Musik im Zeitalter der Globalisierung: Prozesse - Perspektiven - Stile [1. Aufl.] 9783839429051

On the globalization of music culture: What are its effects? Can globalization be perceived through music? This study pr

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German Pages 228 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“
II. Stockhausens Weltmusik
III. Jamaikanischer Ska im globalen Kontext
IV. Traditionen der world music
V. Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Fallbeispiele
Bibliographische Angaben
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Musik im Zeitalter der Globalisierung: Prozesse - Perspektiven - Stile [1. Aufl.]
 9783839429051

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Daniel Siebert Musik im Zeitalter der Globalisierung

Musik und Klangkultur

Daniel Siebert, Musikwissenschaftler und Soziologe, hat an der Universität zu Köln im Fach Musikwissenschaft promoviert.

Daniel Siebert

Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse – Perspektiven – Stile

Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel »Musik im ›Zeitalter der Globalisierung‹: Gemeinsamkeiten und Differenzen dreier Fallbeispiele« von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2905-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2905-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt   Vorwort |  I

Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“ |  

1 2 3 4 5 6 7 8

Definitionen der Globalisierung | 12 Historische Verortung der Globalisierung | 14 Das „Zeitalter der Globalisierung“ | 16 Musik im Zeitalter der Globalisierung | 18 Gesellschaftliche Verortung der Globalisierung | 22 Modelle der kulturellen Globalisierung | 23 Forschungsstand: Musik und Globalisierung | 25 Gliederung, Relevanzen und Fragestellung | 28 8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 31 8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 32 8.3 Informell-kulturelle Reflexivität | 35 8.4 Prozesse der Globalisierung | 37 8.5 Musikalische Fallbeispiele | 37

II

Stockhausens Weltmusik |   Stockhausens Texte zur Weltmusik | 45 TELEMUSIK und HYMNEN | 56 Musikalische Analyse: HYMNEN | 65 3.1 Anfang und „Internationale“ | 66 3.2 „Deutsches Zentrum“ | 69

1 2 3

4 5

III

1

2

3

IV

1 2

3

4

3.3 UdSSR und USA | 72 3.4 „Hymunion“ und Schluss | 77 Der transnationale Gedanke in HYMNEN | 79 Global village und Stockhausens Weltmusikkonzept in HYMNEN | 85 Jamaikanischer Ska im globalen Kontext |   Jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik | 97 1.1 Die afrikanische Traditionslinie | 97 1.2 Mento, R ’n’ B und Soundsystems | 99 1.3 Jamaikanischer Ska | 104 1.4 Rocksteady und Reggae | 113 Adaptionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der Skinheads in Großbritannien | 126 2.1 Two-tone | 135 Die Entbettung des Ska in Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und transnationaler Identität | 138 Traditionen der world music |   World music: konstruierte Traditionen einer globalen Welt? | 146 1.1 Paul Simon | 149 Afrikanische Populärmusik als hybride world music | 161 2.1 S. E. Rogie | 162 2.2 Orchestra Baobab | 167 2.3 Baaba Maal | 169 World music im Spannungsfeld der Globalisierungsdebatte: Heterogenisierung versus Homogenisierung der Musikkultur | 171 Die globale Netzwerkgesellschaft: Neue Möglichkeiten für die world music im Zeitalter der Globalisierung? | 176 4.1 Vampire Weekend | 179

V

Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Fallbeispiele |  

1 2

Modelle der kulturellen Globalisierung | 194 Perspektiven und Prozesse im Zeitalter der Globalisierung | 197 2.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 197

3

2.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 199 2.3 Informell-kulturelle Reflexivität | 199 2.4 Prozesse der Globalisierung | 200 Fazit | 202 Bibliographische Angaben |  

Abkürzungsverzeichnis | 207 Diskographie | 207 Filmographie | 208 Internet-Seiten | 208 Musikalien | 208 Verwendete Literatur | 209

Vorwort

Als im Jahr 2007 die Idee dieser Arbeit entstand, war der Ansatz, Globalisierungstheorien mit musikalischen Fallbeispielen zu verknüpfen, ein vergleichsweise neuer Gegenstand der musikwissenschaftlichen Forschung. In den folgenden Jahren nahmen die Publikationen zu diesem Thema jedoch stetig zu, so dass man mittlerweile von einer recht guten Literaturlage sprechen kann, obwohl nicht alle Thematiken in diesem Zusammenhang erschlossen wurden. Bildeten 2007 Werke von Max Peter Baumann, Philip Bohlman oder Veit Erlmann die musikethnologische Ausnahme, so entstanden angefangen mit dem Band Musik und Globalisierung, herausgegeben von Christian Utz, weitere Publikationen – zum Beispiel von Susanne Binas-Preisendörfer oder Bob White –, welche versuchen, Musik und Globalisierung analytisch zu verbinden. In diesen Tagen erscheint auch das neue Buch von Christian Utz, Komponieren im Kontext der Globalisierung, in dem Utz Konsequenzen und Schwierigkeiten der Reflexivität kultureller Globalisierung für die Kunstmusik im 20. und 21. Jahrhundert diskutiert und zudem systematische Perspektiven für eine globale Musikhistoriographie und kompositorische Praxis konzipiert. Die stetig anwachsende Literatur zum Thema Musik und Globalisierung bestärkte mich darin, auf dem richtigen Weg zu sein: Anscheinend hatte ich hier einen wissenschaftlichen Gegenstand aufgegriffen, der viele Kollegen1 beschäftigt und offenbar den Nerv der Zeit trifft; zahlreiche Gespräche und Diskussionen auf Symposien und Kongressen bestätigten diese Annahme.

1

In dieser Arbeit sind bei männlichen Funktionsbezeichnungen in der Regel immer auch die weiblichen Formen mitgemeint.

10 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG

Gegen Ende meines Studiums beschäftigte ich mich intensiv mit Ulrich Becks populärem und gesellschaftstheoretischem Ansatz einer „Zweiten Moderne“. Es drängte sich die Frage auf, ob es denn hierzu musikalische Beispiele gäbe, die diese „Zweite Moderne“ repräsentieren. Schnell wurde allerdings klar, dass Becks theoretischer Ansatz – trotz sporadischer Versuche von Heinrich Klotz2 Mitte der 90er Jahre – sich nicht dazu eignete, einen klaren Kriterienkatalog zu erarbeiten, an denen sich musikalische Beispiele analysieren ließen. Ein Baustein in Becks Theorie ist die Globalisierung. Diese nun einzeln zu betrachten, erschien mir – da als Begriff umfangreich und ambivalent genug – die logische Konsequenz aus meinen Studien zur „Zweiten Moderne“. Meine anfängliche Idee war es, detailliert die Frage zu untersuchen, ob und wie sich das von den Globalisierungstheoretikern definierte „Zeitalter der Globalisierung“ in der Musik darstellen lässt. Dafür erstellte ich zunächst einen Überblick über die hierzu relevanten Theorien und reduzierte diese dann auf wesentliche Kriterien. Die nächste Aufgabe bestand darin, musikalische Beispiele zu generieren, die eine Übersicht über verschiedene musikalische Perspektiven und auch Genres geben können. Dass dieses aus der Gegebenheit der allumfassenden musikalischen Praxis und Geschichte natürlich nicht möglich ist, war mir bewusst; die vorliegende Arbeit möchte nicht den Anspruch erheben, die herausgestellten Globalisierungstheorien tatsächlich zu beweisen. Der Erkenntnisgewinn liegt vielmehr im Detail: Der Versuch, eine Verbindung zwischen Musik und Globalisierung an Fallbeispielen analytisch zu überprüfen und sich hierbei nicht von bereits vorhandenen Grenzen innerhalb der jeweiligen Disziplinen einschränken zu lassen, trägt innovativ dazu bei, die wachsende Nachfrage nach dem Themenkomplex zu befriedigen und zu ergänzen. Für das Gelingen der vorliegenden Arbeit gilt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Frank Hentschel, der sie betreut und gefördert hat, und den Zweitbeziehungsweise Drittgutachtern Prof. Dr. Christoph von Blumröder und Prof. Dr. Michael Custodis. Zu guter Letzt möchte ich ganz besonders meiner Familie danken, die mich in all der Zeit unterstützt und ertragen hat. Meinen beiden Kindern Lionel und Marie, die während des Verfassens der Dissertation zur Welt kamen, ist dieses Buch gewidmet.

2

Heinrich Klotz (Hrsg.), Die zweite Moderne: eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München 1996.

I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“

Seit ungefähr 50 Jahren ist der Begriff Globalisierung in der Gesellschaft verankert. Die ständige Konfrontation in nahezu allen öffentlichen und privaten Lebensbereichen vom Arbeitsplatz über das Freizeitvergnügen bis hin in die Haushalte hat ein Bewusstsein für globale Zusammenhänge geschaffen. Die Auswirkungen der Globalisierung sind im Alltagsleben mittlerweile so präsent, dass sich die Frage, wie sich diese analog in der Musik niederschlagen, geradezu aufdrängt. Denn Globalisierung hat definitiv zu einer Veränderung der kulturellen Landschaften geführt, von denen die Musik direkt oder indirekt betroffen ist. „If all historical cultures have always been hybrid – well, what’s new?“1, fragt John Tomlinson gegen Ende seines Buches Globalization and Culture. Diese Frage stellt sich durchaus als berechtigt dar. Selbstverständlich bewegten sich alle Kulturen und kulturellen Erzeugnisse nie in hermetischen Räumen und waren zu allen Zeiten gesellschaftlichen Strömungen und Moden ausgesetzt, die sich aus verschiedenen ethnischen, politischen, regionalen und nationalen, ja selbst klimatischen Überlagerungen zusammensetzten. Um der Frage Tomlinsons nachzugehen, bietet das wissenschaftliche Gebiet der Kulturtransferforschung einen guten Überblick. Für Hans-Jürgen Lüsenbrink geht die Formulierung kultureller Hybridität auf den Begriff „métissage“ aus dem 16. Jahrhundert zurück.2 Die gegenwärtige Zeitepoche stellt für ihn eine besondere Form des Kulturtransfers dar: 1

John Tomlinson, Globalization and Culture, Cambridge 1999, S. 144.

2

Hans-Jürgen Lüsenbrink, „Kulturtransfer – neuere Forschungsansätze zu einem interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften“, in: Helga Mittelbauer

12 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG

„Kulturtransferprozesse im definierten Sinn sind genuine Bestandteile von Kulturkontakten, die von ganz unterschiedlichen politischen Kontexten und sehr verschiedenen sozio-kulturellen Konstellationen gekennzeichnet sein können. Kulturkontakte entstehen in der Tat in so unterschiedlichen Prozessen wie der kolonialen Eroberung, der Immigration und dem Tourismus. Sie bilden gleichfalls die kulturelle Dimension wirtschaftlicher und politischer Austauschbeziehungen, die durch die derzeitige neue Phase der Globalisierung eine – im Verhältnis zu den früheren Expansionsphasen der Globalisierung im 16.-18. und an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – völlig neue Intensität erfahren haben.“

3

Beide Zitate, Tomlinsons ebenso wie Lüsenbrinks, beschreiben gewissermaßen die Eckpfeiler der vorliegenden Arbeit: Globalisierung ist (1.) die Voraussetzung für die Entstehung kultureller Hybridformen und hat (2.) in ihrer gegenwärtigen Phase eine neue Dimension an Intensität erreicht.

1

D EFINITIONEN

DER

G LOBALISIERUNG

Der Begriff Globalisierung ist sowohl populär als auch wissenschaftlich interdisziplinär anwendbar und somit ein „Zauberwort“ für alle sich abbildenden globalen (und auch lokalen) Veränderungen. Eine einheitliche Definition des Terminus Globalisierung erscheint zunächst problematisch, da jede Disziplin der Gesellschaftswissenschaften offenbar einen eigenen Globalisierungsbegriff verwendet.4 Selbst innerhalb der Soziologie gibt es andauernde Debatten über Art und Verwendung des Begriffes und unzählige Literatur und Systematiken über dessen Geschichte.5 Ulrich Beck unterteilt das Begriffsfeld sogar noch in Unterkategorien wie Globalismus, Globalität und Globalisierung, um die verschiedenen Schwerpunkte und Ebenen einer

und Katharina Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne 22), Wien 2005, S. 23-41. 3

Ebd., S. 29.

4

Vgl. Jan Nederveen-Pieterse, „Der Melange-Effekt“, in: Ulrich Beck (Hrsg.),

5

Einen guten Überblick hierfür findet man zum Beispiel in Jörg Dürrschmidt,

Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87-124, hier S. 87. Globalisierung, Bielefeld 2002, S. 7.

I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 13

sich global verändernden Gesellschaft besser zu beschreiben.6 David Held hingegen versucht die Fülle an wissenschaftlicher Literatur über Globalisierung in verschiedene Geisteshaltungen zu differenzieren. Der Autor unterscheidet hierbei zwischen „hyperglobalists“, „sceptics“ und „transformationalists“7, welchen er jeweils verschiedene Attribute und Einstellungen zu globalen Fragen zuordnet. Zusammengefasst definiert er Globalisierung als „process (or set of processes) which embodies a transformation in the spatial organization of social relations and transactions – assessed in terms of their extensity, intensity, velocity and impact – generating transcontinental or interregional flows and networks of activity, interaction, and the exercise of power.“

8

Entscheidend für das Aufkommen des Begriffes Globalisierung ist wohl das in den letzten Jahrzehnten immer mehr entstandene Bewusstsein einer begrenzten Welt, in der „keine Externalisierung von Handlungsfolgen“9 mehr möglich scheint. Malcolm Waters fasst dies in seiner Definition von Globalisierung zusammen, indem er diese beschreibt als „a social process in which the constraints of geography on economic, political, social and cultural arrangements recede, in which people become increasingly aware 10

that they are receding and in which people act accordingly“ .

Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson formulieren im Buch Geschichte der Globalisierung weitere Gemeinplätze im Globalisierungsdiskurs; die Veränderungen der Gesellschaft werden hier in drei globale Merkmale unterteilt: (1.) Die Globalisierung stellt durch die Verschiebung der politisch-ökonomischen Machtverhältnisse zwischen Staaten und Märkten die Bedeutung des Nationalstaats in Frage. (2.) Die Globalisierung führt

6

Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt a. M. 1997, S. 26-28.

7

David Held, Anthony McGrew, David Goldblatt und Jonathan Perraton, Global

8

Ebd., S. 16.

9

Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, S. 87.

Transformations, Cambridge 1999, S. 10.

10 Malcolm Waters, Globalization (zuerst: Oxon 1995), 2. Auflage, Oxon 2001, S. 5.

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durch technische Innovationen zu Veränderungen der Kategorien von Raum und Zeit und zu einer neuen Ordnung sozialer Beziehungen durch technische Netzwerke. Und (3.): Die Globalisierung hat durch die Errungenschaften der Kommunikationstechnologie und deren globaler Reichweite und Informationsaustausch massiven Einfluss auf den kulturellen Wandel.11 Wichtig sind hierbei vor allem das gleichzeitige Auftreten und die Verflechtungen dieser drei Aspekte der Globalisierung, da jeder einzelne noch keine Konturen einer neuen Zeitepoche darstellt.

2

H ISTORISCHE V ERORTUNG

DER

G LOBALISIERUNG

Generell wird der historischen Verortung der Globalisierung in der Literatur viel Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl der Begriff selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmals in der Form gebraucht und seine Popularität in die 1990er Jahre datiert wird,12 versuchen einige Autoren Kriterien der Globalisierung in einer „global history“ oder „world history“ darzustellen. Anthony G. Hopkins zum Beispiel unterscheidet vier historische Phasen der Globalisierung: archaic-globalization, proto-globalization, modern-globalization und post-colonial-globalization.13 „Archaic“ meint die historische Periode der Völkerwanderungen und den Bedeutungswachstum der Städte, „proto“ die Umgestaltung der Staatssysteme und den expandierenden Finanzfluss zwischen 1600 und 1800, „modern“ bezeichnet die Zeit des Aufstieges des Nationalstaats und die Ausweitung der Industrialisierung nach 1800 und mit „post-colonial“ ist die gegenwärtige Zeitepoche ab 1950 gemeint.14 Ein zeitliches Einsetzen von Globalisierungsvor-

11 Vgl. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, München 2003, S. 11-13. 12 Vgl. Anthony G. Hopkins, „The History of Globalization“, in: ders. (Hrsg.), Globalization in World History, London 2002, S. 11-46, hier S. 37; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 18. 13 Anthony G. Hopkins, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Globalization in World History, S. 1-10, hier S. 3-7. 14 Bei David Held heißen diese vier Kategorien „premodern“-, „early modern“-, „modern“- und „contemporary“-period of globalization, Held et al., Global Transformations, S. 26. Ein ähnliches Stufenmodell entwickelte auch Roland

I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 15

gängen ist demnach nicht genau bestimmbar beziehungsweise kann man hier nicht von einem genauen „Einsetzen“ sprechen. Es lassen sich möglicherweise aber einige historische „Eckpunkte“ der Globalisierung ausmachen: Ein entscheidender Globalisierungsanlauf wird um 1500 datiert; mit dem Aufbau der portugiesischen und spanischen Kolonialreiche entstanden hier irreversible globale Vernetzungen.15 Im 19. Jahrhundert führte dann vor allem die politische und infrastrukturelle globale Reichweite des aufblühenden British Empire zu einer Verstärkung des Welthandels und zu einer größeren multikulturellen Vielfalt.16 Es wird zudem von verschiedenen Autoren versucht, die Globalisierungsgeschichte durch globale Ereignisse wie die erste Weltumsegelung, die Einführung der Weltzeit, die bemannte Raumfahrt oder die globale nukleare Bedrohung nach dem Zweiten Weltkrieg historisch zu verankern.17

Robertson, vgl. Roland Robertson, Globalization: Social theory and global Culture, London 1992, S. 57 ff. 15 Vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 25. Hieraus leitet sich auch der oben genannte Begriff „Métissage“ ab. 16 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 31; Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1998, S. 231; Roland Robertson, „Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-220, hier S. 210. 17 Bruce Mazlish, „An Introduction to Global History“, in: ders. und Ralph Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, Boulder 1993, S. 1-24, hier S. 1 f. Ralf Dahrendorf zum Beispiel bezeichnet die Mondlandung am 20. Juli 1969 als Beginn der Globalisierung, vgl. Ralf Dahrendorf, „Anmerkungen zur Globalisierung“, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 41-54, hier S. 41. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sehen in der Einführung des „Earth-Day“ im Jahre 1970 den Beginn eines globalen Bewusstseins, vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 105.

16 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG

3

D AS „Z EITALTER DER G LOBALISIERUNG “

Viele wissenschaftliche Autoren sehen den Ursprung eines „Zeitalters der Globalisierung“ ab Anfang des 20. Jahrhunderts.18 Dieser Terminus leitet sich aus Martin Albrows Begriff „Global Age“19 ab und dient im Folgenden zur Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen ab 1950. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist besonders bedeutsam, weil hier erstmals ein gesellschaftliches globales Bewusstsein entstand: Die Anzahl der nach 1950 veröffentlichten Publikationen über globale Komplexität und deren Wechselwirkungen erhöhte sich signifikant, und die Versuche, eine „global history“ zu formulieren, nahmen massiv zu;20 auch wurden die in den 1960er Jahren aufkommenden Debatten über Entwicklungspolitik, Konsumgesellschaft und Risikogesellschaft alle in einem globalen Kontext geführt.21 Hieraus entwickelten sich die theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Es gibt demzufolge eine globale, institutionelle und kulturelle Ordnung, welche das System der Nationalstaaten und die Identität jedes Einzelnen prägt und beeinflusst. Gemeint sind hiermit vor allem gleiche

18 Vgl. Robertson, Globalization, S. 179; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 63 ff.; Klaus Müller, Globalisierung, Bonn 2002, S. 8; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 84. 19 Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Der Titel der englischen Originalausgabe lautet The Global Age. State and Society Beyond Modernity. 20 Vgl. Robertson, Globalization, S. 9 f. Der Ursprung einer „Weltgeschichte“ lässt sich allerdings in das Zeitfenster zwischen 1890 und 1914 datieren. Vor allem Hans Ferdinand Helmots Weltgeschichte von 1899 legte hier die Grundvoraussetzungen einer neuen theoretischen Perspektive der Weltgeschichtsschreibung, vgl. Matthias Middell, „Kulturtransfer und Weltgeschichte“, in: Mittelbauer, Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume, S. 43-73. 21 Die Einführung der Begriffe „Erste“, „Zweite“ und „Dritte Welt“ führte zum Beispiel zu der gängigen Aufteilung des Globusses in politische Blöcke, vgl. Stuart Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“ [1992], in: ders., Rassismus und kulturelle Identität (= Ausgewählte Schriften 2), hrsg. und übers. von Ulrich Mehlem, Dorothee Bohle, Joachim Gutsche, Matthias Oberg und Dominik Schrage, Hamburg 1994, S. 180-222, hier S. 198 f.; Robertson, Globalization, S. 59; Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 131; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 86-87.

I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 17

globale Bildungs- und Wissenschaftsideale sowie der globale Anspruch auf medizinische Grundversorgung, Infrastruktur, Hochkultur etc.22 Diese „Tendenz einer kulturellen Unipolarität“23 wurde erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Einfluss der europäischen Kolonialmächte – und hier im Besonderen des Vereinigten Königreiches als erster moderner Großmacht – sichtbar. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson beschreiben, dass viele Nationen dem Vereinigten Königreich kulturell wie ökonomisch nacheiferten. Die Anpassung war wohl grundsätzlich nicht erzwungen, sondern der Attraktivität des westlichen, in diesem Falle britischen, Wohlstandes geschuldet.24 Wie Malcolm Waters damit zusammenhängend analysiert, entstand hier eine homogenisierte, globale, größtenteils westlich geprägte Hochkultur. Die globale Verbreitung von standardisierten Opernrepertoires, Literatur- und Wissenschaftsapparaten war nach Waters insbesondere eine Folge der schnelleren Transportmöglichkeiten und des raschen Ausbaus der Infrastruktur in jener Zeit.25 Eine globale Weltgesellschaft, wie sie seit ungefähr 1950 auszumachen ist, besitzt nun keinen zentralen Akteur mehr; einzelne Akteure stehen hier in unmittelbarer Konkurrenz und sorgen somit für eine kulturelle Vielfalt.26 Ulrich Beck sieht hieran ein neues Globalisierungsmerkmal: „Globalisierung meint also auch: Nicht-Weltstaat. Genauer: Weltgesellschaft ohne Weltstaat und ohne Weltregierung. Es breitet sich ein global desorganisierter Kapitalismus aus. Denn es gibt keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime – weder ökonomisch noch politisch.“

27

Die Weltgesellschaft beschreibt ein politisch-ökonomisch transnationales Netzwerk, welches die globalen, kulturellen Veränderungen bestimmt. Der

22 Vgl. John W. Meyer, John Boli, George M. Thomas und Francisco O. Ramirez, „Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, in: John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von Georg Krücken, Frankfurt a. M. 2005, S. 85-132, hier S. 91-94. 23 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 59. 24 Vgl. ebd., S. 58 ff. 25 Vgl. Waters, Globalization, S. 172. 26 Vgl. ebd., S. 143. 27 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 32, Hervorhebungen im Original.

18 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG

kulturelle Relevanzverlust der Nationalstaaten, ihre politische Neuformierung in transnationalen Bündnissen, der gleichzeitige Bedeutungsgewinn der transnational corporations sowie der wachsende kulturelle Einfluss durch Migration entstandener globalurbaner Ballungsräume stützen die theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Globale Prozesse entwickelten sich ab dem Zweiten Weltkrieg so rasant, dass sich deren Einfluss in einer kulturellen weltgesellschaftlichen Ordnung auf einer globalen institutionellen Ebene manifestierte. Aspekte der Globalisierung lassen aber nicht nur eine Weltgesellschaft entstehen, sondern fördern gleichzeitig auch den politischen Fundamentalismus. Christiane Harzig und Dirk Hoerder liefern hierfür ein Beispiel aus der gegenwärtigen Migrationsgeschichte: „Migrants live, mentally, simultaneously in home and host societies, live transcultural lives. Their networks extend over continents. While the concept of bourgeois cosmopolitanism and working-class internationalism may overemphasize class cultures, the concept of ,culture shock‘ overemphasizes disruption, and that of a ,global village‘ neglects cultural specifics. Problems emerge from racism and exclusion rather than migrants’ inability to cope. A 1990s Bangladeshi migrant in a racialized neighbourhood of London noted: ,I can surf around the world on the Internet, I have family who phone me from America and Australia, but I am afraid to go outside my own front door.‘“

28

Hieran wird die „Dialektik der Globalisierung“ deutlich, die bei einigen Autoren eine zentrale Stellung für die Beschreibung des Zeitalters der Globalisierung einnimmt.29

4

M USIK

IM

Z EITALTER

DER

G LOBALISIERUNG

Das Zeitalter der Globalisierung wird auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutsam. So fällt zum Beispiel der Diskurs über die

28 Christiane Harzig und Dirk Hoerder, What is Migration history?, Cambridge 2009, S. 143. 29 Vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 85; Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 96.

I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 19

„Postmoderne“ in diesen Zeitraum. In seinem Aufsatz Zen und der Westen beschreibt Umberto Eco die gesellschaftliche Lage wie folgt: „Die Diskontinuität ist, in den Wissenschaften wie in den Alltagsbeziehungen, die Kategorie unserer Zeit: die moderne westliche Kultur hat die klassischen Begriffe von Kontinuität, universellen Gesetzen, Kausalbeziehung, Vorhersehbarkeit der Phänomene endgültig aufgelöst: sie hat, so kann man zusammenfassend sagen, darauf verzichtet, allgemeine Formeln auszuarbeiten, die den Anspruch erheben, die Gesamtheit der Welt in einfachen und endgültigen Termini zu bestimmen. Neue Kategorien haben in die modernen Sprachen Eingang gefunden: Ambiguität, Ungewißheit, Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit. [D]as einstige Bewußtsein von einem geordneten und unwandelbaren Universum kann in der heutigen Welt bestenfalls ein Gegenstand rückwärtsgewandter Sehnsucht sein: es ist nicht mehr das unsere.“

30

Hier nun eröffnet sich das Feld der Zusammenhänge von Kultur und Globalisierung. Für Ulrich Beck ist die Herstellung der kulturell-symbolischen Reflexivität der Globalisierung eine Schlüsselfrage der Kultursoziologie geworden: Globalisierung „zielt daher nicht nur auf die ‚Objektivität zunehmender Interdependenzen‘. Gefragt und untersucht werden muß vielmehr, wie sich der Welthorizont in der transkulturel31

len Produktion von Sinnwelten und kulturellen Symbolen öffnet und herstellt.“

Es soll im Folgenden nicht danach gefragt werden, wie der Begriff der „Postmoderne“ Einfluss auf die Musikkultur ausübte,32 sondern wie sich die aktuelle Periode der Globalisierung ab 1950 – die als Zeitalter der Globalisierung bezeichnet wird – auf die Musikkultur auswirkt.

30 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973, S. 214 f. Auch die Avantgardebewegungen jener Zeit und der damit einhergehende Traditionsbruch werden mit den globalgesellschaftlichen Veränderungen um 1950 in Verbindung gebracht, siehe hierzu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, S. 82-86. 31 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 88. 32 Andreas Domann geht in seiner Diskursanalyse diesem Thema umfassend nach, Andreas Domann, Postmoderne und Musik, Freiburg i. Br. 2012.

20 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG

Wie bereits erwähnt, wurde von verschiedener Seite versucht, gesellschaftliche Strömungen und Veränderungen ab 1950 in der Musik und Musikkultur darzustellen. Neben dem Diskurs über Postmoderne und Musik gab es auch Bestrebungen, die gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit, die unter den Begriffen „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ geführt werden, mit musikalischen Entwicklungen und Ereignissen in Verbindung zu bringen.33 Grundannahmen all dieser gesellschaftlichen Verknüpfungen mit der Musikkultur lassen sich durch die Theorien und Erkenntnisse der Musiksoziologie beschreiben und lauten zusammengefasst: (1.) Das Kunstwerk spiegelt immer die gesellschaftliche Realität wider, (2.) der Künstler muss immer in seinem sozialen Milieu betrachtet werden und (3.) ein musikalischer Stil bringt immer die gegenwärtige Zeitepoche zum Ausdruck.34 Auch diese Arbeit geht von der Prämisse aus, dass sich die gesellschaftlichen Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, in der Musik widerspiegeln. Globalisierung hebt sich von den oben genannten Begriffen Postmoderne, „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ ab, da es sich hierbei um konkret beschreibbare Veränderungen handelt, die sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen darstellen lassen und zu allen Zeiten relevant waren. Freilich kam der Globalisierungsdiskurs erst in der Zeit ab 1950 auf – unter anderem ist daher auch dieser Zeitrahmen für diese Arbeit gesteckt –, dennoch lassen sich kulturelle Sachverhalte seit der

33 Der Band von Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 47), Mainz 2007, bietet hierfür einen guten Überblick. Siehe auch Christian Utz, „Kunstmusik und reflexive Globalisierung – Alterität und Narrativität in chinesischer Musik des 20. und 21. Jahrhunderts“, in: Alenka Barber-Kersovan, Alfred Smudits und Harald Huber (Hrsg.), West Meets East (= Musik und Gesellschaft 29), Frankfurt a. M. 2011, S. 147-180. 34 Annahmen dieser Art werden besonders von der klassischen Musiksoziologie vertreten, vgl. Alphons Silbermann, Empirische Kunstsoziologie, Stuttgart 1973, S. 75. Die Grundthese einer Verknüpfung zwischen Musik und Gesellschaft ist im Wesentlichen auf die soziologische marxistische Theorie zurückzuführen, in der alle kulturellen Güter Abbild der Gesellschaft sind und sich aus dieser evozieren.

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Antike durch interkulturelle (globale) Verknüpfungen erklären.35 Musik ist in gewisser Weise schon immer global gewesen und transkultureller musikalischer Austausch keineswegs ein Merkmal einer neuen historischen Epoche.36 Das Zeitalter der Globalisierung erhält nun durch die verschiedenen Ebenen und Komplexitäten globaler Zusammenhänge, deren theoretische Prämissen erst ab 1950 erforscht wurden, eine exklusive historische Bedeutung; sowohl der Künstler als auch das Kunstwerk wurden hierdurch geprägt, verändert, anders interpretiert und unterschiedlich definiert. In der Musikwissenschaft haben sich in den letzten Jahren einige Gemeinplätze herausgebildet, wie sich gesellschaftliche Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, auf die Musikkultur auswirken können.37 Zum einen ist es durch mediale Entwicklungen möglich geworden, dass nahezu alle Musiken aus Geschichte und Gegenwart aller Völker und gesellschaftlichen Gruppen für fast jedermann zur Verfügung stehen. Hierbei entstehen globale Zusammenhänge und Überschneidungen nicht nur in der Musik selbst, sondern vor allem auch in den ökonomischen Arbeitsweisen und Aufführungsformen.38 Zum anderen haben sich im Laufe des 20.

35 Für musikalische Beispiele hierfür siehe Helmut Rösing, „Populäre Musik und kulturelle Identität. Acht Thesen“, in: Thomas Phleps (Hrsg.), Heimatlose Klänge?: Regionale Musiklandschaften heute (= Beiträge zur Popularmusikforschung 29/30), Karben 2002, S. 11-34, hier S. 23 f. 36 Eine durch Migrationsströme transformierte kulturelle Landschaft hatte in allen historischen Phasen Einfluss auf die Musik. Ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert ist das spanische Idiom in einigen Werken Domenico Scarlattis, vgl. Barbara Zuber, „Wilde Blumen am Zaun der Klassik“, in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hrsg.), Domenico Scarlatti (= Musik-Konzepte 47), München 1986, S. 3-39. Für weitere aktuelle Studien zum Thema Musik und Migrationsforschung siehe auch Silke Leopold und Sabine Ehrmann-Herfort (Hrsg.), Migration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der Musikgeschichte (= Analecta musicologica 49), Kassel 2013. 37 Eine gute Übersicht hierfür bietet Bob W. White, „Introduction: Rethinking Globalization through Music“, in: ders. (Hrsg.), Music and Globalization: Critical Encounters, Bloomington 2012, S. 1-14, hier S. 2-5. 38 Weitere Gedanken hierzu finden sich bei Gertrud Meyer-Denkmann, Grenzübergänge zwischen Musik, Kunst und den Medien heute, Oldenburg 2005, S. 49 ff.

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Jahrhunderts fast alle Musikformen losgelöst von nationalen Konzepten und ethnischen Zuweisungen entwickelt.39 Diese beiden Annahmen gilt es zu hinterfragen und werden unter anderem im Folgenden schwerpunktartig beleuchtet.

5

G ESELLSCHAFTLICHE V ERORTUNG DER G LOBALISIERUNG

Um den Forschungsrahmen weiter einzugrenzen, soll zunächst jedoch die Frage der gesellschaftlichen Verortung der Globalisierung geklärt werden. Abgesehen von der Debatte über die verschiedenen historischen Perioden der Globalisierung und deren zeitliches Einsetzen wird hierüber eine weitere Kontroverse geführt. Die soziologischen Diskurse gehen der Frage nach, aus welcher Gesellschaftsordnung heraus der Begriff Globalisierung herzuleiten ist. So sieht Immanuel Wallerstein diese als kapitalistische und ökonomische Weltordnung europäischen Ursprungs.40 Bezogen auf die westliche Hemisphäre ist Globalisierung ein Begriff, welcher seinen Ursprung in der Aufklärung hat, da hier erstmalig der Gedanke einer Universalgeschichte formuliert und verbreitet wurde.41 Globalisierung steht demnach in direktem Zusammenhang mit der Ausdehnung der europäischen Kultur; die kulturelle Gestaltungskraft der europäischen Moderne macht Globalisierung erst möglich, daher wird diese entsprechend auch als „Aufstieg des Westens“42 bezeichnet.

39 Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, „Ethnische Repräsentationen als Herausforderung für Musikwissenschaft und Musikpolitik“, in: Barber-Kersovan, Smudits, Huber (Hrsg.), West Meets East, S. 21-34, hier S. 29. 40 Immanuel Wallerstein, „Culture as the Ideological Battleground of the Modern World-System“, in: Mike Featherstone (Hrsg.), Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, London 1990, S. 31-35, hier S. 35. 41 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 12; Mike Featherstone, „Global Culture: An Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Global Culture, S. 1-14, hier S. 3. 42 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 111. Dieser Begriff wurde ursprünglich von William MacNeill eingeführt, vgl. William MacNeill, The rise of the West, Chicago 1963.

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Der westliche Einfluss wird in der Debatte über eine kulturelle Globalisierung unterschiedlich bewertet. Für Mike Featherstone bedeutet kulturelle Globalisierung ein Expandieren der gegenseitigen kulturellen Wechselbeziehungen und eine dauerhafte kulturelle Interaktion.43 Hier wird kulturelle Globalisierung nicht als „Verwestlichung“, sondern mehr als ein Phänomen der kreativen Aneignung gesehen.44 Anthony Giddens sieht durch die globale Verbreitung der westlichen Institutionen diese im Kontext einer kulturellen Globalisierung gar als geschwächt: „Dass der Einfluss des Abendlands auf die übrige Welt schwächer wird, ist keine Folge der nachlassenden Wirkung der zunächst im Abendland entstandenen Institutionen, sondern – ganz im Gegenteil – ein Ergebnis ihrer globalen Verbreitung. Die ökonomische, politische und militärische Macht, die dem Abendland zur Vorherrschaft verhalf […], reicht nicht mehr aus, um die westlichen Länder deutlich von anderen Ländern in anderen Gegenden abzuheben.“

45

Westlicher Einfluss, wie auch immer dieser bewertet wird, spielt für die Theorien einer kulturellen Globalisierung und speziell für die Musik im Zeitalter der Globalisierung also eine übergeordnete Rolle.

6

M ODELLE

DER KULTURELLEN

G LOBALISIERUNG

David Held formuliert angelehnt an die vorgestellten vier Zeitperioden der Globalisierung fünf Ebenen der kulturellen Globalisierung: Zunächst bemerkt er einen transkontinentalen kulturellen Austausch im Zeitalter der Völkerwanderung und sieht hierin eine globale historische Grundlage. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde diese Grundlage durch einen kulturellen Austausch sowohl der verschiedenen Nationalstaaten und sogenannten Nationalkulturen als auch der verschiedenen politischen Gesellschaftsordnungen ergänzt. Im späten 19. Jahrhundert beschleunigte sich dann dieser Austausch durch neue Formen der technischen Übermittelung. Die vierte Ebene

43 Vgl. Featherstone, „Global Culture“. 44 Vgl. ebd.; Waters, Globalization, S. 6; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 111. 45 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 70 f.

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beschreibt die gegenwärtige Situation des immer schneller werdenden technischen Wandels und Informationsaustausches und die dadurch bedingten politischen und institutionellen Transformationen. Das hier angedeutete Zeitalter der Globalisierung führt demnach zu neuen kulturellen globalen Strömungen, welche die alten nationalen Kulturen, Ideologien und politischen Institutionen verändern. Die fünfte Ebene einer kulturellen Globalisierung liegt laut Held in den Produkten und Deutungen der Konsumgesellschaft. Deren Ambiguität stellt für ihn eine neue komplexe Form der kulturellen Globalisierung dar, deren Einfluss auf die bestehenden Gesellschaften und Kulturen noch nicht absehbar sei.46 Die von Held angesprochenen Veränderungen der nationalen Kulturen und Ideologien beschreibt Arjun Appadurai in einem Modell, welches die globalen kulturellen Strömungen auf fünf verschiedenen Landschaften (scapes) darstellt. Diese scapes bieten die Möglichkeit, Veränderungen nationaler Ideologien und Kulturen unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Appadurai unterscheidet zwischen ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes und ideoscapes.47 Ethnoscapes beschreiben die ethnische Herkunft oder den nationalen Bezugsrahmen eines Individuums unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit oder seines Aufenthaltsortes (unterschieden wird zwischen Gastarbeiter, Flüchtling, Migrant, Tourist etc.), technoscapes beschreiben die kulturellen Verbindungen auf einer technisch-innovativen Ebene. Als Beispiel dient hier der Austausch von technischen Dienstleistungen und Gütern, welcher einzig durch Angebot und Nachfrage global reguliert wird. Hieran angelehnt formuliert Appadurai die financescapes: Der entgrenzte globale Kapitalfluss erschafft dabei durch seine Vielzahl an verschiedenen Varianten eine eigene globale kulturelle Landschaft. Die nun verbleibenden mediascapes und ideoscapes hängen eng miteinander zusammen. Mediascapes beschreiben sowohl die unterschiedlichen technischen Ebenen der Medienlandschaft (Zeitung, Journal, Fernsehen, Radio etc.) als auch deren inhaltliche Ausrichtung. Gemeint ist hier, wer welche Medien zu welchem Zwecke der lokalen oder globalen Informationsstreuung nutzt und wie diese Informationen später von verschiedenen globalen Rezipienten wahrgenommen und interpretiert werden.

46 Held et al., Global Transformations, S. 328. 47 Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 33.

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Der Rezipient wird durch die Ebene der ideoscapes unterschieden. Gemeint sind hier die jeweiligen ideologischen Einstellungen eines Staates, einer Bewegung oder einer Einzelperson wie zum Beispiel Freiheitlichkeit, Wohlstand, Menschenrechte, Souveränität, Darstellungsweise oder Demokratieempfinden.48 Diese fünf scapes dienen der Beschreibung des kulturellen Wandels im Zeitalter der Globalisierung: Die Aufteilung der Gesellschaft in kulturelle Landschaften eröffnet die Möglichkeit, Globalisierungszusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen getrennt voneinander zu analysieren.49 Die Interessen einer Weltgesellschaft, einzelner Staaten, außerstaatlicher Gruppierungen oder Einzelpersonen stimmen in einigen scapes überein, in anderen wiederum können sie weit auseinander liegen. So wird von Appadurai eine dezentrale globale Welt konstruiert.

7 F ORSCHUNGSSTAND : M USIK G LOBALISIERUNG

UND

Auch wenn die Untersuchung des Zusammenhangs von Musik und Globalisierung nach wie vor als musikhistorisch nicht sehr stark beleuchtet zu betrachten ist, liegen inzwischen einige Arbeiten vor, die den ersten Einstieg in die Thematik erleichtern. Vor allem in der Musikethnologie wurden in den letzten Jahrzehnten musikalische Wandlungen im Kontext globaler Veränderungen erforscht,50 obwohl es sich gleichermaßen um ein historisches wie soziologisches Phänomen handelt. Allerdings wurden in den

48 Ebd., S. 33-37. 49 Der Musikethnologie Max Peter Baumann bezeichnete auf dem Symposium „Entgrenzte Welt? Musik und Kulturtransfers in der Gegenwart“ vom 20. bis 22. Juli 2012 in der Humboldt-Universität zu Berlin Appadurais Landschaften auch als „die fünf Dimensionen der globalen kulturellen Dynamik“. 50 Besonders sind hier folgende Arbeiten von Max Peter Baumann und Bruno Nettl zu nennen: Max Peter Baumann (Hrsg.), World Music, Music of the World (= Intercultural Music Studies 3), Wilhemshaven 1992; ders., „The Local and the Global: Traditional Musical Instruments and Modernization“, in: The world of music 42/3 (2000), S. 121-144; ders., Musik im interkulturellen Kontext, Nordhausen 2006; Bruno Nettl, The Study of Ethnomusicology, Urbana 1983; ders., The Western Impact on World Music, New York 1985.

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weitaus meisten Studien Veränderungen der Musikkultur innerhalb eingegrenzter Kulturkreise in den Fokus genommen.51 Die bis dato wenigen allgemeinen Publikationen über das Thema Musik und Globalisierung bilden hier die Ausnahme.52 Ferner sind auch die „Cultural Studies“ zu nennen, die sich seit den 1980er Jahren mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Kultur auseinandergesetzt haben.53 Beispiele aus der Identitätsforschung und den „Cultural Studies“ belegen, wie selbstgewählte globale Identitäten in verschiedenen Kontexten und Lebenssituationen nach Belieben wechseln und jeweils in den Vorder- oder Hintergrund rücken.54 Bezogen auf die Musik konstatiert Simon Frith:

51 Zum Beispiel Kevin Dawe, „Roots Music in the Global Village: Cretan ways of dealing with the world of large“, in: The world of music 43/3 (2001), S. 47-66; Michael Bodden, „Rap in Indonesian youth music of the 1990s: Globalization, outlaw genres, and social protest“, in: Asian music Journal of the Society for Asian Music 36/2 (2005), S. 1-26; Iain Chambers, „Travelling Sounds. Whose Centre, whose Periphery?“, in: Popular Music Perspectives 3 (1992), dt. in: PopScriptum – World-Music 3, S. 45-51. Die Auflistung von musikalischen Einzelstudien zum Thema Musik und Globalisierung ließe sich noch um ein Vielfaches erweitern. 52 Zum Beispiel Christian Utz (Hrsg.) Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, Saarbrücken 2007; Susanne Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, Bielefeld 2010; Alexandros G. Baltzis, „Globalization and Musical Culture“, in: Acta musicologica 77/1 (2005), S. 137-150; Veit Erlmann, „The politics and Aesthetics of Transnational Musics“, in: The world of music 35/2 (1993), S. 315; White (Hrsg.), Music and Globalization. 53 Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Band von Marianne I. Franklin (Hrsg.), Resounding international relations: on music, culture, and politics, New York 2005. 54 Vgl. Harris M. Berger und Giovanna Del Negro, Identity and everyday life: in the study of folklore, music, and popular culture, Middletown 2004, S. 151 f. Ein Beispiel, das die Autoren anführen, ist eine typische Situation im Leben italienischer Migranten in den USA: Der in Amerika geborene Sohn lädt seine Arbeitskollegen in sein Elternhaus ein, um ihnen die Vorzüge der „originalen“ italienischen Kochkünste seiner Mutter zu präsentieren. Diese wiederum fühlt sich einerseits durch die Wertschätzung geschmeichelt, möchte aber nicht auf die

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„Es geht nicht um die Frage, auf welche Weise ein Musikstück […] die Menschen widerspiegelt, sondern wie es diese Menschen produziert; in welcher Weise es eine musikalische Erfahrung, eine ästhetische Erfahrung herstellt und konstruiert. Die wir nur verstehen können, indem wir sowohl eine subjektive als auch kollektive Identität annehmen.“

55

Friths These stützt sich auf zwei Prämissen: „[E]rstens, dass Identität beweglich ist [und] zweitens, dass unsere Erfahrung von Musik […] sich am besten als Erfahrung eines Selbst in einem Prozess verstehen lässt.“56 Die Komplexität des kulturellen Wandels im Zeitalter der Globalisierung wird vor allem durch die Kontroverse der kulturellen Homogenisierung oder Heterogenisierung veranschaulicht. In einem Zeitungsartikel von Wolf Lepenies Mitte der 1990er Jahre heißt es hierzu: „Das Stichwort ‚Globalisierung‘ zeichnet das Bild einer sich vereinheitlichenden Welt. Aber während die Oberfläche der einen Welt immer einförmiger wirkt, stoßen darunter heftiger denn je zuvor die unterschiedlichen Lebenswelten der einzelnen aneinander. Diese Lebenswelten sind keineswegs einheitlich geprägt, sondern bilden stets Mischformen: es gibt nur noch hybride Kulturen.“

57

Eine Darstellung des sozialwissenschaftlichen Diskurses der kulturellen Homogenisierung versus Heterogenisierung bietet Jörg Dürrschmidt, welcher die hierzu wichtigsten Autoren mit ihren verschiedenen Thesen und verschiedenen Unterkategorien der jeweiligen Prozesse vorstellt.58 Bezogen auf die Debatte innerhalb der Disziplin der Musikwissenschaft bietet der

Rolle der kochenden Hausfrau reduziert werden, da sie aus gutem sizilianischen Hause kommt und diese Rolle in ihrer „Heimat“ nie ausfüllte. 55 Simon Frith, „Musik und Identität“, in: Jan Engelmann (Hrsg.), Die kleinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1999, S. 149-169, hier S. 151. 56 Ebd, Hervorhebungen im Original. 57 Wolf Lepenies, „Nur noch Mischformen. Wandel des Wertesystems in Europa“, in: Der Tagesspiegel vom 27.04.1996, S. 23. 58 Dürrschmidt, Globalisierung, S. 104-111.

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Aufsatz „Cultural Grey-out“ oder „Many Diverse Musics“? von Gerd Grupe einen Überblick.59

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G LIEDERUNG , R ELEVANZEN

UND

F RAGESTELLUNG

Wie haben sich also die globalen Veränderungen ab 1950 auf die Musikkultur ausgewirkt? Das Zeitalter der Globalisierung und ihr Einfluss auf die Musikkultur sollen im Folgenden durch verschiedene Begriffe und „Schlagwörter“ dargestellt werden. Als Fundament dient hierbei, wie der Begriff Globalisierung ab 1950 definiert und historisch verortet wird, und ferner, welche Darstellungen für den kulturellen Einfluss der Globalisierung insbesondere auf die Musikkultur herangezogen werden. Das Zeitalter der Globalisierung erklärt sich aus der Perspektive des Nationalstaats und seiner internationalen Einbindungen und Überlagerungen, des technischen Fortschritts der Kommunikationsmedien und einer grenzüberschreitenden Kulturindustrie. In diesem Kontext sind folgende Thematiken relevant: Migration, Urbanisierung, transnational corporations, Weltgesellschaft, Beschleunigung, Verdichtung von Raum und Zeit, Internet, globale Netzwerkgesellschaft, „Gegenkultur“, globale Identität, Kulturindustrie, „Amerikanisierung“, „Globale Kulturindustrie“ und der Begriff des „global village“. Zu diesem Begriffspool gesellen sich nun drei Prozesse der Globalisierung: „Glokalisierung“, „Enttraditionalisierung“ und „Entbettung“. Diese Begriffe und ihre dazugehörigen theoretischen Befunde sollen exemplarisch an drei musikalischen Fallbeispielen näher untersucht werden: an „Stockhausens Weltmusik“, „Jamaikanischer Ska im globalen Kontext“ und die „Traditionen der world music“. Dabei gehört es zum Konzept der Arbeit, Beispiele unterschiedlicher Kontexte, Szenen und Stilhöhen herauszugreifen, um einerseits Differenzen aufzuzeigen, die sich in den Auswirkungen der Globalisierung abzeichnen, andererseits aber auch szene- und subkulturübergreifende Mechanismen der Globalisierung herauszuarbeiten. Die Fallbeispiele stammen alle aus dem zeitlichen Rahmen des Zeitalters der Globalisierung, also ab 1950. Sie stehen zudem alle in einem

59 Gerd Grupe, „,Cultural Grey-out‘ oder ,Many Diverse Musics‘? Musikkulturen der Welt in Zeiten der Globalisierung“, in: Utz (Hrsg.), Musik und Globalisierung, S. 11-26.

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westlichen Zusammenhang. Wie schon erwähnt, entspringen Globalisierungszusammenhänge immer einem westlichen Kontext. Dieser drückt sich bei Karlheinz Stockhausen durch die Herkunft des Künstlers, im jamaikanischen Ska durch postkoloniale und bei der world music durch ökonomische Zusammenhänge aus. Die drei Fallbeispiele wurden also so gewählt, dass sich hieran die verschiedenen globalgesellschaftliche Einflüsse beschreiben lassen. Wenn diese einen gemeinsamen gesellschaftlichen Ursprung haben, sollten – so die Kernthese dieser Arbeit – auch die drei musikalischen Fallbeispiele gemeinsame Merkmale aufweisen, die die globalisierte Musikkultur beschreiben. Das Zeitalter der Globalisierung hat möglicherweise die Grenzen verschiedener Musiktraditionen, Stilistiken und Genres aufgehoben und soziale, politische und kulturelle Veränderungen bewirkt. Die Relevanz des Themas ergibt sich daraus folgend aus mindestens drei Gründen: 1.

2.

3.

Globalisierung ist als musikhistorische Tatsache anzusehen. Eine aktuelle Musikgeschichtsschreibung kann nicht auskommen, ohne diesen zentralen Faktor einzubeziehen und seine Auswirkungen auf die Musik zu untersuchen. Vorgänge der Globalisierung sind überaus komplex, und es kann daher zum Verständnis dieser Vorgänge insgesamt beitragen, sie aus der Perspektive einer einzelnen Wissenschaft heraus konkret zu beleuchten; in diesem Falle aus der Perspektive musikalischer Entwicklungen. Die Fragestellung ist in besonderem Maße dazu geeignet, konkrete musikhistorische Prozesse, kompositorische Stilistiken und musikalische Praktiken im Kontext der sozialgeschichtlichen Veränderungen zu erklären. Dies trägt überdies zur interdisziplinären Einbindung der musikwissenschaftlichen Forschung bei.

Das bereits vorgestellte Modell der verschiedenen globalen scapes von Arjun Appadurai, die verschiedenen Formen der kulturellen Heterogenisierung von Bruno Nettl60 und die vier Stufen der kulturellen Interaktion von

60 Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 350 ff.

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Krister Malm und Roger Wallis,61 welche im Verlauf der Arbeit noch vorgestellt werden, sollen dabei helfen, die Dimensionen der kulturellen Globalisierung besser zu verstehen. Diese drei Modelle dienen den musikalischen Fallbeispielen als übergeordnete theoretische Erklärungsmodelle und fungieren gewissermaßen als Leitfaden. Bemerkenswert an den Modellen ist, dass sie trotz unterschiedlicher wissenschaftlicher Ebenen die kulturelle Globalisierung auf ähnliche Weise beschreiben und historisch verorten. So steht in allen Modellen die Globalisierungsperiode ab 1950 im Fokus des globalen kulturellen Austausches und in allen spielen die technischen Innovationen, neue Formen einer transnationalen Gemeinschaft sowie die Reichweiten einer Globalen Kulturindustrie eine wichtige Rolle im kulturellen Globalisierungsprozess. Die Sichtung der Globalisierungsliteratur – mit Schwerpunkt auf soziologischen Texten – lässt sich nun in drei Perspektiven einteilen, welche als Gerüst für die Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung fungieren und innerhalb deren sich die oben genannten „Schlagwörter“ formieren: (1.) politisch-ökonomische Transnationalität, (2.) technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit und (3.) informell-kulturelle Reflexivität. Auf dieser Basis lassen sich dann wiederum drei Prozesse der Globalisierung ableiten, die konkrete Auswirkungen auf die kulturelle Sphäre und somit auch auf die Musikkultur haben. Die bearbeiteten Globalisierungstheorien weisen diese Unterteilung nicht direkt auf. Sie ist demnach mehr als Schema zu verstehen, da sich die einzelnen Themenkomplexe im inhaltlichen Diskurs fortwährend überschneiden. Im Zusammenspiel der Prozesse Glokalisierung, Enttraditionalisierung und Entbettung, in deren Komplexität und Dialektik, zeichnet sich das neue Zeitalter der Globalisierung ab. In diesem Zeitraum ab 1950 – so die zugrunde gelegte Kernthese – wurde die Musikkultur signifikant verändert. Es soll hierbei aber klar festgehalten werden, dass das Zeitalter der Globalisierung lediglich eine, nämlich die jüngste Periode der Globalisierung ist.

61 Beschrieben in Roger Wallis und Krister Malm, Big Sounds from Small Peoples. The Music Industry in Small Countries, New York 1984; siehe auch Krister Malm, „Local, National and International Musics. A Changing Scene of Interaction“, in: Baumann (Hrsg.), World Music, S. 211-227.

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8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität Der Terminus Transnationalität ist im Zeitalter der Globalisierung zu einer Standardkategorie für die Beurteilung der Weltpolitik geworden. Vorläufige Tendenzen lassen sich allerdings schon in früheren Globalisierungsperioden finden. So beschreiben zum Beispiel Osterhammel, Petersson und David Held die modern period of globalization zwischen 1880 und 1945 als transnational, da hier weltpolitisch erstmals zwischen Demokraten, Faschisten und Kommunisten unterschieden wurde.62 Der Ursprung des Begriffs liegt in der Literatur der 1960er Jahre von Robert O. Keohane und Joseph S. Nye63, Raymond Aron64 sowie James N. Rosenau65, welche die transnationalen Interaktionen von Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen, multinationalen Konzernen und dem internationalen Finanzwesen analysierten.66 Vor allem Rosenau konstruierte ein Netzwerkmodell „unrevidierbarer polyzentrischer Weltpolitik“67, welches sich zusammensetzt aus transnationalen Organisationen (zum Beispiel der Weltbank, der katholischen Kirche, der italienischen Mafia oder McDonalds), transnationalen Problemen (zum Beispiel Klimaveränderungen, Aids oder einer atomaren Gefahr), transnationalen Ereignissen (zum Beispiel einer Fußballweltmeisterschaft oder den beiden Golfkriegen), transnationalen Gemeinschaften (zum Beispiel Religionen, Wissen, Lebensstilen oder politischen Orientierungen) und transnationalen Strukturen (zum Beispiel Arbeitsformen oder Finanzströmen).68 Weitere theoretische Modelle eines globalen transnationalen

62 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 79; Held et al., Global Transformations, S. 362. 63 Robert O. Keohane und Joseph S. Nye (Hrsg.), Transnational Relations and World Politics, Cambridge 1971. 64 Raymond Aron, Peace and War: a Theory of International Relations, New York 1967. 65 James N. Rosenau (Hrsg.), Linkage Politics: Essays on the Convergence of National and International Systems, New York 1969. 66 Vgl. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 190 f. 67 James N. Rosenau, Turbulence in World Politics, Brighton 1990, S. 17, zit. n. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 70. 68 Ebd., S. 70 f.

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Systems finden sich außerdem bei Leslie Sklair69 oder Ulf Hannerz.70 Sklair beschreibt in einem hegelianischen Theoriemodell das Zusammenspiel zwischen „transnational corporations“ (TNCs), einer „transnational capitalist class“ und einer übergeordneten „transnational cultural practice“.71 Hannerz greift dieses Modell auf und spricht darüber hinaus von einer „global ecumene“, in der direkt oder indirekt alle globalen Akteure und Ereignisse in einem Sinnzusammenhang stehen.72 8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit Die technisch-innovative Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung stellt möglicherweise die eindrucksvollste und „greifbarste“ Veränderung einer globalen Welt dar. David Held behauptet sogar, dass die Frage „What is globalization?“ am konkretesten mit den beschreibbaren Phänomenen der technisch-innovativen Verdichtung der Welt beantwortet werden kann.73 Entscheidendes Kriterium ist hierbei die Beschleunigung des Transports, der Kommunikation und der Produktion, welche die Art und Weise, wie Kulturen in Zeit und Raum zueinander gestellt sind, fundamental verändert hat. Bei allen technischen Neuerungen spielt im Globalisierungskontext die veränderte Wahrnehmung der Zeit oder des Zeitverhältnisses eine übergeordnete Rolle: Zeitverhältnisse sind durch die technischen Innovationen der letzten 200 Jahre nicht mehr als starr zu begreifen.74 Die Einführung der

69 Leslie Sklair, Sociology of the Global System, London 1991. 70 Ulf Hannerz, Transnational Connections, London 1998. 71 Sklair, Sociology of the Global System, S. 81 f.; vgl. auch Dürrschmidt, Globalisierung, S. 68 f. 72 Hannerz, Transnational Connections, S. 6 f; vgl. auch Dürrschmidt, Globalisierung, S. 70 f. 73 Held et al., Global Transformations, S. 14 f. 74 Gemeinhin wird die Einführung des Telegraphen um 1839 als Beginn eines sich verändernden globalen Zeitverständnisses betrachtet, vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 54 f.; Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt a. M. 2001, S. 22. Bemerkenswerte Studien über die Geschichte und die Veränderung der Arbeits- und Freizeitentwicklung im 20. Jahrhundert liefert der Band von Eckart

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Weltzeit und die damit einhergehende globale Vereinheitlichung der Zeit zwischen 1880 und 1920 war zwar ein gesellschaftlicher transnationaler Beschluss, stellte aber auch eine Reaktion der Weltgemeinschaft auf die durch technische Innovationen herbeigeführte Verdichtung dar.75 Entfernungen wurden durch Ausbau der Infrastruktur in immer kürzerer Zeit zurückgelegt, so dass sich die Zeit- und Raumverhältnisse entsprechend veränderten. Jürgen Habermas bemerkt hierzu: „Schon die Reisenden, die um 1830 die ersten Eisenbahnen benutzen, hatten über neue Raum- und Zeitwahrnehmungen berichtet. Im 20. Jahrhundert haben Autoverkehr und zivile Luftfahrt den Personen- und Gütertransport weiter beschleunigt und die Entfernungen auch subjektiv immer weiter schrumpfen lassen.“

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Zeit- und Raumverständnis durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie Einsteins Relativitätstheorie, aber auch durch die Beschäftigung mit außereuropäischen Zeitmodellen erweitert.77 Die neuen Errungenschaften der Technik erzielten auch andere Effekte auf die Gesellschaft. So beschreibt beispielsweise Marshall McLuhan, dass technische Innovationen wie der Telegraph und das Radio nationale Machtverhältnisse neutralisierten, da ihre Reichweiten nicht mehr von physischen nationalen Grenzen beschränkt wurden. Die technischen Innovationen ließen laut McLuhan eine neue Art des Machtkampfes entstehen, bei dem es um eine ideologische und politische Mitbestimmung sowie Kontrolle der übertragenen Informationen ging.78 Theodor W. Adorno sah ferner durch den stetig voranschreitenden technischen Apparat eine Auflösung der Klas-

Hildebrandt und Gudrun Linne (Hrsg.), Reflexive Lebensführung: zu den sozialökologischen Folgen flexibler Arbeit, Berlin 2000. 75 Vgl. Robertson, Glokalisierung, S. 210. Die weltweite Übernahme des gregorianischen Kalenders in früheren Globalisierungsperioden muss wiederum als Vorläufer dieser Ereignisse betrachtet werden. 76 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 70. 77 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 64 ff. 78 Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media: the extensions of man [1964], Corte Madeira 2003, S. 404.

