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German Pages XIII, 471 [477] Year 2020
Birgit Schlachter
Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität Eine rekonstruktive Studie
Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität
Birgit Schlachter
Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität Eine rekonstruktive Studie
Birgit Schlachter Pädagogische Hochschule Weingarten Weingarten, Deutschland
Habilitationshinweis: Habilitationsschrift im Fach Deutsch (Fakultät 2) der Pädagogischen Hochschule Weingarten, 2020
ISBN 978-3-658-31002-8 ISBN 978-3-658-31003-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Serialität und Literalität (I). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil I Serialität in der aktuellen Jugendliteratur 2 Syntagmatische und paradigmatische Serialität. . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Theorieskizze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2 Textkorpus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 Syntagmatische Serialität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur. . . . . . . . . . . . . 17 3.1.1 Serie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.2 Sequel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.1.3 Zyklus und Mehrteiler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.1.4 Zwischenfazit: Die Entwicklung des seriellen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . 31 3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente – Jugendliteratur in der Nachfolge von Harry Potter. . . . . . . . . . . . . . 33 3.2.1 Der Fortsetzungszyklus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.2.2 Vom episodischen Prinzip zum Fortsetzungszyklus: Zur Bedeutung von Harry Potter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.2.3 Die Chroniken der Unterwelt – ein Beispiel für zyklisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie serieller Fortsetzungsformate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.3.1 Begriffsklärungen: Medienverbund – Medienkonvergenz – Intermedialität – transmediales Worldbuilding – Storyworlds. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
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3.3.2 Adaptionen vs. rhizomatische bzw. transmediale Serialität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.3.3 Formen rhizomatischer Serialität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.3.4 Die transmediale Expansion der Fortsetzungszyklen am Beispiel von Harry Potter und Twilight. . . . . . . . . . . . . . 66 3.3.5 Zwischenfazit und Ausblick: Die Rolle der Leserinnen und Leser bei der Expansion serieller Erzählwelten. . . . . . . 70 4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.1 Begriffsklärungen: Schema, Genre, Serialität und Genre-Schema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie der paradigmatischen Serialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.2.1 Fantastische Schemata: Fantasy und Dystopie . . . . . . . . . . . 79 4.2.2 Das Liebesroman-Schema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.2.3 Das Krimi-Schema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2.4 Das Abenteuerroman-Schema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.3 Genre-Schemata am Beispiel (I): Liebesromane in der Nachfolge von Twilight. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3.1 Genre-Schemata in Twilight. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3.2 Halbgötter-Variationen: Göttlich und Arkadien. . . . . . . . . . . 118 4.3.3 Zeitreisekrimis und Chick Lit: Edelsteine und Holly Hill. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.3.4 New Adult: Layken und Will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel von Die Tribute von Panem – Fazit und Überleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Teil II Facetten funktionaler Beteiligung – Eine Rekonstruktion literaler Praktiken und literarischer Verstehensprozesse im Rahmen einer GTM-Studie 5 Theoretische Rahmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Das Tribute von Panem-Forum der Oetinger-Verlagsgruppe (2009–2014) als Untersuchungsgegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.2 Das Konzept der Anschlusskommunikation und seine Grenzen: Ergebnisse und Reflexion der Vorstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.3.1 Die deutschsprachige Literalitätsforschung, die New Literacy Studies und soziologische Praxistheorien. . . . . . . . 165 5.3.2 Online-Communities als interdisziplinärer Forschungsgegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.4 Explikation der normativen Vorannahmen: das fachdidaktische Erkenntnisinteresse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.1 Fragestellung und Gegenstand: Anforderungen an die Forschungsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.2 Die Grounded-Theory-Methodologie als Forschungsansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.3 Methodisches Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.3.1 Die Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.3.2 Theoretisches Sampling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.3.3 Datenanalyse: offenes, axiales und selektives Kodieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6.3.4 Memos und Diagramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.3.5 Fallanalyse, Fallvergleich und Falldarstellung. . . . . . . . . . . . 206 6.4 Forschungsstandards und Gütekriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7 Die Ergebnisse der Studie (I): Kategoriale Darstellung . . . . . . . . . . . . 211 7.1 Die Theorie im Überblick: Facetten funktionaler Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.2 Diskursive Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 7.2.1 Textorientierter Diskurs: Emotionen und Wertungen im literarischen Rezeptionsprozess. . . . . . . 214 7.2.2 Plaudern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 7.2.3 Forenspiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.2.4 Enzyklopädischer Modus (Wiki-Modus). . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.3 Produktive Praktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 7.3.1 Fanfiction. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 7.3.2 Role Play Games. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.4 Die sozial-kulturelle Dimension: Facetten funktionaler Beteiligung im Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
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8 Die Ergebnisse der Studie (II): Fallbezogene Darstellung . . . . . . . . . . 319 8.1 Zur Auswahl und Darstellung der Fälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 8.2 SternenKrieger: „Frage mich, ob in diesem Thread ‚der Sinn der Bücher‘ erfasst wurde :?: :?: :shock:“ . . . . . . . . . . . . . 322 8.2.1 Selbstauskünfte und Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 8.2.2 Individuelle Literalitätspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 8.2.3 Soziale Rolle im Forum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 8.3 Tribute12Katniss: „Ich habe hier auch so viel Erfahrung gesammelt“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 8.3.1 Selbstauskünfte und Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 8.3.2 Individuelle Literalitätspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 8.3.3 Soziale Rolle im Forum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 8.4 Panemfreak: „Wer stirbt entscheide ich.“ – „Denn nur Schwächlinge bleiben stehen. Und ich bin kein Schwächling.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 8.4.1 Selbstauskünfte und Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 8.4.2 Individuelle Literalitätspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 8.4.3 Soziale Rolle im Forum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 8.5 May: „Am allerschlimmsten finde ich, dass Katniss gegen Ende des dritten bandes so gar nicht mehr sie selbst ist. Okay, daran, was sie durchgemacht hat, wäre jeder seelisch zerbrochen. Aber i-wie trotzdem….“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 8.5.1 Selbstauskünfte und Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 8.5.2 Individuelle Literalitätspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 8.5.3 Soziale Rolle im Forum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 9 Fazit und Ausblick: Reflexion der Ergebnisse und der Forschungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 9.1 Serialität und Literalität (II). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 9.2 Die Theorie literaler Praktiken: ein integratives Praktikenkonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 9.2.1 Der außerschulische Literalitätserwerb im Handlungsraum des Forums: Facetten funktionaler Beteiligung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 9.2.2 Die Interpretationskultur im Forum: Die Rolle von Emotionen und Wertungen im Rezeptionsprozess. . . . . . . . . 423
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9.3 Reflexion des Forschungsprozesses: Die GTM als Methodologie und Methode der fachdidaktischen Erforschung literaler Praktiken – Möglichkeiten und Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 Syntagmatische und paradigmatische Serialität – Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Abbildung 3.1 Rhizomatische Serialität – Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abbildung 5.1 Foren-Übersicht des Tribute von Panem-Forums. . . . . . . 157 Abbildung 7.1 Theorie literaler Praktiken – Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . 212 Abbildung 7.2 Emotionen und Wertungen – Heuristische Rahmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Abbildung 7.3 Interaktionsmuster zwischen emotionalen und kognitiven mentalen Handlungen: Vier Rezeptionsmodi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Abbildung 7.4 Altersstruktur der Verfasserinnen und Verfasser von Beiträgen im Modus der reflektierten Emotionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Abbildung 7.5 Heuristik Fanfiction. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Abbildung 7.6 Heuristik Role Play Games. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Abbildung 8.1 Avatar-Bild von SternenKrieger (Quelle: TvP-Forum). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Abbildung 8.2 Rezeptionsmodi von SternenKrieger . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Abbildung 8.3 Formen und Funktionen von SternenKriegers Literalitätspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Abbildung 8.4 Avatar-Bild von Tribute12Katniss (Quelle: TvP-Forum). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Abbildung 8.5 Rezeptionsmodi von Tribute12Katniss. . . . . . . . . . . . . . . 357 Abbildung 8.6 Formen und Funktionen von Tribute12Katniss’ Literalitätspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Abbildung 8.7 Rezeptionsmodi von Panemfreak. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
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Abbildung 8.8 Formen und Funktionen von Panemfreaks Literalitätspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Abbildung 8.9 Avatar-Bild von May (Quelle: TvP-Forum). . . . . . . . . . . 386 Abbildung 8.10 Rezeptionsmodi von May. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Abbildung 8.11 Formen und Funktionen von Mays Literalitätspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Tabellenverzeichnis
Tabelle 6.1 Offenes Kodieren (Beispiel 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Tabelle 6.2 Offenes Kodieren (Beispiel 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Tabelle 7.1 a–c: Rekonstruierte Teilprozesse des Textverstehens. . . . . . . . 223 Tabelle 7.2 Emotionsäußerungen und Wertungen (Beispiel 1). . . . . . . . . . 232 Tabelle 7.3 Emotionsäußerungen und Wertungen (Beispiel 2). . . . . . . . . . 233 Tabelle 7.4 Emotionstypen, Intensität der Emotionen und Emotionsauslöser – Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Tabelle 7.5 Wertungen und deren Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Tabelle 7.6 Gesprächssequenz 1 – Interaktivität der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Tabelle 7.7 Gesprächssequenz 2 – Intersubjektivität der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Tabelle 7.8 Kommentartypen bei Fanfictions – Übersicht . . . . . . . . . . . . . 298
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Einleitung: Serialität und Literalität (I)
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Beobachtung, dass sich Jugendliche in Internetforen über ihre Freizeitlektüren austauschen, Fantexte schreiben, Fanart veröffentlichen oder Rollenspiele praktizieren. Dieses Phänomen erscheint aus sozialisatorischer und literaturdidaktischer Perspektive interessant, da die im Internet getätigten Praktiken offenbar am Literalitätserwerb dieser Jugendlichen beteiligt sind und das Internetforum einen Ort der literarischen Sozialisation darstellt, an dem literarische Texte auf vielfältige Art und Weise verhandelt werden. Im Rahmen einer Vorstudie, in der rund 300 Forenbeiträge ausgewertet wurden, hat sich zudem gezeigt, dass die Daten Einblicke in Mikroprozesse des Textverstehens liefern und dass die non-reaktiv gewonnenen Forendaten damit das Potential haben, Aufschluss über literarische Verstehensprozesse und daran beteiligte mentale Handlungen zu geben. Gegenstandsseitig stehen die literalen Internetpraktiken in engem Zusammenhang mit aktueller serieller Jugendliteratur. So existier(t)en deutschsprachige Foren und andere Internetseiten wie Wikis, Fan-Communities oder Rollenspielseiten zu populären mehrbändigen Jugendromanen wie Harry Potter, Twilight, Die Tribute von Panem, der Edelstein-Trilogie, Chroniken der Unterwelt, Percy Jackson und anderen. Auch auf den einschlägigen Fanfiction-Plattformen1 regt im Bereich „Bücher“ fast ausschließlich serielle (Jugend-)Literatur zum Schreiben von Fantexten an. In ihren diskursiven und produktiven literalen Praktiken tauschen sich Leserinnen und Leser nicht nur über die Romane aus,
1Vgl.
die deutschsprachigen Seiten www.fanfiktion.de und www.myfanfiction.net/de bzw. die englischsprachige Seite www.fanfiction.net.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Schlachter, Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5_1
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1 Einleitung: Serialität und Literalität (I)
sondern setzen diese auch in eigenen Texten fort und tragen damit wesentlich zur Erweiterung der seriellen Erzählwelten bei, die sich über Folgetexte, Filme, transmediale Erweiterungen und eben auch über die von Leserinnen und Lesern produzierten Texte und Medien zu teilweise kaum noch zu überblickenden Erzähluniversen ausdehnen. Die literalen Praktiken der Leserinnen und Leser sind also integraler Bestandteil des populärkulturellen Feldes der Serialität, was eine theoretische Modellierung dieser Praktiken innerhalb des Feldes der Serialität erforderlich macht. Aus dem dargelegten Phänomen serieller, literaler Praktiken erwächst eine doppelte Forschungsperspektive, die unterschiedliche Forschungszugänge und -methoden erfordert und die sich in der Gliederung der vorliegenden Arbeit in zwei große Teile widerspiegelt: Die erste Perspektive fokussiert mit den seriellen Jugendromanen den Gegenstand der Lektüre und der literalen Praktiken (Teil 1). Hier stellt sich die Frage, wie die Romane und die durch sie konstituierten seriellen Erzählwelten „funktionieren“ und wie die hohe Dynamik und die Produktivität des seriellen Feldes zu erklären sind. Mit diesen Fragen ist die Annahme verbunden, dass es von Bedeutung ist, die serielle Jugendliteratur nicht zuletzt aufgrund ihres Einflusses auf die literarische Sozialisation vieler Jugendlicher einer intensiven Analyse zu unterziehen. In der folgenden Argumentation wird die These entwickelt, dass Serialität in zweifacher Hinsicht das zentrale strukturelle und ästhetische Prinzip dieser Texte repräsentiert; sie dehnen sich syntagmatisch-horizontal (Kapitel 3) und paradigmatisch-vertikal (Kapitel 4) aus. Angesichts der Forschungslücke2 im Bereich serieller Jugendliteratur geht es in diesem Teil darum, ein für die Kinder- und Jugendliteratur-Forschung und die literaturdidaktische Forschung tragfähiges Serialitätskonzept zu entwickeln (Abschnitt 2.1). Seit der Harry Potter-Welle (1997–2007) erscheinen auf dem internationalen Jugendbuchmarkt vermehrt serielle mehrbändige Jugendromane (Abschnitt 2.2 zum zugrunde liegenden Textkorpus), die ein neues serielles Format konstituieren, den im Folgenden so bezeichneten Fortsetzungszyklus (Abschnitt 3.2), der sich von anderen seriellen Formaten wie der Serie, dem Sequel, dem Mehrbänder oder dem klassischen Zyklus (Abschnitt 3.1) absetzt. Diese neuen Fortsetzungszyklen entfalten auf zwei verschiedenen Ebenen eine hohe Fortsetzungsdynamik. Auf der ersten Ebene, die als syntagmatische oder
2Der
Forschungsstand im Einzelnen wird in den entsprechenden Kapiteln in der erforderlichen Ausführlichkeit dargestellt.
1 Einleitung: Serialität und Literalität (I)
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horizontale Serialität bestimmt wird, erscheinen zu abgeschlossenen Zyklen Prequels, Sequels oder Spin-Offs, eine populäre Sekundärliteratur, verschiedene Medienverbundprodukte sowie transmediale Fortsetzungen. Durch diese Erweiterungen entstehen unüberschaubare Erzähluniversen, die als rhizomatische konzeptualisiert werden (Abschnitt 3.3). Auch die literalen Praktiken der Leserinnen und Leser folgen dieser syntagmatisch-rhizomatischen Logik und sind damit Bestandteil des seriellen Feldes (Abschnitt 3.3.5 und Teil 2). Auf einer zweiten Ebene, die als paradigmatische oder vertikale Serialität bezeichnet wird, erscheinen ständig neue Fortsetzungszyklen, die bereits existierende Texte innovativ reproduzieren und variieren. Die paradigmatische Form der Serialität konstituiert über die Wiederholung und Variation von Genre-Schemata einen Zusammenhang zwischen den Werken verschiedener Autorinnen und Autoren des Feldes (Abschnitt 4.1–4.4). Das in den Kapiteln 3 und 4 entworfene Serialitätskonzept dient als Ausgangspunkt für die Analyse einzelner Texte und Phänomene und im Kontext der gesamten Arbeit als sensibilisierende theoretische Grundlage für die Rekonstruktion der literalen Praktiken, die innerhalb des seriellen Feldes beobachtet werden können. Mit der Berücksichtigung dieser Praktiken wird Serialität im Gegensatz zu anderen Serientheorien nicht nur als narratologisches (und ökonomisches), sondern auch als kulturelles Phänomen verstanden. Nur ein solch weiter Serialitätsbegriff vermag dem vorliegenden Forschungsvorhaben und-interesse, das sich nicht nur auf die Texte selbst, sondern auch auf deren Rezeption und auf Anschlusspraktiken richtet, als theoretische Rahmung zu dienen. Wie alle Typologien sind auch die im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Konzepte heuristische Instrumente, die helfen sollen, die Vielfalt der aktuellen Phänomene im Bereich der Serie in ihren Grundausprägungen zu systematisieren. Dass es in der Praxis zu Überschneidungen kommt und dass es im Einzelfall schwierig ist, eine Unterscheidung zu treffen, macht solche Bemühungen nicht überflüssig. Entscheidend ist vielmehr, Typologien als historisch wandelbare zu begreifen. Das Phänomen der Serialität wird in diesem ersten Teil der Arbeit theoretisch, d. h. literaturwissenschaftlich-narratologisch erfasst, wobei auch auf medienwissenschaftliche Konzepte zur (TV-)Serie zurückgegriffen wird. Den blinden Fleck einer solch narratologischen Modellierung des Gegenstandes stellt der reale Leser dar, der, wenn überhaupt, in literaturwissenschaftlichen Ansätzen nur als impliziter Leser mitgedacht wird. So lassen sich literaturwissenschaftlich-narratologisch zwar die von den Leserinnen und Lesern produzierten Texte und Medien in der erarbeiteten Systematik rhizomatischer Serialität verorten, die unterschiedlichen
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1 Einleitung: Serialität und Literalität (I)
Funktionen der Literalitätspraxis für den einzelnen Leser und die einzelne Leserin bleiben in dieser Perspektive jedoch ausgeblendet.3 Hier setzt der zweite Teil der vorliegenden Arbeit an, in dem literale Praktiken, die Leserinnen und Leser der Trilogie Die Tribute von Panem (Suzanne Collins; 2009–11) im vom Oetinger-Verlag zwischen 2009 und 2014 betriebenen Tribute von Panem-Forum tätigten, sozialwissenschaftlich mittels der Grounded Theory Methodologie rekonstruiert werden. Ziel ist die Entwicklung einer Theorie, die den außerschulischen Literalitätserwerb der Jugendlichen in seinen verschiedenen Facetten erfasst und erklärbar macht. Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind: Wie rezipieren und verstehen Jugendliche einen seriellen Jugendroman? Welche Anschlusshandlungen führen sie im medialen Umfeld eines Internetforums aus und welche Funktionen haben diese Praktiken im Rahmen ihres Literalitätserwerbs? Dieser Fokus auf den außerschulischen Literalitätserwerb ist in mehrfacher Hinsicht auch durch die Vergleichsfolie schulischer Erwerbsprozesse von literarischer Kompetenz, deren Erforschung und normative Fundierung motiviert. Zunächst ist zu konstatieren, dass die Erforschung des außerschulischen Lesens in der Deutschdidaktik nach einer ersten großen Welle der Lesesozialisationsforschung in den 2000er-Jahren und angesichts des vorherrschenden Kompetenzparadigmas in der Forschung in den Hintergrund geraten ist. Die Dominanz kompetenzorientierter Zugänge hat weiterhin dazu geführt, dass Lesen weniger als sozial-kulturelle Praxis, sondern vielmehr als individuell-kognitiver Vorgang erforscht und modelliert wurde. Fragen nach sozial-kulturellen Bedingungen des Erwerbs literarischer Kompetenzen, nach Praktiken und Funktionen des Lesens, nach dem Zusammenhang zwischen diskursiven und produktiven Zugängen zu Literatur ebenso wie Fragen der Textauswahl sind nicht neu, aber in Anbetracht kognitionspsychologisch fundierter Forschungsdesigns an den Rand gedrängt worden. Die vorliegende Arbeit greift diese Überlegungen auf, indem sie individuelle literarische Verstehensprozesse in ihrer sozial-kulturellen Bedingtheit, die sich in bestimmten Praktiken artikuliert, erfasst. Damit verbunden ist die Annahme, dass kognitionspsychologische und praktikentheoretische Zugänge keine Gegensätze darstellen, sondern fruchtbar zu einem triangulierenden und integrativen Forschungskonzept verbunden werden können.
3In der Darstellung der Geschlechter wird im Folgenden zwischen theoretischen Konzepten (des Lesers, des Autors etc.) und realen, empirisch erfassten oder erfassbaren Personen unter schieden.
1 Einleitung: Serialität und Literalität (I)
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Erkenntnisse, die aus dieser Herangehensweise erwachsen sollen, betreffen in erster Linie die Praxis des außerschulischen Literalitätserwerbs und zugrunde liegende literarische Verstehensprozesse. Ausgehend von der Erforschung der außerschulischen Literalitätspraxis wird zugleich der vergleichende Blick auf schulische Interpretations- und Schreibkulturen eröffnet, die durch diese Außenperspektive in ihrer sozial-kulturellen und normativen Spezifik hervortreten. Als zentrale Besonderheit der außerschulischen Literalitätspraxis wurde der Umgang mit Emotionen und Wertungen, die durch die Lektüre evoziert werden, ermittelt. In Zusammenhang mit dieser emotionalen Beteiligung der Leserinnen und Leser, die in den verschiedenen Praktiken artikuliert und bearbeitet wird, konnten unterschiedliche Funktionen im Rahmen des Literalitätserwerb rekonstruiert werden; mit der Schlüsselkategorie „funktionale Beteiligung“ (Abschnitt 7.1) wird dieser Konnex zwischen emotionaler Beteiligung und damit verbundenen Funktionen (Abschnitt 7.4) konzeptualisiert. Auf der Mikroebene der Textverstehensprozesse werfen die ermittelten Emotionsund Wertungsäußerungen die Frage auf, in welchem Zusammenhang diese mit kognitiven Verstehensprozessen stehen. Ziel der Datenauswertung ist hier die Rekonstruktion unterschiedlicher Interaktionsmuster, die das Zusammenspiel zwischen emotionalen und kognitiven Verstehensprozessen erklären (Abschnitt 7.2.1). Innerhalb der praxeologischen Perspektive auf die Literalitätspraxis im Forum erscheinen die von den Leserinnen und Lesern in großer Anzahl artikulierten Emotionen und Wertungen als Spezifikum eines außerschulischen Umgangs mit Literatur. In individuell-kognitiver Hinsicht interessiert jedoch auch, ob die ermittelten Interaktionsmuster zwischen emotionalen und kognitiven Verstehensprozessen generalisierbar und damit typisch für das Lesen literarischer Texte generell sind. Motiviert ist dieses Erkenntnisinteresse auch durch die Frage, welche möglichen Konsequenzen sich aus den Ergebnissen für den schulischen Umgang mit Literatur und die Förderung emotional-wertender Verstehenshandlungen ergeben. Die Dokumentation der Studie geht aus von einer Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes, dem dreibändigen Fortsetzungszyklus Die Tribute von Panem der amerikanischen Autorin Suzanne Collins (2009–11) und dessen Rezeption im Tribute von Panem-Forum (Abschnitt 5.1). Im Anschluss an die Reflexion der Ergebnisse und Methodik einer Vorstudie (Abschnitt 5.2) werden verschiedene sensibilisierende Konzepte, die zum theoretischen Vorwissensbestand der Forscherin zählen (Abschnitt 5.3), ebenso wie normative Vorannahmen, die sich aus dem literaturdidaktischen Erkenntnisinteresse ergeben (Abschnitt 5.4), offengelegt. In einem nächsten Schritt (Kapitel 6) wird der gewählte Forschungsansatz der Grounded Theory Methodologie vor
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1 Einleitung: Serialität und Literalität (I)
dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses und des Forschungsgegenstandes methodologisch begründet. Dabei liegen die Anforderungen an die Forschungsmethode gerade darin, die unterschiedlichen Perspektiven – individuellkognitive und sozial-kulturelle – auf das Phänomen zu vereinen. Als besondere Herausforderung von GTM-Studien ist deren Dokumentation zu sehen, die ihrer rekursiv-iterativen Logik entsprechend idealerweise die Ergebnisse und den Forschungsprozess darstellt. Dem wird in Kapitel 6 dadurch versucht Rechnung zu tragen, dass der Forschungsprozess hier ausführlich und mit ersten Beispielen beschrieben wird. Die Ergebnisse der Studie werden schließlich zunächst kategorial (Kapitel 7) und dann fallbezogen (Kapitel 8) dargestellt, wobei auch hier immer wieder darauf eingegangen wird, wie Kategorien zustande gekommen sind bzw. sich verändert haben. Der Anhang der Studie ist auf der Springer.com-Website als elektronisches Zusatzmaterial zu den Kapiteln 7 und 8 verfügbar.
Teil I Serialität in der aktuellen Jugendliteratur
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Syntagmatische und paradigmatische Serialität
2.1 Theorieskizze Serialität ist, so die These, das zentrale ästhetische und kulturelle Prinzip der jugendliterarischen Texte des vorliegenden Korpus. Ästhetisches und kulturelles Prinzip meint, dass die vorgeschlagene Theorie Serialität nicht nur als narratologisch-textuelles Phänomen versteht, sondern Serialität im Bedingungsfeld von Texten und deren Eigenschaften, dem populärkulturellen Feld, in dem die Texte produziert und rezipiert werden, sowie den realen Leserinnen und Lesern und ihren Rezeptionspraktiken modelliert. Mit dem Einbezug der Leserinnen und Leser im populärkulturellen Feld wird deutlich, dass der vorgeschlagene Serialitätsbegriff ein historisch spezifischer ist, der an Forschungen anknüpft, die Populärkultur als ein kulturelles Handlungsfeld verstehen, das sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet und seitdem laufend verändert hat.1 Aus dieser Perspektive betrachtet existiert eine enge Verflechtung von Populärkultur und Serialität, da die Entwicklung seriellen Erzählens in der Literatur mit der Entstehung der populären Massenliteratur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und der damit einhergehenden gravierenden Veränderung des Buchmarktes in dieser Zeit in Zusammenhang gebracht werden kann. Die sogenannte zweite Leserevolution nach 1850 führte dazu, dass populäre Künste in den Alltag ungebildeter Massen Einzug hielten und ein stetig wachsender
1Vgl. Kelleter 2012b, S. 15 f. oder Hügel 2007c, S. 66. Zu seriellen Strukturen in anderen kulturellen Feldern vgl. z. B. Blättler 2010 oder jüngst mit einer poetologischen Bestimmung des Seriellen Bronfen/Frey/Martyn 2016.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Schlachter, Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5_2
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2 Syntagmatische und paradigmatische Serialität
Bedarf an preiswerter populärer Literatur entstand.2 Damit „wuchs ein nicht nur zum Buchstabieren, sondern zum Genuss literarischer Texte fähiges Massenpublikum jenseits des Bürgertums heran“3, das sich Kaspar Maases Recherchen zufolge in den Jahren um 1900 einem Angebot von 20.000 Fortsetzungsromanen jährlich gegenübersah. Im Zuge einer „Entdifferenzierung von Lesepublika und einer Angleichung der literarischen Spezifik der KJL und der ‚Erwachsenenliteratur‘“4 konnte auch die Kinder- und Jugendliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Teil dieser entstehenden populären Unterhaltungskultur werden. In der Folge wurde serielles Erzählen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur so gebräuchlich, dass beispielsweise die kanadische Literaturwissenschaftlerin Catherine Sheldrick Ross die Beziehung zwischen der Kinder- und Jugendliteratur und dem seriellen Erzählen als symbiotische bezeichnet.5 Seit dem späten 20. Jahrhundert kam es auch im Feld der Kinder- und Jugendliteratur zu deutlichen Verschiebungen, die auf veränderte Produktions- und Rezeptionsbedingungen in Zeiten globalisierter Medienkonzerne und des Internets zurückgeführt werden können und die es erfordern, die als zentral erachtete serielle Logik als spezifisch historisch bedingte zu verstehen. Dadurch dass der hier entwickelte Serialitätsbegriff die Aneignungspraktiken der Leserinnen und Leser mit berücksichtigt, ergeben sich Berührungspunkte zur Forschungstradition der Cultural Studies, die seit den 1960er- und 1 970er-Jahren die gesellschaftliche Bedeutung der Populärkultur betonen und damit zum dominanten Modell der Populärkulturforschung geworden sind.6 Es ist den
2Zur zweiten Leserevolution vgl. Langenbucher 1975, S. 12–35. Auch die englischsprachige Populärliteraturforschung setzt den Beginn der modernen populären Literatur und ihrer Genres in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Vgl. Glover/McCracken 2012, S. 4. 3Maase 2012, S. 35. 4Hurrelmann/Pech/Wilkending 2008, Sp. 7 f. So entstehen im Rahmen dieser Modernisierungsprozesse um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits erste Fortsetzungsromane für Kinder und Jugendliche von Autorinnen und Autoren wie Elise Averdieck, Thekla von Gumpert, Johanna Spyri, Agnes Sapper, Tony Schumacher, Emmy von Rhoden oder Oskar Höcker. Vgl. Wilkending 2008b (HKJL V), Kapitel 4 (Erzählende Literatur zw. 1850 und 1900). Zum Groschenheft als dem am weitesten verbreiteten Medium der seriellen Jugendliteratur um 1900 vgl. Maase 2012, S. 67–74 und Galle 2005–2006. 5Vgl. Sheldrick Ross 2011, S. 195. 6Vgl. exemplarisch für die Birminghamer Schule: Hall et al. 1980, Fiske 1987 und 1989. Vgl. exemplarisch zur Rezeption der Cultural Studies in der (deutschen) Medienwissenschaft: Göttlich/Winter 2000, Winter/Mikos 2001, Winter 2005, Hepp 2010.
