Geschichte wird gemacht: Zur Historiographie populärer Musik [1. Aufl.] 9783839425107

»Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.« Die populäre Musik - vor Jahren noch ein Modeartikel mit begrenzter Haltbark

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German Pages 132 [128] Year 2014

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Table of contents :
INHALT
EDITORIAL
Geschichtsschreibung als Konstruktionshandlung. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart der Musikgeschichtsschreibung
Forbidden Sounds: Exploring the Silences of Music History
Invention and Interpretation in Popular Music Historiography
Geschichtsschreibung populärer Musik im Vergleich
Geschichte wird gemacht. Eine kulturpoetische Untersuchung von »Ein Jahr (Es geht voran)«
»Nothin' here but history«: Geschichtlichkeit als ästhetische Kategorie bei Steely Dan
History? My story! Ein Plädoyer für das Ich in Pop-Geschichte
Zu den Autoren
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Geschichte wird gemacht: Zur Historiographie populärer Musik [1. Aufl.]
 9783839425107

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Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Geschichte wird gemacht

Beiträge zur Popularmusikforschung 40 Herausgegeben von Dietrich Helms und Thomas Phleps

Editorial Board: Dr. Martin Cloonan (Glasgow) I Prof. Dr. Ekkehard Jost (Gießen) Prof. Dr. Rajko Mursie (Ljub~ana) I Prof. Dr. Winfried Pape (Gießen) Prof. Dr. Helmut Rösing (Hamburg) I Prof. Dr. Mechthild von Schoenebeck (Dortmund) I Prof. Dr. Alfred Smudits (Wien) Die Tagung, aus der dieser Band hervorging, wurde konzeptionell gestaltet und organisiert in Kooperation mit Simon Obert.

DIETRICH HELMS, THOMAS PHLEPS (HG.)

Geschichte wird gemacht. Zur Historiographie populärer Musik

[ tranSCriPt]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

©

2014

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Julia Kussius, Hamburg 2012 Lektorat & Satz: Ralf von Appen und Yvonne Thiere Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Prillt-ISBN 978-3-8376-2510-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2510-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Editorial 7

Geschichtsschreibung als Konstruktionshandlung. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart der Musikgeschichtsschreibung Helmut Rösing

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Forbidden Sounds: Exploring the Silences of Music History Elijah Wald

25 Invention and Interpretation in Popular Music Historiography Derek B. Scott 41

Geschichtsschreibung populärer Musik im Vergleich Martin Pfleiderer

55 Geschichte wird gemacht. Eine kulturpoetische Untersuchung von »Ein Jahr (Es geht voran)« Barbara Hornberger 77

»Nothin' here but history«: Geschichtlichkeit als ästhetische Kategorie bei Steely Dan Friedrich Geiger 101

History? My story! Ein Plädoyer für das Ich in Pop-Geschichte Dietrich Helms 115

Zu den Autoren 127

EDITORIAL »Geschichte wird gemacht« heißt es bei den Fehlfarben - doch wie? Ältere Geschichten der Kunstmusik orientieren sich meist implizit oder explizit am Fortschritt des musikalischen Materials als roten Faden durch das Labyrinth der kollektiven Erinnerung. Doch kann man ein »Es geht voran!« auch für die

Pop- und Rockmusik feststellen? Neues erscheint dort allenthalben, doch

Fortschritt des musikalischen Materials jenseits der technologischen Weiterentwicklung? Und was wäre überhaupt dieses Material? Damit sind wir bei der Frage, was denn überhaupt diese Pop- und Rockmusik sei, deren Geschichte wir schreiben wollen, denn ohne eine solches Wissen ist die Aufgabe des Historikers als Wegweiser durch die Erinnerung und Filter des kollektiven Gedächtnisses kaum zu erfüllen: Wer und was war wichtig? Wen und was kann man vergessen? In einer Zeit, in der die Wissenschaft sich verstärkt der (Re- )Konstruktion einer Geschichte der Pop- und Rockmusik widmet, heben die neuen Medien die Spuren der Zeit in der Musik wieder auf- Schallplatten hatten ein Erscheinungsdatum und verschwanden nach einiger Zeit wieder vom MarkL Im Internet dagegen ist Platz für alles aus allen Zeiten_ Schallplatten hatten Kratzer an ganz bestimmten Stellen, die zu ganz bestimmten Gelegenheiten entstanden_ Einer MP3 dagegen sieht man nicht mehr an, wann sie entstand, und sie ist auch nach Jahren noch unverbrauchL Musik älteren Produktionsdatums wird digitally remastered und klingt wieder frisch und gegenwärtig_ Zur gleichen Zeit enthält Studiosoftware Plugins, die den Klang alter analoger Technik simuliert_ Doch wer hört die Vergangenheit, die zitiert werden soll? Das Zyklische und das Repetitive 1 sind nicht nur strukturbildend für den einzelnen Song, sondern für das gesamte System des Pop_ Eine lineare, teleologische Geschichte des Pop mit dem Heute als Ziel zu schreiben, dürfte schwer fallen bei der großen Bedeutung, die ältere Musiken für die Gegenwart haben, man denke nur an die Slogans vieler Radiosender: »Die Hits der 80er und 90er und das Beste von heute«_ »Vergessen macht sich breit«, sangen Fehlfarben; wohl kaum angesichts der gigantischen Kapazitäten der Stefan Schädler (1977). "Das Zyklische und das Repetitive. Zur Struktur populä· rer Musik.« In: Massenkommunikationsforschung 3: Produktanalysen. Hg. v. Die· ter Prokap. Frankfurt/M.: Fischer, S. 375·401.

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EDITORIAL

Speichermedien. Nichts wird endgültig vergessen, alles kann zu jeder Zeit von jedem wieder aktualisiert werden. »Geschichte wird gemacht« - aber von wem? Damit ist die Frage danach gestellt, wem die Popgeschichte gehört, wer definieren darf, was wichtig war und was vergessen werden sollte. Musiker zitieren immer wieder die Vergangenheit: als Cover z. B. oder Stilzitat. Der Fall des Covers zeigt, dass damit nicht immer explizit Verweise auf die Geschichte intendiert sind. Die Musikindustrie hat ihre Rolle als Macher von Geschichte durch Filterung von Warenströmen endgültig an das Internet verloren, das das Neuproduzierte eigentlich nicht braucht, da es so viel Altes nur neu zu entdecken gibt. Der Musikjournalismus ackert sicherlich am aktivsten auf diesem Feld. Hier wer· den Kanons geschaffen und Mythen festgeschrieben, doch wird hier Ge· schichte oder nur Auflage gemacht? Die Musikwissenschaft muss ihre Posi· tion in diesem Feld noch finden und klären, welche Autorität sie hat, eine Geschichte zu schreiben, die so viele selbst erlebt haben. Wie kann sie sich zudem von der suggestiven Macht journalistischer Erzählungen absetzen? Und schließlich: »Geschichte wird gemacht« - aber warum? Auch das wäre zu diskutieren. Also: »Keine Atempause«! Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind mit einer Aus· nahme Schriftfassungen von Vorträgen, die anlässlich der 23. Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM) vom 23. bis 25. Novem· ber 2012 in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Uni· versität Basel zum Schwerpunktthema »Geschichte wird gemacht. Zur Histo· riographie populärer Musik« in Basel gehalten wurden. Im Namen des ASPM bedanken sich Herausgeber und Vorstand des ASPM ganz herzlich bei der Universität Basel und ihrem Musikwissenschaftlichen Seminar für die groß· zügige finanzielle Unterstützung der Tagung. Ganz besonderer Dank gebührt Simon Obert und den Kolleginnen und Studierenden des Musikwissenschaftli· chen Seminars für ihre Gastfreundschaft und die großartige Organisation und Durchführung der rundum gelungenen Tagung. Ein großes Dankeschön der Herausgeber geht auch an die Gutachterinnen des Peer Review·Verfah· rens, die leider, aber selbstverständlich ungenannt bleiben müssen. Wer mehr wissen will über den ASPM, über aktuelle Forschungen, Publi· kationen und anstehende oder vergangene Tagungen, findet diese Daten, Fakten und Informationen rund um die Popularmusikforschung und vieles mehr unter www.aspm·online.de und in unserer Internetzeitschrift Samples (www.aspm·samples.de). Dietrich Helms und Thomas Phleps Osnabrück und Kassel, im Januar 2014

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GESCHICHTSSCHREIBUNG ALS

Ko NSTRU KTIO NSHAN DLU NG. ANMERKUNGEN ZU GESCHICHTE UND GEGENWART DER MUSIKGESCHICHTSSCHREIBUNG

Helmut Rösing

1. Anfänge der Geschichtsschreibung Seit Menschengedenken wurden einschneidende Ereignisse -

religiöse

Offenbarungen, besondere Naturereignisse, Katastrophen und Kriege - in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Dies geschah mündlich durch die kontinuierliche Überlieferung in der Form von Geschichten, Erzählungen, Epen, es geschah

bildnerisch bzw. schriftlich durch die Fixierung auf Stein, Holz, Papier und musikalisch durch epische Gesänge, Lernlieder oder auch Geräuschimitatianen (z.B. die Wiedergabe eines Sturms, eines Vulkanausbruchs oder Erdbebens, siehe dazu Graf 1966) in einem Musikstück.

Das macht deutlich: Kulturen ohne Geschichtsbewusstsein gibt es nicht. Allerdings ist ein diesbezüglicher Nachweis bei schriftlosen Kulturen weitaus schwerer zu erbringen als bei den Hochkulturen. Seit ihren ersten Anfängen zwischen Euphrat und Tigris gilt hier die Vergegenwärtigung von Vergangen· heit durch wie auch immer geartete Geschichtsschreibung ebenso wie der astrologisch und astronomisch fundierte Blick in die Zukunft als unverzicht· bar für die Festlegung und Ausdeutung des jeweils gültigen religiösen, politischen und kulturellen Selbstverständnisses. Grundlegende Ereignisse wurden nicht zuletzt auch aus diesem Grund bildnerisch auf Reliefs, Stelen oder Triumphbögen und schriftlich auf Stein platten bzw. Papyrusrollen fest·

gehalten. Das ist der Beginn einer »expliziten Historiographie«. Sie wurde seit dem 3. Jahrtausend v. u.Z. immer mehr verfeinert. Die Anfang des 3. Jahr· hunderts v.u.Z. eingerichtete alexandrinische Bibliothek mit weit über

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HELMUT RÖSING

700.000 Buchrollen legt davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Sie galt bis zu ihrer Zerstörung in spätrömischer Zeit als das wissenschaftliche Zentrum der Antike.