34 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG

sen.79 In den 1960er Jahren entwickelte sich in der westlichen Hemisphäre eine alternative und gesellschaftskritische Bewegung, die sich um eine Liberalisierung und Dezentralisierung der technischen Innovationen und der dadurch transportierten Informationen bemühte. Die Konstituierung der globalen Netzwerkgesellschaft, welche liberal, dezentral und frei fungiert, nahm mit den technischen Innovationen der Gegenkultur der 1960er Jahre ihren Anfang.80 Die Entstehung der Gegenkultur ist zudem als Reaktion auf eine immer weiter voranschreitende Industriegesellschaft zu interpretieren und jenes den Gegenkulturen immanente Suchen nach Auswegen aus dieser in einen globalgesellschaftlichen Kontext eingebettet. Was die Musikkultur angeht, so stellen technologische Entwicklungen einen Hauptfaktor der Globalisierung von Musik dar. Beschleunigung und die Verdichtung von Raum und Zeit haben historisch schon immer Einfluss auf die Musikkultur gehabt. So konnte beispielsweise das javanesische Gamelan-Ensemble auf der Pariser Weltausstellung 1889, welches Einfluss auf Musiker wie Claude Debussy hatte, nur durch den neu eröffneten Suezkanal nach Europa gelangen. Ohne die Verkürzung des Weges wäre diese Reise für die Instrumente wohl nicht schadlos zu bewältigen gewesen.81 Als weitere Verbindung von Musikkultur und Technik haben aber vor allem die industriellen aufnahmetechnischen Neuerungen der letzten 100 Jahre die Musik wesentlich geprägt und verändert. Das Kunstwerk, welches immer reproduzierbar gewesen ist, konnte nun durch eine neue Art der technischen Reproduktion erweitert werden.82 Durch die industriellen aufnahmetechnischen Innovationen wie Radio, Telekommunikation und Phonograph ver-

79 Theodor W. Adorno (Hrsg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Frankfurt a. M. 1969, S. 25 ff. 80 Beispielsweise wurde das Modem 1978 von einigen Hackern entwickelt, vgl. Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie Das Informationszeitalter [1996], Opladen 2001, S. 53. 81 Vgl. John Joyce, „The Globalization of Music: Expanding Spheres of Influence“, in: Mazlish, Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, S. 205224, hier S. 209-211. 82 Walter Benjamin datiert um 1900 den Beginn der technischen Reproduzierbarkeit als anerkanntes künstlerisches Verfahren und als eigene Kunstform, vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt a. M. 2006, S. 9-11.

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breiteten sich auch die Produkte der Musikindustrie über den ganzen Globus. Diese operierte von vornherein global und nutzte die neuen Reichweiten des technischen Apparates. Um 1900 entstand eine transnationale Musikindustrie, die bereits alle Kennzeichen einer global operierenden Organisation trug.83 Am Ende des 20. Jahrhunderts teilten sich fünf transnationale Musikfirmen 80 Prozent des weltweiten Tonträgergeschäfts.84 Die Musikindustrie als TNC verbreitet hier also weltweit kulturelle Erzeugnisse, dient dabei aber weder ökonomisch noch kulturell den Interessen eines Staates. Sie ist lediglich profitorientiert und abhängig von ökonomischen Marktmechanismen. 8.3 Informell-kulturelle Reflexivität Im Vergleich zu den bereits beschriebenen Perspektiven der Globalisierung ist die informell-kulturelle Reflexivität relativ schwer zu greifen. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass von den Sozialwissenschaften hierfür noch keine konkrete Definition oder Theorie ausgearbeitet wurde. Um die kulturellen Wechselwirkungen (oder Rückkoppelungen) im Zeitalter der Globalisierung zu erläutern, werden in erster Linie Beispiele herangezogen: So wurde der Wahlsieg der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011 von allen Parteiund Wahlforschern gleichermaßen mit der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima am 11. März 2011 in Verbindung gebracht. Die täglich übermittelten Bilder und Schreckensmeldungen aus dem havarierten Kernkraftwerk lösten eine starke Ablehnung gegenüber der Atomenergie aus, welche sich in der unmittelbar danach anstehenden Wahl und dem Sieg der grünen „Anti-Atom-Partei“ widerspiegelte. Ein globales Ereignis wirkte

83 Zur Geschichte und Entwicklung der globalen Musikindustrie siehe Andreas Gebesmair, Musik und Globalisierung: zur Repertoireentwicklung der transnationalen Phonoindustrie unter besonderer Berücksichtigung des österreichischen Musikmarktes, Wien 2000, sowie Andreas Gebesmair und Alfred Smudits (Hrsg.), Global Repertoires: Popular music within and beyond the transnational music industry, Aldershot 2001. 84 Andreas Gebesmair, „Introduction“, in: ders., Smudits (Hrsg.), Global Repertoires: Popular music within and beyond the transnational music industry, S. 16, hier S. 2.

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sich direkt auf ein lokales aus, wobei diese in einem nicht unmittelbaren Sinnzusammenhang stehen. Die Perspektive der informell-kulturellen Reflexivität wird am deutlichsten durch die Entstehung der Kulturindustrie und den Ausbau der Massen- und Kommunikationsmedien dargestellt, welche im Zeitalter der Globalisierung zu neuen Formen einer Globalen Kulturindustrie führten. Geprägt wurde der Begriff der Kulturindustrie zunächst von den Ausführungen Theodor W. Adornos und Max Horkheimers.85 Die Kulturindustrie und die produzierten Waren wurden hier noch stark technisch konstruiert, kapitalistisch, eindimensional und homogen gedeutet. Reflexivität bedeutet nun, dass globale Ereignisse (siehe obiges Beispiel), Konsumgüter oder kulturelle Erzeugnisse von der Weltgesellschaft aktiv bewertet und gesteuert werden. Dieses wird besonders anhand der unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen der jeweiligen Akteure sichtbar, denn die Globale Kulturindustrie definiert sich immer über die variablen Interpretationen produzierter Waren. Eine globale Einheit besteht hier in der kapitalistischen Grundidee und in der gewonnenen Eigendynamik der Produkte. Das medial verbreitete „Image“ eines Produktes wird nun teilweise mehr beworben als das eigentliche Produkt. Die Vermarktung von Swatch-Uhren oder Nike-Sportanzügen zielt auf eine Ideologie der Produkte ab und nicht mehr auf den profanen Besitz einer Uhr oder eines Sportanzuges.86 Eine veränderte Kontextualisierung im Nexus einer Globalen Kulturindustrie stellen auch die Photographien von Oliviero Toscani dar, welche Anfang der 1990er Jahre für Werbekampagnen der Modefirma United Colors of Benetton benutzt wurden. Toscanis politisch und gesellschaftlich brisanten Photographien eines sterbenden Aidskranken oder einer blutverschmierten Uniform eines Soldaten und das den Photographien immanente politische Statement werden hier für das Werben für Bekleidungsartikel eingesetzt und somit aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen. Reflexivität bedeutet also die Auflösung einer eindimensionalen Perspektive kultureller Produkte.

85 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], 14. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, S. 128-176. 86 Für weitere Erläuterungen am Beispiel der Marken Swatch und Nike siehe Scott Lash und Celia Lury, Global Culture Industry: The Mediation of Things, Cambridge 2007, S. 196 ff.

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8.4 Prozesse der Globalisierung Die drei Prozesse der Globalisierung stellen nun die signifikanten soziokulturellen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung dar. Sie sind das Resultat aus dem Zusammenspiel der erörterten politisch-, technisch- und informell-globalen Entwicklungen. Die drei Prozesse hängen eng miteinander zusammen, verweben sich und meinen mitunter die gleichen Sachverhalte. Auf den Ebenen der Weltgesellschaft, der globalen Netzwerkgesellschaft und des global village werden die unterschiedlichen Resultate der Glokalisierung, der Enttraditionalisierung und der Entbettung besonders sichtbar und schaffen neue globale und lokale Identifikationsmuster. Die weiteren Beschreibungen und Definitionen der drei Prozesse der Globalisierung sollen an den musikalischen Fallbeispielen direkt erläutert und in die jeweiligen Kapitel mit eingeflochten werden. 8.5 Musikalische Fallbeispiele Die drei musikalischen Fallbeispiele werden nachfolgend gemäß ihrer unterschiedlichen Konstitutionen schwerpunktartig beleuchtet. Die drei Perspektiven und Prozesse der Globalisierung fungieren hierbei als gemeinsame Merkmale einer sich verändernden Gesellschaft. In allen drei Musikbeispielen werden diese immer wieder mit unterschiedlicher Intensität zum Vorschein kommen. Das Kapitel „Stockhausens Weltmusik“ stellt zunächst die Schriften Karlheinz Stockhausens zum Thema Weltmusik vor. Das Weltmusikkonzept des Komponisten wird dann in einen soziokulturellen Kontext verortet. Anschließend werden die kompositorischen Mittel Stockhausens vorgestellt, mit denen er sein Weltmusikkonzept musikalisch ausdrücken möchte. Hierbei fällt der Blick besonders auf seine Werke TELEMUSIK und HYMNEN. Aus den HYMNEN werden sodann vier Ausschnitte näher beleuchtet. Der übergeordnete globale Kontext wird abschließend schwerpunktartig anhand der Thematiken des transnationalen Gedankens in den HYMNEN und des Einflusses des global village in Stockhausens Weltmusikkonzept näher untersucht. Das zweite Kapitel mit dem musikalischen Fallbeispiel des jamaikanischen Ska im globalen Kontext beschreibt zunächst die Genese der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik bis hin zur Musikform Ska als

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erster jamaikanischer „Nationalmusik“ und deren Weiterentwicklung über den Rocksteady zum Reggae. Der globale Einfluss auf die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik steht dabei im Vordergrund. Schwerpunktartig sollen hieran die verschiedenen Positionen der Homogenisierung-versus-Heterogenisierungs-Debatte beleuchtet werden. Die Adaptionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der Skinheads stellt ein weiteres Beispiel für die Relevanz der drei Perspektiven und Prozesse der Globalisierung im musikalischen Kontext dar. Vor allem die Entbettung der Musikform Ska in Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und transnationaler Identität soll vorgestellt werden. Das dritte musikalische Fallbeispiel im Kapitel „Traditionen der world music“ stellt die marktstrategisch entwickelte Schirmkategorie „world music“ in den Mittelpunkt der Untersuchung. Es soll gefragt werden, ob hier möglicherweise eine „neue“ musikalische Traditionslinie einer globalen Welt konstruiert wurde. Anhand musikalischer Beispiele aus dem Œuvre Paul Simons und einiger Musiker westafrikanischen Ursprungs wird dieser Frage nachgegangen. Auch soll world music im Spannungsfeld der Globalisierungsdebatte Homogenisierung versus Heterogenisierung der Musikkulturen verortet werden. Hierbei treten wiederum die verschiedenen Perspektiven und Prozesse der Globalisierung mit unterschiedlicher Gewichtung in den Vordergrund. Abschließend sollen die neuen Möglichkeiten der world music im Zeitalter der Globalisierung mit Schwerpunkt auf den Auswirkungen einer aufkommenden globalen Netzwerkgesellschaft anhand der zeitgenössischen Band Vampire Weekend aufgezeigt werden. Alle Verweise der drei musikalischen Fallbeispiele auf globale Zusammenhänge werden in einem abschließenden Fazit noch einmal gegenübergestellt. Die Einbettung der Fallbeispiele in die vorgestellten theoretischen Modelle einer kulturellen Globalisierung und in den Diskurs Homogenisierung versus Heterogenisierung werden an dieser Stelle ebenfalls vorgenommen. Die Kernthese der Arbeit, dass alle drei Fallbeispiele durch globalgesellschaftliche Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung signifikant beeinflusst wurden, soll damit eine Darstellung erhalten. Die Idee, welche hinter der zentralen Fragestellung steht, soll durch die unterschiedlichen Blickwinkel der musikalischen Fallbeispiele und auch durch die differenzierten wissenschaftlichen Herangehensweisen an diese untermauert werden: Karlheinz Stockhausen verkörpert dabei den Künstler als Einzelperson, der auf die veränderte gesellschaftliche Lage im Werk Bezug

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nimmt; Ska repräsentiert eine Musikform, welche durch verschiedene globale Einflüsse verändert wird; und die world music ist ein konstruiertes Genre der Musikindustrie und stellt somit einen intendierten Versuch dar, auf globale Veränderungen Bezug zu nehmen und diesen einen festen Rahmen zu geben. Wie oben erwähnt, ist der gemeinsame Bezugsrahmen der drei Musikbeispiele die zeitliche Eingrenzung ab 1950 und der den Fallbeispielen immanente westliche Einfluss. Die drei ausgewählten musikalischen Beispiele ließen sich durchaus auch durch andere ersetzen beziehungsweise ergänzen. So hätte man statt Karlheinz Stockhausen möglicherweise auch Ansichten und Werke von John Cage, Frank Zappa oder Dieter Schnebel als Muster heranziehen können. Auch die Oper Nixon in China von John Adams gäbe ein gutes Beispiel für eine (individuell intendierte) musikalische Reaktion auf globalgesellschaftliche Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Für den Ska als eine im Zeitalter der Globalisierung entstandene und weiterentwickelte Musikform fänden sich ebenfalls durchaus Äquivalente. Die südafrikanische Musikform Kwela, auf die im dritten Fallbeispiel kurz Bezug genommen wird, würde hier gewiss ein gleichgewichtetes Pendant darstellen. Andere im globalen Zusammenhang interessante postkoloniale Musikformen wären beispielsweise auch Rai, Bhangra, Arabesk oder Qawwali. World music als konstruiertes Genre findet wiederum Ebenbilder in Subgenres wie New Age oder auch in Kategorisierungen wie Jazz oder noch allgemeiner in der Kategorie black music. Weitere Untersuchungen könnten anhand der aufgestellten Kriterien des Zeitalters der Globalisierung also folgen. Ohnehin besitzt gerade die Geschichte populärer Musikformen einen globalen historischen Kern und ihre weltweite Verbreitung und Vermarktung sind unmittelbar mit den technischen Innovationen verknüpft, welche in den Globalisierungsphasen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen.87 In neuesten Studien wird sogar davon ausgegangen, dass al-

87 Alexandros G. Baltzis führt die Entstehung populärer Musikformen bis auf den Kolonialismus und den Sklavenhandel zurück, vgl. Baltzis, „Globalization and musical Culture“, S. 141. In der neueren Geschichte der US-amerikanischen Populärmusik wird die Zeit ab 1950 – also der dieser Arbeit zugrunde liegenden jüngsten Globalisierungsperiode – als Paradigmenwechsel bezeichnet. Die populäre Musik erfährt ab diesem Zeitpunkt eine größere Relevanz, vgl. Reebee Garofalo, Rockin‘ Out: popular music in the USA, Boston 1997, S. 1 ff.

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le populären Musikformen durch Entwicklungsgänge entstanden, die der Globalisierung zuzuschreiben sind; unterschiedliche Formen und musikalische Facetten dienen hierbei nur noch als regionale Orientierungen, Identifikationsmerkmale oder Verkaufsanreize.88 Ein weiterer Forschungsansatz, der hier ebenfalls nicht verfolgt wird, könnte ferner darin bestehen, globale Zusammenhänge in Werken zu analysieren, die zeitlich vor dem Zeitalter der Globalisierung datiert werden, oder auch zu versuchen, eine Gegendarstellung an Werken im Zeitalter der Globalisierung zu vollziehen, in denen kein oder ein anders gearteter globalgesellschaftlicher Zusammenhang auszumachen ist.89 Freilich führten diese Diskurse auch zu Ergebnissen, welche aber die Kernthese dieser Arbeit nicht infrage stellen würden. Die nun folgenden Beschreibungen der musikalischen Fallbeispiele unternehmen den Versuch, die gesellschaftlichen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung sichtbar zu machen und somit auch eine Theorie zu liefern, anhand der weitere Untersuchungen entlang der aufgestellten soziologischen Kriterien erfolgen können.

88 Vgl. Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S. 163. 89 Besonders hervorzuheben wären hier musikalische Fallbeispiele aus dem asiatischen Raum. Globalisierungszusammenhänge werden in Indien oder Japan ganz anders bewertet, da gerade im kulturellen Bereich der westliche Einfluss durch die Wertschätzung und Geschichte der eigenen Hochkultur anders ausgeprägt ist. Dennoch könnte man wohl die Transformationen indischer Musikformen der letzten fünfzig Jahre durchaus in einem Globalisierungskontext betrachten. Es wurde in dieser Arbeit allerdings bewusst auf ein „asiatisches“ Beispiel verzichtet, da hierfür umfangreiche Vorkenntnisse der indischen oder japanischen Musik vonnöten wären.

II Stockhausens Weltmusik

Die musikalische Umsetzung einer „Weltmusik“ nahm für Karlheinz Stockhausen seit Mitte der 1960er Jahre eine zentrale Rolle in seinem Schaffen ein. Spätestens seit dem Werk TELEMUSIK1 aus dem Jahre 1966 ist ein signifikanter und analytischer Zusammenhang zwischen Stockhausens Äußerungen über Weltmusik und seinen Kompositionen auszumachen.2 Stockhausen formulierte hier erstmalig sein musikalisches Konzept einer Weltmusik, indem er darüber schrieb, dass er „einem alten und immer wiederkehrenden Traum näherkommen [wollte]: einen Schritt weiterzugehen in die Richtung, nicht ‚meine‘ Musik zu schreiben, sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen“3. Der Zusammenhang zwischen den Schriften und den Werken Stockhausens soll im folgenden Kapitel anhand einiger Analysebeispiele aus der Komposition HYMNEN dargestellt werden. Es soll die Frage geklärt werden, welchen soziokulturellen Ursprung Stockhausens Weltmusik hat, wie er seinen Weltmusikbegriff musikalisch umsetzt und welche Ästhetik dabei entsteht. Stockhausen verfasste Anfang der 1970er Jahre den Artikel Weltmusik, in welchem er im Grunde alle zentralen Merkmale seiner Vorstellung von

1

Stockhausen bejahte in einem Interview über TELEMUSIK die Frage, ob diese Komposition als Weltmusik bezeichnet werden kann, vgl. Karlheinz Stockhausen, „Interview über Telemusik“ [1968], in: ders., Texte zur Musik 1963-1970, hrsg. von Dieter Schnebel, Band 3, Köln 1971, S. 79-84, hier S. 79.

2

Vgl. Christian Utz, Neue Musik und Interkulturalität, Stuttgart 2002, S. 136.

3

Karlheinz Stockhausen, „Telemusik“ [1966], in: ders., Texte zur Musik 19631970, S. 75-78, hier S. 75.

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diesem Begriff darlegte. Der Text lässt sich als Endresultat eines Diskurses interpretieren, welchen Stockhausen seit den 1950er Jahren im Zusammenhang mit der Herausbildung einer kompositorischen „Momentform“, der „Metacollage“ und den dazugehörigen Auseinandersetzungen mit seriellen Kompositionsverfahren und elektronischer Musikästhetik führte. Die Analyse des Textes Weltmusik soll zunächst die wichtigsten Kriterien einer Weltmusik Stockhausens beleuchten. Darüber hinaus enthalten speziell Stockhausens HYMNEN, welche aufgrund der vielfältigen kompositorischen Stilistik als eines seiner Hauptwerke der elektronischen Musik angesehen werden ,4 mehrere Deutungsebenen, die im Besonderen auf die Globalisierung zurückzuführen sind; die Perspektive einer transnationalen Weltgesellschaft5 erfährt hier eine musikalische Darstellung. Die HYMNEN und der Weltmusikbegriff Stockhausens weisen überdies Zusammenhänge mit der Idee des global village6 auf: einer durch den technischen Fortschritt der Kommunikationsmedien grenzüberschreitenden Kulturindustrie und der dadurch bedingten Verdichtung von Raum und Zeit.7 Die

4

Vgl. Rudolf Frisius, „Neue Dimensionen der musikalischen Interpretation: Die elektroakustische Musik“, in: Hermann Danuser (Hrsg.), Neue Musik und Interpretation, Mainz 1994, S. 54-66, hier S. 57; Nicholas F. Hopkins, Hymnen: Tractatus Musica Unita (= Feedback Papers 37), Köln 1991, S. 6 f.

5

Der Begriff Transnationalität wird, wie in Kapitel I beschrieben, vor allem in der Debatte über die Auflösung des Nationalstaats, globale Wirtschaftsverflechtungen, Migration und das Aufkommen einer Weltgesellschaft gebraucht.

6

Stockhausen erwähnte McLuhans Begriff 1969 in seinem Aufsatz Ein Mundstück, Karlheinz Stockhausen, „Ein Mundstück“ [1969], in: ders., Texte zur Musik 1963-1970, S. 300 ff., hier S. 300.

7

Sowohl Robin Maconie, Other planets: the music of Karlheinz Stockhausen, London 2005, S. 272, als auch Oliver Huck, „Hymnen auf die elektronische Musik“, in: Jürgen Arndt und Werner Keil (Hrsg.), „Alte“ Musik und „neue“ Medien, Hildesheim 2003, S. 28-55, hier S. 43, greifen diesen Zusammenhang auf, ohne ihn allerdings eingehender zu betrachten. Einzig Michael Neuhaus, „,ALLES ist das GANZE und GLEICHZEITIG‘. Zur interkulturellen Funktion des Kurzwellenempfängers“, in: Imke Misch und Christoph von Blumröder (Hrsg.), Internationales Stockhausen-Symposium 1998 (= Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit IV), Saarbrücken 1999, S. 125-133, bezeichnet

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Entstehung des Global-village-Begriffs um 1964 gilt als ein wissenschaftshistorischer Fixpunkt des aufkommenden Zeitalters der Globalisierung.8 Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden ebenfalls untersucht werden. Über die Person Karlheinz Stockhausen, vor allem aber über seine weltanschaulichen Äußerungen in Bezug auf seine Weltmusikidee ist in den letzten 50 Jahren eine kontroverse Debatte geführt worden. Es wurde ihm unter anderem ein narzisstischer, faschistoider Personenkult9 sowie ein falsches musikalisches Bewusstsein unterstellt;10 ferner wurde ihm vorgeworfen, einen imperialistischen Staatsgedanken zu protegieren11 und religiöse Allmachtsphantasien auszuleben.12 Aufgrund der Fülle von Sekundärliteratur, der zahlreichen Polemiken, die sowohl über Stockhausens Künstlerpersönlichkeit als auch besonders über das Material und die kompositorische Struktur der HYMNEN verfasst worden sind, und der politischen Dogmen der jeweiligen Autoren ist ein neutraler Blick auf die Verknüpfungen soziokultureller globaler Veränderungen und die Kompositionen Stockhausens schwer zu gewährleisten. Auch trugen die eigenen oft widersprüchlichen Aussagen Karlheinz Stockhausens dazu bei, diesen Diskurs bis zum heutigen Tage am Leben zu erhalten. Nur wenige Personen haben die Ideologien und Gedanken Stockhausens im Zusammenhang mit den globalgesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit gesehen. Johannes Fritsch ist einer derjenigen, welcher die Verknüpfungen zwischen den neuen technischen Möglichkeiten und Stockhausens universalen, interreligiösen Vorstellungen formulierte:

Stockhausens Einsatz von Kurzwellenempfängern als musikalische Reaktion auf die Schriften McLuhans über neuzeitliche Medien und ihre globale Reichweite. 8

Vgl. Mazlish, „An Introduction to Global History“, S. 1.

9

Klaus K. Hübler, „Und doch bin ich Mensch geworden, Karlheinz Stockhausen, oder der Komponist als Gottessohn“, in: Gabriele Förg (Hrsg.), Unsere Wagner, Frankfurt a. M. 1984, S. 85-123, hier S. 98.

10 Konrad Boehmer, Zwischen Reihe und Pop: Musik und Klassengesellschaft, Wien 1970, S. 136. 11 Wolfgang Martin Stroh, Zur Soziologie der elektronischen Musik, Zürich 1975, S. 140. 12 Johannes Fritsch, „Stockhausens Weltmusik“, in: Peter Ausländer und ders. (Hrsg.), Weltmusik (= Feedback Papers Sonderheft), Köln 1981, S. 115-126, hier S. 121.

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„Die Funktion der Musik, ‚in der Erlebnisfähigkeit immer größere Kreise zu ziehen‘, uns vorzubereiten ‚auf Wesen von anderen Planeten‘, ist gespeist aus einem Fortschrittsdenken und einer intergalaktischen Paradiesvorstellung, die zu den großen Mythen des 20. Jahrhunderts gehören. […] Daß die Struktur der Trivialmythen (vgl. den Film Superman) sich so sehr nicht unterscheidet von dem, was Religionsstifter und Künstler uns anbieten, um das Unerklärliche zu bewältigen, mag die funktionale Wahrheit beider bestätigen. So erklären sich Stockhausens Ansprüche, höheres Bewußtsein erreichen und vermitteln zu wollen, seine Träume und Visionen und die immer wiederholte Behauptung, daß er nur Medium, nur Durchgangsstation sei, als hochdifferenzierte Rationalisierungen von Bildern des kollektiven Unbewussten.“

13

Trotz der Schwierigkeit, zwischen den theoretisch-analytischen und ideologisch-weltanschaulichen Aspekten seiner Arbeiten zu unterscheiden,14 soll nun der gemeinsame Ursprung der verschiedenen Einflüsse auf Stockhausens Werk HYMNEN im Zeitalter der Globalisierung verortet werden. Die Auswahl der musikalischen Analyse fiel auf die HYMNEN und nicht auf das Werk TELEMUSIK, weil sich zwar Stockhausens Weltmusikkonzept und seine serielle Kompositionsästhetik besser an TELEMUSIK darstellen, sich jedoch bei den HYMNEN soziokulturelle Aspekte – vor allem durch die Verwendung von Nationalhymnen als musikalischem Material – im Zusammenhang mit der damalig aufkommenden Globalisierungsdebatte aufzeigen lassen. Stellt Stockhausens Werk HYMNEN das neue weltpolitische Gefüge und die gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung musikalisch dar? Vielleicht ist es erst nach den von den Sozialwissenschaften freigelegten Konturen der historischen Globalisierungsperioden möglich, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu analysieren.

13 Ebd., S. 122 f, Hervorhebungen im Original. 14 Vgl. Rudolf Frisius, „Stockhausen, Karlheinz“, in: MGG2, Personenteil, Band 15 (2006), Sp. 1469-1512, hier Sp. 1476.

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Stockhausens Beschreibung einer Transformation seiner Musik hin zur Weltmusik beinhaltet vier Kernpunkte.15 Zunächst lässt sich eine stark ausgeprägte kritische Haltung zu der globalisierungsbedingten Tendenz einer westlichen kapitalistischen Homogenisierung der Weltkulturen ausmachen. Die Frage nach der kulturellen Entwicklung der Gesellschaft ist eine Debatte, welche sich historisch wohl bis in antike Schriften zurückverfolgen lässt. Die Diskussion über eine kulturelle Homogenisierung oder Heterogenisierung entflammte zeitgleich mit dem Aufkommen des beschriebenen „Weltkontextes“ in den Sozialwissenschaften ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.16 Freilich lassen sich Vorläufer dieser Thematik schon in früheren Schriften finden, welche den Verfassern einer global history als „Beweisstücke“ dienen.17 Ein musikalischer Homogenisierungsgedanke wurde zum Beispiel 1905 von Erich M. Hornbostel formuliert. Hornbostel verneinte hier allerdings vehement das Aufkommen einer Universalmusik:

15 Weite Teile der hier von Stockhausen 1973 beschriebenen Punkte hatte er bereits in seinen 1970 gehaltenen Seminaren für die Darmstädter Ferienkurse an der Definition der „Metacollage“ kompositionshistorisch hergeleitet, vgl. Karlheinz Stockhausen, „Collage und Metacollage. Gefundene und erfundene Musik, Teil 1 (Seminar am 29. August 1970)“, in: ders., Kompositorische Grundlagen Neuer Musik, hrsg. von Imke Misch, Kürten 2009, S. 117-162, hier S. 117120. Die dort dargestellten Erkenntnisse waren für Stockhausen offensichtlich der Anlass, diese einige Jahre später in seinem Artikel Weltmusik in einen übergeordneten globalgesellschaftlichen Kontext zu stellen. 16 Auch in der Postmoderne-Diskussion spielte diese Thematik eine große Rolle, vgl. Wolfgang Welsch, „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 1-45, hier S. 13 ff. 17 Vgl. Dürrschmidt, Globalisierung, S. 33.

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„Eine Universalmusik […] die der tönende Ausdruck des ‚Allgemein-Menschlichen‘ wäre und der man mit gleichem Entzücken in der Fifth Avenue und in der Kalahari lauschen würde, […] wird immer eine wirklichkeitsfremde Utopie bleiben“

18

Stockhausen beginnt nun seinen Artikel Weltmusik mit der Beschreibung des Zusammenhangs zwischen dem westlichen Tourismus und der Entwicklung musikalischer Traditionen: „Der Tourismus bietet vielen Menschen Gelegenheit, die Musik anderer Völker unmittelbar zu erleben. Gleichzeitig ist aber auch der Tourismus die größte Gefahr für das Überleben von musikalischen Traditionen, in denen Musik – wie alle anderen Künste – integrierter Bestandteil des religiösen Lebens aller Beteiligten ist. Wer für kurze Zeit als Tourist in Ceylon ist, wird nicht nur selbst beeinflußt, sondern er beeinflußt auch die Menschen, die er bezahlt, um für ihn zu spielen, zu singen, zu tanzen, zu mimen. Dieser Prozeß einer globalen kulturellen ‚Umweltverschmutzung‘ ist nicht aufzuhalten.“

19

Stockhausens kritische Einstellung zum Kapitalismus äußerte sich auch in anderen Zusammenhängen, zum Beispiel in einem Interview zur Uraufführung der Orchesterfassung der HYMNEN 1971, in dem er die „völlig kommerzialisierte, insbesondere amerikanische Einstellung zu Musik“20 kritisierte. In einem anderen Interview betonte Stockhausen zudem das Aufkommen der globalen Popmusik und der Kulturindustrie als ein Merkmal für den globalen Uniformismus: „1966 war es für mich interessant, auf meiner Rückreise von Japan den ‚globalen‘ Geschmack zu studieren. Ich habe unterwegs ‚lectures‘ gehalten und Konzerte gemacht. Da konnte man – wie in Tokyo oder Osaka – in einen Nightclub eingeladen

18 Erich Moritz von Hornbostel, „U.S.A. National Musics“, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 12/3 (1910), S. 67, zit. n. Grupe, „‚Cultural Grey-out‘ oder ‚Many Diverse Musics‘?“, S. 12. 19 Karlheinz Stockhausen, „Weltmusik“ [1973], in: ders., Texte zur Musik 19701977, hrsg. von Christoph von Blumröder, Band 4, Köln 1978, S. 468-476, hier S. 468. 20 Karlheinz Stockhausen, „HYMNEN. Zur Uraufführung der Orchesterfassung“ [1971], in: ders., Texte zur Musik 1970-1977, S. 85-100, hier S. 95.

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werden in Hongkong, in Phnom Penh, in Angkor, New Dehli, Bangkok, Teheran, Beirut, Istanbul, Athen: überall hörte man dieselbe ‚Popmusik‘! […] Wo […] die Unterhaltungsmusik durch Rundfunk, Schallplatten, Fernsehen verbreitet ist, da wird alles uniform. “

21

Jene Gedanken Stockhausens sind im ideologischen Diskurs einer totalen Kulturindustrie zu verorten.22 Laut Theodor W. Adorno und Max Horkheimer wurde unter Einfluss industrieller Strukturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „die Kultur“ zur Kulturindustrie und unterwarf sich gänzlich einem ökonomischen Diktat. Die Produkte der Kulturindustrie sind in ihrer „Vielfältigkeit“ demnach homogenisiert wie ein industrielles Produkt und lediglich auf unterschiedliche Geschmäcker nuanciert: „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus. Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen. Die ästhetischen Manifestationen noch der politischen Gegensätze verkünden gleichermaßen das Lob des stählernen Rhythmus. […] Die augenfällige Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos demonstriert den Menschen das Modell ihrer Kultur: die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem. Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch, und ihr Skelett, das von jenem fabrizierte begriffliche Gerippe, beginnt sich abzuzeichnen. An seiner Verdeckung sind die Lehrer gar nicht mehr so sehr interessiert, seine Gewalt verstärkt sich, je brutaler sie sich einbekennt. Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, dass sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen.“

23

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Homogenisierung der Kultur meist von Kapitalismuskritikern heraufbeschworen. Hierbei lag der Fokus

21 Karlheinz Stockhausen, „Interview I“ [1973], in: ders., Texte zur Musik 19701977, S. 478-525, hier S. 481. 22 Ähnlich kritische Gedanken merkte unter anderem auch Dieter Schnebel ungefähr zur selben Zeit wie Stockhausen an, vgl. Dieter Schnebel, Neue Weltmusik, in: Monika Goedl-Roth (Hrsg.), Weltkulturen und Moderne Kunst. Ausstellungskatalog für die Spiele der XX. Olympiade München, München 1972, S. 586 ff. 23 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 128 f.

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immer auf einer „Verwestlichung“ oder „Amerikanisierung“ durch Produkte der Kulturindustrie. Sinnbildlich hierfür steht der Begriff der „McDonaldisierung“ von Georg Ritzer.24 Der von Stockhausen genannte Aspekt einer Gefährdung „traditioneller“ Musikkulturen durch den modernen Massentourismus ist in der Debatte über den kulturellen Einfluss der Globalisierung und die dadurch bedingte Entstehung einer homogenen Weltkultur stark verbreitet. Ungefähr zur selben Zeit wie Stockhausen merkte auch Zofia Lissa in ihrem Artikel Vom Wesen des Universalismus in der Musik an, dass durch die Berührung der Entwicklungsländer mit der Kultur der hochindustrialisierten Länder der Prozess der Homogenisierung nicht aufgehalten werden kann.25 Auch von Musikwissenschaftlern wie zum Beispiel Alan Lomax wurde in den späten 1960er Jahren der Gedanke einer Homogenisierung der Musikkulturen formuliert, welche zu einem farblosen musikalischen Einheitsbrei führe.26 Karlheinz Stockhausen gehörte neben Zofia Lissa zu den Ersten innerhalb der europäischen Musikszene, die diesen Aspekt der Globalisierung Anfang der 1970er Jahre wieder in das öffentliche Bewusstsein führten. Beide griffen hier Thesen auf, die dann zusammenhängend in der fortschreitenden Weltmusikdebatte eine gewichtige Rolle spielten. Wie Tourismusforscher darlegten, ist der aufkommende Massen- und Individualtourismus in nicht westliche Länder auch als eine Reaktion zu verstehen, der westlichen homogenisierten Welt zu entfliehen.27 Jean-Jacques Rousseaus „edler Wilder“ erfährt hierbei gewissermaßen eine Renaissance, da der Grundgedanke des westlichen Touristen darin besteht, in der nicht westlichen Sphäre auf eine im Naturzustand sich befindende Gesellschaft zu stoßen, welche aufgrund ihrer „Reinheit“ als Idealbild erachtet wird. Mittlerweile gilt der aufkommende Massentourismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Kriterium eines sich in den letzten 50 Jahren abzeichnenden neuen globalen

24 Georg Ritzer, The McDonaldization of Society: An Investigation into the Changing Character of Contemporary Social Life, London 1993. 25 Vgl. Zofia Lissa, „Vom Wesen des Universalismus in der Musik“, in: GoedlRoth (Hrsg.), Weltkulturen und Moderne Kunst, S. 22-26, hier S. 25. 26 Vgl. Alan Lomax, Folk Song Style and Culture, New Brunswick 1968. 27 Erste Studien hierzu wurden bereits in den 1970er Jahren gemacht, siehe unter anderem Louis Turner und John Ash, The Golden Hordes: International Tourism and the Pleasure Periphery, London 1975.

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Zeitalters.28 Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson beschreiben zudem das Reisen als prinzipielles Globalisierungsmerkmal. Dieses war schon seit Beginn des Aufbaus der spanischen und portugiesischen Kolonialreiche um 1500 in der europäischen Geschichte verankert: „Die europäische war die einzige Zivilisation, die Reisende in alle Welt schickte und ein gewaltiges Wissen über die Sprachen, Religionen, Sitten und Staatsverfassungen der Anderen zusammentrug.“29 Der zweite Kernpunkt, den Stockhausen nun in seinem Artikel beschreibt, ist die Verantwortung der westlichen kapitalistischen Welt, die „traditionellen“ Musikkulturen aufzuzeichnen und damit zu konservieren. Stockhausen macht auf die Situation aufmerksam, dass die westliche Welt aufgrund ihrer technischen Überlegenheit eine gesellschaftliche Aufgabe besitzt. Für ihn ist gerade eine europäische Verantwortung zum Erhalt der Musikkulturen elementar: Es sei „die höchste Verpflichtung in unserer Zeit, so viele musikalische Formen und Aufführungsriten zu konservieren, wie überhaupt nur möglich. [W]ir müssen uns mit der Vorstellung vertraut machen, daß der Standard der europäischen Kultur seine Faszination für alle anderen Völker behalten und sogar noch vergrößern wird, und daß gerade darin die große Verantwortung besteht, von den anderen Kulturen so viele kristallisierte Formen in ihrem jetzigen Zustand zu erhalten, wie überhaupt nur möglich. […] Die Europäer haben nun einmal nicht nur die Technik, Neues zu produzieren, sondern auch bisher Gewachsenes zu konservieren.“

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Die Verpflichtung der westlichen Welt, Musik zu konservieren und aufzuzeichnen, steht nun wiederum in einem klaren Widerspruch zum dritten

28 Vgl. ebd., S. 130; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 101. 29 Ebd., S. 43. 30 Stockhausen, „Weltmusik“, S. 469-471. Stockhausen greift hier einen Gedanken auf, der zuvor schon von Walter Wiora formuliert worden ist. Wiora spricht in diesem Zusammenhang von der Errichtung eines „universalen Museums“, vgl. Walter Wiora, Die vier Weltalter der Musik, Stuttgart 1961, S. 15. Für weitere Informationen hierzu siehe auch Gernot Gruber, „Stockhausens Konzeption der ,Weltmusik‘ und die Zitathaftigkeit seiner Musik“, in: Misch, Blumröder (Hrsg.), Internationales Stockhausen-Symposion 1998, S. 103-111, hier S. 103 f.

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Kernpunkt des Artikels: der Auflösung „traditioneller“ Kulturen von innen heraus. Stockhausen verwendet für die Beschreibung dieses Prozesses markante Worte: „Sie seien überreif und im Zustand der Fäulnis, dazu bestimmt, sich in etwas neues zu verwandeln.“31 Stockhausen schreibt in diesem Zusammenhang weiter: „Der Prozeß der inneren Erneuerung in allen Kulturen setzt mehr oder weniger gleichzeitig ein, und auch ohne die Touristen würde Bali dazu streben, Anschluß an die übrige Welt zu finden.“32 Stockhausens Thesen offenbaren hier parallele Denkmuster zu der in den 1960er Jahren entstandenen Gegenkultur, die einerseits die modernen, kapitalistischen und westlichen Bestrebungen des Fortschritts kritisierte, sich andererseits aber nicht aus ihrem kognitiven Gesamtsystem lösen konnte. Die Behauptung, die „traditionellen“ Kulturen lösen sich auch ohne die Zugabe der westlichen Welt auf, verweist deutlich auf eine Auseinandersetzung Stockhausens mit kulturanthropologischen Betrachtungen. Gerd Grupe mutmaßt, dass hier eine Grundstimmung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auszumachen ist, die die Erhaltung „traditioneller“ Musiken zur Hauptaufgabe der Musikethnologie erklärte und gleichsam vor einer „Verwestlichung“ warnte;33 den Erhalt der außereuropäischen „traditionellen“ Musikkulturen sah man als Bewahrung der Authentizität und Ethnizität an, welche sich in der europäischen Kunstmusik jener Zeit aufgelöst hatte.34 Die angloamerikanische Dominanz in der populären Musikkultur führte zudem zu einer idealisierten, romantisierten und nostalgischen Sicht auf außereuropäische Musikkulturen. Diese wurden als Gegenstück zu den Produkten der Kulturindustrie verstanden.35 Hierzu passt die Aussage von Siegmund Helms aus den 1970er Jahren, deutsche Jugendliche interessierten sich immer mehr für außereuropäische Musik, aus musikalischen, psychologischen und vor allem ideologischen Gründen: „Diese Musik scheint ihnen die Vorstellung von einer Alternative zur Welt zu vermitteln, von der sie sich distanzieren wollen und gegen deren Kult des Rationalen, der Effi-

31 Stockhausen, „Weltmusik“, S. 469. 32 Ebd., S. 470. 33 Grupe, „‚Cultural Grey-out‘ oder ‚Many Diverse Musics‘?“, S. 12. 34 Vgl. Christian Utz, „Zur kompositorischen Relevanz kultureller Differenz. Historische und ästhetische Perspektiven“, in: ders. (Hrsg.), Musik und Globalisierung, S. 29-49, hier S. 29. 35 Vgl. Tony Mitchell, Popular Music and Local Identity, London 1996, S. 264.

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zienz, des Profits und Erfolgs sie sich auflehnen.“36 Stockhausen trifft mit seinen Formulierungen zu diesem Thema – wie auch Zofia Lissa37 – den damaligen Zeitgeist der Auseinandersetzung zwischen Homogenisierung und Heterogenisierung. Die Homogenisierung der Musik, ob nun westlich oder nicht, ist ein komplexer Sachverhalt und beinhaltet eine gewisse Dialektik, welche sich in der Einfachheit der hier vorgestellten Wahrnehmungen allerdings nicht darstellen lässt. Es sei an dieser Stelle kurz die Systematik von Bruno Nettl vorgestellt, die im Folgenden und in den weiteren musikalischen Fallbeispielen für die Differenzierung der verschiedenen Formen einer kulturellen Globalisierung verwendet wird: Nettls Systematik unterteilt den sogenannten cultural grey-out in acht verschiedene Phänomene des westlichen Einflusses auf nicht westliche Kulturen: abandonment, die gänzliche Aufgabe der eigenen Kultur, impoverishment, die Ausdünnung der eigenen Kultur bei gleichzeitiger Ergänzung abendländischer Instrumente oder Aufführungspraktiken, isolated preservation, die „Archivierung“ der eigenen Kultur für Tourismuszwecke und als Vergangenheitskult, diversification, die Zusammenführung aller repräsentativen Elemente der Musikkultur in einem Musical oder Film, um deren Vielseitigkeit darzustellen, consolidation, das gezielte Fördern einer ganz bestimmten musikalischen Stilart als politisches und nationales Identifikationsmuster, reintroducing, das Rückführen „traditioneller“ Musik in ihren ursprünglichen Kontext, exaggeration, die gezielte Verstärkung „exotischer“ Stilelemente in der eigenen Musikkultur für ein westliches Publikum, und humorous juxtaposition, das karikatureske Verwenden abendländischer Stilelemente in der eigenen Musikkultur.38 Die Phänomene der Heterogenisierung unterscheidet Nettl in die Formen syncretism, eine gänzliche Verschmelzung der Musikkulturen, westernization, das Übernehmen und freiwillige Einbinden europäischer Harmonien oder Rhythmen, und modernization, das Verwenden bestimmter Skalen, Notationen oder Aufnahmetechniken in der eigenen Musikkultur. Karlheinz Stockhausen beschreibt in seinen oben dargelegten Ausführungen die von Bruno Nettl eingeführten Varianten impoverishment und isolated preservation. Bemerkenswert ist nun, dass Stockhausen am Ende

36 Siegmund Helms, Außereuropäische Musik, Wiesbaden 1974, S. 3. 37 Vgl. Lissa, „Vom Wesen des Universalismus in der Musik“, S. 22. 38 Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 350 ff.

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seiner Ausführungen zur Weltmusik von der Entstehung einer uniformierten Erdkultur ausgeht, die dann eine neue eigenständige musikalische Form entwickeln wird, hier also gewissermaßen Homogenisierung und Heterogenisierung als zwei aufeinanderfolgende Stadien eines Prozesses wahrnimmt. Dies geht aus dem vierten Kernpunkt seines Artikels hervor, der die Entstehung einer Weltmusik beschreibt: „Die Konsequenz aus diesem schnellen Prozeß der Auflösung individueller Kulturen ist, daß sie alle in eine mehr einheitliche Erdkultur münden. Das erste Stadium dieses Prozesses ist also eine Uniformierung und Verflachung. Dadurch wird aber un39

erhört viel Energie frei, die bisher in den einzelnen Formen gebunden war.“

Stockhausen kommt nun zu folgendem Schluss: „Aus dem Vermischungs- und Integrationsprozeß aller Musikkulturen dieser Erde wird sich nach einer ersten Phase dann eine zweite eröffnen, in der […] eine stark gegenläufige Tendenz gegen den Uniformitätstrend sich einstellt. Das heißt, daß man nach einer Zeit starker Konservierungstätigkeit in einzelnen Kulturbezirken alle Konzentration darauf richten wird, wieder originelle eigene Formen zu entwickeln als Beitrag zum Konzert aller Kulturgruppen, und man wird sogar eine Art künstlicher neuer Folklore […] hervorbringen .“

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Stockhausen formuliert hier beide Positionen, die der Homogenisierung und Heterogenisierung, wie sie in den Sozialwissenschaften auch unter der Berücksichtigung einer neuen globalen Identitätsbildung diskutiert werden. Er beschreibt dabei aber einen Prozess, der sich aus dem einen in das nächste Stadium entwickeln wird. Dieser Verlauf kommt der dialektischen Betrachtung der Veränderung der Kulturen durch die Globalisierung sehr nahe; ganz ähnlich definiert sich der Prozess der Glokalisierung, welcher die Verstärkung des Lokalen auf globaler Ebene beschreibt: Der Begriff Glokalisierung ist aus dem japanischen Terminus dochakuka abgeleitet worden, welcher ein landwirtschaftliches Prinzip bezeichnet, erlernte Techniken an lokale Umstände anzupassen. Der Begriff wurde im japanischen Geschäftsleben als Ausdruck für globale Lokalisierung

39 Stockhausen, „Weltmusik“, S. 469, Hervorhebungen im Original. 40 Ebd., S. 475.

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übernommen. In der übrigen (westlichen) Geschäftswelt wurde Anfang der 1990er Jahre der Terminus Glokalisierung ein Marketingmodewort. Roland Robertson, welcher den Begriff ebenfalls Anfang der 1990er Jahre in die Wissenschaft einführte, schreibt hierzu: „Der Gedanke der Glokalisierung ist in seiner ökonomischen Bedeutung eng mit dem verbunden, was in manchen Zusammenhängen in expliziterer ökonomischer Begrifflichkeit Mikro-Marketing heißt: das Zuschneiden von und Werben für Güter und Dienstleistungen auf globaler oder fast-globaler Ebene für zunehmend differenzierte lokale und partikulare Märkte.“

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Politisch wird die Verflechtung von Globalem und Lokalem beispielsweise durch Organisationen wie die World Council of Indigenous Peoples versinnbildlicht, die sich weltweit für die Rechte von ethnischen Minoritäten einsetzt. Der Prozess der Glokalisierung wird hierbei vom wirtschaftlichen Bereich auf eine andere gesellschaftliche Ebene übertragen. Karlheinz Stockhausen definiert nun durch sein theoretisches Konzept einer Weltmusik eine musikalische Ebene der Glokalisierung: Durch verschiedene lokale musikalische Einflüsse entsteht eine „Erdkultur“42, die dann wieder neue lokale Musikformen hervorbringt, als Beitrag „zum Konzert aller Kulturgruppen.“43 Wie lässt sich nun Stockhausens Weltmusikkonzept kunsthistorisch verorten? Karlheinz Stockhausens Ideen einer Weltmusik basieren in erster Linie auf einer in der europäischen aufklärerischen Tradition verankerten Vorstellung einer geradlinigen Veränderung und Vereinheitlichung der Musikkultur. Sie bauen unmittelbar auf den Gedanken einer neuen Weltmusik auf, wie sie von Georg Capellen Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben wurde. Capellen stellt in zwei zentralen Schriften44 die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der europäischen Kunstmusik und

41 Robertson, „Glokalisierung“, S. 197 f. 42 Stockhausen, „Weltmusik“, S. 469. 43 Ebd., S. 475. 44 Georg Capellen, „Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer Neuen Kunstentwicklung“, in: Die Musik XXIII (1906/07), S. 216-227, und ders., „Was können uns exotische Melodien lehren?“, in: Die Musik XXVIII (1907/08), S. 301-306.

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arabischen, indischen und japanischen Musikformen dar. Capellen beschreibt dort auch sinnbildlich das Warten auf das Genie, „dass der Vermählung von Orient und Okzident die rechte Weihe und ein persönliches Gepräge geben könnte.“45 Laut Stockhausen erfordert diese Transformation ebenfalls entsprechende Persönlichkeiten, die in der Lage sind, ihr tieferes Selbst zu entdecken, „in dem alles schlummert, was es je auf dieser Welt gegeben hat und das es bis in unbegrenzte Zeit noch geben wird“46. Diese Persönlichkeiten können wiederum diese Gabe erst erlernen, indem sie die konservierten Kulturen studieren und somit irgendwann in der Lage sein werden, „zum erstenmal buchstäblich die Erde [zu] umfassen“47. Die Parallelen der beiden Artikel sind hier unverkennbar.48 Der entscheidende analoge Aspekt der Schriften Stockhausens und Capellens ist die Idee einer Verschmelzung der Musikkulturen, um die musikalische Entwicklung so voranzutreiben, dass eine neue Weltmusik unter Einfluss aller Kulturen entsteht. Stockhausen greift als Komponist konkret den Wunsch Capellens auf, dass ein musikalisches Genie (in diesem Fall Stockhausen selbst) diese Entwicklung vorantreibt. Wie bereits erwähnt, wurde über Stockhausens Ausführungen, über ihren Ursprung und ihre Bewandtnis heftig debattiert. Für viele Autoren bleibt Stockhausens gesamtes Weltmusikkonzept in einer okzidentalen Kul-

45 Ders., Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer Neuen Kunstentwicklung, S. 227. Der Gedanke wird im Übrigen schon 1827 von Karl Christian Friedrich Krause und 1847 von Karl Fortlage formuliert, vgl. Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Frankfurt a. M. 2006, S. 210 f. 46 Stockhausen, „Weltmusik“, S. 472. 47 Ebd. 48 Sie wurden von Peter Revers hinlänglich beschrieben, vgl. Peter Revers, „Europäische Treibhausblüten versus Exotische Zukunftsvision“, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.), Das gebrochene Glücksversprechen. Zur Dialektik des Harmonischen in der Musik (= Studien zur Wertungsforschung 33), Wien 1998, S. 189-199, hier S. 195, und auch von Christian Utz in seiner interkulturellen Analyse über die Werke und Schriften Stockhausens aufgegriffen, vgl. Utz, Neue Musik und Interkulturalität, S. 143.

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turanthropologie und Religionsmythologie verankert.49 In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist jedoch auszumachen, dass sich die Sichtweise auf die Idee, weltumfassende musikalische Ausdrucksweisen zu schaffen, nicht nur bei Stockhausen verschob. Auch Zofia Lissa mahnte beispielsweise an, dass ein musikalischer Universalismus nur bei Gleichberechtigung aller Musikkulturen möglich sei.50 Die Kritik am „weltmusikalischen“ Konzept Stockhausens verstellt möglicherweise den Blick auf die Tatsache, dass die grundsätzliche Intention Stockhausens (und im Übrigen auch die Capellens) darauf abzielte, den vorherrschenden kulturimperialistischen Blick der Europäer auf andere Kulturen eben zu durchbrechen und durchaus die von Lissa aufgestellte Prämisse zumindest theoretisch zu erfüllen. Hier wird ein weiterer Zusammenhang zwischen den Schriften Stockhausens und den globalgesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung sichtbar: Der Einfluss der Gegenkultur wurde, wie beschrieben, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker. Auch Stockhausen interessierte sich zunehmend für außereuropäische Kulturen und Religionen, aber auch für weiterführende okzidentale Mythologien wie zum Beispiel das Urantia-Book.51 Das Urantia-Book, welches er nach eigenen Angaben nach der Uraufführung der Dritten Region der HYMNEN mit Orchester 1971 in New York überreicht bekam,52 hat den Anspruch, alle anderen religiösen Schriften zu korrigieren und zu vereinen. Das Buch steht in seiner Darstellung der Religion durchaus in einem christlichen Kontext, stellt aber die Aufhebung des Widerspruchs von religiösen Glaubenssätzen

49 Vgl. Revers, „Europäische Treibhausblüten versus Exotische Zukunftsvision“, S. 189 f.; Jürg Stenzl, „Orientfahrten“, in: Dieter Rexroth (Hrsg.), Zwischen den Grenzen. Zum Aspekt des „Nationalen“ in der Neuen Musik (= Frankfurter Studien III), Frankfurt a. M. 1979, S. 122-128, hier S. 124. 50 Vgl. Lissa, „Vom Wesen des Universalismus in der Musik“, S. 26. 51 Der Einfluss des Urantia-Book in Stockhausens Kompositionen wird vor allem ab den Werken INORI und besonders in LICHT deutlich, vgl. Gregg Wager, Symbolism as a Compositional Method in the Works of Karlheinz Stockhausen, Maryland 1998. 52 Vgl. Markus Bandur, „Karlheinz Stockhausen und die Rezeption von ,The Urantia Book‘ (Chicago 1955) in LICHT“, http://www.kath.ch/infosekten/ text_detail.php?nemeid=15337, Zugriff am 08.05.2013.

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und naturwissenschaftlichem Weltbild leitmotivisch in den Vordergrund.53 Spirituell sieht das Buch einen Aufbau von sieben Stufen der Göttlichkeit vor, welche ihr absolutes Stadium in einer welt-, zeit- und kosmisch umfassenden Erleuchtung findet.54 Es ist durchaus vorstellbar – obgleich von ihm in dem Zusammenhang nicht erwähnt –, dass Stockhausens Weltmusikkonzept auch vom Urantia-Book beeinflusst wurde.

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TELEMUSIK

UND

HYMNEN

Für Stockhausen war schon zu Beginn der 1950er Jahre klar, welche Kompositionsformen und ästhetischen Mittel eingesetzt werden müssten, um eine Weltmusik zu erschaffen: Er hielt offensichtlich die serielle Kompositionsweise für ideal, um seinen Weltmusikgedanken umzusetzen. Stockhausen sprach bereits 1953 davon, dass das Streben nach einer universell geplanten Ordnung im ästhetischen Diskurs serieller Kompositionstechniken weiter ging als jemals zuvor, um „Musik jeweils als Vorstellung jener umfassendsten globalen Struktur zu verstehen, in die alles einbezogen ist“55. Die serielle Technik wurde als Kompositionsstil angesehen, welcher einen

53 Vgl. ebd. 54 Vgl. Urantia-Foundation (Hrsg.), The Urantia Book, Chicago 1955, S. 2 ff. 55 Karlheinz Stockhausen, „Zur Situation des Metiers“ [1953], in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, hrsg. von Dieter Schnebel, Band 1, Köln 1963, S. 45-61, hier S. 47 (Christoph von Blumröder datiert diesen Artikel in das Frühjahr 1954, vgl. Christoph von Blumröder, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft XXXII), Stuttgart 1993, S. 173). Im Aufsatz Erfindung und Entdeckung von 1961 spricht Stockhausen in diesem Zusammenhang von der Suche nach dem kompositorischen Bewusstsein, „daß alle Vielheit aus einer Einheit oder Einheit aus Vielheit hervorgeht und wieder in sie mündet“, Karlheinz Stockhausen, „Erfindung und Entdeckung“ [1961], in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, S. 222-258, hier S. 224. Christoph von Blumröder beschreibt weitere Verweise auf Stockhausens Genese seiner Weltmusik, vgl. Blumröder, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens, S. 90 f. Von Blumröders Studie beleuchtet diese allerdings im Kontext der Übermittlung göttlicher Vollkommenheit in Stockhausens Œuvre.

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so universalen Charakter hatte, dass man die musikalischen Traditionen der einzelnen Künstler nicht mehr heraushören konnte. Dieter Schnebel schrieb hierzu 1972: „Die serielle Musik eines Koreaners klang so wenig östlich wie die eines Schweden nach nordischer Musik. Die gewissermaßen uncharakteristische und scheinbar traditionslose Mondialmusik eines technischen Zeitalters ging zunächst dem überkommenen Apparat der bürgerlichen Ära aus dem Weg.“

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Die Versuche, den ethnischen Moment auszublenden, und der Mythos der sogenannten politisch-musikalischen „Stunde Null“ um 1945 können im historischen Zusammenhang eines aufkommenden Zeitalters der Globalisierung gesehen werden.57 Nationalisierungen waren im Diskurs der musikalischen Avantgarde jener Zeit verfemt, und dem seriellen Kompositionsstil, welcher vorangetrieben durch John Cage unter stärker werdendem Einfluss ostasiatischen Kultur- und Gedankengutes stand58, wurde ein transnationaler musikalischer Charakter zugesprochen.59 Umberto Eco bringt diese zudem mit den wissenschaftlichen Innovationen Albert Einsteins in Verbindung: „Die multipolare Welt einer seriellen Komposition – in der der Hörer, unabhängig von einem absoluten Zentrum, sein eigenes Beziehungssystem errichtet, das er aus einem klingenden Kontinuum herausholt, in dem es keine bevorzugten Punkte gibt, sondern in dem alle Perspektiven gleichermaßen gültig und möglichkeitsträchtig sind – ist sehr verwandt mit Einsteins raumzeitlichem Universum, in dem ‚alles, was für jeden von uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausmacht, als ein großes Ganzes gegeben‘ ist, ‚die Gesamtheit der für uns sukzessiven Vorgänge, die die Existenz eines Materieteilchens herbeiführen, durch eine Linie, nämlich die Weltli-

56 Schnebel, „Neue Weltmusik“, S. 586. 57 Die serielle Musik entwickelte sich ungefähr ab 1948 und fällt somit ziemlich genau in den definierten Zeitraum des Zeitalters der Globalisierung. 58 Auch Stockhausen betont diesen Einfluss in seinem Interview mit Jonathan Cott, vgl. Jonathan Cott, Stockhausen: Conversations with the Composer, London 1974, S. 30. 59 Vgl. Fritz Muggler, „Postserielle Musik und Nationalität“, in: Rexroth (Hrsg.), Zwischen den Grenzen, S. 115-121, hier S. 117 f.

