird nationalen Emotionsmustern angeglichen. Das gleiche würde übrigens auch eine genauere Textanalyse verdeutlichen, denn es werden immer wieder Phrasen in die Übersetzung eingefügt, die für die jeweilige nationalsprachliche Gemeinschaft typisch sind. Lili Marleen ist – im Gegensatz zur Annahme des eingangs zitierten Germanisten – ein Beispiel dafür, dass ein Lied vollständig an die jeweilige Zielkultur angepasst wird. Zielkultur ist hier nicht nur eine jeweils nationale Zielkultur, sondern auch die Kultur der kämpfenden Armeen. Die Tatsache, dass die frühen und an der Front populären Versionen von Lili Marleen, soweit sich das

44 CD 6,23. 45 In der Regel wird der Ausdruck fälschlich für den Colonel Bogey March verwendet, der das musikalische Hauptthema des Films The Bridge on the River Kwai (1957) ist.

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heute noch beurteilen lässt, einen ähnlichen Charakter aufweisen, während sich die ›Publikumsversionen‹ national deutlich voneinander unterscheiden, ist durchaus geeignet zu zeigen, dass die mentalen Differenzen der Soldaten unterschiedlicher Nation geringer waren als man anzunehmen geneigt ist. Die mentale Prägung durch das Schicksal zur kämpfenden Truppe zu gehören, konnte offenbar wichtiger sein als die jeweilige national-politische Einstellung.

Eine deutsche Jazzgeschichte 1945–1949 A NJA G ALLENKAMP

Frankfurt am Main in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und ein oft vergessener Aspekt der Kulturgeschichte Nachkriegsdeutschlands, die Jazzmusik: Ihren Werdegang unter den historisch gegebenen Umständen der Besatzung beleuchtet dieser Beitrag. Auf den ersten Blick präsentiert sich eine Erfolgsgeschichte. Ob und inwiefern sie als Akkulturation bezeichnet werden konnte, möchte ich überprüfen. Akkulturation bezeichnet Prozesse des kulturellen Wandels, die auf den Kontakt zwischen verschiedenen ethnischen bzw. kulturellen Gruppen folgen können. Sie sind dort möglich, wo fremde Kulturen aufeinandertreffen und sich beeinflussen. Die Jazzmusik war in ihren verschiedenen Stilen und Erscheinungen zeit ihres Bestehens Ergebnis solcher komplexer Entwicklungen.1 Um das Geschehen nachvollziehen und einordnen zu können, werde ich nach einigen grundsätzlichen Feststellungen zunächst die beteiligten Gemeinschaften und einige ihrer Mitglieder vorstellen, dann näher auf die Begegnungen eingehen und die Musik und ihre Klischees gesondert betrachten. Wo waren die Hinweise auf Akkulturation zu finden?

1

Vgl. E. Jost (Hg.), Reclams Jazzlexikon, Sachlexikon, Stuttgart 2003, S. 578.

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I. J AZZ -A KKULTURATION ? D IE P ROZESSE Jazz galt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als ›die amerikanische Musik‹, er spaltete die Geister. Spätestens in den 1920er Jahren spielte die Musik auch in der Weimarer Republik eine Rolle. Begeisterte Musiker ›imitierten‹ ihre amerikanischen Kollegen. In den Nachkriegs-Jahren ab 1945, bedingt durch den Besatzungszustand, hatten viele die Gelegenheit, einigen ihrer Vorbilder persönlich zu begegnen und gemeinsam mit ihnen zu musizieren. Diese befanden sich als Soldaten der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland. Der Begriff der Akkulturation bietet sich gerade wegen des unmittelbaren Charakters der Begegnungen an, die sich auf diese Weise jeder Lenkung und den damit verbundenen hegemonialen Strukturen entzogen. Zumindest wird Akkulturation hier in dem Sinn des praktischen musikalischen Austauschs verwendet, der sich dort einstellt, wo musikbegeisterte Menschen unterschiedlicher Kulturen offen für die jeweils anderen Aspekte zusammentreffen. Solche musikalischen Begegnungen ergaben sich nicht ausschließlich in der amerikanischen Besatzungszone. Das Territorium mit seinem Zentrum Frankfurt am Main und die Zeit vor 1950 bieten sich dennoch als Ausgangspunkte an für eine Untersuchung des deutschen Nachkriegsjazz, da sie ein Setting zu bieten haben, das reich an Ereignissen und Quellen war. Vor allem die Jazz-Zeitschriften aus den Jahren 1945–49 geben ein recht anschauliches Bild von dem damaligen, lebendigen Jazztreiben in der Stadt und den involvierten Personen wider.2 Entsprechend beschränkt sich die Perspektive hier auf den deutschen Blickwinkel. »… initially, the direct interactions between West Germans and American GIs were the primary source of cultural contact.«3 Die direkte, das heißt körperliche, Anwesenheit der amerikanischen Soldaten in Deutschland ermöglichte den ›unmittelbaren Kontakt‹ von Jazzfans, die sich einerseits über ihre Leidenschaft definierten und schon immer dafür hatten kämpfen müssen, mit denen, die sich andererseits mit Jazz identifizierten, auch weil deren Heimat mit diesen Klängen verbunden wurde. Beide Gruppen der Fans teilten das gleiche Grundgefühl, die Liebe zum Jazz. Die emotionale

2

Vgl. G. Boas, Jazz Home Nr. 4, Frankfurt/Main 1949, S. 20f.

3

U. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War politics and American culture in a divided Germany, Berkeley/Los Angeles/London 2000, S. 39.

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Dimension kann sich in diesem Zusammenhang als hilfreich erweisen. Als eigene Kategorie weist sie sowohl auf der zwischenmenschlichen als auch auf der innermusikalischen Ebene einen Weg auf, dem ich folgen möchte. Emile Durkheim prägte den Begriff der ›kollektiven Efferveszenz‹, der gemeinschaftliche Zustände beschreibt, die durch die emotionalen Momente des Ergriffenseins und der Überschreitung gekennzeichnet sind. Die Kollektivität Gleichgesinnter verstärkt die Emotionen der Einzelnen.4 Für die Fans galt hier also, dass sie im Durkheimschen Sinne während der Begegnungen aus Alltagsverläufen herausgelöst, in kollektive Rituale eingebunden, auf einen gemeinsamen Gegenstand konzentriert und körperlichaktiv in das Geschehen involviert wurden. Dadurch intensivierte sich nicht nur das individuelle Emotionsleben, sondern auch die Emotionen der anderen Fans konnten wahrgenommen werden und dies führte zu einer wechselseitigen Steigerung der Emotionen. Die sogenannten Sessions entwickelten sich sehr schnell zu unwirklich anmutenden, sinnlichen und rauschhaften Ereignissen.5 Die beiden Kategorien bedingen sich gegenseitig – Kollektivität steigert Emotionalität, die wiederum das Gefühl der Kollektivität verstärkt. Friedhelm Neidhardts Definition einer Gruppe führt weiter: Ganz grundlegend charakterisiert er sie als einen »Vergesellschaftungstypus, der individuelle Wahrnehmungen, Gefühle und Motivationen möglichst authentisch und sympathetisch (beruhend auf Sympathie) aufnimmt, der den subjektiven Faktor auf der untersten Ebene sozialisiert und nach außen repräsentiert«.6 In der Jazzmusik sind nach Ekkehard Jost vier konstante Charakteristika zu beobachten: »Dimensionen, die nicht unabhängig voneinander sind: (1.) die Improvisation, (2.) die Interaktion, (3.) die Rhythmik und (4.) die Ich-Bezogenheit musikalischen Ausdrucks.«7 Da diese fundamentalen Merkmale direkt im Wirkungsbereich von Emotionalität, Subjektivität, Kollektivität und Gruppen verankert zu sein scheinen, können sich

4

Vgl. S. Neckel, Kultursoziologie der Gefühle. Einheit und Differenz – Rückschau und Perspektiven, in: R. Schützeichel (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinaere Ansaetze, Frankfurt/M./New York 2006, S.124f.

5

Vgl. M.S. Schäfer, Fans und Emotionen, in: J. Roose u.a. (Hg.), Fans. Soziologische Perspektiven, Wiesbaden 2010, S. 126.

6

F. Neidhardt, Das innere System sozialer Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979), S. 640.

7

Jost, Reclams Jazzlexikon, S. 633.

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die Gesichtspunkte der Emotionsforschung auf die historischen Daten um die Frankfurter Jazzbegegnungen nach dem Zweiten Weltkrieg nur belebend auswirken. Der offizielle Rahmen hingegen erweist sich leider als wenig ergiebig. Die Kulturpolitik der Hegemonialmacht USA schenkte dem Jazz keinerlei Beachtung. Die Machthaber in Washington lehnten ab, in Europa durch die von Afroamerikanern geschaffene Musik repräsentiert zu warden.8 »During the occupation, however, white American youth officials and cultural diplomats were reluctant to advance jazz as an American cultural icon, because of its Afro-American roots.«9 Das rassistische Element in den USA, besonders in den Südstaaten, ist nach dem Historiker Immanuel Geiss stets verbunden gewesen mit unverhohlenen Sympathien für das faschistische Element in Europa und umgekehrt.10 Offiziell war der Nationalsozialismus 1945 in Deutschland besiegt, die USA aber waren bis Mitte der 1960er Jahre von einer Rassengleichheit weit entfernt.11 Diese Umstände legen nahe, auf der Ebene der Sozialgeschichte die Begebenheiten und Entwicklungen rund um den Jazz an dem Beispiel von Fangemeinschaften und Einzelpersonen nachzuzeichnen. Die Interaktionen möchte ich einfangen und die Stimmen aus der Zeit und die Fakten für sich sprechen lassen. Wie stellten die Begegnungen sich dar und wie wirkten sie sich aus? Auf welche Art beeinflussten die Amerikaner den deutschen Jazz und bis zu welchem Grad konnte eine ›Eigenständigkeit‹ des Sounds erreicht werden – letztlich ein konstitutives Element im Jazz? Inwiefern lieferten die Begegnungen einen fruchtbaren Boden für eine Akkulturation auf dem Gebiet des Jazz?