2.1 Theorieskizze
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Cultural Studies zu verdanken, dass sich der analytische Fokus im Umgang mit Populärkultur nicht mehr allein auf die Produktseite richtet, sondern dass dieser auch auf die Aneignungspraktiken von Rezipierenden gelenkt wurde, die den Prämissen des Ansatzes zufolge Populärkultur als soziale Praxis überhaupt erst konstituieren. In einer ideologiekritischen Perspektive, die theoretische Reflexionen, Text- und Diskursanalysen sowie qualitativ-empirische Rezeptionsstudien verbindet, werden kulturelle Praktiken in zahlreichen Einzelstudien hinsichtlich ihrer Widerständigkeit und kreativen Eigensinnigkeit im Verhältnis zur dominanten Kultur untersucht. Eine zu optimistische Bewertung und einseitige Fokussierung der souveränen und widerständigen Rezeptionsleistungen, wie sie häufig den Cultural Studies vorgeworfen wurde, birgt jedoch einerseits die Gefahr, die kommerziellen Produktionsbedingungen von populärkulturellen Erzeugnissen und damit verbundene Machtverhältnisse7, andererseits die Texte und ihre Ästhetik selbst zu vernachlässigen. Das im Folgenden entwickelte Serialitätskonzept schließt in kritischer Perspektive an die Cultural Studies an, indem auf verschiedene literatur- und medienwissenschaftliche Konzepte rekurriert wird, die gemeinsam mit einer auf die Leserinnen und Leser und deren Praktiken fokussierten Perspektive zu einer Modellierung der aktuellen seriellen Jugendliteratur zusammengeführt und erweitert werden. Grundlegend für den in dieser Arbeit vertretenen Begriff der Serialität ist Umberto Ecos Aufsatz Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien, der in einer frühen Fassung erstmals 1983 in Italien erschienen ist und in der hier zitierten Form 1989 ins Deutsche übersetzt wurde. Eco verwendet den Begriff der Serialität als eine sehr weite Kategorie für jegliche Form von „Wieder holungskunst“8, das heißt sowohl für die Beziehung zwischen verschiedenen Serienfolgen, zwischen verschiedenen Folgen einer Saga und für Formen der kommerziellen Wiederaufnahme – heute ist hierfür der Begriff des Sequels oder des Prequels üblich – als auch für die Beziehung zwischen verschiedenen Werken eines Genres, wenn er beispielsweise davon spricht, dass die klassische Kunst in weiten Teilen eine serielle war, da die einzelnen klassischen Werke „einem festen Schema [folgten], das sie variierten“.9 Um die beiden von Eco noch nicht klar voneinander unterschiedenen Formen von Serialität zu systematisieren, wird hier vor-
7Vgl. zur Kritik an den Cultural Studies z. B. Winter 2005, Kelleter 2012b, S. 17 ff. und Hügel 2007c, S. 81 ff. 8Eco 2005 [1998], S. 85. 9Ebd., S. 110.
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2 Syntagmatische und paradigmatische Serialität
geschlagen, die erste Form von Serialität, die Beziehung zwischen verschiedenen Teilen eines Werkes sowie die Erweiterung dieses Werkes durch Fortsetzungen, Adaptionen, transmediale Erzähluniversen und Fortsetzungspraktiken, als syntagmatische oder horizontale Serialität zu bezeichnen (Kapitel 3). Die zweite Form der Serialität, die über die Wiederholung und Variation von Schemata einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Werken oder Serien konstituiert, wird dagegen als paradigmatische Serialität gefasst (Kapitel 4 und Abbildung 2.1). syntagmasche Serialität
S #1
S #1.5
S #2
S
S #3
Adaponen Rhizomasche und transmediale Serialität (inkl. literale Prakken der Leserinnen und Leser)
S S Wiederholung und Variaon von GenreSchemata
paradigmasche Serialität Abbildung 2.1 Syntagmatische und paradigmatische Serialität – Übersicht
Als Charakteristikum beider Formen von Serialität arbeitet Eco an verschiedenen Beispielen die Dialektik von Wiederholung und Variation heraus, wobei er die Variation nicht höher bewertet als die Wiederholung und deshalb auch von einem „unlösbaren Knoten ‚Schema-Variation‘“10 spricht. Mit der Beschreibung
10Ebd.,
S. 107. Eco verwendet in dem Aufsatz anstelle von Variation häufiger den Innovationsbegriff. Seine Begriffsverwendung lässt sich vor dem Hintergrund seines Bemühens erklären, Unterschiede zwischen der Hoch- und Populärkultur in einer postmodernen Ästhetik aufzuheben. Von dieser Intention setzen sich die vorliegenden Überlegungen deutlich ab, da sie Serialität in der Populärkultur nicht nur als ästhetisches, sondern auch als ökonomisches Prinzip verstehen, dessen Logik auch in einem kommerziellen Innovationsdruck besteht (vgl. Plaul 1983, Kelleter 2012b). Auch Ecos Überlegungen zum doppelten Modell-Leser bedürfen ausgehend von einer empirischen Erforschung von Rezeptionspraktiken, wie sie im 2. Teil dieser Studie erfolgt, einer kritischen Revision.
2.1 Theorieskizze
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dieser grundlegenden Logik von Serialität markiert Ecos Aufsatz aus heutiger Sicht einen Wendepunkt in der Beschäftigung mit serieller Populärkultur und mit Populärkultur generell. Seine Überlegungen sind nicht nur anschlussfähig an die Serienforschung im engeren Sinne, sondern auch an die Populär- oder Trivialliteraturforschung im weiteren Sinn, da er sich explizit auf paradigmatische und syntagmatische Formen von Serialität bezieht. Paradigmatische Formen von Serialität wurden in der Populär- oder Trivialliteraturforschung als SchemaLiteratur oder als „literary formulas“ verhandelt, wobei der Fokus zumindest der deutschen Trivialliteraturforschung auf dem negativ bewerteten Aspekt der Wiederholung und Reproduzierbarkeit von Schemata lag und die unauflösliche Dialektik von Wiederholung und Variation weder in ästhetischer noch in ökonomischer Hinsicht erkannt wurde.11 Ecos Aufsatz zur Serialität wurde von der deutschen Trivialliteraturforschung nicht rezipiert, die Ende der 80er-Jahre ihren Höhepunkt schon überschritten hatte.12 Eine intensive Diskussion und Aufnahme von Ecos These fand dagegen in der Medienforschung im Rahmen der Auseinandersetzung mit TV-Serien statt, wo sich Ecos These früh verbreitete und auch in vielen aktuellen Publikationen rezipiert wird.13 In welchen Ausprägungen die Kombination von Wiederholung und Variation in der seriellen Jugendliteratur eine Rolle spielt, wird in den folgenden Teilkapiteln zunächst systematisch entfaltet und dann an Beispielen veranschaulicht. Vorausgeschickt sei an dieser Stelle jedoch schon die Hypothese, dass in der seriellen Logik und dem Moment der sich wiederholenden Variation die textseitigen Gründe für die enorme Dynamik und Produktivität der aktuellen seriellen Jugendliteratur zu suchen sind. Wenn das vorliegende Konzept sowohl syntagmatische als auch paradigmatische Formen der Serialität modelliert, wird damit ein weiter Serialitätsbegriff verfolgt,
11Vgl.
exemplarisch zur Bewertung von serieller Wiederholung in der deutschen Trivialliteraturforschung Plaul 1983, S. 241 ff. Zimmermann stellt die Schema-Literatur, die die Einhaltung eines festen Schemas erfordere, der modernen Literatur gegenüber, die „vom neuen Werk eine weitgehende Variation verlangt.“ (Zimmermann 1982, S. 36) 12Weder Bettina Hurrelmann noch Günter Lange erwähnen Eco in ihren Forschungsüberblicken Ende der 90er-Jahre. Vgl. Hurrelmann 1998 und Lange 1998. Mielke dagegen geht in der Fundierung ihrer Theorie des zyklisch-seriellen Erzählens kurz auf Eco ein (vgl. Mielke 2006, S. 45 u. S. 560). 13Vgl. z. B. den 1994 von Giesenfeld herausgegebenen Sammelband „Endlose Geschichten. Serialität in den Medien“ und in jüngerer Zeit Blanchet 2011 oder Jahn-Sudmann/Kelleter 2012, die ihre Theorie der seriellen Überbietung ausgehend von Ecos These entwickeln.
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2 Syntagmatische und paradigmatische Serialität
der überdies Fortsetzungspraktiken als weitere Dimension syntagmatischer Serialität impliziert. Mit der Berücksichtigung dieser Praktiken und deren empirischer Erforschung wird Serialität hier also nicht nur als narratologisches und ökonomisches, sondern auch als kulturelles Phänomen verstanden, aus dem unmittelbar auch eine didaktische Relevanz resultiert. Ein solch weiter Serialitätsbegriff grenzt sich in verschiedener Hinsicht gegen enger gefasste Theorien der Serie ab. In narratologischer Hinsicht betonen letztere einhellig das Merkmal der potentiellen Endlosigkeit von Serien.14 Eine Seriendefinition auf der Grundlage dieses Merkmals impliziert eine Beschränkung des Untersuchungsfeldes auf TV-Serien, Comics oder Groschenhefte, wie sie beispielsweise im Göttinger Forschungsverbund „Populäre Serialität“ vorgenommen wurde.15 Für die Entwicklung eines für die serielle Kinder- und Jugendliteratur tragfähigen Serialitätsbegriffs erscheint eine solche Beschränkung jedoch wenig sinnvoll, da die aktuelle Kinder- und Jugendbuchproduktion neben potentiell unendlichen Serien wie Das magische Baumhaus oder Top Secret auch in sich abgeschlossene mehrbändige Zyklen umfasst. Es sind gerade diese Zyklen, von denen ausgehend sich verschiedene Dimensionen der syntagmatischen und paradigmatischen Serialität entfalten und von denen auch wichtige Impulse für die Populärkultur generell ausgehen, wie die Beispiele Twilight, Die Tribute von Panem oder Endgame zeigen. Aus dieser Perspektive erscheint die aktuell vorherrschende Beschränkung der Serialitätsforschung auf die Formate TV-Serie, Comics und (Groschen-)Hefte als einseitig. Gerade aufgrund des angedeuteten symbiotischen Verhältnisses zwischen seriellem Erzählen und der Kinder- und Jugendliteratur ist diese ein wichtiges Feld seriellen populären Erzählens.16 Richtet sich das Untersuchungsinteresse überdies nicht nur
14Vgl. zur Theorie der TV-Serie und zum Merkmal der potentiellen Endlosigkeit schon Eco 2005 [1989], später Giesenfeld 1994b, S. 2; Mielke 2006, S. 47 oder Kelleter 2012b, S. 26 f. Für Hickethier dagegen ist die Mehrteiligkeit das zentrale Charakteristikum der Serie, nicht die Endlosigkeit (vgl. Hickethier 1991, S. 8). 15Untersuchungsgegenstand des Sammelbandes sind „Fortsetzungsgeschichten mit Figurenkonstanz, die produktionsökonomisch standardisiert, d. h. in der Regel arbeitsteilig und mit industriellen Mitteln, sowie narrativ hochgradig schematisiert für ein Massenpublikum hergestellt werden.“ (Kelleter 2012b, S. 18) 16Für eine Modellierung des Serienbegriffs, die primär vom Medium des Buches ausgeht, ist die Tatsache interessant, dass die ersten amerikanischen Kinderbuchserien aus den 1840er- bis 1870er-Jahren durch die Verleger oder Autoren von vornherein in ihrer Länge, die üblicherweise vier bis sechs Bände umfasste, beschränkt wurden. Historisch gesehen besteht hier also keine Verbindung zwischen Endlosigkeit und Serie (vgl. Johnson 2002, S. 150).
2.2 Textkorpus
15
auf narratologische, sondern auch auf kulturelle Fragestellungen, die die Rezeption von Texten miteinbeziehen, kann nur ein weiter Serialitätsbegriff den notwendigen theoretischen Rahmen liefern. Im Folgenden wird somit unter Serialität ein Erzählen in syntagmatischen und paradigmatischen Fortsetzungen verstanden, das zwar von einem Medium, dem Medium des Romans, ausgeht, das jedoch aufgrund unterschiedlicher Formen der Expansion nicht auf die Existenz eines Romans beschränkt bleibt. Dieser Ansatz impliziert, dass eine Betrachtung, die den Werkcharakter des abgeschlossenen Textes in den Mittelpunkt stellt, abgelöst wird von einer Perspektive, die die Offenheit und Durchlässigkeit von Texten sowie deren werkübergreifende Bezüge betont. Diese Perspektive erfordert den Einbezug einer großen Anzahl an Werken, deren extensive Analysen punktuell durch fokussierte Interpretationen ergänzt werden.
2.2 Textkorpus Das dieser Arbeit zugrunde gelegte Textkorpus umfasst die in der Primärliteraturliste aufgeführten Texte, darunter rund 50 mehrbändige Serien und Zyklen sowie verschiedene weitere Spin-Off-Texte oder Handbücher zu den Serien. Einer intensiven Lektüre wurden davon 24 Titel unterzogen, die anderen Titel waren Gegenstand extensiver Lektüren.17 Die an diesem Textkorpus entwickelte Theorie syntagmatischer und paradigmatischer Serialität wird an folgenden Werken ausführlich veranschaulicht und plausibilisiert: Harry Potter (Joanne K. Rowling, 1998–2007), Chroniken der Unterwelt (Cassandra Clare, 2008–2015), Twilight (Stephenie Meyer, 2006–2009), Göttlich (Josephine Angelini, 2011–2013), Arkadien (Kai Meyer, 2009–2011), Edelsteine (Kerstin Gier, 2009–2010), Holly Hill (Alexandra Pilz, 2013–2016), Layken und Will (Colleen Hoover, 2013–2015) und Die Tribute von Panem (Suzanne Collins, 2009–2011). Zusätzlich zu diesen detaillierten Darstellungen wurde bei der Entwicklung der Serialitätskonzepte darauf geachtet, auf möglichst viele unterschiedliche Beispieltexte des Korpus zu verweisen. Suzanne Collins‘ Die Tribute von Panem ist zugleich Gegenstand eines Fazits zum ersten Teil der Studie und Überleitung zum zweiten Teil, in dem literale Praktiken aus dem Tribute von Panem-Forum im Fokus stehen. Die der entwickelten Theorie zugrunde liegenden Primärtexte sind alle im Anschluss an die Harry Potter-Welle entstanden. Mit diesem diachronen Schnitt ist
17Diese
Titel sind in der Literaturliste gekennzeichnet.
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2 Syntagmatische und paradigmatische Serialität
die Hypothese verbunden, dass Rowlings Werk einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur hatte (Abschnitt 3.2.2). Harry Potter entstand zu einer Zeit, in der sich auch die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von (Kinder- und Jugend-)Literatur grundlegend verändert haben. Auf Seiten der Produktion ist eine zunehmende Konzentration im Verlagswesen hin zu (inter-)nationalen Medienkonzernen zu beobachten, die Strategien der Mehrfachverwertung und neuerdings der Transmedialität verfolgen (Abschnitt 3.3). Auf Seiten der Rezeption entsteht durch die Möglichkeiten des Internet ein neuer Handlungsraum mit einem breiten Angebotsspektrum, das dazu führt, dass sich literale Anschlusspraktiken ausdifferenzieren und über den lokalen Nahraum hinaus getätigt werden können (Abschnitte 3.3.5 und 7.1). Das jüngste im Textkorpus berücksichtigte Buch erschien 2019, und ein Blick in Bibliothekskataloge der einschlägigen Verlage zeigt, dass weiterhin mehrbändige Fantasy- und Dystopiezyklen erscheinen. Wie die Dynamik von Wiederholung und Variation weitergeht und ob sich die Variationsmöglichkeiten im Rahmen der beschriebenen Schemata (Abschnitt 4.2) irgendwann erschöpfen, wird erst die weitere Entwicklung in diesem Feld zeigen.
3
Syntagmatische Serialität
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur Während in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) vor allem die Kinder- und Jugendbuchserie und das Sequel weit verbreitet sind, ist mit den mehrbändigen Fortsetzungszyklen in der Nachfolge von Harry Potter ein neues serielles Format entstanden, das sich weder den Serien noch den Sequels zuordnen lässt – so die These, die in diesem Kapitel verfolgt wird. Entwickelt wurde diese These vor dem Hintergrund einer markanten Forschungslücke im Bereich der (kinder- und jugend-)literaturwissenschaftlichen Serienforschung, was zunächst eine Zusammenführung der wenigen bestehenden literaturwissenschaftlichen Konzepte und Studien sowie eine Sichtung von Konzepten aus angrenzenden Disziplinen wie der Medienwissenschaft erfordert. Auf der Grundlage der Aufarbeitung des Forschungsstandes einerseits und ausgehend vom vorliegenden Textkorpus andererseits müssen bestehende Konzepte dann erweitert werden. In der Literaturwissenschaft liegen bisher weder für den Bereich der KJL noch für die Erwachsenenliteratur etablierte gattungstypologische Begrifflichkeiten zur Beschreibung serieller Erzählformate vor, was auf die primär hochkulturelle Ausrichtung der Literaturwissenschaft zurückzuführen ist. So findet sich bislang weder eine systematische Abhandlung zum seriellen Erzählen in der KJL noch stellt der Serienbegriff eine relevante Beschreibungs- oder Ordnungskategorie in Handbüchern oder Lexika dar. Einzig im von Klaus Doderer 1984 herausgegebenen Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur findet sich ein kurzer Eintrag zur Serie, der aber lediglich deren Geschichte knapp umreißt und dabei keine typologischen Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen seriellen Formaten © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Schlachter, Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5_3
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3 Syntagmatische Serialität
trifft.1 Heidi Lexe, diese Forschungslücke konstatierend, unterscheidet in einem 1998 erschienenen Artikel zum Spannungsaufbau in Kinderbuchserien zwischen Serie, Reihe, Mehrteiler, Fortsetzung und Trilogie.2 Im englischsprachigen Bereich ist die Forschungslage zur Serie im Bereich der KJL nur unwesentlich besser, wenngleich seit Anfang der 2000-er Jahre ein gestiegenes Interesse am Gegenstand erkennbar ist.3 Auch hier wurde jüngst mehrfach auf die Forschungslücke verwiesen.4 Im Bereich der Erwachsenenliteratur wurde Christine Mielkes umfangreiche Studie zur zyklisch-seriellen Literatur aus dem Jahr 2006 als „wirkliche Pionierarbeit“5 hervorgehoben, die aber der literaturwissenschaftlichen Serienforschung zunächst keinen Aufschwung beschert hat. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass zwei literaturwissenschaftliche Lexika jüngeren Datums, das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft und das Metzler Lexikon Literatur, unter dem Eintrag „Serie“ zwar erwähnen, dass Serien grundsätzlich auch in Printmedien anzutreffen sind, sich aber in ihren Definitionen und Beispielen ausschließlich auf die Fernsehserie beziehen. Kinderbuch-, Fantasy-, Science-Fiction- oder Krimi-Serien werden hier nicht berücksichtigt.6 Mit der 2010 installierten interdisziplinären Forschergruppe „Ästhetik und Praxis populärer Serialität“ rückten auch serielle Printmedien wie Familienblätter, Groschenhefte, Graphic Novels oder Feuilletonromane stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit, was sich zwischenzeitlich in einer großen Zahl an Publikationen äußert.7 Generell scheint die Hochkonjunktur der medienwissenschaftlichen Serienforschung rund um die TV-Serie auch auf die literaturwissenschaftliche Forschung auszustrahlen bzw. zu einer interdisziplinären Perspektive
1Vgl.
Klein 1984, S. 382 f. Lexe 1998, S. 12 f. 3Vgl. den Eintrag „Series Fiction“ in der International Companion Encyclopedia of Children’s Literature (Watson 2004), Reimer et al. 2014 sowie jüngst KümmerlingMeibauer 2017 in The Edinburgh Companion to Children’s Literature. KümmerlingMeibauer berücksichtigt nur englischsprachige Forschungsliteratur. 4Vgl. z. B. Sheldrick Ross 2011, S. 204 und Reimer et al. 2014b, S. 1. 5Türschmann 2007b, S. 74. Auch Mielkes Studie, auf die noch verschiedentlich eingegangen werden wird, geht jedoch nur am Rande auf populärliterarische serielle Erzählformate wie den Zeitungsroman des 19. Jahrhunderts ein. 6Vgl. Krah 2003, S. 433–435 und Bleicher 2007, S. 703 f. 7Vgl. z. B. Nast 2017, Kelleter 2017, Weiland 2017, Stockinger 2018 und Winkler/ Stemberger/Pohn-Lauggas 2018. 2Vgl.
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
19
auf das Phänomen zu führen.8 Wichtige Anstöße zur Erforschung der Serie erfolgten jüngst auch von Seiten der Deutschdidaktik: in Form des von Petra Anders und Michael Staiger herausgegebenen zweiteiligen Sammelbandes Serialität in Literatur und Medien und der beiden Themenhefte zum seriellen Erzählen der Zeitschriften Der Deutschunterricht und leseforum.ch.9 Letzteres vereint interdisziplinär literatur-, medienwissenschaftliche und auch literaturund lesedidaktische Beiträge, während das Themenheft „Serielles Erzählen“ der Zeitschrift Der Deutschunterricht abgesehen von zwei Beiträgen zur historischen Entwicklung der Serie und einem Artikel zu transmedialen Serienphänomenen seinen Schwerpunkt auf der Fernsehserie hat. In der Medienwissenschaft liegt zur seriellen Narratologie eine umfangreiche Forschungsliteratur vor, die ihre Theoriebildung vor allem ausgehend von Fernsehserien verfolgt.10 Da die wichtigsten Impulse zur Erforschung des Seriellen in den letzten Jahren aus dieser Richtung kommen, erscheint es sinnvoll, diese Ergebnisse auch für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur fruchtbar zu machen, zumal serielles Erzählen für Kinder- und Jugendliche nicht auf das Buch beschränkt ist, sondern im Medienverbund zu einem inter- und transmedialen Phänomen wird, bei dem vielfältige Bezugnahmen und Einflüsse der Medien untereinander beobachtet werden können. Allerdings zeigen sich Grenzen der Übertragbarkeit, die auf den medienspezifischen Bestandteil der Kinder- und Jugendbuchserie verweisen. Die typologische Bestimmung des syntagmatischen seriellen Erzählens in der aktuellen seriellen Jugendliteratur erfolgt in vier Schritten. Zunächst werden verschiedene serielle Formate gegeneinander abgegrenzt (Abschnitte 3.1.1–3.1.4), bevor aktuelle Entwicklungen aufgezeigt werden, die zu einer Erneuerung des Formats des Zyklus führten (Abschnitt 3.2). Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass die aktuellen Jugendbuchzyklen zu immer weiteren
8Vgl.
z. B. Haarkötter 2007, Fröhlich 2015, Wagner 2016, Lücke 2017, Baßler/Nies 2018. Vgl. auch die Auswahlbibliographie in Anders/Staiger 2016c, S. 20 ff. 9Vgl. Anders/Staiger 2016a+b sowie die Ausgabe 1 (2018) der Onlinezeitschrift leseforum. ch und Staiger 2018. Der Sammelband Anders/Staiger 2016a+b entstand im Anschluss an eine Sektion auf dem 20. Symposion Deutschdidaktik an der Universität Basel im Jahr 2014, die sich mit Serialität befasste. Vgl. darin v. a. den Beitrag von Ute Dettmar (Dettmar 2016). 10Vgl. die Hinweise und den Forschungsüberblick in Kelleter 2012b, S. 25 ff. sowie Blanchet 2011, Krah 2010, Seiler 2008, Eichner/Mikos/Winter 2013, Mikos 2014, Rothemund 2013, Sudmann 2017.
20
3 Syntagmatische Serialität
Fortsetzungen tendieren und sich auch über Mediengrenzen hinweg ausdehnen, wird eine weitere Systematisierung der unterschiedlichen Fortsetzungstypen vorgenommen und an Beispielen plausibilisiert (Abschnitt 3.3). Neben den kanonischen, von den Autorinnen und Autoren der jeweiligen Werke initiierten Expansionen beteiligen sich auch Leserinnen und Leser an der Ausdehnung der seriellen Erzählwelten, deren produktive Fortschreibungen sich gegenstandsseitig ebenfalls in der vorgeschlagenen Typologie rhizomatischer Serialität (Abschnitt 3.3) verorten lassen. Die im Folgenden dargelegte Systematik seriellen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur stellt einen ersten Versuch der Begriffsklärung und -bestimmung dar, die in der Folge auf der Grundlage eines erweiterten Textkorpus eine weitere Arbeit an den vorgeschlagenen Begriffen und Konzepten notwendig macht.
3.1.1 Serie Die (Kinder- und Jugendbuch-)Serie lässt sich zunächst von dem Format der Reihe abgrenzen, das als verlegerische Kategorie des äußeren Zusammenschlusses verschiedener Bücher in einer einheitlichen Edition fungiert. Während die Reihenbildung primär über formale Aspekte wie das Layout, die Text-Bild-Gestaltung, die Schriftart oder über lose inhaltliche Bezugspunkte erfolgt, ist für die Serie kennzeichnend, dass alle Einzelfolgen eine einheitliche Diegese aufweisen, also in derselben erzählten Welt spielen.11 In der Regel wird die Einheitlichkeit der erzählten Welt in Serien durch eine Raum- und Figurenkonstanz hergestellt. Es gibt jedoch auch Beispiele von Kinder- und Jugendbuchserien wie Goosebumps und Fear Streat von R.L. Stine, in denen die Einzelbände ausschließlich durch die Raumkonstanz – eine unheimliche Atmosphäre und Umgebung – zusammengehalten werden. Ein feststehendes Figureninventar liegt in Stines Serien dagegen nicht vor. Neben dem einheitlichen Weltmodell wird in zahlreichen Seriendefinitionen das Merkmal der potentiellen Endlosigkeit genannt.12 Die kommerziell erfolgreichen Kinderbuchserien Das magische
11Vgl.
Lexe 1998, S. 13 und Krah 2010 S. 97. Im Rahmen transmedialer Erzähltheorien wird das Merkmal des einheitlichen Weltmodells aufgegriffen und weiterentwickelt. Vgl. Ryans Konzeption der „storyworld“ (vgl. Ryan 2013, S. 90 und Abschnitt 3.3.1). 12Vgl. z. B. Eco 2005 [1989]; Giesenfeld 1994b, S. 2; Mielke 2006, S. 47 oder Kelleter 2012b, S. 26 f.
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
21
Baumhaus, Fünf Freunde, Die Knickerbockerbande, TKKG oder Die drei ??? bringen es bis dato immerhin auf 54, 70, 70, 117 bzw. 201 Bände (Stand November 2018). Neuere Kinder- und Jugendbuchserien wie Top Secret, Warrior Cats, The 39 Clues oder Das Tal weisen über die Figuren- und Raumkonstanz hinaus jedoch einen stärkeren inneren Fortsetzungszusammenhang auf als andere Serien, so dass eine Erweiterung der Seriendefinition aus innerliterarischen Gründen notwendig erscheint. Daneben wirft die Erneuerung der Fernsehserie seit der Jahrtausendwende die Frage auf, ob im Bereich der Kinder- und Jugendbuchserie eine ähnliche Entwicklung beobachtet werden kann. Aus diesem Grund erscheint es hilfreich und geboten, einen Blick auf medienwissenschaftliche Konzeptualisierungen zu werfen, die diese neuere Entwicklung in der Serienlandschaft aufarbeiten. Eine grundlegende Unterscheidung ist hier diejenige zwischen Episodenserien (series) und Fortsetzungsserien (serials). Als Episodenserie werden diejenigen Serien bezeichnet, in denen es „im Grunde keine Rolle [spielt], was vorher geschah. Es gibt keine Cliffhanger und offenen Fragen, die Charaktere entwickeln sich kaum weiter (abgesehen davon, dass die Kinder zwangsläufig älter werden), wir erfahren selten Neues über die Vergangenheit, und auch die Beziehungen zwischen den Figuren bleiben statisch.“13 In Bezug auf den Handlungsverlauf sind die einzelnen Serienfolgen in sich abgeschlossen und können als „paradigmatische Manifestationen aufgefasst werden, die insgesamt das Bild der jeweils vorgeführten Welt festigen“.14 In der einzelnen Serienfolge wird also ein Handlungsschema wiederholt, das durch das jeweilige Genre bestimmt wird. Dieser paradigmatische Charakter der Einzelfolgen, der sich mit Eco auch als „Verwirklichung eines vorgegebenen Modells oder Typus“15 beschreiben lässt, wurde in vielen Seriendefinitionen als zentrales Merkmal hervorgehoben und kann als Hauptursache für deren ästhetische Abwertung gelten. Über die Merkmale der Handlungs- und Figurenentwicklung unterscheidet auch Annekatrin Bock die beiden Serientypen auf inhaltlicher Ebene: Während in der Episodenserie Figuren statisch bleiben und Handlungsbögen am Ende einer Episode enden, finden sich in Fortsetzungsserien dynamische Figuren und Erzählzusammenhänge, die über eine Episode hinausreichen.16 Christine Lang und
13Blanchet
2011, S. 39. 2010, S. 98. 15Eco 2005 [1989], S. 84. 16Vgl. Bock 2012, S. 36–38. 14Krah
22
3 Syntagmatische Serialität
Christoph Dreher stellen die vertikale Dramaturgie der Episodenserie, in der „die Geschichte innerhalb einer Folge zu Ende geführt wird“ der horizontalen Dramaturgie der Fortsetzungsserie gegenüber, in der „es längere erzählerische Bögen [gibt], die sich über zwei oder mehrere Folgen oder auch über eine ganze Staffel und darüber hinaus ziehen“.17 Bekannte Beispiele für Fortsetzungsserien sind Die Sopranos, Lost, The Wire, Breaking Bad, Dexter, Game of Thrones, House of Cards oder jüngst The Crown. Neben der Komplexität der Erzählstrukturen, die sich beispielsweise in mehrsträngigen, über die einzelne Episode hinausgreifenden Handlungssträngen, in verschiedenen Zeitebenen oder in Techniken der Rück- und Vorblende äußert, zeichnen sich diese Serien durch „visuellen Reichtum und ästhetische Dichte“18, durch ein Seriengedächtnis, durch ihren selbstreflexiven Charakter, durch Strategien der inter- und intraseriellen Überbietung sowie durch veränderte Produktions- und Rezeptionsbedingungen aus.19 Beiden Serientypen gemeinsam sind jedoch die bereits genannten Merkmale des gemeinsamen Weltmodells und der potentiell unendlichen Fortsetzbarkeit. Interessant für einen Ordnungsversuch im Bereich der Kinder- und Jugendbuchserie ist die von Bock vorgeschlagene grobe Systematisierung von Serien anhand der Kategorien der Handlungs- und der Figurenentwicklung, die gemeinsam den Serialitätsgrad, das heißt den Fortsetzungscharakter einer Serie, bestimmen. Die Dimension der Handlungsentwicklung betrifft die Frage, ob „Handlungsstränge […] im Wesentlichen in einer Folge zu Ende erzählt“ werden wie bei Episodenserien oder ob „die Geschichten eher episodenübergreifend weitergesponnen“20 werden wie bei Fortsetzungsserien. Fortsetzungsserien haben dabei eine tendenziell offene Handlungsentwicklung, die von Folge zu Folge fortgesetzt wird. Bocks Systematik verdeutlicht auch, dass es sich bei den beiden Typen der Episoden- und der Fortsetzungsserie um Extrempole auf einer graduellen Skala handelt und dass die Grenzen zwischen den beiden Typen
17Lang/Dreher
2015, S. 78. 2014, S. 8. 19Zu verschiedenen Fortsetzungsserien vgl. Blanchet 2011, Piepiorka 2011, Jahn-Sudmann/ Kelleter 2012, Rothemund 2013 oder Lang/Dreher 2015. Eine gewisse Vorsicht ist gegenüber dem in manchen Publikationen geradezu inflationär verwendeten Kriterium der Komplexität angebracht, das als Werturteil bzw. Hochwertbegriff implizit immer vor dem Hintergrund eines Vergleichsmaßstabs, in diesem Fall der einfacher gestalteten Episodenserie, gefällt wird. 20Bock 2012, S. 37. 18Mikos
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
23
fließend sind. Mit dieser dynamischen Form der Modellierung reagiert Bock auf Tendenzen der Hybridisierung von Serienformaten, die seit Anfang der 1990erJahre von der medienwissenschaftlichen Serienforschung beobachtet werden und als „flexi narratives“ oder hybride Serienformen beschrieben werden, in denen sich Episoden- und Fortsetzungsformen vermengen, die somit in der Folge eher als Erzählprinzipien denn als klar abgegrenzte Typen zu handhaben sind.21 Bocks Kriterium der Handlungsentwicklung lässt sich mithilfe eines literatursemiologischen Systematisierungsversuchs von Hans Krah zu audiovisuellen Formen seriellen Erzählens weiter ausdifferenzieren. Diese weitere Ausdifferenzierung ist, wie im Folgenden plausibilisiert werden wird, hilfreich, um unterschiedliche Serialisierungsstrategien in der Kinder- und Jugendbuchserie auf einem Kontinuum zwischen Episoden- und Fortsetzungsprinzip aufzuzeigen. Krah modelliert den Fortsetzungscharakter einer Serie durch das Kriterium der Sukzession, wobei er auf der Basis literatursemiotischer Theorien zwischen chronologischer und semantischer Sukzession unterscheidet: Sukzession betrifft das Nebeneinander, bezieht sich auf die Reihenfolgebeziehung der einzelnen Folgen und differenziert hinsichtlich des Kriteriums einer festen oder beliebigen Anordnung: Ist die Reihenfolge prinzipiell, ohne Kohärenzverlust vertauschbar? Oder entspricht der linearen Sukzession (über die pragmatische Dimension ihrer Entstehungszeit hinaus zusätzlich) eine diegetische Chronologie, geht die Vorgängerfolge somit auch innerhalb der dargestellten Welt notwendig voraus und gehört als Vorwissen und Vorgeschichte zum dargestellten Geschehen dazu. […] Der Sukzessionsbegriff in dieser Verwendung besteht aus der Kombination zweier Komponenten: der strukturellen, die sich rein auf die Chronologie bezieht, und der semantischen, die auf die epistemische Einbeziehung von Wissen verweist.22
Die semantische Sukzession ist im Gegensatz zur chronologischen an das Vorhandensein von Ereignishaftigkeit gebunden, womit nach semiotischer Terminologie die Existenz einer Handlung mit einem zentralen Ereignis gemeint ist.23 Damit ist Krahs Typologie differenzierter als Bocks Systematik, 21Vgl.