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nie des Teilchens repräsentiert‘ wird und in dem ‚jeder Beobachter in dem Maße, wie seine Eigenzeit abläuft, gleichsam neue Ausschnitte der Raum-Zeit, die ihm als die sukzessiven Aspekte der materiellen Welt erscheinen, […] entdeckt.“

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Durch die serielle Kompositionstechnik werden somit möglicherweise auch die raumzeitlichen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung ausgedrückt. Stockhausens Werke TELEMUSIK und HYMNEN wurden nun in einer sehr komplexen seriellen Technik komponiert.61 Besonders wichtig gerade für Stockhausens Œuvre sind die mit dieser Kompositionsweise einhergehenden technischen Innovationen der elektronischen Musik. Sie stellen für ihn eine Möglichkeit dar, die postnationale (oder transnationale) serielle Kompositionstechnik mit seinem ideologischen Weltmusikkonzept zusammenzuführen. Für ihn schufen die elektronischen Klangerzeugungsmöglichkeiten „jene Brücken“, um „eine Polyphonie der Stile, der Zeiten, der Räume“62 komponieren zu können. In Stockhausens Weltmusikkontext fungiert die elektronische Musik als Medium zur Kommunikation mit dem Kosmischen: „Nie zuvor haben Menschen so viel ‚gesehen‘, als wenn ich ihnen empfahl beim Hören Elektronischer Musik (bei der sie sich nicht mehr vorstellen können, woher die Klänge eigentlich kommen) die Augen zu schließen.“63 Stockhausen sah einen besonderen Aspekt der elektroni-

60 Eco, Das offene Kunstwerk, S. 53-54. 61 Es sei an dieser Stelle auf die vollständige musikalische Analyse des Werkes TELEMUSIK von Marcus Erbe verwiesen, Marcus Erbe, „Karlheinz Stockhausens TELEMUSIK“ [1966], in: Christoph von Blumröder (Hrsg.), Kompositorische Stationen des 20. Jahrhunderts (Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit VII), Münster 2004, S. 129-171. Analysen des Einsatzes der Fibonaccireihe für die Dauer und Abstände der jeweiligen Momentformen finden sich auch bei Peter W. Schatt, „Universalismus und Exotik in Karlheinz Stockhausens Telemusik“, in: Musica 43 (1989), S. 315-320, hier S. 316, und Frisius, „Stockhausen“, Sp. 1498; ders., „Klänge der Welt – Klangbilder verschiedener Weltkulturen. Interkulturelle Aspekte in Experimenteller Musik“, in: Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt (Hrsg.), Welt@Musik: Musik interkulturell (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 44), Mainz 2004, S. 128-157, hier S. 152. 62 Stockhausen, „Interview über Telemusik“, S. 82. 63 Ders., „Ein Mundstück“, S. 302.

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schen Musik darin, dass sie während des Komponierens Prozesse in Gang setzt, bei denen man das Resultat vorher noch nicht kennt. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Bei vielem, was wir täglich gebrauchen – etwa ein Elektrorasierer oder ein Flugzeug –, wissen wir meist nicht, wie es hergestellt wird. Es gibt auch niemals eine Person, die alles von einem komplizierten Objekt weiß, und ein Flugzeug hat viele 64

Teile …“ .

Stockhausen schildert hier gewissermaßen einen Prozess, wie ihn später Ulrich Beck und Anthony Giddens als Entbettung beschreiben.65 Ursprünglich wurde Entbettung als „Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-ZeitSpannen übergreifende Umstrukturierung“66 verstanden. Für Giddens stellt der Prozess der Entbettung den Übergang von der traditionalen Welt in die moderne Welt dar. Er definiert zwei Arten von „Entbettungsmechanismen“: die Schaffung von symbolischen Zeichen und die Installierung von „Expertensystemen“. Unter symbolischen Zeichen versteht Giddens „Medien des Austauschs, die sich ‚umherreichen‘ lassen, ohne dass die spezifischen Merkmale der Individuen oder Gruppen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihnen umgehen, berücksichtigt werden müssen .“

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Giddens führt hier als Beispiel das „Zeichen“ Geld an. Expertensysteme wiederum sind „Systeme technischer Leistungsfähigkeit oder professionel-

64 Ders., „Moderne japanische Musik und Tradition“ [1976], in: ders., Texte zur Musik 1970-1977, S. 456-467, hier S. 467. Stockhausens Überlegungen in diese Richtung sind bis in die frühen 1950er Jahre vor allem aufgrund der Briefe Stockhausens an Karel Goeyvaerts zurückzuverfolgen, vgl. Herman Sabbe, Die Einheit der Stockhausen-Zeit …, in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hrsg.), Karlheinz Stockhausen. … Wie die Zeit verging … (= Musik-Konzepte 19), München 1981, S. 5-96, hier S. 38-53. 65 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986; Giddens, Konsequenzen der Moderne. 66 Ebd., S. 33. 67 Vgl. ebd., S. 34.

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ler Sachkenntnis, die weite Bereiche der materiellen und gesellschaftlichen Umfelder, in denen wir heute leben, prägen“68. Diese Expertensysteme setzen beim Individuum ein gewisses Vertrauen voraus: „Schon allein dadurch, dass ich jetzt in meinem Haus sitze, bin ich in ein Expertensystem oder in eine Reihe von Expertensystemen verstrickt, auf die ich mich verlasse. Ich habe keine sonderliche Angst davor, in meiner Wohnung die Treppe zu benutzen, obwohl ich weiß, dass ein Zusammenbrechen des Gebäudes grundsätzlich 69

möglich ist.“

Beide Entbettungsmechanismen dienen dazu, „soziale Beziehungen von den unmittelbaren Gegebenheiten ihres Kontextes zu lösen“70. Der Prozess der Entbettung steht hier noch nicht unmittelbar in einem Globalisierungskontext. Giddens leitet diesen wohl aus der Postmodernediskussion der 1960er Jahre ab; das Aufkommen von Expertensystemen wird in diesem Kontext bereits von Arnold Gehlen beschrieben.71 Da der Begriff Entbettung in den 1970er Jahren in der Form noch nicht existierte, könnte Stockhausen seine Ausführungen zur elektronischen Musik als Expertensystem ebenfalls aus dem Postmodernediskurs gewonnen haben. Stockhausens Verwendung elektronischer Stilmittel lässt indes, wie im Folgenden noch aufgezeigt wird, eine Art kompositorische Entbettung entstehen. Vor allem Stockhausens Komposition TELEMUSIK galt als Paradigma für die Schwierigkeiten einer auf Universalität abzielenden Komposition der elektronischen Musik.72 Er selbst sah das Stück als notwendigen Durchgang hin zu einer „Musica Humana“73. Der Gebrauch von konkretem musikalischen

68 Ebd., S. 40 f. 69 Ebd., S. 41. 70 Ebd., S. 42. 71 Vgl. Arnold Gehlen, „Über kulturelle Kristallisation“, in: ders. (Hrsg.), Studien zur Anthropologie und Soziologie, Berlin 1963, S. 311-328. 72 Vgl. Schatt, „Universalismus und Exotik in Karlheinz Stockhausens Telemusik“, S. 315. 73 Vgl. Karlheinz Stockhausen, „LICHT-Blicke“ [1981], in: ders., Texte zur Musik 1977-1984, hrsg. von Christoph von Blumröder, Band 6, Köln 1989, S. 188-233, hier S. 228. Gernot Gruber verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Werke TELEMUSIK und HYMNEN vorweggenommene Konkretisierungen

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Material in Form von Aufnahmen außereuropäischer Musik und deren musikalischen Verflechtungen innerhalb des Stückes stellte für Stockhausen eine entscheidende Neuerung in seinem eigenen Schaffen dar. Die sogenannte Intermodulation gefundener Musik wurde hier erstmalig von ihm definiert und exemplifiziert.74 Stockhausens TELEMUSIK entstand während eines halbjährigen Aufenthaltes in Tokyo im Jahre 1966 in einer Phase, in der er die HYMNEN in Köln komponierte. TELEMUSIK stellte also quasi einen biographischen und musikalischen Exkurs zu den HYMNEN dar und bereitete somit auf die bevorstehende Fertigstellung der HYMNEN vor. Explizit erwähnte Stockhausen in seinem Artikel Weltmusik, dass unter anderem jene beiden Stücke als Beispiele für die Umsetzung seines Weltmusikkonzeptes bewusst komponiert wurden und „aus den Kreuzungen der merkwürdigsten Einflüsse aller historischen und frei erfundenen Möglichkeiten“75 einen Ausblick auf die neuen Chancen der Musik bieten sollte. 2008 erwähnte Bryan Wolf in einem Interview anlässlich der Aufführungsreihe der HYMNEN und Stockhausens 80. Geburtstag, das Werk HYMNEN trage den Geist des vereinten Europas in sich.76 Diese posthume Ehrung oder Bestätigung des Werkes stellt eine neue Darstellung der HYMNEN in den Vordergrund, die im Hinblick auf die politischen Entwicklungen der letzten 40 Jahre dem Werk eine gesellschaftliche Relevanz verschafft.77 Im Programmheft und auf einer der Uraufführung vorangegangenen Pressekonferenz äußerte Stockhausen, dass es konkret seine Absicht war, „die Einheit der Völker und Nationen in einer harmonischen

dessen sind, was Stockhausen mit seiner Weltmusikkonzeption theoretisch anstrebte, vgl. Gruber, „Stockhausens Konzeption der ,Weltmusik‘ und die Zitathaftigkeit seiner Musik“, S. 103. 74 Vgl. Karlheinz Stockhausen, „Hymnen – Nationalhymnen“ [1967], in: Booklet zu ders., Hymnen, S. 31-45, hier S. 32 f. 75 Ders., „Weltmusik“, S. 475. 76 Vgl. Verena Großkreutz, „Stockhausens ,Hymnen‘ als europäische Vision. Ein Gespräch mit Bryan Wolf“, in: NZfM 182/6 (2008), S. 16. 77 Wie Rudolf Frisius anmerkte, entwickelten sich die politischen Verhältnisse nach 1989 so, dass man nun die HYMNEN nicht mehr als naive Utopie abtun konnte, sondern von einer musikalischen Idee sprechen musste, die letztlich in Teilen der Welt politische Aktualitätsbezogenheit aufwies, vgl. Rudolf Frisius, Karlheinz Stockhausen. Einführung in das Gesamtwerk, Mainz 1996, S. 17.

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Menschenfamilie als musikalische Vision erlebbar“78 zu machen, und dass er als musikalisches Material Nationalhymnen wählte, weil diese das plakativste Erkennungszeichen einer Nation seien.79 Er beschrieb in einem Zusatztext für die Schallplattenaufnahme seine Interpretation von Nationalhymnen. Diese seien „‚geladen‘ mit Zeit, mit Geschichte – mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie betonen die Subjektivität von Völkern in einer Zeit, in der Universalität allzusehr mit Uniformität verwechselt wird.“

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Seine mit den HYMNEN verbundene Intention machte Stockhausen ganz deutlich: Das Werk stellt für ihn ein weiteres Projekt „einer Integration aller Rassen, aller Religionen, aller Nationen“81 dar. Entscheidend waren hierbei die Nationalhymnen als musikalisches Hauptmaterial. Der oft geäußerte Vorwurf, Nationalhymnen seien aufgrund ihres europäischen und kolonialistischen Ursprungs eher kulturunspezifisch und als Baustein der oben ausgeführten Absicht Stockhausens eher ungeeignet ,82 ist prinzipiell nachvollziehbar und berechtigt. Die Tatsache, dass in der Diskussion über das musikalische Material der HYMNEN aber auch von einer „Entweihung der Nationalhymnen“83, von ihrer „affirmativen Verwendung“84 oder von der

78 Karlheinz Stockhausen, „Programmtext“ [1967], in: Booklet zu ders., Hymnen, Stockhausen-Verlag, Nr. 10, 1995, S. 23-28, hier S. 28. 79 Vgl. Michael Kurtz, Stockhausen. Eine Biographie, Kassel 1988, S. 205; Stockhausen, „Hymnen – Nationalhymnen“, S. 38. 80 Karlheinz Stockhausen, „Hymnen“ [1967], in: ders., Texte zur Musik 19631970, S. 96 ff., hier S. 98. Dieser Text ist bis auf wenige Ausnahmen identisch mit dem Programmtext von 1967. 81 Karlheinz Stockhausen, „Hymnen mit Orchester“ [1971], in: ders., Texte zur Musik 1970-1977, S. 78 f., hier S. 78. 82 Vgl. Frisius, „Neue Dimensionen der musikalischen Interpretation“, S. 57 ff.; Utz, Neue Musik und Interkulturalität, S. 146. 83 Luigi Pestalozza, „Stockhausen und der musikalische Autoritarismus“, in: SMZ 116 (1976), S. 266-273, hier S. 268. 84 Boehmer, Zwischen Reihe und Pop, S. 137.

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„Auflösung der Zuordnung zu ihren Staaten“85 gesprochen wurde, verweist darauf, dass Stockhausens Idee darin bestand, aufgrund des Materials eben jene kontroversen Reaktionen hervorzurufen.86 Die in den HYMNEN nun angewandten musikalischen Kompositionsprozesse beschrieb Stockhausen in Interviews und Texten unzählige Male.87 Besonders wurde hier von ihm das Verfahren der Intermodulation betont. Dieses definierte Stockhausen als Verbindung musikalischer Parameter verschiedener Klangquellen durch technische Verfahrensweisen – einen Vorgang, den er, wie erwähnt, erstmalig bei der TELEMUSIK anwandte. Stockhausen beschrieb das Prinzip der Intermodulation in diesem Zusammenhang wie folgt: „Das Wesentliche an TELEMUSIK ist, daß diese musikalischen Originale nicht einfach mit von mir komponierter Musik zusammengesetzt sind, sich gegenseitig collage-ähnlich überlagern oder einander folgen, sondern daß die Originale mehr oder weniger stark moduliert sind, und zwar durch Modulations-Prozesse, die mit Hilfe der modernen Technik erst in den letzten Jahren innerhalb meiner Arbeit möglich

85 Albrecht Riethmüller, „Religiös und kosmisch gestimmt“, in: NZfM 159/4 (1998), S. 5-9, hier S. 6. 86 Leicht widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang, dass Stockhausen für die Wahl des Materials auch die Bekanntheit und Allgemeingültigkeit von Hymnen angab. Er bemerkte: „Hätte es noch irgendetwas Allgemeineres an musikalisch Erkennbarem – an musikalischen Objekten, die möglichst viele kennen – auf dieser Erde gegeben, so hätte ich es gewählt“, Stockhausen, „Hymnen – Nationalhymnen“, S. 38. Er verneinte zudem die Frage aus dem Auditorium im Seminar am 29. August 1970 für die Darmstädter Ferienkurse, ob er bei der Auswahl der Hymnen einen gesellschaftspolitischen Aspekt „im Hinterkopf“ hatte, vgl. Stockhausen, „Collage und Metacollage“, S. 147. Stockhausen entging somit dem Widerspruch des genutzten Materials zu seinem Weltmusikkonzept, da es sich hierbei nur um die Umdeutung eines uniformen Materials hin zu einem universellen handelte. Fakt ist, dass Stockhausen lediglich 40 von 137 damals aktuellen Nationalhymnen verwendete. Bemerkenswert ist auch, dass Stockhausen nie wieder ein ähnlich stark semantisch konnotiertes Material verwendete, vgl. Huck, „Hymnen auf die elektronische Musik“, S. 65 f. 87 Zum Beispiel in Stockhausen, „Hymnen“, S. 98, oder ders., „Interview über Telemusik“, S. 80.

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wurden. Dazu gehören: rhythmische Modulation eines bestimmten Musikfragmentes, indem der Rhythmus einer anderen Musik auf eine gegebene aufmoduliert wird; dann harmonische Modulation, indem zum Beispiel mit der auf Tonband aufgenommenen Stimme eines Priesters aus dem Kohyasan-Tempel eine Folge von Klängen, die ich mit Hilfe elektronischer Apparaturen herstellte und die ich als Akkordfolge harmonisierte, moduliert wird und dadurch die elektronischen sich mit der Melodie des Priesters bewegen; ferner gibt es die dynamische Modulation, indem zum Beispiel der Lautstärkeverlauf eines Schlafliedes, das eine Kraho-Indianerin für ihr Baby singt, einer ungarischen Musik aufmoduliert wird. So gibt es in TELEMUSIK differenzierteste Intermodulationen zwischen gefundenen musikalischen Objekten durch Verwenden von Prozessen der elektronischen Klangtransformation und -modulation, und dadurch wird aus diesen gefundenen Objekten etwas Neues. Der Zusammenhang, in den sie gestellt sind, und die Art, wie sie sich gegenseitig modulieren, führen zu völlig neuen musikalischen Qualitäten.“

88

Das Verfahren der Intermodulation ist Stockhausens musikalisches Mittel, um sein Weltmusikkonzept aufgehen zu lassen. Die Intermodulationsidee Stockhausens ist in den Kontext einer europäischen Avantgardebewegung der Nachkriegszeit und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit elektronischen Klangerzeugungsmöglichkeiten einzuordnen.89 Die Frage, wie Stockhausen sein Weltmusikkonzept musikalisch hörbar machen wollte, ist mit der Einführung des Intermodulationskonzeptes also zunächst theoretisch beantwortet.

88 Ders., „Hymnen – Nationalhymnen“, S. 32 f, Hervorhebungen im Original. 89 Vgl. Utz, Neue Musik und Interkulturalität, S. 169-170; Frisius, „Klänge der Welt“, S. 151.

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M USIKALISCHE ANALYSE : HYMNEN 

Stockhausens Werk HYMNEN fällt zunächst durch die Kompositionsvielfalt im Bereich der elektronischen Musik und die vielschichtigen Interpretationsebenen auf. Der Versuch, verschiedene Zeitebenen, technische Modulationen, die Verarbeitung von konkretem Material sowie viele weitere Ideen (Sprachkompositionen, Metakommentare, Kurzwellen etc.) in einem zwei Stunden dauernden Werk zu vereinen, bringt Stockhausen sehr nah an die formulierte Transformation der beiden Stadien seines Weltmusikkonzeptes: Uniformismus wird zu Universalismus durch die Idee des „Pluramonismus“ (eines Pluralismus innerhalb einer monistischen Form). Das gesamte Werk hat eine Spieldauer von 122 Minuten und ist in vier „Regionen“ unterteilt. Jede Region hat mehrere auf bestimmte Hymnen, Kontinente oder Nationen bezogene Zentren: Region I hat die Zentren „Internationale“ und „Marseillaise“, Region II das „Deutschlandlied“, Afrika und die UdSSR, Region III die UdSSR und USA und Region IV die Schweiz und die „Hymunion in der Harmondie“, eine Eigenkomposition Stockhausens. Nicht zuletzt durch seine eigenen Aussagen über die HYMNEN wird die Intention des Werkes recht deutlich und auch musikalisch umgesetzt; ob hier allerdings Stockhausens Weltmusikidee konkret vertont wird, bleibt zweifelhaft. Allein das Material der Nationalhymnen, wie viele Autoren bereits darlegten, wirft die berechtigte Frage auf, ob es für eine Zusammenführung und Verschmelzung der Länder und „Rassen“ der Welt

90 Die musikalische Analyse beschränkt sich auf die Darstellung einiger signifikanter Beispiele. Es sei an dieser Stelle auf die detaillierten und vollständigen musikalischen Analysen von Hopkins, Hymnen, Frisius, „Neue Dimensionen der musikalischen Interpretation“, und Thomas M. Braun, Karlheinz Stockhausens Musik im Brennpunkt ästhetischer Beurteilung, Kassel 2004, verwiesen; ebenso auf Stockhausens unzählige eigene Beschreibungen der musikalischen Vorgänge der HYMNEN, Karlheinz Stockhausen, „Realisation der Hymnen. Arbeitsaufzeichnungen in zwei Ringbüchern“, in: Booklet zu ders., Hymnen, S. 47-90. Hier finden sich auch Verweise auf fünf weitere musikalische „Zentren“, die jedoch nicht in die endgültige Komposition aufgenommen wurden, vgl. ebd., S. 52. Alle folgenden Transkriptionen wurden mit der Hilfe der Mitlese-Partitur erstellt, Karlheinz Stockhausen, Hymnen. Elektronische und Konkrete Musik, Nr. 22, Mitlese-Partitur, 2. Auflage, Wien: Universal-Edition 1977.

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repräsentativ ist. Der von Stockhausen eingeschlagene Sonderweg einer Weltmusik lässt allerdings andere weitreichendere Interpretationen zu. Die HYMNEN stehen, ähnlich wie andere Werke jener Zeit – zum Beispiel Luciano Berios Sinfonia (1968) oder Werke von Frank Zappa –, am zeitgeschichtlichen Ende der Industriegesellschaft für etwas Neues. Da es sich nicht mit den sozialistischen und antikapitalistischen Haltungen und Ästhetiken der damaligen Avantgarde deckt, wurde es von vielen Zeitgenossen aufgrund der angewandten Techniken und der verarbeiteten Materialien in einen totalitären kulturindustriellen Kontext eingebettet. HYMNEN nun aus der Perspektive der Globalisierung zu beleuchten, stellt einen weiteren Interpretationsansatz dar, weil die Globalisierung, wie erörtert, a priori ein durch den Kapitalismus entstandenes Phänomen darstellt. 3.1 Anfang und „Internationale“ Stockhausens Werk beginnt mit einer Schichtung von Kurzwellenklängen. Darin sind Fetzen von Nationalhymnen, elektronisch erzeugte Klänge, Sprachaufnahmen und Rufe sowie verschiedene Morse- oder Störfrequenzen eingearbeitet. Stockhausen beschrieb diesen Beginn und seine Intention sehr genau: „Ich habe mit diesen Kurzwellen-Ereignissen eine Situation geschaffen, wie man sie immer wieder hat, wenn man nachts mit dem Auto fährt und Autoradio hört, oder wenn man nachts zuhause ein Programm am Kurzwellen-Empfänger sucht; vor allem um die Mitternachtszeit bekommt man viele Bruchstücke von Nationalhymnen 91

mit, die den Tagesausklang zeigen.“

Es war ihm zudem wichtig, dass die Fragmente der Nationalhymnen lange genug für den Hörer einprägsam erklingen müssen, um dann zu einem anderen „Sender“ und zu einer anderen Nationalhymne wechseln zu können.92 In den ersten knapp sechs Minuten des Stücks lassen sich zehn verschiedene Fragmente von Nationalhymnen heraushören; am einprägsamsten hiervon sind die ägyptische Nationalhymne, das „Deutschlandlied“ und die Na-

91 Stockhausen, „Hymnen – Nationalhymnen“, S. 39. 92 Vgl. ebd.

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tionalhymne Gambias.93 Die auffälligsten Fetzen konkreter Ausrufe lauten direkt am Anfang des Stückes „Today they expected“ (bei acht Sekunden), „United Nations“ (bei Erklingen des ersten Nationalhymnenfragments bei 35 Sekunden) und die Ansage eines Croupiers: „Faites votre jeux messieurs dames s’il vous plait“ bei 4ƍ 33Ǝ (umrahmt von Generalpausen). Dieses „Kurzwellen-Babel“94 endet bei 5ƍ 56Ǝ in einer klaren, in der Intonation allerdings verfremdeten und mit Sinustönen überlagerten Aufnahme eines Männerchores, welcher die „Internationale“ singt. Diese Passage dauert 9ƍ 21Ǝ. Die „Internationale“ wird hierbei immer wieder unterbrochen und bis zur Unkenntlichkeit überlagert von Sinustönen und anderen technisch erzeugten Zisch- und Störgeräuschen: besonders auffällig bei 7ƍ 16Ǝ nach dem Refrain auf der Zeile „Menschenrecht“ und bei 8ƍ 21Ǝ auf „Menschen…“. Stockhausen wollte hier offenbar auf die Bedeutung des Wortes aufmerksam machen. Zwischen 8ƍ 21Ǝ und 9ƍ 21Ǝ klingt die „Internationale“ in einem diminuendo langsam aus. Ab 9ƍ 21Ǝ bis 11ƍ 57Ǝ beginnt dann eine Art Sprachfuge, bestehend aus einer vier- bis fünfstimmigen und in vier Sprachen zitierten Begriffsauswahl der Farbe Rot. Diese wurden in erster Linie dem Farbkatalog Artist Water Colours der englischen Firma Windsor and Newton entnommen95 und von Stockhausen durch Neologismen der Farbe Rot ergänzt.96 Stockhausen erklärte die Intention dieser Fuge wie folgt: „Das Wort Rot war zur Zeit der Entstehung der HYMNEN mit Sozialismus, Kommunismus – merkwürdiger Weise auch Sozialdemokratische Partei – verbunden: INTERNATIONALE, Sowjetunion, Ostblock, SED, Westdeutschlands SPD. Unter den Intellektuellen in Westdeutschland und vielen ‚fortschrittlichen‘ Künstlern im Westen war es Mode, rot zu sein.“

97

93 Vgl. Hopkins, Hymnen, S. 16. 94 Ein Begriff von Robin Maconie, The works of Karlheinz Stockhausen, London 1976, S. 218. 95 Vgl. Stockhausen, „Realisation der Hymnen“, S. 79. 96 Wie etwa Ersatzrot, Vatikanrot oder Neurot, ebd., S. 80. 97 Ebd., S. 79, Hervorhebungen im Original. Später bezeichnete er die „Rot“-Fuge auch als humoristisch, vgl. Cott, Stockhausen, S. 142.

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Die Verwendung von Kurzwellenklängen mit den eingebauten Nationalhymnen stellt zunächst eine Situation her, welche mit dem Sendersuchen beim Radio verglichen werden soll. Für Stockhausen schwingt hier wohl „der Klang der ganzen Welt“ mit. Kurzwellen beinhalten für Stockhausen eine Art Weltkontext, da das Radio unterschiedliche Musikfragmente von den Kulturen der Welt in Millisekunden über den ganzen Globus verbreitet.98 Mit der Idee des „Radioempfängers für das Kosmische“99 versucht Stockhausen sein Weltmusikkonzept umzusetzen, da er der Meinung ist, mit dem Radioempfang die Weltkulturen zu repräsentieren.100 Der durch die Kurzwellen ausgedrückte technische Fortschritt der Kommunikationsmedien und die globale mediale Vernetzung erreichen hiermit sinnbildlich eine Art Weltempfang.101 In gewisser Weise unterstützen auch die Zwischenrufe „Today they expected“ und besonders „United Nations“ diese Deutung. Der Croupier schließt, wie im weiteren Verlauf des Stückes noch in der vierten Region, diese erste Passage ab und „eröffnet“ das Spiel mit den Nationalhymnen und Interpretationsmöglichkeiten des Werkes. Der Croupier selbst ist eine Figur, welche das Stück von Zeit zu Zeit teilt, verfremdet und kommentiert, ähnlich wie der solistisch besetzte Chor in Luciano Berios Sinfonia (1968) oder die Figur des Unternehmers in Henri Pousseurs Oper Votre Faust (1969). Man kann hier wohl eine zeitgenössische Kompositionsmode ausmachen; allerdings steht diese (brechtsche) Stilart bei den HYMNEN in einem klaren politischen Zusammenhang. Die Kurzwellenklänge enden schließlich in der „Internationale“, diese wiederum in einer „Fuge“ über das Wort Rot. Bemerkenswert hierbei ist der Verweis auf die Hymne der internationalen Arbeiterbewegung, die von einigen Sozialwissenschaftlern als eine der ersten globalen Bewegungen definiert wird.102 Die Art und Weise, wie nun die „Internationale“ bezüglich

98

Vgl. Karlheinz Stockhausen, „Kurzwellen für sechs Spieler“ [1968], in: ders., Texte zur Musik 1963-1970, S. 112-117.

99

Stockhausen, „Ein Mundstück“, S. 301.

100 Vgl. Utz, Neue Musik und Interkulturalität, S. 148. 101 Stockhausen nimmt hier möglicherweise auch Bezug auf die damaligen politisch-wissenschaftlichen Intentionen einer Erfassung des Weltalls. 102 Vgl. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 221. Zur musikalischen Geschichte und Entstehung der „Internationalen“ siehe Philip V. Bohlmann, World Music – a very short introduction, Oxford 2002, S. 107.

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der Störgeräusche (diese werden meist durch elektronisch erzeugtes Rauschen oder Zischen dargestellt) beim Wort „Menschenrecht“ bearbeitet wurde, lassen eine gewisse Kritik am Sozialismus (und auch an der „Internationale“) erkennen ebenso wie die Persiflage der politischen Bedeutung der Farbe Rot durch die Aufzählung der Farben aus einem Farbkatalog.103 Der Beginn der HYMNEN beinhaltet also zunächst sowohl einen klaren Bezug zu Stockhausens Weltmusikkonzept (in Form der Kurzwellenklänge) als auch eine Anspielung auf die politisch unruhigen späten 1960er Jahre und die musikalische Avantgardebewegung. Der Beginn des Werkes lässt sich aber auch als eine Symbiose zwischen den elektronischen kompositionstechnischen Möglichkeiten (Radio/Kurzwellen, elektronische Verfremdung) und der Relevanz eines transnationalen politischen Überbaus („Internationale“) deuten. 3.2 „Deutsches Zentrum“ In der zweiten Region des Stückes ab 11ƍ 46Ǝ bis 14ƍ 20Ǝ wird die dritte Strophe der Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland (das „Deutschlandlied“) vollständig abgespielt. Zuvor erklingt eine elfminütige Einleitung, in der mehrere Hymnen und Geräuschfragmente verarbeitet werden. Diese sind abwechselnd die Nationalhymnen Frankreichs und des Königreichs Großbritannien, Rufe einer Volksmenge und Tierlaute von „Sumpf-Enten“104. Der klangliche Hauptcharakter dieser Einleitung wird bestimmt durch elektronisch erzeugte Töne, die in abwärtslaufenden Glissandi jeweils ein neues konkretes Klangmaterial einleiten. Darauf folgt eine relativ lange Passage reiner elektronischer Klänge, die dann später von der „Marseillaise“ im Hintergrund ergänzt wird. Dieses bildet den Auftakt zum „Deutschen Zentrum“. Stockhausen, wie er selbst gegenüber Jonathan Cott erwähnte, beschreibt in diesem Abschnitt persönliche Eindrücke seiner Kindheit: Beispielsweise sei die ausgedehnte rein elektronische Passage ei-

103 Eine Kritik, die Stockhausen im Übrigen 1976 bekräftigt: Sowohl Kommerzialisierung als auch Sozialismus verhindern demnach den Fortschritt der Menschheit, vgl. Stockhausen, „Moderne japanische Musik und Tradition“, S. 459. 104 Stockhausen verwendet diesen Ausdruck in der Partitur, vgl. Stockhausen, Hymnen. Elektronische und Konkrete Musik, S. 12.

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ne Erinnerung an ein Propellerflugzeug.105 Die „Marseillaise“ kann – wie von Stockhausen in der Partitur beschrieben106 – als Erinnerung an die erste Region des Werkes, aber auch im Kontext der folgenden deutschen Hymne interpretiert werden. Das nun anschließende Erklingen des „Deutschlandlieds“ geschieht mit zwei Tonbandaufnahmen, der eines Chores und der einer Blaskapelle, die immer im Wechsel erklingen. Einige Passagen sind zudem „zerhackt“ zu hören. Auf der Silbe „Hand“ bricht die Hymne ab. Es folgt ein knapp einminütiges elektronisches Zwischenspiel, welches die Hymne dabei in zwei melodisch nach oben und unten auseinanderstrebende Glissandi aufspaltet. Die Hymne setzt wiederum einstimmig an der Stelle ein, wo sie zuvor unterbrochen wurde. Während des Refrains nach „Blüh im Glanze“ erfolgt ein fünftaktiger Einschub des Anfangs vom „HorstWessel-Lied“ im piano. Danach setzt wiederum das „Deutschlandlied“ ein. Am Ende wird die Nationalhymne mit zwei Tonbändern doppelt wiedergegeben und mit „Hurra“-Rufen und elektronischen Verzerrungen überlagert. Die Hymne endet schließlich in einem tumultartigen Durcheinander: Nachdem das „Deutschlandlied“ unter dem Gebrüll von Männern verklungen ist, schließen sich nahtlos Klangaufnahmen von Böllerschüssen und einer Schiffssirene an. Darauf folgt ein längerer Ausschnitt nicht immer genau identifizierbarer Hymnenfragmente, unter anderem kurz die „Internationale“, welche in einer sehr leisen und entfernten Wiedergabe der Hymne „God save the Queen“ endet.107 Bezeichnenderweise lautet Stockhausens Angabe in der Partitur zu dieser Stelle: „vom Wind verweht (wie schlechte, transatlantische Übertragung)“108. Die Hymne Großbritanniens endet nun in einer sich überlagernden Sinuston-Glissandi-Abfolge, die wiederum zu dem Studiogespräch „Otto Tomek sagte …“ führt. Der Einschub der Gesprächs-

105 Vgl. Cott, Stockhausen, S. 123. 106 Vgl. Stockhausen, Hymnen. Elektronische und Konkrete Musik, S. 13. 107 Eine detaillierte Analyse dieses Abschnitts verfasste Rudolf Frisius, „Politische und soziologische Bezüge im Musikunterricht, dargestellt an einem Ausschnitt aus den Hymnen von Kh. Stockhausen“, in: Wilhelm Grundlach (Hrsg.), Musikunterricht an Gesamtschulen, Stuttgart 1971, S. 42-65. Frisius bemerkt hier unter anderem die Tatsache, dass pathetische Begriffe des Textes der Hymne verzerrt oder dynamisch reduziert werden, ferner, dass am Anfang des Textes gerade das Wort „Einigkeit“ mehrfach unterbrochen wird. 108 Stockhausen, Hymnen. Elektronische und Konkrete Musik, S. 16.

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passage stellt hier einen Stopp dar. Das Studiogespräch zwischen Karlheinz Stockhausen und seinem Mitarbeiter David Johnson beinhaltet eine technische und unter ästhetischer Berücksichtigung der Zeitschichten sich wandelnde Verarbeitung des gesprochenen Satzes „Otto Tomek sagte, das mit dem Horst-Wessel-Lied gibt böses Blut. – Aber ich meinte es gar nicht so. – Es ist nur eine Erinnerung.“109 Die Simultanität der Zeitebenen wird durch den semantischen Gehalt des Dialogs vermittelt, indem das Verb „sagen“ gebeugt wird – „sagen“, „sagte“ und „hat gesagt“ – und woraus dann eine Vermischung und Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit entsteht.110 Die Interpretationen und politischen Zusammenhänge dieses Beispiels sind ebenso vielschichtig wie die des Beispiels aus der ersten Region. Der Schwerpunkt verschiebt sich jedoch hier auf persönliche Erinnerungen Stockhausens in einem klar gefassten politischen und nationalen Rahmen. Das „Deutschlandlied“ (mit dem „Horst-Wessel-Lied“), eingerahmt von der „Marseillaise“ und „God save the Queen“, stellt eine Erinnerung an die NSZeit und den Zweiten Weltkrieg dar.111 Plakativ unterstützt wird diese Erinnerung durch den Klang eines Propellerflugzeuges und durch das kommentarische Material des Studiogespräches. Die Verzerrung und Zerstückelung des „Deutschlandlieds“ könnte auf eine Darstellung der Teilung Deutschlands hinweisen. Christoph von Blumröder sieht hierin einen Appell, „gemeinsam auf die Herstellung von Recht und Freiheit in einem vereinten Deutschland hinzuwirken“112. Oliver Huck behauptet gar, dass durch das Zitat des „Horst-Wessel-Lieds“ – sinnbildlich für die Zeit des Nationalsozialismus – auch auf die Ursache der Teilung Deutschlands aufmerksam gemacht wird.113 Die musikalische Beschäftigung mit der deutschen (aber

109 Der gesamte Dialog des Studiogesprächs ist abgedruckt in Stockhausen, „Realisation der Hymnen“, S. 80-84. 110 Vgl. Braun, Karlheinz Stockhausens Musik im Brennpunkt ästhetischer Beurteilung, S. 45. 111 Das Horst-Wessel-Lied wurde während der NS-Zeit der deutschen Nationalhymne als offizieller Teil angefügt. 112 Christoph von Blumröder, „Die Vokalkomposition als Schaffenskonstante“, in: Misch, ders. (Hrsg.), Internationales Stockhausen-Symposium 1998, S. 188-197, hier S. 192. 113 Vgl. Huck, „Hymnen auf die elektronische Musik“, S. 51.

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auch europäischen) Vergangenheit durch die neuen Möglichkeiten der technischen Reproduktion – ähnlich wie auch die Verschiebung der Zeitebenen des Studiogespräches – ergänzen hier Stockhausens weltmusikalische Ideologie. Die ästhetische Verdichtung von Raum und Zeit symbolisiert in diesem Abschnitt gleichermaßen Mahnung an die Vergangenheit und Ausblick auf die Zukunft. Verdichtung von Raum und Zeit beschreibt Hartmut Rosa als eine durch technische Beschleunigung verursachte Revolutionierung der Art und Weise, wie die Subjekte „in die Welt gestellt“114 sind. Die verkehrstechnische Mobilisierung der Gesellschaft löst die Bindung zwischen Subjekten und territorial begrenzten Räumen auf und die kommunikationstechnische Entwicklung bringt „jeden jederzeit mit jedem weltweit in kommunikative Verbindung“115. Rosa erklärt hieran die Zunahme des Phänomens der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, also dass mehrere Zeiten am gleichen Ort auf der Welt parallel existieren können. Das „Deutsche Zentrum“ der HYMNEN, vor allem aber das Studiogespräch „Otto Tomek sagte …“, bringt diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen musikalisch zum Ausdruck. Zusammenfassen lässt sich dieses zweite Musikbeispiel als kompositionstechnisch spielerische Bearbeitung des Vergangenen; eine „Erinnerung“ Stockhausens wird hier durch die Innovationen der elektronischen Musik dargestellt. Eine reaktionäre musikalische Gesinnung Stockhausens lässt sich an dieser Stelle des Werkes nicht ableiten ,116 eher eine sehr kritische Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland.117 3.3 UdSSR und USA Karlheinz Stockhausen verarbeitet im Übergang der zweiten zur dritten Region der HYMNEN die sowjetische Nationalhymne und in der dritten Region die Nationalhymne der USA auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Die Hymne der UdSSR dauert von 23ƍ 38Ǝ bis zum Schluss der zweiten Region bei 29ƍ 25Ǝ und wird bis 9ƍ 27Ǝ in der dritten Region intoniert. Sie

114 Rosa, Beschleunigung, S. 170. 115 Ebd., S. 171. 116 Vgl. Frisius, „Politische und soziologische Bezüge im Musikunterricht“, S. 55. 117 Die Hymne der Deutschen Demokratischen Republik erscheint im Übrigen kein einziges Mal.

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ist damit eine der längsten Collagen des Werkes.118 Vor allem ist sie die einzige rein aus elektronischen Klängen erzeugte Tonbandkomposition und enthält keinerlei konkretes Klangmaterial. Stockhausen erläuterte in seinen Arbeitsaufzeichnungen und Schriften zur Realisation der HYMNEN die genauen kompositorischen Vorgänge, wie er die Hymne der Sowjetunion elektronisch „herstellte“ und dadurch entfremdete: Er teilte alle 112 Akkorde der Hymne auf und ließ ihre Klangfarben und Harmonien durch verschiedene elektronische Verfahren modulieren, so dass als Ergebnis die ursprüngliche Hymne der UdSSR nicht mehr herauszuhören ist.119 Stockhausen schuf somit aus dem Material der Hymne der UdSSR eine neue Hymne. Als klangfarbliche Ergänzung und aus strukturellen Gründen erscheinen hierbei an verschiedenen Stellen die Hymnenfragmente afrikanischer Länder (Ghana, Elfenbeinküste, Kamerun, Niger, Togo) und die Hymne der Vereinigten Arabischen Emirate. Stockhausen vertonte hier wohl den damaligen politischen Einfluss der Sowjetunion auf Afrika und den Mittleren Osten. Sehr plakativ und eigentlich dem Grundkonzept dieser Verarbeitung entgegenstrebend, erscheint an zwei Stellen die Melodie der Hymne der UdSSR unmoduliert, in der dritten Region von 3ƍ 30Ǝ bis 3ƍ 53Ǝ und von 5ƍ 17Ǝ bis 5ƍ 47Ǝ; es handelt sich hierbei um die Akkorde 48-70 sowie 84102. Offensichtlich wollte Stockhausen die Hymne hier absichtlich hörbar machen.120 Auch die letzten Akkorde der Hymne sind in der Melodiestimme nicht entfremdet worden. Bevor es zu einem plötzlichen Übergang zur USA-Collage bei 9ƍ 27Ǝ kommt, wird der letzte Akkord der sowjetischen Hymne über knapp drei Minuten ausgehalten und elektronisch verzerrt. Dazu wird ein immer lauter werdendes Morsegeräusch eingespielt. Dieses „Morsen nach Amerika“ bildet quasi den Übergang zur folgenden USA-Collage, welche völlig entgegengesetzt zur Hymne der UdSSR bearbeitet ist, besteht sie doch aus-

118 Stockhausen nennt seine jeweiligen Bearbeitungen von Nationalhymnen auch „Collagen“, vgl. Stockhausen, „Realisation der Hymnen“, S. 51. 119 Für die genaue Beschreibung dieser Vorgänge siehe ebd., S. 67-73; Karlheinz Stockhausen, „Collage und Metacollage“, S. 178 ff.; Braun, Karlheinz Stockhausens Musik im Brennpunkt ästhetischer Beurteilung, S. 80 ff. 120 Einzig die Beschreibungen Stockhausens hätten sonst Aufschluss darüber gegeben, dass es sich an diesen Passagen des Werkes tatsächlich um Fragmente der sowjetischen Hymne handelt.

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schließlich aus konkreten Hymnenfragmenten. Die USA-Collage dauert von 9ƍ 27Ǝ bis 13ƍ 24Ǝ in der dritten Region. Die Hymne der USA schreitet voran und wird durch Hymneneinschübe anderer Nationen unterbrochen. Diese jeweiligen Fragmente erklingen immer im Wechsel mit der USamerikanischen Hymne. Die Melodie der jeweiligen Hymnen wird durch äquivalente Intervallsprünge in der jeweiligen Tonart miteinander verbunden. So entsteht aus der Collage vieler Melodien eine eigenständige Melodie. Die USA-Collage ergibt sich aus der folgenden Reihung von Nationalhymnen der jeweiligen Staaten, wobei die Frequenz der Einschübe gegen Ende der US-amerikanischen Hymne immer kleiner wird: USA-Großbritannien-USA-Frankreich-USA-Italien-USA-Deutschland-USAFrankreich-Großbritannien-USA-Japan-USA-Japan-USA-Kanada- Großbri tannien-USA-Israel-USA-Israel-USA-Israel-Ägypten-USA-Türkei-USABrasilien-USA-Schweiz-USA-UdSSR-USA-Polen-USA-Österreich-USAIrland-USA-Belgien-USA-Schweden-USA.121 Ergänzend ist zu bemerken, dass die gesamte USA-Collage von elektronischen Klängen begleitet wird. Einzige Ausnahme bildet die USA-JapanUSA-Japan-Passage, welche zusätzlich mit der „Battle Hymn of the Republic“, einem patriotischen amerikanischen Spiritual aus den Sezessionskriegen, untermalt wird. Die gewählte Bearbeitung der sowjetischen Hymne stellt in diesem Abschnitt zunächst einerseits eine Kritik Stockhausens an der UdSSR dar, andererseits ist sie Zukunftsvision oder möglicherweise sogar Idealbild einer transnationalen Gesellschaft.122 Stockhausen erwähnte immer wieder, dass gerade in der UdSSR seine Musik „verboten und verfemt“123 war; ferner betonte er, dass der Sozialismus den Fortschritt der Menschheit behindere.124 Dennoch bilden die einzelnen Akkorde der sowjetischen Hymne ein

121 Transkribiert aus Stockhausen, Hymnen. Elektronische und Konkrete Musik, S. 24 ff. 122 Vgl. Frisius, „Neue Dimensionen der musikalischen Interpretation“, S. 63. Die Sowjetunion löst sich fast ein Vierteljahrhundert nach der Entstehung der HYMNEN tatsächlich auf. 123 Stockhausen, „Realisation der Hymnen“, S. 67. 124 Siehe FN 103.

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wichtiges Element der gesamten Kompositionsstruktur, da sie an mehreren Stellen des Stückes „eingesetzt“ wurden.125 Offensichtlich schreibt Stockhausen dem Sozialismus ein gewisses Potenzial zu, sich an dem Gerüst einer neuen Weltgesellschaft zu beteiligen. Der globale Prozess der Entbettung wird anhand der Verarbeitung der sowjetischen Hymne sichtbar. Stockhausen beschrieb, wie erwähnt, den Effekt elektronischer Stilmittel kongruent zu den späteren Theorien der Entbettung. Durch die elektronische Verarbeitung löst sich die sowjetische Hymne zwar aus ihrem ursprünglichen Kontext ortsgebundener Interaktionszusammenhänge, bildet aber gleichermaßen einen strukturellen Überbau für das Gesamtwerk; sie fungiert hier gewissermaßen als „Zeichen“. Die USA-Collage wurde unterschiedlich gedeutet,126 vor allem aber stellt sie wohl kriegerische Auseinandersetzungen (USA-Japan, IsraelÄgypten) ebenso wie die Abhängigkeit Europas von den USA dar. Zudem setzte sich Stockhausen hier kritisch mit den USA als Idealbild einer multinationalen Gesellschaft auseinander. Er bemerkte hierzu explizit im Vorfeld der Uraufführung der HYMNEN mit Orchester: „Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Zusammengewürfelten: ich habe Dir diese Musik auf den Leib geschrieben. Du könntest ein Modell für die ganze Welt werden, wenn Du so lebtest, wie diese Musik es ankündigt. Wenn Du ein gutes Beispiel gäbest …!“

127

Stockhausen äußerte sich auch zur Abhängigkeit Europas von den USA in einem Interview entsprechend.128 Die Auseinandersetzung Stockhausens mit den USA steht in einem klaren Zusammenhang mit den Definitionen der kulturellen Globalisierung als „Amerikanisierung“. In der US-amerikanischen Gesellschaft sind Formen der kulturellen Produktion entstanden,

125 Vgl. Rudolf Frisius, „Das andere Hören. Unsichtbare Musik oder akustische Kunst“, in: Elena Ungeheuer (Hrsg.), Elektroakustische Musik (= Handbuch der Musik 5), Laaber 2002, S. 205-232, hier S. 217 ff. 126 Rudolf Frisius beispielsweise behauptet, Stockhausen wollte mit der Collage die Einwandererländer und Nachbarländer mit den USA verbinden, vgl. Frisius, „Neue Dimensionen der musikalischen Interpretation“, S. 63. 127 Stockhausen, „Hymnen mit Orchester“, S. 79. 128 Ders., „Interview I“ [1973], S. 519.

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die unter Nutzung kulturübergreifend verständlicher Idiome leicht kommerzialisierbar waren.129 Die ökonomische und technische Vernetzung mit der US-amerikanischen Wirtschaft ließ nun das von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer so kritisch beäugte Konstrukt der Kulturindustrie entstehen. Die Idee der massenmedialen, kommerziellen und ökonomischen Symbiose innerhalb der Kulturprodukte wurde auch als „Amerikanisierung“ bezeichnet. Diesen Begriff führte Anfang der 1970er Jahre Herbert Schiller in seinem Buch Mass communication and American Empire ein.130 „Amerikanisierung“ beschreibt hierin das Ausrichten eines Kulturproduktes an rein ökonomischen Gesichtspunkten. Diese vermarkteten Produkte müssen allerdings nicht zwangsläufig US-amerikanischen Ursprungs sein oder eine nationale US-amerikanische Ideologie vertreten, sondern sich lediglich verkaufen. Historisch also durchaus als „amerikanisch“ zu beurteilen, besitzt das jeweilige Produkt einen transnationalen globalen Charakter, da die kapitalistische Grundausrichtung eine größere Rolle spielt als eine nationalstaatliche kulturelle Ideologie.131 Stockhausen war hier also geprägt vom kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre über die Rolle Amerikas zur übrigen Welt. Durch die zwei konträren Kompositionsansätze wird an diesem Musikbeispiel aber auch die Verschiedenheit der USA und der UdSSR dargestellt, welche die damalige politische Gegenwart bestimmten. Stockhausen komponierte hier durch die jeweilige Bearbeitung der Nationalhymnen und durch ihre unmittelbare Gegenüberstellung eine transnationale Synthese. Die kompositorische Verdichtung lässt beide Staaten zusammenrücken, sich auflösen und / oder ergänzen.

129 Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sehen einen Grund hierfür auch in der Geschichte der USA, welche durch die vielen verschiedenen Einwanderernationen eine kulturelle Gemeinschaft entwickeln mussten, vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 84. 130 Herbert Schiller, Mass communication and American Empire, New York 1970, S. 93 ff. 131 Große Teile der Kulturindustrie befinden sich Ende des 20. Jahrhunderts gar nicht mehr in US-amerikanischer Hand. Die Kulturindustrie Japans, Indiens und vor allem Europas hat hier mittlerweile gleich große Reichweiten und globalen Einfluss entwickelt, vgl. Deanna C. Robinson, Elizabeth B. Buck und Marlene Cuthbert, Music at the Margins: Popular Music and Global Cultural Diversity, London 1991, S. 272.

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3.4 „Hymunion“ und Schluss Abschließend soll nun ein Blick auf die vierte Region der HYMNEN und dort besonders auf den Schluss des Werkes geworfen werden. Von 9ƍ 17Ǝ bis 14ƍ 18Ǝ ertönt in dieser Region die „Hymunion der Harmondie, dem Reich des Pluramon“; Stockhausens einzige Passage ohne den konkreten Zusatz von Nationalhymnen, quasi seine eigene Hymne. Stockhausen selbst äußerte sich über die Realisation der vierten Region sehr detailliert132: Die Begriffe Pluramon und Harmondie sind demnach aus den jeweiligen Begriffspaaren Pluralismus und Monismus sowie Harmonie und Mundus zusammengesetzt.133 Die Verarbeitung des Gedankens, Vielfalt in der Einheit darzustellen, fußt auf grundsätzlichen Theorieansätzen, welche Stockhausen aus dem Diskurs über serielle Kompositionsformen gewonnen hat.134 Klanglich stellt sich diese Passage wie folgt dar: Sie ist geprägt von einem Sinustoncluster, welcher sich stetig in wechselnder Dynamik glissandoartig abwärts bewegt. Diese Bewegungen überschichten sich nun stetig, so dass eine Art immer wieder fallender Clusterton entsteht. Stockhausen verwies im Interview mit Jonathan Cott auf zwei Gedanken, die er in der vierten Region musikalisch zum Ausdruck bringen wollte: die Wasserfälle des Yosemite National Park in Kalifornien135 und Klänge von tausenden von Flugzeugen, die eine Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg darstellen sollten.136 In dieses Klanggebilde werden in gewissen Abständen folgende mit Hall bearbeitete Rufe integriert: Turid, Nacar, Iri und Maka. Hierbei handelt es sich nach eigener Aussage Stockhausens um die Namen seiner Ehefrauen und Geliebten.137 Maka ist die Synthese zwischen Mary und Karlheinz. Dieser Name wird am häufigsten wiederholt und auch im Zwischenspiel (14ƍ 18Ǝ bis 20ƍ 45Ǝ) als eine Art Erinnerung genannt. Der Croupier (aus der ersten Region) leitet dieses Zwischenspiel mit den Worten

132 Vgl. Cott, Stockhausen, S. 140-147. 133 Vgl. ebd., S. 144. 134 Dies wurde eindrucksvoll beschrieben von Minoru Shimizu, „Was ist PluraMonismus?“, in: Misch, Blumröder (Hrsg.) Internationales StockhausenSymposium 1998, S. 112-125. 135 Vgl. Cott, Stockhausen, S. 140 f. 136 Vgl. ebd., S. 142. 137 Vgl. ebd., S. 143 f.

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„Messieurs, Dames, rien ne va plus!“ ein. Hier tritt das Clusterklanggebilde in stark abfallender Dynamik bis 16ƍ 43Ǝ in den Vordergrund ,138 wonach dann die besagte Maka-Erinnerung einsetzt. Es folgt anschließend eine Sinustonmelodie untermalt mit elektronisch erzeugten Störgeräuschen (Rauschen, Zischen etc.). Dieses Zwischenspiel wird von der Stimme des Croupiers bei 20ƍ 08Ǝ beendet: „Faites votre jeux“. Das Zwischenspiel beschrieb Stockhausen nachträglich als die Ruhe nach einem Flugzeugangriff und als eine Illustration von Einsamkeit.139 Diese Passage beinhaltet den größten Anteil an eigenkompositorischem Material wie auch den persönlichsten Teil der HYMNEN. Für die Darstellung der Hymne, die Pluralismus und Monismus weltmusikalisch vereint, verarbeitete Stockhausen fast ausschließlich eigene Erinnerungen. Dies ändert sich nun in der Coda des Werkes. Nach einer Generalpause beginnt bei 20ƍ 45Ǝ das „Atmen“ Pluramons (ein kontinuierliches Ein- und Ausatmen Stockhausens ist hier zu hören). Stockhausen bezeichnete dieses Atmen gegenüber Jonathan Cott als „breath of the world“140. Das bis zum Schluss des Werkes (bei 31ƍ 45Ǝ) zu hörende Atmen wird durch sieben Einschübe, sogenannte Erinnerungen, ergänzt. Diese Erinnerungen bestehen aus fünf jeweils völlig unterschiedlich elektronisch und kompositorisch bearbeiteten Hymnenfragmenten (Ghana, UdSSR, „Internationale“, Großbritannien und Indien), einer konkreten Klangaufnahme aus einem chinesischen Kaufladen sowie zum Schluss des gesamten Werkes aus einer „leeren“141 Erinnerung. Stockhausen bemerkte hierzu ergänzend: „I mean it in the general sense: brain washing, cleaning out the brain. In this last loud section, you can’t think of anything any more – figures, melodies, anthems – it’s all gone.“142 Vor den beiden letzten Einschüben ertönt jeweils die Signatur des Künst-

138 Johannes Fritsch bezeichnet diese Stelle treffend als „Start des inneren Raumschiffes“, Johannes Fritsch, „Hauptwerk Hymnen“, in: SMZ 116 (1976), S. 262-273, hier S. 264. 139 Vgl. Cott, Stockhausen, S. 142. 140 Ebd., S. 143. 141 Diese „Leere“ wird „dargestellt“ durch ein Dröhnen oder Brüllen. Zur näheren Erläuterung der unterschiedlichen kompositorischen und elektronischen Bearbeitungen dieser Einschübe siehe sowohl Stockhausen, „Realisation der Hymnen“, S. 85-90, als auch Cott, Stockhausen, S. 145 ff. 142 Ebd., S. 147.

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lers: Stockhausen spricht hier durch ein Mikrophon das Wort „Pluramon“. Der einzig formbildende Zusammenhang der jeweiligen Erinnerungen ist die völlige Verschiedenheit des Materials und dessen Verarbeitung. Stockhausens Synthese der pluralistischen Einschübe und des monistischen Atmens rundet somit sein Weltmusikkonzept am Ende der HYMNEN ab.143 Das Beispiel der vierten Region bietet eine Zusammenfassung aller drei Hauptkomponenten des Werkes. Stockhausen stellt hier ein individuelles, transnationales Weltmusikkonzept vor, welches er musikalisch durch technische Klangerzeugungen darzustellen versucht. Durch das Zurücknehmen des musikalischen Materials der Nationalhymnen in der vierten Region stellt er dieses Material gleichsam in Frage. Ob er hierbei mit seiner eigenen Hymne der Uniformierung durch Nationalhymnen trotzt, bleibt indes fraglich.

4

D ER

TRANSNATIONALE

G EDANKE

IN

HYMNEN

Durch die Verwendung von Nationalhymnen als Klangmaterial drängen sich folgende zwei Fragen auf: (1.) Warum benutzte Stockhausen eine den politischen Nationalstaatsgedanken symbolisierende Musik und (2.) inwiefern stehen Stockhausens HYMNEN im konkreten Zusammenhang mit den politischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts hin zu einer transnationalen Weltgesellschaft? Trotz der bereits zitierten widersprüchlichen Aussagen, sich einerseits nur strukturbildend auf den Bekanntheitsgrad der Nationalhymnen zu beziehen, andererseits aber mit den HYMNEN eine „Hymne der vereinten Nationen“144 zu schreiben, nimmt Stockhausen Bezug auf die gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er Jahre. Wie bereits beschrieben, sahen viele Sozialwissenschaftler und Historiker hier den Beginn des Zeit-

143 Die konkrete Umsetzung dieses Konzeptes ist als recht problematisch zu beurteilen, da Stockhausen (oder Pluramon) durchaus einen kompositorischen Anspruch auf die Welt anmeldet, vgl. Hübler, „Und doch bin ich Mensch geworden“, S. 100. 144 Zit. n. Braun, Karlheinz Stockhausens Musik im Brennpunkt ästhetischer Beurteilung, S. 63.

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alters der Globalisierung.145 Stockhausens kompositorische Idee, eine Musik aller Länder und „Rassen“ – eine transnationale Musik – mit Hilfe von Nationalhymnen zu schaffen, fügt sich in den Diskurs jener Zeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Nationalstaaten verbindlich als Normalform angesehen,146 in den 1950er Jahren galten diese gar als noch homogener als jemals zuvor.147 Nationalhymnen wurden weltweit als Symbol einer homogenen nationalen Staatskultur anerkannt und im Falle einer postkolonialen Staatsgründung gar adaptiert oder neu kreiert. Allein in diesem Punkt wird der den Nationalhymnen innewohnende Globalisierungsbezug deutlich, da es sich um ein global verständliches Symbol (Zeichen) handelt. Die Funktion der Musik als Symbol lässt sich seit dem 19. Jahrhundert sehr anschaulich am Beispiel der Nationalhymnen darstellen. Nationalhymnen besitzen demnach eine Doppelfunktion, nämlich eine außenpolitische internationale und eine ins eigene Volk wirkende innenpolitische nationale.148 Die Verwendung von Nationalhymnen ist also gewissermaßen Voraussetzung, um Stockhausens transnationale Idee überhaupt herzustellen. Welche Parallelen zeigen sich aber nun zwischen dem Werk HYMNEN und den globalen transnationalen Bündnissen, die als ein Indikator für das Aufkommen des Zeitalters der Globalisierung gelten? Der Nationalstaat wurde in den letzen 40 Jahren durch verschiedene transnationale gesellschaftliche Veränderungen zunächst geschwächt. Wichtigste Akteure sind in diesem Zusammenhang die TNCs. Diese stellen die Infrastruktur für eine über Nationalgrenzen hinausgehende merkantile Kultur dar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stiegen die Beschäftigungszahlen der TNC’s rapide an, so dass man mittlerweile davon ausgehen kann, dass fast die

145 Vgl. Robertson, Globalization, S. 9 f.; Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 131; Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 198 f.; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 86 f. und S. 101. 146 Vgl. ebd., S. 77. 147 Vgl. ebd., S. 100. 148 Vgl. Albrecht Riethmüller, Die Musik zum Deutschlandlied [1996], in: ders., Annäherung an Musik, hrsg. von Insa Bernds, Michael Custodis und Frank Hentschel, Stuttgart 2007, S. 215-226, hier S. 220.