2. Beginn der expliziten Musi kgesc hic htssch rei b u ng Musikgeschichtsschreibung dagegen ist - anders als die explizite Historiographie - eher eine Errungenschaft der NeuzeiL Ihre Anfänge liegen in der Zeit der Aufklärung_ Entscheidender Auslöser ist ein zunehmend historischmusikgeschichtlich ausgeprägtes Interesse_ Das zeigt sich gegen Ende des 18_ Jahrhunderts mit Beginn des Historismus bei allen Kunstdisziplinen_ Umgesetzt wird es z_ B_ in den epochalen enzyklopädischen Arbeiten von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d'Alembert sowie dem »Dictionnaire de Musique« von Jean Jacques Rousseau_ Vorläufer dieser historisierenden Entwicklung ist die Musikkritik_ Als einer der ersten Musikkritiker im modernen Sinn hat sich in Deutschland Johann Mattheson einen Namen gemachL Er schuf 1722 ein Periodikum, das sich ausschließlich mit Musik beschäftigte, die »Critica musica«_ In diesem Journal setzte man sich vor allem mit Stil- und Geschmacksfragen auseinander: mit der ,alten Polyphonie, (Johann Sebastian Bach) und den neueren melodisch orientierten Richtungen (Telemann, Händel)_ Um die seinerzeit gegenwärtigen Musikstile zu verstehen und zu legitimieren, wurde der Blick in die Vergangenheit immer wichtiger_ So legte Giovanni Battista Martini zwischen 1757 und 1781 die wohl erste explizite Musikgeschichte vor_ Sie umfasste drei Bände, kam aber über die Musik der Alten Welt nicht hinaus_ Anders nur wenig später Charles Burney_ Die vier Bände seiner General History of Music (1776·1791) gründen auf vielfachen Begegnungen mit führenden Musikern und Musiktheoretikern in ganz Europa_ Dabei werden - was durchaus ,modern, anmutet - auch Tanzmusik, Organisationsformen des Musiklebens, Aspekte des Instrumentenbaus, der Musikerziehung und des Musikjournalismus in seine Geschichtsschreibung mit einbezogen_ Quellenkritische Studien dagegen fehlen_ Dieser die Musik der Zeit und ihr aktuelles musikbezogenes Umfeld beschreibende Ansatz von Burney wird von den Vertretern des in Deutschland neu etablierten universitären Fachs Musikgeschichte bzw_ Musikwissenschaft nicht mehr weiter verfolgL Die auf wissenschaftlicher Quellensichtung beruhenden Bücher zur Musikgeschichte von Johann Nikolaus Forkel (1788), Raphael Georg Kiesewetter (1846) und Hugo Riemann (1901) - um nur

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einige der bedeutendsten zu nennen - bleiben eingegrenzt auf Aspekte von Werk und Biographie. Ihr Ordnungsprinzip ist streng chronologisch. Die Dar· stellungen folgen der Maxime, Musik werde desto wahrer und erhabener, je mehr sie sich dem 19. Jahrhundert nähert. Dieses evolutionäre Bild entspricht der Idee der Aufklärung. Es huldigt der Überzeugung, dass es möglich sei, nicht nur kritisch, sondern auch ver· bessernd in das öffentliche Musikleben eingreifen zu können. Somit ergän· zen sich Musikkritik und Musikgeschichtsschreibung bei der Benennung von musikalischen Werten und Wertmaßstäben. Diese werden zusammengefasst in einer musikästhetischen Grundmaxime: Hochstehende Musikstücke sind autonome Werke, die ihren Sinn allein durch die jeweilige individuelle Formung des musikalischen Zusammenhangs besitzen. Damit geben Musik· kritik und wissenschaftliche Musikgeschichtsschreibung dem erstarkenden Verlagswesen, dem Musikalienhandel, dem bürgerlichen Konzertwesen und dem gehobenen Publikum eine Richtung vor, in die ernste und ernst zu neh· mende Musik sich einzupassen hat. Im 19. Jahrhundert war Musikwissenschaft ein Synonym für Musik· geschichte. Fragen nach den Grundlagen und Bedingungen musikalischen Handelns und Verhaltens wurden getreu dem ästhetischen Verständnis der Werkautonomie kaum berücksichtigt. Und Musik aus Alltagskulturen und außereuropäischen Ländern fanden allenfalls am Rand Behandlung. Generell unberücksichtigt blieben - so Georg Knepler noch 1997-

»die konzeptionellen Menschheits- und Allgemeinheitsansprtiche. Eine Antwort auf die große Frage nach dem Zusanunenhang von Musik- lffid Menschheitsgeschichte, die die entscheidenden Probleme und Konflikte erst zusarrunentreten lässt, wird von den meistverbreiteten Werken über Musikgeschichte [ ... ] umgangen« (Knepler 1997: 1312). Die Erstarkung der Naturwissenschaften und die Formulierung von grund· legenden Einsichten bzw. ,Gesetzen, aus den Fachgebieten Mathematik, Physik, Akustik, Physiologie und Wahrnehmungspsychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gaben Anstoß zu naturwissenschaftlicher For· schung auch im Bereich der Musikwissenschaft. Im Jahr 1860 legte Gustav Theodor Fechner sein viel beachtetes Buch Elemente der Psychophysik vor. Hier ging es um eine ,Ästhetik von unten" die Darlegung von Beziehungen zwischen physikalischen Gesetzmäßigkeiten und ästhetischem Erleben von Musik. Drei Jahre später erschien das auch heute noch grundlegende Buch des musikbegeisterten Mediziners, Physiologen und Akustikers Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonemptindungen als physiologische Grund· lage tür die Theorie der Musik (1863). Im Mittelpunkt der Ausführungen

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HELMUT RÖSING

steht die experimentelle Überprüfung psychoakustischer Phänomene der Musikwahrnehmung. Vor diesem Hintergrund ist die programmatische Schrift von Guido Adler über »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft« von 1885 zu verste· hen. Sie bedeutet eine Neubestimmung des Fachs Musikgeschichte als Musik· wissenschaft. Sein Vorschlag, die bislang meist normativ betriebene Musik· ästhetik durch psychoakustische und psychologische Ergebnisse zu unter· mauern, darüber hinaus Hilfswissenschaften wie Akustik und Mathematik, Physiologie und Ethnographie in die Untersuchungen über Produktion, Funktion und Wirkungsweisen von Musik mit einzubeziehen, vor allem aber sein Hinweis auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Musik lassen Adlers Konzept auch heute noch als Richtung weisend erscheinen. So hielt er es für geboten, die Entstehungsbedingungen und den Zweck von Musik in jede Musikbeschreibung mit einzubeziehen:

»Die ganze Umgebung des Künstlers und des Werkes ist in Erwägung zu ziehen, die physischen, psychischen und allgemein kulturellen Um- und Zustände sind in ihren Verschlingungen zu verfolgen. Alle subjektiven und objektiven Entstehlffigsmomente sind aufzudecken. Alles, was den Schaffenden betrifft, seine Abstammung, seine Disposition, sein Vorgehen, der Schaffensakt, die zeitliche und örtliche Schaffenslage und Bedingtheit. Neben der Individualpsyche ist die Sozialpsyche seiner Umgebung, das Differenzierende und das Gemeinsame darzulegen« (Adler 1919: 36). Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, schlug Adler die Aufteilung in einen historischen und einen systematischen Zweig der Musikwissenschaft vor. Dieser anspruchsvolle Aufgabenkatalog hat im 20. Jahrhundert zu einer hochgradigen Diversifizierung und Spezialisierung des Faches Musikwissen· schaft und der Musikgeschichtsschreibung geführt.

Die Einengung auf

schriftlich fixierte Musik des Abendlandes wurde aufgegeben. Auch die Musik fremder Kulturen, jede Form von Umgangs· und Gebrauchsmusik und vor allem die das 20. Jahrhundert zunehmend prägenden, überwiegend medial verbreiteten Musikrichtungen wie Schlager, Pop, Rock und Jazz sind geschichtsfähig und geschichtswürdig geworden. In der Musikgeschichtsschreibung führen die verschiedenen Musikrich· tungen und Musiksphären allerdings immer noch ein Eigenleben. Eine Zu· sammenschau, die der Realität des Musiklebens gerecht wird, fehlt nach wie vor. Das ist deswegen befremdlich, weil bei den Musikern ebenso wie in den Medien Rundfunk, Fernsehen und Internet diese Zusammenschau von Welt· musik, volkstümlicher Musik, Klassik und Pop, Rock und Jazz mittlerweile gang und gäbe ist. Die Dichotomie zwischen U und E kann im musikbezoge·

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GESCHICHTSSCHREIBUNG ALS KONSTRUKTIONSHANDLUNG

nen Alltag als überwunden betrachtet werden, sie existiert aber noch in den Köpfen so mancher Vertreter des Fachs Musikwissenschaft.

3. Veränderungen des Musiklebens durch Notation und elektrische Medien Der Überblick über die Geschichte der Musikgeschichtsschreibung zeigt, dass explizite Musikgeschichte ohne die Verfügbarkeit von Musik in notenschriftlicher oder medialer Form kaum möglich ist. Bis in das 9_ Jahrhundert hinein blieb Musik ausschließlich gegenwärtig und verfügbar, solange sie erklang_ Voraussetzung für den Fortbestand eines Liedes oder instrumentalen Musikstücks war ihre mündliche Überlieferung_ Das geschah im Hinblick auf einen bestimmten Anlass und eine bestimmte Aufführungssituation_ Musik hatte hier Funktionen zu erfüllen, und diese Funktionserfüllung sicherte ihr in den Köpfen der Anwesenden den Fortbestand über die Zeitdauer ihres realen Erklingens hinaus: im Kult, als Ritus, bei Festen, zur Arbeitserleichterung, zur emotionalen Bereicherung, als Erinnerung an kriegerische Vorgänge, eine erfolgreiche Jagd und anderes mehr_ Jede erneute Wiedergabe von Musikstücken aus der Erinnerung heraus konnte und sollte in Anpassung an die aktuelle Darbietungssituation musikalische Veränderungen erbringen_ Diese gingen dann als neue Variante in die mündliche Überlieferung ein_ Die Aufrechterhaltung einer musikalischen Tradition war somit fragiL Und unterbunden wurde sie, wenn ein Musikstück nicht in der Erinnerung gespeichert und von Generation zu Generation weitergegeben wurde_ Dann verschwand es aus dem kollektiven Gedächtnis_ Musikgeschichte manifestierte sich somit in dem, was an Musik durch kontinuierliche mündliche Überlieferung präsent blieb_ Die Festschreibung von gesprochenem Wort als Text gehört zu den Merkmalen aller Schriftkulturen seit dem Altertum_ Die Verschriftlichung von Musik stellt demgegenüber erst eine Errungenschaft der Neuzeit dar_ Die Entwicklung der westlichen Notation vollzog sich in mehreren Schritten vom 9_ bis 16_ Jahrhundert. Sie ist stark abstrahierend und bedarf der Interpretation, da sie nur die kompositorische Essenz, nicht aber sekundäre Komponenten wie Klangfarbe, Tempo, Betonungen, Spieltechniken u_a_m_ absolut verbindlich regelt. Die Notation von Musik bedeutet einen folgenreichen Eingriff in den musikalischen Schaffensprozess und die musikalische Aufführungspraxis_ An die Stelle von gedächtnisgestützter Aufführung, Variantenbildung und Improvisation tritt die Komposition_ Erst die Notation führte zu komplexer