Piepiorka 2011, S. 47. 2010, S. 94. Krah berücksichtigt in seiner Systematik noch nicht die neuen Entwicklungen in der US-Serienlandschaft, weshalb der Typus der Fortsetzungsserie in seiner Übersicht nicht auftaucht. 23Krah unterscheidet in Bezug auf die Ereignishaftigkeit nochmals zwischen zentralen Ereignissen, die die Ereignisstruktur dominieren, und konstitutiven Ereignissen, die die Ereignisstruktur lediglich initiieren (vgl. Krah 2010, S. 91 f.). Ob diese Differenzierung für die Systematisierung der Kinder- und Jugendbuchserie tragend ist, müssten weitere Untersuchungen zeigen. 22Krah
24
3 Syntagmatische Serialität
in deren Kriterium der Handlungsentwicklung semantische und chronologische Sukzession zusammenfallen. Für eine Bestimmung unterschiedlicher Serialisierungsstrategien in der Kinder- und Jugendbuchserie können aus den besprochenen Konzeptionen mit der chronologischen Sukzession, der semantischen Sukzession und der Figurenentwicklung drei Kriterien abgeleitet werden, die unterschiedliche Grade der Serialisierung markieren. Diese Strategien können, wie die folgenden illustrierenden Beispiele zeigen, unterschiedlich kombiniert werden und in unterschiedlicher Ausprägung auftreten. Klassiker wie Fünf Freunde, TKKG, Die drei ??? oder auch neuere Produktionen wie Drache Kokosnuss, Die wilden Fußballkerle oder Die Zeitdetektive weisen keine der drei Strategien auf und entsprechen daher dem Idealtypus der Episodenserie. In Enid Blytons Mädchenbuchserie Hanni und Nanni dagegen unterliegen die Einzelfolgen einer chronologischen Sukzession: Die Protagonistinnen werden älter, durchlaufen verschiedene Klassenstufen und verlassen in den deutschen Fortschreibungen der Serie schließlich das Internat. Eine semantische Sukzession dagegen und eine Figurenentwicklung liegen nicht vor. In der neueren Kinderbuchserie Das magische Baumhaus hängen immer wieder einzelne Episoden über eine chronologische und schwach ausgeprägte semantische Sukzession zusammen. Die Abgeschlossenheit der Einzelbände, in denen pro Episode eine Aufgabe zu lösen ist, bleibt davon unberührt, allerdings wird über Erzählklammern ein loser inhaltlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen aufeinanderfolgenden Rätseln bzw. Aufgaben gestiftet. Die Figuren entwickeln sich in diesem Rahmen allerdings nicht weiter. In Robert Muchamores Agentenserie Top Secret liegt wie in vielen Krimi- oder Abenteuerserien eine episodische Struktur vor, da pro Band eine Mission verfolgt wird und es keine über die Einzelfolge hinausreichenden Handlungsstränge (semantische Sukzession) gibt. Dennoch hängen die Einzelfolgen über eine chronologische Sukzession zusammen. Während die einzelnen Bände von Fünf Freunde oder Die drei ??? in beliebiger Reihenfolge rezipiert werden können, wird der Protagonist James im Lauf der Bände älter, durchläuft mehrere Stationen einer Ausbildung und geht verschiedene Beziehungen und Freundschaften ein. Diese chronologische Sukzession der Einzelfolgen ist bei Top Secret zugleich mit der Strategie der Figurenentwicklung verknüpft, die den Fortsetzungscharakter der Serie zusätzlich erhöht. Entscheidend für das Kriterium der Figurenentwicklung ist hierbei, dass es sich bei den Figuren narratologisch um komplexe und dynamische Figuren handelt, was für den Protagonisten James aus Top Secret bedingt zutrifft. So entwickelt sich dieser von Band zu Band weiter, was sich beispielsweise im ersten Band der Serie bereits darin äußert, dass ausführlich über die familiäre Herkunft und die Vorgeschichte von James’ Agentenkarriere, die
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
25
für das Verständnis seiner Verhaltensweisen und für die weitere Entwicklung der Figur maßgeblich sind, erzählt wird. In einem Interview mit der britischen Zeitung The Telegraph weist Robert Muchamore auf diese mit der Figurenkonzeption verbundene Verknüpfungsstrategie seiner Serie hin: There are no elves or fantasy in my books, but the ties that keep my characters together are very much the same as the ties that keep Harry Potter and his friends together […]. When children ask me what’s going to happen in the next book, they never want to know who the baddies are going to be (usually crazed terrorists), but they do want to know what happens to the main characters; whether their friendships are intact, whether A is still not speaking to B, that sort of thing.24
Mischformen zwischen Episoden- und Fortsetzungsserien, wie sie beispielsweise durch Top Secret repräsentiert werden, stellen in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturserie keine Neuerung dar. Vielmehr existieren diese spätestens seit der Trotzkopf-Serie und haben im Typus der Backfischserie, in der die Figuren älter werden und sich (hinsichtlich einer zunehmenden Integration in die Gesellschaft) entwickeln, eine paradigmatische Ausprägung erfahren.25 Fortsetzungsserien, die neben der chronologischen Sukzession und der Figurenentwicklung auch das Merkmal der semantischen Sukzession aufweisen, scheinen dagegen ein neueres und zugleich seltenes Phänomen der Kinder- und Jugendliteratur zu sein. Diesem Typus zugerechnet werden können die amerikanischen Serien Warrior Cats und The 39 Clues, wobei von letzterer lediglich die erste Staffel mit zehn Bänden ins Deutsche (Die 39 Zeichen) übersetzt wurde. Beide Serien umfassen jeweils mehrere Staffeln mit verschiedenen Einzelfolgen, die jeweils über einen Handlungsbogen inhaltlich verbunden sind. Während die sechs Staffeln (mit jeweils sechs Folgen) von Warrior Cats von verschiedenen Katzenclans handeln, die um ihr Überleben kämpfen, stehen in den fünf Staffeln von The 39 Clues mit insgesamt 26 Folgen vier verschiedene Clans einer Familie im Zentrum, die alle ein gemeinsames Abenteuer erleben. Neben der ähnlichen inhaltlichen und äußeren Struktur – Clans, die jeweils verschiedene Staffeln der Serie markieren –, lassen sich auch die Produktionsbedingungen der beiden Serien vergleichen. Beide wurden von Autorenkollektiven
24Middleton
2008 [06.03.2015]. Im Gegensatz zu Harry Potter ist Top Secret jedoch eine Serie, die keine narrative Klammer wie den Kampf gegen Voldemort aufweist. Vgl. den Fortgang der Argumentation dieses Kapitels. 25Vgl. Wilkending 2008a, S. 207.
26
3 Syntagmatische Serialität
verfasst. Für Warrior Cats zeichnen unter dem Pseudonym Erin Hunter vier Autorinnen verantwortlich, wobei die meisten Handlungsbogen von Victoria Holmes entworfen wurden.26 The 39 Clues ist ein Gemeinschaftswerk von 14 amerikanischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren. Der Handlungsbogen der ersten Staffel stammt ebenso wie die erste Folge der ersten Staffel aus der Feder von Rick Riordan, dem Autor des Percy Jackson-Universums.27 Der Produktionskontext dieser beiden Kinder- und Jugendbuchserien ähnelt damit demjenigen von amerikanischen Fortsetzungsserien, die von Autorenkollektiven in sogenannten Writers’ Rooms unter der Leitung eines Showrunners, der den Handlungsbogen entwirft, die einzelnen Folgen skizziert und letzte Hand an die Folgen anlegt, geschrieben werden.28 Die Zusammenarbeit mehrerer Autorinnen und Autoren garantiert hier die rasche und regelmäßige Produktion neuer Folgen innerhalb eines übergreifenden Spannungs- und Handlungszusammenhangs, der nur so aufrechterhalten werden kann, außerdem die zumindest potentiell unendliche Fortsetzbarkeit der Serie.
3.1.2 Sequel Das zweite in der Geschichte der Kinder- und Jugendbuchliteratur weit verbreitete serielle Format stellt das Sequel dar. So konstatiert Bettina Kümmerling-Meibauer, dass auch ein Viertel der in ihrem Lexikon vorgestellten Kinderklassiker mindestens eine Fortsetzung erhalten haben.29 Sie definiert das Sequel zunächst unter ökonomischen Gesichtspunkten als nicht von vornherein intendierte Fortsetzung eines erfolgreichen Textes, zeigt dann aber an zwei exemplarischen Einzeluntersuchungen, dass ein Sequel sich auch durch spezifische narrative Konstruktionsprinzipien auszeichnet und damit mehr ist als eine bloße lineare Fortsetzung des Originaltextes.30 Darin decken sich ihre Befunde mit der Systematik von Krah, der neben dem ökonomischen Aspekt den „Filmstrukturen inhärente ‚Gesetzmäßigkeiten‘ der Sequel-Konzeption“ erkennt.31
26Vgl.
https://www.warriorcats.de/erin-hunter/ [10.12.2018]. Lodge 2010 [10.12.2018]. 28Vgl. z. B. Gormász 2017, S. 33 oder Mikos 2014, S. 9. 29Vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. XXIV. 30Vgl. Kümmerling-Meibauer 1997. 31Krah 2010, S. 105. 27Vgl.
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
27
Sowohl Krah als auch Kümmerling-Meibauer betonen, dass mit dem Sequel eine Re-Interpretation des Originaltextes, häufig herbeigeführt durch einen Perspektivwechsel, einhergehe und dass das Sequel zwar einen eigenständigen Text bzw. Film darstelle, dieser jedoch ein tieferes Verständnis des Originaltextes bzw. -films ermögliche. Ob diese qualitativ-ästhetische Kennzeichnung des Sequels tatsächlich für die Vielzahl an Fortsetzungen in der Kinder- und Jugendliteratur zutrifft oder ob hier nicht häufig nur unter ökonomischen Gesichtspunkten fortgesetzt wird, müsste durch weitere Einzelanalysen erwiesen werden.
3.1.3 Zyklus und Mehrteiler Gegenwärtig erscheint in der seriellen Jugendliteratur eine Vielzahl an mehrbändigen Jugendromanen, bei denen es sich weder um Serien noch um Sequels handelt. Die typologische Bezeichnung dieser zwischen drei und sieben Teile umfassenden Romane variiert in Besprechungen zwischen Reihe, Serie, Zyklus oder Mehrteiler. Häufig findet man die der Anzahl der Teile entsprechenden Begrifflichkeiten Trilogie, Tetralogie, Pentalogie usw. Die terminologischen Unsicherheiten sind einerseits sicherlich der mangelnden Etablierung der Serienforschung in der KJL insgesamt geschuldet, andererseits bilden sie aber auch neue Entwicklungen in der Jugendliteraturproduktion ab, im Zuge derer es zu Vermischungen von seriellen Formaten kommt. In der folgenden Untersuchung (Abschnitt 3.2.1) werden die betreffenden Romane als Formen des Zyklus systematisiert, die jedoch deutliche Unterschiede zu Erzählzyklen aufweisen, wie sie in der Geschichte der KJL beispielsweise durch Oskar Höckers Zyklen oder durch James Krüss’ zyklisches Werk bekannt sind. Höckers und Krüss’ Zyklen entsprechen Gisela Henckmanns Definition aus dem Metzler Lexikon Literatur, der zufolge Zyklus eine „Gruppe von Werken, die als selbstständige Gebilde zugleich Glieder eines größeren Ganzen sind“32, bezeichnet. Für den Zyklus im engeren Sinn hebt sie bestimmte Grundbedingungen hervor, die hinsichtlich der Zusammengehörigkeit der Einzelwerke gegeben sein müssen: Die einzelnen Werke müssen um ein Grundthema zentriert sein und dieses von einem jeweils neuen Ansatz her so entfalten, dass es in seinen verschiedenen Aspekten und Perspektiven ‚kreisförmig‘ abgeschritten wird, um am Ende auf
32Henckmann
2007, S. 844.
28
3 Syntagmatische Serialität einer höheren Sinnebene den Anfang wieder aufzunehmen. Es können verschiedene verknüpfende Elemente hinzukommen: übergreifende narrative und dialogische Formen, Spiegelungen, Wiederholungen und Abwandlungen von Motiven, Bildern, Leitworten usw.33
Zwei Aspekte machen Henckmann zufolge also die Zyklizität eines Werkes im engeren Sinn aus: die Abgeschlossenheit der einzelnen Teile sowie die übergeordnete Anordnung der Einzelteile zu einem Ganzen, die in ihrer Grundausprägung der Etymologie des Begriffs entsprechend eine kreisförmige darstellt. Das Bild des Kreises bzw. des Kreislaufs beschreibt auch Ada Bieber „als stärkstes ästhetisches Moment in der Anlage des Gesamtwerks“ 34 von James Krüss, in dem „17 seiner Werke nach dem zyklischen Ordnungsprinzip eines sechzehnstrahligen Sterns, in dem komplementäre oder konträre Bücher einander über dem Mittelpunkt gegenüber liegen“35, angeordnet sind. Gustav Höckers fünf kulturhistorische Zyklen sind über ein Grundthema und zwar über ihre Intention, die Führungsrolle von Preußen zu legitimieren, verbunden, so dass man hier von einer Zyklizität zweiten Grades sprechen könnte. Die einzelnen Zyklen widmen sich jeweils unterschiedlichen Kapiteln der Militär-, Kriegs- und Kulturgeschichte Preußens, die wiederum in den einzelnen Bänden aus unterschiedlicher zeitlicher Perspektive entfaltet werden.36 Christine Mielke leitet in ihrer umfangreichen Untersuchung zum zyklischseriellen Erzählen den Zyklusbegriff von der Gattung der Rahmenzyklen ab und unterscheidet zwischen der Zyklizität, die sich auf die Rahmung von Werken bezieht, und der zyklischen Narration der Binnenerzählungen, die sie von dem Typus des seriellen Erzählens abgrenzt. Ihre Definition des zyklischen Erzählens auf Binnenebene betont dieselben zwei Aspekte wie Henckmanns Definition: Zyklisch bezeichnet eine Erzählweise, die kausal-logisch abgeschlossene Werke reiht, diese jedoch thematisch als inhaltliche Variation eines übergeordneten Themas verbindet. Anfangs- und Endpunkt beschreiben, oft durch die Rahmung, aber auch rein inhaltlich durch das Aufgreifen des Ausgangsthemas eine Kreisform.37
33Ebd. 34Bieber
2012, S. 355. S. 13. 36Vgl. zum Inhalt der fünf Zyklen Wilkending 2008b (HKJL V), Sp. 584–586. 37Mielke 2006, S. 48. 35Ebd.,
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
29
Serielles Erzählen dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass „eine Geschichte noch nicht zu einem Ganzen kausal-logisch gefügt und beendet wurde und sie narrativ auf Endlosigkeit angelegt scheint.“38 Interessant an Mielkes Untersuchungen ist nun für den vorliegenden Kontext die Beobachtung, dass es häufig zu Mischformen zyklisch-seriellen Erzählens kommt.39 Eine solche Mischform sieht Mielke in der TV-Endlosserie, in der sie das zyklische Element an der textexternen Programm-Rahmung festmacht, innerhalb derer die einzelne Serienfolge periodisch zur jeweils gleichen Zeit gesendet wird. Mielkes These, dass die in den Rahmenzyklen noch vorhandene textinterne Rahmung um 1900 durch die reale Gruppenrezeption, die als textexterne Rahmung fungiert, ersetzt wird, ist kultur-anthropologisch fundiert; die Kontinuität des z yklisch-seriellen Erzählens seit den orientalischen Erzählzyklen, über die romanischen und deutschen Ausprägungen der Gattung bis hin zum Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts und schließlich der TV-Endlosserie sieht sie in einer anthropologischen Krisensituation begründet, in der das Erzählen eine gemeinschaftsstiftende Möglichkeit darstellt, den Tod hinauszuschieben bzw. die Angst vor dem Tod zu bekämpfen.40 Auf die Problematik dieses Ansatzes, der textinterne und textexterne Faktoren der zyklischen Rahmung gleichsetzt, hat Jörg Türschmann bereits hingewiesen.41 Mielkes Beobachtung, dass zyklisch-serielle Mischformen des Erzählens existieren, lässt sich jedoch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf die textinterne Ebene ausweiten. So können in den besprochenen Jugendbuchzyklen, wie noch zu zeigen sein wird, sowohl serielle als auch zyklische Elemente nachgewiesen werden. Dass Zyklen auch lineare Verknüpfungselemente, wie sie für Serien typisch sind, enthalten können, geht aus Henckmanns Definition des Zyklus hervor; im Gegensatz zu den zwei obligatorischen Merkmalen des Zyklus (Abgeschlossenheit und paradigmatisch-kreisförmige Anordnung der einzelnen Werke) bezeichnet sie „verknüpfende Elemente zwischen den einzelnen Werken“42, zu
38Ebd.,
S, 47. ebd., S. 46. 40Vgl. ebd., S. 34 f. 41Vgl. Türschmann 2007b, S. 69. Ergänzend zu Türschmann sei auf die Problematik verwiesen, dass Mielkes Ansatz auch wenig Differenzierung in Bezug auf die unterschiedlichen Formate massenmedialen seriellen Erzählens im 20. und 21. Jahrhundert zulässt. 42Henckmann 2007, S. 844. 39Vgl.
30
3 Syntagmatische Serialität
denen sie auch narrative Formen zählt, jedoch als fakultativ. Claus-Michael Ort definiert Zyklus im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als „Gruppe von selbständigen, in narrativer Sukzession oder thematischer Variation aufeinander bezogenen Gedichten, Dramen oder Erzähltexten“ und setzt damit narrativ-lineare und thematisch-zyklische Verknüpfungselemente gleich bzw. spricht sogar von „Paradoxien aus Linearität und kreishafter Geschlossenheit“.43 Auch Krah geht in seiner bereits mehrfach erwähnten Systematik auf filmische Zyklen wie die Star Wars- oder Herr der Ringe-Trilogie ein und hebt dabei die relative Autonomie der einzelnen Teile, deren narrativen Zusammenhalt sowie die Verbindung von Anfang und Ende hervor. Während der narrative Zusammenhalt das serielle Element darstellt, „tendiert diese Form dazu, sich einer zyklischen Form anzunähern, insofern eine Verbindung von Anfang und Ende inszeniert und damit eine Abgeschlossenheit des Ganzen […] impliziert wird.“44 Anstelle der kreisförmig-paradigmatischen Anordnung der Einzelwerke im traditionellen Zyklus identifiziert Krah in den filmischen Zyklen also die Verbindung von Anfang und Ende als zyklisches Element. An dieser Stelle sei noch kurz auf die Abgrenzung zwischen Zyklus und Mehrteiler verwiesen, die sich anhand des Kriteriums der Abgeschlossenheit der einzelnen Teile treffen lässt. In der Medienwissenschaft wurde der Begriff des Mehrteilers in frühen Typologisierungsversuchen in der Trias Serie – Reihe – Mehrteiler verwendet.45 Unter Mehrteilern werden hier „Sendeformen des Fernsehens [verstanden], welche aus einigen wenigen inhaltlich verknüpften Teilen bestehen.“46 Krah grenzt den Mehrteiler vom Zyklus ab, im Gegensatz zu dem die Einzelfolgen nicht selbstständig und narrativ abgeschlossen sind.47 Während diese Definitionen auf der Basis von audiovisuellen Beispielen getroffen wurden, ließe sich auch der in Zeitungen erscheinende Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts strukturell als Mehrteiler beschreiben.
43Ort
2003, S. 899. 2010, S. 102. 45Vgl. Hickethier 1991 und Mikos 1994. 46Bock 2012, S. 35. 47Vgl. Krah 2010, S. 100 f. 44Krah
3.1 Serielle Formate in der Kinder- und Jugendliteratur
31
3.1.4 Zwischenfazit: Die Entwicklung des seriellen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur Die Forschung zur TV-Serie (im US-amerikanischen Sprachraum) betont einhellig eine Verlagerung von den Episodenserien hin zu den Fortsetzungsserien, in denen zunehmend „komplexe Welten“48 dargestellt werden. Auch im Bereich der aktuellen seriellen Kinder- und Jugendliteratur lassen sich Veränderungen im seriellen Erzählen konstatieren, die hier in einem ersten Zwischenfazit zusammenfassend dargestellt werden sollen. Da es sich sowohl bei der TV-Serie als auch bei der Kinder- und Jugendliteratur um narrative Medien handelt, lassen sich die Entwicklungen unter narratologischen Gesichtspunkten vergleichen und mit einem gemeinsamen narratologischen Begriffsinstrumentarium beschreiben, wie es in den zurückliegenden Kapiteln erfolgt ist. Aufgrund des Vorsprungs der TV-Serien-Forschung wurden Begrifflichkeiten wie Episoden- oder Fortsetzungsserie für die Kinderund Jugendliteratur übernommen, wobei zum Beispiel bei den Mischformen bereits medienspezifische Besonderheiten deutlich wurden, die im Folgenden noch stärker in den Fokus gerückt werden sollen. So kann im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur nicht einfach von einer parallelen Entwicklung von der Episoden- zur Fortsetzungsserie ausgegangen werden. Nach wie vor ist das episodische Erzählprinzip in der Kinder- und Jugendbuchserie weit verbreitet und es gibt nur wenige Beispiele für langlaufende komplexere Fortsetzungsserien. Als Beispiele wurden oben Top Secret (mit 12 Bänden), Warrior Cats (mit bislang sechs Staffeln und 36 Folgen) und The 39 Clues (mit bislang fünf Staffeln und 26 Folgen) angeführt. Medienspezifisch muss hier sowohl der Umfang einer einzelnen Serienfolge als auch der Produktionskontext von Serien berücksichtigt werden. Warrior Cats und The 39 Clues werden ähnlich wie TV-Serien von Autorenkollektiven geschrieben.49 Als Produktionsbedingungen kommen hier
48So
der Titel einer Dissertation zu „[n]arrativen Strategien in US-amerikanischen Fernsehserien“ (Rothemund 2013). 49Vgl. https://warriorcats.com/erin-hunter [12.07.2020].
32
3 Syntagmatische Serialität
verschiedene Faktoren zusammen: ein Verlagsvertrag, der zunächst mindestens eine Staffel umfasst, ein Autorenkollektiv, das einen hohen Publikationsrhythmus garantiert, sowie ein in der Regel von einer Einzelperson entworfenes Serienkonzept. Anders als bei Episodenserien, deren Folgen ein Schema paradigmatisch reproduzieren, hat das Serienkonzept bei Fortsetzungsserien ein größeres Gewicht und erfordert größere Absprachen und Abstimmungen zwischen den einzelnen Folgen.50 Während eine solch arbeitsteilige Herstellung und Produktion bei TV-Serien Standard ist, ist dieses Prinzip im Bereich der Literaturserie noch weitaus weniger verbreitet, wo immer noch das Autorenprinzip und der Werkcharakter dominieren.51 Somit hat sich zwar die Episodenserie auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur in Bezug auf ihre narratologischen Strategien hin zu komplexeren Serien mit höherem Fortsetzungscharakter weiterentwickelt, die Realisierung von Fortsetzungsserien in mehreren Staffeln bleibt aber bisher, womöglich aufgrund der schwierigen Produktionsbedingungen, eine Ausnahme. Dagegen setzt sich in der Nachfolge von Harry Potter mit den Fortsetzungszyklen ein serielles Format durch, das das serielle Erzählen in der Kinder- und Jugendliteratur in einem kürzeren, in sich abgeschlossenen Format erneuert. Diese Erneuerung des Zyklus erfolgt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ähnlich wie bei der Entwicklung der Episoden- zur Fortsetzungsserie durch Serialisierungsstrategien, die einen starken Fortsetzungszusammenhang zwischen den Einzelbänden generieren. Somit lässt sich im Bereich des seriellen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur insgesamt eine Tendenz zur Erneuerung durch eine verstärkte Serialisierung konstatieren, die aber im Gegensatz zur TV-Serie vor allem in dem kürzeren und abgeschlossenen Format des Fortsetzungszyklus erfolgt.
50Auch einige langlaufenden Episodenserien wie Die drei ??? oder TKKG (seit dem Tod von Stefan Wolf) und Hanni und Nanni werden von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren verfasst bzw. ab einem gewissen Zeitpunkt von anderen fortgesetzt. 51Für Kelleter sind die „reduzierte Werkhaftigkeit“ und die arbeitsteilige Herstellung wesentliche Kennzeichen populärer Ästhetik. In diesem Punkt zeigt sich, dass seine Bestimmung von Populärkultur vom Comic, der TV-Serie oder vom Groschenroman ausgeht und damit weite Teile der Populärliteratur, in der die Werkhaftigkeit und das Autorenprinzip nach wie vor dominieren, ausschließt (vgl. Kelleter 2012b, S. 15). Vgl. auch Kelleter/Stein 2012, S. 260: „Kommerzielle Massenkommunikation ist per Definition arbeitsteilig und multiauktorial.“
3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente …
33
3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente – Jugendliteratur in der Nachfolge von Harry Potter Im Folgenden wird das Format des Fortsetzungszyklus zunächst definiert (Abschnitt 3.2.1), bevor im Anschluss die Hypothese vertreten wird, dass Rowlings Harry Potter bei der Weiterentwicklung des seriellen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur eine entscheidende Rolle zukam (Abschnitt 3.2.2). In einem dritten Schritt wird mit Cassandra Clares Trilogie Chroniken der Unterwelt ein Beispiel zyklischen Erzählens ausführlicher analysiert.
3.2.1 Der Fortsetzungszyklus Die meisten Jugendromane des vorliegenden Textkorpus lassen sich aufgrund ihrer Abgeschlossenheit und ihres überschaubaren Folgenumfangs nicht den Serien zuordnen. Vielmehr werden sie im Folgenden als Fortsetzungszyklen bestimmt, deren Zyklusform durch den Einbezug serieller Elemente jedoch modifiziert wird. Für die Zuordnung des Großteils der Texte zum Grundtypus des Zyklus sind folgende Aspekte aus den vorangehenden Definitionen leitend: In allen Definitionen wird die weitgehende Abgeschlossenheit und Selbstständigkeit der Einzelwerke hervorgehoben. Henckmann, Ort und Mielke weisen darauf hin, dass auch traditionelle Zyklen seriell-narrative Verknüpfungselemente enthalten können, wobei Mielke sogar verschiedene Mischformen zyklisch-seriellen Erzählens beschreibt. Krahs Definition von filmischen Zyklen, in denen anstelle einer paradigmatischen eine linear-chronologische Anordnung der Einzelwerke vorliegt, entfernt sich am weitesten von der Definition traditioneller Zyklen und kommt der Ausprägung der vorliegenden Jugendromane am nächsten. Mit den Jugendbuchzyklen in der Nachfolge von Harry Potter liegen keine traditionellen, paradigmatisch angeordneten Zyklen vor, sondern die traditionelle Zyklusform, die in der KJL keine „über Maßen gepflegte Form“52 darstellt, wird durch serielle Elemente erneuert. Die zwei zentralen seriellen Elemente, die in den Jugendbuchzyklen auftreten, sind die Verwendung einer narrativen
52Lexe
1998, S. 13.