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Hälfte aller weltweiten Arbeiter in diesen beschäftigt sind.149 Trotz seiner strukturierenden Funktion bei vielen multinationalen Unternehmen150 büßt der Nationalstaat durch sie einen erheblichen Teil der Kontrolle über die globalen Finanzströme ein. Die Schwächung des Nationalstaates durch die Globalisierung ist demnach in den Gesellschaftswissenschaften eine weit verbreitete These; nicht nur der wachsende kulturelle Einfluss der TNCs ist dafür ausschlaggebend, sondern auch die globale Verbreitung des Kapitalismus, globale Umweltprobleme oder neue soziale Bewegungen.151 All diesen Entwicklungen wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, religiöser oder kultureller Natur ist ihr transnationaler Charakter gemein; es gibt praktisch keinen institutionellen Bereich, der hier nur dem Nationalstaat eigen wäre.152 Die politische Rolle des Nationalstaates wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt durch den Beitritt in transnationale Bündnisse geprägt. Dies kann wie im Falle der Europäischen Union dazu führen, dass der beigetretene Nationalstaat in seiner Souveränität eingeschränkt wird. Dieser Machtverlust der Nationalstaaten geschieht hier sogar aus Eigeninitiative.153 Die Aufgabe von Souveränität kann als weiteres Indiz für das Zeitalter der Globalisierung gewertet werden, da die Nationalstaaten er-

149 Der Aufstieg der TNCs wird konkret beschrieben bei Malcolm Waters, welcher die Bedeutung und Auswirkungen der TNCs und der multi-national enterprises in einen Globalisierungskontext setzt, vgl. Waters, Globalization, S. 46 ff. 150 Finanzielles Eigentum und Anlagen sowie Forschungs- und Entwicklungsabteilungen vieler TNCs bleiben überwiegend im „Heimatstaat“, vgl. Michael Mann, „Hat die Globalisierung den Siegeszug des Nationalstaats beendet?“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 106 (1997), S. 113-141, hier S. 121. 151 Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Hamburg 2006, S. 43; Mann, „Hat die Globalisierung den Siegeszug des Nationalstaats beendet?“, S. 114 f.; Edgar Grande, „Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats“, in: Ulrich Beck und Wolfgang Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001, S. 261-275, hier S. 262. 152 Vgl. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 192. 153 Vgl. Mann, „Hat die Globalisierung den Siegeszug des Nationalstaats beendet?“, S. 129 f.

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kannt haben, dass die beschriebenen neuen transnationalen Phänomene nur noch durch gemeinsames politisches Handeln beherrschbar bleiben. Für einige Wissenschaftler wie Anthony Giddens erfährt der Nationalstaat somit sogar wieder eine Stärkung: „Durch gemeinschaftlich abgestimmtes Handeln mehrerer Länder wird die individuelle Souveränität der beteiligten Staaten zwar in mancher Hinsicht verringert, doch da ihre Macht dabei in anderer Hinsicht gekoppelt wird, steigert dieses Handeln ihren Einfluss innerhalb des Staatensystems.“

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Anthony Giddens verweist hierbei auf das dialektische Wesen der Globalisierung, welches Nationalstaaten zu gemeinsamen Beschlüssen und Handlungen in transnationale Organisationen drängt und dadurch diese wiederum als weltpolitische Spieler stärkt.155 Stockhausen versucht mit seiner Komposition HYMNEN eine Art transnationale Organisation auf musikalische Weise darzustellen. Das erste Zentrum des Werkes HYMNEN behandelt die Hymne der ältesten Form einer transnationalen Organisation, die „Internationale“, das weltweit anerkannte Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung. Durch Stockhausens Spiel mit den Nationalhymnen, durch das Stärken und Schwächen dieser, beispielsweise durch die formbildende Einbindung der sowjetischen Hymne, die USA-Collage oder das Verzerren und Zerstückeln des „Deutschlandliedes“, und durch die eigene Hymne in der vierten Region werden seine Vorstellungen einer Weltgesellschaft auskomponiert. Es sei hier auch an die Aussage von Bryan Wolf erinnert, Stockhausens HYMNEN trügen den Geist des vereinten Europas in sich. Die Europäische Union ist wie erwähnt eines der wenigen oder gar das einzige transnationale Bündnis, welches den Nationalstaat in seinen Handlungspielräumen einschränkt.156 Wenn man also Stockhausens Materialbehandlung dahingehend interpretiert, dass sich die Zuordnung der Nationalhymnen zu ihren Staaten löst, könnte man diesen Verlust an Nationalität tatsächlich als Geist des vereinten Europas interpretieren.

154 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 96. 155 Vgl. ebd., S. 94 ff. 156 Vgl. Mann, „Hat die Globalisierung den Siegeszug des Nationalstaats beendet?“, S. 129 f.

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Transnationale Aspekte in den HYMNEN lassen sich aber nicht nur in der Verarbeitung des musikalischen Materials erkennen. Stockhausen erfüllt aufgrund der offenen Form, der seriellen Struktur und der musikalischen Stilmittel elektronischer Musik gleichsam Ulrich Becks Definition der transnationalen Wechselfolgen: einer Entstehung von Lebens- und Handlungsformen, „mit denen Menschen ‚entfernungslose‘ soziale Lebenswelten und Handlungszusammenhänge errichten und aufrechterhalten“157. Stockhausen geht es in seiner Komposition explizit um die Verdichtung von Raum und Zeit. Die Kunst griff Raum-Zeit-Beziehungen seit jeher auf und verarbeitete die gesellschaftlichen Veränderungen in ihren Produkten. Stuart Hall sieht beispielsweise in den gebrochenen und fragmentierten Werken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die neuen Raum-Zeit-Beziehungen des modernen Zeitalters widergespiegelt: „An so unterschiedlichen Entwicklungen wie Einsteins Relativitätstheorie, der kubistischen Malerei Picassos und Braques, dem Werk der Dadaisten und Surrealisten, den Experimenten mit der Zeit und Erzählweise in den Romanen von Marcel Proust und James Joyce und der Montagetechnik in frühen Filmen von Vertow und Eisenstein können wir sehen, wie neue Raum-Zeit-Beziehungen bestimmt werden.“

158

Das Auflösen von Raum- und Zeitdistanzen wird als eines der Hauptkriterien angeführt, um das Zeitalter der Globalisierung zu charakterisieren.159 Der technisch herbeigeführte Beschleunigungsprozess führte laut Hartmut Rosa ungefähr ab 1970 zu einer „globalen Synchronisierung“160. Nach Jürgen Habermas werden Raum- und Zeitdistanzen nun „nicht mehr überwunden, [sondern] sie verschwinden spurlos in der ubiquitären Präsenz doppelter Realitäten“161. In diesem Zusammenhang wird zudem postuliert, dass es (kulturgeschichtlich) als neues Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahr-

157 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 63 f. 158 Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 211. Musikalische Beispiele hierfür wären die Collagetechnik eines Charles Ives, der Neoklassizismus eines Igor Strawinsky oder die Bachianas Brasileiras von Heitor Villa-Lobos. 159 Vgl. Rosa, Beschleunigung, S. 335; Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 70. 160 Rosa, Beschleunigung, S. 48. 161 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 70 f.

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hunderts gilt, mehrere Zeiten in unmittelbarer örtlicher Nähe auszumachen. Gemeint ist hiermit vor allem die massive Zunahme der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen .“162 Für die musikalische Darstellung der technisch-innovativen Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung dient Stockhausen zunächst das ideologisch aufgewertete Kompositionsverfahren der Intermodulation. Das Kurzwellen-Babel zu Beginn des Stückes, die Gegenüberstellung der UdSSR-Collage und der USA-Collage sowie das Studiogespräch „Otto Tomek sagte …“ beinhalten alle Bezugnahmen auf die veränderten RaumZeit-Beziehungen im Zeitalter der Globalisierung. Auch der Ausspruch seines Assistenten David Johnson „… get across the ocean in a few seconds“ (als Übergang von der USA-Collage zur Hymne Spaniens bei 18ƍ 40Ǝ in der dritten Region) lässt sich entsprechend interpretieren. Stockhausen drückt die Verdichtung von Raum und Zeit sowohl durch die Materialwahl und kompositorische Gegenüberstellung, die, wie er selber oft betonte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen sollten ,163 als auch durch Stilmittel der elektronischen Musik aus. Diese hatten, wie Wolfgang Martin Stroh schon Mitte der 1970er Jahre darstellte, von Grunde auf den Anspruch, für die ganze Menschheit zu sprechen und Träger des Fortschritts zu sein.164 Im Einklang damit manifestiert sich in der seriellen Kompositionsweise Stockhausens und dem darin immanenten rationalen Wissenschaftsbezug auch die Darstellung einer multipolaren Welt. Das Moment des Fortschritts im Musikalischen verbindet Stockhausen unmittelbar mit neuen Erkenntnissen und Erfindungen aus der Wissenschaft. Er steht damit in der klaren Tradition des Diskurses der musikalischen Avantgardeszene der 1950er Jahre.165

162 Vgl. Rosa, Beschleunigung, S. 168 f.; Peter L. Berger, Brigitte Berger und Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a. M. 1975, S. 105 f. 163 Vgl. Karlheinz Stockhausen, „Interview I“ [1968], in: ders., Texte zur Musik 1963-1970, S. 305-319, hier S. 309. 164 Vgl. Stroh, Zur Soziologie der elektronischen Musik, S. 139. 165 Der Stellenwert von Rationalität und Wissenschaft im Hinblick auf die Prozesse des Komponierens und einer durchorganisierten seriellen Tonmaterie wurde, wie bereits geschildert, vor allem von Umberto Eco beschrieben, vgl. Eco, Das offene Kunstwerk, S. 53; vgl. auch Christian Bauer, Sacrificium intel-

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Man kann also mehrere Deutungsebenen ausmachen, welche eine transnationale Gesellschaftsidee in Stockhausens Werk HYMNEN herausstellen. Die Auswahl des musikalischen Materials ist hier sicherlich, wie oben erläutert, maßgebend. Ergänzt wird sie durch die Vertonung des „Zusammenrückens“ von Staaten und die Gegenüberstellung von politischen Systemen (USA-Collage versus UdSSR-Modulation), durch das Erklingen der „Internationale“ zu Anfang sowie durch verschiedene andere kleinere Effekte (von USA nach Spanien). Stockhausen versucht ferner mit kompositionsästhetischen Stilmitteln verschiedene Verdichtungen zu komponieren, sowohl die Verdichtung verschiedener Zeitebenen (wie bei dem Studiogespräch und dem Deutschen Zentrum mit dem „Horst-WesselLied“) als auch der Raumebenen (am Beispiel des Kurzwellen-Babels). Die Idee, mit den HYMNEN eine Art Weltmusik zu schaffen, steht musikalisch im Zusammenhang mit dem damaligen Machtkampf der beiden großen politischen Blöcke. Die Bestrebungen, den Krieg zu verarbeiten166 und die entstandene instabile Weltlage mit Hilfe transnationaler Bündnisse besser zu regulieren und langfristig zu stabilisieren, können als zeitliche Analogien der politischen Entwicklungen gesehen werden. Die HYMNEN stehen als prägnantes Beispiel für den Versuch, diese beginnenden transnationalen politischen Entwicklungen musikalisch auszudrücken.

5 G LOBAL VILLAGE UND S TOCKHAUSENS W ELTMUSIKKONZEPT IN HYMNEN Karlheinz Stockhausen waren die Schriften Marshall McLuhans und der Begriff des global village bekannt; zahlreiche Betonungen des „globalen Dorfes“ sind durch Interviews und Schriften Stockhausens belegt.167 Marshall McLuhan entwickelte diesen Begriff hauptsächlich vor dem Hintergrund technologischer Innovationen. Die These, dass die Welt zu einem

lectus. Das Opfer des Verstandes in der Kunst von Karlheinz Stockhausen, Botho Strauß und Anselm Kiefer, München 2008, S. 47 f. 166 Im Übrigen verarbeitet auch Stockhausen in der zweiten und vierten Region der HYMNEN seine persönlichen Erinnerungen an den Krieg. 167 Siehe FN 176.

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Dorf geworden sei, beschreibt die globalen Abhängigkeiten und Auswirkungen der von den Medien elektronisch übertragenen Informationen: „As electronically contracted, the globe is no more than a village. Electric speed in bringing all social and political functions together in a sudden implosion has heightened human awareness of responsibility to an intense degree. It is the implosive factor that alters the position of the Negro, the teenager, and some other groups. They can no longer be contained, in the political sense of limited association. They are now involved in our lives, as we in theirs, thanks to the electric media.“

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Der entscheidende qualitative Sprung vollzog sich hierbei in den 1960er Jahren, deren Höhepunkt die erste Satellitenkommunikation 1969 darstellte; zum ersten Mal in der Geschichte der Welt war eine Kommunikation über den gesamten Globus ohne Zeitverlust möglich. Damit wurde das Zeitalter der Globalisierung erreicht – historisch gab es hierfür bisher kein Äquivalent169 Als eines der ersten Exempel für McLuhans global village diente der Vietnamkrieg. Durch die uneingeschränkte globale Fernsehberichterstattung wurde der Krieg überall auf gleiche Weise sichtbar und war dadurch maßgebend für die weltweite Antikriegsbewegung.170 McLuhan bereicherte mit seinen Ausführungen über die Wechselwirkungen der elektronischen Medien und die Entstehung einer globalen Vielfalt auch die Debatte über die kulturelle Homogenisierung versus Heterogenisierung. Der von McLuhan analysierte Zusammenhang zwischen den technologischen Entwicklungen eines „electronic age“ und der

168 McLuhan, Understanding Media, zit. n. Dürrschmidt, Globalisierung, S. 40. 169 Vgl. Giddens, Entfesselte Welt, S. 22; Held et al., Global Transformations, S. 327. 170 Das Fernsehen erweckte hier gewissermaßen subversive Tendenzen. Die kulturellen Produkte der Antikriegsbewegung wie Protestsongs, Filme oder Bilder entstanden durch den massenmedial herbeigeführten Global-village-Effekt, positionierten sich allerdings alternativ zu den Produkten der Kulturindustrie. Umberto Eco kommt dementsprechend zu dem Resultat, dass „das einzige, was wir wissen, ist, dass es keine Massenkultur in dem Sinne gibt, wie sie die apokalyptischen Soziologen der Massenmedien sich vorgestellt haben“, Umberto Eco, „Schadet das Publikum dem Fernsehen?“ [1977], zit. n. Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, S. 383.

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weltweiten Ausbreitung und kulturellen Verarbeitung globaler Massenmedien verknüpft den technischen Wandel mit der Entstehung einer global operierenden Kulturindustrie. Stockhausens Kurzwellen-Babel zu Beginn der HYMNEN stellt diese Zusammenhänge musikalisch dar. Ferner beeinflusste auch die in diesem Kontext beschriebene Fernsehberichterstattung über den Vietnamkrieg Stockhausen in den Kompositionen TELEMUSIK und HYMNEN. Wo Stockhausen in Äußerungen über TELEMUSIK noch solidarisierend und geradezu verherrlichend über das vietnamesische Volk sprach,171 schlug diese Sympathie im Zusammenhang mit den HYMNEN in eine scharfe Kritik an den USA um.172 Er stellte hier einen ideologischen Ethnozentrismus, wie er in der aufkommenden Gegenkultur jener Jahre üblich war, in unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Grundidee der HYMNEN, der Integration aller „Rassen“, Religionen und Nationen.173 Mit seiner USA-Collage in der dritten Region setzte er sich zudem auf mehreren Deutungsebenen mit der Weltmachtrolle der USA auseinander.174 Stockhausens politische Ambitionen in den HYMNEN sind Abbild einer unübersichtlich gewordenen globalen medialen Landschaft. Bezogen auf das in Kapitel I vorgestellte Modell von Arjun Appadurai bewegt sich Stockhausen hier auf den globalen Ebenen der mediascapes und ideoscapes: Er verarbeitet verschiedene mediale Ebenen beziehungsweise ist von diesen geprägt und platziert dadurch gleichermaßen eine globale Ideologie. Der in den HYMNEN ausgedrückte Weltmusikgedanke und der im Werk pointierte Universalitätsanspruch Stockhausens stehen in einem deutlichen Zusammenhang mit den globalen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die beiden von Stockhausen postulierten aufeinander folgenden Stadien der Weltmusik, die Uniformierung hin zu einer Universalisierung, lösen zunächst die Kontroverse Homogenisierung oder

171 Vgl. Stockhausen, „Telemusik“, S. 75. 172 Siehe unter anderem FN 20. 173 Stockhausen, „Hymnen mit Orchester“, S. 78 f. 174 Wie Dieter Gutknecht bemerkt, stellt die rein numerisch wirkende Aufzählung der Ländernamen mit den USA als Zentrum (gemeint ist die USA-Collage) eine durch simple Mittel erreichte Globalisierungsvorstellung dar, vgl. Dieter Gutknecht, „Karlheinz Stockhausens ,Hymnen‘ und der Aspekt der Raummusik“, in: Hartmut Krones (Hrsg.), Bühne, Film, Raum und Zeit in der Musik des 20. Jahrhunderts, Wien 2003, S. 275-284, hier S. 283.

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Heterogenisierung auf, indem diese zwei aufeinanderfolgende Evolutionsstufen bilden. Die beiden Stadien versucht Stockhausen in der vierten Region der HYMNEN und in seinem dem Stück übergeordneten strukturellen Konzept des Pluramonismus musikalisch auszudrücken. Durch die in der vierten Region kreierte eigene Hymne (die Hymunion aus dem Reich der Harmondie) und die darin verarbeiteten strukturellen elektronisch erzeugten Klangfarben wie auch durch den Schluss der HYMNEN (das Atmen des Komponisten) erreicht Stockhausen die endgültige Stufe seines Weltmusikkonzeptes, eben seine Definition einer Weltmusik. Der hier immanente Universalitätsanspruch Stockhausens wurde verschieden interpretiert. Es ist zutreffend, dass dieser – wie auch sein gesamtes Weltmusikkonzept – aus der europäischen Geistesgeschichte, von der Aufklärung bis hin zum Rationalismus der Moderne, abgeleitet werden kann. Durch den Einfluss der Schriften Marshall McLuhans und den von ihm geprägten Begriff des global village treten die damalig aufkommenden gesellschaftlichen Veränderungen der Globalisierung in Stockhausens Denken mehr in den Vordergrund und erklären sein Streben nach einer universalen Weltmusik.175 Stockhausen definierte aber auch seinen überpersönlichen Geniekult in Anlehnung an die beschriebenen Ausführungen seiner Stadien zur Entstehung einer Weltmusik. Er formulierte diese Zusammenhänge bereits 1968 in einem Interview: „Wir werden immer mehr der Tatsache bewußt, daß dieser ganze Globus ein einziges Dorf ist. Die Menschen rücken sehr nah zusammen. Und dadurch kommen Bewußtseinsschichten im einzelnen – in mir zum Beispiel – hoch, die einfach geschlafen haben. Man fühlt, daß es immer mehr Dinge gibt, die überpersönlich sind.“

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Zur selben Zeit schrieb er in seinem Freibrief an die Jugend: „Jetzt sind wir in einer Zeit, in der in einigen Menschen das Überbewußtsein so stark wird, dass sie nahe daran sind, höhere Lebewesen zu werden.“177 Es ging Stockhausen also auch immer darum, ein universales Bewusstsein zu erlangen,

175 Stockhausen war zudem zu jener Zeit gerade dabei, „global“ Karriere zu machen. 176 Stockhausen, „Interview über Telemusik“, S. 81. 177 Ders., „Freibrief an die Jugend“ [1968], in: ders., Texte zur Musik 1963-1970, S. 292-295, hier S. 292.

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welches „über Religions- und Rassenunterschiede hinausgeht und das nicht länger Universalität mit Uniformität verwechselt“178. Die hier von Stockhausen formulierten „übersinnlichen“ Aspekte stehen im Kontext einer Reaktion des Westens auf die globalen Veränderungen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Umberto Eco beschreibt bereits 1959 in seinem Aufsatz Zen und der Westen wie die Religion des Zenbuddhismus in den USA populär wurde und durch ihre antiintellektualistische Grundhaltung Einfluss auf die westliche Kultur hatte.179 Das 1973 publizierte Buch Das Unbehagen in der Modernität von Peter Berger, Brigitte Berger und Hansfried Kellner180 bemerkt ein grundsätzliches Unbehagen, welches von der Modernisierung und Überinstitutionalisierung der westlichen kapitalistischen Welt ausgelöst wurde und zu einer zunehmenden Hinwendung der westlichen Welt zu nicht westlicher Kultur führte. Aufgrund der industriellen Automatisierung entstand unter anderem eine auszufüllende freie Arbeitszeit und somit entwickelte sich eine neue Art der kreativen Freizeitkultur. Ferner lösten auch die erwähnten globalmedialen Neuerungen wie auch eine durch den Kalten Krieg bedingte Auseinandersetzung mit politischen Krisen und die Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges Bestrebungen aus, sich mit einer kulturellen Neugestaltung der Welt zu beschäftigten. Die aufkommende New-Age-Bewegung leitete beispielsweise ihr Interesse an außereuropäischer Musik und nicht westlichen Weltanschauungen aus eben jenen gesellschaftspolitischen Veränderungen ab. Peter Michael Hamel schreibt in seinem Buch Durch Musik zum Selbst, dass die zunehmende Materialisierung und Automatisierung der westlichen Welt zu einer Hinwendung zu „exotischen“ Ideologien als eine Art Fluchtversuch des Geistes führte.181 Stockhausen suchte Ende der 1960er Jahre eben-

178 Ebd., S. 295. 179 Eco, Das offene Kunstwerk, S. 212-237. 180 Berger et al., Das Unbehagen in der Modernität. 181 Vgl. Peter M. Hamel, Durch Musik zum Selbst (zuerst: Bern 1976), 4. Auflage, Kassel 1986, S. 44. Auch Überlegungen der Postmoderne führten in den 1960er Jahren zu einem Umdenken in der Musikkultur, sofern man den Begriff Postmoderne als „Gegenaufklärung“ verstand. Wilfried Gruhn bemerkt hierzu: „Die unübersichtlich gewordene Welt [lässt ein] Bedürfnis nach Harmonie und Geborgenheit entstehen, das sich in neotonalen, neoexpressiven und neoromantischen Fluchtbewegungen“ äußert, Wilfried Gruhn, „Postmo-

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falls einen Ausweg aus einer überrationalisierten, politisch festgefahrenen Zeit der Spätmoderne. Sein Unbehagen drückt sich ähnlich wie jenes der New-Age-Bewegung in einem Drang aus, verschüttete universale Urquellen der Musik zu suchen und / oder zu empfangen. Stockhausens Bezugnahme auf die indischen Weisen Sri Aurobindo oder das Urantia-Book in Werken wie MANTRA, INORI, SIRIUS oder LICHT verschafften ihm eine Art Kultstatus in der New-Age-Szene.182 Die interreligiöse Einfärbung seines Weltmusikgedankens und seine Beschwörungen eines neuen kosmischen Zeitalters, auch im Zusammenhang mit den HYMNEN, sind ebenfalls Versuche, die Veränderungen einer zunehmend global vernetzten und reflexiven Welt zu verarbeiten. Bemerkenswert hierbei ist der Unterschied zwischen Stockhausen und dem Theorem der New-Age-Bewegung183: Während Stockhausen in den 1960er Jahren versuchte, durch neueste elektrotechnische Akustik und überrationalisierte serielle Kompositionsformeln seine Zukunftsvision einer Weltgesellschaft zu schaffen, gingen die universalen Bestrebungen der New-Age-Bewegungen einher mit der Ablehnung des Rationalen und einem harmonischen Verständnis wider die Dissonanz.184 Trotz aller zweifelhaften Herrschaftsgesten Stockhausens in Gestalt des Pluramons und seines ideologischen Weltmusikkonzepts stellen die HYMNEN einen Versuch dar, aktuelle globalgesellschaftliche Umbrüche in einer musikalischen Zukunftsvision auszudrücken.

derne Musik oder Von neuem Wein in alten Schläuchen und der Lampe des Diogenes“, in: ders. (Hrsg.), Das Projekt Moderne und die Postmoderne, Regensburg 1989, S. 5-13, hier S. 8-9, zit. n. Domann, Postmoderne und Musik, S. 76. 182 Vgl. Hamel, Durch Musik zum Selbst, S. 34 ff. 183 Wie Gregg Wager bemerkt, stand Stockhausen zu keiner Zeit offiziell einer Gruppe oder einer Bewegung der New-Age-Szene nahe, vgl. Wager, Symbolism as a Compositional Method in the Works of Karlheinz Stockhausen, S. 125 ff. 184 Die New-Age-Bewegung wurde durch die Ablehnung des musikalischen Fortschritts auch als „Subkultur gegen die Moderne“ bezeichnet, vgl. Wolfgang M. Stroh, Handbuch New-Age Musik, Regensburg 1994, S. 27; Peter Niklas Wilson, „Die Ratio des Irrationalismus“, in: Ekkehard Jost (Hrsg.), Die Musik der achtziger Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 31), Darmstadt 1990, S. 62-77, hier S. 64-69.

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Die Untersuchungen des Weltmusikkonzeptes Stockhausens und die Analyse der Komposition HYMNEN ergeben konkrete Hinweise, inwiefern Stockhausen in jener Phase seines Schaffens Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung direkt aufgriff oder indirekt von ihnen beeinflusst wurde. Die religiös-kosmischen Bezüge in Stockhausens Denken und Schaffen können als Reaktion auf eine global vernetzte, überrationalisierte und automatisierte Welt interpretiert werden. Das universelle Konzept der Komposition HYMNEN, alle „Länder, Rassen und Religionen“ zu vereinen, greift den Zeitgeist der 1960er Jahre auf, nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der damalig aktuellen globalen nuklearen Gefahr des Kalten Krieges eine neue friedliche Weltgemeinschaft errichten zu wollen. Die explizite Einbindung vergangener Erlebnisse und historischer Ereignisse bettet das Werk in einen historischen Kontext und beschreibt somit eine Entwicklungslinie hin in ein neues Zeitalter der Globalisierung.

III Jamaikanischer Ska im globalen Kontext

Die weltweite Verbreitung jamaikanischer Unterhaltungs- und Tanzmusik ist ein weiteres vielschichtiges Beispiel dafür, wie sich Aspekte einer kulturellen Globalisierung auf musikalische Formen und die durch Musik transportierten Ideologien auswirken können. Anhand musikalischer Beispiele und durch die allgemeine Entwicklungsgeschichte der Musikform Ska sowohl auf Jamaika als auch in Großbritannien sollen diese Aspekte nun untersucht werden.1 Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwiefern die gesellschaftlichen Umbrüche eines Zeitalters der Globalisierung zu Veränderungen der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik und ihrer kulturellen Rezeption geführt haben. Dass die Musikform Ska im zeitgeschichtlichen Zusammenhang mit der Unabhängigkeit Jamaikas populär wurde, ist eine Begründung dafür, diese im globalen Kontext zu untersuchen. Die

1

Der Terminus Ska wurde gewählt, um vereinfachend jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik zu benennen. Mento, Rocksteady oder Reggae als weitere Formen jamaikanischer Unterhaltungs- und Tanzmusik werden ebenfalls analysiert und definiert, sollen aber grundsätzlich unter dem Begriff Ska zentralisiert werden. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen wurde der Ska im Zuge der politischen Unabhängigkeit Jamaikas 1962 von der Weltöffentlichkeit als erste exklusiv jamaikanische Musik wahrgenommen, vgl. Steve Barrow und Peter Dalton, The Rough Guide to Reggae, London 1997, S. 3; zum anderen wurde der Begriff Ska verwendet, um die adaptive Musik der englischen Subkultur der Skinheads ab Anfang der 1970er Jahre zu bestimmen, unabhängig davon, ob die Musik den ursprünglichen musikalischen Parametern des jamaikanischen Ska entsprach oder nicht.

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weltweite Dekolonisation in den 1960er Jahren wird in den Sozialwissenschaften als ein Merkmal der gegenwärtigen Globalisierungsperiode angesehen, da sich die politischen Machtverhältnisse und Strukturen hier neu ordneten.2 Die Entstehung einer afroamerikanischen Musikform, einer Vermischung europäischer und afrikanischer Musiktraditionen, wie sie der Ska darstellt, steht natürlich grundsätzlich im Zusammenhang des von Bruno Nettl definierten Prozesses der westernization, dem Übernehmen und freiwilligen Einbinden europäischer Harmonien oder Rhythmen.3 Im folgenden Abschnitt soll nun näher erläutert werden, wie sowohl verschiedene religiöse Institutionen und Kulte als auch eine veränderte wirtschaftliche Lage die Entstehung einer Unterhaltungs- und Tanzmusik auf Jamaika beeinflussten. Die Verschiffung von Millionen afrikanischer Sklaven durch die Kolonialherren der neuen Welt kann hier als erstes Anzeichen globalen Eingreifens in die Historie des Landes gesehen werden, und auch die globalen Auswirkungen einer von den USA ausgehenden Kulturindustrie sind zu untersuchen, da die musikalische Entwicklung Jamaikas seit dem späten 19. Jahrhundert – besonders durch die Musikkultur der Region um New Orleans – beeinflusst wurde.4 Der jamaikanische Ska erfuhr überdies von 1960 bis 1970 musikalische Modifikationen, die über die Entstehung des Rocksteady bis hin zu der weltweit populären Musikform Reggae reichten. Diese musikalischen Weiterentwicklungen gingen einher mit einer ideologischen Veränderung der Musik sowie einer neuen Form der Identitätsfindung ihrer Hörerschaft. Eine besonders beachtenswerte Adaption geschah unter Einfluss einer neuen Umgebung auf den britischen Inseln in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die durch Migration jamaikanischer Gastarbeiter in das Vereinigte Königreich überlieferte jamaikanische Unterhaltungs- und

2

Wie bereits erwähnt, sind die gesellschaftlichen Veränderungen der historischen Phase der post-colonial-globalization für den gegenwärtig verwendeten Globalisierungsbegriff prägend.

3

Nach Nettls Systematik sind im Folgenden auch die Formen impoverishment consolidation und syncretism darstellbar, wie sie in Kapitel II beschrieben worden sind.

4

Vgl. Robert Witmer, „,Local‘ and ,foreign‘: The popular music culture of Kingston Jamaica, before Ska, Rock Steady and Reggae“, in: Latin American Music Review 8/1 (1987), S. 1-25.

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Tanzmusik wurde von der Subkultur der Skinheads adaptiert und in einen neuen kulturellen Kontext gesetzt. Diese transkulturelle Verbindung, einhergehend mit einer neuen transnationalen Identität, ist aufgrund der ökonomisch bedingten Migrationswelle ebenfalls in einem globalen Kontext zu betrachten, da die veränderte ethnische Zusammensetzung der westlichen Welt ein Kriterium des Zeitalters der Globalisierung darstellt.5 Wie im vorangegangen Kapitel beschrieben, verliert der Nationalstaat trotz seiner Eingliederung in neue politische Bündnisse durch Prozesse der Globalisierung an Einfluss. Dieses liegt auch in seiner kulturellen Manifestation begründet. Nationalstaaten definieren sich über Darstellungen ihrer nationalen Identität und sind theoretisch gedachte kulturelle Gemeinschaften.6 Sie waren wegen ihrer vielfältigen ethnischen, religiösen und politischen Zusammensetzungen im Grunde schon immer transnationale Gebilde und eine einheitliche Nationalkultur ein Mythos. Bezogen auf das westliche Europa bemerkt Stuart Hall: „West-Europa hat keine Nation, die nur aus einem Volk, einer Kultur oder Ethnizität besteht. Alle modernen Nationen sind kulturell hybrid.“7 Wichtigster Aspekt der kulturellen Vielfalt eines Staates ist die schon seit der archaic-globalization-Periode vorhandene Geschichte der Bevölkerungswanderung; Migration ist ein Kriterium, welches in allen historischen Phasen der Globalisierung existierte. David Held unterscheidet verschiedene Arten von Migration: Diese kann regional oder transkontinental sein, kann erzwungen oder freiwillig geschehen, aus ökonomischen, politischen oder ideologischen Gründen.8 Held ordnet unterschiedliche Migrationsbewegungen den vier historischen Globalisierungsperioden zu und beschreibt in einer Vergleichstabelle die Intensität, Reich-

5

Vgl. Held et al., Global Transformations, S. 284-305. Die Migrationsforschung kann an dieser Stelle nur kurz vorgestellt werden. Zwar ist dieser Aspekt in der Globalisierungsdebatte natürlich elementar, aber eine genaue Beschreibung und Auswertung der Migrationsgeschichte und deren Einfluss auf die Globalisierung und auf die Musikkultur würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen beziehungsweise ergäbe detailliert einen eigenen Forschungsschwerpunkt.

6

Vgl. Meyer et al., „Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, S. 106.

7

Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 208, Hervorhebungen im Original; für weitere Gedanken hierzu siehe auch Harzig und Hoerder, What is Migration history?, S. 111 f.

8

Held et al., Global Transformations, S. 284.

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weite und Schnelligkeit, die politische und ökonomische Bedeutung sowie die Klassenzugehörigkeit der jeweiligen historischen Migrationsströme.9 Die letzte Globalisierungsperiode ab 1950 ist dabei vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich die größten transkontinentalen Migrationsströme politisch und ökonomisch motiviert aus den ehemaligen Kolonialreichen in das westliche Europa ereigneten; regional wurde dies von innereuropäischen – meist von Süd nach Nord verlaufende – Arbeiterbewegungen verstärkt. Hierbei entstanden in den Industrieländern neue kulturelle und ethnische Landschaften, die den aktuellen Globalisierungsdiskurs beeinflussten.10 Wie das vorgestellte Modell von Arjun Appadurai beschreibt, spielen im Zeitalter der Globalisierung nun andere Zugehörigkeitskriterien für die Identität jedes Einzelnen eine größere Rolle. Für die Musikwissenschaft – und hier besonders für die Populärmusikforschung – spielen die von der Migration transformierten kulturellen Landschaften bei der Entstehung von neuen Musikstilen eine besondere Rolle. Was Stuart Hall gar als Schwächung der kulturellen Dominanz des Westens bezeichnet,11 wird deutlich anhand der Verwendung nicht westlicher musikalischer Stilelemente und die Entstehung neuer musikalischer Gattungen.12 Bereits Migrationsströme der historischen Globalisierungsperioden haben Einfluss auf die Musikkultur genommen. Afroamerikanische Musikformen, deren migrationshistorischer Einfluss wie erwähnt bis auf die Verschiffung afrikanischer Sklaven nach Amerika zurückgeführt werden kann, dienen als Beispiele für transnationale oder urbane Musikformen.13

9

Ebd., S. 305 f.

10 Die USA hat als historisches „Einwandererland“ hierbei immer eine kulturelle Sonderstellung. 11 Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 215 f. 12 Vgl. Martin Clayton, Trevor Herbert und Richard Middleton (Hrsg.), The Cultural Study of Music, London 2003; John Connell und Chris Gibson, Sound Tracks: Popular Music, Identity and Place, Oxon 2003; Nettl, The Western Impact on World Music; Joyce, „The Globalization of Music“. Aktuelle Überlegungen zu diesem Thema finden sich auch in Jason Toynbee und Byron Dueck (Hrsg.), Migrating Music, Oxon 2011. 13 Vgl. Connell und Gibson, Sound Tracks, S. 182. Auch der Jazz wird mitunter als Ausdruck einer neuen transnationalen Gesellschaft betrachtet und seine Po-

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1 J AMAIKANISCHE U NTERHALTUNGS UND T ANZMUSIK 1.1 Die afrikanische Traditionslinie Die afrikanische Kultur auf Jamaika wurde vor allem von den Maroons gepflegt, einer militanten Gruppe entflohener Sklaven, die seit dem 17. Jahrhundert weitestgehend autark im bergigen Hinterland der Insel lebte.14 Verschiedene Trommelensembles afrikanischen Ursprungs (wie zum Beispiel die Burru-, Kumina- oder Fundetrommeln) gehörten somit auf Jamaika zur musikalischen Tradition, hatten eine soziokulturelle Funktion und wirkten sich stark auf die Genese neuer jamaikanischer Musikformen aus.15 Zu einer Vermischung der afrikanischen mit der europäischen Tradition kam es nun durch den Einfluss der christlichen Missionare, die quasi als kulturellideologischer Überbau der Kolonialisierung den afrikanischen Sklaven den europäischen Glauben aufzwingen sollten. Die Verbindung der afrikanischen Rituale mit den christlich-baptistischen ließ auf Jamaika eine neue Kultur entstehen. Ungefähr ab 1860 stieg vor allem der Einfluss der afroa-

pularität als Zeichen einer kosmopolitischen Weltanschauung gedeutet, vgl. Robin Brown, „Americanization as its Best?: The Globalization of Jazz“, in: Franklin (Hrsg.), Resounding international relations, S. 89-109, hier S. 95; Grupe, „‚Cultural Grey-out‘ oder ‚Many Diverse Musics‘?“, S. 17. Es sei an dieser Stelle zudem vermerkt, dass jede afroamerikanische Musikform migrationsbedingt entstanden ist. Wie in Kapitel I erwähnt, hatte Migration in allen historischen Phasen Einfluss auf die Musikkultur. 14 Vgl. Dick Hebdige, Cut ’n’ Mix. Culture, Identity and Caribbean Music, London 1987, S. 24 ff.; Simon Jones, Black culture, white youth: the reggae tradition from JA to UK, Basingstoke 1988, S. 5. 15 In den Slums von Kingston wurde bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die Wiederkehr entlassener Häftlinge mit einer Burru-TrommelProzession gefeiert, vgl. Dick Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“ [1979], in: Stuart Hall und Tony Jefferson (Hrsg.), Resistance through Rituals. Youth subcultures in post-war Britain (zuerst: Oxon 1993), 2. Auflage, Oxon 2006, S. 113-130, hier S. 120.

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merikanischen Kirchen Pocomania und Revival Zion.16 Unter den Gläubigen dieser beiden Kirchen bildeten sich nun die Rastafari- und Panafrikanismusbewegungen.17 Die Rastafaribewegung entwickelte sich aus den Einflüssen des Äthiopianismus und dem nationalen Bewusstsein des jamaikanischen Publizisten und Politikers Marcus Garvey. Der Äthiopianismus war eine 1892 in Südafrika entstandene Abspaltung von der Missionskirche.18 Das Hauptziel des Äthiopianismus war es, der dunkelhäutigen Weltbevölkerung in der Bibel eine neue und gewichtigere Bedeutung zu geben. Eine Obliegenheit der Rastafaribewegung bestand nun darin, biblische Verse auf die Problematik einer „schwarzen“ Bevölkerung unter der Kolonialherrschaft der „Weißen“ umzuinterpretieren. Marcus Garvey steigerte dieses Bewusstsein, indem er zusätzlich proklamierte, dass sowohl Gott als auch Jesus „schwarz“ seien.19 Die Panafrikanismusbewegung hatte wiederum das Zusammenführen aller dunkelhäutigen Menschen weltweit zum Ziel.20 Beide Bewegungen fanden ab 1930, dem Jahr, in dem Ras Tafari Makonnen (Haile Selassie I.) neuer König von Äthiopien wurde, besonders bei der verarmten „schwarzen“ Bevölkerungsschicht Jamaikas starken Zu-

16 Vgl. Sebastian Clarke, Jah Music: The Evolution of the Popular Jamaican Song, London 1980, S. 30; Gregory Salter-Mthembi, „Die lauteste Insel der Welt“, in: Simon Broughton, Kim Burton, Mark Ellingham, David Muddyman und Richard Trillo (Hrsg.), Weltmusik. Rough Guide, aus dem Engl. von Monika Woltering und Mirella Bauerle, Stuttgart 2000, S. 659-676, hier S. 661. Für eine ausführliche Beschreibung der Entstehung der beiden Kirchen Revival Zion und Pocomania siehe Barry Chevannes, Rastafari: Roots and Ideology, Syracuse 1995, S. 17-22. 17 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 15; Kevin O’Brien Chang und Wayne Chen, Reggae Routes: The Story of Jamaican Music, Philadelphia 1998, S. 26. 18 Vgl. Helen Q. Kivnick, Where is the way? Song and Struggle in South Africa, New York 1990, S. 47. 19 Vgl. Stephen A. King, Reggae, Rastafari, and the rhetoric of social control, Jackson 2002, Introduction. 20 Politischer Ursprung der panafrikanischen Interessenvertretung ist eine Konferenz der Londoner African Association im Jahre 1900, vgl. Edward O. Erhagbe, „Assistance and Conflict: The African Diaspora and Africa’s Development in the Twenty-first Century“, in: Africa Development XXXII (2007), S. 24-40.

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lauf. Diese Jamaikaner sahen in Haile Selassie I. die Wiedergeburt Jesu, des „Königes der Könige“ und des „schwarzen Messias“21. Der Ursprungsgedanke einer Rückführung der Nachfahren der afrikanischen Sklaven in ihr „Mutterland“ (Äthiopien), verbreitet in einer biblischen Semantik, stellt als hybride Religionsform den Anfangspunkt für ein globales Bewusstsein dar. Auf den von Arjun Appadurai definierten Ebenen der ideoscapes und ethnoscapes wird hier die dunkelhäutige globale Bevölkerung in einer religiös-ethnischen Ideologie geeint. Die transnationale Identität, die hier entstanden ist, wurde auch über Musik verbreitet. Der Rastafarikult und die Panafrikanismusbewegung hatten enormen Einfluss auf die identitätsstiftenden Texte der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik und auf deren Protagonisten. Bemerkenswert hierbei ist, dass die Religion der Rastafari die progressive Kraft des Landes darstellte, Musiker in ihrer Kreativität förderte und ihnen infrastrukturelle Möglichkeiten der musikalischen Entfaltung gab.22 Noch bis in die 1970er Jahre hinein hatte zum Beispiel der Rastafariperkussionist Count Ossie großen Einfluss auf die Musikszene des Landes. Ossie lehrte in einem Rastafaridorf seit den 1950er Jahren vielen Musikern der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusikszene afrikanisches Trommeln wie auch die Lehre des Rastafarikultes.23 1.2 Mento, R ’n’ B und Soundsystems Auf Jamaika hatte neben den afrikanischen Musiktraditionen die kreolische Musikform Mento großen Einfluss auf die weiterführenden Entwicklungen der Unterhaltungs- und Tanzmusik. Mento definiert sich als jamaikanische Abwandlung des Calypso aus Trinidad.24 Basierend auf einem Harmoniesystem der Diatonik besteht die Basisinstrumentation aus einer Gitarre, einem Banjo, Rhumba-Box, Bongos, Rasseln sowie weiteren Perkussionsin-

21 Vgl. King, Reggae, Rastafari, and the rhetoric of social control, S. 11. 22 Vgl. Martin Harrison, „Volksmusik und gesellschaftliche Realität im heutigen Jamaika“, in: Hans Werner Henze (Hrsg.), Zwischen den Kulturen, Frankfurt a. M. 1979, S. 153-187, hier S. 158. 23 Vgl. ebd. 24 Mento wird auch als afroamerikanische Form der Quadrille Band beschrieben, vgl. Barrow und Dalton, The Rough Guide to Reggae, S. 7.

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strumenten.25 Der Rhythmus wird vom Banjo auf den Positionen zwischen den betonten Zählzeiten des viertaktigen Metrums geschlagen, so dass hier eine Art afrikanischer Offbeat den Grundrhythmus bildet.26 Ähnlich wie bei dem musikalisch sehr verwandten Calypso sind die Texte der Mentosongs narrativ, satirisch, sozialkritisch und mit eindeutig sexuellen Anspielungen ausgeschmückt.27 Der Mento wurde zeitgleich mit dem Aufkommen des Rastafarikultes in den 1930er Jahren auf Jamaika populär und war die erste auf Jamaika entstandene Unterhaltungs- und Tanzmusik.28 Anfang der 1950er Jahre verbesserte sich aufgrund der Entdeckung großer Bauxitvorkommen die wirtschaftliche Lage des Landes. Ferner wurde die Infrastruktur der Insel mit der Einführung des Massentourismus ausgebaut. Im Zuge der damit einhergehenden Industrialisierung stieg das Bruttoinlandsprodukt und somit – als Zeichen des steigenden individuellen Wohlstandes – das Aufkommen von Transistorradios auf Jamaika. Durch die Verbreitung des Radios wurden US-amerikanische Musikstile aus der Region um New Orleans überliefert. Zahlreiche Studien und Berichte belegen, dass in klaren Nächten der Radiosender WINZ aus Florida, welcher in erster Linie R ’n’ B, Swing und Jazz spielte, auf Jamaika empfangen werden konnte. Diese musikalischen Stilrichtungen gewannen dadurch zunehmend an Geltung,29 wobei vor allem die R-’n’-B-Spielart des Boogie-

25 Vgl. Peter Fletcher, World Musics in Context, Oxford 2001, S. 520 f; Pamela O’Gorman, „An Approach to the Study of Jamaican Popular Music“, in: Jamaica Journal 6 (1972), S. 50-54. 26 Der Begriff Offbeat stammt ursprünglich aus der Jazz-Fachsprache und wurde seit den 1950er Jahren in der afrikanischen Musikwissenschaft angewandt. Er ersetzte den Begriff Synkopation, den man bis dahin verwendet hatte. Im Gegensatz zum Takt in der europäischen Musik enthält der Beat in afrikanischen Musikarten keine Vorstellung von schweren oder leichten Taktteilen, so dass Offbeat „einen Akzent weg vom Beat“ meint, vgl. Gerhard Kubik, Zum Verstehen afrikanischer Musik (zuerst: Wien 1988), 2. aktualisierte und ergänzte Auflage, Wien 2004, S. 76 f. 27 Für Simon Jones hat die narrative Struktur der Mentosongs wiederum einen afrikanischen Ursprung, vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 15 f. 28 Vgl. ebd., S. 16. 29 Unter anderem näher beschrieben bei Clarke, Jah Music, S. 57; Werner Tröder, Reggae, Königswinter 1993, S. 15; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 16 ff.

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Woogie besondere Beliebtheit erlangte.30 Dies lag wohl in erster Linie an der stilistischen Verwandtschaft zum Mento: Auch beim Boogie-Woogie bewegen sich die Harmonie und Melodie in einer diatonischen Skala auf der ersten, vierten und fünften Stufe, ferner werden in einem Viervierteltakt die Positionen zwischen den betonten Zählzeiten meist durch einen Klavierakkord hervorgehoben. Der Walking-Bass stellt hierbei ein rhythmisches und harmonisches Grundmuster her. Dieser besteht dem Grundkonzept nach aus durchgehenden Viertelnoten, die der entsprechend gespielten Harmonie entstammen. Boogie-Woogie wurde in den 1950er Jahren besonders in der verarmten Bevölkerung Jamaikas immer populärer und löste damit den einheimischen Mento ab. Grund hierfür war unter anderem die zunehmende Vereinnahmung des Mento für touristische Zwecke.31 Der USamerikanische R ’n’ B war zudem bei der dunkelhäutigen Bevölkerung Jamaikas beliebt, weil dieser unabhängig von der jamaikanischen Regierung und dem jamaikanischen Radio eine musikalische Identifikation bot.32 Verbreitet wurde der R ’n’ B auf Jamaika durch die ebenfalls in den 1950er Jahren aufkommenden Soundsystems. Hierbei handelte es sich um „fahrende Diskotheken“, einem Lastwagen mit großen Lautsprechern beladen nebst einer Verstärkeranlage, die für die musikalische Untermalung bei Straßenfesten und Tanzveranstaltungen sorgten. Die Soundsystembetreiber galten als Pioniere der jamaikanischen Plattenindustrie und gestalteten in

30 Robert Witmer beschreibt in einer Studie den Einfluss der US-amerikanischen Unterhaltungsmusik auf Jamaika seit den 1930er Jahren. Insbesondere erwähnt er die ab 1950 sehr erfolgreichen Konzerttourneen zahlreicher R-’n‘-B-Künstler aus New Orleans wie Louis Jordan oder Fats Domino auf Jamaika, vgl. Witmer, „,Local‘ and ,foreign‘“, S. 2 ff. 31 Mento wurde in den 1950er Jahren von der dunkelhäutigen jamaikanischen Bevölkerung als „Touristenmusik“ regelrecht marginalisiert, vgl. Chang und Chen, Reggae Routes, S. 14; Stephen Davis und Peter Simon, Reggae International, New York 1982, S. 37. 32 Radio Jamaica Rediffusion ging 1950 „on air“ und boykottierte zunächst den „schwarzen“ R ’n’ B, da sich die Radiostation gezielt an eine „weiße“ Oberschicht und Touristen richten wollte, vgl. Clarke, Jah Music, S. 62; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 17; Udo Vieth und Michael Zimmermann, Reggae. Musiker, Rastas und Jamaika, Frankfurt a. M. 1981, S. 28; Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 120.

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vielerlei Hinsicht die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik der nächsten 20 Jahre. Der Jamaikaner Clement Dodd war als Betreiber des ersten Soundsystems maßgeblich an der Verbreitung des R ’n’ B auf Jamaika beteiligt.33 Als der R ’n’ B Ende der 1950er Jahre in den USA allmählich durch den Rock ’n’ Roll abgelöst wurde, begannen die Betreiber der jamaikanischen Soundsystems in eigens dafür erbauten provisorischen Tonstudios eine eigene Art des R ’n’ B mit jamaikanischen Mentokünstlern aufzunehmen, um die Produktion für ihre Soundsystems nicht abreißen zu lassen. Clement Dodd wird in diesem Zusammenhang mit den Worten zitiert: „American music started to change from rythm and blues to rock and roll but Jamaicans didn’t like rock and roll much. I searched the U.S. but the R&B supply was drying up. So I decided to record my own music“34. Bezogen auf das vorgestellte Modell von Arjun Appadurai veränderte der kulturindustrielle und ökonomische Einfluss die Musikkultur auf Jamaika und ließ über die Ebene der technoscapes eine globale Verknüpfung entstehen, da sich hieraus nun eine neue Spielart des ursprünglich US-amerikanischen R ’n’ B entwickeln konnte. Es soll an dieser Stelle nun das von Roger Wallis und Krister Malm eingeführte Modell einer kulturellen Globalisierung vorgestellt werden, welches im Folgenden zur Beschreibung einiger musikalischer Vorgänge dienen soll. Wallis und Malm definieren auf einer Mikroebene vier kulturelle Interaktionen, welche am Beispiel der Musikkultur die Gewichtung innerhalb des kulturellen Austausches unterscheiden und nach den daraus abzuleitenden Ergebnissen fragen: cultural exchange, cultural dominance, cultural imperialism und transculturation.35 Cultural exchange meint einen gleichberechtigten Austausch zwischen zwei oder mehreren Kulturen oder Subkulturen. Dieser kann auf der persönlichen Ebene einzelner Musiker aus verschiedenen Kulturkreisen geschehen, er kann aber auch einen zirkulierenden Charakter innerhalb einer oder mehrerer Ethnien beinhalten. Als musikalisches Beispiel nennen Wallis und Malm hier das Aufkommen afrokaribischer Musikformen in Westafrika. Cultural dominance bedeutet, dass eine Kultur einer anderen überlegen ist und somit versucht, ihre Kultur

33 Vgl. Clarke, Jah Music, S. 57 f.; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 19. 34 Zit. n. ebd., S. 21. 35 Wallis und Malm, Big Sounds from Small Peoples, S. 297-301, siehe auch Malm, „Local, National and International musics“, S. 219-222.

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als einzige Form zu etablieren. Als Veranschaulichung dient hier die christliche Missionierung des afrikanischen Kontinents36 und das dadurch bedingte gezwungene Erlernen der christlich-europäischen Musikkultur. Ähnlich verhält es sich mit der Form des cultural imperialism. Wallis und Malm unterscheiden aber hierbei, dass eine Kultur aufgrund ihres ökonomischen Apparats einer anderen Kultur überlegen ist und somit nur auf dieser Ebene kulturell interagiert. Die beschriebene musikalische wie ökonomische Entwicklung auf Jamaika stellt eine Form des cultural imperialism dar. Die vierte Art der kulturellen Interaktion, die transculturation, entsteht laut Wallis und Malm erst um das Jahr 1970. Transculturation ist das musikalische Ergebnis einer global operierenden Musikindustrie und der weltweiten Reichweite ihrer Produkte. Es entsteht dabei eine Musik aus der Kombination unendlich verschiedener Kulturen. Als Beispiel geben die Autoren die um 1970 aufkommende Musikform Disco an, die sich nicht mehr kulturell verorten lässt. Der Begriff der „Transkulturation“ wurde auch von Wolfgang Welsch aufgegriffen und in einen erweiterten Kontext gesetzt. So sieht Welsch diesen als übergeordneten kulturellen Zustand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „An die Stelle der Kulturen alten Zuschnitts – die man sich immer als eine Art National- oder Regionalkulturen vorgestellt hat – sind heute diverse Lebensformen getreten. Diese Lebensformen (nach meiner Auffassung die Kulturen von heute, die Kulturen nach dem Ende der traditionellen Kulturen) machen nicht an den Grenzen der alten Kulturen halt, sondern gehen quer durch diese hindurch. Deshalb sind sie mit den herkömmlichen Kulturkategorien nicht mehr zu fassen. ‚Trans-kulturalität‘ will beides anzeigen; daß wir uns jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden; und daß die neuen Kultur- bzw. Lebensformen durch diese alten Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen.“37

36 Und das gilt auch für die „neue Welt“, wie das Beispiel der auf Jamaika entstandenen Religionsformen aufzeigt. 37 Wolfgang Welsch, „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“, in: Kurt Luger und Rudi Renger (Hrsg.), Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien, Wien 1994, S. 147-169, hier S. 147 f, Hervorhebungen im Original. Max Peter Baumann kreierte hierzu gar ei-

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Transculturation wird in der wie folgt beschriebenen weiteren Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik eine größere Rolle spielen, da an ihr drei verschiedene Schwerpunkte der transculturation auszumachen sind. 1.3 Jamaikanischer Ska Die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den kulturellen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung. Die historische und musikalische Genese des Ska wurde wesentlich geprägt durch die Verbreitung von Transistorradios auf Jamaika und dem damit einhergehenden kulturellen Austausch mit dem US-amerikanischen Süden. Das Radio als „Empfänger der Welt“ wurde schon bei Stockhausens HYMNEN als Instrument benutzt, um eine Vermischung verschiedener kultureller Einflüsse darzustellen. Hier nun beeinflusst die über das Radio empfangbare Musik die Entwicklung eines Musikstils. Diese Parallele vor dem Hintergrund des scheinbar ganz anderen erschließt sich anhand der Veränderungen der technisch-innovativen Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung: Anthony Giddens sieht im Fortschritt und in der Verbreitung der Kommunikationstechnologie ein entscheidendes Merkmal der Globalisierung38 und Marshall McLuhan erklärt an der Verbreitung von Informationen über das Radio seine Idee des global village.39 In verschiedenen musikwissenschaftlichen Thesen wird ferner von einer Beschleunigung des Kulturaustausches durch Kommunikationsmedien40 und damit einhergehend einer Genese neuer musikalischer Stile ausgegangen.41 Im Fall der Musikform Ska trifft dies zu, da die beschriebene Entstehung und Entwicklung des Ska ohne die Verbreitung des Radios nicht möglich gewesen wäre. Durch den so vermittelten US-amerikanischen R ’n’ B wurde auf Jamaika ein neuer Musikstil kreiert, indem

ne 15 Unterpunkte beinhaltende Liste der „factors in creation of a transcultural consciousness“, vgl. Baumann, „The Local and the Global“, S. 126 f. 38 Vgl. Giddens, Entfesselte Welt, S. 21 f; ders., Konsequenzen der Moderne, S. 85. 39 Vgl. McLuhan, Understanding Media, S. 408. 40 Vgl. Grupe, „‚Cultural Grey-out‘ oder ‚Many Diverse Musics‘?“, S. 15. 41 Vgl. Laurent Aubert, The Music of the Other, Ashgate 2007, S. 57.

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„neue“ musikalische Stilelemente sich mit „alten“ Unterhaltungs- und Tanzmusikformen verbanden. Das Radio fungierte hier gewissermaßen als „Globalisierungsmotor“. Um 1960 hatte der jamaikanisch-kubanische Sänger Laurel Aitken mehrere R-’n’-B-Songs in den jamaikanischen Charts platziert: „Boogie Rock“, „Boogie in my Bones“ und „Little Sheila“.42 Bei letzterem handelte es sich um den ersten sogenannten Skasong.43 „Little Sheila“ hebt sich von den anderen R-’n’-B-Songs Aitkens vor allem darin ab, dass die unbetonten Positionen der jeweiligen Zählzeit in einem Viervierteltakt vom Klavier stark akzentuiert werden44 und der aus dem R ’n’ B und Boogie-Woogie bekannte Walking-Bass sich durch eine punktierte Viertelnote nicht mehr nach den aus europäischer Sicht betonten Zählzeiten richtet. Diese rhythmischen Muster bewegen sich jeweils im Wechsel zueinander, wobei der Offbeat immer dynamisch hervorgehoben ist:

45

Abb. 1: „Little Sheila“ – Laurel Aitken: Offbeat und Basslinie

Diese beiden musikalischen Stilelemente des amerikanischen R ’n’ B bildeten die Vorlage für das rhythmische Grundgerüst des Ska. Ein stilistischer Wandel bestand nun in der Tatsache, dass der Piano-Offbeat-Rhythmus in den jamaikanischen Skaproduktionen zumeist von einer elektrischen Gitarre übernommen wurde. Grund hierfür war zum einen der Umstand, dass

42 Vgl. Clarke, Jah Music, S. 74. 43 Vgl. Marc Griffiths, Boss Sounds: Classic Skinhead Reggae, Dunoon 1995, S. 33; Tröder, Reggae, S. 16; Klaus Farin und Eberhard Seidel-Pielen, Skinheads, München 1993, S. 29. 44 Pamela O’Gorman beschreibt dies sinngemäß mit den Worten: „The piano lost its bass notes“, zit. n. Chang und Chen, Reggae Routes, S. 30. 45 Transkribiert aus Laurel Aitken, The Godfather of Ska Anthology, Cherry Red Records, PDROP CDD7, 2009.