8

Vgl. Poiger, Jazz, Rock and Rebels, S. 34.

9

P. Goedde, GIs and Germans, Culture, Gender and Foreign Relations, 1945– 1949, New Haven/London 2003, S. 161.

10 Vgl. I. Geiss, Die Afro-Amerikaner, Frankfurt/M. 1969, S. 7. 11 Vgl. Vgl. M. Hielscher, Wunderwaffe Jazz, in: Spiegel Online, 17.08.2008, S. 3.

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II. D IE G EMEINSCHAFTEN Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs von den vier alliierten Siegermächten besetzt und in Zonen aufgeteilt. Neben Teilen Österreichs fielen die Stadt Bremen, der nördliche Teil Baden-Württembergs, Hessen und Bayern dabei an die Amerikaner. Deren anfängliche Truppenstärke von 2,6 Millionen Soldaten wurde sukzessive reduziert, und jene, die noch an den Kämpfen teilgenommen hatten, durch andere, oft jüngere, ersetzt. Bis 1950 sank die Zahl der GIs auf etwa achtzigtausend. Angesichts des Kalten Kriegs wurde die Truppenstärke allerdings 1951 wieder um eine Viertel Million Soldaten erhöht, die bis in die frühen 1990er Jahre in Deutschland und Westeuropa stationiert blieben. Das bedeutete, dass die zu Beginn der Besatzungszeit geschaffenen Strukturen während der gesamten Besatzungszeit, die offiziell bis 1955 währte, und noch weit darüber hinaus Bestand hatten. 12 Ein Großteil der einfachen Soldaten hatten afroamerikanische Wurzeln und sie prägten ganz besonders den ersten Eindruck, den die Deutschen von Amerika bekamen, da sie in ihrer Funktion sehr häufig unmittelbar Kontakt zur Bevölkerung hatten. Innerhalb der amerikanischen Armee herrschte allerdings auch auf deutschem Boden bis 1952 strikte Rassentrennung. 13 Die offiziellen amerikanischen Regierungsprogramme in den 1940er und Anfang der 1950er Jahre waren von dem Interesse geleitet, den Deutschen zu beweisen, dass die USA sich in der Frage der Hochkultur durchaus mit dem alten Europa messen konnten. Die Jazzmusik wurde als wenig hilfreich empfunden und ignoriert.14 Dennoch stieß sie in der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands sofort nach dem Krieg nicht mehr auf Widerstand und wurde, was damals entscheidend war, problemlos lizensiert.15 Zum einen zeigten die einfachen

12 Vgl. Poiger, Jazz, Rock and Rebels, S. 34. 13 Vgl. J. Schwab, Frankfurt Sound. Eine Stadt und ihre Jazzgeschichte(n), Frankfurt/M. 20052, S. 107. 14 Vgl. T. Richtstieg, Das Jazzpublikum, in: W. Knauer (Hg.), Jazz und Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte des Jazz, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 7, Hofheim 2002, S. 32. 15 Vgl. J.E. Berendt, Kleine Geschichte des deutschen Nachkriegsjazz (1945– 1960) in: Fenster aus Jazz – Essays, Portraits, Frankfurt/M. 1978, S. 164.

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GIs selbst ein reges Interesse an Jazz, und zum anderen setzten sie sich an den betreffenden Schaltstellen im militärischen Gefüge unterstützend für die Interessen der deutschen Jazzfans ein. Diese GIs schienen von Anfang an verstanden zu haben, dass die amerikanische Jazzmusik als verbindende Leidenschaft den Umgang untereinander nur offener gestalten konnte. So fanden deutsche Jazzmusiker bald nach dem Krieg und bis weit in die 1970er Jahre hinein, auch noch nach der Besatzungszeit, immer wieder Engagements in den ›barracks‹, den GI-Clubs und in der Nähe der Kasernen in den amerikanischen Enklaven. 16 Das Frankfurter IG-Farben-Gebäude wurde nach dem Krieg zum Hauptquartier der Amerikaner umfunktioniert und bestand auch nach Januar 1947 fort, als die britische mit der amerikanischen Besatzungszone vereinigt wurde.17 Die unmittelbare Umgebung in Frankfurt war zum militärischen Sperrgebiet erklärt und ein Aufenthaltsverbot für Deutsche erlassen worden.18 Das und die Präsenz des wichtigsten Militärflughafens für Europa veranlassten, dass in der Rhein-Main-Region überdurchschnittlich viele Armeebasen mit entsprechenden Mannschaften zu finden waren. Das größte amerikanische Offizierscasino Europas, Les Palmiers Room, und Radio AFN (American Forces Network) waren im Hauptquartier untergebracht.19 Die Stadt Frankfurt am Main konnte sich nach Joachim Ernst Berendt vor allem deshalb zu einem Zentrum des Jazz entwickeln, weil hier eine besonders intensive Begegnung zwischen deutschen und amerikanischen Musikern stattgefunden hatte,20 die Amerikaner hatten in den USA teilweise bereits einen Namen.21 Für die deutsche Seite gilt, dass jeder Musiker, von dem die Rede sein wird, Jazzfan ist, aber nicht jeder Jazzfan

16 Vgl. W. Knauer, Jazz, GIs und German Fräuleins. Einige Bemerkungen zur deutsch-amerikanischen Beziehung im musikalischen Nachkriegsdeutschland, in: Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.), Afroamerikanische Musik in Deutschland, Pop Scriptum 8, 6.06.08, S. 8. 17 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 76. 18 Vgl. Ebd., S. 77. 19 Vgl. Ebd.. 20 Vgl. Berendt, Fenster aus Jazz, S. 186. 21 Vgl. H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 5/6, Frankfurt/M. 1946, S. 20.

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gleichzeitig Musiker, aus dem jeweiligen Zusammenhang wird sich der Sinn erschließen. Die Kontakte konnten während der Freizeit der vielen Soldaten zu verschiedenen Anlässen geknüpft werden, wobei die vier folgenden Konstellationen dominierten: Zunächst gab es die GI-Clubs, die deutsche Musiker und Bands engagierten. Sie waren die Hauptarbeitgeber für deutsche Jazzmusiker. Für die Clubs war der Special Service zuständig, der eine separate Infrastruktur entwarf und organisierte.22 Allein in der Stadt Frankfurt am Main gab es 25 verschiedene GI-Clubs, weitere in Bad Homburg, Bad Nauheim, Limburg, Oberursel und in anderen Armeezentren wie Wiesbaden, Darmstadt, Mannheim und Heidelberg.23 Deutsche benötigten hier lange Sondergenehmigungen. Zum Zweiten formierten sich aus den Reihen der Besatzungsmacht Militärkapellen, bestehend entweder aus Afro- oder aus Euroamerikanern. Sie spielten zu armeeinternen und zu öffentlichen Anlässen. Drittens trafen sich amerikanische und deutsche Musiker trotz der NonFraternization-Regel24 seitens der Militärregierung bald nach dem Krieg zu Afterhour-Jam Sessions in überwiegend deutschen Lokalitäten mit dem Ziel, gemeinsam aufzuspielen. Neben den ›Sessions‹ boten schließlich die regelmäßigen Sitzungen des Hot Club Frankfurt die Gelegenheit, sich theoretisch oder praktisch gemeinsam dem Jazz zu widmen. Diese vier Szenarien werden noch unter dem Aspekt der Begegnung einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. Um die Vorstellung der deutschen Seite einzuleiten, lohnt ein Blick auf die Stadt Frankfurt am Main. Als ein Wirtschaftszentrum mit einer sozialen Struktur ähnlich dem Milieu amerikanischer Großstädte hatte sie schon vor 1945 für Jazzmusiker eine besondere Attraktivität besessen und dank des Einsatzes zahlreicher Jazzfans erwies sich das Ambiente dieser Klangwelt gegenüber als förderlich.25

22 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 61. 23 Vgl. ebd., S. 6. 24 Vgl. ebd., S. 51. 25 Vgl. W. Sandner (Hg.), Jazz in Frankfurt, Frankfurt/M. 1990, S. 7.

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»(Now) Jazz in particular found a receptive audience among Germany´s youth, continuing a trend begun in the Weimar period. Young Germans saw Jazz not only as a way to relate to postwar American popular culture, but also as an opportunity to connect to the German cultural vivacity of the Weimar Republic.«26

Bei aller Begeisterung war und blieb Jazz im Nachkriegsdeutschland eine Musik für Minderheiten, eine »Nischenmusik«27, die sich aber Schritt für Schritt den Weg bahnte. Gegenwehr bot sich genug. Der weit verbreitete europäische Rassismus, der schon Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem in Zusammenhängen mit Jazz offen zutage getreten war, äußerte sich auch noch nach dem offiziellen Niedergang des Nationalsozialismus in Deutschland nahezu ungebrochen, zumindest rhetorisch, wie die deutschen Jazzfans immer wieder feststellen mussten.28 Ungeachtet dessen schufen die Amerikaner vor Ort die geschilderten Strukturen und Angebote, während es an den Deutschen war, darauf einzugehen und ihr Können in musikalischer Hinsicht zu präsentieren. Dabei entwickelten die Mitglieder des Hot Club Frankfurt einen besonderen Enthusiasmus. Sie verfügten über eine ausgeprägte Routine und erwiesen sich in der Folge als Keimzelle für die Frankfurter Nachkriegsszene des Jazz:29 »A sceletial network of jazz clubs and fans remained in place ready to revive the jazz szene after the war.«30 Die spezifische Nachkriegs-Situation ermöglichte es den einheimischen Jazzmusikern, in ihrer eigenen Stadt in amerikanischen Clubs und gemeinsam mit amerikanischen Interpreten Jazz zu spielen. Nachdem sie jahrelang als Club aus Jazzmusikern und -fans im Untergrund agiert hatten, waren sie nach dem Kriegsende vor allem erleichtert, die Geheimnistuereien und Ängste hinter sich lassen zu können. Zudem waren sie optimistisch sich an dem ›richtigen‹ Ort aufzuhalten. Das Gründungsmitglied des Hot Club Frankfurt Horst Lippmann bekannte sich in der ersten Ausgabe seiner JazzZeitung nach dem Krieg ganz offen dazu:

26 Goedde, GIs and Germans, S. 161. 27 J. Freund, Interview vom 18.08.2008. 28 Vgl. G. Boas, Gedanken über ein Negerorchester, in: Jazz Home Nr. 4, S. 1. 29 Vgl. Berendt, Fenster aus Jazz, S. 182. 30 Goedde, GIs and Germans, S. 161.