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musikalischer Strukturbildung, zu rational und nicht mehr intuitiv begründeten Kompositionsregeln und zum Schaffen von immer wieder neuen, originellen, andersgearteten Formen, Stilen und Genres_ Mit den Worten von Christian Kaden (1985: 334): Notation ermöglichte »die Entfaltung der Komposition als einer mehrfach reflektierten, von memorialer Tradierung abgehobenen Form musikalischen Produzierens«_ Komponist und interpretierender Musiker brauchen nun nicht mehr identisch zu sein_ Die Interpreten werden zu Dienern des Werkes_ Es beginnt eine Spezialisierung und Arbeitsteilung, die sich allein schon am Beispiel des Orchesters gut verfolgen lässL Bis zum Beginn der musikalischen Klassik war es üblich, dass der Komponist als Instrumentalist oder Solist die Aufführung seiner Werke leitete_ Diese Einheit ging im 19_ Jahrhundert zunehmend verloren_ Die Aufgaben von Solist und Dirigent werden nun jeweils speziell ausgebildeten Musikern zugeordnet, und selbst die Spezialisierung von Orchestern zur Aufführung der Musik bestimmter Epochen und Stile schreitet immer weiter voran_ Präzision, Petiektion und die Einbeziehung von historischen Aufführungspraktiken gehören heutzutage zu den Selbstverständlichkeiten des traditionellen Konzertwesens_ Nicht allein die Komposition, sondern darüber hinaus auch die Qualität der Aufführung ist immer mehr maßgeblich am Erfolg eines Werkes bei Publikum, Kritikern und Experten beteiligL Öffentliche Diskussion und Bewertung entscheiden darüber, ob ein Werk in den Kanon des Konzertrepertoires Eingang findet oder nichL Damit beginnt es den Gesetzen des Marktes, den Maximen von Verwertung und Verwertbarkeit zu unterliegen_ Die Gründung bürgerlicher Musikvereine, die Erstarkung des Verlagswesens, der Zulauf zu Gesangvereinen, die gezielte Pflege von Hausmusik, das Klavier als Statussymbol und der musikalische Salon als gehobener Zeitvertreib sind weitere Indizien dafür_ Mündliche Überlieferung wird nur noch in Randgebieten des Musiklebens - etwa bei Volksliedern, Tanzmusik oder Gassenhauern - praktiziert- In den Fokus von Musikkritik und Musikwissenschaft gerät die notierte Musik aus der Vergangenheit und dem, was jeweils gerade Gegenwart ist- Sie stellt den Fundus für das dar, was musikgeschichtlich aufgearbeitet wird_ Durch die Erfindung des Tonträgers im ausgehenden 19_ Jahrhundert beginnt sich diese Situation zuerst unmerklich, dann aber immer deutlicher zu ändern_ Die Aufzeichnung und Wiedergabe von Sprache und Musik markiert den Beginn der medialen Musiktradierung_ Die Folgen sind einschneidend für den Umgang mit Musik_ Jede real erklingende Musik, die auf einem Speichermedium festgehalten wird, bleibt zur wiederholten Wiedergabe überall dort verfügbar, wo die technischen Voraussetzungen zur Wiedergabe be-

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stehen - gleichgültig, ob sie zuvor notenschriftlich festgehalten, mündlich tradiert, aktuell improvisiert oder synthetisch erzeugt wurde. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert fing man an, in Wien, Paris, Berlin usw. Phonogramm· archive als zentrale Sammelstellen für Tonträgermusik einzurichten. Damit wurde nun auch die nicht in Notenform festgehaltene Musik geschichtsfähig

(siehe Eiste 1998: 65311.). Ihre Speicherung und Vermittlung erfolgt über akustische Medien, audio· visuelle Medien und in letzter Zeit zunehmend über Computer und Internet. Der Übergang von der analogen zur digitalen Technik bedeutet hier so etwas wie eine Art Quantensprung. Wurde früher nur nach künstlerischen, doku· mentarischen und/oder kommerziellen Gesichtspunkten ausgewählte Musik auf Tonträger festgehalten, spielt seit der Digitalisierung das Auswahl· kriterium nur noch eine untergeordnete Rolle. Nahezu alles, was erklingt, wird auch festgehalten. So werden z. B. im Deutschen Musikarchiv der Deut· schen Nationalbibliothek alle in Deutschland erschienenen und erscheinen· den Tonträger gesammelt. Das Deutsche Rundfunkarchiv verfügt neben Lon· don und Paris über die weltweit größte Phonothek mit Tonaufnahmen aus allen Epochen und Genres. Und schließlich gibt es spätestens seit der Jahr· tausendwende immer mehr weltweit vernetzte Online·Musikdatenbanken wie freeDB, MusicBrainz oder Discogs. Musik, die die nicht der notenschriftlichen Aufzeichnung, sondern allein der Speicherung auf Ton·/Datentäger ihre Existenz verdankt, bedarf keiner immer wieder neuen Interpretation. Sie ist in ihrer klingenden Erscheinungs· form festgeschrieben. Das hat tief greifende Veränderungen für Musikleben und Musikverständnis zur Folge. Von mündlich überlieferter Musik, deren Merkmal eine mit jeder Darbietung einhergehende Variantenbildung ist, wird eine Variante festgehalten und zum ,Werk, erklärt. Anders gesagt: Das analoge bzw. digitale Abbild wird von allen funktionalen Attributen, die Bestandteil des Beziehungssystems Musik sind, bereinigt. Angesichts ihrer medialen Allverfügbarkeit erhält die dem Wesen von erklingender Musik nicht gerecht werdende Fixierung bei beliebig austauschbarer Darbietungs· situation den Status der Normalität. Notierte Musik kann zwar nach wie vor immer wieder in neuen Interpre· tationen aufgeführt werden, zunehmend aber bieten die aufgezeichneten Produktionen einen Vergleichsmaßstab, dem sich jede neue Interpretati· onsleistung zu stellen hat. Demzufolge dominiert bei der Darbietung von Werken der musikalischen Klassik heutzutage die Interpretations· gegenüber der Werkkritik. Damit einher geht die Verkrustung des Repertoires. Neue Kompositionen finden kaum noch, in Vergessenheit geratene und wieder· entdeckte Werke nur vereinzelt Einlass in den Repertoirekanon.

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Nicht notierte, auf Tonträger präsentierte Musikstücke sind Unikate. Sofern diese Stücke von den gleichen Interpreten wiederholt live aufgeführt werden, unterliegen sie mehr oder weniger dem Gesetz der Varianten· bildung. Nehmen sich andere Interpreten des Stücks an, dann wird daraus eine Coverversion. Die Bandbreite der Abweichungen erstreckt sich von einer angestrebten Stückidentität bis hin zu einem neuen Werk. Obwohl somit »der Grad der Veränderung recht unterschiedlich ausfallen kann« wie Marc Pendzich (2004: 2) in seiner umfangreichen Geschichte der Cover· version ausführt -, »bleibt das Originalwerk in seinen wesentlichen Zügen erhalten«. Neben der Coverversion erhält die Wiederverwertung von Teilstücken medial vorgegebener Musik zunehmende Bedeutung. Digitale Methoden des Sampelns führen zur Ausweitung der herkömmlichen, über die Abstraktions· stufe des musikalischen Notats vollzogenen Zitierpraxis. Digitale Samples von gespeicherter Musik werden als Versatzstücke direkt in neue Musik· stücke integriert. Sie tragen somit bereits die Spuren von Geschichtlichkeit in sich. Vieles davon ist allerdings nur für den Experten entschlüsselbar. Der Wandel von mündlicher über die schriftliche bis hin zur medialen Übertragung von Musik hat somit nachhaltige Konsequenzen für die Musik· geschichtsschreibung. Das betrifft (al die Fülle des für die Geschichtsschrei· bung zur Verfügung stehenden musikalischen Materials - sie hat exponential zugenommen -, (b) die Anzahl möglicher Auswahlkriterien, die nun sowohl musikimmanent wie funktional, publikums· bzw. gesellschaftsorientiert, marktbezogen oder technikgeprägt sein können, (c) den Wissenschafts· anspruch, der sich zunehmend auch den Kriterien naturwissenschaftlicher Forschung annähert, (dl die Zielgruppe, die keineswegs ausschließlich das gehobene Bürgertum zu sein braucht und (e) den Grund für Musikgeschichts· schreibung, der zumindest nicht länger - wie in den vergangenen zwei Jahrhunderten - evolutionistisch zu sein braucht.

4. Gedanken zur Neujustierung von Musi kgesc hic htssch rei b u ng Die Ausführungen zur Geschichte der Musikgeschichtsschreibung hatten zum Ziel, deutlich zu machen, dass musikbezogene Historiographie im Zeitalter der medialen Überlieferung von Musik einer Neujustierung bedarf. Dies ist bislang noch nicht hinlänglich reflektiert geschweige denn umgesetzt wor· den. Um die notwendige Neujustierung zu ermöglichen, gilt es Fragen wie die folgenden zu klären:

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(1) Benötigen wir im Zeitalter der medialen Überlieferung überhaupt noch Musikgeschichte? Schließlich ist doch praktisch jede auf Tonträger festgehaltene Musik in Archiven gespeichert und zur Nutzung bzw. Analyse verfügbar? (2) Ist das, was erklingt, wirklich schon die ganze Musik? Gehört nicht auch alles das dazu, was die musikalische Produktionshandlung, die Umstände und die Situation der Darbietung, den Akt des Hörens und den kommer· ziellen Verwertungszusammenhang betrifft? (3) Wie vollständig und umfassend sollte Musikgeschichte betrieben werden? Geht es um eine Universalgeschichte der Musik, oder ist eine Auswahl aus den musikalischen Datenmengen sinnvoll, und wenn ja, welche? (4) Gibt es zwingende Ordnungskriterien oder , historische Narrative" die einer Musikgeschichte zugrunde gelegt werden sollten? Wenn ja, sind sie nur musikimmanent oder auch kultur· und sozialgeschichtlich, quantita· tiv bzw. qualitativ, nach Gefallens· vs. Missfallensurteilen u.a.m. aus· zurichten? (5) Darf Qualität ein Kriterium sein? Und wenn ja, wer bestimmt, was musi· kalische Qualität ist? (6) Für wen ist Musikgeschichtsschreibung heutzutage gedacht? Für die Experten vom Fach, für Verleger und Veranstalter, für die kreativ Schaf· fenden, für das breite Publikum oder eine spezialisierte Fangemeinde? Und schließlich (7) Verbirgt sich hinter Musikgeschichtsschreibung die Hoffnung, Gegenwart beherrschbar zu machen, indem man das Vergangene nach überschau· baren Kriterien strukturiert und dann diese Kriterien als ordnende und sinnstiftende Faktoren der Gegenwart zugrunde legt? Im Folgenden möchte ich versuchen, einige durchaus persönliche Antworten auf dieses Fragenbündel zu geben, um damit die erforderliche Neujustie· rung von Musikgeschichtsschreibung voranzutreiben. 1: Ging es bislang in der Musikwissenschaft darum, die in Schriftform vorliegende Musik vergangener Zeiten zu rekonstruieren bzw. quellen· kritisch aufzuarbeiten, einer Komponistenpersönlichkeit zuzuordnen, zu analysieren und für die Gegenwart nutzbar zu machen, so drohen wir heutzutage angesichts der Überfülle an medial gespeicherter, in Archi· ven der unterschiedlichsten Provenienz und im Internet aufbewahrter Musik die Orientierung zu verlieren. Entsprechend stärker wird der Wunsch nach einer Reduktion der komplexen musikalischen Wirklichkeit. Menschliche Wahrnehmung be·

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ruht auf Auswahl, Distinktion und Schwerpunktsetzung. Gerade weil die Musik aller Zeiten, Stile und Gattungen heutzutage zum beliebigen Gebrauch zur Verfügung steht, bedarf es des ordnenden Eingriffs. Allein durch eine Sichtung des musikalischen Materials nach Kriterien der Ver· dichtung lässt sich Überschaubarkeit herstellen. Sind die zugrunde ge· legten Kriterien wissenschaftlich abgesichert, d. h. exakt, plausibel und nachvollziehbar definiert, so bildet das die Voraussetzung und Grund· lage für eine aussage kräftige und bis an die Gegenwart heranreichende Musikgeschichtsschreibung. Die brauchen wir heutzutage nötiger denn je - vor allem, um den Anteil an Vergangenheitsgebundenheit in der neu· en Musik zu erkennen, mithin z. B. die retrospektiv·geschichtsträchtigen Bestandteile aktueller Musikproduktionen zu erfassen. 2:

Der musikwissenschaftliche Umgang mit notierter bzw. medial gespei· cherter Musik macht schnell vergessen, dass Musik aus mehr besteht als dem festgeschriebenen Produkt mit seinen musikalischen Strukturen. Musik ist multidimensional. Die musikalische Produktionshandlung, das musikalische Produkt, die verschiedenen Vermittlungsschritte bis hin zur klanglichen Realisation, ihre Rezeption und schließlich die Vermarktung von Musik bilden eine Einheit: das Beziehungssystem Musik (Rösing 2004: 16011.). Hinzu kommt die visuelle Ebene, die jede Live·Darbietung be· gleitet. Sie ging mit der Notation von Musik verloren, ist aber in Musik· video und Musikclip wieder zu ihrem Recht gekommen ist. Musikgeschichtsschreibung von heute muss sich der Aufgabe stellen, die Multidimensionalität von Musik mit einem der Komplexität der Sach· verhalte gerecht werdenden Forschungsinstrumentarium zu hinterfragen und in ihren Ausführungen zu berücksichtigen. Die Funktionszusammen· hänge von Musik als Bedingungssystem angemessen zu gliedern und zu beschreiben ist kein leichtes Unterfangen. Der kreative Schaffensakt, die typischen Darbietungsformen - seien sie live oder medial - und ins· besondere das Hörverhalten mit seinen verschiedensten Verhaltenswei· sen und Ritualen gehören dazu, kurz, die musikbezogenen Verhaltens· weisen und Handlungen all jener, die aufgrund ihres Denkens, Fühlens, Wissens und ihrer sozialen Einbindung das Musikleben geprägt haben bzw. prägen. 1

3: Musikgeschichtsschreibung kann es sich nicht leisten, bestimmte Stile, Gattungen, Richtungen nach der Maßgabe auszuklammern, dass sie nicht geschichtswürdig seien. Die Aufspaltung des Faches Musikwissenschaft in Vgl. Gerhard Schulzes Analysen von alltagsästhetischen Milieus und Schemata des Musikhörens; Schulze 1992: 142ft. u. 630ft.

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GESCHICHTSSCHREIBUNG ALS KONSTRUKTIONSHANDLUNG

historische und vergleichend-systematische Musikwissenschaft, in Musikethnologie,

musikalische Akustik, Musikpsychologie, Musiksoziologie,

Popularmusikforschung und Musikpädagogik hat mit dazu beigetragen, die traditionelle Wertehierarchie aus der Kunstmusikperspektive als fragwürdig zu dechiffrieren_ Die Aufteilung in die verschiedenen musikwissenschaftlichen Subdisziplinen bietet den Vorteil, dass der Anspruch wissenschaftlichen Arbeitens angesichts der Vielfalt der zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden zumindest einigermaßen eingelöst werden kann_ Einigermaßen deswegen, weil die dem naturwissenschaftlichen Verständnis zu Grunde liegenden Gütekriterien (Objektivität, Wiederholbarkeit, Überprüfbarkeit und Diskursivität) in den Bereichen der Geistes- und Kulturwissenschaften nur bedingt umsetzbar sind_ Denn weder fügt sich der Untersuchungsgegenstand Musik in das Raster der musikwissenschaftlichen Teilfächer, noch lassen sich kulturelle Phänomene im Sinn der Naturwissenschaften bündig operationalisieren, ohne dabei Gefahr zu laufen, den Gegenstand zu verlieren_ 4: Wie schon angedeutet, gibt es keine zwingenden Auswahlkriterien für die Musikgeschichtsschreibung_ Festzuhalten bleibt jedoch, dass sich der Musikbegriff gegenüber früher erheblich geöffnet haL Gemäß dem Konzept der Oral History (Ong 1982) sollte Geschichtsschreibung sich nicht nur an den Leistungen der Sieger und der Hochkultur orientieren, sondern ebenso die Handlungen der Verlierer und die Gegebenheiten der Alltagskultur berücksichtigen_ Bezogen auf Musik bedeutet das: Alle musikalischen Aktivitäten, alle Musik- und Musiziersphären sind zu berücksichtigen_ Und dies hat wertneutral zu geschehen_ Gerade Wertneutralität aber fällt schwer, war doch die der Hochkultur vorbehaltene Musikgeschichtsschreibung bis in das 20_ Jahrhundert hinein vorrangig Bewertungsgeschichte_ Damit soll nun allerdings nicht gesagt sein, dass jetzt dem Fetisch der Vollständigkeit gehuldigt werden muss_ Es gibt ja, über die Zeitschiene der Chronologie hinaus, durchaus Ordnungskriterien, die eine Verdichtung erlauben, ohne die komplexe musikalische Wirklichkeit unangemessen zu verfälschen_ Historische Narrative wie die Gruppierung nach Stilen, Epochen, Gattungen oder Genres, nach Ensembles und Besetzungen,

Bands, Solisten oder Musiziersphären,

nach sozialge-

schichtlichen, ökonomischen oder musikimmanenten Aspekten können immer dann durchaus angemessen sein, wenn die Gründe für die Auswahl detailliert dargelegt werden_ Denn Reduktion ermöglicht Prägnanz_

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Sie ist legitim, solange sie einem Musikkonzept gerecht wird, das - sei es so subjektiv wie auch immer - wahrnehmungspsychologisch ausgerichtet ist und damit den Rahmenbedingungen entspricht, die für alle die gesellschaftlich relevanten Gruppen gilt, die Musik machen oder einen wie auch immer gearteten Umgang mit Musik haben_ 5: Gerne wird musikalische Qualität zum Auswahlkriterium erhoben_ An die Stelle einer exemplarischen Beschreibung der verschiedenen musikalischen Erscheinungsformen, die das Musikleben bestimmen, erfolgt eine Auswahl nach Gesichtspunkten wie hohe vs_ niedere, triviale vs_ gehobene, innovative vs_ traditionelle, Wahrheit suchende vs_ falsches Bewusstsein abbildende Musik (Adarna 1962). Wie sehr aber schon allein im Bereich der gehobenen Musik die Qualitätskriterien je nach Epoche, Zeitgeist und gängigen Modetrends variieren, hat Werner Braun in seinem Buch Musikkritik (1972) überzeugend dargelegt. Zeitenüber· dauernde Definitionen von dem, was musikalische Qualität ausmacht, gibt es demnach nichL Die Kriterien stellen ein Ergebnis des Diskurses über Musik von Kennern und Experten dar_ Sie sind zwar historisch bedeutsam, können aber keine Allgemeingültigkeit beanspruchen_ Das desto weniger, wenn es darum geht, die Umgangs- und Gebrauchsmusik bzw_ - seit dem ausgehenden 19_ Jahrhundert - volkstümliche Musik, Blues, Jazz, Schlager, Pop und Rock in die Geschichtsschreibung mit einfließen zu lassen_ Qualitätsmerkmale als Auswahlkriterium sind folglich - wenn überhaupt - für die unterschiedlichen Musiksphären und Zeitabschnitte immer wieder von neuem zu definieren_ Dabei muss die Funktion der Musik im Mittelpunkt der Betrachtung stehen_ Tanzmusik, Hausmusik, Musik für die Kirche, Militärmusik, Konzertmusik, Arbeits- oder Kinderlieder usw_ unterliegen jeweils durchaus eigenen Qualitätsansprüchen: Musikalische Struktur und intendierte Funktion sind hier jeweils genregerecht in Deckung zu bringen_ 6: Allzu gerne wird Musikgeschichte als Exkurs von Experten für Experten verstanden_ Geringe Auflagezahlen signalisieren, dass ein Großteil der musikgeschichtlichen Veröffentlichungen im inneruniversitären Kreis verbleibt und im besten Fall noch die Musikredaktionen von Zeitung, Rundfunk und Fernsehen erreichL Das ist bedauerlich_ Denn alle, die gerne Musik hören oder machen, die Liebhaber, das breite Publikum, die Fangemeinde haben Anspruch auf ein seriöses, fachlich fundiertes Musikschrifttum_ Zwar bedarf Musik keines wissenschaftlichen Kommentars, um verstanden zu werden_ Sie ist »in sich selbst genügsam« (Rösing/Petersen 2000: 16). Wohl aber besteht der Wunsch, sich selbst in

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historisch gewachsenen und gesellschaftlich vermittelten musikalischen Zusammenhängen zu positionieren, die über das persönliche Erfahrungsinventar hinausweisen_ Um hier Anregungen zu geben, die über den inneren Zirkel der Expertengruppen hinaus Wirksamkeit entfalten, bietet sich das Internet ein geeignetes Publikationsforum an_ Die Koordination und Zusammenschau des Expertendiskurses könnte zu einer Art Wikipedia der Musikgeschichte werden: allgemeinverständlich formuliert, übersichtlich gegliedert und jederzeit erweiterbar bzw_ revidierbar_ 7:

Die musikgeschichtliche Aufarbeitung von Musik der Vergangenheit als Legitimationsraster zur Beurteilung der gegenwärtigen Musikproduktion greift nicht nur zu kurz, sie ist auch problematisch_ Die evolutionistisch ausgerichtete musikgeschichtliche Sicht des 19_ und beginnenden 20_ Jahrhunderts hat - neben vielen anderen Faktoren - mit dazu beigetragen, dass Avantgardemusik und zeitgenössische Musik in zunehmendem Ausmaß ihr Publikum verloren haben_ Ihre hochkomplexen und Wiederholung negierenden Strukturen verschließen sich der Mehrzahl der Hörer_ Nur wenige Experten schätzen diese Form der intellektuellen Herausforderung_ Primär aber ist Musik ein nachhaltig emotional geprägtes Kommunikationsmedium_ Ihre emotionale, imaginative und assoziative Kraft entfaltet sie, wenn ihre Machart nicht allzu komplex und das wahrnehmungspsychologische so entscheidende Prinzip der Wiederholung hinreichend gegeben istWie schon gesagt, sollte das Ziel von Musikgeschichtsschreibung eine wertneutrale Bestandsaufnahme aller musikalischen Erscheinungs- und Umgangsformen beinhalten, die innerhalb des zu behandelnden Zeitabschnitts parallel auftreten_ Wir wissen ohnehin nicht, wann aus einer aktuellen Musikhandlung Geschichte wird_ Die Teilnehmer des Woodstock-Festivals z_ B_ hatten anderes im Sinn als an Musikgeschichte zu denken_ Erst aus der zeitlichen Distanz heraus wird die historische Bedeutung sichtbar und kann für eine »gliedernde Strukturbeschreibung« des »Wesentlichen« und »Unwesentlichen« herangezogen werden (Dahl-

haus 1985: 24). Obwohl unser Leben von Verwissenschaftlichung und Expertenprognosen immer mehr beeinflusst wird, hat sich gezeigt, dass der Tunnelblick von Experten zu keiner besseren Trefferquote im Hinblick auf Zukunftsprognosen führt als diesbezügliche Statements von Affen (Horx 2011)_ Mit anderen Worten: Eine Verwissenschaftlichung des Blicks auf die Musik von gestern und heute hilft im Hinblick auf Musikgeschichtsschreibung nur bedingt weiter_ Wenn an die Stelle des spontanen Hörens

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die durch Sachkenntnis geprägte Rezeption tritt, so muss das noch lange nicht, wie Dahlhaus und Eggebrecht (1985: 100) postulierten, für den verstehenden Umgang mit Musik unumgänglich sein. Die Durchschaubar· keit von Gegenwart durch ihre Verortung in der Vergangenheit kann allenfalls ansatzweise funktionieren. Denn kulturelle Dynamik unterliegt keinen naturwissenschaftlichen Gesetzen. Die geschichtliche Rekon· struktion von musikalischer Vergangenheit erlaubt nicht unbedingt die Konstruktion des musikalisch Zukünftigen.