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viele jamaikanische Studios kein Klavier besaßen,46 und zum anderen die Tatsache, dass bereits im jamaikanischen Mento das Banjo das Spielen dieses rhythmischen Grundmusters übernahm. Entsprechend kann man den Ska auch als eine Mischung aus R ’n’ B und Mento bezeichnen. Ungefähr im Jahr 1961 lassen sich folgende allgemeine musikalische Grundformen des Ska definieren: Eine 12-bar-blues-Harmonik mit in der Regel zwei achttaktigen, diatonischen, einstimmigen Melodielinien (ohne jedwede Verminderungen oder Blue Notes) entweder gesungen oder gespielt von einem Blasinstrument, rhythmisch begleitet von einer Art afrikanischem Offbeat, welcher durch Gitarrenzupfen – manchmal auch verstärkt durch die Bläsergruppe – die jeweils unbetonten Positionen der Zählzeiten akzentuiert. In einem Viervierteltakt wird der Offbeat mit Achtelnoten dargestellt:

Abb. 2: Skabeat

Das Schlagzeug akzentuiert dynamisch hervorstechend die zweite und vierte Zählzeit des Viervierteltaktes. Die Basslinie orientiert sich wie beschrieben an einem Walking-Bass aus dem Boogie-Woogie, das heißt, jede Zählzeit wird gespielt oder melodisch umspielt.47 Die Protagonisten der Herausbildung dieser musikalischen Kriterien waren vor allem die angestellten Musiker der Soundsystems. Diese Studiomusiker spielten Anfang der 1960er Jahre nahezu alle Aufnahmen genreübergreifend (Mento, Boogie-Woogie, Blues, Jazz, Calypso etc.) für den jamaikanischen Schallplattenmarkt ein.48 Der Begriff Ska wurde wahrscheinlich Anfang der 1960er Jahre durch die Gruppe The Skatalites be-

46 Und dementsprechend konnten nur wenige jamaikanische Musiker Klavier spielen, vgl. Clarke, Jah Music, S. 60. 47 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 19 f.; Harrison, „Volksmusik und gesellschaftliche Realität im heutigen Jamaika“, S. 166; Peter Manuel, Popular Musics of the Non-Western World, New York 1988, S. 74 f.; Barrow und Dalton, The Rough Guide to Reggae, S. 3 f. 48 Vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 58 f.

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gründet.49 Die Musiker dieser Gruppe wurden musikalisch alle an der Alpha Boys Catholic School ausgebildet und erlernten dort die Grundlagen der europäischen Harmonie- und Tonsatzlehre.50 Bereits seit den 1940er Jahren spielten sie in verschiedenen Ensembles der Alpha Boys Catholic School, Mento-Gruppen für Touristen, Jazz-Gruppen oder Militärkapellen zusammen.51 Der überwiegende Teil dieser Musiker war zudem Anhänger des Rastafarikultes. Insbesondere Don Drummond, der musikalische Genius und Posaunist von The Skatalites, übertrug den Rastafarieinfluss mit den Titeln einiger Instrumentalstücke (beispielsweise „Father East“, „Addis Ababa“ oder „Tribute to Marcus Garvey“) auf die Musik.52 Auch Laurel Aitken bediente in den folgenden Jahren weiter die musikalischen Parameter des Ska. Anhand einer Analyse seines Songs „Let my people go“53 lassen sich alle musikalischen wie ideologischen Einflüsse des Ska noch einmal aufzeigen: Die Aufnahme des Stückes dauert ungefähr drei Minuten. Der Song wird durch eine Liedform mit 16-taktiger Strophe strukturiert, welche dreimal wiederholt wird und von einem Zwischenspiel unterbrochen ist (a-a-b-a). Die Harmonien des Stückes bilden ein 12-barblues-Schema, welches aus dem R ’n’ B oder Boogie-Woogie bekannt ist. Es handelt sich um die Abfolge der Sextakkorde D-D-A-A-A-A-D-D-D-DG-D-A-D-D, also der ersten, fünften und vierten Stufe von D-Dur mit anschließender Kadenz. Die Melodie hat einen rein diatonischen Charakter;

49 Der Ursprung des Begriffes Ska ist nicht genau zu bestimmen. Praktisch jeder jamaikanische Musiker, der beim Entstehungsprozess der Musikform Ska dabei gewesen war, gab an, er hätte den Begriff Ska als Erster benutzt, vgl. Clarke: Jah Music, S. 69 f.; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 30 f.; Davis und Simon, Reggae International, S. 43. Wahrscheinlich ist, dass der Begriff in einer Studiosession der The Skatalites durch den Einfluss verschiedener Musiker entstanden ist, vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 65. 50 Vgl. Clarke, Jah Music, S. 64 f. 51 Vgl. David Katz, Around the World with the Skatalites, in: Caribbean Beat 98 (2009), http://caribbean-beat.com/issue-98/around-world-skatalites, Zugriff am 15.05.2013. 52 Vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 58 f.; ders., Subculture: the meaning of style, London 1979, S. 35; Davis und Simon, Reggae International, S. 40. 53 Er wurde Anfang der 1960er Jahre auf Jamaika oder in England aufgenommen. Die Aufnahmen von Aitken jener Jahre wurden nicht genau datiert und verortet.

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Aitken verwendet hier keine Blue Notes oder andere Verminderungen oder Verzierungen. Der Bass spielt in der Regel den gebrochenen Akkord der jeweiligen Tonart und weicht davon nur gelegentlich improvisierend ab. Diese Spielart wird, wie schon beschrieben, als Walking-Bass bezeichnet und leitet sich aus dem US-amerikanischen Boogie-Woogie ab:54

55

Abb. 3: „Let my people go“ – Laurel Aitken: Offbeat und Basslinie

Komplettiert wird das rhythmische und instrumentale Grundgerüst des Songs von Schlagzeugimpulsen auf der Zwei und Vier des Viervierteltaktes und einem von der Gitarre und dem Bläsersatz gespielten Impuls auf den unbetonten Positionen aller vier Zählzeiten des Taktes. Dieser für den Ska charakteristische Offbeat steht gegenüber dem melodiösen Basslauf dynamisch im Vordergrund. Betrachtet man also die musikalischen Parameter des Stückes, werden die Einflüsse der afroamerikanischen Musik aus den USA deutlich. Durch den aus dem Mento und Calypso entlehnten Offbeatrhythmus hebt sich der Ska jedoch vom klassischen Boogie-Woogie ab und verleiht ihm eine eigenständige Charakteristik. Der Text des Songs „Let my people go“ ist biblischen Ursprungs und leitet sich aus dem Alten Testament (zweites Buch Mose fünf, Vers eins) ab, in dem Moses den Pharao Ägyptens darum bittet, das in Ägypten gefangen gehaltene judäische Volk wieder in ihre Heimatregion ziehen zu lassen. Dieser Vers war auch Ursprung des Negrospirituals „Go Down Mo54 Man vergleiche hierzu Boogie-Woogie-Aufnahmen von Fats Domino oder Louis Jordan. Songs wie „My Blue Heaven“ oder „Choo Choo Ch’Boogie“ weisen das gleiche harmonische und rhythmische Grundmuster wie Aitkens Song „Let my people go“ auf. Auch der Chicago Blues eines John Lee Hooker (zum Beispiel im Song „Troubled Blues“) zeichnet sich durch seinen prägnanten walking bass aus. 55 Transkribiert aus Laurel Aitken, Godfather of Ska 1963-1966, Grover Records, Gro-CD 039, 2000.

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ses“, welches Ende des 19. Jahrhunderts im US-Bundesstaat Virginia entstand. Es interpretiert den biblischen Vers in Bezug auf die missliche Lage der Sklaven in den USA und beschreibt ihre Sehnsucht nach Freiheit. Der Pharao Ägyptens ist hier gleichzusetzen mit den „weißen“ Sklavenhaltern. Die Umdeutung biblischer Verse ist, wie oben erwähnt, ein Charakteristikum des Rastafarikultes. Aitken arrangiert nun dieses Spiritual zu einem Skasong um. Sein stark reduzierter Text lautet: Go, and tell King Pharaoh, Go, go, go, and tell King Pharaoh, Go, and tell King Pharaoh, Tell him to let my people go. 56

You’re a wacky man , Pharaoh, You’re a wacky man, Pharaoh, You’re a wacky man, Pharaoh, Let my people go!

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Aitken bezieht sich mit dem Text und dem Titel des Songs zunächst deutlich auf die US-amerikanische Vorlage, lässt diese aber im Kontext der aufkommenden Rastafari- und Panafrikanismusbewegungen auf Jamaika zu neuer Geltung kommen. Der Song bietet wie bereits das Original aus dem 19. Jahrhundert ein Identifikationsmuster für die verarmte „schwarze“ Bevölkerung, um sich gegenüber wohlhabenderen Schichten der Bevölkerung abzugrenzen und sich der Sehnsucht nach einem besseren Leben an einem freien Ort – im Falle des Rastafarikultes immer Äthiopien – hinzugeben. Da in den 1960er Jahren knapp 90 Prozent der jamaikanischen Bevölkerung der dunkelhäutigen Arbeiterschicht angehörten, entwickelte sich der Ska in den folgenden Jahren zu der erfolgreichsten und beliebtesten Musik Jamaikas:58 Bekannte harmonische und rhythmische R-’n’-B-Grundmuster verbanden sich mit jamaikanisch identifizierbaren Rhythmen und bildeten

56 Umgangssprachlich übersetzt heißt wacky man in etwa so viel wie Nervensäge oder exentrischer Typ. 57 Transkribiert aus Aitken, Godfather of Ska 1963-1966. 58 Vgl. Erna Brodber, „Black Consciousness and Popular Music in Jamaica in the 1960s and 1970s“, in: Caribbean Quarterly 31/2 (1985), S. 53-66, hier S. 54 f.

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somit eine perfekte Symbiose einer nationalen und soziokulturellen Identifikationsmusik. Nicht zuletzt deshalb wurde die Musikform Ska auch als politischer Ausdruck der jamaikanischen Arbeiterschicht angesehen.59 Die Musikform Ska beinhaltet überdies aufgrund der inhaltlichen Bezugnahme auf den afrokaribischen Rastafarikult ein lokales Identitätsmerkmal. Die musikalischen Stilelemente, welche vom R ’n’ B hin zum Ska übernommen wurden, stammen wiederum aus einer afroamerikanischen Kultur ähnlich der des Mento oder Calypso. Wie schon erwähnt, handelt es sich in allen Fällen um musikalische Mischformen aus – vereinfacht gesprochen – afrikanischer Rhythmik mit europäischer Harmonik. Grundsätzlich ist die Entwicklung einer weiteren hybriden Musikform also kein neuer Ansatz, sondern steht eher in einer afroamerikanischen Traditionslinie früherer Globalisierungsperioden. Die beschriebene Überlieferung durch Kommunikationsmedien (Radio) stellt hierbei lediglich ein Instrument des Zeitalters der Globalisierung dar, welches hier allerdings nicht zu einer Homogenisierung der Musikkulturen oder einer „planetarischen Vorherrschaft der amerikanischen Massenkultur auf Kosten tradierter Vielfalt“60 führte, sondern bezüglich der Musikform Ska eher zu einer kreativen Aneignung afroamerikanischer Stilelemente. Bevor sich die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik durch den Einfluss der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie zum Rocksteady entwickelte, versuchte die politische Führung, die mit Edward Seaga gleichzeitig auch die Führung der jamaikanischen Plattenindustrie verkörperte, den Ska als nationales Symbol weltweit zu vermarkten. 1963 landete der Produzent Chris Blackwell61 mit dem Skasong „My Boy Lollipop“ (gesungen von Millie Small) einen Charterfolg in den USA und Großbritannien62 und verschaffte somit der Musikform Ska internationale Beachtung. 1964 scheiterte Edward Seaga jedoch mit dem Versuch, den Ska durch den jamaikanischen Bassisten und Bandleader chinesischer Abstammung Byron

59 Vgl. Garth White, „Rudie, Oh Rudie!“, in: Caribbean Quarterly 13/3 (1967), S. 39-44, hier S. 42; Jones, Black culture, white youth, S. 21. 60 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 11. 61 Blackwell ging später als Bob-Marley-Entdecker in die Geschichte ein. 62 Übereinstimmend berichtet von Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 67; Clarke, Jah Music, S. 143; Tröder, Reggae, S. 18; Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 121; Farin und Seidel-Pielen, Skinheads, S. 31.

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Lee auf der New York World’s Fair einem weltweiten Publikum näherzubringen.63 Die politische Vereinnahmung stellte dennoch eine Aufwertung der Musikform Ska dar, weil diese als hybride Form verschiedener afroamerikanischer Einflüsse im Zuge der Unabhängigkeit Jamaikas zur nationalen Volksmusik erhoben wurde. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Begriff „national“ nicht kongruent verwendet wird. Die Identifizierung der jamaikanischen Arbeiterklasse mit dem Ska und die politische Idee, diese auf einer globalen Ebene als lokales musikalisches Phänomen zu präsentieren, stellen die Möglichkeiten einer kulturellen Globalisierung dar: Auf den ideoscapes und ethnoscapes entstehen hier globale und lokale Überschneidungen, da der Ska sowohl der dunkelhäutigen karibischen Bevölkerung als auch der jamaikanischen Arbeiterklasse Identifikationsmuster bot. Die informell-kulturelle Reflexivität und die Genese der Globalen Kulturindustrie werden an diesem Punkt sichtbar, da sich der Ska nicht linear entwickelt hat und die relevanten kulturellen Einflüsse immer wechselseitig zu betrachten sind. Die Globale Kulturindustrie beschreibt die Genese eines Zustandes, in dem die Produkte der Kulturindustrie verschiedenartig interpretiert werden und sich vom eigentlichen Wert lösen: „In global culture industry […] products no longer circulate as identical objects, already fixed, static and discrete, determined by the intension of their producers. Instead, cultural entities spin out of the control of their makers: in their circulation they move and change through transposition and translation, transformation and transmogrification. In this culture of circulation, cultural entities take on a dynamic of their own; in this movement value is added. In global culture industry, products move as much through accident as through design, as much by virtue of their unintended consequences as through planned design or intention. In changing, cultural entities themselves become reflexive in their self-modification over a range of territories, a range of environments. The products, the objects of Horkheimer and Adornos culture industry, were determinate, that is, determined. The objects of global culture industry are indeterminate.“

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Die technisch-innovative Perspektive der Globalisierung erfährt durch den Aufbau der lokalen jamaikanischen Musikindustrie eine Darstellung. Die

63 Vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 67; ders., „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 120 f. 64 Lash und Lury, Global Culture Industry, S. 4 f, Hervorhebungen im Original.

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globalen Gemeinsamkeiten der Musikindustrie in verschiedenen Ländern der Erde sind von Roger Wallis und Krister Malm in einer beeindruckenden Studie hinlänglich beschrieben worden:65 Wallis und Malm stellen in einer vergleichenden Arbeit die Parallelen der lokalen Musikindustrie von Tansania, Tunesien, Schweden und Trinidad heraus und stellen fest, dass sich in der Entwicklung der lokalen Infrastruktur und globalen Vernetzung die meisten Gemeinsamkeiten finden lassen;66 die technischen Innovationen der Musikindustrie haben sich hier homogen und global ausgebreitet. Im Hinblick auf die Entwicklung globaler Medien- und Kulturindustrien ließe sich mit Malcom Waters argumentieren, dass in deren Symbol- und Sinnzusammenhang tatsächlich Globalisierungstendenzen nachweisbar und auch erlebbar sind.67 Elektrisch verstärkte Instrumente und Aufnahmetechniken waren seit Mitte der 1970er Jahre weltweit verfügbar, selbst in Ländern wie Tansania, Sri Lanka oder Neu Guinea,68 und jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik wurde mit denselben Instrumenten und derselben Studiotechnik produziert wie Discomusik aus Schweden.69 Trotz dieser globalen Standardisierung ergeben sich aber gleichwohl signifikante Unterschiede im Klangbild und in den unterschiedlichen Interpretationen der Musikstile. Dies drückt sich einerseits in der sehr stark national und ethnisch abweichenden Beliebtheit verschiedener Musikstile aus,70 andererseits ist dieses Phänomen dem unterschiedlichen Hörverhalten der Kulturen geschuldet. Max Peter Baumann schreibt hierzu: „Jede Gesellschaft, jede musikalische Klein- oder Subgruppe grenzt besondere ‚Klangereignisse‘ ethnozentrisch von Geräuschen und gewöhnlichem Sprechen, von ‚fremdartigen Klangkonzeptionen‘ ab, beurteilt Kompositionen, Aufführungen, Ri-

65 Wallis und Malm, Big Sounds from Small Peoples. 66 Vgl. ebd., S. 13-17. 67 Vgl. Waters, Globalization, S. 124 f. 68 Vgl. Malm, „Local, National and International musics“, S. 213 f. 69 Bruno Nettls Begriff der modernization ist hierfür wiederum anwendbar. 70 Wie Nettl schon 1983 konstatiert, liegen die Verkaufszahlen unterschiedlicher Produkte der Kulturindustrie in Ländern wie USA, Italien oder Deutschland weit auseinander, während die Repertoires der jeweiligen Sinfonieorchester homogenere Spielpläne besitzen, vgl. Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 312.

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ten, Tänze, Musikinstrumente, musikalische Lehr- und Lernsysteme nach eigenen und ‚wir‘-bezogenen Kriterien, sei dies ausgrenzend, in der besonderen Betonung des musikalisch Eigenen, sei dies synkretistisch im selektiven Verschmelzen mit fremden Musikstilen oder sei dies transformierend in der bewussten Kreation innovativer und interkultureller Klangexperimente.“

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Die lokale jamaikanische Musikindustrie hat zwar regen Austausch mit der US-amerikanischen – vor allem afroamerikanischen – Kultur und Kulturindustrie betrieben, die Soundsystembetreiber stellten aber nach dem Vorbild der Produktion afroamerikanischer R-’n’-B-Platten ihre eigenen jamaikanischen Produkte her. Die globalisierten Produktionsmittel wurden hier also keineswegs bloß für Kopien des amerikanischen Vorbilds gebraucht, sondern entwickelten mit dem Ska eine eigene musikalische Form, die die historisch hybride Identität Jamaikas zu repräsentieren scheint. Die beschriebene Reflexivität im Zeitalter der Globalisierung wird an diesem Aspekt besonders sichtbar: Die Untersuchung interkultureller Phänomene kann hier nur noch differenziert geführt werden, denn es ist nicht mehr klar zu trennen, wo westlicher Einfluss erzwungen oder freiwillig adaptiert wurde.72 Das Konzept von Arjun Appadurai veranschaulicht diesen variablen Umgang mit kulturellen Erzeugnissen im Zeitalter der Globalisierung: Jede scape bietet hier eine eigene Möglichkeit der Interpretation. Durch dieses Wechselspiel ergibt sich ein sich ständig in Bewegung befindendes Gesamtbild der Möglichkeiten der kulturellen Globalisierung. 1.4 Rocksteady und Reggae Um 1966 veränderte sich der jamaikanische Musikstil des Ska hin zum sogenannten Rocksteady. Die entscheidende musikalische Neuerung des Rocksteady war in erster Linie die neue Bewertung des Basses. Dieser be-

71 Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, S. 39. 72 Musikalische Veränderungen beziehen sich natürlich nicht allein auf nicht westliche oder „traditionelle“ Musikstile. Martin Greve verweist in diesem Zusammenhang auf die 150 Jahre alte Geschichte und Veränderung der chinesischen Oper in San Francisco, Martin Greve, „Writing against Europe. Vom notwendigen Verschwinden der ,Musikethnologie‘“, in: Die Musikforschung 55 (2002), S. 239-251, hier S. 242.

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freite sich von jedweden rhythmischen Aufgaben und spielte nun vordergründig eine eigenständige Melodielinie. Charakteristisch für diese war, dass die erste Zählzeit des Taktes zumeist keine Relevanz besaß und somit, im Gegensatz zum Walking-Bass des Ska, die betonte erste Zählzeit nicht gespielt wurde. Ein weiterer musikalischer Unterschied bestand darin, dass das Tempo der jeweiligen Lieder bis um die Hälfte verlangsamt wurde73 und zumeist keine Blasinstrumente mehr zum Einsatz kamen.74 Die Veränderungen dieser musikalischen Parameter wurden aus unterschiedlichen Gründen vorangetrieben: Für die reduzierte Besetzung ohne Bläsersektion waren unter anderem ökonomische Zwänge verantwortlich. Durch die wieder schlechter werdende wirtschaftliche Lage auf Jamaika Mitte der 1960er Jahre konnten sich einige Studios keine Bläsergruppen mehr leisten.75 Entscheidend war wohl jedoch, dass die neue Instrumentation gepaart mit dem langsamen Tempo sich wieder mehr an US-amerikanischen Musikstilen wie zum Beispiel dem Soul orientierte. Dieses wurde im Zusammenhang des Rocksteady besonders bedeutsam, weil es den Habitus der auf Jamaika um 1965 aufkommenden Jugendsubkultur der Rude Boys besser widerspiegelte. Diese Subkultur steht in enger Verbindung zum Rocksteady. Die Rude Boys waren das Ergebnis des Massenzuzugs der ländlichen Bevölkerung in die urbanen Zentren Jamaikas Anfang der 1960er Jahre. Viele Menschen waren durch die Industrialisierung des Landes gezwungen, Arbeit in den Städten zu suchen. Da diese infrastrukturell nicht auf den Andrang vorbereitet waren, stiegen die Arbeitslosenzahlen und die Kriminalitätsrate in den Slums (den sogenannten shanty towns) der großen jamaikanischen Städte. Aus diesem Milieu heraus entwickelte sich die Subkultur der Rude Boys: Sie galt als gemeingefährliche, alle Regeln brechende rebellische Ju-

73 Vgl. King, Reggae, Rastafari, and the rhetoric of social control, S. 41. King vergleicht die Tempi mehrerer Skasongs mit Rocksteadysongs und stellt fest, dass sich Skasongs eher im Bereich von 110-113 Schlägen pro Minute bewegen, während Rocksteadysongs durchschnittlich 85 Schläge pro Minute besitzen; siehe auch Jason Toynbee und Byron Dueck, „Migrating Music“, in: dies. (Hrsg.), Migrating Music, S. 1-17, hier S. 10. 74 Vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 71; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 39; Jones, Black culture, white youth, S. 22 f. 75 Vgl. Chang und Chen, Reggae Routes, S.39; Clarke, Jah Music, S. 80.

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gendsubkultur.76 Der Habitus der Rude Boys orientierte sich an kulturindustriellen Erzeugnissen wie den sogenannten Italowestern oder amerikanischen Gangsterfilmen;77 solche kulturellen Produkte der Massenmedien haben Jugendbewegungen in den 1960er Jahren stark geprägt.78 Die Kulturindustrie legt hier gewissermaßen das Bedeutungsrepertoire des Zeitalters der Globalisierung fest, allerdings verändert sich in dieser Globalisierungsperiode die Wahrnehmung ihrer Produkte. Schon 1977 urteilte Umberto Eco in seinem Aufsatz Schadet das Publikum dem Fernsehen?, dass die Effekte der Massenmedien immer abhängig von der Interpretation der Botschaft und der Interaktion zwischen Sender und Empfänger sind.79 Die Jugendsubkultur der Rude Boys bediente sich hier exemplarisch an den über das Medium Fernsehen übertragenen Gewaltdarstellungen. Viele jamaikanische Musiker wie Alton Ellis, Derrick Morgan, Prince Buster oder Desmond Dekker bedienten sich nun der neuen Identitätsmerkmale der Rude Boys und schrieben verherrlichende Songtexte über ihre kriminellen Machenschaften und ihren „coolen Schick“80; Geschichten über die raue Realität in den Armenvierteln der jamaikanischen Hauptstadt Kingston waren charakteristisch für den Rocksteady. Exemplarisch für diesen Musikstil sind die Songs „Al Capone“ von Prince Buster aus dem Jahre 1965 und „007 (Shanty Town)“ von Desmond Dekker von 1966, die nun musikalisch und textlich näher beleuchtet werden sollen: Der Song „Al Capone“ befindet sich musikalisch gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Ska und Rocksteady. Das Tempo des Songs ist noch nicht verlangsamt, sondern ähnlich dem des Ska. Der Song beginnt mit der

76 Vgl. King, Reggae, Rastafari, and the rhetoric of social control, S. 30 ff.; White, „Rudie, Oh Rudie!“, S. 40; Christian Menhorn, Skinheads: Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001, S. 16. 77 Vgl. White, „Rudie, Oh Rudie!“, S. 40. 78 Arjun Appadurai beispielsweise beschreibt, wie der Einfluss von Martial-artsFilmen neue Formen der Jugendgewalt hervorgebracht hat, vgl. Appadurai, Modernity at Large, S. 40 f.; siehe auch John Clarke, Stuart Hall, Tony Jefferson und Brian Roberts, „Subcultures, cultures and class“, in: Hall, Jefferson (Hrsg.) Resistance through Rituals, S. 3-59, hier S. 3. 79 Eco, „Schadet das Publikum dem Fernsehen?“. 80 Im Englischen wird für die Beschreibung des Auftretens und des Kleidungsstils der Rude Boys der Begriff smart verwendet.

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Tonbandaufnahme einer Autoverfolgungsjagd (quietschende Reifen, Gangschaltungsgeräusche) und einer anschließenden Maschinengewehr-Schusssalve nebst Explosion.81 Über dieses Intro spricht Prince Buster die Worte: „Al Capones guns don’t argue!“82 Die musikalischen Parameter des Stückes sind ein im Vergleich zum Ska unverändertes Schlagzeugspiel und ein von der Gitarre und dem Klavier gespielter Offbeat. Die Basslinie rückt in den Vordergrund, übernimmt mehr melodiöse Aufgaben und ist nicht mehr an rhythmische Betonungen gebunden. Im speziellen Fall von „Al Capone“ spielt eine Bläsersektion die erste Melodiestimme und integriert hierin abwechselnde Soli in einer Art Call-and-response-Form.83 Prince Buster kommentiert das Stück immer wieder mit gesprochenen Einschüben wie „don’t call me Scarface, my name is Capone“84 oder einfach nur „Al Capone“85 und unterstützt durch Mundgeräusche wie Zischen oder Stöhnen den Offbeatrhythmus. Im ungefähr drei Minuten langen Stück erfolgen keine Harmoniewechsel; es bleibt immer in F-Dur, einzig die Harmonie des Offbeat wechselt zwischen F-Dur und D-Dur.86 „Al Capone“ ist ein reines Tanzmusikstück. Durch den gleichbleibenden instrumentalen Charakter stehen die Virtuosität der Bläsersoli und der Rhythmus im Vordergrund. Prince Busters Zwischenrufe entstammen aus der Performance der Soundsystembetreiber,87 welche bei einer Abendveranstaltung die jeweiligen aufgelegten Platten kommentierten oder einfach über dem Stück einen Sprechgesang improvisierten.

81 Diese wurden vermutlich aus einem amerikanischen Gangsterfilm entnommen. 82 Transkribiert aus Prince Buster, Fabulous Greatest Hits, Melodisc Records, DRMSCD1, 1999. 83 Wie im Kapitel „Traditionen der world music“ noch näher beschrieben wird, ist die Call-and-response-Form afrikanischen Ursprungs und drückt auf verschiedenen semantischen Ebenen einen Dialog zwischen den Musikern und den Rezipienten aus. 84 Transkribiert aus Prince Buster, Fabulous Greatest Hits. 85 Transkribiert aus ebd. 86 Vergleichbar einfache Harmoniestrukturen finden sich zu jener Zeit auch im US-amerikanischen Soul eines James Brown. 87 Prince Buster war zunächst als Sicherheitsmann für das Soundsystem Clement Dodds angestellt und machte sich später mit seinem eigenen Soundsystem selbstständig.

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Im Falle des Songs „007 (Shanty Town)“ von Desmond Dekker handelt es sich um die mehr textlich orientierte Variante des Rocksteady. Das Tempo ist im Vergleich zu den Songs „Al Capone“ und „Let my people go“ ungefähr um die Hälfte reduziert. Das Schlagzeugspiel bleibt weiterhin unverändert und der Offbeat wird allein von der Gitarre klanglich hervorgehoben. Charakteristisch ist bei „007 (Shanty Town)“ die Basslinie, welche die Melodie spielt und sich vollkommen von rhythmischen Aufgaben befreit:

Abb. 4: „007 (Shanty Town)“ – Desmond Dekker: Basslinie

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Das Stück enthält zudem keine Bläsersektion. Harmonisch bewegt es sich auf der ersten, vierten und fünften Stufe von As-Dur. Der Text beschreibt und verherrlicht das Leben der Rude Boys: Dekker singt von einem Rude Boy, welcher gerade aus dem Gefängnis entlassen sofort in sein kriminelles Verhalten zurückfällt. Hierbei gleitet Dekkers Gesang immer wieder in stark emotional wirkende, sehr melismatisch vorgetragene Gesangslinien ab, wie sie für den US-amerikanischen Soul charakteristisch sind: 0-0-7 0-0-7 At ocean eleven And now rudeboys have a go wail ‘Cause them out of jail Rudeboys cannot fail ‘Cause them must get bail Dem a loot, dem a shoot, dem a wail A Shanty Town

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Die Entlehnungen aus der US-amerikanischen Kulturindustrie setzten sich also bei der Weiterentwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und 88 Transkribiert aus Desmond Dekker, Israelites. The best of Desmond Dekker, Trojan Records, TJACD036, 2002. 89 Transkribiert aus ebd.

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Tanzmusik fort. Die Titel und Thematiken der vorgestellten Rocksteadysongs zeugen von diesem Einfluss, dienen aber einer Beschreibung der lokalen Situation.90 Prince Buster spielt in dem Song „Al Capone“ auf die hohe Kriminalität in den Slums von Kingston an, und der Song „007 (Shanty Town)“ von Desmond Dekker umschreibt ebenfalls das kriminelle Milieu Jamaikas. Durch die klangliche Anlehnung an den US-amerikanischen Soul wird die Thematik musikalisch global verwertbarer gemacht und reiht sich zudem in den Duktus einer von den USA ausgehenden subkulturellen Glorifizierung ein. Die Einbeziehung soziopolitischer Entwicklungen in die Texte der Rocksteadysongs ist hier parallel zu der in den USA aufkommenden Protest- und Popkultur zu betrachten.91 Die Entstehung des Rocksteady steht somit in enger Verbindung mit der amerikanischen Kulturindustrie. Sie stellt eine Form der transculturation dar, weil sich der Rocksteady mit der globalen Reichweite der Musikindustrie entwickelt hat. Die nationale Verortung des Rocksteady – in jamaikanische Kontexte – erscheint im Vergleich zum Ska schwieriger, der Rocksteady bietet aber somit erweiterte globale Identifikationsmöglichkeiten. Schon Ende 1968 entwickelte sich aus den Grundparametern des Rocksteady der Reggae.92 Musikalisch betrachtet bietet der Reggae wenige Veränderungen im Vergleich zum Rocksteady: Grundsätzlich wird beim Reggae mehr Wert auf komplexere Rhythmen gelegt, die meist aus der Erweiterung der Perkussionsinstrumente gewonnen werden. Beispielsweise lässt das Einbeziehen von Nyabinghitrommeln im Reggae eine nähere Anlehnung an Rastafaritrommelensembles erkennen.93 Textlich bedient sich der Reggae schwerpunktartig aus dem Duktus des Rastafarikultes und der Panafrikanismusbewegung; ergänzt wird er mit dem bereits aus dem Rocksteady bekannten rebellischen Habitus der Rude Boys. Dadurch gaben die Interpreten des Reggae der Rastafaribewegung ein aggressiveres und politi-

90 Schon The Skatalites benennen ihren Skasong „Guns of Navarone“ nach einem amerikanischen Kriegsfilm aus dem Jahre 1961. 91 Vgl. Manuel, Popular Musics of the Non-Western World, S. 75. 92 „Reggae“ wurde erstmals wohl 1968 in dem Song „Do the Reggay“ von Toots and the Maytals erwähnt, vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 45. 93 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 24; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 43.

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scheres Image.94 Der Song „Slave Driver“ von Bob Marley aus dem Jahre 1973 ist hierfür beispielhaft: Die musikalischen Parameter des Stückes sind gegenüber einem Rocksteady- oder Skasong stilistisch verbreitert worden. Das rhythmische Grundmuster wurde zum Beispiel dahingehend verändert, dass der Offbeat noch einmal von einer Achtelnote in zwei Sechzehntelnoten unterteilt wird. Das Schlagzeugspiel betont weiterhin die Zwei und die Vier des Viervierteltaktes, wird aber durch verschiedene Perkussionsinstrumente in der Klangfarbe ausstaffiert. Diese spielen auch eine Art afrikanisches timeline pattern95 parallel zum bestehenden Viervierteltakt und stellen so einen polyrhythmischen Charakter des Stückes her. Der Basslauf wiederum spielt eine eigenständige, von rhythmischen Zwängen befreite Melodielinie:

Abb. 5: „Slave Driver“ – Bob Marley: Basslinie

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Harmonisch wechselt das Stück lediglich zwischen h-Moll und a-Moll. Diese Akkorde werden von der Offbeatgitarre und dem Klavier im Wechsel gespielt. Bemerkenswert ist, dass in der Aufnahmeversion des Songs die Instrumentierung im Vergleich zu Ska- oder Rocksteadysongs stark erweitert wurde. Das Stück wurde mit mindestens zwei Gitarren, einem Klavier, Bassgitarre, Schlagzeug und unzähligen verschiedenen Perkussionsinstrumenten aufgenommen; Bob Marleys Gesang wird zudem durch Backgroundsängerinnen unterstützt. Der Text des Songs verweist kritisch auf die Herkunft der „schwarzen“ Bevölkerung Jamaikas, indem es die Verschiffung der Sklaven aus Afrika

94 Reggaemusiker sangen speziell über Rastafari- und Panafrikanismuskonzepte und befürworteten in der Regel auch den Konsum von Marihuana, welches im Rastafarikult als spirituelles Rauschmittel eingesetzt wurde, vgl. King, Reggae, Rastafari, and the rhetoric of social control, S. 46 f. 95 Der Begriff timeline pattern wird in Kapitel IV noch näher erläutert. 96 Transkribiert aus Bob Marley & The Wailers, Catch a fire, Island Records, ILPS 9241, 1973.

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beschreibt. Bob Marley besingt dies demonstrativ in der Ich-Form97 und stellt damit einen solidarischen Bezug zu den Sklaven her. Zudem prangert er die Zustände der heutigen dunkelhäutigen Bevölkerung auf Jamaika an: Ev’rytime I hear the crack of a whip, My blood runs cold. I remember on the slave ship, How they brutalize the very souls. Today they say that we are free, Only to be chained in poverty. Good God, I think its illiteracy; It’s only a machine that makes money. 98

Slave driver, the table is turn, y‘all.

Der Reggae wurde von Dick Hebdige als die Symbiose aller jamaikanischen musikalischen Einflüsse und damit Vollendung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik bezeichnet.99 Im Reggae finden sich sowohl Elemente des US-amerikanischen R ’n’ B als auch aller vorangegangener Musikstile Jamaikas wieder. Diese wurden nun wiederum durch eine erweiterte, individuellere Wahrnehmung der afrikanischen kulturellen Wurzeln des Landes ergänzt. Der Reggae des Rastafari Bob Marley wurde ab 1972 global vermarktet und sollte sowohl musikalisch als auch vor allem ideologisch für ein weltweites Publikum verwertbar gemacht werden. Die von Bob Marleys Produzenten Chris Blackwell ausgearbeitete Idee bestand darin, die amerikanischen Studenten und die europäische Jugend als Käuferschicht zu gewinnen; eine globale Werbekampagne für das Album Catch a Fire von Bob Marley & The Wailers sollte hierbei helfen.100 Entscheidend dabei war, dass Blackwell die Band weltweit als „Musikgruppe“ verkaufte und nicht wie auf Jamaika zuvor üblich als eine lose Zusammenstellung von Musikern inklusive eines Sängers.101 Marley und Blackwell passten sich hier den

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Im Rastafariglauben ist die erste Person Plural eine geläufige Redeform.

98

Transkribiert aus Bob Marley & The Wailers, Catch a fire.

99

Vgl. Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 118.

100 Vgl. King, Reggae, Rastafari, and the rhetoric of social control, S. 95 f. 101 Vgl. ebd., S. 98.

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gängigen und erprobten Marktmechanismen der Musikindustrie an, um eine globale Aufmerksamkeit zu erlangen. Bruno Nettls im vorherigen Kapitel erläuterte Begriff der modernization, also das Verwenden bestimmter Skalen, Notationen oder Aufnahmetechniken in der eigenen Musikkultur, wird hieran deutlich. Auch die von Wallis und Malm eingeführte Form des cultural imperialism ist im Zusammenhang einer kulturellen Globalisierung an diesem Beispiel, ähnlich wie bei der Entstehung der Musikformen Ska und Rocksteady, nachzuvollziehen. Der Reggae bediente sich also ab den 1970er Jahren globaler Marktstrategien und zielte konkret auf ein internationales Publikum. Zu beobachten ist hier, dass die Einflussnahme westlicher Produktionswege und -mittel in der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik stetig zunahm, ihre musikalischen Stilelemente sich aber wieder mehr an afrokaribischen Formen orientierten: Der noch im Ska eingesetzte Walking-Bass wich mehr und mehr einer im Bass vorgetragenen Zweitmelodie und hatte keine rhythmische Funktion mehr, der aus dem Mento entlehnte Offbeatrhythmus wirkte zunehmend charakteristisch auf die Klangfarbe des Songs und der Perkussionsapparat wurde durch afrokaribische Trommeln erweitert. Hieran wird ein Attribut sichtbar, welches wiederum die Globale Kulturindustrie im Zeitalter der Globalisierung besonders kennzeichnet und von der ursprünglichen Definition der Kulturindustrie unterscheidet: Die Produkte einer Globalen Kulturindustrie sind nicht länger eigenständige Objekte mit einem genauen Ziel oder Wert, sondern werden von den Konsumenten verschiedener Kulturen umgewandelt. Sie entwickeln dadurch eine Eigendynamik, die nicht mehr vom eigentlichen Hersteller gesteuert wird. In diesem Kontext werden die Stilmomente der Kulturindustrie mit lokalen Stilmomenten erweitert und neu kontextualisiert. Der immer pointiertere Einfluss der afrikanischen Elemente in der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik stellt hierbei den entscheidenden Beitrag dar, diese, wie erwähnt, im globalen Kontext einer wechselseitigen informell-kulturellen Reflexivität zu betrachten. Der Reggae wird aufgrund seiner globalen Vermarktung und der musikalischen Verweise auf afrokaribische Kontexte bis zum heutigen Tag weltweit als originäre jamaikanische Unterhaltungsmusik definiert. Gleichzeitig hat er sich in der weiteren globalen Entwicklung transformiert und erscheint nun in verschiedenen politischen und ethnischen Kontexten – somit löste er sich auch von seiner ursprünglichen Rasta-Pan-Afrikanismus-Ideologie. Max Peter Baumann berichtet unter ande-

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rem über eine Reggaewelle in Australien und Neuseeland ab 1979,102 Isaac Ferguson von der Vereinnahmung des Reggaesongs „Zimbabwe“ von Bob Marley durch die Freiheitskämpfer während des Befreiungskrieges in Simbabwe,103 und die Autoren Kevin O’Brien Chang und Wayne Chen bezeichnen den Reggae gar als einziges merkantiles globales Musikphänomen aus der „Dritten Welt“.104 Hier entsteht nun eine zweite Form der transculturation: Durch die Einbindung des Reggae in andere ideologische und ethnische Kontexte wird die Identifikation mit transnationalen Lebensformen oder Subkulturen möglich. An der Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik vom Ska bis zum Reggae werden die globalen Prozesse der Enttraditionalisierung und Glokalisierung deutlich: Verschiedene Traditionen treten hierbei über eine global operierende Kulturindustrie und elektronische Kommunikationsmedien miteinander in Kontakt; fremde Traditionen haben somit umgekehrt Einfluss auf die lokalen Traditionen. Zu den Wechselwirkungen im Zeitalter der Globalisierung merkt Roland Robertson an: „In dieser Hinsicht beinhaltet die auf allgemeinste Weise als Verdichtung der Welt als ganze definierte Globalisierung die Verknüpfung von Lokalitäten. Aber sie beinhaltet auch die ‚Erfindung‘ von Lokalität […] Es gibt zur Zeit tatsächlich so etwas wie eine ‚Ideologie der Heimat‘, die teilweise als Reaktion auf die ständige Wiederholung und globale Verbreitung der Behauptung entstanden ist, wir lebten in einer Zeit der Entwurzelung und Heimatlosigkeit; als hätte die große Mehrheit der Menschen in früheren Zeiten an ‚sicheren‘ und homogenisierten Schauplätzen ge105

lebt.“

102 Vgl. Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, S. 92. 103 Vgl. Isaac Ferguson, „,So much things to say‘: The journey of Bob Marley“, in: Chris Potash (Hrsg.), Reggae, Rasta, Revolution: Jamaican music from Ska to Dub, New York 1997, S. 51-60. 104 Vgl. Chang und Chen, Reggae Routes, S. 2. 105 Robertson, „Glokalisierung“, S. 208; für weiterführende Gedanken hierzu siehe auch ders., Globalization, S. 161; Stuart Hall, „Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität“ [1991], in: Rassismus und kulturelle Identität, S. 44-64, hier S. 58-61.

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Im Zusammenhang mit dem Prozess der Enttraditionalisierung ist nun zunächst zu hinterfragen, inwiefern man von einer „Erfindung der Tradition“ sprechen kann. Eingeführt wurde das ideologiekritische Konzept der „erfundenen Tradition“ 1983 von Eric Hobsbawm: „,Invented Tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behavior by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to es106

tablish continuity with a suitable historic past.“

Anthony Giddens, welcher den Prozess der Enttraditionalisierung maßgeblich beschreibt, setzt diesen Ansatz in einen Zusammenhang mit den globalen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung. Giddens greift den Gedanken der erfundenen Tradition auf und erweitert ihn um die These, dass jede Tradition nicht nur eine erfundene Tradition ist, sondern diese zu allen Zeiten veränderbar und variabel einsetzbar war.107 Der Prozess der Enttraditionalisierung entwickelt sich, wie Anthony Giddens beschreibt, zunächst aus der Geschichte der Globalisierung als „Aufstieg des Westens“: „Die erste Phase der Globalisierung war bestimmt vor allem von der Expansion des Westens und von Institutionen, die im Westen ihren Ursprung hatten. Keine andere Zivilisation hat jemals zuvor in solchem Umfang die gesamte Welt beeinflusst und sie so nach ihrem Bilde geformt. Doch die Zerstörung traditionaler Lebensweisen durch abstrakte Systeme […] verläuft notwendig dezentral, weil sie die für jede Tradition charakteristische organische Verbindung mit bestimmten Orten durchschneidet.“

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106 Eric Hobsbawm, „Introduction: Inventing Traditions“, in: ders. und Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1-14, hier S. 1. 107 Giddens, Entfesselte Welt, S. 55. 108 Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash, Reflexive Modernisierung – Eine Kontroverse, Frankfurt a. M. 1996, S. 176.

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Das Resultat dieses Vorganges ist die „posttraditionale Gesellschaft als erste globale Gesellschaft. Bis vor noch gar nicht langer Zeit führte ein großer Teil der Welt noch quasi ein Eigenleben, das in großen Bereichen das Überleben der Tradition ermöglichte. […] In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Situation radikal gewandelt – insbesondere unter dem Einfluss einer elektronischen Kommunikation, die alle Punkte auf der Welt zeitgleich miteinander verbindet. In einer Welt, in der niemand mehr ‚außerhalb‘ steht, können Traditionen weder den Kontakt mit anderen Traditionen noch mit einer Vielzahl alternativer Lebensformen verhindern.“

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Im Zeitalter der Globalisierung kommt es nun zu einer grundlegenden Veränderung: Traditionen werden hier nicht mehr erfunden oder verändert, sondern den öffentlichen Institutionen und auch dem Alltagsleben entzogen.110 Der entscheidende Effekt dieses Prozesses auf das Individuum besteht nun darin, neue selbstbestimmte Identitäten zu konstruieren: „Indem der Einfluss von Tradition und Brauchtum weltweit zurückgeht, verändert sich die Grundlage unserer Selbst-Identität, unseres Verständnisses von uns selbst. In traditioneller Umgebung wird das Selbstgefühl vor allem durch die stabile Position des Individuums in der Gemeinschaft aufrechterhalten. Wo die Tradition fehlt und freie Wahl des Lebensstils vorherrscht, ist das Selbst nicht einfach bloß befreit. Vielmehr muss es hier seine Selbst-Identität auf einer aktiveren Grundlage schaffen und neu schaffen.“

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Die vorgestellten verschiedenen Kontexte, in denen die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik verstanden und eingesetzt wurde, sind ein Beispiel für die Entstehung neuer globaler Identitäten im Zeitalter der Globalisierung. Der Prozess der Enttraditionalisierung wird hieran deutlich: Lokale Musikstile werden fortlaufend durch globale Technologien, Reichweiten und Synonyme beeinflusst. Lokale Identitäten werden dabei gewissermaßen aufgelöst und neue globale Identitäten entstehen.

109 Ebd., S. 177. 110 Vgl. Giddens, Entfesselte Welt, S. 58. 111 Ebd., S. 63.

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Dieser Effekt steht einem kulturellen Homogenisierungsgedanken entgegen. In ihren Studien zur Weltgesellschaft und den transnationalen Verbindungen kommen sowohl Mike Featherstone als auch Ulf Hannerz zu dem Ergebnis, dass die beschriebenen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung nicht zu einer globalen Einheitskultur führen.112 Samuel Huntington sieht in der Reduzierung der westlichen Kultur auf ihre kapitalistischen Konsumgüter gar eine Trivialisierung und geht nicht davon aus, dass diese Konsumgüter nicht westliche Kulturen nachhaltig verändern.113 Huntington verweist ferner auf die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der durch die globalen Medien verbreiteten Bilder und Informationen.114 Entscheidend für die Verfechter der kulturellen Heterogenisierung sind die unterschiedlichen Wahrnehmungen der kulturellen Produkte und deren Vermischung. Die nicht zu leugnende globale Verbreitung überwiegend westlicher Kulturgüter führt durch die verschiedenen Prozesse der Globalisierung zu Ambivalenzen und Paradoxien in der globalen Homogenisierung. Ulrich Beck spricht hier von der „Dialektik der kulturellen Globalisierung“115 und verweist mit seinem Beispiel der „Weißwurst Hawaii“ auf den Prozess der Glokalisierung, der Betonung des Lokalen im globalen Kontext.116 Glokalisierung wird nun am Beispiel des Ska und des Reggae

112 Vgl. Featherstone, „Global Culture“, S. 1; Hannerz, Transnational Connections, S. 111. 113 Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 80. 114 Vgl. ebd., S. 81. 115 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 85. 116 Vgl. ebd., S. 85 f. Die Reflexivität, die hier entsteht, wird in einem ähnlichen Beispiel von Andreas Ackermann besonders deutlich dargestellt: Umfragen zufolge seien verschiedene Currygerichte zu den beliebtesten Speisen in Großbritannien avanciert. Das beliebteste Gericht, dieser ursprünglich in Indien verbreiteten und durch Migranten nach Großbritannien transferierten Zubereitungsart („Curry“ ist in Indien im Grunde genommen nur ein allgemeiner Begriff für Sauce), sei dabei das Chicken Tikka Masala, welches in Indien bislang unbekannt war und als kreative Veränderung unter Berücksichtigung britischer Geschmacksvorlieben angesehen werden kann. Die Nachfrage britischer Touristen habe nun dazu geführt, dass das Chicken Tikka Masala auch in Indien zubereitet und serviert wird. Es ist in diesem Falle also nicht mehr zu unterschieden, ob es sich um ein britisches oder indisches Gericht handelt, vgl.

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besonders sichtbar: Die Wechselwirkungen der Globalisierung führen hier zu einer Verstärkung des „Heimatgedankens“ (Ska als „Nationalmusik“, Reggae als Übermittler der Rasta-Pan-Afrikanismus-Ideologie) bei gleichzeitiger globaler Vermarktung (Ska auf der New York Worlds Fair, Reggae durch globale Werbekampagnen).

2 ADAPTIONEN DES JAMAIKANISCHEN S KA DURCH DIE S UBKULTUR DER S KINHEADS 117 IN G ROßBRITANNIEN Die Weiterentwicklung und Neukontextualisierung musikalischer Formen ist im Nexus einer Globalen Kulturindustrie ein stetiger Prozess und dient als Identifikationsmerkmal neu entstehender globaler Identitäten und Subkulturen. Hier kann das Individuum aus den jeweiligen „Zeichen“ und den darin enthaltenen Ideologien seine eigene Identität bestimmen. Stuart Hall bezeichnet den Prozess der Enttraditionalisierung kritisch als „kulturelle Homogenisierung“, da die Produkte der Kulturindustrie einem transnational operierenden und ökonomisch orientierten Markt entstammen: „Je mehr das gesellschaftliche Leben durch die globale Vermarktung von Stilen, Räumen und Vorstellungen, durch internationale Reisen, global vernetzte Medienbilder und Kommunikationssysteme vermittelt wird, desto mehr lösen sich Identitäten von besonderen Zeiten, Orten, Vergangenheiten und Traditionen – sie werden entbunden und erscheinen als ‚frei flottierend‘. Wir werden mit einer Reihe von Identitäten konfrontiert, die alle zu uns oder besser zu bestimmten Seiten von uns gehören und zwischen denen wir wählen können. Die Ausbreitung des Konsumismus, ob nun real oder in den Träumen, trug zu diesem ‚Supermarkt-Effekt‘ bei.“

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Andreas Ackermann, Wechselwirkung – Komplexität: Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus, in: ders. und Klaus E. Müller, Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften. Geschichte, Problematik und Chancen, Bielefeld 2002, S. 9-30, hier S. 9 f. 117 Siehe hierzu auch Daniel Siebert, Adaptionen der jamaikanischen Ska-music durch die Subkultur der Skinheads in Großbritannien, in: Leopold, EhrmannHerfort (Hrsg.), Migration und Identität, S. 233-241. 118 Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 213.

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Der Einzelne verändert, wie erwähnt, durch seine idiosynkratische „Vereinnahmung“ die Produkte der Globalen Kulturindustrie und der Prozess der Enttraditionalisierung führt wiederum zu einer veränderten kulturellen Landschaft und Deutung der kulturellen Produkte, da diese nun für jeden freier zugänglich sind. Enttraditionalisierung ist sinngemäß ein Abschließen mit der Vergangenheit und Eintreten in ein neues Zeitalter der Globalisierung, in der Ideologien und Identitäten selbstbestimmte Variablen darstellen. Verschiedene Identitäten treten demnach je nach Bedarf in den Vordergrund und wechseln nach Belieben. Nach Ulf Hannerz besteht eine globale Welt quasi nur noch aus Subkulturen, welche ihre eigene Identität aus den verschiedensten Symbolen und Mythen konstruieren.119 Die um 1969 aufkommende Subkultur der Skinheads120 „wählte“ nun als musikalisches Symbol den Ska – also die Musik der jamaikanischen Einwanderer – und stellte diese damit in einen neuen Kontext. Bedingt durch den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Migrationswelle jamaikanischer Arbeiter nach Großbritannien.121 Bis 1960 kamen circa 200.000 Einwanderer von den Westindischen Inseln in das Vereinigte Königreich; 1971 waren 237.000 Einwanderer aus der Karibik in Großbritannien gemeldet, das entsprach 7,9 Prozent der Ausländer im Vereinigten Königreich.122 Diese Migranten brachten die jamaikanische Unterhaltungsund Tanzmusik ins sogenannte mothercountry, wo schon seit dem Swing der 1940er Jahre eine Infrastruktur und Tanzkultur für afroamerikanische Musik bestand. Viele karibische Clubs entstanden vor allem in den urbanen

119 Vgl. Ulf Hannerz, „Cosmopolitans and Locals in World Culture“, in: Featherstone (Hrsg.), Global Culture, S.237-251, hier S. 237. 120 Der Begriff Skinhead wurde 1969 zum ersten Mal verwendet und bezog sich ursprünglich auf den kurzen Haarschnitt der Anhänger diese Subkultur, vgl. George Marshall, Spirit of ‘69: A Skinhead Bible, Dunoon 1993, S. 14. 121 Die Ankunft des Schiffes Empire Windrush aus Jamaika in London im Juni 1948 gilt als der historische Beginn dieser Zuwanderungen. 122 Vgl. Kenneth Lunn, „Großbritannien“, in: Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen und Jochen Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie. Migration in Europa, Paderborn 2007, S. 68-84, hier S. 76-83; Held et al., Global Transformations, S. 320.

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Gebieten Londons.123 Seit 1946 vertrieb die Plattenfirma Melodisc black music im Vereinigten Königreich.124 Melodisc importierte Jazz- und BluesPlatten aus den USA und begann ab 1950 auch Calypso-Platten und jamaikanische R-’n’-B-Platten in Großbritannien zu vertreiben.125 Besonders der Calypso des Musikers Lord Kitchener war in Großbritannien beliebt.126 Seine Songtexte ähnelten dem jamaikanischen Mento: Auch sie wiesen viele sexuelle Doppeldeutigkeiten auf und transportierten einen sozialkritischen Duktus.127 Die karibische Unterhaltungs- und Tanzmusik wurde im Vereinigten Königreich in den folgenden Jahren zunächst durch ihre Exklusivität und Subversivität Ausdruck der Jugendsubkultur der „Modernists“, von denen sich Ende der 1960er Jahre die Subkultur der Skinheads abspaltete. Die Bewegung der sogenannten Mods – als Abkürzung für den Begriff Modernists – hatte ihren Ursprung Ende der 1950er Jahre in der britischen Arbeiterjugend und galt als erste Arbeiterklassen-Jugendsubkultur, welche in der unmittelbaren Nachbarschaft zu den karibischen Einwanderern aufwuchs. Für die Mods – und später für die Skinheads – symbolisierte die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik all das, was die damaligen populären Musikformen nicht waren: Sie schien besonders rhythmisch, spontan, einfach und wurde von der britischen Presse als plump verachtet.128 Seit den frühen 1960er Jahren entwickelte sich hier über kulturelle Symbole eine Art Koexistenz zwischen den britischen und den karibischen – vorwie-

123 Vgl. Hebdige, Subculture, S. 42. 124 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 87; Griffiths, Boss Sounds, S. 10; Clarke, Jah Music, S. 139; Davis und Simon, Reggae International, S. 156. 125 Vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 92. 126 Vgl. Simon Featherstone, Postcolonial Cultures, Edinburgh 2005, S. 51. 127 Für weitere Informationen zum Einfluss und der Verbreitung afrokaribischer Musikformen in Großbritannien vor 1960 siehe Markus Coester, „Travelling Cultures“. Untersuchungen zu Migration und Kultur zwischen der Karibik und England 1940-1960, Frankfurt a. M. 2005. 128 Jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik wurde in den 1960er Jahren aufgrund ihrer direkten Texte und angeblich primitiven musikalischen Strukturen von den Radiosendern Großbritanniens boykottiert, vgl. Clarke, Jah Music, S. 140; Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 125; Paul Gilroy, There ain’t no Black in the Union Jack, Oxford 1987, S. 218.

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gend jamaikanischen – Arbeitern: „Weiße“ Jugendliche tanzten in den Pubs und Diskotheken der karibischen Einwanderer zu Ska- und Rocksteadyklängen. Ein integraler Bestandteil ihrer Identität war die Affinität zu karibischer Musik.129 Prince Busters Rocksteadysong „Madness“ wurde 1965 einer der ersten jamaikanischen Songs, welcher gleichermaßen von den jamaikanischen Einwanderern, insbesondere der Subkultur der Rude Boys, und den Mods gehört wurde.130 Die britischen Mods wiesen in ihrem Kleidungsstil und ihrem Habitus Ähnlichkeiten zu den Rude Boys auf, die sich durch den Zuzug junger Migranten aus Jamaika auch in Großbritannien etabliert hatten. Beide Gruppen orientierten sich im Gegensatz zu ihrer gesellschaftlichen Herkunft eher an gehobenen Schichten und kleideten sich entsprechend.131 Aus der Verbindung der Mods und Rude Boys wiederum entstanden um das Jahr 1969 die Skinheads.132 Die Zusammenführung „weißer“ und „schwarzer“ Jugendlicher war vermutlich in erster Linie eine Frage der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse, da sich alle drei Subkulturen in diesem Milieu bewegten.133 Anders als bei den Mods und den Rude Boys wurde der Kleidungsstil der Skinheads auch als Karikatur des perfekten Arbeiters beschrieben: kurzes Haar, Hosenträger, enge Jeans, geglättete Button-down-Hemden und polierte, schwere Stiefel.134 Die Skinheads adaptierten diesen Stil unter anderem von jamaikanischen Künstlern. Das Auftreten des jamaikanischen Sängers Desmond Dekker, welcher sein Kopfhaar kurzgeschoren trug, seine Hosen mit Hosenträgern versah und die un-

129 Vgl. Hebdige, Subculture, S. 52 f.; Simon Frith, Sound effects, London 1978, S. 220; Menhorn, Skinheads, S. 14; Jones, Black culture, white youth, S. 88; Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 124 f. 130 Vgl. ebd. 131 Bei den Mods und Rude Boys galten gleichermaßen hochwertige schwarze Anzüge als Identifikationsmerkmal. 132 Die Skinheads rekrutierten ihre Anhänger vor allem bei den sogenannten Hard-Mods, welche sich von den einfachen Mods durch ihre besondere Brutalität und ihren deutlicheren Bezug zur Arbeiterklasse abgrenzten. 133 Vgl. Farin und Seidel-Pielen, Skinheads, S. 34. Die Mods existierten zwar weiterhin, traten in den folgenden Jahren aber nur noch vereinzelt auf. Die Rude Boys dagegen haben sich in den 1970er Jahren wieder eigenständig entwickelt. 134 Vgl. Hebdige, Subculture, S. 54 ff.; Menhorn, Skinheads, S. 12.

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teren sechs Zentimeter der Hosen abschnitt, damit seine sauber polierten Schuhe zum Vorschein kamen, war hier wohl unmittelbares Vorbild.135 Zudem war der kriminelle und intolerante Habitus der Rude-Boys-Bewegung deckungsgleich mit dem der Skinheads: Beide Subkulturen diskriminierten und attackierten beispielsweise die ebenfalls in den 1960er Jahren nach Großbritannien eingewanderten Gruppen pakistanischer und indischer Gastarbeiter. Die ablehnende Haltung der Rude Boys und Skinheads richtete sich in erster Linie gegen die Religion der Pakistani und Inder.136 In dieser Hinsicht waren also die Gesinnungen der Rude Boys und Skinheads ähnlich, genügte doch die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion, um zum Ziel der brutalen Übergriffe der beiden Jugendsubkulturen zu werden.137 Die Liaison von Rude Boys und Skinheads ging sogar so weit, dass sich ein Künstler wie Laurel Aitken nicht mehr als Rude Boy, sondern als „black Skinhead“ bezeichnete.138 Die überwiegend britisch-stämmigen Skinheads beeinflussten nun ihrerseits die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik. Deren durch die Skinheadbewegung aufkommende Popularität führte zu einer massiven Zunahme jamaikanischer Plattenimporte. Wie Marc Griffith und George Marshall berichten, wurden in den Jahren 1969 und 1970 jeden Monat 15.000 bis 20.000 jamaikanische Platten nach Großbritannien verschifft

135 Vgl. Clarke, Jah Music, S. 147 f; Marshall, Spirit of ‘69, S. 12. 136 Vgl. Hebdige, Subculture, S. 59. Über das schwierige Verhältnis zwischen afrokaribischen und asiatischen Migranten vgl. George Lipsitz, Dangerous Crossroads: Popular Music, Postmodernism and the Focus of Place, London 1994, S. 28 f. 137 Vgl. Paul Gilroy und Errol Lawrence, „Two-Tone Britain: White and Black Youth and the politics of Anti-Racism“, in: Philip Cohen und Harwant S. Bains (Hrsg.), Multi-Racist Britain, London 1988, S. 121-155, hier S. 130. Harwant S. Bains zufolge führten dem entgegenstehend einige Skinheads als Grund ihrer Gewalttaten lediglich an, dass Pakistani und Inder hierfür ein einfacheres Ziel abgaben, vgl. dies., „Oi for England: Travor Griffiths in interview with Karim Alrawi and Harwant S. Bains“, in: dies. (Hrsg.), Multi-Racist Britain, S. 253-260, hier S. 258. 138 Aitken äußerte sich entsprechend in einem Interview für den Film Skinhead Attitude, Daniel Schweizer, 2004.