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3 Syntagmatische Serialität
Klammer über alle Bände hinweg sowie der Einsatz von Cliffhangern. Als narrative Klammer wird ein Handlungsstrang bezeichnet, der über alle Bände des Zyklus hinwegreicht und erst am Ende des letzten Bandes aufgelöst wird.53 Damit umfasst die narrative Klammer die Kriterien der chronologischen und semantischen Sukzession, wie sie für die Differenzierung unterschiedlicher Serienformate eingeführt wurden, geht jedoch darüber hinaus, indem durch die Terminologie der Klammer die Abgeschlossenheit des Gesamtzyklus hervorgehoben wird. Die narrative Klammer impliziert weiterhin, dass allen Einzelwerken des Zyklus genauso wie in Episoden- und Fortsetzungsserien dasselbe Weltmodell zugrunde liegt, was im traditionellen Zyklus nicht notwendigerweise gegeben sein muss. Über die narrative Klammer entsteht ein starker linearchronologischer, Spannung erzeugender Fortsetzungszusammenhang zwischen den einzelnen Bänden, innerhalb dessen sich die Figuren (gemeinsam mit der Handlung) weiterentwickeln. Dieser Fortsetzungszusammenhang wird dadurch verstärkt, dass der die narrative Klammer bildende Handlungsstrang und z.T. weitere untergeordnete Handlungsstränge am Ende eines Bandes abgebrochen und in einer speziellen Weise inszeniert werden. Diese Erzähltechnik kann in Anlehnung an audiovisuelle Verfahren als Cliffhanger oder im Anschluss an Türschmann als Zäsur bezeichnet werden.54 Wie diese Zäsur im Einzelnen inszeniert wird, verdeutlicht das Beispiel im Anschluss. Die narrative Klammer wirkt also einerseits als starkes serielles Element, bedingt aber andererseits auch den letztlich zyklischen Charakter der Werke, indem über sie Anfang und Ende des Zyklus aufeinander bezogen werden. Entscheidend für die Zuordnung eines Werks zum Grundtypus des Zyklus ist also im Unterschied zum Mehrteiler die Abgeschlossenheit der Einzelteile. Im Unterschied zur Serie liegt bei den Zyklen ein über alle Bände hinwegreichender Handlungsstrang vor, dessen Auflösung von Anfang an angekündigt und schließlich im letzten Band eingelöst wird. Während Serien potentiell unendlich fortsetzbar sind, verweist die narrative Klammer von Zyklen vom ersten Band an auf deren Ende. An dieser Stelle muss das Kriterium der potentiellen Endlosigkeit von Serien, das der Abgeschlossenheit von Zyklen gegenübergestellt wurde, nochmals differenzierter in den Blick genommen werden. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die potentielle Endlosigkeit von Serien das entscheidende Merkmal vieler Seriendefinitionen. Es ist an dieser Stelle jedoch wichtig zu betonen, dass diese
53In
einzelnen Fällen können auch zwei Handlungsstränge die narrative Klammer bilden. Türschmann 2007a, S. 204.
54Vgl.
3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente …
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Offenheit des seriellen Erzählens kein rein narratologisches Kriterium darstellt, sondern in seiner Entstehung vielmehr eng an die Produktionsbedingungen der TV-Serie geknüpft ist: Da sie [die Autorinnen und Autoren von TV-Serien; B.S.] nicht sicher sein können, wann eine Serie genau zu Ende gehen wird – dies ist stets eine Entscheidung des produzierenden Senders oder der sonstigen Produzierenden, die aus den unterschiedlichsten Gründen (nachlassendes Zuschauerinteresse, zu hohe Gagenforderungen der Stars, Unfälle…) getroffen wird –, müssen sie in der hypothetischen Annahme von Endlosigkeit geschrieben werden, bei gleichzeitigem Wissen darum, dass die Erzählung jederzeit zu Ende gehen könnte. Dadurch, dass so das fernsehserielle Erzählen – anders als beispielsweise im dramaturgisch geschlossen erzählten Kinofilm – nicht auf das Ende seiner Erzählung ausgerichtet ist, also das Ende nicht die Bedeutungen des Erzählten bestimmt, verlagert sich der Fokus des seriellen Erzählens, so wie es auch DEADWOOD-Creator David Milch beschreibt, auf das Erzählen an sich.55
Kelleter weist darauf hin, dass allen Klassifikationsmodellen zur (TV-)Serie ein gemeinsames Merkmal eigen ist, das ebendiese auch von Dreher und Lang beschriebene doppelte Struktur der Serie und ihre potentielle Endlosigkeit betrifft: „In jedem Fall nämlich richtet sich ein vorliegender Erzähltext auf seine simultane Wiederholung und Erneuerung in einem noch nicht vorliegenden Erzähltext aus.“56 Kelleter beruft sich hier auf das, was Hickethier bereits 1991 als „doppelte Formstruktur“ der Serie beschrieben hat: Einerseits sei bei Langzeitserien eine „besondere Dramaturgie […] entstanden, weil der Anfang einer Serie aus dem Blickfeld der Zuschauer entschwunden und ein Ende nicht absehbar ist“57, andererseits stellen „die einzelnen Serienfolgen […] von ihrer Dramaturgie und Produktionsstruktur her erkennbare, abgegrenzte Einheiten dar“.58 Die potentielle Endlosigkeit einer Serie ergibt sich also aus diesem widersprüchlichen Verhältnis zwischen Einzelfolgen und nicht einholbarem Gesamttext der Serie, die allerdings eine gewisse Laufzeit voraussetzt, da nur so Anfang und Ende, wie Hickethier dies formuliert hat, aus dem Blick geraten können. Aus medienspezifischer Perspektive stellt sich hier die Frage, ob es gerechtfertigt erscheint, das Merkmal der potentiellen Endlosigkeit auch auf die
55Lang/Dreher
2015, S. 131. 2012b, S. 26. 57Hickethier 1991, S. 9. 58Ebd. 56Kelleter
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3 Syntagmatische Serialität
Kinder- und Jugendbuchserie zu übertragen und diese unter anderem anhand dieses Kriteriums von den abgeschlossenen Zyklen zu unterscheiden. Hierzu müssen die jeweiligen Produktionsbedingungen verglichen werden, die bei allen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Auch Kinder- und Jugendbuchserien sind kommerzielle Massenwaren, die ähnlichen Bedingungen unterliegen wie die TV-Serie und deren Fortlaufen damit letztlich auch von der Lesergunst abhängig ist. Würden Serien wie Die drei ???, Fünf Freunde oder Warrior Cats keine Leserinnen und Leser mehr finden bzw. würde sich durch die Fortsetzung nicht ein Medienverbund um die Serie herum etablieren lassen, würden die Serien vermutlich eingestellt werden. Somit ist also auch bei Kinder- und Jugendbuchserien die Laufzeit einer Serie nicht unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu betrachten. Was die Kinder- und Jugendbuchserien somit letztlich von den Fortsetzungszyklen unterscheidet, ist ihre Offenheit in Bezug auf das Ende, das von Anfang an zwar mitgedacht wird, das aber so lange hinausgeschoben wird, wie die Serie ihre Leserinnen und Leser findet. Im Gegensatz dazu werden die Fortsetzungszyklen in der Regel von vornherein in einer vorab festgelegten Anzahl von Bänden geplant und vertraglich abgesichert. Neben narratologischen Erwägungen sprechen somit auch die jeweiligen Produktionskontexte und -bedingungen für eine grundsätzliche typologische Unterscheidung zwischen Serien und Zyklen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.
3.2.2 Vom episodischen Prinzip zum Fortsetzungszyklus: Zur Bedeutung von Harry Potter Die Bedeutung von J. K. Rowlings Harry Potter (1997–2008) für die Jugendliteratur wurde vielfach hervorgehoben, sowohl in ökonomischer als auch in literarischer und kultureller Hinsicht.59 Umso mehr verwundert es, dass die Rolle von Rowlings Werk in Bezug auf die Erneuerung seriellen Erzählens in der Jugendliteratur bislang noch nicht detailliert untersucht wurde.60 Im Folgenden wird die Hypothese vertreten, dass sich das Aufbau- und Konstruktionsprinzip
59Vgl.
z. B. Bergenthal 2008, S. 16 f., Fitzsimmons 2012 oder Reimer et al. 2014b, S. 2. et al. betonen 2014 die Notwendigkeit der Etablierung einer Serienforschung für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, die bis dato nahezu inexistent sei (vgl. ebd., S. 1–5).
60Reimer
3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente …
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der sieben Bände zunehmend von einer episodischen Struktur hin zu einem abgeschlossenen Fortsetzungsprinzip verlagert, das aufgrund des Mega-Erfolgs von Rowlings Werk Auswirkungen auf die serielle Jugendliteraturproduktion in der Nachfolge von Harry Potter hat. Die ersten vier Bände verknüpfen in ihrer Struktur die Muster der Internatsund Abenteuerserie: Jeder Band umfasst ein Schuljahr, beginnt bei den Dursleys im Ligusterweg, umfasst ein Abenteuer, das am Ende des Bandes erfolgreich bestanden wird und endet mit der Rückkehr Harrys zu den Dursleys.61 Mit diesen in sich abgeschlossenen Abenteuern liegt eine episodische Struktur vor, wie sie auch in Episodenserien zu finden ist. Der übergreifende Handlungsstrang wird in den ersten Bänden zwar angelegt, indem der böse Zauberer Lord Voldemort erstarkt und schließlich im vierten Band wiederaufersteht, woraus sich dann die direkte Konfrontation zwischen Harry und Voldemort entwickelt. Mit dem Ende des fünften Bandes (Harry Potter und der Orden des Phönix) wird der übergreifende Handlungsstrang jedoch erstmals auf eine besondere Weise akzentuiert, was dazu führt, dass die letzten drei Bände stärker untereinander verknüpft sind als die ersten. Zwar kehrt Harry auch im fünften Band am Ende des Schuljahres wieder zu den Dursleys zurück, aber der Band endet mit der Prophezeiung, dass Harry entweder Mörder oder Opfer von Voldemort sein wird.62 Mit dieser Prophezeiung wird die Handlung an einer besonders spannenden Stelle abgebrochen, und ganz im Sinne der kataphorischen Funktion eines Cliffhanges wird auf die weitere Handlung vorausgewiesen.63 So heißt das letzte Kapitel bezeichnenderweise „Der zweite Krieg beginnt“, eine Vorausschau, die sich auch in Hermines Worten und in der kataphorischen Ellipse der Auslassungspunkte widerspiegelt: „Es hat im Grunde noch nicht wirklich begonnen“, seufzte Hermine düster und faltete die Zeitung zusammen. „Aber es wird nicht mehr lange dauern…“64
61Zur besonders in England weit verbreiteten School Story und deren Genre-Einfluss auf Harry Potter vgl. Bergenthal 2008, S. 120–124 sowie Pinsent 2002. Bergenthal geht in ihren Ausführungen jedoch vor allem auf inhaltliche Genrebezüge ein. 62Vgl. Rowling 2003 (Harry Potter und der Orden des Phönix), S. 987. 63Zur kataphorischen Funktion des Cliffhangers vgl. Jurga 1998, S. 483. 64Rowling 2003 (Harry Potter und der Orden des Phönix), S. 1015.
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3 Syntagmatische Serialität
So enthält der fünfte Band zwar einerseits wie die Bände vorher einen abgeschlossenen Handlungsstrang,65 andererseits wird im Gegensatz zu den vorherigen Bänden mit dem Verfahren des Cliffhangers am Ende des Romans der übergreifende Handlungsstrang deutlich hervorgehoben. Der sechste Band (Harry Potter und der Halbblutprinz) beginnt erstmals nicht bei den Dursleys im Ligusterweg, sondern im Büro des Premierministers, dem von den Ereignissen und dem Wiedererstarken des schwarzen Magiers Voldemort berichtet wird. Der Leser erhält mit diesem ersten Kapitel eine Zusammenfassung der Ereignisse des vorherigen Bandes. Mit dem zweiten Kapitel wird direkt an das Ende des fünften Bandes angeknüpft und erneut der übergreifende Handlungsstrang akzentuiert, indem der Leser erfährt, dass Lord Voldemort aufgrund seiner Niederlage im Zaubereiministerium wütend auf seine Helfer ist und infolgedessen Draco Malfoy, einem Mitschüler von Harry, einen gefährlichen Auftrag erteilt hat. Erst im dritten Kapitel wird das Geschehen um Harry im Ligusterweg fokalisiert. Das neue Verknüpfungsprinzip macht sich also sowohl am Ende eines Bandes durch eine kataphorische Struktur als auch am Anfang des nächsten Bandes durch eine anaphorische Struktur bemerkbar. Mit Band sechs wird somit die episodische Struktur der ersten Bände endgültig zugunsten einer starken linearen Verknüpfung aufgegeben. Der Band enthält zwar noch einen schwach ausgeprägten eigenen Handlungsstrang – den Auftrag Voldemorts an Draco Malfoy, Dumbledore zu töten. Er bereitet aber vor allem das Finale vor, indem Harry die notwendigen Fähigkeiten und das notwendige Wissen erlangt, um Voldemort endgültig besiegen zu können. So erfährt Harry in diesem Band von der Existenz der Horkruxe, in die Voldemort seine Seele gebannt hat, und beginnt zusammen mit Dumbledore mit deren Zerstörung, die er im letzten Band vollendet. Der in Band sechs begonnene Handlungsstrang (Zerstörung der Horkruxe) wird am Ende des Bandes abgebrochen und durch einen Cliffhanger akzentuiert, durch den enthüllt wird, dass es sich bei dem von Dumbledore und Harry unter Einsatz ihres Lebens entwendeten Medaillon von Slytherin nur um ein Imitat des echten Horkruxes handelt. Harrys Schlussworte – der sechste Band endet in Hogwarts und nicht bei den Dursleys – weisen auf die Fortsetzung des Handlungsstranges im nächsten Band voraus:
65In
Band 5 stellt Lord Voldemort Harry eine Falle, um an die Prophezeiung über ihr gemeinsames Schicksal zu kommen. Der Handlungsstrang endet damit, dass Harrys Pate Sirius Black bei den Kämpfen ums Leben kommt, Harry jedoch verhindern kann, dass Voldemort von ihm Besitz ergreift (vgl. ebd.).
3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente …
39
„Dann muss ich die restlichen Horkruxe aufspüren, oder?“ erwiderte Harry, die Augen auf Dumbledores weißes Grabmal gerichtet, das sich im Wasser auf der anderen Seite des Sees spiegelte. „Er wollte, dass ich das tue, deshalb hat er mir alles über sie erzählt. Wenn Dumbledore Recht hatte – und ich bin mir sicher, er hatte Recht –, sind immer noch vier davon dort draußen. Ich muss sie finden und sie zerstören, und dann muss ich mich auf die Jagd nach dem siebten Stück von Voldemorts Seele machen, dem Stück, das immer noch in seinem Körper ist, und ich bin derjenige, der ihn töten wird. […]“66
Der letzte Band greift diesen Handlungsstrang direkt im ersten Kapitel auf, indem aus der Perspektive Voldemorts berichtet wird, der mit seinen Helfern überlegt, wie er Harry entführen kann. Pointiert lässt sich ausgehend von den vorangehenden Überlegungen also formulieren, dass Harry Potter auf der narratologischen Ebene als Episodenserie beginnt und als Zyklus endet.67 In den letzten drei Bänden kommen im Gegensatz zum Beginn Strategien der Serialisierung wie der Einsatz einer narrativen Klammer und die Verwendung von Cliffhangern zum Einsatz, die diesen einen starken Fortsetzungscharakter verleihen. Ob diese Verschiebung von vornherein durch die Autorin so geplant oder unter gewissen medialen Einflüssen in anderen Genres im Fortgang der Serie bzw. in Folge des unerwarteten Erfolgs entstanden ist, spielt für die vorliegende Argumentation keine Rolle.68 Was hier im Kontext des seriellen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur hervorgehoben werden soll, ist zweierlei: zum einen die Erneuerung im Format des Fortsetzungszyklus, zum anderen die Hypothese, dass Harry Potter eine maßgebliche Rolle in dieser Entwicklung gespielt hat. Die sich dem Erfolg von Rowlings Werk anschließende und bis heute ungebrochene Hochkonjunktur des zyklisch-seriellen Erzählens in der Jugendliteratur kann als serielle Dynamik in paradigmatischer Hinsicht beschrieben werden: Was erfolgreich ist, wird wiederholt und variiert.69 Solche 66Rowling
2005 (Harry Potter und der Halbblutprinz), S. 654 f. Bezug auf den Produktionskontext war bekanntlich allerdings von vornherein klar, dass die Serie auf sieben Bände angelegt ist (vgl. z. B. Kutzmutz 2009, S. 33 f.). 68Zu den Entstehungsmythen rund um Harry Potter, die von Verlagsseite aus und in Interviews der Autorin verbreitet und auf Fanseiten kolportiert werden, vgl. von Düffel 2009, S. 45 f. 69In der Forschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Harry Potter zahlreiche Vorläufer hat bzw. dass parallel zu Harry Potter wichtige Jugendbuchzyklen wie Artemis Fowl (8 Bde., 2001–2013) von Eoin Colfer oder His Dark Materials (3 Bde., 1995–2000) von Philip Pullman entstanden sind. Die serielle Dynamik dürfte jedoch aufgrund des durchschlagenden Erfolgs maßgeblich von Rowlings Werk ausgegangen sein. Zu den Vorläufern von Harry Potter vgl. z. B. Pinsent 2002. Zu Artemis Fowl vgl. Prestel 2011. Zu His Dark Materials vgl. z. B. Lenz/Scott 2005. 67In
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3 Syntagmatische Serialität
Dynamiken finden jedoch nicht abgeschlossen in der Kinder- und Jugendliteratur, sondern in einem ganzen Feld populärkultureller Entwicklungen statt, weshalb neben den in Abschnitt 3.1.1 beschriebenen Entwicklungen im Bereich der TVSerie an dieser Stelle auch ein weiteres mediales Großereignis der 2000er-Jahre kurz Erwähnung finden soll, das zur Popularität der Trilogie und damit des Fortsetzungszyklus beigetragen hat. Gemeint ist die Verfilmung der Herr der Ringe-Romane von J. R. R. Tolkien als Trilogie. Auf die Tatsache, dass mit der Verfilmung ein „anderer, modifizierter Fortsetzungszusammenhang inszeniert wurde“,70 haben Krah und andere hingewiesen. Aus Tolkiens Briefen ist bekannt, dass er die Geschichte als ein Werk geschrieben hat und auch so veröffentlichen wollte. Dass der Roman schließlich in drei Teilen veröffentlicht wurde, hatte rein verlagsökonomische Gründe, da befürchtet wurde, dass sich ein so umfangreiches Werk schlecht verkaufen ließe. Mit der Verfilmung wird aus dem Mehrteiler ein Zyklus mit drei mehr oder weniger in sich abgeschlossenen Teilen. Diese Abgeschlossenheit der Teile wird dadurch erzeugt, dass aus der Vielzahl an sukzessiven Ereignissen im Roman für jeden Teil ein Ereignis herausgegriffen und ausgebaut, sprich ins Zentrum gerückt wird.71 Weitere populärkulturelle Felder, in denen das zyklische Schreiben verbreitet ist, sind die Fantasy-, Science-Fiction- und Kriminalliteratur für Erwachsene. So entspricht der Zyklus in seiner traditionellen Form einer mythopoetischen Ausrichtung der Fantasy, in der sich archetypale narrative Muster wiederholen.72 Der wohl bekannteste deutsche Fantasyautor Wolfgang Hohlbein schreibt beispielsweise bereits seit den 1980er-Jahren Fantasyzyklen. Von der Forschung werden Fantasy-, Krimi- oder Science-Fiction-Zyklen jedoch nicht wahrgenommen, so dass bislang keine Erkenntnisse über die Form und Bedeutung des Zyklus in der Populärliteratur für Erwachsene vorliegen.
3.2.3 Die Chroniken der Unterwelt – ein Beispiel für zyklisches Erzählen Die insgesamt sechs Bände umfassenden Chroniken der Unterwelt (2007–2009) der amerikanischen Autorin Cassandra Clare sind ein typisches Beispiel für die
70Krah
2010, S. 102. Vgl. auch Mikos/Eichner/Prommer/Wedel 2007. Krah 2010, S. 102. 72Vgl. Rüster 2013b, S. 285. John Clute weist im Eintrag „cycles“ der Encyclopedia of Fantasy darauf hin, dass zyklische Geschichtstheorien auch auf einen Teil der ScienceFiction-Literatur Einfluss hatten. Vgl. Clute 1997a, S. 242. 71Vgl.
3.2 Die Erneuerung des Zyklus durch serielle Elemente …
41
neue Form des Fortsetzungszyklus, die in der Kinder- und Jugendliteratur nach Harry Potter weit verbreitet ist. Die ersten drei Teile der Chroniken bilden eine in sich abgeschlossene Trilogie, die so auch von der Autorin geplant, nach dem Erfolg der ersten Bücher jedoch durch weitere drei Sequel-Bände fortgesetzt wurde, die sich wiederum zu einer Trilogie zusammenfügen. Mit dieser sukzessiven Ausdehnung der Erzählwelt ist eine zweite Entwicklung benannt, die für die aktuelle serielle Jugendliteratur charakteristisch ist und der das nächste Kapitel gewidmet ist. Im Folgenden werden nun die Serialisierungsverfahren der ersten Trilogie und deren Funktion für das Erzählen in den Blick genommen. Die erste Trilogie der Fantasysaga handelt vom Kampf der Schattenjäger Clary und Jace gegen den Abtrünnigen Valentin, der versucht die Herrschaft über die Schattenjägerwelt zu erlangen; Schattenjäger sind ursprünglich Menschen, die auserwählt und mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet wurden, um die Welt der Menschen vor Dämonen zu schützen. Begleitet wird dieser F antasy-Handlungsbogen von der Liebesgeschichte zwischen den beiden Protagonisten, die ebenso wie der Fantasy-Handlungsstrang den Genrekonventionen gemäß aufgelöst wird: Der Abtrünnige Valentin wird besiegt und die beiden Protagonisten kommen nach vielen Hindernissen und Verwicklungen zusammen und bilden ein glückliches Paar. Trotz dieser doppelten narrativen Klammer sind die einzelnen Bände der Trilogie in sich abgeschlossen, indem sie jeweils um ein Symbol und einen zentralen Handlungsort, der für den jeweiligen Band titelgebend ist, zentriert sind. Um die Herrschaft zu erlangen, muss Valentin in den Besitz von drei Engels-Insignien gelangen, den Kelch, das Schwert und den Spiegel der Engel, und die einzelnen Teile der Trilogie enden jeweils damit, dass ihm dies gelingt bzw. im letzten Teil misslingt. Die Dreiteilung der Geschichte, deren einzelne Teile jeweils nochmals in drei Teile untergliedert sind, spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen der Romane wider, so dass hier auch eine Form der paradigmatischen Anordnung der Einzelteile vorliegt, wie sie für den traditionellen Zyklus typisch ist. Gleichzeitig sind die Bände jedoch über die narrative Klammer einerseits und über Epiloge andererseits stark untereinander verknüpft. Mit der Epilogisierung verwendet Cassandra Clare ein narratives Verfahren, das für die Dramaturgie der Handlung eine doppelte Funktion innehat. Im Epilog des ersten Bandes der Trilogie werden alle wichtigen Handlungsstränge sowie Veränderungen auf der Figuren- bzw. Beziehungsebene nochmals aufgegriffen und kurz rekapituliert. Damit hat der Epilog zum einen eine zusammenfassende und schließende Funktion: Es finden klärende Gespräche zwischen Figuren statt, wichtige Figuren wie beispielsweise ein stiller Bruder aus der titelgebenden Stadt der Gebeine
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3 Syntagmatische Serialität
tauchen nochmals auf und Handlungsstränge werden komplettiert und zu Ende geführt. Zum anderen werden aber auch die Handlungsstränge fokussiert, die offen bleiben und auf den nächsten Band vorausweisen. Im Sinne von Cliffhangern bleiben im ersten Band das weitere Schicksal von Clarys Mutter, die im Koma liegt, und der Fortgang der Liebesgeschichte im Unklaren. So wird zwar nochmals die Enthüllung, dass Clary und Jace Geschwister sind, ins Gedächtnis gerufen, aber Clary trifft ihren angeblichen Bruder im Epilog an dem Ort, an dem sie einen ersten Kuss ausgetauscht haben. Neben diesem räumlichen Verweis auf ihre Liebe schaffen zwei weitere Hinweise auf ihre fehlende Ähnlichkeit die Erwartung, dass die Liebe der beiden doch noch eine Zukunft haben könnte. Auch die Fantasyklammer wird nochmals fokussiert, indem Clary und Jace über Valentins Flucht mit dem Kelch der Engel reden und sich fragen, „was er mit dem Kelch der Engel anstellt“.73 Während allen drei Teilen der Trilogie Epiloge nachgestellt sind, die (bis auf den letzten Epilog) diese Doppelfunktion innehaben, wird lediglich dem Mittelteil auch ein Prolog vorangestellt. Dem Mittelteil einer Trilogie kommt in zweifacher Hinsicht eine schwierige Rolle zu: Er muss zum einen den Haupthandlungsstrang weiterführen und dadurch die Spannung aufrechterhalten, ohne jedoch bereits zu schnell auf das Ende hinzuführen. Zum anderen muss im Mittelteil ein neuer Handlungsstrang konstituiert werden, was häufig durch eine Raumund/oder Figurenerweiterung geschieht, die wiederum eine gewisse Hinführung verlangt. An dieser dramaturgisch schwierigen Stelle – Aufrechterhaltung bzw. Weiterführung der Hauptspannung bei gleichzeitiger Erweiterung der Handlung – setzt Clare einen Prolog ein, der für wenige Seiten mitten in die Haupthandlung hineinführt und diese fortführt, indem durch eine Fokalisierung auf Valentin dessen weitere Pläne enthüllt werden. Im Anschluss an den Prolog werden neue Figuren und ein neuer Handlungsstrang eingeführt. Somit dient der Prolog ähnlich wie die Epiloge dazu, das serielle Element der Trilogie dramaturgisch umzusetzen. Der die Trilogie abschließende Epilog hat seiner Stellung entsprechend vor allem eine schließende Funktion – der Widersacher wird beerdigt, ein Fest wird gefeiert und die Liebe der Protagonisten mit einem Kuss besiegelt. Dass die Autorin bereits bei der Abfassung dieses Epilogs eine Fortsetzung der Trilogie im Auge hatte, zeigen jedoch zwei entscheidende Vorausdeutungen. So wird davon berichtet, dass auch Valentins Sohn Sebastian bei den letzten Kämpfen
73Clare
2008 (City of Bones), S. 495.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
43
ums Leben kam, aber „Sebastian hatte man dagegen nicht bestattet. Eine Gruppe Schattenjäger war zum Tal aufgebrochen, hatte seinen Leichnam aber nicht finden können – vermutlich war er vom Fluss fortgespült worden, hatte man Jace erzählt, doch er war sich dessen nicht so sicher.“74 In Wahrheit hat Sebastian überlebt und wird in den weiteren Bänden die Rolle des Bösewichts übernehmen, worauf auch der letzte Satz der Trilogie, der den Titel des Sequelbandes (City of Fallen Angels) enthält, bereits hindeutet: Clary sah zu, wie die Feuerwerksraketen in einem sprühenden Funkenregen explodierten. Funken, die die Wolken am Nachthimmel aufleuchten ließen, während sie in großen Bögen aus goldenen Flammen auf die Erde hinabgingen – wie Engel, die aus dem Himmel herabfallen. [Hervorhebung B.S.]75
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie serieller Fortsetzungsformate Bisher wurde gezeigt, dass serielles Erzählen in der populären Jugendliteratur in der Nachfolge von Harry Potter zu einem verbreiteten Erzählprinzip geworden ist und sich durch die Erneuerung serieller Erzählformate weiterentwickelt hat. Weiterhin kann festgestellt werden, dass die hier im Fokus stehenden Jugendromanzyklen zu weiteren Fortsetzungen tendieren: So erscheinen zu bereits abgeschlossenen Zyklen Prequels oder Sequels, wie beispielsweise ein Prequel-Zyklus und verschiedene weitere Sequel-Zyklen zu den Chroniken der Unterwelt von Cassandra Clara. Auch Rick Riordan, der Autor von Percy Jackson, setzt seinen Zyklus in einem Sequel-Zyklus fort und hat damit begonnen, zwei seiner Erzähluniversen – Percy Jackson und Die Kane-Chroniken – in dem aus Fanfictions bekannten Genre des Crossovers zu verbinden. Die Geschichten erscheinen unter dem Titel The Son of Sobeck als E-Novellas oder E-Shorts, kurzen Geschichten, die zunächst nur als E-Book erscheinen. Andere Autorinnen und Autoren wie Brodi Ashton (Ewiglich), Lauren Oliver (Delirium), Beth Revis (Godspeed), Maggie Stiefvater (Nach dem Sommer), James Frey (Endgame), Sara B. Elfgren und Mats Strandberg (Engelsfors) oder auch Cassandra Clare schreiben zu ihren Zyklen kurze Spin-Offs in Form dieser E-Novellas, die zwischen den einzelnen Bänden angesiedelt sind und das
74Clare 75Ebd.,
2009 (City of Glass), S. 668 f. S. 716 f.
44
3 Syntagmatische Serialität
Geschehen häufig aus der Perspektive einer anderen Figur erzählen oder fortsetzen, dabei aber die Chronologie der Erzählung durchbrechen und damit Nebengeschichten darstellen. Andere Autorinnen wie Stephenie Meyer (Twilight) oder Anne Plichota und Cendrine Wolff (Oksa Pollock) veröffentlichen ihre Spin-Offs als gedruckte Bücher. Zu den einzelnen Erzähluniversen erscheinen in gedruckter oder in digitaler Form Handbücher, die Hintergrundinformationen und -geschichten vermitteln, indem sie die fantastischen Welten systematisch und enzyklopädisch aufbereiten, stofflich ausweiten oder sinnlich erfahrbar machen.76 Außerdem dehnen sich manche Erzähluniversen auch transmedial aus, indem die Geschichten in verschiedenen Medien erzählt und fortgesetzt werden, wie dies bei J. K. Rowlings neuen Projekten, Stephenie Meyers Filmprojekt The Storytellers – New Voices of the Twilight Saga oder bei James Freys Endgame der Fall ist. Nicht zuletzt aufgrund der Verfilmungen und der Fanresonanz werden aus vielen seriellen Jugendromanen große „Pop-Ereignisse der Gegenwart“.77 So sind Leserinnen und Leser mit ihren produktiven Fortschreibungen wesentlich an der Ausdehnung serieller Erzählwelten beteiligt. Dieser beispielhafte, keinesfalls vollständige Überblick über die Vielzahl und Vielfalt an Fortsetzungs- und Ausdehnungsformen auf der syntagmatischen Ebene lässt eine weitere Systematisierung dieser Formen als notwendig erscheinen. Eine Aufarbeitung durch die Forschung steht für die Kinder- und Jugendliteratur hierbei noch am Anfang.78 Eine Systematisierung muss an bereits etablierte Kategorien anschließen, um die in der Jugendliteratur beobachteten Phänomene, die ihren Ausgang vom Medium des Buches nehmen, mit Erzähluniversen, wie sie sich in anderen Medien und im Erwachsenenbereich etabliert haben, vergleichen zu können. In der Kinder- und Jugendliteraturforschung sowie in der Deutschdidaktik herrschen noch Unklarheit und Uneinigkeit darüber, welchem Begriff zur Bezeichnung der vielfältigen Phänomene und Veränderungen im Bereich der Medienproduktion, der Medienverschränkung und Mediennutzung der Vorzug zu geben ist: dem Begriff des Medienverbundes oder der Medienkonvergenz. Als Teilphänomen der Medienkonvergenz wiederum hat sich im angloamerikanischen Raum das Konzept des „transmedia storytelling“ (Henry Jenkins) etabliert, das die Ausdehnung einer Geschichte
76J. K. Rowlings Webseite Pottermore stellte z. B. ein solch digitales interaktives Handbuch zu den Harry Potter-Romanen dar (vgl. Schlachter 2013a, S. 112 f.). 77Füchtjohann 2011. 78Vgl. z. B. Weinkauff et al. 2014, Dettmar 2016, Anders/Wieler 2018 und zuletzt Dettmar/ Tomkowiak 2019. Zu weiterer Forschungsliteratur zu literalen Praktiken vgl. Abschnitt 5.3.1.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
45
über verschiedene Medien hinweg erfasst. Ausgehend von der Darstellung dieser Konzepte wird im Folgenden eine Systematik entwickelt, die die Vielfalt an syntagmatischen Fortsetzungsphänomenen weiter ausdifferenziert.