5. Ausblick Eine Musikgeschichtsschreibung, die wie in früheren Zeiten ihre Aufmerk· samkeit nahezu ausschließlich auf das Werk und die Biographie von Kompo· nistenpersönlichkeiten der Hochkultur richtet, kann dem Anspruch einer wissenschaftlich ausgerichteten Musikgeschichte nicht gerecht werden. Die Ergebnisse aller Teildisziplinen müssen, wie es ja schon Guido Adler 1885 gefordert hat (ohne dass diese Forderung bis heute eingelöst worden wäre!), in die Arbeit mit einbezogen und nicht als »außermusikalisch« abgewertet werden. Seriöse Musikgeschichtsschreibung lässt sich dann aller· dings nicht mehr im Alleingang leisten. Sie verlangt nach Teamarbeit. Erst die einzelnen musik· und kulturwissenschaftlichen Teildisziplinen mit ihren unterschiedlichen methodischen Forschungsansätzen ergeben ein neues Ganzes, nämlich eine kulturgeschichtlich, sozialwissenschaftlich und wahr· nehmungspsychologisch verortete Musikwissenschaft. Damit wird Musik· geschichtsschreibung zu einer dem komplexen Beziehungssystem Musik angemessenen Konstruktionshandlung. Vorurteilsfreie Sichtung der Quellen, wertneutrale Auswahl nach dem Kriterium der Typik und exemplarische Be· schreibung erhöhen den Grad an Objektivität, ohne ein durchaus legitimes persönliches Erkenntnisinteresse und den jeweiligen Gegenwartsbezug von Geschichtsforschung damit zu unterbinden. Angesichts dieser umfassenden Forderungen an Musikgeschichtsschrei· bung ist zu klären, wie vollständig sie in Bezug auf die verschiedenen Epo· chen und Stile zu sein hat. Kann der Traum einer Universal· oder Weltge· schichte der Musik mehr sein als eine Utopie? Ist das überhaupt noch ein Anliegen, nachdem der evolutionäre Traum vom »wilden Geheul« der »Süd· see-Insulaner« (Hanslick 1854, ziL n_ 1966: 144) zu den hoch entwickelten Werken einer autonomen Musik ausgeträumt ist? Der Gedanke einer musika· lischen Weltgeschichte als »Menschheitsgeschichte« bleibt jedoch nach wie

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vor virulent: Kein geringerer als Georg Knepler (1997: 1312) hat das noch zum Ende des 20. Jahrhunderts mit Nachdruck eingefordert.

Literatur Adler, Guido (1885). »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft. der Band Fehlfarben (1980). Der Song ist auch jenseits seines Ent· stehungszusammenhangs bekannt; die Band selbst gilt als eine der wichtigsten ihrer Zeit und als einflussreich über ihren eigenen Erfolg hinaus_ Ihre Relevanz und ihre Einbindung in die Neue Deutsche Welle, aus der sie stammt, verspricht einen Zugang zu »kulturellen Mustern« (ebd_), verheißt Aussagen, die über die Zeile selbst hinausgehen_ Man kann also hoffen, über, mit und durch den Song »Ein Jahr (Es geht voran)« etwas zur Geschichte populärer Musik in Deutschland sagen zu können_ Betrachtet man nur diesen einen Satz, dann ist zunächst auffallend, dass es sich um eine Passivkonstruktion handelt: Geschichte WIRD gemachL Daran schließt sich fast zwangsläufig die Frage an: Von wem? Wer oder was macht - mit wem oder womit - wie Geschichte? Es gibt kein klar identifizierbares handelndes Subjekt, das bleibt unbestimmt, anonym, versteckL Im Zentrum steht nicht ein Held, eine Revolution, eine Bewegung, sondern die Geschichte selbst, aber nicht als autonomes, monolithisches Gebilde, sondern als »Ergebnis einer selbst immer historischen und historisch je verschiedenen Vertextung« (Baßler 1995: 11) und damit als grundsätzlich dyna· misch gedachtes Feld. Die Feststellung, dass Geschichte gemacht wird, erweist sich als gleichermaßen einfach wie komplex_ »Geschichte machen« ist ein beliebtes Idiom, wenn es um die Beschreibung großer Taten gehL Tatsächlich wird Geschichte in der Schule wie in medialen Aufbereitungen häufig immer noch als eine Aneinanderreihung großer Taten, großer Ereignisse und großer Namen vermittelL Doch der Satz macht auch deutlich: Geschichte ist nicht per se vorhanden, sondern wird hergestellL Geschichtsschreibung ist kein neutrales Sammeln und Ordnen von Ereignissen, sondern ein narrativer und zugleich selbst historischer Prozess, der mit Selektion und darum auch mit Macht verbunden isL Das bedeutet außerdem, dass Geschichte zwar prozessual, nicht aber linear zu denken isL Mit dem Verzicht auf das handelnde Subjekt greift die Songzeile von Fehlfarben nicht nur eine Redewendung auf, sondern markiert implizit und sehr wahrscheinlich absichtslos - ein Problem der Geschichtsschreibung in hermeneutischer Tradition: Ohne ein Subjekt, ohne einen Handlungsträger und Bezugspunkt, ist kontinuierliche Geschichte nicht zu denken_ Ohne die ordnende Kraft eines (kollektiven) Subjekts entsteht eine scheinbar endlose und unübersichtliche Daten- und FaktenfluL Die Herstellung eines ordnenden und legitimen Zusammenhangs ist dann eine zentrale Herausforderung, denn nur durch diesen Zusammenhang wird Geschichte erzählbar,

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also »gemacht«. Insofern trifft der Satz auch einen methodischen Leitge· danken der Untersuchung, deren Gegenstand und Ausgangspunkt er ist. Indem der Satz zum Ausgangspunkt einer historiografischen Untersu· chung wird, ist er aber nicht mehr nur Teil eines Songs, sondern weist über seinen konkreten Ort hinaus. Er wird selbst zum Subjekt des historischen Geschehens, steht im Zentrum eines Netzes aus Pfaden, die in verschiedene Felder und Wirkungsbereiche des Songs hinein reichen. Der Satz »Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran« kann in Bezug gesetzt werden zur Entstehung der NDW und ihrer Bedeutung für deutschsprachige Popmusik, genauso wie zur Geschichte der Band Fehlfarben. An ihm kann das Verhältnis von Szene und Mainstream beleuchtet werden. Und er bietet einen Zugriff auf das Verhältnis von Popmusik und Zeitgeschichte sowie auf die Frage, wie sich die deutsche Popmusik durch die NDW weiter entwi· ekelt. Den Satz und den dazugehörigen Song nicht nur als Ausgangs·, son· dern auch als Fluchtpunkt zu begreifen, bietet außerdem die Möglichkeit, diese verschiedenen Ebenen zu perspektivieren. Er wird zu einem geeigne· ten Scharnier, um die verschiedenen Subjekte und Sprecher, Perspektiven und Geschichten in den Blick zu nehmen.

Vorgeschichte: Entwicklung der NDW Dass die Band Fehlfarben überhaupt gegründet wird, ist - natürlich - be· reits Ergebnis von Geschichte. Denn sowohl sie als auch die Vorgängerband Mittagspause sind nicht denkbar ohne Punk. Der Punk, der 1977/1978 nach Deutschland kommt, ist seinerseits bereits eine Mischung aus ganz unter· schiedlichen Einflüssen, nicht nur von Vorläufern aus der populären Musik,13 sondern auch von (US· )amerikanischen und europäischen Kunst·Avantgarden und zeitgenössischer Politik - wie es etwa Greil Marcus' Diskursgeschichte Upstick Traces (1992) nachzeichnet. Der deutsche Punk Ende der 1970er Jahre ist darum in mehrfacher Hin· sicht nicht nur ein Import, sondern ein kultureller Transfer. Denn anders als bei den Stilimporten in den Jahrzehnten davor wird hier nicht nur eine Musikrichtung aufgegriffen und mehr oder weniger gut kopiert, sondern aus der Adaption entsteht etwas Eigenes. Dieses »Eigene« ist zum Punk immer· hin so different - vor allem, aber eben nicht nur, durch den Gebrauch deut· scher Texte -, dass es einen eigenen Begriff erhält: Neue Deutsche Welle 13 Zu nennen wären hier u.a. Velvet Underground, The Stooges und The New York Dolls auf US·amerikanischer Seite, The Who, The Kinks sowie allgemein der Beat der 1960er Jahre und Glamrock auf der britischen Seite.

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(NDW). Der Begriff, zunächst geliebt, später abgelehnt, trägt über das Wort »neu« den Aufbruch, das Andere bereits in sich. Er markiert aber zugleich, dass der neue Stil auf etwas vorher Gewesenes aufsetzt, so wie eine Welle das vorhandene Wasser neu formt und mit sich trägt. Die Geschichte der NDW wird also gemacht aus und mit der Geschichte des Punk, der wiederum selbst andere Stile und Entwicklungen verarbeitet hat.

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Ort und Szene

Die Band Fehlfarben bzw. ihre Mitglieder gehören zum Kern der Düsseldor· fer NDW·Szene. Mit der Vorgängerband Mittagspause veröffentlichen sie ei· nen der ersten Tonträger der NDW und genießen fortan hohes Ansehen in den entsprechenden Kreisen. Die Band und ihr Umfeld prägen eine lokale Subkultur, die im Ratinger Hof ihren zentralen Ort findet. Die Inhaberin des Ratinger Hofs wiederum, Carmen Knoebel, bietet mit ihrem Label Pure Freude den Bands abseits der Major·Labels Produktions· und Distributions· möglichkeiten an. 14 Und sie ist die Frau des bekannten Düsseldotier Künst· lers lmi Knoebel,15 der auch das Cover der zweiten S.Y.P.H.·LP (Pst, 1980) gestaltet, die auf Pure Freude erscheint. An der Personalie Carmen Knoebel lässt sich exemplarisch eine enge Verbindung der Düsseldotier NDW zur ört· lichen - und darüber auch zur internationalen - Kunstszene markieren, die allerdings über diese Einzelfigur hinausreicht: So betreibt die Band Der Plan nicht nur ein eigenes Label (ATA TAK), sondern auch die Galerie Art Attack in Wuppertal. Das Bandmitglied Moritz R® ist bildender Künstler; als solcher ist er nicht nur für das Artwork der Band verantwortlich, sondern wird zur Stilrichtung der »Neuen Wilden« gezählt. Zu jenen rechnet man auch Marcus Oehlen, Bandmitglied bei Charleys Girls, Mittagspause und Fehlfarben, zeit· weise auch bei Vielleichtars, Nachdenkliche Wehrpflichtige und Flying Klas· senfeind, der an der Düsseldotier Kunstakademie studiert und zum Kern der Szene im Ratinger Hof zählt. 16 Zur Band Der Plan gehört auch Kurt Dahlke 14 Auf Pure Freude veröffentlicht unter anderem die Band S.Y.P.H. des Mitbetrei· bers Harry Rag. Auch Mittagspause veröffentlicht hier 1979 die erste Doppel·EP. 15 Imi Knoebel ist wie Blinky Palermo (t 1977) und Imi Giese (t 1974) ab 1965 in der Beuys·Klasse der Düsseldorfer Kunstakademie und belegt mit ihnen zusam· men von 1966 bis 1969 das Atelier 19. Sie schlagen eine minimalistische und konzeptuelle Richtung ein, mit der sie an die intemationale Minimal Art an· knüpfen - anders als Beuys selbst und andere seiner Schüler in der gleichen Zeit, z.B. Jörg Immendorf. Knoebel ist bereits 1972 auf der Documenta 5 ver· treten. 16 Sein Bruder Albert Oehlen ist ebenfalls Künstler und ein Vertreter der "Neuen Wilden«; er spielt bei den Nachdenklichen Wehrpflichtigen (Hamburg).