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»Wir haben das große Glück, uns im amerikanisch besetzten Gebiet zu befinden, in welchem unsere Interessensgebiete nur gefördert werden. (…) Unsere Hauptaufgabe wird sein, in der Öffentlichkeit Veranstaltungen wie Radiosendungen, Jam Sessions, Verträge mit Musikgeschäften und Schallplattenfirmen zu arrangieren. (…) Wir müssen soweit kommen, dass wir es uns leisten können, bekannte und erstklassige amerikanische Solisten und Orchester für uns zu engagieren.«31

Die Quellen vermitteln eine fröhliche Entschlossenheit, die der damals aktuellen politischen Konstellation Rechnung trug. Die Ablehnung der Jazzmusik hatte in Deutschland Tradition und bereits Formen sehr unterschiedlicher Härte angenommen gehabt. Da nun das Unterfangen, den Jazz zu vertreten, in Deutschland auch weiterhin kein unangefochtenes war, wurde im Juni 1946 das Ziel verkündet, »(…) den Bann in Deutschland zu brechen und die verbissenen Jazzgegner und Militaristen eines Besseren zu belehren!«32 Bei der Umsetzung der Vorhaben konnten die Clubmitglieder sich trotz der offiziellen Politik aus Washington der Unterstützung der Amerikaner und des Special Service sicher sein, zu denen sie laufend in gutem Kontakt standen, wie die 10. Ausgabe der Jazz Club News verkündet. Die Rede war hier etwa von persönlichen »Kontakten annähernd auf Augenhöhe«.33 Allerdings schien dies andernorts nicht so selbstverständlich gewesen zu sein. Horst Lange referiert in seiner Jazzchronik in Bezug auf ganz Deutschland vielmehr, dass die Arbeit der deutschen Jazzclubs im Wesentlichen ohne fremde Hilfe vor sich ging. Besonders in den Jahren 1945– 1950 hing jedes Engagement maßgeblich von den Persönlichkeiten einzelner GIs oder interessierter Amerikaner wie beispielsweise dem Journalisten Willis Connover ab.34 Das Jazzgeschehen in Frankfurt umrankte diese kleine Clique Involvierter, den Hot Club, der die einzelnen Amerikaner und deren Unterhaltungsbedürfnis kannte. Erst im Lauf der Jahre 1949 und 1950 sollte sich

31 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 1, Frankfurt/Main 1945, S. 2. 32 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 10, Frankfurt/Main 1946, S. 30. 33 Ebd. 34 Vgl. Lange, Deutsche Jazzchronik, S. 156.

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dann das Frankfurter Jazzpublikum vergrößern.35Auf dem Weg dorthin wussten die Mitglieder dieses Clubs die Medien geschickt für ihr Anliegen zu nutzen. Das Radio blieb zum Beispiel weiterhin einflussreich. Schon während des Kriegs waren bestimmte europäische ›Feindsender‹ wie AFN (American Forces Network) gerade für Jazzfans von großer Bedeutung gewesen, was sich nun noch steigerte. Der ehemalige Leiter der Jazzredaktion des Hessischen Rundfunks, Dr. Ulrich Ohlshausen, erzählte später, dass es Horst Lippmann und Olaf Hudtwalker aus diesem Kreis waren, die als freie Mitarbeiter den Hessischen Rundfunk mit Jazz in Berührung brachten. Da der Sender unter amerikanischer Kontrolle stand, wurde die Idee begrüßt und der offerierten Live-Musik Zeit eingeräumt, wodurch einige neue Arbeitsplätze für Musiker entstanden. Daneben verhieß der Sender eine Möglichkeit, an die aktuellen Schallplatten aus Amerika zu kommen, was schon aus Materialgründen ein seltener Luxus war.36 Horst Lippmann war es auch, der bereits während des Kriegs die Mitteilungen für die Freunde der Tanzmusik herausgegeben hatte, und der sich auch sofort nach dem Krieg wieder mit Schreibmaschine und Durchschlagpapier an die Erarbeitung einer neuen Jazz-Zeitschrift setzte. Die erste Ausgabe der zweimonatig erscheinenden Jazz Club News37, die ab August 1947 Hot Club News heißen sollte, kam in einer Auflage von 7 Stück bereits am 30.08.1945 heraus.38 Gemeinsam mit Günter Boas, der zu Kriegsende von Leipzig nach Frankfurt umgezogen war,39 setzte Horst Lippmann fortan den Plan seiner regelmäßigen Jazzzeitschrift um. Der Zweck ihres Eifers lag in der Aufklärung über Historie, Musiker und Stile des Jazz sowie in der Geschmacksund Meinungsbildung der deutschen Bevölkerung. Darüber hinaus wurde über die Aktivitäten des Hot Club Frankfurt und dessen Bands berichtet. Aus diesen Blättern werden der bereitwillige und bedingungslose Einsatz für die Musik von deutscher Seite einerseits und der internationale Fokus,

35 Vgl. W. Schwörer, Jazzszene Frankfurt, eine musiksoziologische Untersuchung zur Situation anfangs der 80er Jahre, Mainz 1989, S. 51. 36 U. Ohlshausen, Interview vom 05.03.2008. 37 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 58. 38 Vgl. ebd., S. 54. 39 Vgl. ebd., S. 57.

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Nachrichten aus aller Welt, besonders den USA, und internationale Beiträge, zum Teil auf Englisch, andererseits ersichtlich. 40 Die Jazz- bzw. Hot Club News erschienen das ganze Jahr 1947, Lippmann zufolge kam die Zeitschrift auf 28 Nummern.41 1948 endete dessen Herausgebertätigkeit, fortan arbeitete er an der ab April 1949 erscheinenden Monatszeitschrift Jazz Home als Verantwortlicher für die aktuellen Nachrichten mit. Dieses ›interne Blatt für Jazzfreunde‹ hatte mit seiner besonderen Aufmerksamkeit für traditionellen Jazz, den Blues und die Sängerin Bessie Smith eine eher rückwärtsgewandte Ausrichtung.42 Günter Boas verkörperte nun die zentrale Figur auf der Herausgeber- und Verfasserseite, tatkräftig unterstützt von den speziell gegründeten Two Beat Friends. Dieser Kreis setzte sich aus Mitgliedern internationaler Herkunft zusammen, wie zum Beispiel dem amerikanischen Jazzfan, Plattensammler und AFNAngestellten Ned Norworth43. Bei ihnen allen handelte es sich um Anhänger des Old Time Jazz44. Kommentare zu den verschiedenen Stilrichtungen des Jazz wurden ebenso veröffentlicht wie eine offene Debatte um White Jazz45, die zwar nicht frei war von der damals gängigen rassistischen Terminologie, den Rassismus aber an entscheidender Stelle ›umkehrte‹ und zentrale Begriffe ›positiv‹ besetzte. Die Rede war von »der Grenze der schöpferischen Fähigkeiten weißer Jazzmusiker«, von »biophysischen Voraussetzungen, Jazz zu machen«, wie zum Beispiel das »negroide Rhythmusgefühl«, das »von Weißen niemals nachzuempfinden« sei, so dass diese Musiker den Jazz nur »banalisierten«.46 Die Musik spielten oft Gruppen, die dem Hot Club Frankfurt angehörten und von denen hier kurz berichtet werden kann. Sie haben beispielhaften Charakter. Als erste Frankfurter Band besorgte sich die feststehende Hot Club Combo, bzw. das Jazz Club Sextett, bestehend aus ausgebildeten Musikern, eine offizielle Lizenz. Die Band trat ab 17. Mai 1945 wöchent-

40 Vgl. H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 1, Frankfurt/M. 1945, S. 2. 41 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 78. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. G. Boas, Jazz Home Nr. 1, Frankfurt/M. 1949, S. 16. 44 Ebd., S. 3. 45 G. Boas, »White Jazz«, in: Jazz Home Nr. 1, S. 11. 46 G. Boas, Jazz Home Nr. 2, Frankfurt/M. 1949, S. 7.