3.3.1 Begriffsklärungen: Medienverbund – Medienkonvergenz – Intermedialität – transmediales Worldbuilding – Storyworlds Der Begriff des Medienverbundes bezeichnet spätestens seit Mitte der 1 980erJahre vor allem die ökonomische Dimension der Mehrfachverwertung eines fiktionalen Stoffes in unterschiedlicher medialer Form.79 In der Forschungspraxis wurden und werden Kinder- und Jugendmedienverbünde jedoch nicht nur in einer ökonomischen Perspektive betrachtet, sondern das Untersuchungsinteresse geht weit darüber hinaus und richtet sich auch auf historische, ästhetische, gattungsspezifische und didaktische Fragestellungen.80 In einem weiteren Sinn integriert Klaus Maiwalds Definition von Medienverbünden als „planvoll erzeugte fiktional-ästhetische E rlebnis- und Konsumzonen“81 mit Rezeptions- und Interaktionsmöglichkeiten neben ökonomischen auch ästhetische Aspekte sowie die Nutzerperspektive. Auch Petra Jostings Arbeiten liegt ein solch weiter Medienverbundbegriff zugrunde.82 Der Begriff der Medienkonvergenz ist jünger und „spielt in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen sowie medienpädagogischen Diskussion seit der Jahrtausendwende eine maßgebliche Rolle und bezieht sich in der Regel auf Verschränkungen medialer Techniken, aber auch auf Verschränkungen bzw. Verschmelzungen von Angeboten/Inhalten, Rezeptionsformen und wirtschaftlichen
79Zu frühen Belegen des Begriffs vgl. Heidtmann 1992, S. 176–181 sowie seine Literaturangaben auf S. 188. In einer frühen Bedeutung bezeichnete Medienverbund auch die technische Verschränkung verschiedener Medien in einem neuen Medium (z. B. bei Kittler 1986, der den Tonfilm als Verbindung von Stummfilm und Grammophon interpretiert), wofür sich mittlerweile der Medienkonvergenzbegriff etabliert hat. Zu aktuellen Definitionen des Medienverbundes als vorwiegend ökonomisches Prinzip der Mehrfachverwertung vgl. Marci-Boehncke 2010, S. 486; Barsch 2011, S. 41 oder Möbius 2014, S. 224. 80Vgl. z. B. Heidtmann 1992, Josting/Maiwald 2007. 81Maiwald 2007, S. 39. 82Vgl. zuletzt Josting 2011 und Josting 2014, S. 233.
46
3 Syntagmatische Serialität
Branchen.“83 Auch im Bereich der Deutschdidaktik wird der Begriff vereinzelt verwendet.84 Im Gegensatz zu einem engen Begriff des Medienverbundes als rein ökonomischem Organisationsprinzip ist der Medienkonvergenzbegriff generell weiter gefasst, was sich in Jenkins bekannter Definition widerspiegelt, der in kulturwissenschaftlicher Perspektive den Prozess der Medienkonvergenz zum entscheidenden Signum unseres medialen Zeitalters erklärt. Thomas Möbius hat Jenkins’ Definition kommentiert, indem er deren Implikationen und Bezüge zu verwandten Begrifflichkeiten aufzeigt: By convergence, I mean the flow of content across multiple media platforms [also Intermedialität/Symmedialität/Medienwechsel, T.M.], the cooperation between multiple media industries [also Crossmedia/Medienverbund, T.M.], and the migratory behavior of media audiences who will go almost anywhere in search of the kinds of entertainment experiences they want [also konvergente Medienaneignung, T.M.]. Convergence is a word that manages to describe technological, industrial, cultural and social changes depending on who’s speaking and what they think they are talking about.85
Möbius’ Erläuterungen zeigen, dass Jenkins’ Konvergenzbegriff über die ökonomische Dimension hinaus auch die ästhetischen Verschränkungen der Gegenstände sowie die Rezipienten- und Aneignungsebene umfasst. In der deutschen Medienpädagogik wird der Konvergenzbegriff vor allem aus Rezipientensicht verwendet und bezeichnet, wie in den fünf Medienkonvergenzstudien des Münchner Instituts für Medienpädagogik (JFF), das medienkonvergente Handeln von heutigen Jugendlichen.86 Auch Gudrun Marci-Boehncke und Matthias Rath schlagen für die Deutschdidaktik vor, mit Medienkonvergenz die „medienübergreifende Praxis“87 zu bezeichnen. Trotz gewisser Überschneidungen zwischen einem weiten Medienverbundbegriff, wie ihn Josting und Maiwald vorschlagen, und einem Medienkonvergenzbegriff, der generell weiter gefasst ist, zeichnen sich folgende Trennlinien zwischen den Begriffsverwendungen ab: Der Medienverbundbegriff fokussiert die Angebots- und Produktionsseite, wohingegen der Begriff der Medienkonvergenz auch die Rezeptionsseite, also Medienhandeln und Medienaneignung, umfasst.
83Josting
2014, S. 233. z. B. Marci-Boehncke/Rath 2011, Barsch 2011, Möbius 2014, Josting 2014. 85Jenkins 2006a, S. 2 f., zitiert nach und kommentiert von Möbius 2014, S. 228. 86Vgl. z. B. Wagner/Brüggen 2013. 87Marci-Boehncke/Rath 2011, S. 25. 84Vgl.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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Ästhetische Medienbezüge wiederum werden unter dem Fokus der Intermedialität betrachtet. In der Intermedialitätsforschung geht es darum, die „den Künsten je eigene[n] Ausdrucksformen, Denkstile und Gestaltungsweisen, die erst in der Differenz zu anderen Medien deutlich werden“88, zu analysieren. Im Zentrum von intermedialen Analysen steht deshalb in der Regel das Verhältnis von zwei distinkten Medien, deren Verbindungen und Differenzen in Form von TextBild-, Text-Ton- oder Text-Film-Bezügen untersucht werden. Im Kontext der Intermedialitätsforschung kann auch der Begriff der Adaption lokalisiert werden. Irina Rajewskis Terminologie zufolge, die im deutschsprachigen Forschungskontext weit verbreitet ist, ist der in Adaptionen vollzogene Medienwechsel eine „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produkt-Substrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium“89 und damit neben der Medienkombination und intermedialen Bezügen eine von drei Unterformen von Intermedialität. Analog zur Intertextualitätsforschung, deren blinden Fleck sie mit dem Einbezug von unterschiedlichen Medien beleuchten möchte, bleibt die Intermedialitätsforschung in der Regel auf Texte bzw. Medien, deren semiotische Bezüge und Differenzen sowie deren spezifische Darstellungsmittel beschränkt.90 Ein Großteil der Forschungsliteratur bezog sich überdies lange Zeit fast ausschließlich auf die filmische Adaption, für die verschiedene Typologien vorliegen, wie beispielsweise die bis heute gebräuchliche Unterscheidung von Helmut Kreuzer in „Aneignung von literarischem Rohstoff“, „Illustration“ und „interpretierende Transformation“.91 Die die Forschung viele Jahre lang dominierende Höherbewertung der Vorlage und das damit verbundene Analysekriterium der Werktreue scheint 2013, als Linda Hutcheon das Vorwort der zweiten Auflage ihres Standardwerkes zur Adaption schreibt, allmählich überwunden zu sein.92
88Bönnighausen
2010, S. 504. Bönnighausen verweist darauf, dass es neben diesem Ansatz der Intermedialitätsforschung, der den Blick auf Mediendifferenzen richtet, eine weitere Sichtweise gibt, die „Intermedialität als konzeptionelles Miteinander von Medien bzw. Künsten“ (ebd., S. 507) betrachtet. Frederking spricht hier von Symmedialität (vgl. Frederking 2010). 89Rajewski 2002, S. 157. 90Vgl. z. B. Bohnenkamp 2005, Staiger 2010, Bönnighausen 2010 oder Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 157–228. 91Kreuzer 1992, S. 263 f. Zu weiteren Typologien vgl. Staiger 2010, S. 17 f. oder Bohnenkamp 2005, S. 35–38. 92Vgl. Hutcheon 2013, S. XXVI. In der Didaktik dagegen, so Staigers Urteil, wurde der „Perspektivenwechsel – weg von einer vom Werturteil dominierten ‚Abwertungsdidaktik‘ hin zur Auseinandersetzung mit Medienwechseln – bislang nur ansatzweise vollzogen“. (Staiger 2013, S. 4)
48
3 Syntagmatische Serialität
Neuere Forschungen zur Adaption zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits einen verstärkt theoretischen Anspruch haben93 und andererseits ihr Untersuchungsinteresse über den textorientierten und medienspezifischen Vergleich von Vorlage und Adaption hinaus ausweiten. Bruhn/Gjelsvik/Hanssen nennen in diesem Zusammenhang vier neue analytische Cluster, die einen Paradigmenwechsel in den Forschungen zur Adaption markieren.94 Neben der Ausweitung auf andere mediale Formen der Adaption ist im vorliegenden Kontext vor allem die Ausweitung des theoretischen Rahmens von Interesse, der über literaturwissenschaftlich orientierte und medienspezifische Fragestellungen hinaus auch politische, ökonomische und rechtliche Aspekte sowie alle Beteiligten im Produktions- und Rezeptionsprozess mit einbezieht. Hutcheon geht noch einen Schritt weiter, indem sie im Vorwort zur zweiten Auflage ihres Werkes ausgehend von einer Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes den Bogen von den Adaption Studies hin zu den Untersuchungen zum transmedialen Erzählen schlägt. Sie verweist auf neue Formen der Adaption, in denen das Verhältnis zwischen Ursprung und Adaption aufgehoben ist und die Erzählung über verschiedene Medien hinweg verstreut ist.95 Durch diese Ausweitung wird der Begriff der Adaption allerdings zunehmend unscharf, weshalb er in der vorliegenden Untersuchung in einem engeren Sinn ausschließlich der Definition Rajewskis folgend für klar abgrenzbare Formen des Medienwechsels verwendet wird. Im Gegensatz zu dieser intermedialen, auf das Verhältnis und die Differenz von zwei Medien bezogenen Perspektive richtet das Konzept des „transmedia storytelling“ den Fokus auf die Frage, „welche Auswirkungen die Medienkonvergenz für das Erzählen von Geschichten hat“96, wie sie Karl Nikolaus Renner in einem Sammelband zum Erzählen im Zeitalter der Medienkonvergenz als Forschungsprogramm aufwirft. Im Blick sind hier ästhetische Phänomene der Fortsetzung von Geschichten über verschiedene Medien hinweg, die zu komplexen Erzählwelten expandieren: A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole. In the ideal form of transmedia story-telling, each medium does what it does best – so that a story
93In der älteren Forschung dominierten Fallstudien (vgl. Hutcheon 2013, S. XXVI und Bruhn/Gjelsvik/Hanssen 2013, S. 4). 94Vgl. Bruhn/Gjelsvik/Hanssen 2013, S. 4 f. 95Vgl. Hutcheon 2013, S. XXIII–XXV. 96Renner 2013, S. 2.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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might be introduced in a film, expanded through television, novels, and comics; its world might be explored through game play or experienced as an amusement park attraction.97
Im Idealfall, so ist Jenkins Ausführung zu verstehen, trägt jedes mediale Produkt zu einem erweiterten Verständnis der Geschichte bei, die sich als Weltenentwurf präsentiert, der in einem einzelnen Medium nicht vollständig entfaltet werden kann, sondern erst in der Kombination und Ergänzung verschiedener medialer Produkte entsteht. Für diese expandierenden Prozesse des Erzählens führt Jenkins am Beispiel des Matrix-Universums der Gebrüder Wachowski den Begriff des „world building“ ein: More and more, storytelling has become the art of world building, as artists create compelling environments that cannot be fully explored or exhausted within a single work or even a single medium. The world is bigger than the film, bigger even than the franchise – since fan speculations and elaborations also expand the world in a variety of directions.98
Jenkins Überlegungen zum transmedialen Erzählen, die er in seinem Buch zur Convergence Culture (2006) geäußert hat, sind der Ausgangspunkt einer Debatte über neue populärkulturelle Phänomene der Ausdehnung von Geschichten und Erzähluniversen, die bislang vorwiegend im angloamerikanischen Raum geführt wird. Seine Begriffe wurden in der Folge vielfach aufgegriffen, präzisiert und ausdifferenziert.99 Auch Jenkins selbst hat sich an diesem Prozess der konzeptuellen Weiterentwicklung in verschiedenen, auf seiner Homepage veröffentlichten Beiträgen beteiligt.100 In Bezug auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist vor allem Marie-Laure Ryans Konzept der „Storyworlds“ interessant, mit dem sie den bei Jenkins noch unscharfen Begriff der „Erzählwelt“ aufgreift und zu einer
97Jenkins
2006a, S. 97 f. S. 116. 99Vgl. z. B. die Arbeiten von Marie-Laure Ryan, Derek Johnson, Christy Dena oder Andreas Rauscher. 100Vgl. z. B. seine Beiträge Transmedia Storytelling 101 (Jenkins 2007), Revenge of the Origami Unicorn: Seven Principles of Transmedia Storytelling (Well, Two Actually, Five More on Friday) (Jenkins 2009) und Transmedia 202: Further Reflections (Jenkins 2011). 98Ebd.,
50
3 Syntagmatische Serialität
narratologischen medienübergreifenden Konzeption ausweitet.101 Als Storyworld bezeichnet Ryan „das, was die verschiedenen sprachlichen und nicht sprachlichen Texte beziehungsweise Dokumente eines transmedialen Storytelling-Systems zusammenhält“.102 Dieses „Was“ des Erzählens, die Histoire, wird nicht wie in der klassischen Erzähltheorie als sprachliches Konstrukt gedacht, sondern als imaginative Vergegenwärtigung der Welt, die in den verschiedenen Medien in einem jeweils unterschiedlichen Modus repräsentiert wird: rather it [the concept of storyworld; B.S.] resides in signaling a turn within narratology from the mostly formal approach of what Herman has called ‘classical narratology’ […] to a phenomenological approach focused on the act of imagination required of the reader, spectator, or player. The concept of storyworld represents a departure from the idea cultivated in literary theory from New Criticism to deconstruction that the experience of literature, whether narrative or not, is essentially an experience of language.103
Nur ein solch phänomenologischer Ansatz könne, so Ryan, den unterschiedlichen Repräsentationsformen und -modi in einem transmedialen Erzählsystem gerecht werden.104 Das phänomenologische Konstrukt der Storyworld stellt die Grundlage dafür dar, die Veränderung einer Geschichte durch verschiedene Medien hindurch zu verfolgen. Ryan nennt hier vier mögliche Formen der Fortsetzung und Ausdehnung von Geschichten: Neben der Adaption, auf die sie nur kurz eingeht, sind dies die Expansion, die Modifikation und die Transposition. Die Begrifflichkeiten der Expansion, Modifikation und Transposition entnimmt Ryan der Erzähltheorie Lubomir Dolezels, in der sie unterschiedliche Relationen bezeichnen, wie fiktionale Welten untereinander verknüpft sein können, und überträgt sie auf transmediales Erzählen.105 Diese drei Formen der Fortsetzung werden im Folgenden aufgegriffen und zu einer Typologie serieller Fortsetzungsformate weiterentwickelt.
101Ryans
Überlegungen verorten sich im Rahmen einer transmedialen Erzählforschung. 2013, S. 90. 103Ryan 2014, S. 43. 104Vgl. zu den Auswirkungen der Medienkonvergenz auf die drei zentralen Dimensionen des Erzählens (dem Was, dem Wie und dem Wer des Erzählens) und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit neuer narratologischer Konzepte auch Renner 2013. 105Vgl. Ryan 2013, S. 93. 102Ryan
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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3.3.2 Adaptionen vs. rhizomatische bzw. transmediale Serialität Vor dem Hintergrund der unterschiedlichsten Formen der Fortsetzung und Ausdehnung, die in den letzten Jahren im Bereich der Jugendbuchzyklen und -serien zu beobachten sind, stellt sich die Frage, wie diese neuen Entwicklungen systematisiert und charakterisiert werden können. Im Folgenden wird eine Systematik vorgeschlagen, die auf einer ersten Ebene zwischen Adaptionen und rhizomatischen bzw. transmedialen Formen der Serialität unterscheidet. Mit dieser Systematik wird an in der Forschung bereits etablierte Kategorien zur Systematisierung transmedialen Erzählens, wie sie in Abschnitt 3.3.1 dargestellt wurden, angeknüpft, diese werden aber auf der Grundlage der im Jugendbuchbereich beobachteten Phänomene modifiziert bzw. erweitert. Nur so ist es möglich, Vergleiche zu transmedialen Erzähluniversen im Erwachsenenbereich, deren bekannte Beispiele ihren Ausgang nicht im Medium des Buches genommen haben, herzustellen und gleichzeitig die Spezifik der Entwicklungen im Bereich der seriellen Jugendliteratur hervorzuheben. Die vorgenommene Unterscheidung zwischen Adaptionen und rhizomatischem bzw. transmedialem Erzählen geht auf Jenkins’ Überlegungen in dem bereits mehrfach erwähnten Werk Convergence Culture zurück.106 Jenkins macht im transmedialen Erzählen eine neue ästhetische Vision des Geschichtenerzählens aus und grenzt dieses vom „media franchising“-System als einer rein ökonomischen Logik ab. Was er als „media franchising“ oder als „licencing system“ beschreibt, deckt sich mit dem engen Medienverbundbegriff, wie er im vorigen Kapitel dargelegt wurde. Jenkins zufolge ist das alte Hollywood-System durch erzählerische Redundanz gekennzeichnet, das heißt, die einzelnen Medienverbundprodukte sind reine Umsetzungen der Ursprungsgeschichte in ein anderes Medium, wie die Verfilmung oder die Übertragung des Stoffes in ein Hörbuch oder einen Comic, die in der Regel über die Vergabe von Lizenzen zustande kommen.107 In diesem Fall sind die künstlerischen Freiheiten der Lizenznehmer stark eingeschränkt und es entsteht keine Erzählwelt, in der jedes einzelne Produkt entweder die Geschichte fortsetzt oder zum Gesamtverständnis einen Teil beiträgt:
106Auch
Wolf (2012, S. 245 f.) und Scolari (2009, S. 589) treffen diese Unterscheidung. auch Neuner/Sandhu 2005 zum Prinzip der globalen Mehrfachverwertungsstrategie bei Harry Potter. 107Vgl.
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3 Syntagmatische Serialität The current licensing system typically generates works that are redundant (allowing no new character background or plot development), watered down (asking the new media to slavishly duplicate experiences better achieved through the old), or riddled with sloppy contradictions (failing to respect the core consistency audiences expect within a franchise). These failures account for why sequels and franchises have a bad reputation. Franchise products are governed too much by economic logic and not enough by artistic vision.108
Problematisch an Jenkins’ Gegenüberstellung ist die Tatsache, dass die Unterscheidungskriterien auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und letztlich eine normative Bestimmung vornehmen: Abgewertet wird die ökonomischen Erwägungen folgende Adaption, wohingegen das transmediale Erzählen als neue künstlerische Vision des Geschichtenerzählens gekennzeichnet wird.109 Damit lässt Jenkins neuere Theorien zur Adaption bzw. zur Literaturverfilmung außer Acht, die betonen, dass auch Adaptionen keine reinen Wiederholungen darstellen und damit redundant sind. Vielmehr handelt es sich bei jeder Adaption um eine, wie Linda Hutcheon dies formuliert, „repetition without replication“110 bzw. „repetition with variation“111. Die Variationen lassen sich bei Adaptionen auf den Medienwechsel und die jeweils eigenen Darstellungstechniken des Mediums zurückführen und werden im Rahmen intermedialer Analysen fokussiert.112 Wird die durch den Medienwechsel zustande kommende Variation fokussiert, erscheint es gerechtfertigt, Adaptionen im Rahmen einer Theorie der Serialität zu berücksichtigen. Diese serielle Logik von Adaptionen benennt auch Hutcheon implizit, wenn sie von einer „repetition with variation“ spricht; ihre Bestimmung ähnelt hier Ecos Definition von Serialität (Abschnitt 2.1). Eine zu schematische Gegenüberstellung zwischen Fortsetzungen, die einer ökonomischen Logik gehorchen, und anderen, die einer ästhetisch-künstlerischen Logik folgen, greift aus einem weiteren Grund zu kurz: Auch wenn bei letzteren keine Mehrfachverwertungsstrategien wirksam werden, können diese nicht
108Jenkins
2006a, S. 107. vermischt hier narratologische, medienspezifische und rezeptionsästhetische Argumente. 110Hutcheon 2006, S. 7. 111Ebd., S. 4. 112Im Anschluss an Hutcheon führt Christy Dena in ihrer Untersuchung zum transmedialen Erzählen Beispiele von Adaptionen an, die einen transmedialen Geist aufwiesen, deswegen nicht automatisch redundant seien und somit eigenständige kulturelle Werke darstellten (vgl. Dena 2009, S. 158). 109Jenkins
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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unabhängig von ihren spezifischen Produktions- und Distributionsbedingungen analysiert werden, wie sie beispielsweise in Prozessen der Markenbildung113 oder in kollaborativen Produktionsprozessen114 gesehen werden. So betont Christy Dena in ihrer „practice-oriented theory“, dass bei transmedialen Erzählprojekten in der Regel der Produktionsprozess aller beteiligten Medien durch eine Person oder eine Gruppe von Personen koordiniert wird: Furthermore, in the context of transmedia practice, if the original creators are involved or creatively-organized in some way to ensure each composition is part of the meaning-making process, then adaption is simply another technique practitioners may utilise to communicate meaning.115
Zu dem spezifischen Wissen und den Fähigkeiten, die zur Erschaffung eines transmedialen Erzählprojektes notwendig sind, zählen in erster Linie elaborierte Marketingstrategien, „die uns dazu bringen [sollen], möglichst viele Produkte zu konsumieren“.116 In impliziter Bezugnahme auf Jenkins stellt Ryan im Blick auf transmediale Erzählsysteme fest: „Ihre Absicht ist nicht künstlerischer, sondern ökonomischer Natur.“ 117 Scolari, der das transmediale Erzählen als „one of the most widespread strategies of media corporations“118 bezeichnet, zeigt auf, wie ganze transmediale Erzähluniversen als Marke generiert werden.119 Durch die Zerstreuung der Geschichte auf unterschiedliche Medien würden verschiedene Nutzergruppen angesprochen, wodurch die Anzahl der Rezipienten und Konsumenten erhöht werden solle. Aus den Beispielen von Dena, Scolari oder Ryan wird deutlich, dass keinesfalls nur Adaptionen, wie sie Jenkins versteht, eine ökonomische Dimension innewohnt, sondern dass transmediales Erzählen eine zunehmend verbreitete Strategie global agierender Medienkonzerne darstellt. Die Unterscheidung zwischen der seriellen Logik von Adaptionen und Formen der rhizomatischen bzw. transmedialen Serialität wird in der hier vorgeschlagenen Typologie somit nicht über eine Dichotomie ökonomisch vs. künstlerisch-ästhetisch getroffen, sondern auf der narratologischen Ebene.
113Vgl.
Scolari 2009. Dena 2009. 115Ebd., S. 156. 116Ryan 2013, S. 114 f. 117Ebd., S. 114. 118Scolari 2009, S. 590. 119Vgl. ebd., S. 599 f. 114Vgl.
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3 Syntagmatische Serialität
Formen der rhizomatischen und transmedialen Serialität zeichnen sich dadurch aus, dass eine Geschichte in einem anderen Werk bzw. in einem anderen Medium fortgesetzt wird, dass also auf der Ebene der Histoire bzw. der Storyworld (Ryan) eine Erweiterung stattfindet.120 In Adaptionen dagegen bleiben die Grundelemente der Histoire, die Figuren, der Ort, die Handlung und die Zeit, dieselben.121 Die Unterscheidung zwischen Adaptionen und transmedialem Erzählen ist also nur möglich, wenn ein engerer Adaptionsbegriff angesetzt wird, der im Prinzip nur illustrierende und werktreue Adaptionen umfasst, wie sie beispielsweise mit den Verfilmungen oder Verhörbuchungen der seriellen Jugendromane vorliegen. Damit bleibt der Adaptionsbegriff im vorliegenden Kontext mit der ökonomischen Strategie der Mehrfachverwertung eines Stoffes eng verknüpft. Um eine Unterscheidung zwischen den großen kommerziellen Verfilmungen der Romane und apokryphen Fanvideos treffen zu können, werden letztere dem Bereich des transmedialen Erzählens zugeordnet (vgl. dazu das folgende Unterkapitel). Jenkins nimmt in dem späteren, auf seiner Homepage veröffentlichten Beitrag Transmedia 202: Further Reflections seine vielfach kritisierte Unterscheidung zwischen ästhetisch motivierten transmedialen Erzählprojekten und ökonomisch motivierten Franchise-Produkten wieder zurück. Veranlasst wird er dazu durch eine neue Bewertung von Adaptionen: I have sometimes talked about a distinction between adaptation and extension as fundamental to understanding these shifts. Basically, an adaptation takes the same story from one medium and retells it in another. An extension seeks to add something to the existing story as it moves from one medium to another. Christy Dena has challenged making such a cut-and-dried distinction. Adaptations may be highly literal or deeply transformative. Any adaptation represents an interpretation of the work in question and not simply a reproduction, so all adaptions to some degree add to the range of meanings attached to a story. And as Dena notes, the shifts between media mean that we have new experiences and learn new things. To translate Harry Potter from a book to a movie series means thinking through much more deeply what Hogwarts looks like and thus the art director/production designer
120In Adaptionen wird Ryan zufolge im Gegensatz zu transmedialen Erweiterungen nicht eine gemeinsame Storyworld entworfen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Ausdrucksfähigkeiten entstehen verschiedene Storyworlds (vgl. Ryan 2013, S. 95). 121Vgl. Mahne 2007, S. 19. Im Folgenden werden zur Bezeichnung des Erzählten (Was?) in unterschiedlichen Medien die klassische Terminologie „Histoire“ (Geschichte) und „Storyworld“ als phänomenologisches Konstrukt gleichberechtigt verwendet. Eine narratologische Klärung dieser Begrifflichkeiten wird in dieser Arbeit nicht intendiert.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
55
has significantly expanded and extended the story in the process. It might be better to think of adaptation and extension as part of a continuum in which both poles are only theoretical possibilities and most of the action takes place somewhere in the middle. 122
In dem erwähnten Beispiel einer Harry Potter-Verfilmung, das ihn zur Revision seiner vorigen Unterscheidung veranlasst, findet jedoch keine Erweiterung der Histoire oder Storyworld statt, vielmehr handelt es sich bei allen Verfilmungen um illustrierende Adaptionen. Die Konkretisierungen und Verbildlichungen, die die Filme vornehmen (müssen), sind der Medialität und Modalität des Filmes geschuldet und damit auf der Ebene des Discours angesiedelt. Wenn Jenkins also schreibt, dass „the art director/ production designer has significantly expanded and extended the story“, dann ist diese Feststellung aus narratologischer Sicht ungenau, da sie nicht zwischen Histoire und Discours unterscheidet. Aus erzähltheoretischer Sicht, die gleichzeitig die spezifischen Darstellungsmittel und -möglichkeiten des jeweiligen Mediums berücksichtigt, erscheint es somit durchaus sinnvoll, die Unterscheidung zwischen Adaptionen und transmedialen Erweiterungen beizubehalten. Diese wird mit der Erweiterung der Storyworld allerdings anhand eines anderen Kriteriums vorgenommen, als ursprünglich von Jenkins vorgeschlagen. Dass es sich hierbei um eine Bestimmung handelt, die wie jede Kategorisierung an Idealtypen ausgerichtet ist, stellt deren Funktion als heuristisches Instrument nicht in Frage. Als weiteres Merkmal von transmedialem Erzählen wird in verschiedenen Publikationen der Detailreichtum solcher Erzähluniversen hervorgehoben.123 Diese „enzyklopädische Kapazität“124 wird als Voraussetzung dafür gesehen, dass sich die Erzählwelt in verschiedene Richtungen hin ausdehnen kann.125
122Vgl.
Jenkins 2011 [09.08.2015]. Rauscher 2013, S. 74 im Abschluss an den Filmtheoretiker David Bordwell und Wolf 2012, S. 30 und S. 199. 124Ryan 2013, S. 113 im Anschluss an Jenkins 2006a, S.118. 125Weitere Untersuchungen müssten dieses Kriterium schärfen und literatur- bzw. medienhistorisch ausleuchten. So gibt es natürlich in der Geschichte der Literatur viele Beispiele von Geschichten und Erzähluniversen, die eine solche enzyklopädische Kapazität aufweisen und sich auch entsprechend ausgedehnt haben bzw. ausdehnen ließen. Als Beispiele seien hier lediglich die Romanwerke von Karl May und Jules Verne oder die Comédie humaine genannt, in der der französische Autor Honoré Balzac in 91 Romanen, Kurzgeschichten und Essays ein Sittengemälde der französischen Gesellschaft um 1800 zeichnet. 123Vgl.