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alias Pyrolator, der seine Rolle als Komponist und Musiker eher experi· mentell interpretiert. Teil der Düsseldorfer Szene ist außerdem der Petior· mancekünstler Padeluun, zeitweise Mitglied bei der Performance· und Musikgruppe Minus Delta t, die mit ihren experimentellen Aktionen (u.a. der "Putzaktion« 1978) in Knoebels Ratinger Hof auftritt." Bei Minus Delta t spielt wiederum auch Chrislo Haas, der außerdem bei Charleys Girls, Mit· tagspause und der frühen DAF spielte und 1981 mit Beate Bartel (ehemals Mania D) Liaisons Dangereuses gründet, ein im Bereich der modernen elek· tronischen Musik einflussreiches Pionierprojekt. Diese personellen, strukturellen und künstlerischen Verflechtungen zwi· schen der frühen Düsseldorfer NDW und der zeitgenössischen Kunst bilden eine Parallele zum US·amerikanischen und englischen Punk. Der US·ameri· kanische Punk, der sich um den New Yorker Club CBGB's herum entwickelt, ist eine experimentelle Szene, die Lyrik und (Beat· )Literatur, Jazz und Bil· dende Kunst 18 mit einschließt. Der britische Punk - wie überhaupt britische Popmusik - wird teilweise von den britischen Art Schools geprägt, zu nen· nen wären hier unter vielen anderen die Bands Joy Division, Magazine, Pere Ubu, Cabaret Voltaire oder The Pop Group. Von der zeitgenössischen deut· schen Presse wurde allerdings über diese avantgardistische Seite des USo amerikanischen und englischen, aber auch des deutschen Punk nur wenig berichtet. Ein genauer Blick auf die Strukturen und Protagonisten der Düs· seldorfer Punk· und NDW·Szene zeigt zum einen die relative Eigenständig· keit der verschiedenen lokalen Punk· und NDW·Szenen und zum anderen, dass die Affinität zur zeitgenössischen Kunst, die sich in Strömungen wie den Genialen Dilletanten 19 manifestiert, dem Punk und damit auch der NDW von Beginn an inhärent war. Die Band Fehlfarben ist zwar nicht als Speer· spitze dieser Avantgarde·Strömung aufzufassen, doch der Schnitt, den die Band durch ihre Neuformierung, durch die stilistische Fortbewegung weg vom Pogo·Punk zu einer neuen Stilistik und auch durch die Wahl eines Major·Labels macht, ist in diesem Zusammenhang lesbar als Ausweis des künstlerischen Innovationspotentials dieser Szene und ihrer Einbindung in kulturelle Zusammenhänge.

17 Die Band wird 1978 in Zürich gegründet, tritt aber vor allem im deutschen Raum auf und ist personell durch Chrislo Haas und Padeluun eng an die Düssel· dorfer Szene angekoppelt. Auch Minus Delta t tritt später bei der Documenta 8 (1987) auf. 18 Auch hier gibt es eine personale Verbindung: Die Punk·Musikerin (und Autorin) Patti Smith war mit dem Fotografen und Künstler Robert Mapplethorpe liiert. 19 Dazu gehören u.a. Wolfgang Müller und Frieder Butzmann sowie die Bands Ein· stürzende Neubauten, Die Tödliche Doris oder Din A Testbild.

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Geschichte der Band

Als die Band Mittagspause unter dem Namen Fehlfarben und mit einer ersten Single mit dem Titel »Freiheit & Abenteuer / Große Liebe« zum MajorLabel EMI wechselt, ist das in der Szene, die sich als »independent«, als ideologisch und ökonomisch autark, begreift, umstritten_ Das Bandmitglied Thomas Schwebel erinnert sich:

»Das war ja das Schlimmste, was man tun kOilllte. Aber die Möglichkeiten bei den Independents waren beschränkt. [ ... ] Und unsere bisherigen Platten klangen alle scheiße. [ ... ] Alfred Hilsberg hat uns am Telefon angefleht: ,Macht das nicht! Geht nicht zur Industrie!< Aber dieses Paralleluniversum der Unabhängigen weiter mit aufzubauen hätte für lffiS nur Sinn gemacht, wenn es wirklich besser gewesen wäre als das bestehende Universum« (Thomas SchwebeI, in Teipe12001: 2561.). Trotz dieser Vorbehalte gilt die LP Monarchie und Alltag auch innerhalb der Szene als künstlerischer Höhepunkt. Zugleich ist es eine der Platten, die öffentliche Aufmerksamkeit zumindest in Fachkreisen generiert und damit zur Verbreitung der NDW beiträgt. Interessanterweise hat der hier im Mittelpunkt stehende Song »Ein Jahr (Es geht voran)« damit zunächst kaum etwas zu tun. Dass er der erfolgreichste Titel der Band werden würde, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar - der Song wird in der ersten Plattenkritik der Zeitschrift Sounds nicht einmal erwähnt. Stattdessen gelten andere Songs wie »Paul ist tot« oder »Gottseidank nicht in England« als Insignien einer neuen deutschen Popmusik. Die Band erreicht innerhalb der Szene einen gewissen Status, an sie werden große Erwartungen gestellt. Besonders der Sänger und Texter Peter Hein gilt als »Leitfigur dieser neuen deutschen Popmusik« (Alfred Hilsberg, in ebd.: 288). Doch der schnelle Erfolg erweist sich als Problem. Die ganze Band hat Schwierigkeiten, mit dem Druck und der plötzlichen Prominenz zurechtzukommen. Doch nur Peter Hein zieht daraus radikale Konsequenzen: »Als ich bei Fehlfarben aufgehört habe, war das nicht mehr meine Welt. Was wir beweisen wollten, hatten wir bewiesen. Dass wir gut sind, hatten wir bewiesen. Und nun ging es einfach nur noch darum, das weiterzumachen« (Peter Hein, in ebd.: 289). Nach einer ersten Tournee zusammen mit der britischen Punkband 999 steigt er aus und hinterlässt seine Band und die Szene ratlos und verärgert. »Und das habe ich ihm übel genommen: er hätte die deutsche Langeweile ganz alleine aus den Angeln heben können -

mit etwas mehr Professionalität« (Carmen Knoebel, in

ebd.: 288).

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Vor diesem Hintergrund ist die Strophe »Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran« geradezu exemplarisch für die Bandgeschichte lesbar. Hinter den Statements und persönlichen Entscheidungen zeigt sich ein kulturelles Muster, das für die Entwicklungen von Bands im Moment des Erfolgs immer wieder greift: plötzlicher Erfolg als existentielle Gefährdung. Das schnelle Vorangehen, der rasante - atemlose - Erfolg und der plötz· liche Bruch kommen dicht hintereinander. Ja, man kann sagen, der Erfolg führt überhaupt erst zum Split. Weil die Band Geschichte macht, wird sie jedenfalls in dieser Besetzung - selbst nach kurzer Zeit zu Geschichte.

IV NDW zwischen Subkultur und Mainstream Der überraschende Schritt Heins fordert auch andere dazu heraus, über Ide· ologie und Ökonomie, über Exklusivität und Sendungsbewusstsein, letztlich auch: über Punk als Lebensstil, neu nachzudenken. »Er hatte einfach ver· standen, was Punk ursprünglich mal bedeutet hatte, und wollte das nicht kommerzialisieren« (Morltz R., in ebd.: 289). Auch die Entscheidung der Band, bei EMI zu unterschreiben, rückt so erneut in den Fokus. »Aber Peter Hein wurde dann als der heldenhafte Verweigerer vor den Fängen des Kom· merzes dargestellt. Während wir den Ärger hatten« (Thomas Schwebel, in ebd.: 290). Der Song »Ein Jahr (Es geht voran)« öffnet den Blick auf das schwierige Verhältnis von Szene und Mainstream. Denn er erreicht seinen Erfolg erst lange nach dem Erscheinen des Albums und außerhalb der Szene. Eineinhalb Jahre nach dem Album veröffentlicht EMI »Ein Jahr (Es geht voran)« als Single. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt, denn zu diesem Zeitpunkt ist die NDW auf ihrem kommerziellen Höhepunkt. Die NDW· Musiker und Fans der ersten Stunde allerdings distanzieren sich längst von diesem ökonomischen Erfolg, von den neuen Stars und von dem Kürzel NDW. Dennoch geht das Kalkül der Plattenfirma auf: Der Song erreicht die bundesdeutschen Top 20 - aus dem Szene·Album geht eine Hitsingle hervor. Dieser Erfolg des Fehlfarbensongs ist symptomatisch für die Entwicklung der NDW: Selbst unverdächtig durch seine Herkunft aus dem Kern der Düs· seldorfer Szene, entwickelt er sich zu einem Symbol des Ausverkaufs. Zu· gleich ist er aber auch ein Bindeglied zwischen dem Beginn und dem Ende der NDW. Und er ist ein Beleg dafür, dass eingängige Riffs und mitsingtaug· liche Melodien kein Monopol des Mainstream sind. Eine »selbstbewusste, intelligente, und dabei hochgradig tanzbare Hymne« - so beschreibt Peter Felkel den Song in seiner Würdigung für den 5. Platz der »100 besten deut· sehen Platten» des Musikexpress (2001: 216). Die Hymnenartigkeit dürfte

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ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass die Hausbesetzerszene der 1980er Jahre den Song für sich entdeckt - als logische Fortsetzung und eingängige Version des Slogans »Geschichte wird gemacht«, der schon in der Arbeiter- und der Studentenbewegung kursierte_ Dass sich Punk und NDW als Opposition zur Generation der Achtundsechziger verstanden, spielte für diese Aneignung keine Rolle_ Für die Band und insbesondere Peter Hein war dies jedoch Beifall von der falschen Seite_ »Aber ich fand das dann ziemlich scheiße_ Ich war ja nicht unbedingt Hausbesetzersympathisant- [ ___ 1 Aber dann dachte ich: , Na gut, das Stück sollen sie nehmen_ Kann ich eh nicht leiden«· (Peter Hein, in Teipel 2001: 291). Zu dieser Haltung Heins passt die viel kolportierte Geschichte, dass der Song von der Band selbst gar nicht für das Album favorisiert wurde, so jedenfalls erzählt es die Homepage der Band: »In letzter Minute kann EMI· Mensch Horex Luedtke (,is sonst zu kurz, ne?, ) die Band überreden, den absolut unbeliebtesten Titel doch noch auf die Platte zu nehmen, auch wenn die Band ihn hasst: ,Ein Jahr· (Es geht voran)>> (Fehlfarben o.J.). Und zwei· fellos gibt es poetischere Songs auf der Platte und solche, die kämpferischer, differenzierter und persönlicher sind_ Aber eben kein Stück mit solch einem Slogan, der sich mit einem so einprägsamen Riff so ideal verbindetDie Einheit aus Text und Ton macht den Satz »Es geht voran« zur Parole, die kompromisslos nach vorn deutet- Der Erfolg des Songs führt aber dazu, dass nicht mehr von der Band oder der Ideologie der Szene bestimmt wird, wo dieses »vorn« eigentlich ist, für welches Konzept von Popmusik oder Subkultur oder Gesellschaft es stehen solL Der Song entwickelt ein Eigenleben - bis in die Gegenwart hinein, wo er der Zeitschrift Focus im Jahr 2008 als Überschrift zur Finanzkrise dient 20 oder in Scripted Reality-Formaten wie »Wohnen nach Wunsch« als Jingle Aufbruch und Tatkraft repräsentiert_ Geschichte wird gemacht -

in diesem Zusammenhang bedeutet die

Zeile eine Entfremdung: Geschichte macht ein Song, der zwar aus der NDWSzene stammt, dort aber wenig Reputation hat- Er macht Geschichte zu einem Zeitpunkt, als die NDW selbst schon fast wieder Geschichte ist- Und er macht Geschichte in Szenen und Zusammenhängen, denen die NDW eigentlich oppositionell gegenüber steht- Damit kommt ein weiteres kulturelles Muster in den Blick: Die Aneignung des Songs durch Außenstehende und der Übergang von der Subkultur in den Mainstream: Was am Ende NDW ist und was nicht, entscheiden nicht mehr diejenigen, die diese Szene geprägt haben, sondern Produzenten, Medien, Publikum_ Mit »Ein Jahr (Es geht voran)« wird Popgeschichte gemacht - aber von den vermeintlich falschen Kräften_

20 http://www.focus.de/finanzen/ newsl editorial'geschichte' wi rd ·gemacht_aid_ 337321.html (Zugriff: 4.3.2013).