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und teilweise direkt am Dock vom Schiff verkauft.139 Jamaikanische Songs wie zum Beispiel „Israelites“140 von Desmond Dekker wurden 1969 aufgrund einer massiven Unterstützung der Skinheadsubkultur Charterfolge in Großbritannien.141 Ab 1969 stellten sich einige nach Großbritannien emigrierte jamaikanische Künstler auf die stetig wachsende neue Hörerschaft ein und produzierten Songs mit klarem Bezug auf die Szene der Skinheads. Beispiele hierfür sind der von der Gruppe Symarip aufgenommene „Skinhead Moonstomp“ oder der Song „Skinhead Train“ von Laurel Aitken. Die musikalische Struktur dieser Songs, die auch Blue Beat oder Skinhead Reggae genannt wurden,142 ähnelte dem jamaikanischen Rocksteady von Prince Buster: Die Harmonien wechselten kaum mehr als zwischen der Tonika und Subdominante, und der Bass spielte meist die einzige hervorgehobene Melodielinie. Das rhythmische Vierviertelgrundmuster blieb mit Offbeats und Schlagzeugbetonungen auf Zwei und Vier unverändert. Ähnlich wie bei Prince Busters Song „Al Capone“ fungierte der jeweilige Sänger des Stückes meist nur als Kommentator. Der Song „Skinhead Moonstomp“ beginnt mit der Aufforderung zum Tanz: „I want all you Skinheads to get up your feet, put your braces together and your boots on your feet

139 Vgl. Griffiths, Boss Sounds, S. 11; Marshall, Spirit of ‘69, S. 27. 140 Der Song „Israelites“ behandelt eine biblische Metapher über Entbehrung und Erlösung: Man arbeitet wie ein Trojaner und leidet wie ein Israeli, was in der jamaikanischen Umgangssprache für Leiden, Armut und Hunger steht. Der Titel verweist auf die Leidensgeschichte der Israeliten vor dem Auszug aus Ägypten, meint jedoch das Schicksal der „schwarzen“ Sklaven, beinhaltet also ein ähnliches Sujet wie der vorgestellte Song „Let my people go“ von Laurel Aitken. Wie schon erwähnt, war dieses Thema im Rastafariglauben weit verbreitet. Der Text von „Israelites“ handelt von einem Mann, welcher von Frau und Kindern verlassen wurde, weil er nicht für sie sorgen konnte. Da er sich nun als Rude Boy durch Kleinkriminalität am Leben erhält, fürchtet er sich davor, so zu enden wie Bonnie und Clyde, das berühmte Gangsterpärchen der 1930er Jahre, das von der Polizei erschossen wurde, vgl. http://de.wikipedia. org/wiki/The_Israelites, Zugriff am 11.07.2013. 141 Vgl. Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 93. 142 Vgl. Griffiths, Boss Sounds, S. 11; Chang und Chen, Reggae Routes, S. 35.

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and give me some of that old moonstompin!“143 Der Anfang des Stückes ist ein klarer Verweis auf den Kleidungsstil der Skinheads, indem die signifikanten Hosenträger (braces) und schweren Stiefel (boots) erwähnt werden. Das Albumcover von „Skinhead Moonstomp“ zeigt zudem ein Foto „weißer“ Skinheads in entsprechendem Kleidungsstil:

Abb. 6: „Skinhead Moonstomp“ – Symarip: Albumcover (Trojan Records 1970)

Auch Laurel Aitken nimmt im Song „Skinhead Train“ Bezug auf die Subkultur der Skinheads. Der Titel des Songs verweist auf deren Gewohnheit, am Wochenende mit dem Zug aus den Städten ans Meer zu fahren, um sich dort Straßenschlachten mit anderen Jugendsubkulturen zu liefern. Der Text beschreibt zudem glorifizierend die regelrechte „Invasion“ der Skinheads in die Tanzlokale der jamaikanischen Einwanderer. Auf Aitkens Langspielplatte The High Priest of Reggae144 von 1970 finden sich neben dem ge-

143 Transkribiert aus Symarip, Skinhead Moonstomp, Treasure Isle Records, TI7050A, 1969. 144 Laurel Aitken, The High Priest of Reggae.

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nannten Song „Skinhead Train“ auch die Titel „Jesse James“, im Grunde ein Äquivalent zu Prince Busters Gangsterhymne „Al Capone“, und der Song „Haile Selassie“, eine Lobpreisung des Kaisers von Äthiopien, wie sie im auf Jamaika entstandenen Rastafarikult üblich ist. Auch die Beispiele von Laurel Aitken weisen in ihrer musikalischen Struktur dieselben bereits beschriebenen Merkmale auf. So spricht Aitken in den Songs nur einige thematisch an die jeweiligen Titel angelehnte Sätze, die Harmonien wechseln fast nur zwischen Tonika und Subdominante, und der Bass spielt meist die einzig hervorgehobene Melodielinie. Abgesehen von inhaltlichen Verweisen auf die wachsende Skinheadbewegung war die Musik der jamaikanischen Einwanderer in Großbritannien also größtenteils von den bereits auf Jamaika entstandenen Thematiken besetzt. So wurden bei den Skinheads sowohl einfache Tanzlieder als auch auf den Rastafarikult bezogene Songs populär.145 Der Charakter der Musik der jamaikanischen Einwanderer lenkte die Aufmerksamkeit der Skinheads auf sich, da sich in ihrer Abgrenzung und ihrem Anderssein auch ein Ideal der Skinheadsubkultur abbildete. Die Semantik des Rastafarikultes, welche Unterdrückung und Sehnsucht nach Freiheit thematisiert, steht im Einklang mit der proletarischen Skinheadbewegung. Zu einem ideologischen Bruch zwischen Rude Boys und Skinheads kam es erst, als die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik mit dem Aufkommen des Reggae mehr Bezug auf ihre afrikanischen Wurzeln nahm. Dick Hebdige und George Marshall bezeichneten diese „africanisation“ des Reggae als Niedergang der Verbindung zwischen Rude Boys und Skinheads.146 Entscheidender als die musikalischen Veränderungen des Reggae waren wohl Aspekte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, welche schon Ende der 1960er Jahre in den Rocksteady mit einflossen. Sinnbildlich hierfür steht der Song „Young, gifted and black“ von Bob & Marcia aus dem Jahre 1969: To be young, gifted and black, Oh what a lovely precious dream To be young, gifted and black,

145 Der erwähnte Charterfolg des Songs „Israelites“ von Desmond Dekker ist hierfür ein Beispiel. 146 Vgl. Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“, S. 126; Marshall, Spirit of ‘69, S. 25.

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Open your heart to what I mean In the whole world you know There are billion boys and girls Who are young, gifted and black, And that’s a fact! You are young, gifted and black We must begin to tell our young There’s a world waiting for you This is a quest just begun When you feel really low Yeah, there’s a great truth you should know When you’re young, gifted and black 147

Your soul’s intact

Dieser ursprünglich von der Sängerin Nina Simone aufgenommene Song markiert aus verschiedenen Gründen eine Trennlinie zwischen den jamaikanischen Einwanderern in Großbritannien, den Skinheads und der afrokaribischen Bevölkerung auf Jamaika. Der Coversong von Bob & Marcia wurde in zwei unterschiedlichen Versionen aufgenommen, zum einen in einer für den jamaikanischen Markt bestimmten Version mit einer Rocksteadybesetzung (Bass, Schlagzeug, Klavier, Gitarre), zum anderen in einer für Großbritannien bestimmten Einspielung mit eingefügten Streicherarrangements und einem klar intonierten dialektfrei vorgetragenen Gesangspart, welcher somit eine größere Zielgruppe ansprechen sollte.148 Der Song „Young, gifted and black“ symbolisiert aber auch den Bruch zwischen Rude Boys und Skinheads, da es 1970 auf einem Bob-&-MarciaKonzert in London zu einem Zwischenfall kam, als Skinheads bei dem

147 Transkribiert aus Bob & Marcia, Pied Piper. The best of Bob & Marcia, Trojan Records, TJACD044, 2002. 148 Die UK-Version des Songs wurde in Großbritannien tatsächlich ein Charterfolg, vgl. Griffiths, Boss Sounds, S. 18; Marshall, Spirit of ‘69, S. 20.

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Song die Kabel der Lautsprecherboxen durchschnitten und die abgeänderte Textzeile „Young, gifted and white“ skandierten.149 Der thematische Fokus der überwiegend afrokaribischen Musiker des Skinhead-Reggae verschob sich in den folgenden Jahren mehr in die Richtung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und behandelte verstärkt Hautfarbenthematiken und soziale Benachteiligungen der dunkelhäutigen Bevölkerung. Da es bis auf die Ausnahme des Sängers Alex Hughes alias Judge Dread keinen britisch-stämmigen Skinhead-Reggae-Künstler gab, löste sich die Verbindung der Skinheadsubkultur mit der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik. Auch grundsätzlich verlor die Jugendsubkultur der Skinheads in den folgenden Jahren zunehmend Anhänger. Einige Beobachter der Szene sahen im Verlust des identitätsstiftenden Symbolwerts einer der Subkultur zuordenbaren Musik ein Hauptargument des Niedergangs der Skinheads.150 Der Song „Bring back the Skins“ von Judge Dread aus dem Jahre 1976 glorifiziert in einer Art Retrospektive die Kultur der Skinheads und ihre Verbindung zur jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik und gibt damit den musikalischen Verweis einer endenden Liaison: We’d live and die for Friday night Off to the Pali and have a fight Dance the reggae most of the night 151

When we were skins

2.1 Two-tone Im Jahr 1977 kam es aufgrund der aufkommenden Punksubkultur zu einer Wiederbelebung der Skinheadsubkultur. In den folgenden Jahren spaltete sich deren Anhang musikalisch auf in Befürworter der härteren Spielweise des Punk (auch Streetpunk oder später Oi! genannt) und der Musikform

149 Von diesem Zwischenfall berichtet Jones, Black culture, white youth, S. 92; Menhorn, Skinheads, S. 36; Hebdige, „Reggae, Rastas and Rudies“], S. 126; Marshall, Spirit of ‘69, S. 19; Farin und Seidel-Pielen, Skinheads, S. 37. 150 Vgl. Marshall, Spirit of ‘69, S. 19. 151 Transkribiert aus Judge Dread, Last of the Skinheads [1976], Captain Mod Records, MODSKA CD23, 2002.

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Two-tone, einer Mischform aus Punk und Ska. Dieser Verbindung vorausgehend hatte der Reggae von Bob Marley den Grundstein dafür gelegt, die ideologischen Parallelen zwischen dem Punk und dem Reggae herauszustellen. Bereits 1975 wurde bei einer großen Bob-Marley-Tour durch Großbritannien seitens des Managements (also Chris Blackwells) mit entsprechender Werbung und Plakaten dafür gesorgt, die Anhänger der entstehenden Punkbewegung für Bob Marleys „Rebel music“ zu gewinnen.152 Bob Marleys Reggaesong „Punky Reggae Party“ aus dem Jahre 1978 besingt diese Verbindung: It’s a punky reggae party and it’s tonight it’s a punky reggae party and it’s alright Rejected by society treated with impunity protected by my dignity I search for reality new wave, new craze new wave, new wave, new phrase I’m sayin’ the Wailers will be there the Damned, the Jam, the Clash Maytals will be there Dr. Feelgood too

153

152 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 94 f.; Harrison, „Volksmusik und gesellschaftliche Realität im heutigen Jamaika“, S. 178. 153 Transkribiert aus Bob Marley & The Wailers, Babylon by Bus, Island Records, ISLD 11, 1978.

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Die Bezeichnung Two-tone hat nun mehrere Bedeutungen: Musikalisch drückt sie die Einflüsse des Ska154 und des Punk aus. Two-tone war eine Mischung aus den rhythmischen Grundmustern des Ska – inklusive einer wieder rhythmisch orientierten Basslinie und einem Klavieroffbeat – und einer aggressiven Vortragsweise des Gesangs mit zynischen Texten.155 Dick Hebdige beschreibt Two-tone als „ska, sung with a nasal English accent […] spiced up with a distinctively British sense of humour“156. Der Begriff Two-tone bezieht sich zudem auf die Hautfarben der Bandmitglieder und ihren bevorzugten Kleidungsstil. Von der Gruppe The Specials wurde diese musikalische – und auch kommerziell vermarktete – Idee zuerst umgesetzt. Die Band The Specials bestand aus fünf „weißen“ und zwei „schwarzen“ Musikern ergänzt durch eine jamaikanische Bläsersektion um den ehemaligen The Skatalites-Saxophonisten und Posaunisten Rico Rodriguez. Die Kleidung der Two-tone-Band orientierte sich am Aussehen der Rude Boys, Mods und Skinheads Ende der 1960er Jahre: schwarzer Anzug, schwarze Sonnenbrille, schwarzer Hut und dazu weißes Hemd, weiße Socken und in den meisten Fällen Hosenträger. Der Vordenker der Two-toneIdee und Frontmann der Band The Specials Jerry Dammers war auch Begründer der gleichnamigen Plattenfirma Two-Tone-Records. Dammers ging es darum, die multikulturelle Idee des Two-tone nicht nur musikalisch, sondern auch als ideologisches und optisches Gesamtpaket zu verkaufen.157 Die Idee bestand darin, die Verbindung von „schwarzen“ und „weißen“ Jugendlichen durch die musikalische Hybridform gepaart mit Humor und Lebensfreude wieder herzustellen und die Gemeinsamkeiten der Klassenzu-

154 Der musikalische Bezug auf den frühen Ska und nicht auf den Reggae ist nach George Marshall auf den The-Specials-Songschreiber Jerry Dammers zurückzuführen, welcher sich davon eine klarere Abgrenzung gegenüber Reggaekünstlern versprach, vgl. Marshall, Spirit of ‘69, S. 84. Gegensätzlicher Ansicht ist Simon Frith, welcher Jerry Dammers mit den Worten zitiert, er sehe sich von allen jamaikanischen Musikformen gleichermaßen beeinflusst, vgl. Simon Frith, Music for Pleasure, Cambridge 1988, S. 79. 155 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 106. 156 Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 111. 157 Vgl. Marshall, Spirit of ‘69, S. 84; Davis und Simon, Reggae International, S. 170.

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gehörigkeit hervorzuheben.158 Two-tone, repräsentiert durch weitere Bands wie Madness, The Beat oder The Selecter, wurde durch die gut organisierte Imagekampagne ein kommerzieller Erfolg und führte die erfolgreiche Verbindung von Unterhaltungs- und Tanzmusik mit afrokaribischen Wurzeln und einer global operierenden Musikindustrie fort.159 Two-tone löste zudem eine neue Skawelle in Großbritannien aus und verhalf Musikern wie Laurel Aitken zu neuem Ruhm.160 Ferner zog sie immer mehr Skinheads an, welche sich mit den Anfängen ihres Kultes näher verbunden fühlten als mit der neuen wesentlich politischer orientierten Skinheadbewegung um 1977.161

3

D IE E NTBETTUNG DES S KA IN G RO SS BRITANNIEN IM S PANNUNGSFELD ZWISCHEN R A SS ISMUS UND TRANSNATIONALER I DENTITÄT

Der Prozess der Entbettung stellt eine Erweiterung des Prozesses der Enttraditionalisierung dar. Wie bereits in Kapitel II erwähnt, beschreibt Entbettung den Übergang von der traditionalen in die moderne Welt. Anthony Giddens definiert nun das Herausheben des Individuums aus sozialen Systemen und das Vertrauen in Expertensysteme als Entbettungsmechanismen: „[B]eide Arten […] unterstellen und begünstigen zugleich die Trennung der Zeit von Raum als Bedingung der von ihnen geförderten raumzeitlichen Abstandsvergrößerung“162. Die technologischen Entwicklungen, die Verdichtung von Raum und Zeit sowie die mediale globale Verknüpfung machen den Prozess der Entbettung auch auf kulturelle Güter und gesellschaftliche Ereignisse anwendbar. Hartmut Rosa beispielsweise bezeichnet

158 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 106 f.; Hebdige, Cut ’n’ Mix, S. 109. 159 Speziell die Band Madness orientierte sich im Laufe der 1980er Jahre musikalisch immer mehr an gängigeren Populärmusikformen und landete 1983 mit dem Song „Our House“ auch einen globalen Charterfolg. 160 Der Skasong „Rudi got married“ wurde 1980 Aitkens erster kommerziell erfolgreicher Song und erste Chartplatzierung in Großbritannien, vgl. Marshall, Spirit of ‘69, S. 94. 161 Vgl. ebd., S. 84 f. 162 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 42.

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McLuhans Beschreibungen des global village als Vorgang einer „räumlichen Entbettung“163, und auch die Produkte der Globalen Kulturindustrie wurden durch die Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang gerissen und sind „entbettet“. Die Prozesse der Entbettung und der Enttraditionalisierung sind gewissermaßen die Voraussetzung, diese als frei wählbare Identitätsmerkmale zu nutzen: In einer „posttraditionalen“ Welt werden entbettete kulturelle Zeichen für eine neue globale Identitätsfindung genutzt. Die Adaption der Musikform Ska durch die Skinheadsubkultur in Großbritannien führte zu einer Neubestimmung des durch die Musik ursprünglich transportierten Inhaltes. Jamaikanische Einwanderer spielten Ska und Rocksteady vor einem ethnisch durchmischten Publikum. Der nationale jamaikanische Bezug und die musikhistorischen afrokaribischen Einflüsse des Ska wurden in Großbritannien durch die stärkere Verknüpfung mit dem Milieu der Arbeiterklasse und eine schlichte Vortragsweise (Sprechgesang und einfache harmonische Strukturen) pointiert. Früh erkannten Musiker wie Laurel Aitken oder die Gruppe Symarip das finanzielle Potenzial der neuen Hörerschaft und bevorzugten in ihrer Musik grobe, eindeutige Texte und Funktionen der Tanzmusik. Die „Migration“ der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik nach Großbritannien führte zu einer transkulturellen Musikform, einer durch Globalisierungszusammenhänge in ihrer Deutung veränderten Musikform des Ska. Die musikalische Zusammenführung der jamaikanischen Migranten und der englischen Arbeiter wird durch den gemeinsamen Nenner der Klassenzugehörigkeit in der Skinheadbewegung kulturell vereinigt. Roland Robertson und Mike Featherstone würden hier wohl von einer durch die Globalisierung entstandenen transnationalen „Drittkultur“ sprechen.164 Der Ska stellt nun ein entscheidendes Merkmal dar, der Skinheadsubkultur eine globale Identität zu geben. Das heißt, obwohl zunächst weitestgehend von nationalen jamaikanischen Thematiken besetzt, lockerte der Ska seine Verbindung zu den ursprünglichen Identifikationsmerkmalen und wurde durch die oben beschriebenen neuen erweitert. Als sich die jamaikanischen Migranten ab den frühen 1970er Jahren anhand des Reggae wieder mehr über ihre ethnischen, ideologischen und na-

163 Rosa, Beschleunigung, S. 341. 164 Vgl. Featherstone, „Global Culture“, S. 6; Robertson, Globalization, S. 61.

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tionalen Gemeinsamkeiten definierten und sich so von ihrer Wahlheimat abgrenzten, begannen die Skinheads ebenfalls ihre Herkunft zu hinterfragen. Die Frage der Hautfarbe und auch der Nationalität wurde in der weiteren Entwicklung der Skinheadbewegung ein wichtiges Kriterium. Dick Hebdige zitiert einen Skinhead mit den Worten: „A Rasta can wear a Black is Beautiful badge and they all sit up and start clapping. I wear a White is Beautiful badge and get run in for being a racist …“165 (Frei übersetzt: „Ein Rastafari darf einen ‚Schwarz ist schön‘-Anstecker tragen und alle jubeln darüber. Ich trage einen ‚Weiß ist schön‘-Anstecker und werde als Rassist beschimpft …“). Bezogen auf das Modell von Arjun Appadurai entstanden auf den Ebenen der ethnoscapes und ideoscapes durch diese musikalische Entwicklung also weitere neue Identifikationsmöglichkeiten. Die globale Verbreitung der Skinheadsubkultur führte ferner zu dessen Dezentralisierung und politischen Aufspaltung.166 Durch die beschriebene politische und ökonomische Transnationalität im Zeitalter der Globalisierung kam es in den 1980er Jahren zu einer massiven Popularität der politisch national-konservativen Flügel. Die Wahlerfolge der Moral Majority in den USA, der Front National in Frankreich und der British National Front in Großbritannien bereits in den 1970er Jahren zeugen hiervon. Für Ronald Inglehart sind diese politischen Erscheinungen eine Reaktion auf die veränderte kulturelle Situation in den Industriestaaten: „[D]ie starken Einwanderungswellen, vor allem aus Ländern der Dritten Welt, [haben] die ethnische Zusammensetzung der entwickelten Industriegesellschaften verändert. Die Neuankömmlinge sprechen eine andere Sprache, haben andere religiöse Bräuche und Lebensweisen, die den Einheimischen fremd sind; die Einheimischen fürchten, ihre eigene Kultur könnte dadurch verdrängt werden.“

167

Dieser aufkommende politische Fundamentalismus gilt als Reaktion auf eine global vernetzte Welt und spiegelt den Prozess der Glokalisierung wider.

165 Dick Hebdige, „This is England! And they don’t live here“, in: Nick Knight (Hrsg.), Skinhead, London 1982, S. 26-35, hier S. 32. 166 Vgl. Menhorn, Skinheads, S. 93. 167 Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch – Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt a. M. 1989, S. 20.

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Auch die Skinheads gerieten seit den frühen 1980er Jahren wegen der intoleranten und gewaltverherrlichenden Einstellung vieler ihrer Anhänger in das Spannungsfeld rechter und linker politischer Gruppierungen, welche versuchten, sie für ihre jeweiligen politischen Ziele zu gewinnen.168 Der aufkommende intolerante Habitus und Rassismus einiger Skinheads richtete sich aber bis auf wenige Ausnahmen nie gegen afrokaribische Einwanderer und dies vor allem wegen der gemeinsamen Liebe zum Ska.169 Die transnationale Identität der Musikform Ska und die Intoleranz der Skinheads bilden hier keinen Widerspruch. Die subkulturelle Adaption der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik führte demnach nicht zu einer größeren Weltoffenheit und der in Großbritannien entstandene neue Kontext nicht zu einer Homogenisierung der Musik. Im Gegenteil, der Ska wurde hier dafür benutzt, das Anderssein zu unterstreichen und sich von anderen Subkulturen (wie den Rockern oder Teds), aber auch von anderen Migrantengruppen (wie den Pakistani und Indern) abzugrenzen. Wie das Beispiel des Ska verdeutlicht, haben gesellschaftliche Umstrukturierungen der Globalisierung wie Migration und kulturindustrielle Entwicklungen zu einer Neubestimmung der musikalischen Kontexte geführt. In der weiteren Entwicklung der Skinheadsubkultur diente die Musikform Ska fortan als Identifikationsmerkmal der sich mehr und mehr global ausdehnenden Bewegung. Der Ska wurde das musikalische Merkmal der „traditionellen“ Skinheads, welche sich in ihrem Habitus und Kleidungsstil an den Anfängen der Subkultur um 1969 orientierten. Neben der hybriden Musikform Two-tone entstanden Anfang der 1980er Jahre Skinhead-SkaMusikgruppen wie zum Beispiel die Bad Manners aus England, The Busters aus Deutschland oder The Slackers aus den USA. Die Subkultur der

168 Vgl. Jones, Black culture, white youth, S. 103. Die politische Vereinnahmung der Skinheadsubkultur führte in den folgenden Jahren zu immer differenzierteren Abspaltungen. So gründeten sich Anfang der 1980er Jahre verschiedene politisch rechtsgesinnte Skinheadgruppen, welche in erster Linie durch die rechtspopulistische britische National-Front-Partei gefördert wurden. Ungefähr zur selben Zeit bildeten sich die redskins als linkspolitischer Gegenentwurf. In der weiteren globalen Entwicklung kamen Ende der 1980er Jahre vor allem in den USA weitere politische wie unpolitische Skinheadgruppierungen hinzu. 169 Vgl. Roger Sabin, Punk Rock: so what?: The Cultural Legacy of Punk, London 1999, S. 204; Hebdige, Subculture, S. 58.

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Skinheads griff hier in die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungsund Tanzmusik ein. Sie löste den Ska aus seinem jamaikanischen Kontext, stellte ihn in einen erweiterten Kontext mit globaler Reichweite; er diente den Skinheads somit als globales Identifikationsmerkmal. Hieran wird der Prozess der Entbettung deutlich. Wie beschrieben, definiert Anthony Giddens Entbettung auch als das Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen.170 Im globalen Kontext entwickelte sich der Ska vom nationalen Symbol zum Kennzeichen einer globalen und transnationalen Subkultur; transnational, weil sich die Skinheadsubkultur über gleiche Symbole wie eben der Musikform Ska global definiert. Für die Bezeichnung transnationale Subkultur würde demnach auch das Kriterium der Ortspolygamie sprechen, welches Ulrich Beck in diesem Zusammenhang anführt.171 Die entstandene Verbindung beschreibt nun eine dritte Form der transculturation, die zu einer Entbettung und Neukontextualisierung der ursprünglich jamaikanischen Musikform Ska geführt hat. Während diese in der weiteren Entwicklungsgeschichte der jamaikanischen Unterhaltungsund Tanzmusik zum Rocksteady und Reggae transformierte, wurde sie parallel im Zeitalter der Globalisierung zu einem Symbol der Skinheadsubkultur. Die globale Verbreitung und der kulturelle Einfluss der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik stehen hier im Mittelpunkt einer reflexiv agierenden Globalisierungsphase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die drei herausgearbeiteten Formen der transculturation beschreiben, wie sich der Ska zunächst durch den Einfluss einer Globalen Kulturindustrie veränderte und schließlich verschiedenen Kulturen, Subkulturen und Lebensformen Identifikationsmöglichkeiten bot.

170 Vgl. Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 33. 171 Vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 127-135.

IV Traditionen der world music

Der Begriff Weltmusik wurde seit ungefähr 100 Jahren immer wieder neu definiert, bewertet und in verschiedenen musikalischen Kontexten gebraucht. Eine Universalgeschichte des Begriffes oder eine aktuelle Definition zu formulieren, scheint angesichts der Fülle an Quellen zu diesem Thema und der verschiedenartigen Anwendungen des Begriffes unmöglich. In Kapitel II wurde bereits das Weltmusikkonzept Karlheinz Stockhausens vorgestellt; weitere sind auf unterschiedliche Weise von Musikern, Musikwissenschaftlern, Journalisten und Musikökonomen entworfen worden. Die Antworten auf die Frage, welcher Musikstil oder Komponist unter dem Begriff Weltmusik geführt werden soll, reichen von John Cage als Pionier der aleatorischen Komposition unter Einfluss des Zenbuddhismus1 über den intuitiven freiimprovisierten Jazz der 1950er Jahre2 bis hin zum „Klang der ganzen Welt“ der New-Age-Bewegung3 und der Aufnahme von Soundscapes.4 Musikethnologen wie Philip V. Bohlman oder Bruno Nettl definie-

1

Vgl. Ingrid Fritsch, Zur Idee der Weltmusik, in: Ausländer, Fritsch (Hrsg.), Weltmusik, S. 3-28, hier S. 20 f.; Eco, Das offene Kunstwerk, S. 221; Hamel, Durch Musik zum Selbst, S. 25.

2

Vgl. ebd., S. 146 f.

3

Wilson, „Die Ratio des Irrationalismus“, S. 75.

4

Soundscapes bezeichnen die Tonaufnahmen verschiedener Landschaften wie Städte, Straßen oder Waldgebiete. Für weitere Informationen hierzu siehe Barry Truax, „Soundscape Composition as Global Music“, in: Bernd Enders und Joachim Stange-Elbe (Hrsg.), Global Village – Global Brain – Global Music, Osnabrück 2003, S. 309-313; Denilson Lopes, „Transnational Soundscapes:

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ren den Begriff Weltmusik als musikalisches Genre, welches die Musik nicht westlicher Kulturen zusammenfasst.5 Die Weltmusikedition des Rough Guide beinhaltet hingegen neben nicht westlicher Musik auch europäische Volksmusik und die „traditionelle“ Musik der amerikanischen Ureinwohner.6 Zu den unterschiedlichen Definitionsansätzen des Begriffes Weltmusik kommt erschwerend hinzu, dass dieser nicht einheitlich verwendet wird und eine Vielzahl von Synonymen existiert; Weltmusik wird auch als world music, world beat, world mix, Weltbeat, Ethnopop, Afrobeat, Tribal, Trance oder New Age bezeichnet und weiter zergliedert.7 Weltmusik in seiner vielfältigen Anwendung und Verwendung überschreitet sämtliche von der Musikwissenschaft aufgestellten Genres und hält sich weder an eine Differenzierung zwischen U- und E-Musik, noch erteilt er Auskunft darüber, welche musikalischen Stilformen Weltmusik nun wirklich umschreibt. Weltmusik beispielsweise als nicht westliche Musik zu definieren, wirft unzählige Fragen auf, wie westlicher Einfluss in nicht westlicher Musik nachzuweisen ist und bewertet werden muss oder wie nicht westliche Musik überhaupt zu definieren wäre. Der Diskurs über Weltmusik lässt Auseinandersetzungen über Begriffe wie Authentizität und Exotismus oder die Kontroverse Homogenisierung versus Heterogenisierung entstehen und steht zweifellos im Zusammenhang mit den kulturellen Veränderungen der Globalisierung: Sowohl der Beginn der Diskussion über eine globale Homogenisierung als auch die Unterteilung und die vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten, Interpretationen und Formen des Hetero-

Ambient Music and Bossatrônica“, in: Ignacio Corona und Alejandro L. Madrid (Hrsg.), Postnational Musical Identities, Plymouth 2008, S. 209-218. 5

Bohlman, World Music; Nettl, The Western Impact on World Music.

6

Broughton et al. (Hrsg.), Weltmusik.

7

Vgl. Timothy D. Taylor, Global Pop: World Music, World Markets, New York 1997, S. 1; Connell und Gibson, Sound Tracks, S. 145. Die Ordnung dieses Wirrwarrs ist Thema vieler Publikationen, welche versuchen, die Geschichte der Weltmusik zu erfassen. Exemplarisch seien hier neben Taylor beziehungsweise Connell und Gibson die Schriften von Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, Rüdiger Schumacher, „Konzepte von Weltmusik“, in: Misch, Blumröder (Hrsg.), Internationales Stockhausen-Symposion 1998, S. 95-100, und Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S. 123127, genannt.

IV T RADITIONEN

DER WORLD MUSIC

| 145

genisierungsbegriffes sind Ausdruck des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildeten Zeitalters der Globalisierung. Der Untersuchungsgegenstand des nun folgenden Kapitels ist der von der Musikindustrie eingeführte marktstrategische Begriff world music. Diese Bezeichnung wurde im Juli 1987 von circa 25 Vertretern englischer Schallplattenfirmen eingeführt, welche vor allem internationale populäre Musik vertrieben, um ihre Produkte unter ökonomischen Prämissen besser positionieren zu können. World music wurde für Diskothekenbetreiber und Plattenläden als Etikett etabliert, damit Interessenten internationaler populärer Musik diese zielgerichtet suchen und erwerben konnten, und beinhaltet sämtliche Musikstile, die noch nicht von der Musikindustrie erfasst wurden.8 Es handelt sich hierbei um eine übergeordnete „Schirmkategorie“, welche die unterschiedlichsten Musikformen wie Zouk, Soukous, Cajun, Rai, Quawwali, aber auch griechischen Rembetika oder Volksmusik aus Siebenbürgen unter einer Marke vereint. Musikalische Formen wie Reggae, Jazz oder Blues werden aufgrund eines bereits vorhandenen Marktes hier nicht berücksichtigt.9 World music begrenzt also keine objektiven musika-

8

Die Genese des marktstrategischen Begriffes world music wird ausführlich beschrieben in Taylor, Global Pop, S. 2 f.; White, „Introduction“, S. 2 f.; Aubert, The Music of the Other, S. 58; Simon Frith, „The Discourse of World Music“, in: Georgina Born und David Hesmondhalgh (Hrsg.), Western music and Its Others: Difference, Representation, and Appropriation in Music, Berkeley 2000, S. 305-321, hier S. 305 ff.; Broughton et al. (Hrsg.), Weltmusik, XII f.; Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, S. 26 f.

9

Die kuriose wie missverständliche Definitionsgeschichte der world music wird eindrucksvoll durch die Geschichte der Verleihung des amerikanischen Grammy Awards in der Kategorie „World Music“ verdeutlicht: 1959 als „Best Performance Folk Music“ eingeführt, wurde diese Kategorie 1970 in „Best Ethnic or Traditonal Recording“, 1986 in „Best Traditional Folk Recording“ und schließlich 1992 in „Best World Music Album“ umbenannt. Im Laufe der fünf Jahrzehnte wurden weitere Kategorien wie „Best Latin Recording“ (1975), „Best Traditional Blues Recording“ (1982), „Best Tropical Latin Performance“, „Best Mexican Performance“, „Best Latin Pop Performance“ (alle 1983), „Best Reggae Recording“ (1984), „Best Polka Recording“ (1986) und „Best New-Age Recording“ (1986) als eigenständige Kategorien eingeführt, vgl. Taylor, Global Pop, S. 225-230.

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lischen oder geographischen Parameter und ist eine Erfindung der Musikindustrie. Wie das Beispiel des Ska im vorangegangenen Kapitel gezeigt hat, benötigten karibische Migranten in Großbritannien diesen Überbegriff nicht.10 World music kann demnach auch als eine spezifisch für westliche Hörer eingeführte Kategorie bezeichnet werden. Es soll im Folgenden erörtert werden, wie die Einführung der Kategorie world music die Traditionsmuster verschiedener Musikkulturen sowohl ideologisch als auch musikalisch veränderte und inwiefern hierfür die Prozesse der Globalisierung verantwortlich sind. Bob White bezeichnet die Einführung des Begriffes world music als unmittelbare Konsequenz des aufkommenden Zeitalters der Globalisierung. Parallelen sieht er vor allem in der Ambiguität der Begriffe und in ihrer Funktion als Schirmkategorie: Beide Begriffe versuchen, neue gesellschaftliche Formen und Prozesse unter einem Schlagwort zu vereinen.11 Anhand musikalischer Fallbeispiele soll nun dargestellt werden, wie sich einzelne Musiker12 mit der Kategorie world music künstlerisch auseinandergesetzt haben und welche Rolle die Prozesse der Globalisierung dabei spielten.

1 W ORLD MUSIC : K ONSTRUIERTE T RADITIONEN EINER GLOBALEN W ELT ? Die Kategorie world music hat sich Ende des 20. Jahrhunderts zu einem ökonomisch relevanten und stark wachsenden Marktsegment entwickelt. Bereits 1991 war der Marktanteil der world music ungefähr so groß wie der der Bereiche Klassik oder Jazz.13 Waren in den Jahrzehnten zuvor musika-

10 Die Nichtigkeit des Begriffs world music in der indischen Diaspora wird ferner von einer bemerkenswerten Studie belegt, vgl. David Murphy, Where does the World Music come from? Globalization, Afropop and the Question of Cultural Identity, in: Ian Biddle und Vanessa Knights (Hrsg.), Music, National Identity and the Politics of Location, Ashgate 2007, S. 39-64, hier S. 57 ff. 11 White, „Introduction“, S. 2-5. 12 Die musikalischen Fallbeispiele beschränken sich auf Künstler aus den USA und Westafrika. 13 Sie galt zudem Ende des 20. Jahrhunderts als die musikalische Kategorie mit der stärksten Wachstumsrate. Grund hierfür war unter anderem die durch die Um-

IV T RADITIONEN

DER WORLD MUSIC

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lische Aufnahmen aus dem Kongo, Mali oder beispielsweise Kuba für die europäische und amerikanische Bevölkerung nur schwer zu beschaffen, wurde dieses Defizit durch zahllose Neuveröffentlichungen, aber auch Wiederveröffentlichungen älterer Aufnahmen außereuropäischer Musik behoben.14 Dieser umfangreiche Zugang bot der populären Musikszene neue musikalische Quellen, welche zu unterschiedlichen musikalischen Resultaten führten. Bereits einige Jahre vor der Etablierung der Kategorie world music fügten Musiker wie David Byrne, Ginger Baker, Johnny Clegg, Paul Simon oder Peter Gabriel ihrem musikalischen Repertoire nicht westlich anmutende Stilelemente hinzu. Entscheidend hierbei ist, dass sich jene Musiker parallel zu ihren musikalischen Anlehnungen – welche am Beispiel der Musik Paul Simons noch näher untersucht werden sollen – auch im Bereich der Vermarktung und Popularisierung außereuropäischer Musik betätigten. Peter Gabriel gründete beispielsweise 1982 das Festival World of Music Arts and Dance (kurz WOMAD)15 und parallel dazu die Plattenfirma Real World. Beide Institutionen verfolgten die Intention, außereuropäischen Musikern technische und logistische Möglichkeiten nach westlichem Standard zur Verfügung zu stellen, um ihre Musik aufzunehmen, zu vertreiben und auf dem Festival auch einem Livepublikum darbieten zu können.16 Johnny Clegg, ein in seiner Kindheit aus England nach Südafrika emigrierter Musiker und Anthropologe, gründete bereits 1976 mit dem Zulumusiker

stellung von Vinyl auf Compact Disc steigende Anzahl an Tonträgern; parallel hierzu entstanden zu jener Zeit für die world music erfolgreiche globale Marketingstrategien, vgl. Bob W. White, „The Promise of World Music“, in: ders. (Hrsg.), Music and Globalization, S. 189-217, hier S. 190 f. Die Segmente Jazz, Klassik und world music bewegen sich allerdings alle nur um ungefähr 3 % des Marktanteils an Tonträgern, vgl. Taylor, Global Pop, S. 1. 14 Vgl. Broughton et al. (Hrsg.), Weltmusik, XIII. 15 Für weitere Informationen zum WOMAD-Festival siehe Taylor, Global Pop; Peter Jowers, Beating new Tracks: WOMAD and the British World Music Movement, in: Simon Miller (Hrsg.), The Last Post: Music after Modernism, Manchester 1993, S. 52-87; Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S. 119 f. 16 Vgl. http://www.realworldrecords.com/about-us, Zugriff am 16.05.2013.

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Sipho Mchunu die Band Juluka, welche einen hybriden Musikstil aus Zulumusik und westlichen Stilelementen kreierte.17 Die Bestrebungen der hier genannten Musiker wurden von verschiedener Seite stark kritisiert. Musikethnologen und Musikkritiker standen dem Gebrauch nicht westlicher Musikformen und Stilelemente von westlichen Künstlern aus kommerziellen wie auch aus musikästhetischen Gründen sehr kritisch gegenüber. Sie warfen Peter Gabriel und Paul Simon Kulturimperialismus vor18 und bezeichneten die musikalischen Ergebnisse dieser interkulturellen Kollaborationen als eine Gattung, die, ohne Verortung innerhalb einer spezifischen Tradition, jegliche kulturelle Ästhetik der Unterhaltungskunst opfere.19 Selbst Johnny Clegg, der im politischen Spannungsfeld des Apartheidregimes Südafrikas mit seiner hybriden Musikform ein politisches Statement für ein kulturelles Miteinander setzte, wurde beschuldigt, den afrikanischen Kontinent musikalisch zu „plündern“20. Die Verfechter einer Heterogenisierung der Kulturen hingegen sehen, wie schon mehrfach erwähnt, in der globalen Verbreitung kulturindustrieller Erzeugnisse keine Gefahr für die kulturelle Vielfalt.21 Enttraditionalisierung spielt in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle. Wie erläutert, wird Enttraditionalisierung als ein Prozess beschrieben, welcher lokale Traditionen unter Einfluss globaler Vernetzungen in Kontakt mit anderen Traditionen und alternativen Lebensformen bringt. Giddens definiert hieran seinen Begriff der posttraditionalen Gesellschaft als erste globale Gesell-

17 Für weitere Informationen zu Johnny Clegg vgl. Taylor, Global Pop, S. 174-183. 18 Cultural imperialism wird, wie bereits ausgeführt, von Roger Wallis und Krister Malm als dritte der vier Stufen des interkulturellen musikalischen Austausches beschrieben: Cultural imperialism bedeutet demnach, dass sämtliche finanziellen Einnahmen und Verwertungsrechte der Musik in den Händen der westlichen Plattenfirmen und des westlichen Musikers bleiben, vgl. Malm, Local, „National and International Musics“, S. 219 f. 19 Vgl. Georgina Born und David Hesmondhalgh, „Introduction: On Difference, Representation, and Appropriation in Music“, in: dies. (Hrsg.), Western music and Its Others, S. 1-58; Baumann, Musik im interkulturellen Kontext. 20 Paul Oldfield, „Review of Johnny Clegg and Savuka Cruel, Crazy Beautiful World“, in: Melody Maker 66 (1990), zit. n. Taylor, Global Pop, S. 178. 21 Vgl. Robinson et al., Music at the Margins, S. 236.

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DER WORLD MUSIC

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schaft, da sich durch den Verlust der „ursprünglichen“ Tradition neue, globale und freier bestimmbare Identitäten herausbilden.22 Kulturelle Symbole werden hier dafür benutzt, den jeweiligen Identitäten Ausdruck zu verleihen. Giddens verweist ferner auf die Tatsache, dass Traditionen per se gesellschaftliche Erfindungen sind und zur Ritualisierung und Legitimation des Machtanspruchs der herrschenden Klasse dienen.23 Traditionen sind daher keinesfalls als starr zu begreifen und im Zuge der globalen gesellschaftlichen Umgestaltungen variabel veränderbar; das gilt sowohl für die Auflösung lokaler Traditionen als auch im Prozess der Glokalisierung für deren Stärkung. Glokalisierung beschreibt, wie ebenfalls schon mehrfach erwähnt, auf allen gesellschaftlichen Ebenen das Wechselspiel und die Verflechtung lokaler und globaler Einflüsse. Die Wechselwirkungen der Globalisierung führen hier zu einer Veränderung der lokalen Wahrnehmung und verstärken in gewisser Weise auch den „Heimatgedanken“.24 Anhand musikalischer Fallbeispiele aus dem Œuvre Paul Simons soll nun zunächst der Frage nachgegangen werden, inwiefern unter Einfluss der Prozesse der Globalisierung eine Art globale Musiktradition konstruiert wird und ob dadurch das Zeitalter der Globalisierung sichtbar und musikalisch erfahrbar wird. Als weiterer Schritt soll dann beleuchtet werden, welche Auswirkungen die Bestrebungen der oben genannten Musiker auf außereuropäische Musikkulturen und auf die Entstehung der Kategorie world music hatten und ob in diesem Zusammenhang möglicherweise hier eine „neue“ Tradition der world music entstanden ist. 1.1 Paul Simon Das 1972 erschienene Solodebütalbum von Paul Simon wird mit dem Song „Mother and Child Reunion“ eröffnet. Hierbei handelt es sich um einen in der jamaikanischen Musiktradition verankerten Rocksteadysong. Simon nahm ihn 1971 vorrangig mit jamaikanischen Musikern in den Dynamic Studios in Kingston/Jamaika auf. „Mother and Child Reunion“ weist alle musikalischen Parameter eines Rocksteadysongs auf, wie sie bereits im

22 Beck et al., Reflexive Modernisierung, S. 177. 23 Vgl. Giddens, Entfesselte Welt, S. 55-58. 24 Vgl. Robertson, „Glokalisierung“, S. 208; ders., Globalization, S. 161; Hall, „Das Lokale und das Globale“, S. 58-61.

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vorherigen Kapitel beschrieben wurden: Die Aufnahme des Songs ist ungefähr drei Minuten lang und die harmonische Grundstruktur basiert auf der ersten, vierten und fünften Stufe von A-Dur. Die Basslinie ist ein aus der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik bekannter Walking-Bass und umspielt die jeweilige Harmonie:

Abb. 7: „Mother and Child Reunion“ – Paul Simon: Basslinie

Auch das Schlagzeugspiel mit Betonungen auf der zweiten und vierten Zählzeit des Viervierteltaktes entspricht dem rhythmischen Grundmuster des Rocksteady. Der für die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik signifikante Offbeat wird auf die Nachschläge der ersten und dritten Zählzeit reduziert.26 Das Klangbild wird ferner durch eine zweite Gitarre, welche eine Melodie neben der Gesangslinie spielt, und BackgroundGesang ergänzt. Bei der Abmischung des Songs fällt im Unterschied zu jamaikanischen Musikgruppen auf, dass nicht der Bass und der Offbeat dynamisch im Vordergrund stehen, sondern der diatonische Gesang.27 Paul Simon veränderte hier den Rocksteadysound, indem er Basslauf und Offbeat eine niedrigere klangliche Präsenz zukommen ließ. Der Text des Songs beschreibt ein wenig verklausuliert die Zusammenkunft einer Mutter

25 Transkribiert aus Paul Simon, Paul Simon, Columbia Records, CD 30750, 1972. 26 Diese Reduktion kennzeichnet auch den Übergang vom Rocksteady hin zum Reggae. Beispielsweise wird der Offbeat bereits sowohl bei dem in Kapitel III besprochenen Song „Young, gifted and black“ von Bob & Marcia als auch bei Bob-Marley-Liedern Anfang der 1970er Jahre (ein Beispiel wäre der Song „Try me“) auf den Nachschlag der ersten und dritten Zählzeit beschränkt. 27 Als Gegenbeispiele seien hier die ebenfalls in Kapitel III vorgestellten Rocksteadysongs „007 (Shanty Town)“ von Desmond Dekker und wiederum „Young, gifted and black“ von Bob & Marcia genannt, in denen Bass und Offbeat deutlich hervorgehoben sind.

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mit ihrem Kind kurz vor ihrem Tod und weist entsprechend einen narrativen Charakter auf.28 Die Aufnahme von „Mother and Child Reunion“ stellt den Beginn von Simons Interesse an außereuropäischer Musik dar. Wie im vorherigen Kapitel besprochen, weist die jamaikanische Musikkultur musikalische Parameter auf, die grundsätzlich der allgemeinen afroamerikanischen Musikkultur entsprechen und daher auch dem US-Amerikaner Paul Simon nicht unbekannt waren. Trotzdem wurden zu jener Zeit über die Grenzen Jamaikas hinaus bekannte Rocksteadysongs wie zum Beispiel Desmond Dekkers „Israelites“ aufgrund des markanten Basslaufs und des Offbeats als „exotisch“ angesehen.29 Mit dem internationalen Erfolg des Songs „Mother and Child Reunion“30 griff Simon in die Weiterentwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik ein und machte diese für ein westliches Publikum salonfähiger. Roger Wallis und Krister Malm würden die Adaption Paul Simons wohl als cultural exchange bezeichnen, da Simon hier kompositorisch seinen persönlichen musikalischen Geschmack mit den Traditionen der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik verbindet. Wie in Kapitel III beschrieben, hat sich diese mit Aufkommen des Reggae wieder in eine andere, mehr den afrikanischen musikalischen Einfluss auf Jamaika betonende Richtung entwickelt. Simon griff den Rocksteady aus der musikalischen Entwicklung heraus. Dadurch kann man hier, ähnlich wie bei der adaptiven Musik der Skinheads, von einer Enttraditionalisierung oder Entbettung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik sprechen, da diese nun, losgelöst von ihrer ursprünglichen Kontextualisierung, neue globale Identifikationsmuster bot. Die Adaption einer nicht westlichen Musikform erweiterte hier nicht nur das Repertoire der westli-

28 Paul Simon adaptierte Überlieferungen zufolge den Titel des Songs aus der Speisekarte eines chinesischen Restaurants. Der Songs soll zudem den Tod seines Lieblingshundes thematisieren, vgl. http://www.snopes.com/music/songs/ mother.asp, Zugriff am 16.05.2013. 29 Vgl. Davis und Simon, Reggae International, S. 168. Wie in Kapitel III beschrieben, erfreute sich der Song „Israelites“ aus diesem Grunde einer großen Beliebtheit in der englischen Subkultur. 30 Höchste Chartplatzierung des Songs war im Februar 1972 Platz vier der amerikanischen Billboard Charts, vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Mother_and_ Child_Reunion, Zugriff am 16.05.2013.

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chen Unterhaltungsmusiker, sondern führte auch zu Veränderungen der entsprechenden adaptierten Musikform. Die kulturellen Wechselwirkungen einer global operierenden Musikindustrie sind hieran nachvollziehbar. Noch deutlicher lassen sich Prozesse der kulturellen Globalisierung an Paul Simons 1986 erschienenem Album Graceland aufzeigen. Es beinhaltet elf Songs, auf denen verschiedene südafrikanische Musikstile von Paul Simon adaptiert werden.31 Die politische Ambiguität des Albums führte zunächst zu einer mitunter widersprüchlichen Debatte über die Intention Simons. So begrüßten sowohl das damalige südafrikanische Apartheidregime als auch die Antiapartheidbewegung Simons Einsatz für die südafrikanische Kultur. Einige Musikkritiker und Musiker bemängelten hingegen den neutralen Umgang mit dem musikalischen Material im Spannungsfeld der damaligen politischen Situation in Südafrika.32 Simon verzichtete bei der Gestaltung des Plattencovers und auch im Booklettext von Graceland auf jedwede politische Stellungnahme und verwies lediglich auf seine Affinität zur südafrikanischen Musikkultur.33 Paul Simons Adaptionen der südafri-

31 Simons Interesse an südafrikanischer Musikkultur wurde nach eigenen Angaben durch ein südafrikanisches Album mit dem Namen Gumboots: Accordion Jive Hits geweckt. Diese Zusammenstellung von Mbaqanga- und Kwelasongs veranlasste ihn dazu, sich von einer südafrikanischen Plattenfirma weitere zwanzig Alben unterschiedlicher südafrikanischer Musiken schicken zu lassen, vgl. Paul Simon, Liner notes to Graceland, in: Booklet zu ders., Graceland [1984], Warner Music Group, 8122-78904-2, 2004, S. 3 f. 32 Vgl. Charles Hamm, Putting Popular Music in its Place, Cambridge 1995, S. 168 f. Simon ignorierte sogar einen von der UNESCO aufgestellten kulturellen Boykott gegen das Apartheidregime. 33 Auf einem Konzert 1987 in Harare/Zimbabwe ließ Simon allerdings mit Miriam Makeeba und Hugh Masekela regimekritische Musiker Südafrikas auftreten. Somit stellte er sich trotz der politisch neutralen Gestaltung des Albums durch den gemeinsamen Auftritt in Zimbabwe an die Seite der Apartheidkritiker. Unter anderem wurde auf dem Konzert der von Hugh Masekela geschriebene Song „Bring him back home“ gespielt, welcher die Freilassung des Bürgerrechtlers Nelson Mandela fordert. Zur politischen Diskussion über Paul Simons Graceland-Album siehe auch Louise Meintjes, „Paul Simon’s Graceland, South Africa, and the Mediation of Musical Meaning“, in: Ethnomusicology. Journal

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kanischen Musikstile sind ungeachtet dieser politischen Debatte vieldeutige musikalische Beispiele dafür, wie man künstlerische interkulturelle Synthesen verschiedenartig umsetzen kann; für einzelne Stücke des Albums verwendet Simon unterschiedlichste Herangehensweisen. Beispielsweise übernimmt er bei einigen Songs direkt südafrikanische Musikstile und kollaboriert mit südafrikanischen Künstlern, oder aber er verbindet südafrikanische Musikstile mit eigenen Ideen. Die musikalischen Ergebnisse auf Graceland hatten sowohl weitreichende Folgen für die globale Unterhaltungsmusik als auch besonderen Einfluss auf die Pflege und Verbreitung südafrikanischer Musiktraditionen. Arjun Appadurais vorgestelltes Modell der scapes wird hieran nachvollziehbar: Die im Zeitalter der Globalisierung frei wählbaren Identitäten verteilen sich auf die von Appadurai definierten unterschiedlichen kulturellen Landschaften. Die Produkte der Musikindustrie können aus verschiedenen Blickwinkeln interpretiert werden und verlieren somit ihren eindimensionalen Charakter. Auch die Unterscheidung zwischen westlichen und nicht westlichen Stilmomenten ist in der Globalen Kulturindustrie möglicherweise obsolet geworden. Es sollen nun exemplarisch zwei Songs aus dem Album Graceland näher analysiert und im kulturellen Kontext eines Zeitalters der Globalisierung verortet werden. Der Song „Homeless“ ist eine kompositorische Zusammenarbeit zwischen Paul Simon und dem südafrikanischen A-cappella-Chor Ladysmith Black Mambazo, welcher sein Repertoire hauptsächlich aus dem Genre der Minenwanderarbeitersongs, dem Isicathamiya, gestaltet. Isicathamiya ist ein mehrstimmiger Gesangsstil, welcher aus der in den 1940er Jahren entstandenen Musikform Mbube hervorging. Dieser wurde wesentlich geprägt von afroamerikanischer Musik, die in Südafrika durch das Radio verbreitet wurde.34 Die frühe Beeinflussung südafrikanischer Musik durch afroamerikanische Musik wurde von einigen Wissenschaftlern auch auf die Musikgruppen The American Christy Minstrels, welche bereits 1865 Johannesburg besuchten, und die Jubilee Singers, die ebenfalls Ende des 19. Jahr-

of the Society for Ethnomusicology 34/1 (1990), S. 37-73; Charles Keil und Steven Feld, Music Grooves: Essays and Dialogues, Chicago 1994, S. 238-246. 34 So erlangten auch Mbube und Isicathamiya ab den 1960er Jahren vor allem durch Radio Zulu Bekanntheit.

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hunderts mehrfach in Kapstadt und anderen Regionen Südafrikas auftraten, zurückgeführt.35 Der A-cappella-Song „Homeless“ dauert nun circa vier Minuten. Er steht in Fis-Dur und bewegt sich harmonisch nur auf dessen erster, vierter und fünfter Stufe. Strukturell baut sich der Song folgendermaßen auf: Nach einer Einleitung im Call-and-response-Schema36 des Chores und dessen Vorsänger Joseph Shabalala in der Sprache der Zulu wiederholt der Chor den englischen Refrain „Homeless, Homeless, Moonlight sleeping on a midnight lake“37 viermal, um anschließend den Refrain in der Sprache der Zulu zu singen. Inhaltlich geht es in der Zulueinleitung um die schlechte soziale und gesundheitliche Lebenssituation der südafrikanischen Minenarbeiter. Anschließend folgt eine Strophe, gesungen vom Chor in englischer Sprache, welche diese Thematik weiter vertieft, und erneut der Refrain. Im anschließenden Zwischenstück singen Paul Simon und der Chor in einer Call-and-response-Form: Paul Simon singt „somebody say“ und der Chor antwortet abwechselnd auf Zulu „ih hih hih ih hih ih“ oder in englischer Sprache „hello hello hello“. Darauf folgend singt Paul Simon „somebody cry“ und der Chor antwortet „why why why“.38 Nach diesem Zwischenstück folgt erneut eine vom Chor auf Zulu vorgetragene Strophe und eine

35 Vgl. Charles Hamm, Afro-American Music, South Africa and Apartheid, New York 1988, S. 2; Gerhard Kubik, Africa and the Blues, Jackson 1999, S. 161. Für weitere Informationen zur Geschichte und Entstehung des Mbube und Isicathamiya vgl. Veit Erlmann, Music, Modernity and the Global Imagination: South Africa and the West, Oxford 1999, S. 200 ff.; Kivnick, Where is the way?, S. 119-138; Veit Erlmann, Migration and Performance: Zulu Migrant Workers’ Isicathamiya Performance in South Africa, 1890-1950, in: Ethnomusicology. Journal of the Society for Ethnomusicology 34/1 (1990), S. 190-220; Rob Allingham, „Von der Pennywhistle bis zum Bubblegum“, in: Broughton et al. (Hrsg.), Weltmusik, S. 429-444, hier S. 436 ff. 36 „Call and Response“ hat in südafrikanischen Musikformen mehrere semantische Ebenen und stellt dadurch den narrativen Charakter des jeweiligen Musikstückes besonders heraus, vgl. Barbara Titus, „,Walking Like a Crab‘: Analyzing Maskanda Music in Post-Apartheid South Africa“, in: Ethnomusicology. Journal of the Society for Ethnomusicology 57/2 (2013), S. 286-310. 37 Transkribiert aus Simon, Graceland. 38 Transkribiert aus ebd.

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gesungene Signatur des Chores. Das Zwischenstück stammt aus einem älteren Hochzeitssong, der bereits von Ladysmith Black Mambazo veröffentlicht wurde und hier nochmals auf Simons Anweisung hin verwendet wurde.39 Alle von Ladysmith Black Mambazo gesungenen Phrasen werden von den jeweiligen Mitgliedern des Chores lautmalerisch mit Schreien oder Zischgeräuschen untermalt. „Homeless“ ist der Song auf Graceland, welcher den größten kompositorisch kollaborativen Prozess beinhaltet. Simon beschreibt diesen im Booklet sehr detailliert.40 Der musikalische Einfluss Simons wird hier auf ein Minimum reduziert. Lediglich die Textzeile „Homeless, Homeless, Moonlight, sleeping on a midnight lake“ und die Idee der Einflechtung des Hochzeitssongs stammen von ihm. „Homeless“ ist musikalisch betrachtet ein Isicathamiyasong und nur textlich von Simon mit beeinflusst. Durch die Zusammenarbeit mit Paul Simon wurde der Chor Ladysmith Black Mambazo über die südafrikanischen Landesgrenzen hinaus bekannt und kommerziell erfolgreich.41 In den Jahren nach Graceland unterstützte Simon den Chor weiter und produzierte dessen Album Shaka Zulu, welches 1988 den amerikanischen Grammy in der Kategorie „Best Traditional Folk Recording“ gewann. Simon nahm hier auf einer ökonomischen Ebene Einfluss auf die Entwicklung des Chores. Die Kollaboration eines westlichen Künstlers mit einem nicht westlichen wurde ab diesem Zeitpunkt eine verbreite Marketingstrategie der World-music-Szene.42 Nach Roger Wallis und Krister Malm ist dieser Einfluss als Form des cultural imperialism zu be-

39 Vgl. Simon, „Liner notes to Graceland“, S. 4. 40 „Homeless“ ist auch einer der wenigen Songs des Albums, an dem Paul Simon nicht die alleinigen Songrechte besitzt: Simon nennt im Booklet mit Joseph Shabalala einen Koautor, vgl. ebd. 41 In Südafrika gehörte er bereits vorher zu einer der beliebtesten Musikgruppen des Landes, vgl. Taylor, Global Pop, S. 71. 1973 brachten Ladysmith Black Mambazo ihr erstes Album Amabutho heraus. Dieses war das erste afrikanische Album, welches den Status einer „Goldenen Schallplatte“ erwarb, also mehr als 25.000 Mal verkauft wurde, vgl. Allingham, „Von der Pennywhistle bis zum Bubblegum“, S. 438. 42 Für weitere Beispiele dazu siehe Timothy D. Taylor, Beyond Exoticism: Western Music and the World, London 2007, S. 127.