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Wiederum eine andere Definition transmedialen Erzählens schlägt Christy Dena vor: Sie veranschlagt kollaborative Produktionsprozesse, in denen ein transmediales Erzählprojekt am Reißbrett entworfen wird, als zentrales Definitionsmerkmal: I argue that narrativity is not the primary mode for all and does not necessarily describe the interpretive processes occurring. As argued throughout this thesis, therefore, I propose that a practice-oriented theory captures the peculiar knowledge and skills needed to create a transmedia project. Projects could be enacted by different people and companies, but it is their knowledge, skills and processes that is the key distinguishing factor. 126
Damit schließt sie jedoch einige Beispiele transmedialen Erzählens aus, die sich erst im Lauf der Zeit zu solchen entwickelt haben, wie dies im Jugendbuchbereich in den letzten Jahren häufig der Fall war. Auch das von Renner als „[p]aradigmatisch für dieses transmedia storytelling“127 hervorgehobene Star Wars-Universum würde durch Denas Definition nicht berücksichtigt. Hier erfolgen und erfolgten die Fortsetzungen nur teilweise in Absprache mit George Lucas, wie Andreas Rauscher aufzeigt, und ein von Dena für das Phänomen als wesentlich erachtetes transmediales Konzept lag hier nie vor.128 Für die im Jugendbuchbereich beobachteten Phänomene des transmedialen Erzählens kann Denas Theorie zwar nicht das entscheidende Abgrenzungskriterium liefern, dennoch sind die von ihr erarbeiteten Charakteristika transmedialen Erzählens für eine weitere Systematisierung des Phänomens, wie sie im folgenden Kapitel vorgenommen wird, hilfreich.
3.3.3 Formen rhizomatischer Serialität Da es, wie in den einleitenden Beispielen schon deutlich wurde, eine Vielzahl unterschiedlicher Fortsetzungstypen in der seriellen Jugendliteratur gibt, stellt die grundlegende Unterscheidung zwischen Adaptionen und transmedialen
126Vgl.
Dena 2009, S. 323. 2013, S. 8. 128Vgl. Rauscher 2013, S. 77. Zum transmedialen Konzept bei Dena vgl. ebd., S. 123 f. 127Renner
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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Erweiterungen nur die erste Ebene einer Typologie der Serialität dar. Während unter dem Begriff des transmedialen Erzählens ausschließlich Fortsetzungen gefasst werden, die sich über verschiedene Medien hinweg entwickeln, muss in einer sich auf die aktuelle Jugendliteratur beziehenden Systematik zunächst ein Schritt zurückgegangen werden, da die Zyklen und Serien häufig erst in demselben Medium, also im Medium Buch, fortgesetzt werden. Das transmediale Erzählen stellt in der aktuellen Jugendliteratur also nur eine Ausprägung der rhizomatischen Serialität dar, die zudem im Vergleich zur monomedialen Ausdehnung noch weniger Gewicht hat. Rhizomatische Serialität wird hier als Oberbegriff eingeführt, um das unübersichtliche Geflecht von Fortsetzungs- und Ausdehnungsformen terminologisch zu fassen. Während die Normalform einer Fortsetzung linear an eine nicht zu Ende erzählte Geschichte anschließt, von demselben Autor und im selben Medium verfasst wird, finden sich in der aktuellen Jugendliteratur viele Fortsetzungen, die den linear-narrativen Zusammenhang einer Geschichte auflösen, die Autorität des Autors in Frage stellen oder auch vereinzelt über verschiedene Medien hinweg erzählen.129 Auf diese Weise entstehen komplexe unüberschaubare Erzähluniversen, deren einzelne Teile durch vielfältige Verknüpfungen und Verflechtungen gekennzeichnet sind. Die Metapher des Rhizoms, von Gilles Deleuze und Felix Guattari als ontologisch-strukturelle Kategorie für die Beschreibung von postmodernen Wissensbeständen und als erkenntnistheoretische Kategorie eingeführt, soll genau diese Verflechtungen zum Ausdruck bringen.130 An die Stelle einer binär-hierarchischen Logik des Baumes als Wissensorganisation, wie sie analog in linearen Fortsetzungen gesehen werden kann, tritt die Verknüpfung von heterogenen Vielheiten, deren Ursprung nicht mehr ausgemacht werden kann.131 Bezieht man die gesamten Fortsetzungspraktiken der Leserinnen und Leser in eine Typologie der Serialität mit ein, kann
129Diese Normalform wird sowohl systematisch als auch historisch gedacht. Ein frühes Beispiel in der Geschichte der Populärliteratur stellt z. B. der Feuilletonroman dar (vgl. Mielke 2006, S. 468 ff.). 130Vgl. Seidel 2014 [24.06.2015]. 131Zu den Merkmalen des Rhizoms vgl. Deleuze/Guattari 1977, S. 11–13.
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3 Syntagmatische Serialität
in den Fanfictions und in den verschiedenen Spielformen durchaus ein solch vielverzweigtes System ohne Hierarchieebenen gesehen werden, das die Autorität des ursprünglichen Werkes zunehmend in Frage stellt. In der Forschung zum transmedialen Erzählen wurden bislang vor allem Beispiele, die ihren Ausgang in den Medien Film (Star Wars)132 oder Fernsehserie (24)133 nehmen bzw. von vornherein als transmediale Projekte (Alpha 0.7., The Matrix)134 konzipiert wurden, untersucht.135 Dass auch im seriellen Jugendbuchbereich transmedial erzählt wird, wurde bislang kaum beachtet und soll im Anschluss an die Erläuterung der Typologie an Beispielen, die ihren Ausgangspunkt im Medium Buch nehmen, verdeutlicht werden. Diese mangelnde Beachtung ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Kinder- und Jugendliteratur generell in der Forschung (außerhalb der K JL-Forschung und der Deutschdidaktik) wenig Beachtung findet, zum anderen darauf, dass in den letzten Jahren die großen Jugendmedienverbünde mit den erfolgreichen Filmadaptionen von Harry Potter, Twilight und Die Tribute von Panem im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Diese scheinen das noch junge und randständige Phänomen des transmedialen Erzählens in der Jugendliteratur verdeckt zu haben. Die in Abbildung 3.1 dargestellte Systematik differenziert nun die verschiedenen Formen rhizomatischen und transmedialen Erzählens aus, die sich auf zwei weiteren Ebenen unterscheiden lassen. Auf einer ersten Ebene können die untersuchten Beispiele narratologisch nach der Art der Fortsetzung klassifiziert werden. Die vorliegende Typologie schließt dabei an die von Ryan genannten Formen der Ausdehnung (Expansion, Modifikation und Transposition) an und fügt diesen mit der Refiguration eine weitere Form hinzu.136 Auf einer zweiten Ebene unterscheiden sich die Fortsetzungstypen hinsichtlich ihres Mediums, ihrer Autorschaft und ihres Produktionszusammenhangs.
132Vgl.
Rauscher 2013. Scolari 2009. 134Vgl. Ryan 2013 und Jenkins 2006a, S. 95–134. 135Weitere Beispiele finden sich in Dena 2009, Renner 2013, O’Flynn 2013 und Ryan/Thon 2014. 136Zu Ryans Bestimmung der Expansion, Modifikation und Transposition vgl. Ryan 2013, S. 93. 133Vgl.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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Rhizomatische Serialität 1. Narratologische Unterscheidung nach Art der Fortsetzung a) Expansion: lineare Fortsetzungen: z. B. Sequels, Prequels Parallelgeschichten: z. B. Spin-Offs b) Modifikation c) Transposition d) Refiguration 2. Unterscheidung nach Medium, Autorschaft und Produktionszusammenhang a) Medium: Monomedialität vs. Transmedialität b) Autorschaft: kanonisch vs. apokryph eine Autorin/ein Autor vs. verschiedene Autorinnen und Autoren/Produzentinnen und Produzenten/Akteure c) Produktionszusammenhang: Schneeballeffekt vs. Strategie/Konzept/Planung
Abbildung 3.1 Rhizomatische Serialität – Übersicht
Durch die Expansion wird die ursprüngliche Geschichte auf der Ebene der Histoire erweitert, indem ein neuer Handlungsstrang und in der Regel auch neue Figuren hinzugefügt werden.137 Expansionen liegen in der aktuellen Jugendliteratur in zwei Hauptausprägungen vor: in linearen Fortsetzungen und in Parallelgeschichten.138 Damit sind unterschiedliche Strategien benannt, wie eine bestehende Storyworld ausgedehnt werden kann. Prequels und Sequels erzählen als lineare Fortsetzungen die Vor- oder die Nachgeschichte eines in der Regel abgeschlossenen Zyklus oder einer Serie. Sie können wiederum ein- oder
137Während
für Jenkins das Verfahren der Expansion grundlegend für transmediales Erzählen ist, ist diese für Ryan zwar die häufigste Form der Fortsetzung einer transmedialen Erzählwelt, aber nicht die einzige (vgl. ebd., S. 93 und S. 97). 138Auch Scolari 2009 (S. 598) nennt die „[c]reation of parrallel stories“ als eine von vier Strategien, mittels derer die Erzählwelt der TV-Serie 24 ausgedehnt wird.
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3 Syntagmatische Serialität
mehrbändig sein. So hat zum Beispiel Cassandra Clare mit Die Chroniken der Schattenjäger einen dreibändigen Prequel-Zyklus und mit Die dunklen Mächte einen ebenfalls dreibändigen Sequel-Zyklus zu den Chroniken der Unterwelt fertiggestellt und überdies einen weiteren Sequel-Zyklus begonnen. Rick Riordan setzte die Percy Jackson-Serie in der fünfbändigen Sequel-Serie Helden des Olymp fort. Die Bände 4 bis 7 von Artemis Fowl stellen jeweils Sequels zur ursprünglichen Trilogie von Eoin Colfer dar.139 Die 2006 zunächst abgeschlossene Bartimäus-Trilogie von Jonathan Stroud wurde 2010 um einen vierten Teil erweitert. Kurz bevor der letzte Film der Tribute von Panem-Trilogie in die Kinos kam, heizte der Chef der Filmproduktionsfirma Lionsgate Gerüchte über geplante Sequels oder Prequels des Zyklus an.140 Wie diese unvollständige Auflistung zeigt, liegt die lineare Fortsetzung, ähnlich wie im Filmsektor, in dem die Hollywood-Studios für die Jahre 2016–2020 mehr als hundert Sequels planen,141 voll im Trend. In Parallelgeschichten, als zweiter Ausprägung der Expansion, werden einzelne Elemente aus der Geschichte in ein Nebenprodukt ausgelagert.142 Gebräuchlich ist die Spin-Off-Strategie, aus Nebenfiguren oder -handlungen Hauptfiguren oder Haupthandlungen zu machen, denen dann auch neue Figuren und Handlungsstränge hinzugefügt werden können.143 So erzählt als eines der ersten Beispiele im seriellen Jugendbuchbereich Stephanie Meyers Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl: Das kurze zweite Leben der Bree Tanner die Geschichte einer Nebenfigur aus deren Perspektive: Bree Tanner ist eine eigens zu Kampfzwecken erschaffene Vampirin, deren kurzes Leben das Vampirdasein, das aus der Perspektive der Hauptfigur Bella überwiegend romantisierend dargestellt wird, als brutales und grausames erscheinen lässt. Mit Tugdual schreiben die Autorinnen von Oksa Pollock eine Trilogie über eine wichtige Nebenfigur des ursprünglichen Zyklus. Eine andere Spin-Off-Strategie, wie sie vor allem in E-Novellas umgesetzt wird, besteht darin, einzelne Handlungselemente aus der Perspektive anderer Figuren ausführlicher zu erzählen. E-Novellas sind kürzere Geschichten, die
139Vgl.
Prestel 2011, S. 40–42. http://www.filmstarts.de/nachrichten/18491405.html [11.07.2020]. 141Vgl. Zips 2015 [14.08.2015]. 142Vgl. Petersen/Wulf 2005. 143Im Star Wars-Universum kommt diese Strategie häufig zum Einsatz (vgl. Rauscher 2013, S. 77 ff.). 140Vgl.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
61
in der Regel lediglich als E-Book erscheinen. Häufig fungieren diese kurzen Ableger auch als Zwischengeschichten, das heißt, sie erscheinen (zumindest in der Originalsprache) zwischen zwei Bänden eines Zyklus oder einer Serie und verkürzen damit für Leser die Wartezeit auf die Fortsetzung. Solche E-Novellas existieren beispielsweise zu Brodi Ashtons Ewiglich, Lauren Olivers Delirium, Beth Revis’ Godspeed, Maggie Stiefvaters Nach dem Sommer, James Freys Endgame, Sara B. Elfgrens und Mats Strandbergs Engelsfors oder Veronika Rossis Aria und Perry.144 Die E-Novellas von Cassandra Clare über Magnus Bane, eine Nebenfigur der Chroniken der Unterwelt, wurden im Nachhinein auch in Printform veröffentlicht. Vorreiterin dieser die Perspektive wechselnden Spin-Off-Strategie war ebenso wie bei der Ausgliederung von Figuren Stephenie Meyer, die bereits 2005 mit Edward – Auf den ersten Blick den Versuch unternommen hat, den ersten Band des Twilight-Zyklus neu aus der Perspektive von Edward zu erzählen. Während bei allen Formen der Expansion die ursprüngliche Histoire nicht verändert wird und als solche als Ausgangspunkt der Erweiterung fungiert, kommt es bei der Modifikation zur Veränderung der Histoire. Ryan zufolge entwickeln die meisten literarischen Beispiele für Modifikationen „eine kontrafaktische Abfolge der Ereignisse und verändern das Schicksal der Figuren. Sie antworten auf die Frage: Was wäre, wenn?“145 Es findet also eine Veränderung der Histoire auf der Ebene der Figuren und/oder der Handlung statt. Als transmediales Beispiel für die Modifikation nennt Ryan ein Computerspiel im Star Wars-Universum, in dem die Machtverhältnisse, wie sie in den Filmen herrschen, auf den Kopf gestellt werden.146 Modifikationen finden sich aktuell im Jugendbuchbereich vor allem in Fanfictions, in denen häufig ungewöhnliche Paarungen, Konstellationen und alternative Handlungsverläufe ausgestaltet werden. Im Tribute von PanemUniversum entwickeln Fans beispielsweise reihenweise alternative Hungerspiele, in denen andere Figuren kämpfen und in denen zum Teil die ursprünglichen Regeln modifiziert werden (Abschnitt 7.3.2). Aber auch Rick Riordans Crossover-Geschichte Percy Jackson – Auf Monsterjagd mit den Geschwistern Kane, die auf Englisch zunächst in Form von drei E-Novellas veröffentlicht wurde und die Figuren aus Percy Jackson und Die Kane-Chroniken zusammenbringt, lässt sich als Modifikation klassifizieren.
144Nicht
alle dieser E-Novellas wurden auch ins Deutsche übersetzt. 2013, S. 93. 146Vgl. ebd., S. 97. 145Ryan
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3 Syntagmatische Serialität
Mit den Spin-Off-Strategien und den Crossover-Serien werden in der aktuellen Jugendliteratur serielle Erzähltechniken eingesetzt, die sich in anderen Medien bereits seit längerem etabliert haben. So sind Crossovers vor allem aus dem Bereich der Fernsehserie und des Comics bekannt und stellen ein beliebtes Genre von Fanfictions dar.147 In der Medienwissenschaft wird damit „die Verwischung von Grenzen zwischen zwei unterschiedlichen Texten sowie [deren] Zusammenfügung auf einer neuen Ebene“148 bezeichnet, etwa wenn Figuren oder Elemente aus einer Serie plötzlich in einer anderen Serie auftauchen. Literaturwissenschaftlich lässt sich das Crossover als besondere Form der intertextuellen Beziehung beschreiben: So ist Broich zufolge das Auftreten einer Figur des Prätextes im neuen Text eine besonders intensive Form der Markierung.149 Im Kontext der Serialität stellt das Crossover eine spezifische Form der Fortsetzung dar, in der durch die Überkreuzung von zwei bestehenden seriellen Texten eine spezifische Form der intertextuellen Beziehung hergestellt wird und eine neue Storyworld entsteht.150 Die Fortsetzungslogik folgt hier der Frage: „Was wäre, wenn sich die Figuren aus der Serie X und aus der Serie Y begegnen würden?“ Beide Strategien werden von Fernsehsendern bzw. Produktionsfirmen mit dem Ziel eingesetzt, Marktanteile zu sichern bzw. auszubauen, indem erfolgreiche Unternehmungen fortgeführt (im Fall des Spinning-Offs) 151 bzw. verschiedene Produkte über ein crossmediales Marketing (im Fall des Crossovers) verbunden werden.152 Seit kurzem werden beide Begriffe, die aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Kontext in den Bereich der Medienproduktion entlehnt wurden, einem narratologischen Klärungsprozess unterzogen.153 In der Transposition, dem dritten Fortsetzungstyp, wird die Handlung einer Geschichte in einem anderen zeitlichen oder räumlichen Setting lokalisiert, das heißt, die Grundelemente „Raum“ und „Zeit“ einer Geschichte werden variiert.
147Vgl.
Feyersinger 2011, S. 128. 2004, S. 20. Feyersinger weist auf die Nähe zwischen Crossover und Metalepse hin (vgl. Feyersinger 2011). 149Broich 1985, S. 40. 150Nevins 2011 führt acht unterschiedliche Ausprägungen des Crossovers an. Während das Crossover also eine neue Storyworld schafft, wird diese beim Spin-Off lediglich erweitert. 151Vgl. die von Holbrook zusammengestellte Liste mit Beispielen von TV-Spin-Offs und TV-Crossovers: http://www.poobala.com/crossoverlist.html [11.07.2020]. 152Vgl. Petersen/Wulff 2005 und Feyersinger 2011, S. 128. 153Vgl. Feyersinger 2011 und die weiterführenden Literaturhinweise dort. 148Petersen
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
63
Ryan hält solche Veränderungen „mit dem Geist der heutigen transmedialen Lizenzprodukte [für] nicht kompatibel“.154 Sie begründet dies am Beispiel von Star Wars: Falls die Handlung von Star Wars in eine andere Umwelt versetzt würde, zum Beispiel in eine mittelalterliche Fantasiewelt, würde sie niemand als eine Version von Star Wars erkennen. Denn diese Handlung ist eine der zahllosen Geschichten, die vom Kampf zwischen Gut und Böse erzählen. Was die Storyworld von Star Wars unverkennbar macht, ist nicht der Plot, sondern das Setting, und wenn das Setting geändert wird, verliert die gesamte Storyworld ihre Identität.155
Zahlreiche Beispiele für Transpositionen finden sich allerdings im Bereich der Fanpraktiken und der Fanfictions (Abschnitt 3.3.5). Im Online-Forenspiel „Die Tribute im Brennpunkt“ beispielsweise wurde das Setting in eine große Wohngemeinschaft verlegt, in der sich die einzelnen Tribute über verschiedenste Themen unterhalten (Abschnitt 8.3.3). Da hier allerdings auch der Handlungsverlauf stark verändert wird, liegt neben der Transposition auch ein modifizierender Umgang mit dem Ausgangstext vor, so dass hier von einer Mischform gesprochen werden kann. Mit der Refiguration liegt ein vierter Fortsetzungstyp vor, wie er vor allem von Wikis repräsentiert wird. Wie bei Expansionen werden Raum, Zeit, Handlung und Figuren als Grundelemente einer Geschichte nicht verändert. Vielmehr erhält die Geschichte durch die Art der Darstellung eine neue Gestalt. Die Logik der Refiguration, wie sie in Wikis erfolgt, wird von Paul Booth als eine archivalische beschrieben, die die ursprünglich chronologische Verknüpfung einer Geschichte aufhebt: This narrative database is a reflection of a changed media environment, which reconceptualizes narrative from a ‘chrono-logic’ mode to an archival one. Instead of representing ‘plot’ through causality, fans represent it spatially using the inherent hypertextuality of the web to create connections between narrative elements.156
Entscheidend ist, dass die Refiguration einen narrativen Akt darstellt, als dessen Ergebnisse neue Texte entstehen, die der Logik der vorliegenden Systematik
154Ryan
2013, S. 98.
155Ebd. 156Booth
2010, S. 81 f.
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entsprechend als Fortsetzungen qualifiziert werden können.157 In einem Wikieintrag zu einer Figur eines Erzähluniversums werden beispielsweise Informationen aus verschiedenen Texten des Kanons zu einem neuen Text zusammengetragen. Dieser neue Text erzählt die Geschichte der Figur aus einer auktorialen Perspektive, wie sie in dieser Form ursprünglich nicht existiert. Mit dem Neologismus „narractivity“ verweist Booth auf diese kollektive narrative Hervorbringung von Einträgen, die außerdem durch die Struktur des Wikis sowie durch zahlreiche hypertextuelle Verlinkungen einer neuen Ordnung, einer Logik des Archivs, unterzogen werden.158 Auch in kanonischen Handbüchern zu Zyklen erfolgen Refigurationen des Ausgangstextes, indem die Erzählwelten durch neue Texte, Stammbäume, Landkarten, Steckbriefe oder Zeittafeln systematisch und enzyklopädisch aufbereitet werden. So wird beispielsweise im B is(s)Handbuch „[d]ie Welt von Bella und Edward“ – so der Untertitel – in neuer Gestalt präsentiert und zugleich im Sinne einer Expansion durch Zusatzinformationen stofflich ausgedehnt.159 Da serielles Erzählen in der vorliegenden Arbeit nicht ausschließlich narrativtextuell, sondern in einem Bedingungsfeld aus verschiedenen Dimensionen konzeptualisiert wird, zu denen neben den Rezeptionspraktiken auch Produktionsbedingungen zählen, werden zur Bestimmung der verschiedenen Formen der rhizomatischen Serialität weitere Kriterien herangezogen: Medium, Autorschaft und Produktionszusammenhang.160 Die verschiedenen Formen der Fortsetzung lassen sich auf dieser zweiten Ebene zunächst danach unterscheiden, ob sie in demselben oder in einem anderen Medium erfolgen. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist nicht jede Form der rhizomatischen Serialität zugleich transmedial. Im Jugendbuchbereich dehnen sich Erzähluniversen in der Regel zunächst im Medium des Buches aus, transmediale Fortsetzungen sind (noch) selten.
157Anders Ryan, die Wikis nicht dem Story-System zuordnet, sondern als Kommentare einordnet (vgl. Ryan 2013, S. 97, Anm. 23). 158Vgl. ebd., S. 104. Zur Narrativität von Wikis und zur Verwischung der Grenzen zwischen dem Ausgangstext und einer von Fans kollektiv erstellten Datenbank vgl. auch Bassett 2007 und Hills 2015. 159Vgl. Meyer 2011. 160In dieser Ausweitung auf weitere Kriterien der Bestimmung von Serialität liegt auch der Unterschied zu Ryans transfiktionaler Theorie, die sich als narratologische versteht (vgl. Ryan 2013, S. 92).
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
65
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Fortsetzungen stellt die Autorschaft der Texte dar, die sowohl kanonisch als auch, wie im Fall der Fanproduktionen, apokryph sein sowie durch eine Autorin bzw. einen Autor oder durch mehrere Autorinnen oder Autoren vertreten sein kann. In Bezug auf den Produktionszusammenhang ist es sinnvoll, eine weitere Unterscheidung zwischen im Schneeballeffekt entstehenden rhizomatischen Universen, die sich nach und nach ausdehnen, und solchen Projekten, die von vornherein geplant oder denen ein strategisches Konzept zugrunde liegt, zu treffen.161 Transmediale Projekte, in denen über verschiedene Medien hinweg eine Geschichte erzählt wird und die im Vorfeld in dieser Form konzipiert werden, sind im Kinder- und Jugendbuchbereich selten; im deutschsprachigen Raum ist meinem Kenntnisstand zufolge bislang kein solches Projekt entstanden. Mit Endgame (James Frey) machte der Oetinger-Verlag jedoch in den Jahren 2014 bis 2016 auch dem deutschen Lesepublikum ein transmediales Erzähluniversum zugänglich. Es wurden zwar nicht alle Bestandteile ins Deutsche übersetzt, diese wurden aber über eine vom Verlag betriebene Homepage beworben und über Links verfügbar gemacht. Neben den Büchern wurden neben einem Alternate Reality Game, verschiedenen Krypto-Rätseln, Internetseiten, E-Novellas auch Kommunikationstechnologien wie E-Mail und soziale Netzwerke (Twitter, google+ und YouTube) zum Erzählen der Geschichte genutzt.162 Das Alternate Reality Game Ancient Truth, das als Prequel zur Romanhandlung konzipiert war, konnte zwischen September 2014 und Juli 2015 gespielt werden und überbrückte damit die Pause zwischen den Erscheinungsterminen des ersten und zweiten Bandes der Romantrilogie.163 Dass ursprünglich im Schneeballprinzip entstandene Erzähluniversen mit steigendem Erfolg auch zunehmend strategisch expandieren und neben
161Vgl. ebd., S. 89 und Dena 2009, S. 123. Im Schneeballprinzip entstandene transmediale Universen sind im Erwachsenenbereich z. B. das Star Wars- und das Herr Der Ringe-Universum. Geplante transmediale Projekte sind dagegen The Matrix und Alpha 0.7 – Der Feind In Dir, das Ende 2010 im Fernseh-, Hörfunk- und Internetangebot des Südwestrundfunks ausgestrahlt wurde. 162Begleitet wurde das Ganze im Rahmen des Krypto-Rätsels zu Band 1 außerdem durch eine reale Jagd nach einem Goldschatz im Wert von 500.000$, der im Caesars Palace in Las Vegas ausgestellt wurde. 163Bei Alternate Reality Games handelt es sich um ein relativ junges, erst rund 20 Jahre altes multimediales Spiel- und Erzählgenre, bei dem die Spielerinnen und Spieler eine Rätselgeschichte lösen müssen. Zu ARGs vgl. Labitzke 2013 und M eifert-Menhard 2012.
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3 Syntagmatische Serialität
Mehrfachverwertungsstrategien neuerdings auch transmediale Strategien einsetzen, wird im Folgenden am Beispiel des Harry Potter- und des TwilightUniversums deutlich.
3.3.4 Die transmediale Expansion der Fortsetzungszyklen am Beispiel von Harry Potter und Twilight Bekanntestes Beispiel für ein transmediales Erzähluniversum im Jugendbuchbereich und wieder einmal Vorreiterin ist J. K. Rowling, die gemeinsam mit dem Medienkonzern Warner Brothers den Harry Potter-Medienverbund zu einem transmedialen Erzähluniversum expandiert. Mit dem zweiten von fünf angekündigten Phantastische Tierwesen-Filmen wurde 2018 die neue Marke „The Wizarding World“ und ein entsprechendes Logo lanciert. Hinter der Marke verbirgt sich eine gezielte transmediale Marketing- und Unternehmensstrategie, die alle bisherigen Medienverbundprodukte sowie neue Filme, Theaterstücke, Ausstellungen, Bücher, Themenparks, Computerspiele (Portkey Games) sowie Internet- und Social Media-Seiten umfasst.164 Während der Konzern Warner Brothers nach der Abtretung der globalen Film- und Vermarktungsrechte im Jahr 1998 zunächst eine klassische Mehrfachverwertungsstrategie verfolgte165, scheint diese nun durch eine transmediale Strategie erweitert worden zu sein, deren narratologische Implikation und Bedingung darin liegt, dass die Autorin das Erzähluniversum ausdehnt und neue Geschichten aus der Zauberwelt Harry Potters erzählt. Mit den geplanten fünf Filmen über Phantastische Tierwesen, von denen die ersten beiden 2016 und 2018 in die Kinos kamen, und dem zweiteiligen Theaterstück Harry Potter und das verwunschene Kind liegen die ersten beiden substantiellen Erweiterungen des Harry Potter-Stoffes vor. Im Gegensatz zu anderen umfangreichen Erzähluniversen im Jugendbuchbereich, zum Beispiel demjenigen von Cassandra Clare oder Rick Riordan, erfolgt die Ausdehnung der Storyworld nicht im Medium Buch, sondern transmedial.
164Vgl. https://www.wizardingworld.com [27.01.2019]. Erläutert wird das Logo auf der Internetseite Pottermore. Vgl. https://www.pottermore.com/news/wizarding-world-brandlogo-launch [27.01.2019]. 165Vgl. Neuner/Sandhu 2005.
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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Die Phantastische Tierwesen-Filme sind narratologisch als Spin-Off zu klassifizieren: Der Protagonist des ersten Filmes Newt Scamander ist der fiktive Autor eines Schulbuchs der Zauberer in Hogwarts. Zugleich benutzt Rowling den Namen als Pseudonym, unter dem sie 2001 das Begleitbuch Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind veröffentlichte, das denselben Titel trägt wie der erste Film und eine enzyklopädische Zusammenstellung verschiedener magischer Geschöpfe darstellt. Die Figur des Magizoologen Newt Scamander und seine magischen Geschöpfe werden in die Filme ausgelagert und zum Ausgangspunkt einer Nebengeschichte, die zeitlich vor der Harry Potter-Handlung in derselben Erzählwelt spielt, aber kaum Anknüpfungspunkte zur Romanhandlung beinhaltet.166 Stärker ist die erzählerische Anbindung in dem zweiteiligen Theaterstück Harry Potter und das verwunschene Kind, dessen Sequel-Handlung 19 Jahre nach dem letzten Band des Romanzyklus spielt und eine hohe Figurenkonstanz aufweist. Stephenie Meyer, die Autorin des Twilight-Zyklus, hat bereits im Medium des Buches mit Spin-Off-Strategien experimentiert, bevor sie diese dann auch in einem filmischen Projekt umsetzte. Neben Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl (2010) ist das schon 2005 geschriebene Edward – Auf den ersten Blick zu nennen, das den Versuch darstellt, den ersten Band ihres Vampir-Zyklus neu aus der Perspektive von Edward zu erzählen. Meyer hat diesen Text nie fertiggestellt, nachdem die ersten Seiten des Manuskriptes illegal über das Internet verbreitet wurden, hat den unvollständigen Text ihren Leserinnen und Lesern jedoch auf ihrer Internetseite zugänglich gemacht.167 Der von Meyer in diesem Text praktizierte Perspektivwechsel ist mittlerweile zu einer gängigen Spin-OffStrategie geworden, wie sie vor allem in kurzen E-Novellas umgesetzt wird. Das 2015 umgesetzte Filmprojekt The Storytellers – New Voices of the Twilight Saga verspricht im Titel, dass neue Geschichten aus dem T wilight-Universum erzählt werden. Stephenie Meyer hat 2014 zusammen mit der Filmproduktionsfirma Lionsgate, einer Crowdsourcing-Plattform namens Tongal, Facebook und Women in Film, einem Netzwerk für Frauen in der Film- und Fernsehindustrie, einen Wettbewerb für Nachwuchsregisseurinnen ausgerufen: Junge Regisseurinnen wurden dazu aufgerufen, das Drehbuch zu einem Kurzfilm zu entwickeln, der von einer Figur aus dem Twilight-Universum handelt.168 Aus
166Im
zweiten Film Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen taucht die aus den Harry Potter-Romanen bekannte Figur des Albus Dumbledore wieder auf, ansonsten gibt es bislang keine Figurenkonstanz. 167Vgl. https://stepheniemeyer.com/project/midnight-sun/ [28.01.2019]. 168Vgl. https://stepheniemeyer.com/2014/10/102/ [28.01.2019].