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lich in Clubs und Restaurants auf. 47 Die Musiker, der Trompeter Carlo Bohländer, der Geiger oder Gitarrist Paul Martin, der Pianist Louis Freischel, der Bassist Fred Noll und Horst Lippmann am Schlagzeug, der Klarinettist bzw. Saxophonist Albert Mangelsdorff befand sich zu der Zeit noch in Kriegsgefangenschaft, verfügten über ein Repertoire aus SwingKlassikern und Standards, die sie während des Krieges heimlich auf Platten gehört und dann einstudiert hatten.48 Auch über die Gruppe hinaus erwiesen sich die Hot Club-Mitglieder, die großenteils zumindest als Amateure musikalisch aktiv waren, als außerordentlich flexibel, nicht allein in Bezug auf den Musikstil. Der changierte zwischen Traditionellem Jazz im New Orleans Stil vom Beginn des 20. Jahrhunderts, Swing-Rhythmen der 20er und 30er Jahre und dem modernen Einfluss im Sinne des Bebop. Auch wechselten die einzelnen Musiker oder die Zusammensetzungen und die Größen der spontan entstehenden Amateurformationen zwischen Trio, Quartett oder Quintett.49 Die Two Beat Stompers, vergleichsweise stabil trotz ihres amateurhaften Charakters, etwa machten sich schnell einen Namen als Deutschlands führende New Orleans-Band. 1949 kam der aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassene Emil Mangelsdorff in die noch bestehenden Reihen zurück.50 Noch in demselben Jahr musste sich das aktuelle Sextett jedoch aus Mangel an einträglichen Jobs auflösen.51

III. D IE B EGEGNUNGEN »Die Präsenz der Sieger auf deutschem Boden machte die Erfahrung der fremden Kultur zu einer tatsächlichen Begegnung zwischen Menschen, den Lernprozess zu einem zwischenmenschlichen Austausch (und) ermöglichte auf bislang einmalige Art und Weise das Kennenlernen fremder kultureller

47 Vgl. Knauer, Jazz, GIs und German Fräuleins S. 8. 48 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 53f. 49 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 54. 50 Vgl. W. Kampmann (Hg.), Mangelsdorff, Emil, in: Reclams Jazzlexikon, Personenlexikon, Stuttgart 2003, S. 329. 51 Vgl. G. Boas, Jazz Home Nr. 4, Frankfurt/M. 1949, S. 20.

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Werte.«52 Sowohl die von den Amerikanern geschaffenen Strukturen als auch der Hot Club Frankfurt erwiesen sich als ›Stätten der Begegnung‹. 1. Die GI-Clubs Alle Bereiche des Kulturlebens in den amerikanischen Gebieten wurden von der Besatzungsmacht beherrscht. Genehmigungen durch die Militärregierung waren immer vonnöten.53 Die musikalische Versorgung der amerikanischen Soldaten unterlag generell der Obhut der eigens für die Unterhaltung zuständigen special service agencies, die idealerweise keine armeeinternen Kapellen einsetzen wollten. Alternativ suchten die agencies deutsche Musiker in so genannten auditions aus. Die Erwählten wurden dann auf die verschiedenen Clubs der Region verteilt.54 Analog zur ›Army‹ herrschte auch in dem Club-System eine streng hierarchische Ordnung. Während die EM Clubs (Enlisted Men Clubs) für die einfachen Soldaten gedacht waren, trafen sich höhere Ränge in den NCO Clubs (Noncommissioned Officer Clubs) und die Offiziere ausschließlich in den Officer Clubs. Weil in diesen Clubs bis 1952 zusätzlich Rassentrennung herrschte, teilte sich die Klientel auch in ›schwarz‹ und ›weiß‹, wobei der Anteil der Afroamerikaner, je höher die militärischen Ränge, verschwindend gering wurde. Entsprechend nahm die Jazzakzeptanz ab.55 In der Rhein-Main-Neckar-Gegend war der Bedarf an Musikern also groß. Weil sie hier ihren Unterhalt mit ›Spielen‹ verdienen konnten und die Frankfurter Musikszene bald zu florieren begann, zogen Musiker aus ganz Deutschland und dem Ausland zu, auf der Suche nach einem regelmäßigen Einkommen. Das Club-System funktionierte derart, dass die Musiker oder Bands meistens One-Night-Stands, also jeweils einen Mittag oder Abend, in einem Club gestalteten und danach weiter rotierten. Musik fand zwischen 11 und 13 Uhr oder zwischen 19 und 23 Uhr statt, diese Art der Truppenbetreuung und -unterhaltung in den ›Ami-Clubs‹ bestand aus zwei

52 Knauer, Jazz, GIs und German Fräuleins, S. 3. 53 Vgl. ebd., S. 6. 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 62.

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oder vier 45-minütigen Sets. Engagements bedeuteten, dass eine Band für einen Ort mehrmals oder regelmäßig gebucht war. 56 Ein Beispiel: »24. September: Jazz Club Rhythm ›one night stand‹ in dem Big Negro Club, Niederrad«.57 Die explizite Benennung des Negro Club dokumentiert einerseits den Zustand der Rassentrennung innerhalb der amerikanischen Besatzungsmacht, andererseits verweist sie auf ein damals in jeder Beziehung sehr gängiges In- und Exklusionsverfahren. So galt in allen GI-Clubs »nur für Amerikaner«.58 Selbst in den anderen Frankfurter Lokalen kam es auf Veranlassung der Besatzer immer wieder vor, dass neben internationalen Gästen ausdrücklich ›keine Deutschen‹ oder ›nur Juden‹ zugelassen waren. 59 Ekkehard Jost nennt die GI-Clubs »eine Säule im soziomusikalischen Gebäude des deutschen Nachkriegsjazz der frühen Jahre«.60 Es habe in diesen Jahren kaum einen namhaften deutschen Jazzmusiker gegeben, der nicht irgendwann einmal in einem jener Etablissements militärischer Freizeitgestaltung aufgespielt habe.61 Einerseits garantierten diese Lokalitäten Jazzmusikern Praxis und Einkommen, andererseits konfrontierten sie sie mit einer Erwartungshaltung. In dieser Kombination schufen sie ein Klima entspannter Kreativität und leisteten der Verständigung zwischen Besatzern und Besetzten Vorschub. Sie konnten hier schon Beziehungen untereinander aufbauen, die sich unter den verschiedensten Aspekten als weiterführend erwiesen. 2. Die amerikanischen Militärkapellen In anderem Kontext richtete sich die Musik anders herum an ein deutsches Publikum. Die Militärkapellen der ›Army‹ standen für das vielleicht faszinierendste Element der Besatzung in den Augen vieler Zivilisten. Für die Mehrheit von ihnen bedeuteten diese Bands die erste Chance, jene Musik live zu erleben, die sie im Positiven wie im Negativen mit den Werten der

56 Vgl. ebd., S. 56 57 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 3/4, Frankfurt/M. 1945, S. 31. 58 Ebd., S. 14. 59 Vgl. ebd., S. 24. 60 E. Jost, Jazz in Deutschland, in: Wolbert, That`s Jazz, S. 368. 61 Vgl. ebd., S. 368.

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amerikanischen Besatzer verbanden. Die Amerikaner waren sich dieser Repräsentationsfunktion durchaus bewusst.62 Geboten wurde allerdings im militärischen Zusammenhang eher Marschoder klassische Musik als Jazz, abgesehen von einigen »obligatorischen Glenn-Miller-Hits«.63 Diese Nummern riefen wahre Begeisterungsstürme hervor. In den Kapellen waren Jazzmusiker nicht gerade beliebt, aber galten als exzellente Instrumentalisten. In privatem Rahmen schlossen sich diejenigen, die auch in den Militärkapellen spielten, dann immer wieder in neuen Formationen zusammen, zu denen sie auch Deutsche einluden. Unter den Amerikanern befanden sich zahlreiche junge Musiker, die sich später im Jazz noch einen Namen machen sollten, zum Beispiel der Hornist Dave Amram oder der Komponist und Hornist Gunther Schuller, der Bassist Gary Peacock, der Pianist Cedar Walton oder der Schlagzeuger Lex Humphries. 64 Die vielen halboffiziellen Bands wie das Orchester des US Red Cross65, The Clopaders, The Invaders66 oder The Skyliners67, traten wegen ihres unterhaltenden Charakters auch in den GI-Clubs auf. Aus den Reihen der 427th Army Band machten in besonderem Maße die Jazz Pirats von sich reden. Die Mehrzahl dieser afroamerikanischen Musiker gestalteten regelmäßig die Jam Sessions des Hot Club Frankfurt mit.68 Der Schlagzeuger Heinz von Moisy erinnerte in einem Interview an die ebenso geartete 7th Army Band in Stuttgart, in der Leo Wright Saxophon oder Klarinette und Eddie Harris Saxophon oder Keyboard spielten, deren Musiker-Karrieren auch noch am Anfang standen69.

62 Vgl. Knauer, Jazz, GIs und German Fräuleins, S. 5. 63 Ebd. 64 Vgl. ebd., S. 6. 65 H. Lippmann, Jazz-Club News Nr. 2, Frankfurt/M. 1945, S. 14. 66 H. Lippmann, Jazz-Club News Nr. 3/4, Frankfurt/M. 1945, S. 32. 67 H. Lippmann, Jazz-Club News Nr. 5/6, Frankfurt/M. 1946, S. 24. 68 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 66. 69 H. von Moisy, Interview vom 04.03.2008.

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3. Die Jam Sessions – Begegnungen afterhour Bald schon ergab sich für die Frankfurter Jazzmusiker die Gelegenheit, ›privat‹ gemeinsam mit amerikanischen Soldaten Musik zu spielen.70 Oft saßen die GIs zunächst im Publikum und stiegen erst später ein.71 Kreative Aufeinandertreffen im Sinne eines annähernd gleichberechtigten Austauschs von Deutschen und Amerikanern realisierten sich in diesen so genannten Jam Sessions, die in ihrem informellen Charakter meist auf private Initiative hin zustande kamen. Die dazu geeigneten Orte fanden sich überwiegend innerhalb der deutschen Öffentlichkeit, wie zum Beispiel bis Ende der 1940er Jahre die Bar des Hotels Continental, das von den Eltern Horst Lippmanns betrieben wurde. Wegen der Nähe zum Hauptbahnhof verkehrten hier auffallend viele amerikanische Soldaten. Albert Mangelsdorff, damals Rhythmusgitarrist, blieb die solidarische Atmosphäre unter Frankfurter Musikern und den zahlreichen amerikanischen GI-Musikern in ›Horst Lippmanns Kneipe‹ immer in Erinnerung.72 Dem gleichen freiheitlichen Konzept unterlag auch die Jazz-Untermalung der regelmäßig stattfindenden Versammlungen des Hot Club Frankfurt, ebenfalls in internationaler Besetzung und in privaten Räumen. Einige GIs engagierten sich nicht nur als Musiker, sondern auch als Gestalter, Unterstützer oder Förderer. Oftmals wuchsen sie in ihre Verantwortung hinein.73 Die Zentren der Jam Session-Szene befanden sich in Frankfurt und Heidelberg. Dort lernten junge deutsche Jazzmusiker, die Sessions als praktischen Jazzunterricht zu ihrer eigenen Fortbildung zu nutzen, das learning by doing als Chance zu begreifen und in ein Erfolgsrezept zu verwandeln.74 Schon die Häufigkeit dieser Treffen verweist auf ihre Beliebtheit im Nachkriegsdeutschland. Horst Lippmann und Günter Boas berichteten bereits in der ersten Ausgabe der Jazz Club News davon. Die unterschiedlichsten Anlässe, Formen und Kombinationen der zahllosen Jam Sessions

70 Vgl. Schwab, Frankfurt Sound, S. 54. 71 Vgl. ebd., S. 102. 72 Vgl. B. Paulot, Albert Mangelsdorff, Gespräche, Waakirchen 1993, S. 18. 73 Vgl. Knauer, Jazz, GIs und German Fräuleins, S. 8. 74 Vgl. ebd.