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V Zeitgeschichte Die Herkunft der NDW aus dem Punk wird unter anderem darin deutlich, dass die Songs sich auf Gegenwärtiges beziehen, der eigenen Welterfahrung unmittelbar Ausdruck verleihen. Dies führt dazu, dass die NDW deutsche Texte hat - es heißt nicht umsonst Neue Deutsche Welle. Und es hat zur Folge, dass die Texte häufig konkret, nüchtern und kurz sind. Emotionale Aufladungen und sentimentale Poetisierungen durch Adjektive, durch deo taillierte Ausschmückungen oder Metaphern sind selten.

Fehlfarben: »Ein Jahr (Es geht voran)« (1980)21 Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Es geht voran. Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit. Es geht voran. Berge explodieren, Schuld hat der Präsident. Es geht voran. Graue B-Fihn-Helden regieren bald die Welt. Es geht voran. Der Song »Ein Jahr (Es geht voran)« folgt im Wesentlichen diesem Muster: Die Sätze sind kurz, schlicht und prägnant, sie bestehen fast immer aus einer Zeile und die nur aus zwei bis vier Worten. Adjektive findet man kei· ne, ebenso wenig poetische oder bildhafte Zeilen. Nahezu jede Zeile könnte auch eine Schlagzeile sein. Diesbezüglich steht der Text in einer Reihe mit Songtexten anderer NDW-Bands wie Abwärts, DAF oder S_Y_P_H_ Inhaltlich allerdings bewegt er sich über den Horizont des Unmittelbaren hinaus. In den Blick genommen wird nicht mehr nur das nahe gelegene AKW, die Auto· bahn oder der Ratinger Hof, sondern die Welt. Zugleich ist der Text in die· sem Zugriff auf Welt ausgesprochen vage bzw. sogar rätselhaft. Die ersten drei Zeilen sind zwar catchy, aber unkonkret: »Keine Atempause, Geschich·

21 Auf dem Innencover der LP sind die Texte, wie häufig in der NDW, ohne Satz· zeichen und in Kleinschreibung abgedruckt. Zugunsten einer besseren Lesbar· keit, auch im Verlauf des Textes, habe ich den Text diesbezüglich angepasst.

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te wird gemacht. Es geht voran« - drei Slogans des Aufbruchs, die ideologisch und historisch unbestimmt bleiben_ Dennoch sind sie voraussetzungsfrei verständlich, was für die drei weiteren Strophen nicht gilt. »Spacelabs fallen auf Inseln« ist zwar inhaltlich verständlich, aber ergibt nur bedingt Sinn: Denn das erste Spacelab fliegt erst 1983, es konnte also 1980 nicht abgestürzt sein_ Denkbar ist, dass die Zeile den Absturz der US-Raumstation Skylab im Pazifik 1979 auf das neue ESARaumfahrt-Modul bezieht. Denkbar ist aber auch, dass es außer dem Raumfahrt-Begriff Spacelab überhaupt keinen konkreten Hintergrund gibL Dass sich - über was auch immer - Vergessen breitmacht, verweist ebenfalls nicht auf ein benenn bares moralisches Versagen, sondern allgemein auf die kurze Halbwertszeit, die die öffentliche Aufmerksamkeit bei Katastrophen hat. Ähnlich vage sind die Angaben bei den explodierenden Bergen_ Welche Berge wo und warum explodieren, bleibt offen_ Klar ist nur: Schuld an der nicht weiter spezifizierten Naturkatastrophe trägt der Präsident. Nur welcher? Selbst den noch relativ genauen Hinweis auf Ronald Reagan durch »graue B-Film-Helden« wird zum Erscheinungsdatum nur entschlüsseln, wer im Jahr 1979 den US-amerikanischen Vorwahlkampf verfolgt haL Es geht dem Text aber auch nicht um das Konkrete, sondern um Atmosphäre_ Er verknüpft Katastrophen mit parolenartigen Sätzen, einfachen Schuldzuweisungen und pauschalen Diagnosen_ Die wiederkehrende Zeile »Es geht voran« vermittelt als sarkastischer Kommentar gen au ihr Gegenteil: Hier geht nichts voran, aber viel schieL Damit knüpft der Song an die Endzeitstimmung der späten 1970er Jahre an, die geprägt sind von kaltem Krieg, Terrorismus und Rezession, und überträgt sie in den Pop_ Zugleich nutzt er das Mittel der Ironie, das auch schon im Punk eingesetzt wurde_ »Geschichte wird gemacht« kann durchaus buchstäblich verstanden werden, nur eben nicht als optimistischer Aufbruch linker Bewegungen_ Der Slogan vermittelt nicht: Nimm Dein Leben und Dein Schicksal selbst in die Hand_ Sondern: Die Geschichte machen immer die Falschen_

VI

Popgeschichte

Der Satz »Geschichte wird gemacht« ist geeignet, die verschiedenen Ebenen und Beziehungen zu beleuchten, auf und mit denen rund um den Song, die Band und die NDW Geschichte gemacht wurde_ Allerdings sind dies alles Vorgänge, die sich entweder szene-intern vollziehen (der Ausstieg Peter Heins und die Reaktionen darauf) oder bei denen Zeitgeschichte als Einfluss von außen auftaucht (Punk, Aneignung durch den Mainstream) oder bei

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denen man sich auf Zeitgeschichte erzählend bezieht. Die NDW scheint hier lediglich Reaktion, Folge von Geschichte zu sein, ein kultureller Neben· effekt, von dem selbst keine Wirkung auf Kultur und Gesellschaft ausgeht. Ziel der hier vorgestellten Methode ist es aber, dieser Art von Hierarchisie· rung eine Untersuchung von Wechselwirkungen entgegenzustellen. Wo also ist eine Wirkung des Songs und/oder der NDW zu beschreiben? Gibt es eine echte Zirkulation? Auf der thematischen Ebene fällt vor allem die Verarbeitung des Alltags auf und die Herausarbeitung seiner poetischen Kraft. Dies prägt auch die Fehlfarben-LP Monarchie und Alltag_ Die Songs erheben »nur» den Anspruch auf Realitätsnähe, ihr Realismus verleitet weder zum Protest noch zum Romantisieren. Statt Agitation hört man lakonische Feststellungen - »Die Gegenwart ist auch nicht berauschend« (»Hier und jetzt«) -, statt Liebesschwüren scheiternde Annäherungen - »Doch jedes Mal, wenn ich sie seh', weiß ich nicht, wie es geh'n soll, ich find' nicht den Dreh« (»Grauschlei· er«). Die Songs haben ihre Heimat in der urbanen Tristesse: »Es liegt ein Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat» (»Grauschleier«)_ Straßen, Kneipen, Flipper und Reklametafeln sind ihr Umfeld. Das Albumcover zeigt folgerichtig einen trostlosen Nachkriegsbau mit Werbetafel und Metallzäunen. Songs und Cover wirken wie eine Entspre· chung zu den Fotografien von Thomas Struth, einem Düsseldotier Foto· Künstler, der das präzise Sehen in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt und in den 1970er Jahren eine Reihe von Straßen· und Stadtfotografien anfertigt: Struth hat von 1973 bis 1980 an der Kunstakademie Düsseldorf Malerei (bei Gerhard Richter) und Fotografie (bei Bernd Becher) studiert und fotografiert 1979 eine Reihe menschenleerer Düsseldorfer Straße, die in ihrer leeren Nüchternheit wie eine Illustration der NDW·Songs wirken. Zwar gibt es in diesem Fall keine personale Verbindung von NDW und der Kunstszene, aber eine kulturelle: Wie die Fehlfarben hat auch Struth einen unsentimentalen Zugriff auf die Gegenwart; er will abbilden, sonst nichts. »It was important to Struth that the photographs were a systematic documentation of ordinary streets in an unremarkable, reconstructed German city rather than the result of personal selection« (Lingwood/Bezzola 2010). Die Dokumentation von Gegenwart ist eine Agenda von Punk und NDW ebenso wie von zeit· genössischer Kunst und Kultur. Damit zeigt sich die NDW als Teil einer größeren kulturellen Strömung, in der diese Idee der Realitätsdarstellung zirkuliert. Dass Anfang der 1980er Jahre schließlich sogar der Schlager ver· stärkt sozialkritische Themen aufgreift - vgl. »Ein bisschen Frieden« (Nicole 1982), »Karl der Käfer« (Gänsehaut 1983), »Rücksicht« (Hoffmann Ii Hoffmann 1983) oder »Jenseits von Eden« (Nino de Angelo 1984) - kann als un-

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beabsichtigte Nebenfolge dieser Zirkulation aufgefasst werden, denn diese verläuft weder geordnet noch kontrollierbar. Dass die Adaption dieser Idee im Schlager stilistisch anders und ganz und gar Punk·fern ausfällt, folgt den Gesetzen der Genres. Interessant ist, dass zu diesem Zeitpunkt die NDW diese Art von Realismus weitgehend hinter sich gelassen hat und stattdessen mit Songs Erfolge feiert, die ihrerseits den Schlager ironisch unterbieten oder sich einem eindeutigen Sinn gleich ganz versperren. Schlager und Inde· pendent·Pop scheinen 1982 zumindest thematisch für einen kurzen Moment die Rollen vertauscht zu haben. Dies bedeutet aber nicht automatisch, dass die NDW generell affirmativ und der Schlager progressiv geworden sind, sondern vielmehr, dass diese Kategorien und die mit ihnen identifizierten Genrezugehörigkeiten zunehmend ins Wanken geraten. Neben solch thematischen Zirkulationen zwischen Kunst und Schlager, bei denen Ursprung und Wege kaum genau nachvollzogen werden können, sind aber auch konkrete Wirkungen der NDW auf Kultur· und Zeitgeschichte beschreibbar - und zwar nicht so sehr in dem, was politisch oder weltan· schaulich formuliert wird, sondern darin, wie formuliert wird. Die auffäl· ligste und am klarsten identifizierbare Folge ist natürlich die Etablierung deutscher Texte in der deutschen Popmusik. Nach der NDW sind es nicht mehr nur versprengte Einzelkünstler oder Szene· Bands, die deutsch singen, sondern die deutsche Sprache wird bzw. bleibt »normal«. Dieser Einfluss auf die bundesdeutsche Popmusik ist die unumstritten größte kulturelle Wirkung der NDW. Sie ist allerdings nicht die einzige. Die NDW entwickelt künstlerische Strategien, die einen deutlichen Uno terschied markieren zur Musik der Vorgängergenerationen, der Linken wie der Achtundsechziger: Statt mit programmatischen Statements, identifizier· baren Positionen und Zukunftsutopien agiert die NDW eher mit Verrätselun· gen, Anspielungen und Scheinaffirmationen. Auch bei »Ein Jahr (Es geht voran)« wird zwar mit politischen Inhalten gespielt, eine klare, vielleicht sogar agitatorische Aussage aber konsequent vermieden - trotz der paro· lenartigen Sprache. Der Song stellt keine Forderungen, sondern lässt viele Bedeutungs·Lücken, die die Hörer selbst schließen können - oder eben auch nicht. Solche stilistischen Strategien - Verrätselung, taktische Affirmation, Selbstreflexivität, aber auch die repetitiven Elektroloops von DAF - markie· ren jedoch nicht nur den Unterschied zu Vorgängerkulturen, sondern antizi· pieren bereits den Pop der Postmoderne. Die Stile, die in den 1990er Jahren die deutsche Popmusik prägen werden, ob Techno, Hamburger Schule oder deutscher HipHop, tragen alle in unterschiedlicher Weise die ästhetischen und programmatischen Spuren der NDW.