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den insgesamt 1200 Einsendungen wurden sechs Finalistinnen ausgewählt, die ihren Film mit finanzieller Unterstützung von Lionsgate drehen durften und dabei von bekannten Schauspielerinnen und Regisseurinnen wie Kate Winslet, Kristen Stewart, die die weibliche Hauptfigur Bella in den Twilight-Filmen verkörperte, oder Catherine Hardwicke, die für den ersten Twilight-Film verantwortlich zeichnete, unterstützt wurden. Im August 2015 wurde mit The Mary Alice Brandon File von Kailey und Samantha Spear schließlich der Film als Sieger prämiert, der die meisten Fanvoten erhalten hatte. Die sechs Finalistinnen-Filme sind auf Facebook und auf Stephenie Meyers Homepage zu sehen; der Siegerfilm wurde im September 2015 bereits über sechs Millionen Mal aufgerufen.169 Es liegt zunächst nahe, die zwischen neun und 13 Minuten langen Kurzfilme in narratologischer Hinsicht als Spin-Offs zu kategorisieren: In den Filmen werden die Vorgeschichten von verschiedenen Vampiren gezeigt, die im Sinne einer Ausgliederung deutlich über die Storyworld der Twilight-Romane und -Verfilmungen hinausgehen. Wie man zunächst vermuten könnte, handelt es sich jedoch nicht um apokryphe Werke; vielmehr basieren alle Filme auf dem von Stephenie Meyer verfassten Twilight-Handbuch Die Welt von Bella und Edward, in dem sie diese Vorgeschichten der einzelnen Vampire mehr oder weniger ausführlich erzählt.170 Genau genommen stellen die meisten Kurzfilme also filmische Adaptionen von kanonischen Hintergrundgeschichten dar. Es fällt auf, dass die Vorgaben im Handbuch, auf die sich die sechs Drehbücher stützen, unterschiedlich detailliert sind. So liegt beispielsweise dem Siegerfilm eine zweiseitige Beschreibung von Alices Vorgeschichte zugrunde, die wenig Spielraum für Expansionen lässt. Der Kurzfilm Turncoats dagegen, der von einem Vampir namens Garrett handelt, der in den Romanen und im Handbuch nur eine marginale Rolle spielt, kann als erzählerische Expansion bewertet werden, da er einen neuen Handlungsstrang und neue Figuren hinzufügt. So findet in dem Kurzfilm eine Begegnung zwischen Carlisle Cullen und Garrett während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges statt, die im Handbuch nicht beschrieben
169Vgl.
https://www.facebook.com/twilight/videos [30.09.2015]. Bedingung scheint in der Wettbewerbsausschreibung, die im September 2015 jedoch nicht mehr zugänglich war, festgeschrieben gewesen zu sein. 170Diese
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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wird. Interessant, was das Leserverhalten anbelangt, ist die Tatsache, dass derjenige Kurzfilm die meisten Voten erhalten hat, der sich am engsten an die Vorlage anlehnt und mit der Besetzung der Rolle von Alice eine Schauspielerin wählt, die der Alice in den Twilight-Filmen täuschend ähnlich sieht. Meyers Aussage, dass es sich um ein Wagnis gehandelt habe, die eigenen Figuren aus der Hand zu geben, sie aber von den „kreativen Visionen“ der Umsetzungen begeistert sei, muss vor diesem Hintergrund kritisch betrachtet werden. „Kreativ“ im Sinne einer freien Ausgestaltung bzw. einer Expansion ist der Siegerfilm nicht:171 Though it’s always daunting to put your characters in the hands of someone new (and over the years I’ve had a lot of experience), seeing The Spear Sister’s beautiful and creative vision come to life was a wonderful experience! To the filmmakers of the six other incredible films: I am so inspired by your creative visions. Choosing a winner was incredibly difficult for our judging panel as I’m sure it was for the fans! We loved something different about each of the films. Congrats and thank you to all those who took part in this contest—from the writers, to the crew members to the producers and directors. You made us all proud!172
Innovativ ist Meyers Projekt dagegen als Marketinginstrument: Durch die Wahl des Kooperationspartners Facebook und der Reichweite dieses sozialen Netzwerkes wird dem Projekt und damit dem gesamten Franchise eine neue Aufmerksamkeit zuteil, wie sie über traditionelle Medien nicht erzielt werden könnte. Darüber hinaus wird eine neue Zielgruppe angesprochen, die die Romane und Filme noch nicht kennt, wie ein Lionsgate-Vorstand in einem Interview äußert: „We think Facebook is a great way for us to introduce the world of ‘Twilight’ to a whole new audience while re-energizing existing fans.“173
171Auch die Filme Sunrise und Consumed sind illustrierende Adaptionen, die sich sehr eng an die Vorgaben halten. Während sich The Groundskeeper durch eine unkonventionelle Filmsprache (v. a. auf den Ebenen der Schnitttechnik und Kameraperspektive) von den anderen Filmen absetzt, können Masque und We’ve Met Before als partielle Expansionen gelten. 172 https://stepheniemeyer.com/2015/08/the-twilight-storytellers-winner-is-here/ [28.01.2019]. 173Barnes 2014b [30.09.2015].
70
3 Syntagmatische Serialität
3.3.5 Zwischenfazit und Ausblick: Die Rolle der Leserinnen und Leser bei der Expansion serieller Erzählwelten Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die beobachtete Ausdehnung der seriellen Erzähluniversen im kanonischen Bereich auf zwei unterschiedlichen Ebenen stattfindet: über Adaptionen, die durch Mehrfachverwertungsstrategien zustande kommen, sowie über rhizomatische und transmediale Formen der Serialität. Auf der narratologischen Ebene wurde die Differenz zwischen beiden seriellen Strategien darin verortet, wie jeweils Serialität erzeugt wird. Während der serielle Charakter von Adaptionen auf der Ebene des Discours, also der Erzählverfahren und -techniken, liegt, wird bei rhizomatischen und transmedialen Formen der Serialität die Ebene der Histoire oder Storyworld erweitert oder verändert. Das transmediale Erzählen stellt somit im Vergleich zur Adaptionspraxis in zweifacher Hinsicht eine Neuerung dar: auf narratologischer Ebene, insofern als Geschichten über Mediengrenzen hinweg weitererzählt werden, und auf ökonomischer Ebene als neue Form der Marketing- und Unternehmensstrategie. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich die meisten seriellen Jugendromanuniversen zunächst im Medium des Buches über Sequels, Prequels, Spin-Offs oder Begleit- und Handbücher ausbreiten, wurde der Begriff der rhizomatischen Serialität eingeführt. Transmediales Erzählen, sprich das Erzählen über Mediengrenzen hinweg, stellt somit der vorliegenden Terminologie gemäß nur eine Ausprägung der rhizomatischen Serialität dar. Stärker als der Begriff des transmedialen Erzählens bringt letzterer auch die zunehmende Komplexität und Unüberschaubarkeit der Erzähluniversen zum Ausdruck, die nicht zuletzt auch durch Aktivitäten und Praktiken von Leserinnen und Lesern generiert werden. Letztere beteiligen sich an der Ausdehnung der seriellen Erzählwelten, indem sie die kanonischen Texte in eigenen Produkten und Praktiken fortsetzen, ergänzen und umändern. Gegenstandsseitig lassen sich die produktiven Praktiken von Leserinnen und Lesern in drei große Bereiche einteilen und in der Typologie rhizomatischer Serialität verorten (Abschnitte 7.3.1 und 7.3.2): Neben dem Schreiben eigener Fantexte (Fanfictions) werden Bilder, Videos und Tondokumente (Fanart) sowie eigene Spiele, wie Role Play Games oder Alternate Reality Games, erstellt. Im Bereich der Jugendliteratur verzeichnete Suzanne Collins’ dreiteiliger Zyklus Die Tribute von Panem neben Harry Potter und Twilight die höchste Fanresonanz. Das im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit im Fokus stehende Tribute von Panem-Forum, das vom Oetinger-Verlag zwischen 2009 und 2014
3.3 Die Expansion der Fortsetzungszyklen – eine Typologie …
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betrieben wurde, war im deutschsprachigen Raum ein stark frequentierter Ort, an dem Fanprodukte und -diskurse über die Romane veröffentlicht und ausgetauscht wurden. Die literalen Praktiken der Leserinnen und Leser sind der bisherigen Argumentation zufolge also einerseits integraler Bestandteil der rhizomatischen Serialität und tragen zur Ausdehnung der seriellen Erzählwelten bei. Ihre Funktion im Rahmen des Literalitätserwerbs, die aus didaktischer Perspektive interessiert, kann andererseits nur sozialwissenschaftlich gefasst werden, weshalb im zweiten Teil der Arbeit die gegenstandsseitige, literaturwissenschaftlich orientierte Forschungsperspektive erweitert wird, indem einzelne literale Praktiken empirisch rekonstruiert werden.
4
Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Die Beobachtung, dass im Feld der hier besprochenen Jugendliteratur ständig neue Zyklen erscheinen, die sich von vorhergehenden nur in bestimmten Aspekten unterscheiden, war Anlass, über die Beziehungen zwischen verschiedenen Einzelzyklen nachzudenken. Auch von Leserinnen und Lesern in Foren werden die verschiedenen Zyklen des Feldes in Zusammenhang gebracht, indem sie miteinander verglichen oder indem Beliebtheitsskalen aufgestellt werden. Zur Systematisierung dieser vertikalen seriellen Zusammenhänge wird im Folgenden der Begriff der Genre-Schemata verwendet. Hierunter werden konventionalisierte Genremuster oder Genrebausteine verstanden, die narratologisch über bestimmte Aspekte des Erzählten (wie Raum, Zeit, Handlung, Figuren) und spezifische Erzählverfahren bestimmt werden, die jedoch im Gegensatz zu dem allgemeinen und universellen Klassifikationsbegriff der Gattung literaturhistorisch begrenzte und damit auch kulturspezifische Phänomene darstellen. Der gewählte Zugang ist deskriptiv und vermittelt zwischen systematischen und historischen Gattungsdefinitionen.1 Genre-Schemata konstituieren einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Einzelwerken im Sinne einer paradigmatischen Serialität, indem die Muster sowie die Zusammensetzung der Muster wiederholt und variiert werden. Ihre Funktion liegt darin, dass sie Ordnungsbegriffe in der Kommunikation zwischen Text, Leser, Autor und Buchmarkt darstellen und damit sowohl auf Seiten der Autoren als auch auf Seiten der Leser ein hohes Maß an metareflexiven Genrekenntnissen voraussetzen.2
1Vgl.
Lamping 2009, S. XIX–XXIII.
2Vgl. Abschnitt 4.2.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Schlachter, Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5_4
73
74
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Mit dem Begriff „Genre-Schema“ werden die Schema-Theorie der Populärliteraturforschung sowie der Genre-Begriff aufgegriffen und zu einer Theorie der paradigmatischen Serialität zusammengeführt. Ziel ist eine Modellierung der vertikalen seriellen Zusammenhänge, die mit dem Begriff des „Genre-Mix“, wie er in vielen Besprechungen von Einzeltexten verwendet wird, nur unzulänglich erfasst werden.
4.1 Begriffsklärungen: Schema, Genre, Serialität und Genre-Schema Der literaturwissenschaftlich geprägte Schema-Begriff kann auf zwei unterschiedliche Forschungstraditionen zurückgeführt werden, die ihn weitgehend unabhängig voneinander verwenden: auf die deutsche und auf die englischsprachige Trivial- bzw. Populärliteraturforschung. In die deutsche Trivialliteraturforschung wird der Begriff durch Hans Dieter Zimmermann eingeführt, der den negativ besetzten Begriff der Trivialliteratur innerhalb eines Dreistufenmodells, das zwischen hoher Literatur, Unterhaltungsliteratur und Trivialliteratur unterscheidet, durch den wertneutraleren Begriff der Schema-Literatur ersetzt.3 Schema-Literatur bezeichnet ihm zufolge die durch die ästhetische Norm des Schematismus gesteuerte Literatur, die „vom neuen Werk nur eine geringfügige Variation verlangt“.4 Der Schema-Literatur entgegengesetzt ist die durch die Norm der Innovation bestimmte Literatenliteratur oder hohe Literatur, „die vom neuen Werk eine weitgehende Variation verlangt“.5 Zimmermanns strukturalistischer Ansatz vermag der Trivialliteraturforschung letztlich keine neuen Impulse zu geben, da sich die von ihm veranschlagte Dichotomie von Schematismus und Innovation, die verschiedene literarische Systeme begründe, als zu starr erweist. Seine Theorie kommt dort an Grenzen, wo die Entstehung neuer Schemata oder die Veränderung von Schemata erklärt werden müssten, weshalb Zimmermann konzedieren muss, dass es Phasen in der Geschichte eines Schemas gibt, in denen der Schematismus überwunden werden kann.6 Zu einer Weiterentwicklung von Zimmermanns Schema-Theorie kam es in der
3Zum
Dreistufenmodell vgl. Foltin 1965. 1982, S. 36.
4Zimmermann 5Ebd. 6Vgl.
ebd., S. 37.
4.1 Begriffsklärungen: Schema, Genre, Serialität und Genre-Schema
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deutschen Trivialliteraturforschung, die ihren Höhepunkt in den 80er-Jahren bereits überschritten hatte, zunächst nicht. Überlebt hat allerdings der Begriff der Schema-Literatur, dem häufig aufgrund seiner Wertneutralität vor anderen Begrifflichkeiten wie Trivial- oder Unterhaltungsliteratur der Vorzug gegeben wird.7 Einen dynamischeren Schema-Begriff vertritt der amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler John G. Cawelti: „A formula is a combination or synthesis of a number of specific cultural conventions with a more universal story form or archetype.“8 Dieser Definition zufolge zeichnen sich literarische Schemata durch ihren Doppelcharakter aus, indem sie kulturspezifische schematisierte Handlungsmuster, Charaktere, Themen und Settings zum Ausdruck bringen, die jedoch durch eine universelle Archetypik überformt und damit standardisiert werden.9 Auch wenn Cawelti die kulturelle Spezifik von Schemata mitdenkt, interessiert ihn letztlich die Bestimmung von archetypischen Standardisierungen, die sich in einer weitgehend strukturellen Schematisierung innerhalb einer Vielzahl von Texten eines Genres äußern und von denen er fünf („Adventure“, „Romance“, „Mystery“, „Melodrama“, „Alien Being or State“) identifiziert und genauer beschreibt.10 Der zweite dynamische Aspekt von Caweltis Schema-Definition liegt darin, dass er das Verhältnis von Einzelwerk und Schema als Variation beschreibt. Er erkennt, dass Schemata nicht nur einfach wiederholt werden, wie dies der Zimmermann’sche Begriff nahelegt, sondern dass sie mit jedem Einzelwerk zugleich erneuert werden, ohne gleichzeitig den Rahmen des Schemas zu verlassen.11 Die hier von Cawelti im Ansatz beschriebene Dynamik von Schematisierung und Variation nimmt Ecos Bestimmung von Serialität vorweg,
7Haarkötter
2007 (S. 238 ff.) und Bergenthal 2008 (S. 52 ff.) versuchen, den SchemaBegriff auf kognitionspsychologischer Grundlage weiterzuentwickeln. 8Cawelti 1976, S. 6. Statt Schema findet sich für Caweltis Begriff der „literary formula“ auch die Übersetzung als Formel. 9In ihrer kulturwissenschaftlichen Analyse von britischen und amerikanischen popular romances betont Linke die kulturspezifische Funktion von Schemata, die ihrer These zufolge zur Bestätigung und Tradierung nationalkultureller Symbole und Werte des Herkunftslandes beitragen (vgl. Linke 2003, S. 13). 10Vgl. Cawelti 1976, S. 39–50. 11„In this type of literature, the relationship between individual work and formula is somewhat analogous to that of a variation of a theme, or of a performance to a text. To be a work of any quality or interest, the individual version of a formula must have some unique or special characteristics of its own, yet these characteristics must ultimately work towards the fulfillment of the conventional form.“ (Cawelti 1976, S. 10)
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
wird aber ähnlich wie der Aspekt der Kulturspezifik von Schemata nicht weiter ausgeführt, da Cawelti sein Hauptaugenmerk auf die Identifizierung von universellen Archetypen richtet. Mit der Betonung der Kulturspezifik von Schemata sowie der Dynamik von Variation und Wiederholung sind es diese beiden in Caweltis Werk eher marginalen Aspekte der Schema-Definition, die sich für eine Weiterentwicklung des Begriffes, der als Grundlage für die Analyse von aktueller serieller Jugendliteratur dienen kann, als tragfähig erweisen: Zum einen kann S chema-Literatur nicht unabhängig von den jeweiligen kulturellen und historischen Entstehungsbedingungen untersucht werden, wie sie für die serielle Jugendliteratur in Kapitel 3 skizziert wurden. Zum anderen muss das Verhältnis von Standardisierung und Variation am jeweiligen Beispiel untersucht und hierbei vor allem das Moment der Variation herausgearbeitet werden, um so der Produktivität und Dynamik der aktuellen Jugendbuchproduktion auf die Spur zu kommen, die sich durch einen auf den Wiederholungsaspekt zentrierten Schema-Begriff schwerlich erklären lässt. Die Begriffe Gattung und Genre werden in der Literaturwissenschaft trotz einzelner Vorschläge zur Begriffsunterscheidung in der Regel synonym verwendet.12 Ein sinnvoller Vorschlag zur Begriffsunterscheidung stammt von Harald Fricke und wird im Folgenden wieder aufgegriffen. Während Fricke „Gattung“ als Oberbegriff für verschiedene literarische Gruppenbildungen verwendet, bildet das Genre „ein literaturhistorisch begrenztes und mehr oder weniger kohärentes Phänomen“.13 In der Erforschung von Populärkultur wird der Begriff des Genres dem Begriff der Gattung in der Regel vorgezogen.14 Hier zeigt der Zusatz „Genre“ wie bei Genrekino oder in der englischsprachigen Verwendung genre fiction die Zugehörigkeit zum populärkulturellen Feld an, die durch die nahezu synonyme Begriffsverwendung von genre und formula (dt. Schema) in der englischsprachigen Populärliteraturforschung noch verstärkt wird.15 Mit der vorliegenden Begrifflichkeit der Genre-Schemata wird vor dem
12Vgl.
z. B. Helbig 2007 (Metzler Lexikon Literatur), S. 275, Lamping 1997 (RLL), S. 704 oder Till 2010, S. 75. 13Fricke 2010, S. 20; zuerst in Fricke 1981, S. 132 f. 14Vgl. z. B. Müller 2003, Linke 2003 oder Huck 2011. 15Vgl. z. B. Müller 2003; Mikos 2003, S. 251 ff. oder Helbig 2007. Zur Verwendung von genre und formula in der englischsprachigen Populärliteraturforschung vgl. Cawelti 1976, Gelder 2004 oder Glover 2012. Trotz späterer Versuche, genre und formula klarer voneinander abzugrenzen, bleibt die Begriffsverwendung bei Cawelti vage (vgl. Cawelti 2004).
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
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Hintergrund dieser Überlegungen zum Ausdruck gebracht, dass die Formelhaftigkeit und der Schematismus der aktuellen seriellen Jugendliteratur in der Verwendung von literaturhistorisch in einem begrenzten Zeitraum wirksamen konventionalisierten Genremustern liegt. Wie diese Genre-Schemata zusammengesetzt, wiederholt und variiert werden, wird im folgenden Kapitel aufgezeigt werden.
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie der paradigmatischen Serialität In Abschnitt 2.1 wurde dargelegt, dass die Beziehung zwischen unterschiedlichen Zyklen bzw. Serien der populären Jugendliteratur als paradigmatische Serialität gefasst wird. Zu zeigen wird sein, wie über die Variation und Kombination von verschiedenen Genre-Schemata eine Dynamik und Produktivität entsteht, die immer neue Serien und Zyklen hervorbringt, die offensichtlich ihre Leserinnen und Leser finden. Das ästhetische Verfahren der Wiederholung und Variation von Genre-Schemata ist hierbei nicht von den kommerziellen Bedingungen des Jugendbuchmarktes und seiner Mechanismen zu trennen und muss als Voraussetzung dafür gesehen werden, dass die Serien und Zyklen ein Massenpublikum erreichen. In der Populärkulturforschung gelten Genremuster als wichtiger Bestandteil der literarischen Kommunikation zwischen Autor und Leser, die ein müheloses Verstehen des Erzählten ermöglichen und damit zur Voraussetzung für Massenkommunikation werden.16 Die Schematisierung und Wiederholung von Genremustern schafft so einerseits Vertrautheit beim genrekundigen Leser, indem dieser Bekanntes wiedererkennt und das jeweilige Werk im Kontext anderer Beispiele des Genres liest, erfordert jedoch andererseits angesichts des kommerziellen Erfolgsdrucks eine ständige Erneuerung und Variation.17 Dass hierbei auch das Moment der Variation nicht nur ästhetisch, sondern auch ökonomisch bedingt ist, wird erst richtig deutlich, wenn man die Verwendung von Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur über die einzelne Serie bzw. den einzelnen Zyklus hinaus in ihrer paradigmatischen Dimension betrachtet. Die hier vertretene und in den folgenden Kapiteln zu erläuternde These besagt
16Vgl.
z. B. Müller 2003; Gelder 2004, S. 40; Berry-Flint 2004, S. 27; Hügel 2007b, S. 26 f. oder Bergenthal 2008, S. 32. 17Vgl. Kelleter 2012b, S. 18–25.
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
also, dass das Konstruktionsprinzip der seriellen Jugendliteratur auf paradigmatischer Ebene darin besteht, dass bestimmte, immer wiederkehrende GenreSchemata (Wiederholung) im jeweiligen Werk unterschiedlich kombiniert werden (Variation). Über die Verwendung von konventionalisierten Genremustern entsteht so ein serieller Zusammenhang zwischen verschiedenen Einzelwerken. In den Abschnitten 4.2.1 bis 4.2.4 werden mit den fantastischen Schemata, dem Liebesroman-, Abenteuerroman- und Krimi-Schema die vier wichtigsten Genre-Schemata der aktuellen seriellen Jugendliteratur zunächst systematisch beschrieben, indem ausgehend von der jeweiligen Gattungsentwicklung und -theorie die aktuelle Ausprägung des Schemas zusammenfassend dargestellt wird. Dabei werden vor allem diejenigen Aspekte der Gattungsentwicklung herausgegriffen, die für ein Verständnis der aktuellen Schemaausprägung notwendig sind. Der Bestimmung der aktuellen Ausprägung der Schemata liegt das Textkorpus der vorliegenden Arbeit zugrunde, so dass sich die Reichweite des Ausgesagten zunächst auf die betreffenden Werke beschränkt (Abschnitt 2.2). Sofern es Forschungsliteratur zu aktuellen Jugendromanen gibt, die weitere Primärtexte einbezieht, wird diese herangezogen, um die Thesen zu erhärten. Die meisten Fortsetzungszyklen des Textkorpus zählen zur fantastischen Literatur im weiten Sinn, weshalb ein Schwerpunkt der folgenden Ausführungen auf die fantastischen Schemata, das Fantasy- und Dystopie-Schema, gelegt wird. Da diese Schemata aufgrund der Dynamik und Produktivität des Feldes zudem der größten Veränderung unterworfen sind, erscheint eine Bestimmung der aktuellen Ausprägung vor dem Hintergrund des Forschungsstandes zur Fantasy und Dystopie besonders geboten. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf dem Liebesroman-Schema, das im Anschluss an den Erfolg von Meyers TwilightTetralogie (2006–2009) zahlreiche Nachfolger gefunden hat. Dieses muss vor dem Hintergrund der angloamerikanischen Gattungsentwicklung und der entsprechenden Forschung aufgearbeitet werden. Mit den vier Schemata wurde eine exemplarische, aber unvollständige Auswahl an in den Jugendromanen wirksamen Schemata getroffen, die es ermöglicht, das paradigmatische Funktionsprinzip der ausgewählten Romane aufzuzeigen. Nicht eigens berücksichtigt werden beispielsweise Bezüge zum Adoleszenzroman oder zum historischen Roman; außerdem ließe sich die Typologie der fantastischen Schemata weiter verfeinern, indem weitere fantastische Subgenres wie Märchen, Sage oder der Schauerroman aufgenommen würden. Die Bezüge einzelner Texte zu diesen Genres werden indes punktuell innerhalb der folgenden Kapitel herausgearbeitet. Im Anschluss an die systematische Bestimmung wird die These der Kombination und Variation von Genre-Schemata am Beispiel der im Anschluss
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
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an Twilight erschienenen seriellen Liebesromane erläutert. Hierbei wird von der Annahme ausgegangen, dass kommerziell besonders erfolgreiche Texte wie Twilight eine genrebildende Wirkung entfalten und am Ursprung eines Beziehungsgeflechtes zwischen verschiedenen Werken stehen (Abschnitt 4.3.1). Die Nachfolger greifen das durch Twilight etablierte Liebesroman-Schema zwar auf, variieren es jedoch durch die Kombination mit verschiedenen anderen Genre-Schemata, so dass sich verschiedene Typen der Abwandlung heraus kristallisieren. Diese Variationstypen werden in den Abschnitten 4.3.2 bis 4.3.4 am Beispiel beschrieben: die Halbgötter-Variationen, wie sie beispielhaft durch den Göttlich-Zyklus (2011–2013) von Josephine Angelini und die ArkadienTrilogie (2009–2011) von Kai Meyer vertreten werden, die Zeitreise-ChickLit-Krimis am Beispiel der Edelstein-Trilogie (2009–2010) von Kerstin Gier und der Holly Hill-Romane (2013–2016) von Alexandra Pilz sowie die von der amerikanischen Literaturkritik als New Adult betitelten neuen Liebesromane am Beispiel von Colleen Hoovers Layken und Will-Romane (2013–2015). Eine weitere, hier nicht weiter ausgeführte Variation liegt in der Kombination von Dystopie- und Liebesroman-Schema, wie sie beispielsweise in dystopischen Liebesromanen wie der Amor-Trilogie (2011–2014) oder der Cassia und KyTrilogie (2011–2013) vorliegt. Die über mehrere Kapitel entwickelte These der paradigmatischen Serialität wird ausgehend von einer abschließenden Analyse der Tribute von Panem zu dem Fazit geführt, dass die Jugendromane des Textkorpus nur innerhalb ihres seriellen Geflechts als populärkulturelle Erzeugnisse, die bestimmten Konstruktionsprinzipien folgen, zu verstehen sind. Diese Konstruktionsprinzipien sind, so die These, der zentrale Schlüssel zu ihrer Deutung und müssen eine auf das Einzelwerk beschränkte Perspektive ergänzen (Abschnitt 4.4).
4.2.1 Fantastische Schemata: Fantasy und Dystopie Um die Ausprägung des aktuellen Fantasy- und Dystopieschemas zu bestimmen, ist es sinnvoll, von einer maximalistischen Definition der fantastischen Literatur als Oberbegriff und Rahmen für verschiedene Subgenres, unter anderem Fantasy und Dystopie, auszugehen.18 Innerhalb dieses systematischen und ahistorischen Rahmens kann dann eine historische Bestimmung der aktuellen Fantasy- und
18Diese
Vorgehensweise entspricht der Systematik des Handbuchs der Phantastik (vgl. Brittnacher/May 2013).
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Dystopieschemata in der seriellen Jugendliteratur erfolgen. Eine gemeinsame Betrachtung von Fantasy- und Dystopieschema als Subgenres der fantastischen Literatur erscheint auch deshalb sinnvoll, da beide Schemata in den Romanen aufgrund ihrer Bestimmung der raum-zeitlichen Struktur alternativ auftreten. Die Zahl der Neuerscheinungen seit Harry Potter sind im Bereich der Fantasy kaum zu überblicken. Die aktuelle Produktivität des Fantasygenres ist nur ein Grund dafür, dass eine Definition des Genres schwierig ist. Die Bezeichnung des Genres entstammt, wie Johannes Rüster in seinem Fantasy-Artikel im interdisziplinären Handbuch der Phantastik festhält, „keinem literaturwissenschaftlichen Diskurs, sondern ist vielmehr organisch im Spannungsfeld populärer Literatur zwischen editorischem Verlangen nach Kategorisierung und dem Identifikationsbedürfnis einer eingeschworenen Lesergemeinde entstanden.“19 Für die Fantasy gilt somit ebenso wie für andere populäre Genres (wie Science-Fiction, Horror, Mystery), dass literaturwissenschaftliche, verlagsprogrammatische Bestimmungen und Auffassungen von Leserinnen und Lesern in Konkurrenz zueinander stehen. Eine weitere Schwierigkeit bei der Bestimmung des Genres liegt in der unterschiedlichen Begriffsverwendung im angloamerikanischen und deutschsprachigen Raum. Im englischsprachigen Raum wird Fantasy oder Fantasy Fiction in der Regel als Oberbegriff für alle Subgenres der fantastischen Literatur verwendet. Somit entspricht der englischsprachige Fantasybegriff einer maximalistischen Definition von fantastischer Literatur, die alle „erzählenden Texte [umfasst], in deren fiktiver Welt die Naturgesetze verletzt werden“20, wobei hier einschränkend hinzugefügt werden muss, dass Science-Fiction in der englischsprachigen Begriffsverwendung in der Regel klar von der Fantasy getrennt wird. In der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung wird der Fantasybegriff dagegen als Unterbegriff, das heißt als Subgenre der fantastischen Literatur, verwendet.21 Für den deutschsprachigen
19Rüster 2013b, S. 284. Vgl. auch Bergenthal 2008, S. 332, die ähnlich argumentiert: „Die Fantasy selbst zerfällt in Subgenres, die sich literaturhistorisch in enger Anbindung an einzelne Massenerfolge und verlagsprogrammatische Kategorien entwickelt haben.“ Auch Friedrich beschreibt die Fantasy als „Marktkategorie“ (vgl. Friedrich 2004, S. 4). 20Durst 2010, S. 29 und vgl. ebd., S. 18. Zur englischsprachigen Begriffsverwendung von Fantasy vgl. z. B. die Fantasy-Definition in der Encyclopedia of Fantasy oder im Cambridge Companion to Fantasy Literature (Clute 1997b, S. 337–339 und James/ Mendlesohn 2012, S. 1–4). 21Vgl. z. B. Kaulen 2003, S. 35; Friedrich 2004, S. 4; Bonacker 2006, S. 65 f.; Rank 2011, S. 172; Ewers 2012b, S. 22; Mohr 2012, S. 28; Prestel 2013, S. 47. Rüster im Handbuch der Phantastik vertritt ebenfalls eine enge Fantasydefinition (vgl. Rüster 2013b, S. 285 f.).