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lieferten Nachrichten, die sich durch jede Nummer dieser Zeitschrift oder ihrer Nachfolger zogen, ein »meeting mit einem Neger-Pianisten und Sänger«75 etwa, »in heißem Spiel«76 vereinigt oder »weiße und farbige GIs gemischt«77. Die Zeitschriften liefern eine Fülle von Daten, Orten und Namen. Das Phänomen der Jam Sessions trat trotz aller geografischen Vorteile nicht nur in Frankfurt auf, sondern zum Beispiel auch an anderen Orten wie Berlin, wo neben deutschen und amerikanischen auch belgische Musiker78 beteiligt waren. Der Schlagzeuger Heinz von Moisy, der sich direkt nach dem Krieg im Westen der Stadt aufhielt, erinnert sich an die Intensität und Effektivität, die die Jam Sessions vor allem mit den Amerikanern für die eigene musikalische Entwicklung und die der anderen Deutschen nach jahrelangem Jazzkonsum nur über das Radio hatten. Der Anteil der Afroamerikaner überwog bei diesen Begegnungen den der Euroamerikaner bei weitem. In Anwesenheit der Deutschen und in privatem Rahmen kamen aber trotz der herrschenden Rassentrennung ›gemischte Sessions‹ zustande79; die offizielle Regelung wurde dabei ausgehebelt.80 4. Der Hot Club Frankfurt Bei den Treffen des Hot Club stellte sich die Frage der Rassentrennung nicht. Die Jazz Club News berichteten im Januar 1946 sowohl von zwei Musikern, dem Pianisten Sergeant Don McLean und dem Saxophonisten Leland Ledgerwood, als auch von zwei ernsthaften Jazzfans, Schallplattensammlern und Mitgliedern eines New Yorker Jazz Clubs, Swanny Swanson Erling und Bill Hoon, die als fest stationierte GIs in den Hot Club Frankfurt eingetreten waren.81 Verschiedene spätere Beiträge bestätigen die Anwesenheit von GIs unter den Mitgliedern und Musikern im Club, zum Beispiel

75 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 1, Frankfurt/M. 1945, S. 7. 76 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 5/6, Frankfurt/M. 1946, S. 20. 77 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 7/8, Frankfurt/M. 1946, S. 28. 78 Vgl. H. Lippmann, Hot Club News Nr. 23/24, Frankfurt/M. 1947, S. 27. 79 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 7/8, Frankfurt/M. 1946, S. 28. 80 H. von Moisy, Interview vom 04.03.2008. 81 Vgl. H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 5/6, Frankfurt/M. 1946 S. 19.

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bei den regelmäßig veranstalteten Schallplattenabenden82 oder den Informations- und Diskussionssitzungen zu den Stilen und Spielarten des Jazz. Seinerseits Schallplattensammler, konnte Horst Lippmann die neuesten Erscheinungen von Musikern wie Dizzy Gillespie und Charly Parker präsentieren.83 Im Publikum saßen immer auch einige »farbige Freunde der Jazz Pirats«.84 Über das Two Beat Friends-Mitglied Ned Norworth, der bei AFN Frankfurt arbeitete, konnte Günter Boas 1949 die Verbindungen zu dem Radiosender vertiefen und Kontakt zu dem amerikanischen Jazzkritiker Rudi Blesh aufnehmen, der infolgedessen auch Artikel für die Zeitschrift Jazz Home schrieb. Horst Lippmann pflegte ebenfalls seine Beziehungen zu den Mitarbeitern bei AFN. Ihm war es zu verdanken, dass so gut wie immer Frankfurter Musiker die wöchentlich am Samstag ausgestrahlten Jazzsendungen bestreiten konnten.85 Darüber hinaus managte Olaf Hudtwalker, »einer der alten Jazzgarde«86 und ab 1947 Präsident des Hot Club Frankfurt, die einzige »Negersängerin und -tänzerin der Region, Mademoiselle Swing«87 in Heidelberg. Fräulein Anany, so ihr Name, sollte ab März oder April 1946 gemeinsam mit der Jazz Club Combo auf Tournee gehen.88 Im Juni 1946 berichteten die Jazz Club News dann davon, dass Olaf Hudtwalker und seine Dolly Anany Show mit Günter Boas, seiner Band Jazz Club Rhythm und zwei zusätzlichen Musikern an der Trompete und am Tenorsaxophon, »Farbige natürlich«, in Mannheim gastierten. Hier kam es zu »einem unerfreulichen Auftreten vor deutschem Publikum«,89 diese Zuschauer reagierten abgeneigt, während die Soldaten der Besatzungsarmee, die ebenfalls der Show folgten, begeistert waren. Diese Bilanz verweist auf die ambivalente Stellung, die der Jazzmusik in Deutschland zukam, worauf ich in dem Kapitel »Für und Wider den

82 Vgl. H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 7/8, Frankfurt/M. 1946, S. 23. 83 Vgl. H. Lippmann, Hot Club News Nr. 23/24, Frankfurt/M. 1947, S. 27. 84 Ebd., S. 28. 85 Vgl. G. Boas, Jazz Home Nr. 1, Frankfurt/M. 1949, S. 16. 86 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 5/6, Frankfurt/M. 1946, S. 19. 87 Ebd. 88 Vgl. H. Lippmann, Jazz Club News Nr 7/8, Frankfurt/M. 1946, S. 22. 89 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 10, Frankfurt/M. 1946, S. 28.

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Jazz« genauer eingehen werde. Darüber hinaus legt sie die Vermutung nahe, dass Hörgewohnheiten dabei von zentraler Bedeutung sein können. 5. Die Musik, das Jazzfeeling Weil die deutsche Bevölkerung wegen der Verbote und der Abschottung seit 1933 offiziell von jeder innermusikalischen Entwicklung des Jazz ausgeschlossen gewesen war, herrschte 1945 ein sehr großer Nachholbedarf. Das Jazzrepertoire der meisten deutschen Musiker baute noch auf den Standards im Swing-Idiom der 1930er Jahre auf.90 Zusätzlich standen selbst die dem Jazz aufgeschlossenen Deutschen vor dem Problem, keine genaue Definition davon zu kennen. Im Allgemeinen galt deswegen alles als Jazz, was von den diversen AFN-Stationen an Musik geboten wurde. So entstand zunächst einmal eine verheerende Verwirrung.91 Amerika hatte die unanfechtbare Vormachtstellung inne, alle Entwicklungen des Jazz konnten nur von dort kommen. Die zugewandten Deutschen erschienen wie alle europäischen Anhänger als Lehrlinge und Bewunderer der Amerikaner.92 Genauer waren es die afroamerikanischen Musiker, die in den betreffenden Kreisen als ›Götter des Jazz‹ verehrt wurden.93 Diese Phase der musikalischen Entwicklung wurde noch während ihres Verlaufs von den Jazzmusikern selbst als ›plagiatorische Epoche‹ bezeichnet.94 Der Saxophonist Joki Freund nennt noch heute das Kopieren der Amerikaner als erste Regel für das Jazz Spielen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Als seine eigenen Vorbilder benennt er für die 1940er Jahre die Band um Charly Parker, Bebop, und für die 50er die Band um Lennie Tristano, Cool Jazz. Der Stilwechsel sei bedingt gewesen durch das Interesse, aktuell zu sein, und dadurch, dass der Cool-Stil dem ursprünglich klassisch ausgebildeten Musiker vertrauter wirkte als der Bebop.95

90 Vgl. Knauer, Jazz, GIs und German Fräuleins, S. 7. 91 Vgl. Lange, Deutsche Jazzchronik, S. 119. 92 Vgl. Bausch, Jazz in Europa, S. 178f. 93 Vgl. Berendt, Ein Fenster aus Jazz, S. 1187. 94 Vgl. ebd., S. 1170f. 95 J. Freund, Interview vom 18.08.2008.