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schreiben, da sich der Chor dadurch in die ökonomische Abhängigkeit der global operierenden Musikindustrie begab. Die musikalische Veränderung eines südafrikanischen Musikstils durch Paul Simon wird anhand der Analyse des Songs „You can call me Al“ deutlich. Hierbei handelt es sich um eine Adaption und Vermischung verschiedener südafrikanischer Musikstile. Die Grundrhythmik sowie die Instrumentation des Songs gleichen der Besetzung einer Mbaqangagruppe.43 Signifikant für den Mbaqanga sind ein auf jeder Zählzeit durch einen Trommelschlag betonter Viervierteltakt und vordergründige Gitarren- und Bassmelodielinien, welche den Gesang ersetzen. Die Virtuosität eines Mbaqangasongs besteht aus einer durch verschiedene Trommeln erzeugten Polyrhythmik.44 Simon reduziert im Song „You can call me Al“ diese Polyrhythmik auf ein Minimum und ergänzt zudem eine vordergründige Gesangslinie. Die Gitarrenlinie wird mehr in den Hintergrund gesetzt und durch eine von einem Synthesizer gespielte Harmoniefolge übertönt. Hierbei handelt es sich um ein sich stetig wiederholendes einfaches Kadenzschema: F-Dur, C-Dur, C-Dur, B-Dur, F-Dur, C-Dur, C-Dur, F-Dur. Die Basslinie bleibt neben der Gesangslinie im Vordergrund, hat aber eher harmonische Aufgaben. Der Song dauert ungefähr fünf Minuten und ist nach der Liedform a-b-a-b-c-a-b aufgebaut. Der Zwischenteil c beinhaltet zwei instrumentale Soli: Das erste Solo wird von einer Pennywhistle gespielt, einer ursprünglich aus Irland stammenden Flöte mit sechs Löchern.45 Sie wurde im Zuge der Kolonisation nach Südafrika überführt und dort Hauptmelodieinstrument der sich in den 1950er Jahren herausbildenden Musikform Kwela.46 Die Pennywhistle-Melodie wird hier im Vergleich

43 Mbaqanga ist ein Musikstil, welcher in den 1960er Jahren in Südafrika entstand und sich aus dem Jive ableitete. Mbaqanga ist kommerziell sehr erfolgreich und orientiert sich stark an afroamerikanischen Musikformen, vgl. Kubik, Zum Verstehen afrikanischer Musik, S. 319 f.; Allingham, „Von der Pennywhistle bis zum Bubblegum“, S. 435. 44 Beispiele hierfür bieten auch Aufnahmen der Bhundu Boys. 45 Die Pennywhistle wurde in den 1950er Jahren durch die Beliebtheit des Musikstils Kwela zum Massenimport der deutschen Firma Hohner, vgl. Kubik, Zum Verstehen afrikanischer Musik, S. 313. 46 Der Musikstil Kwela ist eine transkulturelle Musikform, welche unter Einfluss afroamerikanischer und südafrikanischer Musikstile, massenmedialer Erzeug-

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zum Kwela sehr „gerade“ intoniert und verzichtet auf für eine Kwelamelodie charakteristische Glissandi und weitere lautmalerische Effekte, die auf der Pennywhistle durch verschiedene Anblastechniken erzielt werden können.47 Das andere Solo spielt ein sechssaitiger Bass und ist durch spezielle Anschlagtechniken und vokale Effekte dem Mbaqanga nachempfunden.48 Der Text des Songs beinhaltet eine triviale Beschreibung eines Mannes in der Midlifecrisis, wobei er wohl auch autobiographische Züge trägt.49 Durch den Song „You can call me Al“ griff Paul Simon musikalisch in die Rezeptions- und Entwicklungsgeschichte südafrikanischer Musikkulturen ein. Er kreierte gewissermaßen ein neues Musikgenre, indem er verschiedene Elemente südafrikanischer Musikstile miteinander verband. Simon stellte hier eine Form der transculturation auf einer lokalen Ebene her. Durch die vordergründige Gesangslinie, das begradigte Pennywhistle-Solo und den Einsatz von Synthesizern flossen westliche Einflüsse in die Komposition mit ein.50 Der Song wurde in Südafrika von verschiedenen ethni-

nisse wie Filmen oder Fernsehen, musikindustrieller Einflüsse sowie subkultureller Identifikationen entstand. Die weitere Entwicklung der Musik Südafrikas hin zum Jive und Mbaqanga lässt sich im Wesentlichen auf den Kwela zurückführen. Die Geschichte und Entwicklung des Kwela stellt gewissermaßen das Pendant zur Musikform Ska auf Jamaika dar und könnte auch als weiteres Fallbeispiel der Genese und Veränderung eines Musikstils im Zeitalter der Globalisierung herangezogen werden. Zur Geschichte und weiteren Entwicklung des Kwela, vgl. ebd., S. 312-321; Allingham, „Von der Pennywhistle bis zum Bubblegum“, S. 433 ff.; Kubik, Africa and the Blues, S. 161-185. 47 Vgl. ders., Zum Verstehen afrikanischer Musik, S. 318. 48 Vgl. Meintjes, „Paul Simon’s Graceland, South Africa, and the Mediation of Musical Meaning“, S. 44. 49 Vgl. http://www.soundonsound.com/sos/sep08/articles/classictracks_0908.htm, Zugriff am 16.05.2013. 50 Bemerkenswert ist auch das zu dem Song „You can call me Al“ produzierte Musikvideo. Simon spielt hier zusammen mit dem US-amerikanischen Komödienschauspieler Chevy Chase eine Art Musikzwiegespräch, in dem Chase die Textzeilen von Paul Simon im Playback singt und Simon die jeweiligen Soli und weitere Instrumente. Das Musikvideo hat einen humoristischen Charakter und löst somit mögliche ideologische Spannungen auf.

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schen und politischen Gruppen positiv bewertet. Sowohl das Apartheidregime als auch die Antiapartheidbewegung begrüßten den Einsatz Paul Simons, weil er dadurch südafrikanische Musikkulturen global bekannt machte. Während aber die Anhänger der Apartheid die Begradigung des Pennywhistle-Spiels befürworteten, sah die „schwarze“ Bevölkerung in der Bezugnahme auf musikalische Zulutraditionen eine Wertschätzung ihrer Kultur.51 Die drei analysierten Fallbeispiele aus dem Repertoire Paul Simons stellen verschiedene Aspekte einer interkulturellen musikalischen Verarbeitung in einen globalen Kontext. Zunächst aber muss man konstatieren, dass alle von Simon adaptierten Musikstile – Rocksteady, Isicathamiya, Kwela und Mbaqanga – bereits Ergebnisse einer kolonisationsbedingten Akkulturation sind. In allen drei Fällen haben sich westliche musikalische Parameter mit indigenen Instrumenten, Rhythmen oder anderen Stilelementen verbunden. Simon näherte sich diesen Musikstilen mit unterschiedlichem Fokus. Bei dem Song „Mother and Child Reunion“ übernahm er sämtliche musikalischen Parameter des Rocksteady. Er produzierte den Song zudem auf Jamaika mit jamaikanischen Musikern und einem jamaikanischen Produzenten.52 Simon adaptierte den Rocksteady aus musikalischer Wertschätzung und aus kommerziellen Interessen. Man könnte hier wohl von einer Form des cultural exchange sprechen. Bei dem Beispiel „Homeless“ liegt ebenfalls kaum eine musikalische Veränderung des Musikgenres vor, auch hierbei handelt es sich um eine musikalische Adaption auf der Ebene eines cultural exchange. Simons weiteres Bemühen lag nun in der globalen Verbreitung des Isicathamiya und der Gruppe Ladysmith Black Mambazo. Er unterstützte aktiv die Vermarktung der Gruppe und ließ diese auch (anders als bei „Mother and Child Reunion“) am kommerziellen Erfolg teilhaben. Das Beispiel „You can call me Al“ zeigt eine dritte Variante der musikalischen Adaption auf. Simon entwickelte hier aus verschiedenen südafrikanischen Musikgenres ein neues, präsentierte es von vornherein einem globalen Publikum und griff direkt in die Entwicklungsgeschichte der südafrika-

51 Vgl. Meintjes, „Paul Simon’s Graceland, South Africa, and the Mediation of Musical Meaning“, S. 55-60. 52 Als Produzent des Songs fungierte Leslie Kong, welcher schon in gleicher Funktion für Toots and the Maytals, Bob Marley und Desmond Dekker tätig war.

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nischen Musikformen ein. Dieses Eingreifen führte zu einer Neubestimmung der lokalen Kultur, da sowohl vom südafrikanischen Staat als auch von der Plattenfirma Werbekampagnen produziert wurden, die darauf abzielten, Paul Simons Album Graceland (und im Besonderen den Song „You can call me Al“ als Singleauskopplung) als neue südafrikanische „Nationalmusik“53, bestehend aus „traditionellen“ und „modernen“ Elementen, global als auch lokal zu vermarkten.54 Im Kontext einer kulturellen Globalisierung lässt sich dieses Phänomen auf einer ökonomischen Ebene wohl am besten mit dem Prozess der Glokalisierung beschreiben. Es zeigt, wie in der Verbindung mit dem internationalen Markt und einem international bekannten Künstler lokale Traditionen neu formuliert werden können. Auf musikalischer Ebene lässt sich an den vorgestellten Beispielen der Prozess der Enttraditionalisierung aufzeigen. Durch den Einfluss eines externen Künstlers mit Zugang zu lokalen Musiktraditionen werden diese verändert und sowohl global als auch lokal neu definiert. Diese beiden Prozesse der Globalisierung sind hier eng miteinander verbunden und unterscheiden sich gewissermaßen nur durch verschiedene ökonomische oder musikalische Perspektiven. Die vorgestellten musikalischen Beispiele aus dem Œuvre Paul Simons stellen einen interkulturellen Austausch dar, wie es ihn bereits seit der Kolonisation gegeben hat. Neu ist nun, dass ein westlicher Künstler nicht westliche Musikstile zum eigenen kommerziellen Vorteil nutzt, dabei gleichzeitig einem globalen Publikum vorstellt und dadurch zur Veränderung der lokalen Musiktradition und dessen Vermarktung beiträgt.55 Simon als global agierender Künstler konstruiert hier gewissermaßen eine lokale Musiktradition für ein globales Publikum. Wie am Beispiel Graceland beschrieben, kann dieses musikalische Produkt sogar als nationales Identitätsmerkmal fungieren. Simon bedient hier die drei von Wallis und Malm formulierten kulturellen Formen des cultural exchange, cultural imperialism und der transculturation, da er sowohl mit Hilfe des ökonomischen Apparats einer global operierenden Musikindustrie die südafrikanische Musikkultur veränderte als auch eine neue musikalische Kultur entstehen ließ. Paul Simon hat die späteren Entwicklungen und Vermarktungsstrategien

53 Bemerkenswerterweise gilt das ganz im Gegensatz zu der Musik Johnny Cleggs. 54 Vgl. ebd., S. 55 f. 55 Kritiker der Kulturindustrie nennen solch einen Vorgang auch selling out.

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der Kategorie world music vorweggenommen, diese sogar möglicherweise erfunden.56 Für Elijah Wald steht das Album Graceland retrospektiv für den Beginn des globalen World-music-Booms. Trotz früherer Versuche musikalischer interkultureller Kollaborationen erschien Graceland zu einer Zeit, als die internationale Musikindustrie und auch eine breite globale Hörerschaft großes Interesse an nicht westlicher Musik zeigten.57 Der Männerchor Ladysmith Black Mambazo als Interpret des Isicathamiya und auch die hybride Populärmusikform aus Kwela und Mbaqanga wurden nach ihrem durch Graceland errungenen internationalen Bekanntheitsgrad unter der Kategorie world music als südafrikanische „Nationalmusik“ vermarktet. Die 1987 von der Musikindustrie eingeführte Kategorie world music bot fortan jenen Musikstilen eine globale Vermarktungsplattform. Ferner setzte die Musikindustrie in den folgenden Jahren vermehrt auf die Produktion von sogenannten local repertoires, einer musikalischen Variante der Glokalisierung: Nicht westlichen Musikern wurde seitens der Musikindustrie hier die Chance gegeben, ihre „nationalen“ musikalischen Erzeugnisse einem globalen Publikum darzubieten.58 Die Musikindustrie produzierte und vermarktete mit diesem Konzept einen hohen Anteil lokaler (und auch subkultureller) Musikstile, welche zumeist unter der Schirmkategorie world music vertrieben wurden. Eine Verbreitungsplattform bot hierfür auch der Musiksender MTV, welcher nach dem Motto „think globally, act locally“ weltweit 140 lokale Sendeformate produziert. In unterschiedlichen Sprachen und mit einem lokalen Anteil an populärer Musik wird das ansonsten weltweit identische Programmformat hier an den jeweiligen kulturellen Ballungsraum angepasst.59 Anhand der Analyse einiger Beispiele afrikanischer Musiker soll nun die Frage geklärt werden, wie auf lokaler Ebene mit der Kategorie world music ideologisch und musikalisch umgegangen wurde und wie dieses im übergeordneten Globalisierungskontext zu bewerten ist.

56 Vgl. Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S. 156. 57 Elijah Wald, Global Minstrels: Voices of World Music, Oxon 2007, S. 4. 58 Vgl. Gebesmair, „Introduction“, S. 2 f. 59 Vgl. Robinson et al., Music at the Margins, S. 264; Manuel Castells, Communication Power, Oxford 2009, S. 89.

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2 AFRIKANISCHE P OPULÄRMUSIK

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ALS HYBRIDE

WORLD MUSIC Es sei zunächst aus Verständnisgründen vorangestellt, dass es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, einen Überblick über sämtliche afrikanische Populärmusikformen zu geben. Auch der Versuch einer vereinheitlichenden Definition wäre hier aufgrund der unterschiedlichen musikalischen Ausdrucksweisen, Intentionen, Moden und lokalen Einflüsse nicht denkbar. Die Vielfalt der afrikanischen Musikkulturen führte grundsätzlich zu vielgestaltigen Ergebnissen der musikalischen Vermischung. Die urbanen Ballungsräume des Kontinents waren für die Entwicklung neuer Musikformen von großer Bedeutung.60 Diese Ballungsräume gelten auch als transnationale Räume, in denen sich kulturübergreifende Idiome freier entfalten können. Das Transnationale wird im Hinblick auf kulturelle Globalisierungsprozesse häufig in Verbindung mit der globalen Urbanisierung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebracht. Urbane Zentren werden demnach auch als „Keimzelle“ oder „Motor“ einer transnationalen Kultur bezeichnet.61 Das vorgestellte Modell Appadurais wird hieran offensichtlich: Eine Kultur kann sich transnational in verschiedenen urbanen Zentren aus- und verbreiten und somit eine neue kulturelle Landschaft definieren jenseits von jedweder Staatenzugehörigkeit. Die Kulturen der urbanen Ballungsräume werden durch die vielfältige ethnische (migrationsbedingte) Zusammensetzung deckungsgleich. So leben unter Umständen mehr Puerto Ricaner in New York als aus der Peripherie zugezogene US-Amerikaner, oder die kulturelle Landschaft Londons hat möglicherweise mehr gemein mit der von Kingston/Jamaika als mit einer ländlichen Region in England.62 Die westaf-

60 Vgl. Nettl, The Western Impact on World Music, S. 21; Ignacio Corona und Alejandro L. Madrid, „Introduction: The Postnational Turn in Music Scholarship and Music Marketing“, in: dies. (Hrsg.), Postnational Musical Identities, S. 3-22, hier S. 17 f.; Manuel, Popular Musics of the Non-Western World, S. 16 f.; Lipsitz, Dangerous Crossroads, S. 119; Kubik, Zum Verstehen afrikanischer Musik, S. 301. 61 Vgl. Joyce, „The Globalization of Music“, S. 218; Toynbee und Dueck, „Migrating Music“, S. 13. 62 Für weiterführende Gedanken hierzu siehe James Clifford, Routes. Travel and Translation in the late Twentieth Century, London 1997.

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rikanischen Städte Freetown oder Dakar stellen ebenfalls solche transnationalen multikulturellen Räume dar. Anhand der musikalischen Analyse der Palmweinmusik von S. E. Rogie aus Sierra Leone, afrokaribischer Musikformen des Orchestra Baobab und der Musik Baaba Maals jeweils aus dem Senegal soll nun vorgestellt werden, wie im Spannungsfeld urbaner Ballungsräume Westafrikas mit den neuen kulturellen Einflüssen eines Zeitalters der Globalisierung musikalisch umgegangen wurde. Alle drei vorgestellten musikalischen Beispiele werden im Gegensatz zu den musikalischen Ergebnissen Paul Simons oder der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik unter der Kategorie world music kommerziell vertrieben. Es wird also ferner die Frage zu klären sein, ob der hier von der Musikindustrie evozierte kategorische Unterschied sinnvoll erscheint. 2.1 S. E. Rogie Sooliman Ernest Rogie gehörte zu den einflussreichsten Interpreten der Palmweinmusik aus Sierra Leone ab Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Er erweiterte diese um verschiedene musikalische Elemente und machte den Musikstil auch über die kontinentalen Grenzen hinaus bekannt.63 Palmweinmusik ist ein Musikstil, welcher um die 1930er Jahre in westafrikanischen Hafenstädten wie Lagos oder Freetown entstand. Sie stellt eine Variante des afrikanischen Musikstils Highlife dar und diente in den Hafenbars als Kommunikationsorgan – im Sinne einer musikalischen Narration – und zu Unterhaltungszwecken. Inhaltlich befassen sich viele Songs mit Geschichten aus dem täglichen Leben der Matrosen oder der Eisenbahnbauer. Wichtigstes Instrument und auch ein entscheidendes Akkulturationsmerkmal der Palmweinmusik ist die Gitarre, welche bei den Seefahrern, die den Dreieckshandel Europa-Afrika-Amerika befuhren, sehr beliebt war.64 Einen weiteren großen Einfluss auf die Palmweinmusik hatte das bereits ab 1914 in Westafrika verbreitete Grammophon und die damit

63 Rogie hatte mit dem Song „My lovely Elizabeth“ sogar einen internationalen Charterfolg, vgl. Nick Coleman, „Liner notes to Dead Men don’t smoke Marijuana“, in: Booklet zu Sooliman E. Rogie, Dead Men don’t smoke Marijuana, Real World Records, 7243 8 39639 2 8, 1994. 64 Vgl. Manuel, Popular Musics of the Non-Western World, S. 90.

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überlieferten US-amerikanischen und europäischen Populärmusikformen.65 Der interkulturelle Einfluss des Grammophons wird vor allem in den musikalischen Vorbildern S. E. Rogies deutlich: Er gibt als eines seiner großen Idole Jimmy Rodgers an, den US-amerikanischen Countrysänger der 1930er Jahre. Rogie wollte nach eigenen Angaben der „Jimmy Rodgers aus Sierra Leone“ werden und lernte dafür sogar das für Rodgers Countrymusik signifikante Jodeln.66 Instrumental setzt sich ein typisches Palmweinensemble aus einem Sänger, einer Gitarre, einem Bass und mehreren afrikanischen Perkussionsinstrumenten zusammen; den Rhythmus geben hierbei die Claves vor, und der Sänger wird meist von einer einfachen sich ständig wiederholenden Gitarrenmelodie begleitet. Die harmonische Struktur basiert auf der diatonischen ersten, vierten und fünften Stufe. Der Song „Please Go Easy with me“ von S. E. Rogie aus den 1960er Jahren, aufgenommen in Freetown/Sierra Leone, bedient die musikalischen Parameter der Palmweinmusik noch einmal sehr anschaulich: Der Song dauert circa drei Minuten und die rhythmische Grundstruktur basiert auf einem 16 Schläge beinhaltenden timeline pattern:67

65 Die Musikindustrie setzte im Übrigen schon ab 1930 auf die massenmediale Verbreitung afrikanischer Populärmusiken wie Jujú oder Highlife, vgl. Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, S. 21. 66 Vgl. Coleman, „Liner notes to Dead Men don’t smoke Marijuana“. 67 Der Begriff „timeline pattern“ beschreibt ein Orientierungsprinzip, welches besonders in der Musik der westafrikanischen Küstenregionen verbreitet auftritt. In den Musikformen der meisten Gebiete südlich der Sahara gibt es keine Vorstellungen von Takt und Metren, daher wird die Zeitlinie des pattern durch eine Formzahl, Elementarpulsation und Beats dargestellt. Die meist asymmetrische Timeline-Formel wird in der Regel von einem sehr hell und durchdringend klingenden Gegenstand geschlagen und bildet somit den strukturellen Kern des Musikstückes, vgl. Kubik, Zum Verstehen afrikanischer Musik, S. 90 ff.

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Abb. 8: „Please Go Easy With Me“ – S. E. Rogie: timeline pattern

Die von der Gitarre gespielte Melodielinie bewegt sich harmonisch auf der ersten, vierten und fünften Stufe von F-Dur. Eine Strophe dauert genau zwei patterns, die Gitarrenmelodie dauert immer ein pattern lang. Der Text des Songs wird in englischer Sprache gesungen und beschreibt das Bitten eines Arbeiters (oder Sklaven), dass sein Herr ihn nicht unnötig schlagen oder bestrafen soll. Signifikant für Rogies Palmweinmusik ist die Benutzung der elektrischen Gitarre statt einer Akustikgitarre.69 Die elektrische Gitarre erfreute sich ab den 1960er Jahren in Afrika großer Beliebtheit und löste im Verlauf nahezu in jeder afrikanischen Musikform mit Gitarre die akustische Version ab.70 Der afrikanische Impetus der Palmweinmusik wird besonders deutlich durch die rhythmische Orientierung am timeline pattern, die Diatonik und der Gesang in englischer Sprache verweisen hingegen auf europäische (oder US-amerikanische) Einflüsse und das Sujet des Liedes beschreibt wiederum die lokale Situation eines afrikanischen Arbeiters oder Sklaven. Die Palmweinmusik dient somit als Beispiel musikalischer Akkulturationsprozesse in Westafrika. Bemerkenswert ist, wie S. E. Rogie nun unter dem Label world music vermarktet wurde. Seine um 1960 aufgenommenen Stü-

68 Transkribiert aus Sooliman E. Rogie, Palm Wine Guitar Music [1988], Cooking Vinyl Records, COOKCD 010, 2002. 69 Vgl. Ed Ashcroft und Richard Trillo, „Palmwein-Klänge“, in: Broughton et al. (Hrsg.), Weltmusik, S. 324 ff., hier S. 325. 70 Vgl. Malm, „Local, National and International Musics“, S. 213 f. Bruno Nettl sieht darin ein Beispiel für modernization; im Falle dieses Phänomens der Heterogenisierung ist zu beachten, dass es laut Nettl neue Musikstile kreiert und keinen westlichen Zwang beinhaltet, vgl. Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 352 ff.

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cke wurden in den 1980er Jahren auf Compact Disc wiederveröffentlicht. Das Plattencover zeigt hier Rogie in europäischer Kleidung (Stoffhose und Oberhemd) und elektrischer Gitarre:

Abb. 9: Palm Wine Guitar Music [1988] – S. E. Rogie: Albumcover (Cooking Vinyl Records 2002)

Diese visuelle Darstellung ist angelehnt an afroamerikanische Musiker jener Zeit. Es lässt sich kein visueller Verweis auf den afrikanischen Ursprung der Musik finden. Anfang der 1990er Jahre nahm Peter Gabriels World-music-Plattenfirma Real World Rogie unter Vertrag. Das 1994 produzierte Album Dead Men don’t smoke Marijuana zeigt Rogie nun in einer westafrikanischen Stammestracht:

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Abb. 10: Dead Men dont’t smoke Marijuana – S. E. Rogie: Albumcover (Real World Records 1994)

S. E. Rogie wird auf der Rückseite des Plattencovers ferner als „The Golden Voice of Sierra Leone“ bezeichnet.71 Musikalisch liegen die beiden Einspielungen nicht sehr weit auseinander. Allerdings singt Rogie auf der Real-World-Produktion viele der Songs in Krio, einem auf dem Englischen basierenden in Sierra Leone stark verbreiteten Dialekt. Durch das Label world music wird hier ein Künstler wie S. E. Rogie verstärkt mit ethnologischen und nationalen Symbolen vermarktet. Ähnlich wie der in Kapitel III beschriebene Reggae vollzieht sich dabei eine lokale Verstärkung bei gleichzeitiger globaler Vermarktung im Nexus der Globalen Kulturindustrie. Die oben beschriebene ökonomische Variante des Prozesses der Glokalisierung wird hier wiederum nachvollziehbar. Die Palmweinmusik wird bewusst mit nationalen Mythen aufgeladen. Das von der Musikindustrie global vertriebene Produkt ist also national geprägt und soll

71 Rogie, Dead Men dont’t smoke Marijuana. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Rogie bereits 1973 in die USA auswanderte und später in England wohnhaft wurde, vgl. Ashcroft und Trillo, „Palmwein-Klänge“, S. 325.

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gleichsam eine bestimmte Nation und ein globales Publikum, welches sich für die entsprechenden nationalen Musikstile interessiert, als Käuferschicht ansprechen. 2.2 Orchestra Baobab Die musikalische Verbindung von afrikanischen und lateinamerikanischen Stilelementen führte in Westafrika zu neuen Musikformen, die unter dem Überbegriff Highlife zusammengefasst werden. Es entstand hier also aus bereits hybriden lateinamerikanischen Musikformen eine weitere. Eine dieser Highlifemusikgruppen ist das Orchestra Baobab aus Dakar.72 Nach Aussagen des senegalesischen und international bekannten Musikers Youssou N’Dour war für die Bandmitglieder kubanische Tanzmusik sehr prägend; rhythmisch war diese den afrikanischen Musikkulturen sehr ähnlich, die harmonischen Grundstrukturen waren hingegen europäischen Ursprungs.73 Das Orchestra Baobab gilt als eine der ersten Highlifegruppen, welche Lieder der ethnischen Gruppe der Wolof mit afrokubanischen Rhythmen unterlegten und auch in der Sprache der Wolof sangen.74 Ein Beispiel hierfür ist der um 1972 entstandene Song „Nijaay“: Er hat eine Länge von sieben Minuten und beginnt mit einem auf der elektrischen Gitarre gespielten Zitat einer Toccata von Johann Sebastian Bach. Die Harmonik des Songs bewegt sich auf einer leichten Abänderung der aus dem lateinamerikanischen Raum bekannten absteigenden Akkordfolge h-Moll, A-Dur, G-Dur, Fis-Dur. Hierbei handelt es sich um eine Variante des phrygischen Modus, welcher ursprünglich dem spanischen Flamenco entstammt. Im Song „Nijaay“ beziehen sich die jeweiligen Melodielinien auf diese Harmonik, wobei einige der begleitenden Harmonieinstrumente nur zwischen h-Moll und A-Dur wechseln. Das abschließende Fis-Dur wird nur angedeutet und löst sich unmittelbar in einen h-Moll-Quartsextakkord auf. In den sieben Minuten des Songs werden verschiedene Soli abwechselnd von einer Gitarre, Saxophonen und einem Gesangspart in der Sprache der

72 Das Orchestra Baobab trat zum ersten Mal 1970 bei der Eröffnung des gleichnamigen Baobab-Clubs in Dakar auf, vgl. Jenny Cathcart, „Unsere Kultur“, in: Broughton et al. (Hrsg.), Weltmusik, S. 303-314, hier S. 305. 73 Vgl. Taylor, Global Pop, S. 135; Cathcart, „Unsere Kultur“, S. 305. 74 Vgl. Taylor, Global Pop, S. 127.

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Wolof vorgetragen. Der kurze Text des Stückes beschreibt, wie sich eine Frau zu verhalten hat, um einen geeigneten Ehemann zu finden.75 Rhythmisch steht der Song im Viervierteltakt, wobei das Einsetzen der Sabar trommel hier zusätzlich eine Polyrhythmik erzeugt. Die Sabartrommel ist ein aus der Ethnie der Wolof stammendes Perkussionsinstrument, das zur Kommunikation eingesetzt wurde. Im genannten Beispiel hat sie in erster Linie eine solistische Funktion und ergänzt das immer gleiche Melodie sche ma. Der Song „Nijaay“ des senegalesischen Orchestra Baobab ist in musikalischen Parametern gemessen nicht von afrokubanischen Songstilen zu unterscheiden. Elemente, die auf die senegalesische Herkunft des Songs schließen lassen, sind das Einsetzen der Sabartrommel und der Gesangspart in der Sprache der Wolof.76 Es wurde hier also eine afroamerikanische Musikform übernommen und durch nationale Stilelemente erweitert. Dieser Vorgang stellt eine musikalische Variante des Prozesses der Glokalisierung dar. Der Song „Nijaay“ ist auf dem 2008er Album mit dem Titel Made in Dakar erschienen. Es vollzieht sich hier durch die Nennung des Heimatortes der Band auf der internationalen Vermarktungsebene erneut eine lokale Verstärkung. Wie die oben erwähnte Aussage von Youssou N’Dour darlegt, war afrokubanische Tanzmusik, die vor allem über das Radio vermittelt wurde, in Senegal sehr populär. Der hier über das Radio erfolgte Austausch musikalischer Stilformen hat gewissermaßen einen zirkulierenden Charakter, da auch das Orchestra Baobab nun wiederum Einfluss auf die kubanische Musikszene hatte.77 Wiederveröffentlichungen und Neueinspielungen der World-music-Plattenfirma World Circuit verhalfen ferner dem

75 Vgl. Nick Karnofsky, „Liner notes to Made in Dakar“, in: Booklet zu Orchestra Baobab, Made in Dakar, World Circuit, D078, 2007. 76 Das Einbeziehen von Woloftrommeln wurde ab den 1970er Jahren obligatorisches „Markenzeichen“ in der senegalesischen Musik, vgl. Cathcart, „Unsere Kultur“, S. 305. 77 Der Highlife beeinflusste durch die Interpretationen lateinamerikanischer Tänze sogar Musikgruppen aus Kuba oder Trinidad, vgl. Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, S. 21.

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Orchestra Baobab im 21. Jahrhundert zu globaler Popularität.78 Das Label world music hat das Orchestra Baobab gewissermaßen neu entdeckt und unter dieser Schirmkategorie mit ihren kubanischen Pendants zusammengeführt.79 World music kann hier als ökonomischer „Motor“ einer globalen Vernetzung angesehen werden, da unter dieser Kategorie transnationale kulturelle Verbindungen entstehen und gefördert werden. 2.3 Baaba Maal Eine weitere Variante afrikanischer hybrider Musikformen soll exemplarisch am Beispiel des ebenfalls aus dem Senegal stammenden Musikers Baaba Maal dargestellt werden. Baaba Maal steht seit 1988 bei verschiedenen World-music-Plattenfirmen unter Vertrag.80 Maals musikalischer Werdegang spielt sich vollständig in der World-music-Szene ab, also unter ständigem Einfluss einer globalen Musikindustrie.81 Sein musikalisches Repertoire ist ebenso vielseitig wie im Grunde gar nicht einzugrenzen; allein auf dem 1994 erschienenen Album Firin · in Fouta bedient Maal unzählige musikalische Varianten afroamerikanischer Musikformen. Er ver-

78 Auch durch den Einfluss des Musikers Youssou N’Dour erfuhr die Gruppe eine neue öffentliche Wahrnehmung: N’Dour produzierte die letzten Alben des Orchestra Baobab. Ferner sang er im Song „Nijaay“ von 2007 den Wolofpart. 79 Höhepunkt des cultural exchange senegalesischer und kubanischer Musiker stellte 2001 eine Tournee senegalesischer Musikgruppen – unter anderen auch des Orchestra Baobab – nach Kuba dar. Initiator und Sponsor dieser Tournee war die deutsche World-Music-Plattenfirma Popular African Music, für weitere Informationen hierzu vgl. Richard M. Shain, „Trovador of the Black Atlantic: Laba Sosseh and the Africanization of Afro-Cuban Music“, in: White (Hrsg.), Music and Globalization, S. 135-156, hier S. 146-150. 80 Unter anderem bei Chris Blackwells Island Records und Peter Gabriels Plattenfirma Real World. 81 Baaba Maal ist ursprünglich Angehöriger des Fulavolkes, welches im nördlichen Senegal an der Grenze zu Mauretanien und Mali lebt. Er wurde musikalisch am Konservatorium in Dakar ausgebildet und erhielt ein Stipendium für eine weitere musikalische Ausbildung in Paris. Er wird daher auch als der „Intellektuelle“ unter den senegalesischen Musikern angesehen, vgl. Cathcart, „Unsere Kultur“, S. 309.

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wendet dabei sowohl neueste computergenerierte Sampletechniken als auch eine breite Palette europäischer und außereuropäischer Musikinstrumente.82 Der Song „Swing Yela“ des genannten Albums veranschaulicht dies sehr deutlich: Er dauert circa viereinhalb Minuten und beginnt mit einem Fragment einer Tonbandaufnahme spielender Kinder. Nach diesem kurzen Vorspiel setzt eine dynamisch hervorstechende Basslinie ein, wie man sie aus afroamerikanischen Musikformen kennt. Begleitet wird diese von einem rhythmischen Schlagzeugspiel, welches den Viervierteltakt in Achtelnoten unterteilt und zusätzlich durch die Snare die dritte Zählzeit betont. Dieses Grundmuster wird durch Bläsereinsätze auf der ersten und zweieinhalbten Zählzeit ergänzt. Es entsteht hier ein polyrhythmischer Charakter:

Abb. 11: „Swing Yela“ – Baaba Maal: Polyrhythmik

83

Baaba Maals in Strophen gegliederter Gesangspart wird in der Sprache der Wolof vorgetragen. Maal besingt politische Missstände Afrikas und die menschliche Schwäche, jemand anderem Anschuldigungen zu machen, ohne selber frei von jedweder Schuld zu sein.84 Diese im Songtext vorgetragene „Lebensweisheit“ steht durchaus in einem biblischen Zusammenhang und besitzt damit a priori eine interkulturelle Prägung.85 Die Strophen des 82 Vgl. Ingrid Monson, Riffs, repetition, and theories of globalization, in: Ethnomusicology. Journal of the Society for Ethnomusicology 43/1 (1999), S. 31-65, hier S. 53. 83 Transkribiert aus Baaba Maal, Firin’ in Fouta, Island Records, 1109/524 024-2, 1994. 84 Vgl. Baaba Maal, Liner notes to Firin’ in Fouta, in: Booklet zu ders., Firin’ in Fouta. 85 Krister Malm und Roger Wallis definieren, wie beschrieben, den Prozess der cultural dominance anhand des Beispiels der christlichen Missionierung Afrikas.

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Liedes wechseln sich nun mit einem Zwischenspiel ab, welches durch Sprechgesang untermalt wird und in einer von Maal klar intonierten aufsteigenden Akkordfolge F-Dur, G-Dur und A-Dur endet. Zudem enthält das Stück einen eingeschobenen Rap-Part von zwei Gastmusikern. Der Rap wird teilweise in französischer Sprache und in der Sprache der Wolof vorgetragen. Der Song „Swing Yela“ lässt in seiner musikalischen Vielfalt keinen bestimmten Musikstil hervorstechend erkennen; rhythmisch lehnt er sich an afrokaribische Formen an, die Sprechgesänge lassen sich im afroamerikanischen Raum verorten, die afrikanischen Elemente werden durch die Polyrhythmik vermittelt und die klar hervorstechende diatonische Akkordfolge des Zwischenspiels lässt auf Kadenzen europäischer Herkunft schließen. Die hier neu entstandene Musikform ist ein Resultat der transculturation im Zeitalter der Globalisierung. Baaba Maal definiert sich allerdings explizit als afrikanischer Künstler aus dem Senegal. Maal zeigt starkes politisches und soziales Engagement für Afrika in verschiedenen Organisationen. Er dient gewissermaßen als Botschafter Senegals, aber auch des ganzen Kontinents.86 Maals musikalisches Repertoire erschließt sich aus einem globalen Netzwerk verschiedener Musiktraditionen. Der lokale musikalische Einfluss Senegals ist zwar sichtbar, aber nur als Lokalkolorit zu verstehen. Seine Musik stellt, ähnlich wie beim Orchestra Baobab, den transnationalen Kontext der Kategorie world music dar.

3 W ORLD MUSIC IM S PANNUNGSFELD DER G LOBALISIERUNGSDEBATTE : H ETEROGENISIERUNG VERSUS H OMOGENISIERUNG DER M USIKKULTUR Allen drei genannten Beispielen ist gemein, dass sie durch die world music lokal positioniert werden. Insbesondere die politisch-nationalen Zugehörigkeiten werden hervorgehoben, obwohl musikalisch hier kein signifikanter Zusammenhang besteht: Die Palmweinmusik S. E. Rogies definiert keine musikalischen Merkmale des Staates Sierra Leone und auch die Musik des Orchestra Baobab oder Baaba Maals kann nicht als eine „traditionelle“ Musikform des Senegals angesehen werden. Dennoch werden die Staatsan-

86 Am 7. Juli 2007 zählte er zu den Stars des Live-Earth-Konzertes in Südafrika.

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gehörigkeit und das soziale Umfeld des Künstlers marktstrategisch positioniert. In der globalen Vermarktung spielt das „Nationale“ wie erwähnt eine wichtige Rolle. Wie aufgezeigt, bleiben in einer transnationalen Weltgesellschaft Nationalstaaten wichtige politische Bezugsrahmen, obwohl Wirtschaftsunternehmen (in diesem Falle die Musikindustrie) transnational handeln. Doch auch TNCs sind trotz aller Bezugnahmen auf das Nationale ein Kriterium dafür, dass der Nationalstaat auf globaler Ebene an Macht verliert. Anthony Giddens spricht hierbei wie erwähnt auch von „einem Aspekt des dialektischen Wesens der Globalisierung“87. Es ist auffallend, wie eng in diesem Zusammenhang Transnationalität mit Transkulturalität in Verbindung steht. Transnationalität beschreibt dabei die politisch-ökonomische Voraussetzung einer kulturellen Globalisierung. An der Verstärkung des „Heimatgedankens“ des Künstlers wird der Prozess der Glokalisierung sichtbar. Er wird in diesem Falle besonders von einer imaginären Lokalisierung geprägt, da die musikalischen Resultate a priori hybride Musikformen sind. Als Erweiterung des lokalen Bezugsrahmens kommen kulturelle oder kontinentale Identifikationen der einzelnen Musiker hinzu. Die vorgestellten Musiker präsentieren sich als Künstler ihres Nationalstaates, als Botschafter des Gesamtkontinents Afrika, aber auch als „musikalische Kosmopoliten“ einer kulturellen transnationalen Weltgesellschaft. Baaba Maal beispielsweise positioniert sich nicht nur als senegalesischer Künstler, sondern auch als Botschafter Afrikas und Youssou N’Dour bezeichnet sich in Interviews bevorzugt als „global citizen“88. Besonders deutlich wird dieser Bezugsrahmen durch die vielfältigen musikalischen Ergebnisse der jeweiligen Künstler. Wie schon in Kapitel III erwähnt, ist diese „Ortspolygamie“ für einige Globalisierungsforscher ein Kriterium für das Aufkommen einer transnationalen Weltgesellschaft.89 Ein Beispiel aus der Migrationsforschung stellt diesen Zusammenhang der Pro-

87 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 96. 88 Vgl. Connell und Gibson, Sound Tracks, S. 154. Hinzu kommt, dass die genannten Musiker Youssou N’Dour und Baaba Maal einige Jahre in Paris lebten und dort teilweise auch musikalisch ausgebildet wurden, vgl. Monson, „Riffs, repetition, and theories of globalization“, S. 54 f. S. E. Rogie lebte, wie erwähnt, ab den 1970er Jahren in den USA beziehungsweise in England. 89 Vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 127-135; Featherstone, „Global Culture“, S. 9 ff.

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zesse Enttraditionalisierung und Entbettung in den Kontext der Glokalisierung: „While the power of self-definition is part of identity-creation, the power to impose definitions on others often serves as an instrument of discrimination. To escape such labeling, some young people at the turn to the twenty-first century choose to identify themselves as ‚human beings‘ or ‚citizens of the world‘ rather than by specific cul90

tural practices.“

Das „Nationale“ wird in allen drei „afrikanischen“ Beispielen nur noch als eine von vielen Identifikationsmöglichkeiten betrachtet. Wie aufgezeigt werden konnte, sind die Möglichkeiten der Identifikation im Zeitalter der Globalisierung variabel geworden. Was Krister Malm und Roger Wallis als cultural imperialism bezeichnen, ist eine Form des globalen Einflusses der TNCs – hier der Musikindustrie – auf die Musikkultur. Bei den genannten drei Beispielen liegt der interkulturelle Schwerpunkt aber nicht nur auf den variablen Identifikationsmöglichkeiten, sondern auch auf der Verwendung von Kommunikationsmedien als musikalische Quellen, wie die jeweiligen Verweise der Musiker auf Grammophon, Radio etc. untermauern. Das Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte und Prozesse im Zeitalter der Globalisierung evoziert hier eine kulturelle Neuordnung. Diese Neuordnung geschieht (1.) aus der ökonomischen Struktur der transnationalen Gesellschaft heraus, sie wird (2.) gesteuert durch mediale Verbreitung, (3.) vom einzelnen Individuum unterschiedlich interpretiert und (4.) aus den kulturellen Produkten selbst generiert. Die Kategorie world music lässt sich hierbei als ein transnationales Gebilde definieren, welches globale und lokale Ebenen miteinander verbindet. Aufgrund der politischökonomischen Transnationalität und der Fülle an musikalischen Quellen, die den einzelnen Musikern zur Verfügung stehen, stellt sich die Frage, inwiefern innerhalb der world music kulturelle Heterogenisierung oder Homogenisierung überhaupt noch einen Widerspruch darstellen. Für die afrikanischen Musiker war westlicher Einfluss stets Teil ihrer Kultur, wie beispielsweise der Verweis S. E. Rogies auf den Countrysänger Jimmy

90 Harzig und Hoerder, What is Migration history?, S. 145 f.

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Rodgers darlegt;91 auch Youssou N’Dour beschreibt seine musikalische Quellen wie folgt: „In Dakar we hear many different recordings. We are open to these sounds. When people say my music is too Western, they must remember that we, too, hear this music over here. We hear the African music with the modern.“

92

N’Dour nimmt in diesem Zitat Stellung zu den Vorwürfen, seine Musik sei zu „verwestlicht“. Die Ansicht einer „Verwestlichung“ afrikanischer Musik ist gesellschaftlich sehr weit verbreitet: Kulturelle Heterogenität wird polemisch als „Verwässerung“ der afrikanischen Musik beschrieben und viele Hörer erwarten von afrikanischen Musikern „authentische Klänge“.93 Die Idee der abgeschlossenen Räume, welche ethnisch und kulturell rein sind, ist eine westliche Illusion über die „Anderen“94, da sich, wie bereits von den Vertretern der global history dargelegt, seit dem Ursprung der Menschheit die verschiedenen Kulturen der Welt in ständigem Austausch befanden. Die „Suche“ nach einer „authentischen“ Kultur, was auch immer man sich darunter vorstellen mag, ist daher vergebens, und das Beharren auf Authentizität und die Idee des Unvermischten seitens der westlichen Welt verweist eher auf imperialistische Sichtweisen über die „Anderen“ und beinhaltet starke rassistische Tendenzen.95 Von „afrikanischen Musikern wird gewis-

91 Die Definition der westernization wurde zwar schon ausführlich beschrieben, es sei an dieser Stelle aber noch einmal daran erinnert, dass nach Bruno Nettl die hier vorgestellten musikalischen Ergebnisse eher als modernization und nicht als westernization zu beurteilen sind, vgl. Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 353 f. 92 Zit. n. Taylor, Global Pop, S. 135. 93 Für nähere Ausführungen hierzu siehe Utz, „Zur kompositorischen Relevanz kultureller Differenz“, S. 30; Andrew Goodwin und Joe Gore, „World Beat and the Cultural Imperialism Debate“, in: Ron Sakolsky und Fred Wei-han Ho (Hrsg.), Sounding Off!: Music as Subversion/Resistance/Revolution, New York 1995, S. 121-131, hier S. 129; Monson, „Riffs, repetition, and theories of globalization“, S. 54. 94 Vgl. Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, S. 215. 95 Vgl. ebd.; Chambers, „Travelling Sounds“, S. 48; Taylor, Global Pop, S. 135.

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sermaßen verlangt, dass sie „afrikanische“ Musik spielen, ohne diesen Terminus genauer zu hinterfragen. Auch werden die Musiker selbst in diesen Prozess nicht eingebunden und ihre persönlichen musikalischen Erfahrungen nicht berücksichtigt. Diese Kritik stellt das Pendant zur oben beschriebenen Kulturimperialismuskritik an „weißen“ Musikern wie Paul Simon, Peter Gabriel oder Johnny Clegg dar. Das Zeitalter der Globalisierung wird nun durch das wertfreie Konzept Appadurais beschrieben, welches mit der Aufteilung der Gesellschaft in verschiedene scapes den Vorwurf einer Homogenisierung praktisch auflöst.96 Im Kontext Appadurais betrachtet, bewegen sich die vorgestellten Musiker in verschiedenen „Landschaften“ verfügen somit über variable Identitäten. Die Musik des Orchestra Baobab beispielsweise besitzt sowohl eine nationale senegalesische Ebene (ethnoscape), eine musikalisch ideologische afrokaribische Ebene (ideoscape), durch die Kategorie world music eine finanzielle und ökonomische Ebene (financescape) und durch die Einbindung der Kommunikationstechnologie als musikalischer Quelle auch eine technisch-mediale Ebene (mediascape). Bei den anderen Beispielen verhält es sich ähnlich. Wenn man nun die „afrikanischen“ Beispiele mit den musikalischen Beispielen Paul Simons vergleicht, wird deutlich, dass sich Simon und die afrikanischen Künstler auf den gleichen ideologischen, finanziellen und technischen scapes bewegen; einzig die ethnoscapes unterscheiden sich jeweils. Paul Simons Einfluss auf die südafrikanischen Musiktraditionen sollte also nicht anders beurteilt werden als der Einfluss und die musikalischen Resultate der vorgestellten drei Fallbeispiele aus Westafrika, da auch bei Simon die Musik auf ökonomischer Ebene lokal positioniert und die lokalen (ebenfalls bereits hybriden) Musiktraditionen durch westliche Einflüsse verändert wurden.

96 In diesem Zusammenhang steht auch das schon vorgestellte Konzept der kulturellen Globalisierung von Krister Malm und Roger Wallis. Hier wird konkret am Beispiel der Musikkultur nach der Gewichtung innerhalb des kulturellen Austausches und nach den daraus abzuleitenden Ergebnissen gefragt. Weitführenden Diskurse über Begrifflichkeiten der Homogenisierung oder Heterogenisierung versuchen zudem neue musikalische Mischformen auf einer wertfreieren Ebene zu analysieren oder auch in einem Kontext der Globalisierung zu betrachten, siehe hierzu Tomlinson, Globalization and Culture, S. 147; Taylor, Global Pop, S. 197.

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4 D IE GLOBALE N ETZWERKGESELLSCHAFT : N EUE M ÖGLICHKEITEN FÜR DIE WORLD MUSIC IM Z EITALTER DER G LOBALISIERUNG ? Technische Innovationen lassen im Zeitalter der Globalisierung transnationale kulturelle Landschaften entstehen. Die medialen Entwicklungen spielen dabei eine wichtige Rolle, da diese die globale Netzwerkgesellschaft herbeiführten. Hierbei handelt es sich um das technisch konstituierte Pendant zu der besprochenen Weltgesellschaft. Die aufgeführten technischen Beschleunigungsprozesse, die Verdichtung von Raum und Zeit und die Fortschritte der Kommunikationsmedien sowie die Zusammenführung von globalen Finanzflüssen und das Streben nach einer freieren unabhängigeren Art des Informations- und Kommunikationsflusses brachten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die globale Netzwerkgesellschaft hervor. Als einer der ersten Wissenschaftler hat Arjun Appadurai den neuen technischen Möglichkeiten eine vorrangige Rolle in kulturellen Veränderungsprozessen zugesprochen. Der Autor stellte in Aussicht, dass durch internationale Computernetzwerke und den dadurch bedingten entgrenzten Informations- und Warenaustausch eine neue soziale Form, die „virtual neighborhoods“97, entstehen. Appadurai sieht in den virtual neighborhoods ein Äquivalent zu herkömmlichen sozialen Lebensräumen. Die globale Netzwerkgesellschaft bildet wie erwähnt das technische Pendant zur beschriebenen Weltgesellschaft. Beide Modelle bedingen einander, da die Netzwerkgesellschaft die ideologischen Grundmuster der Weltgesellschaft durch technische Voraussetzungen ergänzt. Wesentliches Merkmal der globalen Netzwerkgesellschaft ist die Abschaffung der Faceto-face-Community, das heißt, ökonomische, soziale, kulturelle, politische und persönliche Kontakte werden zwischen weit entfernten Orten auf der Welt mit technischer Hilfe geknüpft, ohne sich dabei physisch annähern zu müssen. Somit entstehen neue Formen der Vergemeinschaftung ,98 wobei die globale Netzwerkgesellschaft die technischen Grundvoraussetzungen

97 Appadurai, Modernity at Large, S. 195. 98 Vgl. Rosa, Beschleunigung, S. 172; Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 243; Wolfang Bonß und Sven Kesselring, „Mobilität im Übergang von der Ersten zur Zweiten Moderne“, in: Beck, Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne, S. 177-190, hier S. 180.

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für ein liberales Interagieren der verschiedenen Akteure bildet: Der Nationalstaat, TNCs, global operierende Nichtregierungsorganisationen oder einzelne Personen fungieren hierbei als gleichberechtigte Knotenpunkte.99 Technisch-innovative Verdichtung und Beschleunigungsprozesse haben eine Situation geschaffen, die den Austausch musikalischer Quellen ohne Zeitverlust ermöglicht, ohne sich dabei – wie es noch Paul Simon tat – physisch in eine lokale Musikkultur zu begeben. Der interkulturelle Austausch verschiedener Musiktraditionen ist, wie erwähnt, historisch kein Phänomen des Zeitalters der Globalisierung. Das Neue hierbei ist die Beschleunigung der Austauschprozesse und das sekundenschnelle Überspringen von gebundenen Orts- und Zeitdistanzen.100 Die sinnbildliche technische Verdichtung der globalen Netzwerkgesellschaft im Zeitalter der Globalisierung ist das Internet, in dem alle Ereignisse weltweit gleichzeitig und ortsunabhängig stattfinden. Die Entwicklung des Internets geht auf einen Plan des US Defense Departments von 1960 zurück. Dessen Aufgabe war es, im Falle eines Atomkrieges die Kommunikation von zentralen politischen und militärischen Organen durch ein dezentral organisiertes technisches Netzwerk aufrechtzuerhalten. Das Internet wurde durch neue Technologien für den privaten Gebrauch zugänglich gemacht. Dies geschah wie im Falle des Modems nicht immer staatlich unterstützt, sondern wurde zum Teil auch

99

Vgl. Castells, Communication Power, S. 19. Skeptiker sehen die globale Netzwerkgesellschaft auch als globales „Oberschichtenphänomen“, da trotz der immanenten basisdemokratischen Ideologie der Zugang zur Netzwerkgesellschaft nur mit einem gewissen technologischen Wissensstand möglich ist, vgl. Thomas A. Troge, „Global Village, Global Brain, Global Music – Realität oder Fiktion, Wunschtraum oder Alptraum“, in: Enders, Stange-Elbe (Hrsg.), Global Village, Global Brain, Global Music, S. 13-24, hier S. 17. Nach Manuel Castells kann ein Ausschluss aus der globalen Netzwerkgesellschaft, sei es aus ökonomischen, regionalen oder ideologischen Gründen, auch dazu führen, dass die jeweiligen Akteure Alternativen in religiösem, nationalem oder territorialem Fundamentalismus suchen. Für Castells sind dies alles Reaktionen gegen die Globalisierung und gegen die technische Vernetzung, welche die Grenzen von Zugehörigkeiten verwischt haben, vgl. Manuel Castells, Die Macht der Identität. Teil 2 der Trilogie Das Informationszeitalter [1997], Opladen 2002, S. 70 f.

100 Vgl. Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, S. 15.

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von der angesprochenen Gegenkultur gefördert. Die Idee dahinter war, das Internet als freie unabhängige Plattform für den Informations- und Datenaustausch jedweder Art zu gebrauchen, ohne einer staatlichen oder wirtschaftlichen Zensur zu unterliegen. In den 1970er und 1980er Jahren nutzten dieses Netzwerk in erster Linie politische und wissenschaftliche Institutionen, bis es Anfang der 1990er Jahre mehr und mehr kommerziellen und persönlichen Zwecken diente und schließlich 1995 vollständig privatisiert war.101 Das Internet hebt sich von anderen „konservativen“ Kommunikationsund Massenmedien ab. Es definiert sich als verbindendes Medium zwischen wirtschaftlich-kommerziellen Produkten und ihren persönlich bestimmbaren Inhalten, da der Internetnutzer im World Wide Web die Art der Unterhaltung oder Information und deren Verbreitung und Verwertung individuell bestimmt: Er kann beispielsweise Radio hören, ein Fernsehprogramm verfolgen, persönliche Nachrichten schreiben und sich gezielte Informationen aus Politik, Wirtschaft oder dem Unterhaltungssegment beschaffen. Diese Vorgänge können auch gleichzeitig ablaufen. Manuel Castells bezeichnet das Internet daher als neue Form der selbstreflexiven Massenkommunikation: „It is mass communication because it can potentially reach a global audience, as in the posting of a video on YouTube, a blog with RSS links to a number of web sources, or a message to a massive e-mail list. At the same time, it is selfcommunication because the production of the message is self-generated, the definition of the potential receivers(s) is self-directed, and the retrieval of specific messages or content from the World Wide Web and electronic communication networks is self-selected. The three forms of communication (interpersonal, mass communica-

101 Zur Geschichte des Internets siehe Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Die öffentliche Nutzung des Internets ist neben der Verbreitung des Mobiltelefons die sich am schnellsten ausbreitende Kommunikationsform in der Historie technischer Innovationen. Während 1995 die Zahl der Internetnutzer noch unter 40 Millionen lag, waren es 2008 bereits 1,4 Milliarden. Vor allem nicht westliche Länder (in erster Linie die Volksrepublik China) holten hier erheblich auf. Das Verhältnis zwischen Internetnutzern in OECD-Staaten und dem Rest der Welt lag 1997 noch bei 80,6:1 und im Jahr 2007 nur noch bei 5,8:1, vgl. ders., Communication Power, S. 62 f.

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tion, and mass self-communication) coexist, interact, and complement each other rather than substituting for one another.“

102

Der persönliche Einfluss des Konsumenten auf seine Informationsquellen und sein Unterhaltungsprogramm fördert laut Castells sogar die Autonomie des einzelnen Individuums. Er belegt dies mit einer Studie, in der er das Verhalten jugendlicher Internetnutzer in Katalonien untersucht hat.103 Als neue Form der Vergemeinschaftung ist das Internet ein globales Netzwerk, in dem Interaktionen weder den Face-to-face-Kontakt noch eine verbale Kommunikation der Teilnehmer voraussetzen; jedwede Form der Information, ob im kulturellen, ökonomischen oder sozialen Bereich, kann in Bruchteilen von Sekunden quer über den Globus transferiert werden. Diese veränderte Situation führte zu einer neuen kognitiven Selbstverständlichkeit der globalen Vernetzung. Durch die beschriebenen technischinnovativen Entwicklungen im Zeitalter der Globalisierung entwickelte sich dieses Selbstverständnis schon vor der privaten Nutzung des Internets: Bereits 1983 behauptete Joachim Ernst Behrendt, dass die damalige „junge westliche Generation“ indische, balinesische oder japanische Musik so hört, als entstamme sie ihrem eigenen Kulturkreis.104 Hier wurde, wie schon an „Stockhausens Weltmusik“ erläutert und dargestellt, auf das Unbehagen in der westlichen Welt, das mit den Veränderungen der Globalisierung jener Zeit in Verbindung steht, Bezug genommen. Am Beispiel der zeitgenössischen Band Vampire Weekend aus New York soll nun geklärt werden, ob sich in und aufgrund der globalen Netzwerkgesellschaft neue musikalische Resultate erzielen lassen und wie sich die Beurteilung der world music dadurch verändert. 4.1 Vampire Weekend Als im Januar 2008 die New Yorker Musikgruppe Vampire Weekend ihr Debütalbum veröffentlichte, wurde es von Musikkritikern weltweit als

102 Ebd., S. 55. 103 Vgl. ebd., S. 129 ff. 104 Joachim E. Behrendt, Nada Brahma – Die Welt ist Klang (zuerst: Frankfurt a. M. 1983), Frankfurt a. M. 2007, S. 252. Diese Aussage ist hier natürlich im ideologischen Kontext der aufkommenden New-Age-Bewegung zu beurteilen.