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Diese traditionsstiftende Wirkung kann interessanterweise, und hier schließt sich ein Kreis, nur eintreten, weil die NDW Mainstream wird. Die Durchsetzung der deutschen Sprache wäre einer unbedeutenden Szene ebenso wenig dauerhaft gelungen wie die Etablierung neuer ästhetischer Mittel. Ausgerechnet der Vorgang, der als entfremdend, ja, als Enteignung wahrgenommen wird - und zwar von der Szene selbst ebenso wie (immer noch) von wesentlichen Teilen von Wissenschaft und Publizistik -, ermög· licht erst die historische Wirkung des Stils. Geschichte macht die NDW, weil mit ihr und aus ihr Geschichte gemacht wird. Erst die Verbreitung über die Szene hinaus macht sie geschichtsfähig. Der Fehlfarben·Song ist daher bei· des: Symbol der Enteignung, aber auch Symbol historischer Wirksamkeit.

Fazit Selbstverständlich kann mit »Ein Jahr (Es geht voran)« nicht die NDW als Ganzes in den Blick genommen werden. Nicht einmal die Band Fehlfarben kann damit umfassend erklärt werden. Denn der am New Historicism orien· tierte methodische Zugriff, der hier vorgeschlagen wird, ist an der Verfasst· heit eines historischen Subjekts weniger interessiert als an seiner Einbet· tung. Statt einer Metaerzählung wird mikrohistorisch und konkret, ausge· hend von einem Artefakt, ein Netz von Zusammenhängen sichtbar gemacht, das zwar nicht vollständig, nicht teleologisch und nicht auf eine These hin organisiert ist, aber dennoch eine erklärende und repräsentative Kraft ent· falten kann. Es hat sich gezeigt, dass das in den Blick kommende Feld durch das Nachspüren der verschiedenen Bezüge viel größer und umfassender ist als der Ausgangssatz. Der Fokus auf diesen einen Satz wirkt wie ein Vergrö· ßerungsglas auf die Verankerung der Zeile und des Songs in seinen Kontex· ten und der Geschichte. Diesen einzelnen Fäden folgen viele weitetiühren· de Diskursfäden. Im Nachzeichnen dieser Fäden wird sichtbar, dass der Song »Ein Jahr (Es geht voran)>> zur Herkunft des Punk führt und zur Entwicklung der Band innerhalb der Düsseldorfer Szene, aber auch stellvertretend für wichtige Entwicklungen des Stils und der Zeitgeschichte gelesen werden kann. Ein anderer Pfad zeigt wiederum, wo die NDW auf die Entwicklung der Popmusik zurückwirkt. Wenn also mit Fluck anzunehmen ist, dass »mit jeder Analyse eines Einzelphänomens [ ... ] in den Geisteswissenschaften explizit oder implizit der Anspruch eines Erkenntnisgewinns über jene Kultur gege· ben [ist], der das Phänomen zugehört» (Fluck 1995: 230), dann hat sich in diesem Versuch die Methode als tauglich erwiesen: Der Song »Ein Jahr (Es geht voran)« hat historische und kulturelle Aussagekraft entwickelt. Seine

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Autorität als aussagekräftiger Gegenstand wurde dadurch während der Analyse selbst ständig neu plausibilisiert und bestätigtVoraussetzung dafür ist aber die Wahl eines entsprechend vielversprechenden Ausgangspunkts_ Für eine mikrohistorische Analyse dieser Prägung sind vor allem Artefakte oder Ereignisse aufschlussreich, die ein hohes Maß an Informationsdichte haben und verschiedene Diskurse vereinen_ Dies zeigt: Die Herangehensweise des New Historicism ist nicht voraussetzungsfrei und bewegt sich auch nicht jenseits tradierter (z_ B_ hermeneutischer) Verfahren_

»Doch gilt andererseits für den Bereich literar- und kulturgeschichtlicher Analyse, daß ein konsequent 'poetisches< Interpretationsverfahren letztlich unrealisierbar bleibt, und es daher auch für den New Historicism unumgänglich ist, dem Interpretationsgegenstand Bedeutung auf der Basis eines Systems von interpretatorischen Vorentscheidungen über den Verlauf geschichtlicher Entwickhmg und den Charakter der zur Analyse stehenden Gesellschaft zuzuordnen« (Fluck 1995: 234; Hervorhebung im Original). Gerade weil diese enthierarchisierende Methode auf das perspektivierende Subjekt und die Autorität einer großen Erzählung verzichtet, stellt sich die Frage nach der Präsenz, Wirksamkeit und Notwendigkeit von Vorannahmen und Entscheidungsgrundlagen. Sowohl historische Orientierung als auch ein breites Wissen kultureller Zusammenhänge sind nötig, um überhaupt abschätzen zu können, welche Gegenstände in Hinblick auf ihre diskursive Verschränkung und Aufladung interessant sind. Insofern verzichtet dieser Ansatz nicht auf konventionell erworbenes Wissen, sondern auf die damit verbundenen hegemonialen Deutungsstrukturen. Denn die nicht teleologische Vorgehensweise hat den Vorteil, dass zunächst alle Diskursfäden, die sich zwischen den populären Songs und anderen Texten aufspannen, gleich wichtig sind. Sie ist darum zum einen geeignet, die Breite des kulturellen Kontextes zu zeigen und zum anderen vermindert sie die reflexhafte Reproduktion bereits bekannter Deutungsstrukturen durch Selektion (z. B. dass der Song, den die Band nicht leiden konnte, auch nicht repräsentativ für sie sprechen kann). Einer hegemonial geprägten Universalgeschichte setzt diese Art von Geschichtsschreibung einen detailorientierteren, weniger hierarchischen und dadurch offeneren Zugang entgegen, mit dem auch marginalisierte Diskurse wieder in den Blick und auf die historiografische Landkarte gelangen können. Wenn man also den New Historicism als »Kulturpoetik« versteht, dann kann diese historiografische und kulturanalytische Methode, die in der Erforschung der englischen Renaissance entwickelt wurde, unter Berücksichtigung aller Differenzen, Anregung und Inspiration sein für die Erforschung

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der Geschichte(n) populärer Musik. Sie bietet eine Möglichkeit, dem Dilem· ma einer letztlich immer unzureichenden und lückenhaften Metageschichte nicht nur zu entgehen, sondern dem etwas anderes gegenüberzustellen: Den Blick auf konkrete Ausschnitte der Geschichte, auf Verknüpfungen, Austauschprozesse und die Momente, in denen Geschichte »gemacht« wird. 22 Die Materialbasis ist breiter und diversifizierter, sie schließt vor allem künstlerische Texte als gleichwertig ein. Auch auf inhaltlicher Ebene werden über das System der Repräsentation politische,

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künstlerische Diskurse ohne hierarchische Abstufung als komplexes und heterogenes System verstanden. Der Song ist nicht mehr nur »Ausdruck seiner Zeit«, nicht mehr Ausdruck sozialer Normen (bzw. ihrer Abweichung), sondern »Medium komplexer Weltaneignung und Weltauslegung« (Kaes 1995: 263). Auf der Ebene der Darstellung verbindet sich die Detail· und Archivarbeit mit bewusst subjektiver Präsentation, »in der das nicht·Syste· matische, Widersprüchliche, Kontingente, ja Zufällige betont wird« (ebd.). Damit vermeidet die Kulturpoetik Vereinheitlichung und Universalisierung zugunsten von Pluralität und Heterogenität. Für die Geschichtsschreibung populärer Musik können kulturpoetische Untersuchungen also aus mehrfacher Sicht eine wertvolle Ergänzung sein: Gerade weil für Popmusik eine besonders hohe Aufladung mit Widerstands· diskursen in Anspruch genommen wird, ist es sinnvoll, auch bei ihrer histori· schen Aufarbeitung Austauschprozesse von unterschiedlichen Macht· und Widerstandsdiskursen nicht nur vorauszusetzen, sondern ganz konkret in den Blick zu nehmen. Zweitens entspricht der pluralistische und heterogene Ansatz der Kulturpoetik der Heterogenität der populären Musik, die hier nicht in eine Vereinheitlichung gezwungen wird. Die Methode ist außerdem geeignet, minoritäre Gegenstände, Stile, Bewegungen und Diskurse in der Geschichtsschreibung sichtbar zu machen. Drittens wird in der Kulturpoetik nicht nur über, sondern mit Musik gesprochen. Die Artefakte haben eine gleichberechtigte Position gegenüber Zeugnissen politischer Zeitgeschichte oder soziologischen Daten. Die Kulturpoetik bewegt sich damit jenseits einer Historiografie, die die Geschichte populärer Musik nur als Abfolge von Stilen schreibt, und ebenso jenseits einer Historiografie, die sie nur als Reflex auf politische und gesellschaftliche Strömungen auffasst. Wenn popu· läre Musik davon lebt, dass sie soziale Energie besitzt, dann ist die Kultur· 22 Die Auswahl solcher Ausschnitte und Ausgangspunkte ist, wie bereits betont, nicht zufällig, sondem geprägt vom jeweiligen Erkenntnisinteresse, von Annah· men über Erfolgsaussichten, von Vorannahmen, aber auch von Erfahrung (vgl. S. 87). Insofem ist die Auswahl der zu analysierenden Verknüpfungen, Ausschnitte oder Kulminationspunkte nie völlig frei von wissenschaftlichen und gesellschaft· lichen Hegemonien.

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poetik eine Möglichkeit, diese soziale Energie auch in ihrer Geschichtsschreibung präsent zu halten_

Literatur Baßler, Moritz (1995). "Einleitung: New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur.« In: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hg. v. dems. Frankfurt/M.: Fischer, S. 7·28. Bloch, Marc (2000). Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Hg. v. Peter Schöttler. Frankfurt/M.: Campus. Bloch, Marc / Braudel, Femand / Febvre, Luden (1977). Schrift und Materie der Geschichte, Vorschläge zu systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. v. Claudia Honegger. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bunz, Mercedes (2006). "Die Ökonomie des Archivs. Zum Geschichtsbegriff von Jacques Derrida zwischen Kultur· und Mediengeschichte.