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Die ersten fünf Nachkriegsjahre durften in ihrem stilistischen Chaos noch als die Zeit der Suche gelten, in der allerdings die entscheidenden Weichen für den deutschen Jazz der 1950er Jahre gestellt wurden. Ziel war es, die eigene Subjektivität zu unterstreichen, Sicherheit zu finden und dem Anspruch auf Aktualität gerecht zu werden. Die Wahl des Stils und der Vorbilder war hauptsächlich eine Frage der persönlichen Neigung.96 Das Jazzfeeling der einzelnen Musiker, das letztendlich den kreativen Prozess nährt, musste damals erst noch vor allem in Fragen des Selbstbewusstseins und der Sicherheit ausgebaut werden. 1945 stand in Amerika Bebop für den aktuellsten Klang. Die Musik eines Charlie Parker, Dizzy Gillespie oder Thelonious Monk rief unter dem Gros der Fans hierzulande jedoch eher Befremden hervor. Vielleicht war seine musikalische Grundeinstellung zu wütend und provokant, um den Deutschen direkt nach dem Nationalsozialismus den (Wieder-) Einstieg schmackhaft zu machen. Die leidenschaftliche Expressivität, der sich die Solisten des Bebop auf der Bühne hingaben, verlangte ein Selbstbewusstsein, über das die jungen Deutschen damals nicht verfügen konnten. Es gab ein paar Ausnahmen in den Reihen der noch wirklich Jugendlichen, wie den Saxophonisten Heinz Sauer, der aber auch erst in den 1950er Jahren öffentlich auftauchte. Er selbst begründet sein Festhalten am Bebop heute so, dass er diesen Stil wegen dessen Vergleichbarkeit mit der Barockmusik vom intellektuellen Standpunkt aus am besten gegenüber seiner Familie vertreten konnte, deren Mitglieder fast alle in Bereichen klassischer Musik tätig waren. Er war immer schon ein heimlicher Jazz- und dann ein offener Bebop-Fan mit dem großen Vorbild John Coltrane gewesen.97 Die Brüche des Bebop lagen vordergründig in harmonischen Neuerungen, tatsächlich aber in einer neuen rhythmischen Auffassung, die davon ausging, dass zusätzlich zu der bekannten Rhythmusgruppe, Klavier, Gitarre, Bass und Schlagzeug,98 auch die Solisten mit ihren Instrumenten rhythmisch Verantwortung trugen.99 Bebop spaltete aufgrund seiner Form

96 Vgl. Lange, Deutsche Jazzchronik, S. 171f. 97 H. Sauer, Interview vom 12.08.2008. 98 E. Jost (Hg.), Reclams Jazzlexikon, Sachlexikon, Stuttgart 2003, S. 664. 99 Vgl. ebd., S. 585.

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die Jazzwelt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, auch in den USA veranlasste er zu hitzigen Diskussionen.100 Den deutschen Musikern kam die stilistische Wende Anfang der 1950er Jahre durchaus gelegen. Die Neuheit im Jazz, die nun aus Amerika nach Deutschland herüber klang, war die Musik Lennie Tristanos, Lee Konitz‫ތ‬ und Warne Marshs sowie die Aufnahmen des Miles Davis Capitol Orchestra.101 Dabei handelte es sich um Cool Jazz, der weitreichende Identifikationsmöglichkeiten für europäische Musiker bot. Hier lag der Akzent eindeutig auf melodischen Momenten, wie der Tongebung und dem Zusammenspiel, und nicht auf dem Rhythmus, dem man zurückhaltend begegnete. Die Entscheidung vieler Deutscher für diesen Stil zeugte von einer ehrlichen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Gemütslagen. Das erklärte Ziel lag darin, dem amerikanischen Vorbild dieser Epoche in eigener Kreativität folgen zu können.102 Die Mittel des Cool Jazz ermöglichten den europäischen Musikern innerhalb ihrer Vorstellungen ›mithalten‹ zu können. Ulrich Ohlshausen vom Hessischen Rundfunk unterstrich, dass die Stilelemente des Cool, die hauptsächlich der klassischen Musik entnommen waren, und die Tatsache, dass er die modernste Strömung war, um die Jahrzehntwende seine Popularität vor allem unter Musikern entscheidend vergrößerten. Nachdem John Coltrane und Archie Shepp die ›Hot‹-Vorbilder des Bebop gewesen waren, standen nun Lennie Tristano und Lee Konitz für den ›Cool‹.103 Der Frankfurt Sound, der die Stadt in den 1950er Jahren berühmt machen sollte, ist stilistisch gesehen Cool Jazz.104 Der konnte sich gut damit arrangieren, wenn er auf Bebop traf, was man in anderem Zusammenhang nicht unbedingt behaupten kann. Der Saxophonist Heinz Sauer erzählt von zwei anderen regelrechten Lagern, in die sich die Jazzanhänger damals teilten. Auf der einen Seite sammelten sich die Anhänger des Traditionellen Jazz, Two Beat, New

100 Vgl. Berendt, Ein Fenster aus Jazz, S. 166. 101 Vgl. W. Knauer, Emanzipation wovon? Zum Verhältnis des amerikanischen und des deutschen Jazz in den 50er und 60er Jahren, in: ders. (Hg.), Jazz in Deutschland. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 4, Hofheim 1996, S. 142. 102 Vgl. ebd., S. 143. 103 U. Ohlshausen, Interview vom 05.03.2008. 104 H. von Moisy, Interview vom 04.03.2008.

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Orleans Stil und Blues, die an einer Aufklärung der Gesellschaft über Jazz und an der Schaffung eines neuen Bewusstseins interessiert waren. Sie konzentrierten sich auf den vergangenen Jazz und seine Geschichte. Ihnen gegenüber standen die Fans des Modernen Jazz, die entweder zu dem extrovertierten und rhythmusbetonten Bebop oder zu dem zurückhaltenden, melodiös-gelassenen Cool Jazz tendierten. Ihnen ging es um Musik und Gegenwart mit dem Blick auf die Zukunft. Daneben erzählt Sauer von intern eingeführten Graden an Begabungen in Nachkriegsdeutschland. Das unterste Niveau wurde als ›zickiges Spiel‹ bezeichnet und bedeutete, dass ein Musiker unbeteiligt oder abgehackt klang, einfach ›deutsch‹. Im Gegensatz dazu spielte man ›amerikanisch‹, wenn der Ton leicht und beschwingt war, ›swingend‹. Das ›Schwarz-Spielen‹ übertraf letzteres noch bei weitem, weil diese Kategorie eine zusätzliche emotionale Ergriffenheit beschrieb.105 1945 bemängelte auch der Hot Club Frankfurt ›deutsches‹ Chorus-Blasen im Sinne eines typisch deutschen Unterhaltungsorchesters mit »beschwingter Note«.106 Die Jazzkonzerte, als solche annonciert, wären keine, sondern eher Unterhaltungsmusik nach deutschen Maßstäben.107 Die Gelegenheit, mit amerikanischen Kollegen zu jammen, bedeutete modernen Jazz zu machen. Das und die Auftritte in den GI-Clubs führten dazu, »dass vor allem die Musiker aus den amerikanisch besetzten Zonen ein gutes Ohr für das moderne Jazzidiom entwickelten«,108 wobei in Frankfurt trotzdem zu dieser Zeit das ›swingende‹ Element niemals ganz fehlen durfte. In ihrer aufklärerischen Art tendierten die Zeitschriften, die Jazz Club News, Hot Club News und in noch stärkerem Maße die Jazz Home, 1945–49, zu den traditionellen Spielarten. Der Hot Club als Jazzinstitution sah sich in der Verantwortung, die hartnäckigen Missverständnisse rund um den Jazz auszuräumen. In Frankfurt engagierten sich Horst Lippmann, Günter Boas und andere nach all ihren Kräften, um das schlechte Ansehen, das Jazz noch vielfach in Deutschland genoss, zu verbessern. In den 1940er Jahren leisteten sie kostbare Vorarbeit dafür, dass sich die Fronten in den 1950er Jahren tatsächlich aufzuweichen begannen. Neben den Clubmitgliedern erschienen bald an-

105 H. Sauer, Interview vom 12.08.2008. 106 H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 2, Frankfurt/M. 1945 S. 16. 107 Vgl. H. Lippmann, Jazz Club News Nr. 11/12, Frankfurt/M. 1946, S. 29f. 108 Knauer, Jazz, GI´s und German Fräuleins, S. 10.

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dere für die Zukunft des Frankfurter Jazz und die Formung des Frankfurt Sounds äußerst wichtige Musiker auf der Bildfläche, zum Beispiel die Pianistin Jutta Hipp, der spätere Zugposaunist Albert Mangelsdorff oder der Saxophonist Joki Freund.109

IV. D AS F ÜR

UND

W IDER

DEN

J AZZ

»The different forms of negotiating American influences in postwar German(y) built on and revised a set of categories inherited from the discussions and battles of the 1920s, 1930s, and early 1940s (…) the consumption (…) invoked antiblack, antisemitic, and misogynist sentiments to reject American influences ranging from jazz to movies to fashion.110 (…) from the 1920s to the 1950s, jazz had many outspoken enemies in Germany.«111

Ende des 19. Jahrhunderts nahm der Trend, Amerika – bei allem Selbstbewusstsein – als Vorbild zu sehen, seinen Anfang. Amerika assoziierte man mit Modernität, und seine Populärkultur war vor allem in Städten sehr angesagt. Natürlich teilten nicht alle deutschen Bevölkerungsschichten die Euphorie. Die Jazzmusik entsprach zeit ihres Bestehens nie dem Geschmack eines Durchschnittspublikums.112 Für einen Großteil des Bildungsbürgertums versinnbildlichte Amerika eine materialistische Unkultur. Noch weitere Kreise zog die Angst, dass diese wenig anspruchsvolle Moderne unmittelbar die alte Rolle der Geschlechter aufbreche. Die Vorurteile blieben hier bis in die 1950er Jahre hinein bestehen. Dem Jazz wurde am häufigsten mit Kritik an Amerika begegnet. Aus dieser Verbindung ergaben sich noch eine Reihe weiterer Klischees: Jazz war das Symbol der Moderne, während seine überwiegend afroamerikanischen Schöpfer das Primitive repräsentierten, was gerne verallgemeinert wurde. Für die frühen Anhänger garantierte gerade diese Primitivität Authentizität. Die damit zusammenhängende Exotisierung konnte also sowohl positiv als auch negativ besetzt sein. Ob das Primitive nun als befreiend erlebt oder als

109 U. Ohlshausen, Interview vom 05.03.2008. 110 Poiger, Jazz, Rock and Rebels, S. 29. 111 Ebd., S. 137. 112 Vgl. ebd., S. 13ff.