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Wiedergeburt des Afro-Pop gefeiert.105 Den musikalischen Stil der Band beschrieb man als Mischung zwischen Bell & Sebastian und den Bhundu Boys106 und bewertete ihn als Produkt des Internetzeitalters, in dem das globale musikalische Spektrum auf dem Zenit seiner räumlichen und zeitlichen Verdichtung angelangt scheint.107 In vielen Kritiken wurde vor allem die Tatsache positiv herausgestellt, dass die Bezugsgröße world music im ideologischen Kontext der Band nicht sichtbar wird; 108 negative Kritiken bezeichneten die Band wiederum als Indierockkolonialisten, welche die „Dritte Welt“ plünderten.109 Die Musiker von Vampire Weekend beschrieben ihre Musik auch als „Upper West Side Soweto“ und gaben als musikalische Quellen ihres Repertoires verschiedene afrikanische und USamerikanische Musikgruppen an. Besonderen Einfluss auf die Musik von Vampire Weekend hatten demnach das Orchestra Baobab, S. E. Rogie, die madagassische Band Rossy und die Band Super Mazembe aus Kenia.110 Weitere Referenzpunkte waren laut Sänger Ezra Koenig The Beatles, The Clash sowie Rapmusik der 1980er Jahre von Run DMC und Grandmaster Flash.111 Als wichtigste musikalische Quelle nannte die Band aber immer wieder das Album Graceland von Paul Simon.112 Zudem wurde von Koe-

105 Kai Müller, „Schwarz sehen“, in: Der Tagesspiegel vom 25.03.2008, S. 25. 106 Andrew Perry, „Vampire Weekend Interview“ (31.05.2010), http://www. telegraph.co.uk/culture/music/rockandpopfeatures/7541984/Vampire-Weekend -interview.html, Zugriff am 16.05.2013. 107 Anthony Carew, „,Vampire Weekend‘. Exile in Brazzaville“, http://altmusic. about.com/od/reviews/fr/vampireweekend.htm, Zugriff am 16.05.2013. 108 Vgl. Müller, „Schwarz sehen“, S. 25; Banning Eyre, „Vampire Weekend Interview“, http://afropop.org/multi/interview/ID/142, Zugriff am 16.05.2013. 109 Vgl. Josh Eells, „The semi-charmed life of Vampire Weekend“, in: Rolling Stone Magazine 2097 (2010), S. 48-68, hier S. 51. 110 Vgl. Müller, „Schwarz sehen“, S. 25; Eyre, „Vampire Weekend Interview“; Jan Wigger, „Rockband Vampire Weekend: Buschtrommeln in New York“, http://www.spiegel.de/kultur/musik/rockband-vampire-weekend- buschtrom meln-in-new-york-a-535315.html, Zugriff am 16.05.2013. 111 Vgl. Perry, „Vampire Weekend Interview“. 112 Vgl. Müller, „Schwarz sehen“, S. 25; Carew, „,Vampire Weekend‘“; Joseph Coscarelli, „Vampire Weekend. preppy punks?“ (29.10.2007), http://www.

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nig gerne auf die multiethnischen familiären Wurzeln der einzelnen Bandmitglieder verwiesen113 und auf die Tatsache, dass sie als Band bisher noch nie den afrikanischen Kontinent besucht hatten .114 Vampire Weekend zeichnet mit Hilfe der Medien ein klares Bild ihrer musikalischen Traditionslinien, eingebettet in eine globale „enttraditionalisierte“ Ideologie. Die Bezeichnung „Upper West Side Soweto“ führt die liberale New Yorker Upper West Side mit der südafrikanischen Township-Stadt Soweto zusammen. Damit wird bewusst eine Vermischung der Kulturen hervorgehoben. Indem sie auf Graceland Bezug nimmt, stellt sich die Band in die musikalische Tradition der wertfreien Behandlung von interkulturellem musikalischen Material. Das von einigen Kritikern benannte Internet stellen die Musiker allerdings nicht als Bezugsgröße heraus. Zwar dienten der Band Internetportale wie Myspace als globale Vermarktungsplattformen, es spielte aber im Zusammenhang mit den musikalischen Quellen der Band keine gravierende Rolle.115 Anhand der musikalischen Analyse der Songs „Cape Cod Kwassa Kwassa“ und „White Sky“ soll nun aufzeigt werden, wie sich die oben genannten Aussagen der Band Vampire Weekend in ihrer Musik widerspiegeln. Ferner werden die erzielten Ergebnisse im Gesamtkontext einer Tradition der world music im Zeitalter der Globalisierung mit den bereits gewonnenen Resultaten verglichen. Der Titel des Songs „Cape Cod Kwassa Kwassa“ aus dem Jahre 2008 ist wie der Begriff „Upper West Side Soweto“ eine Verschmelzung amerikanischer und afrikanischer Eigennamen. Cape Cod ist eine 1033 km² gro-

thedelimagazine.com/FeatureView.php?artist=vampireweekend, Zugriff am 16.05.2013. 113 Die Bandmitglieder stammen aus ungarischen, iranischen, rumänischen, italienischen und ukrainischen Einwandererfamilien, vgl. Anthony Carew, „Interview: Ezra Koenig of Vampire Weekend“ (23.11.2009), http://altmusic. about.com/od/interviews/a/vampireweekend.htm, Zugriff am 16.05.2013. 114 Vgl. Eyre, „Vampire Weekend Interview“. 115 Für die Bandmitglieder ist das Internet nur eine Erweiterung der Reichweite von musikalischen Quellen und hebt sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Medien wie Kassetten, Compact Discs, Radio, Fernsehen, Liveperformances etc. ab, vgl. Coscarelli, „Vampire Weekend“; Eyre, „Vampire Weekend Interview“.

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ße Halbinsel im Südosten des US-Bundesstaates Massachusetts116 und Kwassa Kwassa bezeichnet einen Tanzrhythmus aus dem Kongo, welcher in erster Linie zu Soukous getanzt wird.117 Der Song „Cape Cod Kwassa Kwassa“ dauert circa dreieinhalb Minuten und besteht aus einer vordergründigen Gitarrenmelodielinie, die sich nach zwei timeline pattern stetig wiederholt. Teilweise wird diese Melodie durch eine zweite Gitarre verstärkt. Der Song steht in D-Dur und verlässt diese Grundharmonie nur im Zwischenteil, in der die Gitarre die Kadenz h-Moll, D-Dur7 und D-Dur spielt. Den Rhythmus des Songs bildet ein 16 Schläge beinhaltendes timeline pattern, wie es schon aus dem Musikbeispiel S. E. Rogies bekannt ist. Der Beat wird hierbei jedoch leicht abgeändert:118

16

.x..x..x....x.x.

Abb. 12: „Cape Cod Kwassa Kwassa“ – Vampire Weekend: timeline pattern

Dieser Grundrhythmus wird nun durch verschiedene Perkussionsinstrumente erweitert, um so einen polyrhythmischen Effekt zu erzielen. Die Bassli116 Es ist zugleich ein beliebter Sommerferienort der Bandmitglieder, vgl. Eells, „The semi-charmed life of Vampire Weekend“, S. 50. 117 Soukous bezeichnet eine ostafrikanische Musikform, welche auch African Rumba oder Congo Rhumba genannt wird und ähnlich wie der Highlife stark von lateinamerikanischen Einflüssen geprägt ist. Soukous hat vom musikalischen Klangbild zudem eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ebenfalls schon vorgestellten Mbaqanga. 118 Ezra Koenig behauptet in einem Interview, dass er das Prinzip der timeline pattern aus der karibischen Musikform Bachata entlehnt, vgl. Eyre, „Vampire Weekend Interview“. Das timeline pattern hat aber, wie beschrieben, einen klar bestimmbaren westafrikanischen Ursprung und gilt in der lateinamerikanischen Populärmusik als westafrikanischer Einfluss. 119 Transkribiert aus Vampire Weekend, Vampire Weekend, XL Recordings, XLCD 318, 2008.

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nie hat einen sehr eigenständigen melodiösen Charakter und ergänzt durch verschiedene perkussive Anschlagtechniken den afrikanischen Duktus des Songs. Der Gesangspart des Stückes ist harmonisch und melismatisch an die Gitarrenmelodie angelehnt. Ezra Koenig benutzt im Zwischenteil eine sehr hohe Stimmlage, welche durch starke Melismatik einen lautmalerischen Charakter besitzt. Auch hierbei kann man von einem afrikanischen Duktus sprechen.120 Die gesamten musikalischen Parameter des Songs sind afrikanischen Musikformen entnommen. Den größten Einfluss hierbei hat die Palmweinmusik. Die vordergründige Gitarrenmelodie und das timeline pattern finden sich in fast identischer Spielweise auch bei dem vorgestellten Palmweinmusikbeispiel S. E. Rogies. Weitere Einflüsse, die den Basslauf und die melismatische Gesangslinie erklären, finden sich in verschiedenen afrikanischen Musikformen wie dem Mbaqanga oder im Soukous.121 Der Text des Songs wiederum weist auf ein westliches Sujet hin, da hier das Leben eines adoleszenten Mädchens aus einer Mittelstandsfamilie beschrieben wird: As a young girl Louis Vuitton With your mother On a sandy lawn As a sophomore With Reggaeton And the linens You're sitting on Is your bed made? Is your sweater on? Do you want to fuck Like you know I do

120 Auffallend sind auch die gesanglichen Gemeinsamkeiten mit dem Song „007 (Shanty Town)“ von Desmond Dekker, welcher in Kapitel III näher untersucht wurde. 121 Timeline pattern werden auch im Soukous verwendet. Ein Beispiel hierfür bietet der Song „Mabeley a Mama“ von Wendo Kolosoy.

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But this feels so unnatural Peter Gabriel too Can you stay up To see the dawn In the colors Of Benetton?

122

Der Liedtext von „Cape Cod Kwassa Kwassa“ stellt einen kulturellen Gegensatz zu den musikalischen Parametern des Songs dar. Er hat das Leben eines junges Mädchens zum Gegenstand, was einerseits in einer von Konsum geprägten Welt aufwächst (Louis Vuitton, Colors Of Bennetton), andererseits aber an karibisch orientierter Musik interessiert ist (Reggaeton123). Dazu werden im Zwischenteil verschiedene Handlungen, Pflichten und Wünsche der Adoleszenz beschrieben. Kommentatorisch und auf die Musik bezogen muss der Satz „But this feels so unnatural, Peter Gabriel too“ betrachtet werden. Gabriel gehörte, wie erwähnt, neben Paul Simon und anderen zu den westlichen Musikern, welche auf verschiedene Art und Weise vor allem afrikanische musikalische Stilelemente in ihre Musik integrierten und zudem afrikanische Künstler ökonomisch förderten. Da sich die Musik von Vampire Weekend aber nicht signifikant von den Produkten Peter Gabriels oder Paul Simons unterscheidet, muss dieser Kommentar als selbstironisch bewertet werden.124 Bei „Cape Cod Kwassa Kwassa“ handelt es sich also um eine Adaption nicht westlicher Musikformen in der Tradition des wertfreien cultural exchange eines Paul Simon125 mit einem doppeldeutigen

122 Transkribiert aus Vampire Weekend, Vampire Weekend. 123 Reggaeton ist eine lateinamerikanische Musikform, die sich in den 1990er Jahren aus Stilelementen des Reggae, Dancehall, Hip-Hop, Merengue und elektronischer Tanzmusik entwickelt hat und Ende der 1990er Jahre populär wurde, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Reggaeton, Zugriff am 28.08.2013. 124 Wie auch die Band sich generell als selbstironisch bezeichnet, vgl. Eells, „The semi-charmed life of Vampire Weekend“, S. 50. Sie steht damit in einer Traditionslinie mit Musikern wie Steely Dan oder Frank Zappa. 125 Man vergleiche hierzu die oben angeführten musikalischen Analysen der Songs „Mother and Child Reunion“ und „Homeless“.

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Text, welcher diese Form der Adaption (oder das Hören dieser Musik innerhalb der westlichen Hemisphäre) als unnatürlich bewertet. Rezensionen und weitere musikalische Verwertungen des Songs finden sich im Übrigen im Internet. Hier stößt man auf eine Coverversion des Songs von Peter Gabriel: Gabriel singt anstatt der Textzeile „But this feels so unnatural, Peter Gabriel too“ „But this feels so unnatural, to sing your own name“126. Eine weitere Bearbeitung des Songs wurde ebenfalls zuerst im Internet von der Musikgruppe The Very Best verbreitet. The Very Best ist eine Gruppe von Musikern, welche ähnlich wie Baaba Maal verschiedene afrikanische und afroamerikanische musikalische Einflüsse in ihrer Musik zusammenfügen. Der in London lebende malawische Sänger der Gruppe Esau Mwamwaya hörte nach eigenen Angaben „Cape Cod Kwassa Kwassa“ zum ersten Mal im Internet und bemerkte, die Gitarrenmelodie des Songs erinnere ihn an Musik aus seinem Heimatland Malawi.127 Die Band Vampire Weekend gab zudem an, dass sie gerade in Bezug auf diesen Song via Internet weiteres Feedback von Musikern aus dem Kongo, Kenia und Westafrika bekamen, welche sich alle durch den Song an afrikanische Musikformen erinnert fühlten.128 Der globale kulturelle Austausch wird hier durch das Internet gefördert und beschleunigt. Einzelne Personen und Kulturen können schneller in Kommunikation miteinander treten, da der Austausch von Daten und Quellen innerhalb von Sekunden abläuft. Nicht nur der kulturelle Austausch, sondern auch die kreative Aneignung und Weiterentwicklung wird hier durch die globale Netzwerkgesellschaft gefördert. Aufgrund der offenen Form entstehen für die Kultur und speziell die Musikkultur neue Möglichkeiten der kreativen Entwicklung, in der die Trennung von Konsument und Produzent nicht mehr gesichert ist.129 Auf Internetseiten wie YouTube können Privatpersonen eigens produzierte Musikvideos oder aber Musikvideos anderer Künstler öffentlich verbreiten. Alexander Schwan beschreibt diesen Prozess wie folgt:

126 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=-uhi2_oBdXM, Zugriff am 16.05. 2013; vgl. auch Eyre, „Vampire Weekend Interview“. 127 Berichtet von Ezra Koenig, vgl. Carew, „Interview“. 128 Eyre, „Vampire Weekend Interview“. 129 Für weiterführende Gedanken hierzu siehe Meyer-Denkmann, Grenzübergänge zwischen Musik, Kunst und den Medien heute, S. 56-60.

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„Das Internet hat sich in den letzten Jahren zu einer großen Tauschbörse entwickelt: Klänge und Bilder wandern um die Welt. Jeder hat zu jeder Zeit Zugang zu einer riesigen Datenmenge. Im Chat, Live-Stream und Mail-Versand erreichen die Daten auch die entlegensten Winkel der Erde. […] Das tragbare, drahtlose Musizieren und Komponieren mittels Notebook im globalen Dorf kennt keine Grenzen mehr, weder in technischer, sozialer noch kultureller Hinsicht. Die Technisierung der Klangerzeugung und das Netz mit einem downloadbaren (Welt-)Klangkosmos tragen auch dazu bei, dass die Unterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion, zwischen eigener, selbst erlebter und tatsächlich komponierter Klangwirklichkeit erschwert wird: Es entstehen zunehmend nicht mehr lokalisierbare Klangkompositionen, translokale Klangwelt-Kulturen. Dadurch hat sich das pop-musikalisch-interkulturelle ‚Musiker130

leben‘ verändert, hat eine weltweite Dimension erreicht.“

Das Internet stellt hier nicht nur das Verbreitungsmedium des Songs „Cape Cod Kwassa Kwassa“ dar, sondern führt zu Verwertungen der ursprünglich afrikanischen musikalischen Parameter von afrikanischen Musikern. Es findet gewissermaßen eine Rückführung dieser Parameter statt, wie sie auch am Beispiel der afrokaribischen Musik des Orchestra Baobab aufgezeigt wurde. Die hierbei entstandene Form des cultural exchange geschieht also auf der globalen Ebene der technisch-innovativen Verdichtung von Raum und Zeit. Bevor nun der Song und die weiterführenden Entwicklungen durch das Internet im Kontext der Traditionen der world music im Zeitalter der Globalisierung bewertet werden, soll noch ein zweites musikalisches Beispiel der Band Vampire Weekend besprochen werden, um hieran weitere Aspekte des veränderten Umgangs mit außereuropäischen Musikformen dazustellen. Es handelt sich dabei um den Song „White Sky“ vom zweiten Studioalbum der Band aus dem Jahre 2010. Der Song dauert ungefähr drei Minuten; das rhythmische Grundgerüst ist ein Viervierteltakt, der von zwei in sich verschlungenen Melodielinien zu einem Zwölachteltakt erweitert wird. Jedes Achtel wird hierbei durchgängig vom Synthesizer gespielt, welcher von der Klangfarbe her verschiedene afrikanische Schlaginstrumente imitiert. Der Bass und die Basstrommel betonen jede Viertel des Taktes, und die vierte

130 Alexander Schwan, „Clashes of Culture – Trans- und interkulturelle Aspekte der Popularmusik“, in: Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt (Hrsg.), Welt@Musik, S. 214-255, hier S. 222 f.

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Viertel wird durch einen perkussiven Klang hervorgehoben. Daher ist variabel entweder von einem Viervierteltakt oder einem Zwölfachteltakt zu sprechen. Dieses rhythmische Gerüst bleibt über die ganzen drei Minuten des Songs unverändert. Harmonisch bewegt sich der Song in A-Dur, D-Dur und E-Dur; der Bass spielt jeweils den Grundton der entsprechenden Harmonie.131 Die Gesangslinie hat einen rein diatonischen Charakter und wird durch verschiedene Gitarrengeräusche im Klangbild ergänzt. Der Gesangspart teilt sich in zwei Strophen, zwei kurze Zwischenspiele und einen Refrain. In der Strophe und im Zwischenspiel wird inhaltlich ein Spaziergang durch New Yorks Manhattan beschrieben; verschiedene Gebäude, Parkanlagen, Straßen oder Plätze werden hier situativ dargestellt. Der Refrain besteht aus lautmalerischen melismatischen Ausrufen in einer sehr hohen Tonlage: An ancient business A modern piece of glasswork Down on the corner that You walk each day in passing The elderly sales clerk Won't eye us with suspicion The whole, immortal corporation's given it's permission The little stairway A little piece of carpet A pair of mirrors that Are facing one another Out in both directions A thousand little Julias That come together In the middle of Manhattan You waited since lunch It all comes at once

131 Die Harmonien des Songs werden in einigen Abschnitten noch von Synthesizerakkorden ergänzt.

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Around the corner The house that modern art built I ask for modern art To keep it out the closet Of people who might own it The sins of pride and envy And on the second floor The Richard Serra Skatepark Waited since lunch It all comes at once Sit on the park wall Ask all the right questions Why are the horses Racing taxis in the winter Look up at the buildings Imagine who might live there Imagining your Wolfords In a ball upon the sink there You waited since lunch 132

It all comes at once

Der afrikanische Duktus des Songs „White Sky“ ist aufgrund der durchgehenden Zwölfachtelbewegung sehr stark erkennbar. Die Art der zwei in sich verschlungenen Melodielinien und die rhythmischen Betonungen sind bekannt aus den Musikformen Mbaqanga oder dem Soukous. Die Bhundu Boys aus Zimbabwe, die gewissermaßen geographisch zwischen den Einzugsgebieten dieser beiden Musikstile aufwuchsen, benutzen in ihrem musikalischen Repertoire häufig ebenfalls diese Art der rhythmischen Unterteilung.133 Auch finden sich auf Paul Simons Graceland-Album mit „I

132 Transkribiert aus Vampire Weekend, Contra, XL Recordings, XLCD 429, 2010. 133 Das ist unter anderem sehr deutlich zu hören bei dem Song „Mhunza Musha“ vom Album der Bhundu Boys, Muchiyedza, Cooking Vinyl Records,

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know what I know“ und „Crazy Love Vol. II“ zwei Songs, die ähnliche Melodieführungen aufweisen. „White Sky“ von Vampire Weekend lässt sich dennoch nicht genau einer bestimmten afrikanischen Musikform zuordnen, da die verschiedenen übereinander gelegten Rhythmen und die duale Melodie plus eigenständige Gesangslinie auch Verwandtschaften zu vokaler Prozessionsmusik verschiedener afrikanischer Regenwaldethnien erkennen lassen.134 Elemente des Klangbildes wie der melismatische sehr hoch intonierte Refrain oder der die Viertelnoten betonende Bass lassen zudem weitere Rückschlüsse auf andere afrikanische Populärmusiken zu.135 Vampire Weekend konstruieren hier ähnlich wie Paul Simon mit „You can call me Al“ einen hybriden Musikstil aus verschiedenen afrikanischen Musikformen. Der Text des Songs steht nun wiederum im klaren Widerspruch zu seinen musikalischen Parametern, da es sich um eine bildliche Beschreibung einer der urbansten Stadteile New Yorks handelt. Auch der Titel „White Sky“ lässt den Schluss zu, dass kein neutrales Sujet gewählt wurde, sondern bewusst eine amerikanische (westliche) Metropole als Beschreibungsvorlage dienen sollte. Die von Vampire Weekend übergeordnete Beschreibung ihres Musikstils als „Upper West Side Soweto“ erfährt hier – ebenso wie im vorangegangenen Beispiel – eine musikalische Darstellung. Zudem lassen sich Parallelen zu den beschriebenen Theorien der globalen Ballungsräume und einer „global city“ ausmachen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Beschreibung der global city von James Clifford.136 Clifford benutzt hierfür einen essayistisch geschriebenen Rundgang durch Manhattan und überschreibt diesen mit dem Titel „White Ethnicity“. Auch Hartmut Rosa beschreibt einen Rundgang durch eine global city, bei dem man „binnen Minuten von einem Stadtviertel mit mittelalterlichen Markt- und Religionsszenen in ein Finanz- und Kommunikationszentrum des 21. Jahrhunderts und gleich

COOKCD 118, 1997. Ein Beispiel aus dem Soukous wäre der Song „Kassongo“ vom Orchestra Super Mazembe aus dem Jahre 1977. 134 Vgl. Eyre, „Vampire Weekend Interview“. 135 Vgl. ebd. 136 Clifford, Routes, S. 92-104.

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darauf in eine an die industrielle Revolution gemahnende Industriegegend wandern kann .“

137

Es ist nicht belegt, inwiefern Vampire Weekend hier direkten Bezug auf die theoretischen Beschreibungen einer global city nimmt. Die Parallelen zu dem Songtext von „White Sky“ sind jedoch verblüffend. Wie lassen sich nun die erzielten musikalischen Ergebnisse der Band Vampire Weekend im Kontext der world music im Zeitalter der Globalisierung bewerten? Wie oben besprochen, beschleunigt das Internet die Verdichtung von Raum und Zeit so sehr, dass dies eine Veränderung der Weltwahrnehmung zur Folge hatte. Die neuen Möglichkeiten der globalen Reichweiten kommen hierbei nicht nur dem kulturellen Austausch zugute, sondern die globale Vernetzung spiegelt sich auch in den künstlerischen – hier musikalischen – Produkten wider. Das Medium Internet bedeutet gewissermaßen nicht nur Motor, sondern auch Quelle und Sinn des künstlerischen Produktes.138 Die globale Netzwerkgesellschaft führte zu einer veränderten Sichtweise auf Musikkulturen. Mit ihren öffentlichen Aussagen verstärkte die Band Vampire Weekend die Ideologie, dass ihnen Musikformen aus jeder Zeit, von allen Ethnien und aus allen gesellschaftlichen Gruppen wertfrei zur Verfügung stehen. Sie betonen zwar, dass das Internet nicht unmittelbar als Materialbeschaffungsquelle ihres musikalischen Repertoires gedient hat, aber die weitere Bewertung und Verwertung des Songs „Cape Cod Kwassa Kwassa“ zeigt, welche Bedeutung das Internet im 21. Jahrhundert spielt und wie darüber auch Rückkoppelungen verschiedener Musikstile in ihr jeweiliges Herkunftsgebiet entstehen können. Die Musik von Vampire Weekend hebt sich zudem von den vergleichbaren Ergebnissen Paul Simons aus den 1980er Jahren ab, da hier eine andere Selbstverständlichkeit im Umgang mit afrikanischen Musikformen vorherrscht. Paul Simon hat sich noch dezidiert für die Bekanntmachung afrikanischer Musikgruppen wie Ladysmith Black Mambazo eingesetzt und sich musikalisch wie textlich entweder sehr nah an die ursprünglichen musikalischen Parameter der jeweiligen Musikstile gehalten (wie bei den bei-

137 Rosa, Beschleunigung, S. 168 f. 138 Diese Idee hat übrigens bereits Marshall McLuhan formuliert. Für weitere Ausführungen hierzu siehe Thorsten Klages, Medium und Forum – Musik in den (Re-)Produktionsmedien, Osnabrück 2002.

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den vorgestellten Beispielen „Mother and Child Reunion“ und „Homeless“) oder die neuen hybriden musikalischen Ergebnisse in der textlichen Gestaltung der Songs nicht weiter kommentiert (wie beim vorgestellten Beispiel „You can call me Al“). Die untersuchten Songs der Band Vampire Weekend erzeugen hingegen aufgrund des Zusammenspiels von Musik und Text einen Widerspruch. Dieser wird mit Selbstironie so vermittelt, dass mit dem Erreichen einer Metaebene kein ideologischer Konflikt entsteht. Es lassen sich Parallelen zu den Beispielen der vorgestellten afrikanischen Musiker finden: Die zitierte Aussage von Youssou N’Dour, in der er seine musikalischen Quellen beschreibt139, oder die musikalischen Erzeugnisse eines Baaba Maals stehen der Band Vampire Weekend ideologisch nahe. Maal und N’Dour legen Wert darauf, dass europäische und afroamerikanische Musikformen genauso selbstverständlich zu ihrem musikalischen Repertoire gehören wie afrikanische. Die globale Netzwerkgesellschaft ermöglichte Vampire Weekend ein musikalisches Ergebnis, welches vorher nur durch jahrzehntelange interkulturelle Migrations- und Kolonisationsprozesse entstehen konnte. Die Musikgruppe Vampire Weekend steht beispielhaft für eine populäre Musikgruppe, der alle musikalischen Quellen zur Verfügung stehen und die damit eine neue transnationale und transkulturelle Form der world music kreiert. Durch das Selbstverständnis der Benutzung globaler musikalischer Quellen ist im Zeitalter der Globalisierung die Kategorisierung unter dem Schlagwort world music obsolet geworden.140 Die musikalischen Erzeugnisse der Band Vampire Weekend bilden eine hybride Metaform aus afrikanischer Populärmusik und dem „welt“-musikalischen Repertoire Paul Simons. Möglich wurde dies durch Beschleunigungsprozesse und die Verdichtung von Raum und Zeit. Simon lieferte hierbei die Idee und die afrikanischen Künstler das Selbstverständnis, sich mit der Musik anderer Kulturen zu beschäftigen. Die musikalischen Beispiele und das beschriebene ökonomische wie ideologische Engagement Paul Simons führten in den

139 Vgl. FN 92. 140 Ähnliche Gedanken finden sich bei Philip V. Bohlman, „World music at the ,end of history‘“, in: Ethnomusicology, Journal of the Society for Ethnomusicology 46/1 (2002), S. 1-33, hier S. 24 f. Vampire Weekend werden im Übrigen aufgrund ihrer westlichen Herkunft nicht unter der Kategorie world music geführt.

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1980er Jahren zunächst zu einer musikalischen wie ökonomischen Definition der world music und zu einer Enttraditionalisierung nicht westlicher Musikkulturen. Die globale Vermarktung evozierte dabei eine lokale Neubestimmung der Musiktraditionen. Der Prozess der Glokalisierung wurde daran nachvollziehbar. Afrikanische Musiker nutzten im Anschluss diese neue globale Aufmerksamkeit, um ihre Musik, welche im Spannungsfeld zwischen afrikanischer und europäischer Traditionen entstanden ist, global zu vermarkten. Das Beispiel der Band Vampire Weekend führt nunmehr zu einer neuen reflexiven musikalischen Bewertung dieser Traditionen der world music im Zeitalter der Globalisierung, da hier durch Elemente der Gegenüberstellung und Selbstironie einhergehend mit einem neuen musikalischen Selbstverständnis der Begriff entgrenzt wird. Die Entwicklung der world music und ihre neue Beurteilung lässt in gewisser Weise wiederum auffallende Parallelen zu den in Kapitel II vorgestellten verschiedenen Stadien des Weltmusikkonzeptes Karlheinz Stockhausens erkennen. Nach einer anfänglichen Vereinnahmung „traditioneller“ Musikformen durch die westliche Welt (Paul Simon) wurde zunächst wieder mehr Wert auf lokale Bezüge innerhalb der Musik gelegt („afrikanische“ Beispiele), die aber den neuen westlichen Apparat ökonomisch nutzten. Im 21. Jahrhundert entstand eine neue Weltmusik, die sich wertfrei aus allen globalen Kulturen ergibt und somit vielleicht Stockhausens Kriterien der vierten und letzten Stufe seines Weltmusikkonzeptes erfüllt.

V Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Fallbeispiele

Alle drei vorgestellten musikalischen Fallbeispiele liegen zeitlich in der von den Sozialwissenschaften beschriebenen letzten (oder jüngsten) Globalisierungsperiode. Anthony G. Hopkins nennt diese post-colonialglobalization1 und David Held bezeichnet sie als contemporary period of globalization2. Der verwendete Terminus Zeitalter der Globalisierung wurde – wie bereits in der Einleitung erwähnt – aus Martin Albrows Begriff des „global age“ entlehnt und beschreibt wie die beiden oben genannten Begriffe die gesellschaftlichen Veränderungen ab 1950. Bei allen drei Beispielen wirkten aber bereits vor dem Einsetzen des Zeitalters der Globalisierung globalgesellschaftliche Aspekte auf die Musik ein. Stockhausens Weltmusikidee fußt auf Gedanken, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts unter Einfluss der gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne formuliert worden sind. Ferner hatten die technischen Entwicklungen jener modern period of globalization großen Einfluss auf die Kompositionsästhetik des 20. Jahrhunderts. Was die anderen beiden Fallbeispiele betrifft, so spielte vor allem das Radio als Globalisierungsmotor schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in der Genese neuer Musikstile und Formen. Die Entstehung von afrikanischen und afroamerikanischen Musikformen in frühen Phasen der Globalisierung – meist durch

1

Hopkins, „Introduction“, S. 3-7.

2

Held et al., Global Transformations, S. 26.

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Kolonisationsprozesse bedingt – bildete hier das Fundament für die weiteren entscheidenden Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung. Die Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Fallbeispiele werden im Folgenden noch einmal zusammenfassend dargestellt. Die herausgearbeiteten Perspektiven und Prozesse des Zeitalters der Globalisierung dienen dabei als Leitfaden, um die drei Fallbeispiele noch einmal gegenüberzustellen und miteinander zu vergleichen. Es lassen sich zudem die vorgestellten Modelle einer kulturellen Globalisierung von Arjun Appadurai und Roger Wallis und Krister Malm auf alle drei Fallbeispiele anwenden. Diese unterstützen die Beschreibung kultureller Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung.

1

M ODELLE

DER KULTURELLEN

G LOBALISIERUNG

Die vorgestellten Ansichten Karlheinz Stockhausens im Zusammenhang der Komposition HYMNEN bewegen sich auf den von Appadurai vorgestellten globalen Ebenen der ideoscapes und mediascapes. Stockhausen benutzt konkret den Weg über die Medien, um seine USA-kritische Haltung kundzutun; seine Aussagen zur Uraufführung der dritten Region der HYMNEN für Orchester in New York stehen hierfür exemplarisch. Mit dem damit einhergehenden Sympathiebekenntnis zum vietnamesischen Volk positioniert sich Stockhausen ideologisch als Gegner des Vietnamkrieges und ist somit Teil der weltweiten Antikriegsproteste, die von Marshall McLuhan als erstes Beispiel für die Beschreibung des global village herangezogen wurden. Auf der Ebene der ideoscapes bewegen sich auch Phänomene der anderen beiden Fallbeispiele. Die Musikform Ska stellte zum einen eine Ausdrucksform der Arbeiterklasse auf Jamaika dar – welche die Skinheads dann später auch als globales Identifikationsmuster übernommen haben –, zum anderen wurde durch den Reggae die Ideologie des Panafrikanismus und des Rastafarikultes global verbreitet. Die jamaikanische Unterhaltungsund Tanzmusik transportierte also im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung globale Ideologien. Bei der world music zeigen vor allem die Beispiele der afrikanischen Musiker auf, welche ideologischen Beziehungen im Zeitalter der Globalisierung geknüpft werden können. S. E. Rogie, das Orchestra Baobab und Baaba Maal haben sich in verschiedenen Kontexten als Bot-

V G EMEINSAMKEITEN

UND

D IFFERENZEN

DER DREI

F ALLBEISPIELE | 195

schafter eines Nationalstaats, einer Ethnie oder des gesamten Kontinents definiert; musikalisch wiederum sehen sie sich ideologisch eher der Weltgesellschaft zugehörig. Auf der Ebene der technoscapes lässt sich die allgemeine Entwicklung der globalen Musikindustrie – wie die bereits genannte Studie von Krister Malm und Roger Wallis belegt3 – verorten. Auf dieser Ebene und auf der Ebene der financescapes sind die technischen und ökonomischen Möglichkeiten der lokal und global operierenden Musikindustrie Jamaikas, des Labels world music und auch die musikalischen Beispiele aus dem Œuvre Paul Simons, welche nicht unter dem Label world music vertrieben wurden, anzusiedeln. Gemeint sind hierbei vor allem die Netzwerke und Reichweiten der globalen Musikindustrie, welche die verschiedenen Akteure miteinander in Verbindung bringen. Auf der Ebene der ethnoscapes muss nun bei allen drei Fallbeispielen differenziert werden: Karlheinz Stockhausens Kompositionsästhetik steht zwar in einer europäischen Tradition und seine Fortschrittsideologie lässt sich, wie beschrieben, aus der europäischen Geistesgeschichte herleiten. Die Idee der HYMNEN, eine transnationale Musik darzustellen, versucht allerdings die Frage einer ethnischen oder nationalen Verortung zu umgehen. Beim Ska wiederum ist bei allen musikalischen Entwicklungen eine ethnische – teilweise auch ideologische – Zuordnung möglich; sei es durch die nationale, politische und ethnische Vereinnahmung des jamaikanischen Ska, die Intoleranz der Skinheadbewegung gegenüber Andersdenkenden oder aber durch die Betonung der afrikanischen Wurzeln beim Reggae. Die globale Vermarktung der world music führte im dritten Fallbeispiel lokale Betonungen herbei, die sich auf unterschiedlichen ethnischen Ebenen bewegen. Die Beispiele der afrikanischen Musiker bedienen alle eine unterschiedliche ethnische (oder nationale) Ebene. Die musikalischen Beispiele der Band Vampire Weekend versuchen wiederum, die ethnische Ebene aufzulösen, ähnlich, wie es Stockhausen versuchte. Wie erwähnt, werden hier Parallelen zwischen dem Weltmusikkonzept Stockhausens und der musikalischen Idee von Vampire Weekend sichtbar. Das kulturelle Modell von Krister Malm und Roger Wallis, welches den globalen musikalischen Austausch in vier verschiedene Interaktionen unterteilt, kann ebenfalls an den drei Fallbeispielen erläutert werden und

3

Wallis und Malm, Big Sounds from Small Peoples.

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dient somit dem Verständnis einer kulturellen Globalisierung. Karlheinz Stockhausen wurde im Zusammenhang mit der Komposition HYMNEN – aber auch bei der TELEMUSIK – von verschiedener Seite cultural dominance vorgeworfen, da er Musik anderer Kulturen in seinen Kompositionen verwendete. Zudem wurde er aufgrund der technischen Kompositionsweise der HYMNEN des cultural imperialism beschuldigt, also der technischen Abhängigkeit anderer Kulturen von der westlichen Musikindustrie. Abgesehen vom Pamphlet Stockhausen Serves Imperialism von Cornelius Cardew aus dem Jahr 19744 wurden diese Begriffe in den kontroversen Rezeptionen seiner Weltmusikidee und der beiden besprochenen Werke jedoch nicht wörtlich verwendet. Anders verhält es sich beim Beispiel des Ska: Die musikökonomische Entwicklung auf Jamaika stellt zweifelsfrei eine Form des von Krister Malm und Roger Wallis so definierten cultural imperialism dar, weil die technischen Errungenschaften der Musikindustrie hier direkten Einfluss auf die musikalischen Veränderungen des Ska hin zum Rocksteady und Reggae hatten. Im Beispiel der world music stellen wiederum sowohl die globale Vermarktung der Musik S. E. Rogies, des Orchestra Baobab und Baaba Maals als auch das Beispiel „Homeless“ von Paul Simon und die nachfolgende Vermarktung des Männerchores Ladysmith Black Mambazo eine Form des cultural imperialism dar. Auch hier hatte die Musikindustrie direkten Einfluss. Auf musikalischer Ebene ist nun beim Ska und den Traditionen der world music zwischen einem cultural exchange und einer transculturation zu unterscheiden, da die musikalischen Beispiele jeweils hybride Musikformen sind, in denen keine vordergründigen Gewichtungen der musikalischen Einflüsse auszumachen sind. Am Beispiel der Musikform Ska wurden drei verschiedene Formen der transculturation vorgestellt: (1.) definieren der Ska und der Rocksteady eine Variante der transculturation, weil die Musikindustrie eine globale Reichweite erzielte und sich die Musik dadurch in verschiedenen Regionen ausbreiten und unter Einfluss anderer Traditionen verändern und weiterentwickeln konnte; (2.) stellt der Reggae eine weitere Form der transculturation dar, welche durch engere Bindung an ethnische und ideologische Kontexte globale Wirkung erzielte; und (3.) ist mit der Entbettung des Ska durch Skinhead-Reggae-Musikgruppen eine

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Cornelius Cardew, Stockhausen Serves Imperialism, London 1974.

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dritte Form der transculturation entstanden. Im Fallbeispiel der Traditionen der world music sind die musikalischen Ergebnisse von Baaba Maal, S. E. Rogie, Vampire Weekend und der Song „You can call me Al“ von Paul Simon Formen der transculturation, da diese ebenfalls durch eine Vielzahl von Einflüssen entstanden sind. Als cultural exchange sind nun der Song „Homeless“ von Paul Simon und Ladysmith Black Mambazo sowie der Song „Mother and Child Reunion“ zu definieren, da hier die verschiedenen Musiker – oder bei letzterem die Produzenten – ihren musikalischen kulturellen Hintergrund in die jeweiligen Songs gleichberechtigt einbrachten. Auch die Musik des Orchestra Baobab ist eine Vermischung zweier musikalischer Kulturen und demnach eine Form des cultural exchange, obwohl hier noch anzumerken ist, dass der lateinamerikanische Einfluss nicht von einzelnen Musikern repräsentiert wird, sondern durch das Radio vermittelt wurde.

2 P ERSPEKTIVEN UND P ROZESSE IM Z EITALTER DER G LOBALISIERUNG 2.1 Politisch-ökonomische Transnationalität Politisch-ökonomische Transnationalität stellt sich in Stockhausens HYMNEN auf zweierlei Art dar: (1.) entstehen durch die Verknüpfung der Nationalhymnen, welche als „Zeichen“ in einer globalen Welt fungieren, transnationale Verbindungen. Die HYMNEN bilden gewissermaßen eine transnationale Organisation auf musikalische Weise: Parallel zu weltpolitischen Ereignissen jener Zeit versucht Stockhausen, die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges zu verarbeiten, machtpolitische Blöcke zusammenzuführen und auf eine vereinte Welt (oder ein vereintes Europa) vorauszuschauen; (2.) wird dieses Ideologiekonzept durch die offene Form, eine serielle Struktur und die Verwendung von elektronischen Klängen bestärkt. Es wird also auch auf einer kompositorischen Ebene eine transnationale Ästhetik erzielt, da jene drei musikalischen Stilmittel sich nicht mehr national verorten lassen und im Diskurs der Avantgarde jener Zeit als transnational galten. Im Fallbeispiel Ska beeinflussten vor allem koloniale und postkoloniale Migrationsströme die musikalische Entwicklung. Die Entstehung des

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Rastafarikultes und der Panafrikanismusbewegung, welche Einfluss auf die Genese der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik hatten, sind als transnationale Phänomene zu definieren, und auch die Migrationsströme jamaikanischer Arbeiter nach Großbritannien veränderten nicht nur die ethnische Zusammensetzung im Vereinigten Königreich, sondern auch die weitere Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik. Der Ska wird überdies im Zeitalter der Globalisierung Symbol der transnationalen Subkultur der Skinheads und steht hier als Beispiel für die Neukontextualisierung von Musiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter der Schirmkategorie world music werden hingegen de facto transnationale Organisationen – gemeint ist die globale Musikindustrie – geführt, welche, wie beschrieben, lokale Musikkulturen global vermarkten. Die vorgestellten, unter dem Label world music vermarkteten musikalischen Beispiele der afrikanischen Künstler entstanden zudem in den urbanen Ballungsräumen Westafrikas, welche als transnationale Räume begriffen werden; die Musiker selbst bezeichneten sich zudem als global citizens. In der Musik der Band Vampire Weekend werden ebenso urbane Ballungsräume am Beispiel New Yorks beschrieben.5 Transnationalität drückt sich bei Vampire Weekend auch durch die Vermischung lokaler Eigennamen in der Beschreibung des Musikstils als „Upper West Side Soweto“ und dem Titel des Songs „Cape Cod Kwassa Kwassa“ aus. Alle drei Fallbeispiele stehen also in Bezug zu einer politisch-ökonomischen Transnationalität, welche im Zeitalter der Globalisierung konkretisiert wird: Migration, transnationale Organisationen oder Unternehmen und urbane Ballungsräume wirken auf die Musik ein, verändern diese und stellen sie in einen neuen gesellschaftlichen Kontext. Die daraus hervorgehenden theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft lassen sich an allen drei Fallbeispielen auf unterschiedlichen Beziehungsebenen aufzeigen: Stockhausens Weltmusik sehnt sich diese herbei, der Ska wird als Symbol im subkulturellen Weltkontext verwendet und die Traditionen der world music gehen quasi aus der Weltgesellschaft hervor, da ihre Akteure musikalisch wie ökonomisch ein Teil von ihr sind.

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Die Bandmitglieder von Vampire Weekend sind im Übrigen alle im urbanen Ballungsraum New York aufgewachsen und sozialisiert worden.

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2.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit Die technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit wird in den HYMNEN anhand verschiedener kompositorischer Stilmittel dargestellt: Karlheinz Stockhausens Verfahren der Intermodulation bringt diese zunächst unter Zuhilfenahme elektronischer Klangerzeugungsmöglichkeiten zum Ausdruck. Ferner verdichtet das eingeschobene Studiogespräch „Otto Tomek sagte…“ Raum und Zeit, da darin Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengeführt werden; weitere Beispiele für Bezugnahmen auf Beschleunigungsprozesse im Zeitalter der Globalisierung finden sich in den verschiedenen Übergängen von einer Nationalhymne zu einer anderen wie etwa der USA-Collage oder der Brücke „von Amerika zu Spanien“. Wie oben bereits erwähnt, spielte das Radio als eine technische Innovation der modern period of globalization in allen drei Fallbeispielen eine entscheidende Rolle als Globalisierungsmotor. In „Stockhausens Weltmusik“ fungierte es als „Empfänger der Welt“ und auf Jamaika und in Westafrika führte die durch das Radio – beim Beispiel der Palmweinmusik aus Sierra Leone wird in diesem Zusammenhang als technische Innovation jener Zeit auch das Grammophon genannt – übermittelte Musik zur Genese neuer Musikstile. Am Beispiel von Vampire Weekend wird die technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit nun am prägnantesten zum Ausdruck gebracht. Das Internet und die globale Netzwerkgesellschaft prägten die musikalischen Erzeugnisse der Band und ermöglichen wiederum den Kontakt und den musikalischen Austausch mit anderen Musikern. Die Perspektive einer technisch-innovativen Verdichtung spielt also in allen drei Fallbeispielen eine Rolle, wobei diese nicht erst im Zeitalter der Globalisierung einsetzt. 2.3 Informell-kulturelle Reflexivität Die informell-kulturelle Reflexivität und dritte Perspektive der gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung wird in allen drei Fallbeispielen ebenfalls sehr deutlich beschrieben. Unter anderem wird Karlheinz Stockhausens Weltmusikstadium der Uniformität durch den Begriff der Kulturindustrie entscheidend geprägt. Stockhausen setzt sich in seinen vorgestellten Schriften und in den HYMNEN – zum Beispiel anhand

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der USA-Collage in der dritten Region – kritisch mit dem ideologischen Terminus der Amerikanisierung der Musikkulturen auseinander, welcher in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Kulturindustrie aufkam. Der Vorgang einer Amerikanisierung wird auch an der weiteren Entwicklung des jamaikanischen Ska deutlich: Die musikalischen, zumeist über das Radio vermittelten Produkte der Kulturindustrie prägten Jugend- und Subkulturen wie die Rude Boys auf Jamaika. Diese hatten großen Einfluss auf den Rocksteady. Eine nationale Verortung der jamaikanischen Unterhaltungsund Tanzmusik erscheint beim Rocksteady schwieriger beziehungsweise verschwindet diese mit Aufkommen des Begriffes der Globalen Kulturindustrie. Rocksteady und Reggae, die Skinhead-Ska-Musikgruppen oder die Musikform Two-tone beeinflussten globale Kulturen und Subkulturen und wurden gleichzeitig wiederum von ihnen beeinflusst. Die Bezugnahmen laufen im Fallbeispiel des globalen Ska also immer wechselseitig beziehungsweise reflexiv ab. Auch die Produkte der world music, Paul Simons und der Band Vampire Weekend lassen keine klare kulturelle Verortung mehr zu. Die „afrikanischen“ Musikbeispiele, die unter dem Begriff world music vermarktet wurden, sind von Erzeugnissen der Kulturindustrie geprägt und Paul Simon und Vampire Weekend stehen a priori unter Einfluss der US-amerikanischen Kulturindustrie. In der Globalen Kulturindustrie steigt der Einfluss lokaler und scheinbar nicht kulturindustrieller Produkte bei gleichzeitiger globaler Vermarktung. Die Reflexivität der Globalen Kulturindustrie führt zu einer wertfreien Vermischung globaler Kulturen. 2.4 Prozesse der Globalisierung Bei der Betrachtung der drei musikalischen Fallbeispiele ist aufgefallen, dass die vorangestellten drei Perspektiven der Globalisierung einander bedingen und auch ineinander übergehen. Die Perspektiven der Globalisierung überschneiden sich und eine klare Trennung ist hier nicht mehr möglich. Dies ist ein entscheidendes Attribut für das Zeitalter der Globalisierung, da in deren Zusammenspiel nun die Prozesse der Globalisierung in Erscheinung treten. Die vorangestellte soziologische Theorie wird anhand der musikalischen Fallbeispiele demnach geschärft und klarer verständlich. Der Begriff Glokalisierung war Karlheinz Stockhausen nicht bekannt beziehungsweise gab es ihn zu jener Zeit noch nicht. Dennoch steht die

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musikalische Idee der HYMNEN, einen Pluralismus in einem Monismus auszudrücken, in Verbindung mit der Idee, Lokales global zu vermarkten, und auch Stockhausens aufeinanderfolgende Weltmusikstadien können in gewisser Weise als Glokalisierung bezeichnet werden, da Uniformität hier zu heterogener Universalität wird. Im Fallbeispiel des Ska führten die anhand des Prozesses der Glokalisierung beschriebenen Wechselwirkungen im Zeitalter der Globalisierung zu einer Verstärkung des „Heimatgedankens“ auf Jamaika und später auch in Großbritannien. Dies drückte sich unter anderem darin aus, dass die afroamerikanische Musikform Ska, die durch verschiedene musikalische Traditionen auf Jamaika entstand, als Jamaikas erste „Nationalmusik“ definiert und global wie lokal in anderen Kontexten verwertet und bewertet wurde. Die Beispiele der Vermarktungsstrategien der world music lassen sich dagegen als ökonomische Reinform der Glokalisierung bezeichnen, da dieses Fallbeispiel gewissermaßen systemimmanent ist. Hier werden lokale Musikgruppen durch eine visuelle wie auch musikalisch dargestellte imaginäre Lokalisierung global vermarktet. Beispiele hierfür liefern wiederum die besprochenen „afrikanischen“ Musikbeispiele. Die Prozesse der Enttraditionalisierung und Entbettung sind nun in allen drei Fallbeispielen nicht genau voneinander zu trennen, da sie in vielerlei Hinsicht die gleichen Ergebnisse evozieren. Enttraditionalisierung als „Aufstieg des Westens“ und Destruktion traditioneller Lebensformen lassen sich sowohl an der Materialbehandlung in Stockhausens HYMNEN und der globalen Verbreitung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik als auch an den Beispielen Paul Simons und der world music festmachen. Bei Stockhausen vollziehen sich die Prozesse Enttraditionalisierung und Entbettung besonders am Beispiel der zerstückelten Nationalhymne der Sowjetunion. Enttraditionalisierung hat hier einen politisch intendierten Hintergrund: Die Sowjetunion „zerfällt“ bei Stockhausen aufgrund des Einflusses des Westens, versinnbildlicht durch den rationalisierten, elektronischen Kompositionsstil dieser Passage. Der Ska wird hingegen unter westlichem Einfluss verändert und verbreitet. Verschiedene Kulturen und Subkulturen vereinnahmen die jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik im Laufe ihrer musikalischen Entwicklung und stellen sie in einen anderen Kontext. Auch beim Beispiel der Traditionen der world music vollzieht sich der Prozess der Enttraditionalisierung: Durch den Kontakt mit anderen Traditionen werden die lokalen Traditionen verändert und es entstehen

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neue musikalische Formen, welche im globalen Kontext zu frei bestimmbaren Identitäten führen. Diese Identitäten, wie auch das Beispiel Vampire Weekend eindrucksvoll aufzeigt, sind das Ergebnis einer enttraditionalisierten Welt, welche im Zeitalter der Globalisierung besonders sichtbar wird. Voraussetzung für diese selbstbestimmten Identitäten sind Entbettungsmechanismen, welche laut Anthony Giddens durch die Einführung von Zeichen und das Vertrauen in Expertensysteme entstehen. Die vorgestellte Beschreibung der elektronischen Musik von Karlheinz Stockhausen definiert gewissermaßen die von Giddens aufgestellten Kriterien der Expertensysteme: Stockhausen beschreibt hier den Prozess der Entbettung durch die Kompositionstechniken der elektronischen Musik. Die Materialbehandlung in den HYMNEN setzt zudem die jeweiligen Nationalhymnen als kulturelle Zeichen in einen globalen Kontext. Diese werden durch die verschiedenen Ebenen und Zusammenhänge entbettet oder enttraditionalisiert. Ähnliches vollzieht sich im globalen Kontext auch mit dem Ska. Die Musikform Ska wird beispielsweise durch die globale Skinheadsubkultur entbettet, da sie nun als Zeichen dieser Subkultur fungiert. Das Herausheben aus sozialen Sinn- und ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen gilt als weiteres Merkmal der Entbettung. Die Schirmkategorie world music hingegen kann man durchaus als etabliertes kulturelles (globales) Zeichen definieren. Hier wird direkt eine globale Verbindung kreiert, um eine Ortsbindung zu stärken und gleichsam aufzuheben beziehungsweise im globalen Kontext frei flottieren zu lassen.

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In allen Fallbeispielen werden durch Globalisierungszusammenhänge Bindungen aufgelöst und Raum für neue globale Identitäten geschaffen. Der Weltbürger und eine Weltmusik stehen überall im Mittelpunkt. Bei Karlheinz Stockhausen geschieht dieses intentional als ideologischer Überbau der Werke HYMNEN und TELEMUSIK. Diese versinnbildlichen Stockhausens geistige Haltung und seine gesellschaftlichen Überlegungen in Zeiten des beginnenden Zeitalters der Globalisierung. Der Ska hingegen steht in keinem direkten Bezug zu den Begriffen Weltbürger oder Weltmusik. Weder ist die Weiterentwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik in diesen Kontext zu positionieren, noch sieht sich die globale

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Subkultur der Skinheads als Weltbürgertum. Jamaikanische Unterhaltungsund Tanzmusik wurde ähnlich wie afroamerikanische US-Musikformen zu keiner Zeit unter der Kategorie world music vertrieben.6 Ein Grund hierfür ist die seit den 1960er Jahren entstandene global operierende jamaikanische Plattenindustrie und ihre enorme quantitative Produktion von neuen Musikstücken.7 Ferner hat kein jamaikanischer Musiker den Anspruch erhoben, eine Weltmusik zu schreiben oder unter dem Label world music globale Akzeptanz zu finden. Der globale Kontext ist hier anders als beim Fallbeispiel der HYMNEN von Stockhausen nicht intentional projiziert worden, sondern durch soziokulturelle globale Veränderungen entstanden; die globale Verbreitung und die musikalischen Transformationen der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik werden also ebenfalls durch die Perspektiven und Prozesse im Zeitalter der Globalisierung beschrieben. Die Traditionen der world music spielen hingegen von Anfang an mit globalen Identitäten. Paul Simon setzt sich mit der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik wie mit südafrikanischer Musik auseinander und eröffnet dadurch neue – im globalen Kontext vermarktete – Möglichkeiten der ideologischen Verwertbarkeit lokaler Musikstile. Diese Idee wird mit der Kategorie world music weiter aufgegriffen. So bezeichnen sich einige Musiker, deren Musik unter der Kategorie world music vertrieben wird, als world citizen oder Weltbürger. Das Beispiel der Band Vampire Weekend führt nun am Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer vollkommenen Korrosion der lokalen Verortung der Musik, da hier mit den Aussagen der Band, der Beschreibung des Musikstils und der Selbstironie eine Metaebene erreicht wird, die den Diskurs über Heterogenisierung versus Homogenisierung der Musik quasi auflöst. Karlheinz Stockhausen partizipierte noch an diesem Diskurs, indem er in seinen aufeinanderfolgenden Weltmusikstadien – in der Komposition HYMNEN exemplifiziert – die Homogenisierung der Musikkulturen anhand verschiedener kreativer Prozesse in eine heterogene globale Kultur transformierte. Das Fallbeispiel Ska im globalen Kontext legt wiederum dar, wie die Überlieferungen musikalischer Formen durch Kommunikationsmedien zu neuen Musikstilen führen können, ohne

6

Vgl. Peter Manuel, Caribbean Currents, Philadelphia 1995, S. 143 f.

7

In den 1970er Jahren galt die jamaikanische Plattenproduktion als die größte gemessen an der Dichte der Produktionen pro Einwohner des Landes, vgl. Harrison, „Volksmusik und gesellschaftliche Realität im heutigen Jamaika“, S. 170.

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dass dabei die Musikkultur homogenisiert wird. Vampire Weekend sind nun das abschließende Beispiel dafür, dass im Zeitalter der Globalisierung dieser Diskurs obsolet geworden ist. Die Gegenüberstellung der Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Fallbeispiele lässt den Schluss zu, dass die gesellschaftlichen Veränderungen der Globalisierung die Musikkultur signifikant verändert haben. Die Frage nach dem historisch Neuen im Zeitalter der Globalisierung wird mit der dargestellten Intensität, Reflexivität und Dialektik der globalen Veränderungen ab 1950 beantwortet; hier erhält das Zeitalter der Globalisierung eine gesonderte Stellung im Vergleich zu früheren Globalisierungsperioden. Die drei musikalischen Fallbeispiele stehen repräsentativ für eine globale Musikkultur und bestätigen die Kernthese der Arbeit. Das Verhältnis von Musik und Realgeschichte und das Selbstverständnis des Globalisierungsbegriffes werden anhand der Darstellung des Zeitalters der Globalisierung an den drei musikalischen Exempeln sehr deutlich: Alle Fallbeispiele sind von den Perspektiven und Prozessen im Zeitalter der Globalisierung mehr oder weniger geprägt und verändert worden, so dass die Gemeinsamkeiten aller stark zum Vorschein kommen. Diese neue Globalität kann man auch als eine Art „Metaerzählung“ der Musikgeschichte des 21. Jahrhunderts auffassen da trotz der musikalischen und ideologisch heterogenen Entwicklungen der drei Musikbeispiele der Einfluss des Zeitalters der Globalisierung bei allen mehr oder weniger gleich gewichtet ist. Auf eine gewisse Weise entsteht hier also wiederum eine kulturelle Homogenität. In der Einleitung wurden drei Relevanzen des Themas „Musik im Zeitalter der Globalisierung“ vorgestellt: (1.) Globalisierung als musikhistorische Tatsache, (2.) Globalisierung aus der Perspektive der Musikwissenschaft und (3.) die interdisziplinäre Einbindung musikwissenschaftlicher Forschungen. Die angewandte Methode dieser Arbeit führte nun zu weitreichenden Ergebnissen: Die Idee, musikalische Veränderungen an unterschiedlichen musikalischen Szenen und Stilhöhen unter dem Oberbegriff Zeitalter der Globalisierung zu vereinen, setzt voraus, hier von einer musikhistorischen Tatsache auszugehen. Die komplexen Vorgänge einer kulturellen Globalisierung erfuhren aufgrund der musikalischen Exemplifizierung klarere Konturen, und musikhistorische Prozesse und Stilistiken wurden zudem durch die soziologische Herangehensweise interdisziplinär eingebunden. Als Konsequenzen lassen sich nun folgende abschließende Gedanken ableiten: (1.) Die angewandte Methode kann auf andere, in dieser

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Arbeit erwähnte Globalisierungsperioden übertragen werden. Musikalische Fallbeispiele aus dem Zeitraum 1880 bis 1950 ließen sich durchaus anhand von Kriterien der modern period of globalization analysieren und würden hier zu einem Ergebnis führen, das die musikalischen Vorgänge mit den gesellschaftlichen Veränderungen jener globalen Zeitperiode in Verbindung bringt. (2.) Aus soziologischer Sicht wäre es von großer Relevanz, Globalisierungsprozesse anhand musikalischer Beispiele in einem konsequent nicht westlichen Rahmen – sofern dies möglich ist – zu beleuchten. Dieser Versuch wurde in der zugrunde liegenden Arbeit aus Fragen des Umfangs und Eingrenzung des Themas nicht unternommen;8 detaillierte Untersuchungen in dieser Richtung ließen sich jedoch anschließen. (3.) Die gesellschaftlichen Strömungen und Veränderungen in der Musik ab 1950 unter dem Oberbegriff Zeitalter der Globalisierung zu vereinen, beeinflusst gewissermaßen die musikalischen Diskurse über Postmoderne, „Reflexive Moderne“ und „Zweite Moderne“. Die herausgearbeiteten Globalisierungsprozesse stellen einen Überbau dar, welcher diese theoretischen, ideologischen und schwer zu erfassenden Konstruktionen möglicherweise vereint. Es ist anzunehmen, dass diese drei Diskurse auch eine Konsequenz des aufkommenden Zeitalters der Globalisierung sind, da sie gleichermaßen versuchen, den Veränderungen der Musikkulturen einen theoretischen Überbau zu geben und diese unter einem Schlagwort zu vereinen. (4.) Da die angewandte Methode auch die gesellschaftlichen Gegenreaktionen miteinschließt, lässt sie an einer These quasi keine Zweifel aufkommen: Im abgesteckten Zeitraum gibt es kaum Musiken, die nicht von den Perspektiven und Prozessen des Zeitalters der Globalisierung beeinflusst oder verändert worden sind. Eine Musik, die explizit darauf Wert legt, als „authentisch“, „autark“ und „nicht global“ verstanden zu werden, ist ihrerseits bereits wieder als Gegenreaktion auf eine unübersichtlich gewordene Weltgesellschaft zu verstehen. Freilich müssen Forschungen in diese Richtung noch unternommen werden und eröffnen damit weiteren Spielraum, den hier vorgestellten Fallbeispielen weitere folgen zu lassen.

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Einige Arbeiten wie zum Beispiel Utz, „Kunstmusik und reflexive Globalisierung“, gehen bereits in diese Richtung.

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Teresa Leonhardmair Bewegung in der Musik Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen November 2014, 326 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2833-3

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Musik und Klangkultur Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.) Unlaute Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2534-9

Christina Richter-Ibáñez Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen April 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2662-9

Christian Utz Komponieren im Kontext der Globalisierung Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Februar 2014, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2403-8

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