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Verfall gewertet wurde, beide Haltungen zeugten von einem hierarchischen Denken. Die Vorwürfe von Jazzgegnern gegenüber den meist jugendlichen Fans waren vielfältig. Sie reichten von moralischer Schwäche und Schamlosigkeit bis zu Disziplinlosigkeit. Jazz spiegelte angeblich die innere Leere und Hoffnungslosigkeit seiner Produzenten wider. Er wurde als kultureller Ausdruck von biologisch minderwertigen Menschen gesehen. Die Gegner bedienten sich eines Wortschatzes rund um Degeneration, Dekadenz und Primitivität als Schutz vor dem amerikanischen Kulturimperialismus. Die Jazzmusik als musikalischer Ausdruck einer Amerikanisierung und Modernisierung113 galt als Träger dieses Kommerzes und der Dekadenz.114 Nach dem Zweiten Weltkrieg begegneten die konservativen Kreise den modernen Kräften noch immer mit einer Terminologie, die in der Weimarer Republik entworfen und im Nationalsozialismus mehr oder minder nur verschärft worden war und die sich in Deutschland bis in die 1950er Jahre halten konnte.115 Jazzmusik entsprach weiterhin in der deutschen Vorstellung am ehesten der amerikanischen Lebensart und wurde deswegen von der Jugend nach dem Zusammenbruch des Faschismus als willkommener Ersatz für die marode eigene Kultur mit ihrem abgenutzten und missbrauchten Volkslied begrüßt.116 Die Jazzmusik wurde als Symbol für die Amerikanisierung sofort zum Katalysator der ersten Jugendbewegung noch vor dem Aufkommen des Rock‫ތ‬n Roll.117 Innerlich gestärkt durch die Anfeindungen von außen, erwies sich die deutsche Jazzgemeinde, Musiker, Organisatoren und Anhänger, in der Pflege und Verbreitung des Jazz als äußerst entschlossen. Die Anhänger dieser minderwertigen Musik, verhöhnt als bourgeoise Nonkonformisten, manipuliert und verdächtig, sahen in ihr viel eher das Symbol einer umfassenden Befreiung. Sie verstanden sich selbst als ernstes, intellektuelles Publikum.118 Für Heinz Sauer zum Beispiel war der Jazz vor allem ein Gegengewicht zu allem, was vorher war. Er bedeutete Aufruhr auch gegen

113 Vgl. Poiger, Jazz, Rock and Rebels, S. 11. 114 Vgl. ebd., S. 142. 115 Vgl. ebd., S. 56. 116 Vgl. G. Pfankuch, Amateurjazz in den 50er Jahren, in: Wolbert, That`s Jazz, S. 412. 117 Vgl. Richtstieg, Jazzpublikum, S. 55. 118 H. von Moisy, Interview vom 04.03.2008.

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die alte Generation, die in den Augen der Jüngeren versagt hatte.119 Die Amerikaner waren die Friedensbringer. Der Saxophonist selbst bewunderte alles an ihnen, ihren Lebensstil mit Whisky, Zigaretten und Jazz, ihre Technik, wie zum Beispiel die Autos, und ihre lässige, elegante Kleidung.120 Der Saxophonist und Arrangeur Joki Freund hatte eigentlich eine Ausbildung als klassischer Pianist und entsprechende praktische Erfahrung hinter sich. Er kam 1947 wegen der Jobchancen in den GI-Clubs nach Frankfurt. Weil sich hier damals die besten Verdienstmöglichkeiten für einen Musiker boten, wechselte er zum Jazz und zum Saxophon, womit er großen Erfolg haben sollte. Den ersten Kontakt zum Jazz hatte er über die GIs, die ihm sein erstes Saxophon liehen. Er empfand das Klima unter ›Jazzern‹ als apolitisch und von Pragmatismus geprägt, man spielte in den GI-Clubs auch, um ökonomisch zu überleben. Musikalisch waren die Auftritte in den Lokalitäten der Afroamerikaner interessanter, weil dort ›freieres Spielen‹ möglich war.121

V. J AZZ -A KKULTURATION ! –

DIE

E RGEBNISSE

Jazz lag zwar nicht im Fokus des Interesses der offiziellen amerikanischen Kulturpolitik, aber die Präsenz der GIs und der entsprechenden Strukturen schufen definitiv ein Jazz-freundliches Klima. Das erklärte Ziel lautete Play your own thing. Die Jazzfans vor Ort nutzten die Chancen, die in diesem Klima lagen. Am Ende übernahmen die Deutschen sogar noch im innermusikalischen Zusammenhang die Verantwortung: »Jazz indeed appeared to be perfect for the new pluralist, postfascist West German society.«122 Wie sich an der Häufigkeit der musikalischen Begegnungen und der ihnen geschenkten Aufmerksamkeit ablesen lässt, kann deren Bedeutung für den frühen Nachkriegsjazz kaum überschätzt werden. Die Suche der deutschen Musiker nach dem ihnen entsprechenden ›Sound‹ wurde ent-

119 Vgl. Pfankuch, Amateurjazz in den 50er Jahren, S. 419. 120 H. Sauer, Interview vom 12.08.2008. 121 J. Freund, Interview vom 18.08.2008. 122 Poiger, Jazz, Rock and Rebels, S. 165.

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scheidend geprägt davon, dass sie vielen originalen und aktuellen Eindrücken ausgesetzt waren und sich fortwährend mit dem Anspruch konfrontiert sahen, den eigenen Klang zu finden. Der amerikanische Einfluss war demnach entsprechend groß. Interessanterweise forderte er aber vehement zu musikalischer Eigenständigkeit auf und nutzte gezielt die emotionalen Kanäle, die zwischen den Zeilen liegen, und appellierte an sie. Die persönlichen Begegnungen gaben diese Art des Transfers vor und garantierten ihn. Im Zusammenspiel von Praxisorientierung und Anspruch auf Eigenkreativität, Subjektivität und Selbstbewusstsein kommt der Durkheimsche Begriff der Efferveszenz überzeugend zum Tragen. In Verbindung mit den damals ganz aktuellen Tönen aus Amerika brachte dieses Jazzfeeling die Entwicklung der Frankfurter Musiker einen großen Schritt weiter. Auf diese Weise halfen die Amerikaner der Eigenständigkeit des deutschen Jazz auf die Füße. Die deutschen Jazzfans gestalteten dabei, professionell oder amateurhaft, die Musik und ihr Ambiente in dem ihnen zur Verfügung stehenden Rahmen. Dabei konnten sie 1945 bereits auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken. Dennoch gingen sie freudig auf die unmittelbar angebotene Starthilfe bei ihrem Wieder-Einstieg nach dem Krieg ein, um dann möglichst schnell das Ruder selbst zu übernehmen. Die Nachgeschichte sollte diesem besonderen Engagement der ersten Nachkriegsjahre ihren Respekt zollen. In den 1950er Jahren konnte die Stadt Frankfurt am Main die Früchte des Erfolgs ernten und schwang sich zur ›Jazzhauptstadt der Republik‹, zur ›Jazz-Metropole des Westens‹ auf, wie sich Jazzfans und Medien einig waren. Ihre Musiker erreichten mit dem Frankfurt Sound ein Prestige internationalen Ausmaßes und zählten bald zur Avantgarde. Nach Penny M. von Eschen erreichten seine Anhänger volle Anerkennung für den Jazz als Vertonung des modernen multikulturellen Zeitgeistes allerdings nur, indem sie seine afroamerikanischen Wurzeln in den Hintergrund drängten.123 An dem Frankfurter Beispiel lässt sich ablesen, dass gerade die Afroamerikaner unter den Soldaten und Musikern es waren, die die deutschen Jazzfans dazu anhielten, der Musik in ihren Herzen nachzugehen. Das Ergebnis davon war zunächst der damals aktuelle Cool Jazz wegen seiner starken Reminiszenzen an die bekannten und vertrauten euro-

123 Vgl. von Eschen, Satchmo blows up the world, S. 19.

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päischen Musiktraditionen. Wie dieser Stil sollten auch die meisten der folgenden weiterhin ihren Ursprung in Amerika haben, was die Musik weiterhin trotz ihres multikulturellen Gehalts untrennbar mit den USA verband. Die Entwicklung in Frankfurt ist insofern ein gutes Beispiel für eine Akkulturation, in deren Verlauf der offene und integrative Charakter des Jazz besonders deutlich wurde. Ihre unmittelbaren und konkreten Züge sind gut nachvollziehbar und ihre Ergebnisse deutlich hör- und wahrnehmbar.

Zu den Autoren

Juliane Brauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin im Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« und nimmt zurzeit (im Sommersemester 2012) eine Vertretungsprofessur für Neuere und Zeitgeschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Erfurt wahr. Sie studierte Geschichte und Musik-wissenschaften an der Humboldt Universität in Berlin und verfasste 2007 ihre Dissertation in Politikwissenschaften zum Thema »Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen«. Ihr Forschungsinteresse liegt in der Kultur- und Bildungsgeschichte in Bezug auf Musik. Jörg Echternkamp ist seit 2012 Privatdozent im Fach Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und forscht auf dem Gebiet der europäischen Militärgeschichte und der politischen Ideengeschichte. 2012 habilitierte er zum Thema »Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945–1955«. Nach seinem Studium der Geschichtswissenschaft, Romanistik und Pädagogik an der Universität Bielefeld, der Université de Poitiers (Frankreich) und der Johns Hopkins University, Baltimore/Maryland (USA) promovierte er 1995/96 als Promotionsstipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der Universität Bielefeld über die Entstehung und Entwicklung des deutschen Nationalismus im 18./19. Jahrhundert. Er nahm mehrere Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland wahr. Seit 1997 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam. Anja Gallenkamp studierte an der Humboldt Universität in Berlin Philosophie und Geschichte und beendete ihr Studium 2009. Ihre Magisterarbeit verfasste sie zu dem Thema »Jazz in der Nachkriegszeit, Persönliche Be-

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gegnungen zwischen Amerikanern und Deutschen in Frankfurt«. Darin untersucht sie das Jazzmilieu in Frankfurt in der Nachkriegszeit und wie weit die Musik durch die amerikanische Besatzungsmacht amerikanisiert wurde. Hermann Grampp ist wissenschaftlicher Autor und Publizist. Er studierte Mittelalterliche Geschichte, Politologie und Volkswirtschaft an der Freien Universität Berlin. Währenddessen tätigte er einen Studienaufenthalt an der Universität Cambridge und schloss dort mit einem »MPhil in Historical Studies« ab. Im Rahmen eines Austausches mit der Pariser »École normale supérieure« erwarb er das Diplom eines »DEA d’histoire culturelle et sociale« der Universität Paris-1 Sorbonne. Er promoviert im binationalen Cotutelle-Verfahren an der FU Berlin und an der Paris-1 Sorbonne über das Thema »Sozialgeschichte des französischen Wagnerismus 1860–1914«. Hanns-Werner Heister ist pensionierter Professor der Hochschule für Musik und Theater Hamburg auf dem Gebiet der Musikwissenschaft, der sich vor allem Forschungsthemen im Bereich der Musikästhetik, Musikanthropologie und der Musikkultur widmete und zahlreiche Publikationen dazu veröffentlichte. Von 1965 bis 1977 studierte er Musikwissenschaft, Germanistik und Linguistik in Tübingen, Frankfurt/Main und Berlin (TU) und promovierte 1977, habilitierte schließlich 1993. Bis 1992 arbeitete er freiberuflich für bundesdeutsche Rundfunkanstalten, Zeitungen und Zeitschriften, übte jedoch schon nebenher mehrere Lehraufträge in Berlin, Dresden und Hamburg aus, bevor er 1992 Professor für Musikkommunikation und Musikgeschichte an der Musikhochschule Dresden wurde und 1998 als Professor der Musikwissenschaft nach Hamburg wechselte, wo er bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit blieb. Von 1997 bis 1999 war er Leiter des DFG-Forschungsprojekts »Entartete Musik – Weimar und die Ambivalenz«. Stephanie Kleiner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz und forscht derzeit zum Thema »Glückswissen. Zur Geschichte einer Reflexionsform gelingender Integration im 20. Jahrhundert«. Sie studierte Geschichte und Anglistik in Konstanz und Kingston, Ontario (Kanada). Ihre Promotion mit dem Titel »Staatsaktion im Wunderland. Oper und Festspiel

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als Medien politischer Repräsentation (1890-1930)« erscheint 2012 im Oldenbourg Verlag. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte der politischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert im Hinblick auf das Verhältnis von Politik und Musiktheater sowie die Wissenschaftsgeschichte der Glücksforschung. Andreas Linsenmann ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er studierte Diplomgesangspädagogik an der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe, ergänzt durch ein künstlerisches Aufbaustudium an der Musikakademie in Basel und parallel dem Studium der Musikwissenschaft und der Neueren und Neuesten Geschichte an der Universität Karlsruhe. Für seine Dissertation 2009 zum Thema »Musik als politischer Faktor. Konzepte, Intentionen und Praxis französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945 – 1949/50« erhielt der ehemalige Promotionsstipendiat des Cusanuswerks 2010 einen Förderpreis der Universität Mainz. Daniel Morat ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am FriedrichMeinecke-Institut für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, seit 2009 als Dilthey Fellow der Fritz Thyssen Stiftung. Seinem Magisterstudium der Geschichtswissenschaft, Politologie und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Göttingen folgte seine Promotion in Mittlerer und Neuerer Geschichte. Während dieser Zeit war er assoziiertes Mitglied der Forschergruppe »Abstandsdenken und Sicherheitshandeln in der Nachkriegszeit« in Göttingen und verbrachte einen Forschungsaufenthalt an der Princeton University (USA). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die europäische und transatlantische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichtstheorie und die Medien- und Wahrnehmungsgeschichte der technischen Moderne. Derzeit arbeitet er an seinem Habilitationsprojekt über »Die Klanglandschaft der Großstadt. Kulturen des Auditiven in Berlin und New York 1880–1930«. Sven Oliver Müller ist Forschungsgruppenleiter der Forschungsgruppe »Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas« am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er studierte in Bonn und

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an der Universität Bielefeld, wo er auch zum Thema »Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg« promovierte. Von 2000–2001 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung zur Vorbereitung und Neukonzeption der »Wehrmachtsausstellung«. 2008–2010 verbrachte er einen Forschungsaufenhalt als Research Fellow am Department of History and Civilization des European University Institute, Florenz. Seine Forschungsinteressen sind die emotionale Rezeption Richard Wagners, europäische Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert und Nationalismusgeschichte. Katarzyna Naliwajek-Mazurek lehrt am Musikwissenschaftlichen Institut an der Universität Warschau. Dort studierte sie auch und verfasste ihre Dissertation zum Thema »Constantin Regamey´s Music in the Light of his Aesthetic Ideas«, wofür sie mit dem »Feicht Preis« der Musiksektion des polnischen Komponistenverbandes ausgezeichnet wurde. In ihren Forschungen beschäftigt sie sich mit der Musik des 20. Jahrhunderts, zeitgenössischer Musik und den Wechselbeziehungen zwischen Politik und Musik. Sie arbeitete bereits als Übersetzerin und für den polnischen Hörfunk. Des Weiteren ist sie Mitglied des Programmkomitees des »Warsaw Autumn«-Festivals. Für die von ihr konzipierte Ausstellung »Musik im okkupierten Polen 1939–1945« erhielt sie 2011 von der Universität Lüneburg den »Hosenfeld/Szpilman-Preis«. Darin wird die vielfältige Musikkultur Polens und ihre planmäßige Zerstörung durch die Nationalsozialisten thematisiert. Gesa zur Nieden ist seit 2011 Juniorprofessorin am Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf der Sozial- und Kulturgeschichte der Musik, vor allem in Frankreich und Italien. Sie studierte in Bochum, Venedig, Paris und Berlin Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft sowie Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft. Ihre Promotion »Vom grand spectacle zur great season. Das Pariser Théâtre du Châtelet als Raum musikalischer Produktion und Rezeption (1862–1914)« legte sie in Paris und Bochum mit Prädikat ab. 2008 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Seit 2010 leitet sie das deutsche-französische ANR-DFG-Projekt

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»MUSICI – Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel (1650– 1750). Musik, nationale Identität und kultureller Austausch«. Claudius Torp ist Wissenschaftlicher Assistent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Kassel. Nach seinem Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Bielefeld und an der Johns Hopkins University in Baltimore promovierte er im Jahr 2009 zum Thema »Konsum und Politik in der Weimarer Republik«. Nach einem Jahr als Max Weber Fellow am European University Institute in Florenz widmet er sich derzeit seinem Habilitationsprojekt: einer Globalgeschichte des Klaviers zwischen 1850 und 1930. Michael Walter ist Professor für Musikwissenschaft und Leiter des Instituts für Musikwissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. In Marburg/Lahn und Gießen studierte er Musikwissenschaft und Geschichte und schloss 1985 mit seiner Promotion an der Universität Marburg/Lahn ab. Anschließend war er in Siegen und Stuttgart wissenschaftlich tätig, bevor er sich 1993 an der Universität Stuttgart in Musikgeschichte und Historische Verhaltensforschung habilitierte. Danach übernahm er Lehrtätigkeiten an den Universitäten in Bochum und Bayreuth, bis er an die Universität Graz wechselte, wo er seine Forschungsinteressen wie Musikgeschichte des Mittelalters, Geschichte der Oper, Musik in den Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Richard Strauss verfolgt. Rebecca Wolf studierte Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Neuere deutsche Literatur in München, promovierte 2008 an der Universität Wien und arbeitete von 2008 bis 2010 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« innerhalb des Projekts »Militärmusik als tönendes Staatsinsignium« der Freien Universität Berlin und am Seminar für Musikwissenschaften. Zu ihren Forschungsinteressen gehören unter anderem Musikgeschichte, Musikinstrumentenkunde, Geschichte der Medien und Wissenschafts- und Technikgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Zurzeit verfolgt sie ihr Forschungsvorhaben als Feodor Lynen-Fellow der Alexander von Humboldt Stiftung am Department of Music an der Harvard University.

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Sarah Zalfen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe »Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas« am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung Berlin. Sie studierte in Berlin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität. Dort promovierte sie 2010 mit einer Arbeit über den Wandel des Verhältnisses von Staat und Opern. Ihre Forschungsinteressen sind Musik und Emotionen, Kulturpolitik, Politische Steuerung und musikalische Bildung.

Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7

Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0

Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1840-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Histoire Bernd Hüppauf Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs Oktober 2012, ca. 180 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2180-8

Oliver Kühschelm, Franz X. Eder, Hannes Siegrist (Hg.) Konsum und Nation Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation März 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1954-6

Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Histoire Steffen Bender Virtuelles Erinnern Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen September 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2186-0

Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen 2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3

Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.) Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert

Michael März Linker Protest nach dem Deutschen Herbst Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ›starken Staates‹, 1977-1979

Februar 2012, 434 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1834-1

März 2012, 420 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2014-6

Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.) Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West (unter Mitarbeit von Albert Weber)

Patrick Ostermann, Claudia Müller, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Der Grenzraum als Erinnerungsort Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa

2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1897-6

August 2012, 266 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2066-5

Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen

Carola S. Rudnick Die andere Hälfte der Erinnerung Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989

2010, 494 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3

2011, 770 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1773-3

Marina Hilber Institutionalisierte Geburt Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses

Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert

Juni 2012, 362 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2035-1

2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de