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
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Bereich nennt Hans-Heino Ewers ein weiteres Problem, wenn er beklagt, dass kinder- und jugendliteraturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit fantastischer Literatur, die seit den 1960er-Jahren zu verzeichnen sind, von der im Erwachsenenbereich vorwiegend in der Anglistik und Amerikanistik beheimateten Fantasyforschung nicht wahrgenommen würden, so dass die unterschiedlichen Forschungstraditionen mehr oder weniger isoliert voneinander arbeiteten.22 Die von der KJL-Forschung entwickelten engen Fantasydefinitionen stellen eine Mischung aus im Kern strukturalistischen Bestimmungen dar, die durch inhaltlich-thematische Aspekte ergänzt werden. Diese Definitionen beruhen auf den von Maria Nikolajeva entwickelten prototypischen Erzählmodellen der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur, in denen die Zweiweltenstruktur zum entscheidenden Bestimmungskriterium für fantastische Literatur wird: Der primären realistischen Welt steht eine sekundäre fantastische Welt gegenüber, die entweder offen, geschlossen oder in Gestalt einer fantastischen Figur oder Gegebenheit impliziert sein kann.23 Als Fantasy werden nun häufig die Texte bezeichnet, die dem geschlossenen Erzählmodell folgen und deren Handlung ausschließlich in einer fantastischen Sekundärwelt spielt, die als altertümliche, mythologische Welt gezeichnet ist, in der übernatürliche Gesetze gelten und in der die Figuren mit magischen Fähigkeiten ausgestattet sind.24 Diese Definitionen von Fantasy sind an Texten orientiert, die der englischsprachigen Terminologie zufolge zur High Fantasy oder zur Sword and Sorcery gezählt werden und die sich als Subgenres ausgehend von erfolgreichen Schlüsseltexten ausgebildet haben.25 Maßgeblich für die Definition der (High) Fantasy war Tolkiens Der Herr der Ringe (1954/55) sowie sein poetologischer Aufsatz On Fairy-Stories
22In
der jüngeren Vergangenheit scheint sich diese Trennung langsam aufzuheben. So ist z. B. Ewers in dem interdisziplinären Handbuch der Phantastik mit einem Artikel zur Kinder- und Jugendliteratur vertreten. Vgl. Ewers 2013c. Auch in dem zweibändigen Sammelband, der die Beiträge der ersten Tagung der neugegründeten Gesellschaft für Fantastikforschung dokumentiert, sind einzelne, wenn auch wenige Beiträge zur kinderund jugendliterarischen Phantastik enthalten (vgl. Schmeink/Müller 2012 und Schmeink/ Böger 2012). 23Vgl. Nikolajeva 1988, S. 35 ff. Zu einer ausführlichen Zusammenfassung der drei Erzählmodelle vgl. z. B. Dangel 2013, S. 441 f. oder Prestel 2013, S. 34 ff. 24Vgl. z. B. Kaulen 2004, S. 15; Bonacker 2006, S. 66 oder Rank 2011, S. 172 f. 25Vgl. Rüster 2013b, S. 286 f. Als Schlüsseltext der Sword and Sorcery gelten die Geschichten um den Barbaren Conan (ab 1932) von Robert E. Howard.
82
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
(1938/47), in dem er eine Theorie des eigenen schriftstellerischen Schaffens darlegt, die später als Ausgangspunkt für Fantasydefinitionen herangezogen wurde:26 Letztlich ist es diese Kombination, die die Fantasy in ihrem Kern bis heute entscheidend prägt: Eine Anderswelt in mythischem Modus, die auf den globalen Sagenschatz rekurriert – und so dem Rezipienten in der Eukatastrophe Katharsis verschafft.27
Ein weiteres Problem, dem sich die deutsche KJL-Forschung zur Fantasy und Fantastik widmet, liegt in der Abgrenzung der Fantasy zur benachbarten Subgattung der Fantastik, hier vor allem der kinderliterarischen Fantastik. Als Abgrenzungskriterium nennen sowohl Bonacker, Rank als auch Ewers die an die Todorov’sche Fantastikdefinition angelehnte wirkungsästhetische Kategorie der Verunsicherung, die der Leser bei fantastischen Erzählungen angesichts des Übernatürlichen empfinde und die seine rationale naturwissenschaftliche Weltsicht in Frage stelle.28 Diese Verunsicherung findet in der Fantasy nicht statt, in der sich weder die Figuren noch der Leser über die Existenz des Magischen wundern. Bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass sich bisherige Fantasydefinitionen in der KJL-Forschung auf drei Elemente stützen: auf das geschlossene Erzählmodell der fantastischen Sekundärwelt, auf die im globalen Sagenschatz verankerte Ausgestaltung dieser Sekundärwelt und auf das wirkungsästhetische Kriterium der fehlenden Verunsicherung des Lesers bezüglich des Status des Fantastischen. Auf die Problematik des strukturalistischen Kerns dieser Fantasydefinition wurde bereits verschiedentlich hingewiesen: Ein Großteil der in den letzten zehn Jahren als Fantasy vermarkteter und von Fans als Fantasy gelesener
26Vgl.
Petzold 1980, S. 104. 2013b, S. 285. Als eucatastrophe bezeichnet Tolkien die Gegebenheit, dass die Helden in der secondary creation, der durch die Sprache erschaffenen Anderswelt oder Sekundärwelt, stellvertretend für den Leser Trost und Erlösung erlangen (vgl. Petzold 1980, S. 104 f. und 107). Rüster verweist außerdem auf die Berührungspunkte zwischen Tolkiens Überlegungen und der ethnologisch-tiefenpsychologischen Untersuchung Hero with a Thousand Faces (1949) von Joseph Campbell, in der „der Autor seine These vom Monomythos als Konstruktion eines archetypalen narrativen Musters vom Auszug des Helden über Konfliktlösung, Initiation und Wiederkehr mit je eigenen Konfliktpotentialen“ formuliert, mit denen er „den Weg sowohl der psychologischen Textexegese wie auch der Mythopoiesis der Phantastik“ (Rüster 2013b, S. 285) bereitet. 28Vgl. Bonacker 2006, S. 66; Rank 2011, S. 173 und Ewers 2013c, S. 255. Ewers weist allerdings darauf hin, dass das Kriterium der Unsicherheit in der klassischen kinderliterarischen Fantastik allenfalls eine Nebenrolle spiele. 27Rüster
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Texte würde durch diese Definition heimatlos, da das Geschehen in diesen Romanen nicht mehr ausschließlich und auch nicht überwiegend in einer geschlossenen fantastischen Sekundärwelt spielt.29 Vielmehr finden sich sowohl in der kinderliterarischen Fantastik als auch in der aktuellen Fantasy alle drei von Nikolajeva entwickelten Erzählmodelle. Ewers plädiert aus diesem Grund für eine Überwindung der strukturalistischen Definition und stattdessen für eine funktional-inhaltliche Unterscheidung zwischen Fantasy und fantastischer Literatur. Der für die fantastische Literatur typischen Verunsicherung des Lesers stellt er eine mythopoetische Bestimmung der Fantasy gegenüber, deren zentraler Gehalt das vormoderne Heroentum darstelle.30 Aber auch diese inhaltliche Bestimmung erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Fantasyproduktion als problematisch, was unten weiter ausgeführt werden wird. Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die zunächst für den englischsprachigen, zeitversetzt aber auch für den deutschen Buchmarkt den Fantasyboom der 2000er-Jahre durch einen Dystopieboom abgelöst sehen.31 Als Auslöser dieser Welle an dystopischer Literatur für Jugendliche wird die Tribute von Panem-Trilogie der amerikanischen Autorin Suzanne Collins gesehen, deren Gesamtauflage laut Auskunft des Scholastic-Verlags weltweit bei über 100 Millionen Exemplaren liegt und in 53 Sprachen übersetzt wurde (Stand: August 2018).32 Innerhalb einer Theorie der paradigmatischen Serialität zeigt sich jedoch, dass es sich bei der beobachteten Verschiebung von der Fantasy zur Dystopie um keinen grundlegenden Paradigmenwechsel handelt, der etwas gänzlich Neues zur Folge hat. Vielmehr lässt sich diese Verschiebung ausgehend von dem seriellen Prinzip der Wiederholung durch Variation erklären, das in den Romanen zu einer Ablösung des Fantasy-Schemas durch das Dystopie-Schema als raum-zeitlicher Situierung der Romane führt. Abgesehen von dieser Variation wiederholt sich in den Dystopien die Verarbeitung von verschiedenen anderen Genre-Schemata, wie dem Abenteuer-, dem Liebesroman- oder dem KrimiSchema, die alle auch mit dem Fantasy-Schema kombiniert werden. Aus der Perspektive einer Theorie der Serialität stellt die Ablösung des Fantasy- durch das Dystopie-Schema damit eine logische und notwendige Weiterentwicklung innerhalb eines produktiven populärkulturellen Feldes dar.
29Vgl.
z. B. Ewers 2011a, 2012b und 2013c; Prestel 2013 und Schlachter 2013b. Ewers 2012b, S. 26. Ähnlich auch in Ewers 2011a und Ewers 2013c. 31Vgl. z. B. Mikota 2013, Roeder 2012 oder Basu/Broad/Hintz 2013. 32Vgl. http://mediaroom.scholastic.com/hungergames [24.08.2018]. 30Vgl.
84
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Die Dystopie oder Anti-Utopie als ein in die Zukunft extrapolierter negativer Gesellschaftsentwurf entsteht als eigenständige Gattung erst Ende des 19. Jahrhunderts, obwohl seit den Anfängen des utopischen Denkens in der Antike auch eine utopiekritische Tradition ausgemacht werden kann.33 Stephan Meyer bezeichnet die jeweiligen Anti-Utopien aufgrund ihrer engen Verbundenheit zur Utopie, als deren Subgenre er sie klassifiziert, als „ein Stück Rezeptionsgeschichte des utopischen Denkens“.34 So richten sich Anti-Utopien zunächst nicht nur kritisch gegen aktuelle Zeiterscheinungen, sondern auch gegen bestimmte Motive und Zielvorstellungen der bisherigen Utopietradition. Die Dystopie des 19. Jahrhunderts wendet sich, wie Peter Kuon nachzeichnet, gegen eine entradikalisierte Utopie, die vor dem Hintergrund eines historischen Fortschrittsoptimismus den dargestellten optimalen Gesellschaftsentwurf im Gegensatz zu den Utopien früherer Jahrhunderte plötzlich als verwirklichbar betrachtet.35 Die in den Utopien angelegten totalitären Tendenzen36 wirkten so plötzlich bedrohlich, weshalb es sich die Dystopie zur Aufgabe gemacht habe, dieses totalitäre Potential durch eine satirische Überzeichnung und Auslagerung in die Zukunft aufzuzeigen: Denn das ist einer der Hauptgründe anti-utopischen Schreibens, zu warnen vor einer als total empfundenen „Idealstaatlichkeit“, die im glücksverheißenden, utopischen Gewande daherkommt, deren Realisierung schließlich im 20. Jhdt. zu den menschenverachtendsten polit. Systemen führte. Anti-Utopien sind also ein mit utopischen Mitteln arbeitendes Regulativum, ein „Falsifikationsmodell“ utopischer-totaler Idealstaatsplanung. […] Zumindest verstehen die anti-utopischen Schriften sich als Regulativ gegen die einseitige Bejahung von Fortschritt und Technik, gegen staatstotalitäre Tendenzen und Ereignissen [sic!] in der Geschichte, die sich nicht selten auch im utopischen Schrifttum ideengeschichtlich geäußert hatten.37
33Meyer verwendet in seiner umfangreichen Abhandlung den Begriff der Anti-Utopie, wohingegen sich in neueren Veröffentlichungen mehr und mehr der Begriff der Dystopie durchzusetzen scheint. Vgl. zur Begriffsgeschichte Meyer 2001, S. 18 ff. Ein neuerer Versuch, die Begrifflichkeiten Anti-Utopie, Dystopie und kritische Dystopie voneinander abzugrenzen stammt von Layh 2014. 34Meyer 2001, S. 11. 35Vgl. Kuon 2013, S. 334. 36Im Anschluss an Karl Popper verweist Meyer darauf, dass seit Platon totalitäre Ideen im utopischen Schrifttum vorzufinden sind, die darauf abzielten, „einen totalen Staat mit autoritärer Herrschaftsstruktur und Ausschließlichkeitsanspruch zu postulieren, der von seinen Machtansprüchen keinen gesellschaftlichen Lebensbereich ausspart.“ (Meyer 2001, S. 496; vgl. ebd., S. 33) 37Ebd., S. 140.
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Die Dystopie bezieht sich seit ihren Anfängen somit immer auf zwei Pole: auf die Utopietradition und auf in der zeitgenössischen Realität wahrgenommene totalitäre Strukturen. In dieser doppelten Referentialität der Dystopie ist auch ihr utopisches Potential zu sehen: So setzt sie den als negativ bewerteten Tendenzen zwar keine Alternative entgegen, aber gerade in der Radikalität der dargestellten Schreckenswelten kommt ex negativo ihr individualistisch-humanes Menschenbild zum Ausdruck.38 Somit ist der utopische Gedanke, der auch in jugendliterarischen Dystopien zum Ausdruck kommt und in den meisten Besprechungen und Analysen hervorgehoben wird, nicht allein innerhalb des jugendliterarischen Handlungs- und Symbolsystems als Fortsetzung einer didaktisch-aufklärerischen Literatur für junge Menschen, sondern als Teil der Gattungsgenese generell zu erklären.39 Ein Vergleich zwischen den Handlungsverläufen und Enden von erwachsenen- und jugendliterarischen Dystopien ist allerdings aufschlussreich in Bezug auf die spezifisch jugendliterarische Ausgestaltung des utopischen Potentials. Als thematischer Kern der klassischen Dystopie wird einhellig die Auseinandersetzung zwischen einem Individuum und einer als übermächtig und totalitär geschilderten Gesellschaft genannt. Diese schlägt sich in der Regel in einem dreiteiligen Handlungsaufbau nieder, der neben der Exposition und ihrer Schilderung der dystopischen Wirklichkeit die Rebellion gegen die bestehende Ordnung und als drittes Element die Unterdrückung des Widerstandes durch den Staat enthält.40 Während das dystopische Erzählmuster bis in die 1990er-Jahre konstant bleibt, wird für die neuere Dystopiegeschichte ein deutlicher Anstieg der Produktion sowie eine Erneuerung der Gattung konstatiert, die sich in einer Veränderung der Form sowie in einer Modifikation der Themen der klassischen Dystopie äußere.41 Als Indikatoren für die Veränderung der Form in postmodernen, postkolonialen, (öko-)feministischen und wissenschaftlich-technischen Dystopien aus dem englischen Sprachraum werden die Abkehr vom traditionellen dreiteiligen Handlungsaufbau, der Verzicht auf lineares Erzählen, die Vermischung von Genres oder die Verwendung einer unzuverlässigen Erzählinstanz genannt. Eine wesentliche thematische Modifikation wird außerdem in der
38Vgl.
ebd. und Zeißler 2008, S. 31. Zur Kritik an der Rückwärtsgewandtheit der Dystopie vgl. ebd., S. 20. 39Vgl. im Gegensatz dazu Glasenapp 2013, S. 74 ff. 40Vgl. Kuon 2013, S. 334; Meyer 2001, S. 93–98 und Zeißler 2008, S. 24–30. 41Vgl. Zeißler 2008, S. 19 und S. 217 ff. Ähnlich auch Layh 2014.
86
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
arstellung des Staates gesehen, der immer häufiger als anonyme und nebulöse D Kraft geschildert werde, gegen die eine gezielte Rebellion nicht mehr möglich sei. Im Gegensatz zum allmächtigen Staat der klassischen Dystopie, der in seinen Vertretern personifiziert und damit identifizierbar werde und dessen Unterdrückungsmechanismus immer auch auf physischer Gewalt gründe, erwiesen sich in neueren Dystopien die dem anonymen System immanenten Zwänge als so restriktiv, dass die Menschen daran zugrunde gingen.42 Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten im Osten Europas, so lässt sich aus diesen Veränderungen schließen, sind die Zielscheiben der dystopischen Kritik weniger eindeutig identifizierbar und werden zunehmend in restriktiven Schichten und subtileren Unterdrückungsmechanismen einer globalisierten Gesellschaft gesehen.43 In der Kinder- und Jugendliteratur etabliert sich die Dystopie in den 1970er- und 1980-Jahren mit Titeln wie Momo (1973) von Michael Ende, John Christophers Die Wächter (1975) oder Gudrun Pausewangs Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987). Die Dystopien treten hier mit Themen wie der Bedrohung des Einzelnen in einer totalitären Gesellschaft, den Gefahren des technischen Fortschritts, der Bedrohung durch Atom- und Umweltkatastrophen, der Überwachung durch totalitäre Staatsapparate oder dem Klonen als explizite Warngeschichten auf, deren didaktisch-pädagogischer Charakter Gabriele von Glasenapp mit dem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendliteratur der 70er-Jahre in Verbindung bringt, der dazu geführt hat, dass zunehmend aktuelle gesellschaftspolitische und -kritische Themen in die Kinderund Jugendliteratur Eingang gefunden haben.44 Die Dystopie, der dieses Warnpotential auch in ihrer erwachsenenliterarischen Ausprägung inhärent ist, trifft damit in den 70er- und 80er-Jahren auf einen fruchtbaren Boden in der Kinderund Jugendliteratur. Im Folgenden werden auf der Grundlage des vorliegenden Textkorpus nun die aktuellen Ausprägungen des Fantasy- und Dystopieschemas in der seriellen Jugendliteratur bestimmt. Die Gemeinsamkeit beider Schemata liegt darin, dass beide alternativ die Welt-Zeit-Struktur in den Romanen bestimmen, das heißt die Weltenstruktur und die zeitliche Lokalisierung des Geschehens. Dem
42Vgl.
Zeißler 2008, S. 219. ebd., S. 223. 44Vgl. Glasenapp 2003, S. 14 und dies. 2013, S. 74 f. Vgl. zum Typus der „Warnutopie“ auch Melzer 2000, S. 557 f. 43Vgl.
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
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Dystopieschema mit seiner postapokalyptischen Einweltenstruktur steht das Fantasy-Schema gegenüber, das zunehmend komplexe Welt-Zeit-Strukturen aufweist. Fantasy-Schema In Bezug auf die Welt-Zeit-Strukturen im aktuellen Fantasy-Schema lässt sich eine Abkehr von der Einweltenfantasy und eine Zunahme an komplexeren Weltenstrukturen beobachten. Geht man von den prototypischen fantastischen Erzählmodellen von Nikolajeva aus, so finden sich neben geschlossenen Sekundärwelten wie in Eragon, Bartimäus oder Lockwood offene Sekundärwelten wie in Reckless, Oksa Pollock, His Dark Materials oder den Chroniken der Unterwelt, in denen die Protagonisten von der realistischen Primärwelt über Passagen, Schwellen oder Übergänge in die fantastische Sekundärwelt gelangen.45 Dabei existieren in einigen dieser Romane mehrere fantastische Welten parallel zueinander, wie es in den Chroniken der Unterwelt und in His Dark Materials der Fall ist. Eine Besonderheit in Bezug auf die Welt-ZeitStruktur stellt der Zeitreiseroman mit der Holly Hill-Trilogie und der EdelsteinTrilogie dar, in denen mehrere Parallelwelten im zeitlichen Sinn koexistieren. Auch bei diesen Romanen kann analog von offenen (zeitlichen) Sekundärwelten gesprochen werden, die über einen Zeitreisemechanismus erreicht werden können. Sehr geläufig ist in aktuellen seriellen Jugendromanen die implizierte fantastische Sekundärwelt. In diesen Romanen ist das Fantastische in Form von Figuren und deren Handlungen in die Primärwelt integriert, die in all den analysierten Fällen eine gegenwärtige realistisch gezeichnete Welt ist: in Twilight, Percy Jackson, der Göttlich-Trilogie, der Arkadien-Trilogie, der EngelsforsTrilogie und der House of Night-Serie. Bei einigen Texten, die in dieser knappen Übersicht dem dominierenden Erzählmodell zugeordnet wurden, bereitet eine Verortung innerhalb der drei prototypischen Erzählmodelle von Nikolajeva bei genauerer Analyse Schwierigkeiten, da die Weltenkonstruktion hier komplexer ist als in den Modellen abgebildet. Texte wie Die Chroniken der Unterwelt, His Dark Materials oder die Engelsfors-Trilogie zeigen die Grenzen des Erzählmodells von Nikolajeva auf und sind symptomatisch für die Tendenz der komplexeren Weltenstrukturen in der aktuellen Fantasy. Bei der Ausgestaltung der fantastischen Welten und ihrer Motive und Figuren wird im Fantasy-Schema auf unterschiedliche fantastische Subgenres
45Zu
„Passagen, Schwellen, Übergängen“ vgl. Dangel 2013.
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z urückgegriffen, wie den globalen Sagenschatz, das Märchen, den Schauerroman oder, was das mehrfach auftretende Zeitreisemotiv betrifft, auf die ScienceFiction. Aus diesem Grund ist das Fantasy-Schema im Vergleich zum Liebesroman-, Krimi-, oder Abenteuerroman-Schema weniger homogen und weist unterschiedliche Ausprägungen auf, die vom Vampirroman über die HalbgötterZyklen bis hin zum Zeitreiseroman und zum Hexenthriller reichen. Eine weitere, bereits angedeutete Tendenz hängt mit der Zunahme von Texten zusammen, die dem Modell der implizierten fantastischen Sekundärwelt zugeordnet werden können. In diesen Texten bildet das Fantastische keine eigene Welt mehr aus, sondern ist in die realistische Primärwelt integriert. Die jugendlichen Protagonisten werden sich der Existenz fantastischer Begebenheiten und ihrer eigenen übernatürlichen Fähigkeiten in diesen Werken erst allmählich bewusst bzw. machen im Verlauf der Handlung eine Verwandlung durch, die sie zu fantastischen Helden mit übernatürlichen Fähigkeiten macht. Wie Petra Schrackmann am Beispiel von Percy Jackson und den SpiderwickChroniken zeigt, wird ein „solches Erleben der bisher verborgenen fantastischen Ebene […] nicht selten überhaupt erst durch die Initiation in diese Welt möglich, konkret durch die Erlangung des Wissens über deren Existenz.“46 Dadurch dass die Handlung in diesen Texten in einer realistischen Primärwelt spielt, in der das Fantastische und das Realistische koexistieren, kann im Vergleich zur Einweltenfantasy und auch zu den Texten, die dem Modell einer offenen Sekundärwelt folgen, hier von einer Zurückdrängung des Fantastischen gesprochen werden, wie sie beispielsweise in Texten wie Twilight, der Engelsfors-Trilogie oder der Arkadien-Trilogie ganz augenscheinlich ist.47 In diesen Texten dominieren realistische Erzählschemata. Mit der Marginalisierung des fantastischen Elements
46Schrackmann
2012, S. 273. Schrackmann ordnet diese Texte zugleich dem implizierten Modell von Nikolajeva und der Urban Fantasy, einem Subgenre der Fantasy, zu. Rüster geht im Gegensatz dazu davon aus, dass Urban Fantasy-Texte in einer geschlossenen Sekundärwelt spielen, da die Stadt in diesen Werken ein stark mythologisiertes Konstrukt darstelle, weshalb fantastische und realistische Elemente hier nicht auseinandergehalten werden könnten (vgl. Schrackmann 2012, S. 272 und 279 (Fußnote 10) und Rüster 2013b, S. 289). Der Urban Fantasy-Begriff unterliegt derselben Problematik wie der Fantasybegriff generell. 47In seinem Artikel über fantastische Literatur in England und USA seit 1945 spricht Johannes Rüster in Bezug auf den Stand der Dinge von einer „doppelten Marginalisierung“ (Rüster 2013a, S. 157) des fantastischen Elements, das zugunsten der nichtfantastischen Elemente zurückgedrängt werde und das zugleich einer starken Stereotypisierung unterliege.
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geht eine Einschränkung der epischen Breite dieser Texte und damit dessen, was Ewers als geschichtsphilosophischen oder weltanschaulichen Gehalt der Fantasy bezeichnet, einher.48 Ewers zufolge handelt es sich bei der Fantasy um eine „Wiederaufbereitung vormoderner Erzählstoffe“49: Fantasy handelt vom Kampf der Heroen um die Gründung oder den Bestand einer Nation, von der Errichtung einer neuen Weltordnung und von der Niederwerfung all der Mächte, welche diese Ordnung bedrohen oder deren Errichtung zu verhindern suchen. Es geht um die Ausschaltung von Usurpatoren, von unrechtmäßigen Herrschern und machtlüsternen despotischen Wesen. Fantasy teilt mit dem Epos den grundsätzlichen politischen, das Ganze eines Volks oder einer sonstigen Gemeinschaft betreffenden allgemeinsittlichen Gehalt, wohingegen der Roman grundsätzlich das Private thematisiert.50
In aktuellen Texten sind die heldenhaften Taten der Figuren jedoch häufig auf einen engeren Kreis eingeschränkt: Bella in Twilight rettet mit ihrer finalen Heldentat nicht die ganze Welt, sondern nur ihre Familie; ähnlich verhält es sich in der Holly Hill-Trilogie, der Lockwood-Serie, der Edelstein- oder der Engelsfors-Trilogie. Heldentum und „Welt“-Rettung (und das damit verbundene Happy End) bleiben zwar zentrale Motive, werden aber ihres epischen und geschichtsphilosophischen Gehalts entledigt und zitathaft und zum Teil ironisch gebrochen verwendet, wie folgende Stellen aus der Engelsfors- und der E delstein-Trilogie zeigen: Es fällt Vanessa nun wirklich schwer, sich ernsthaft an dieser Unterhaltung zu beteiligen, wenn gleichzeitig viel wichtigere Dinge auf ihrer To-do-Liste stehen: Sie muss (1) die Zwiebeln retten, die in der Pfanne zu verbrennen drohen, (2) ihre Zukunft mit Wille retten, indem sie eine perfekte Lasagne kocht, und (3) die Welt retten.51 Gideon und ich waren mit dem Auftrag in die Zeit gereist, Lady Tilney in den Chronografen einzulesen (die Gründe dafür hatte ich, ganz nebenbei bemerkt, noch immer nicht ganz kapiert, aber das Ganze schien ungeheuer wichtig zu sein; soweit ich wusste, ging es um die Rettung der Welt, mindestens.)52
48Vgl.
z. B. Ewers 2011a, S. 8–10. 2012b, S. 25. 50Ebd., S. 28. Ewers liest die fantastischen Sekundärwelten der Fantasy als geschichtsphilosophische oder politische Gegenentwürfe zur realistischen Welt. 51Elfgren/Strandberg 2012 (Zirkel), S. 310. 52Gier 2010 (Saphirblau), S. 27. 49Ewers
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Die Figuren der aktuellen seriellen Jugendromane sind, wie vor allem das erste der beiden Zitate zeigt, nicht nur Heldinnen oder Helden, sondern es handelt sich durchweg um normale durchschnittliche Jugendliche, die mit ihren Problemen, Beschäftigungen und ihren Interessen griffige Identifikationsfiguren für heutige jugendliche Leserinnen und Leser darstellen. Die Themen, die sich aus dieser Dimension der Figuren ergeben, sind Themen der Adoleszenz: erste Liebe, Mobbing, Magersucht, Mode und Aussehen, das Leben in zerrütteten Familien oder in Patchwork-Familien usw. Ihrer Heldenhaftigkeit werden sich alle Protagonistinnen und Protagonisten, in denen das Fantasy-Schema wirksam ist, egal welchem Erzählmodell sie folgen, erst allmählich bewusst. Neben Initiationserlebnissen finden in Texten wie Twilight oder der Göttlich-Trilogie auch Verwandlungen statt, die die Figuren erst zu Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten machen oder die deren Macht durch die Hinzugewinnung weiterer Fähigkeiten noch steigern. Während die realistische Seite der Figuren auf den Adoleszenzroman und auf andere realistische Schemata verweist, ist ihr Heroentum im Fantasy-Schema verankert. Wie aus den bereits erwähnten Fantasydefinitionen hervorgeht, weisen die Heldinnen und Helden der Fantasyromane archaische und vormoderne Züge auf, die ihnen auch im aktuellen Fantasy-Schema erhalten bleiben und die mit den modern-realistischen Zügen ein spannungsvolles, hybrides Verhältnis eingehen. Sie sind mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten Figuren der Differenz und der Transzendierung, worin etwa Christian Schneider die Universalien des Helden sieht: Denn die Grundstruktur des Helden, darüber wird leicht Einigkeit zu erzielen sein, besteht in der Übermenschlichkeit – eine Qualität, die als Transzendenz des Menschlichen immer auch den Ruch der Un-Menschlichkeit hat. Der Held hebt sich von der Masse ab, weil er Dinge vollbringt, die das Handlungsvermögen ‚des Normalmenschen’ übersteigen.53
Als weitere Merkmale des archaischen Heldentums, wie es exemplarisch von den Homer’schen Helden der Ilias verkörpert werde, nennt Schneider die Außerkraftsetzung des Tötungsverbots, die Gemeinschaftsbindung der heroischen Tat, die deren Legitimation und die Legitimation für das Töten darstellt, und die Schicksalsgebundenheit des Helden. Auch diese Eigenschaften des Heldentums sind für das aktuelle Fantasy-Schema typisch, wobei die Schicksalsgebundenheit,
53Schneider 2010, S. 20 (zu weiteren Eigenschaften vgl. S. 20 ff.). Vgl. auch Neuhaus/ Wallenborn 2003, S. 233.
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
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die in den griechischen Epen eine tragische ist, zu einer Form der Auserwähltheit umgemünzt wird, die aufgrund des Doppelcharakters der Protagonisten zwar zu Spannungen und kleineren Identitätskrisen führt, aber kaum mehr tragische Züge aufweist.54 Das Anknüpfen an die Heldenabenteuer der griechischen Mythologie ist nicht nur für die Fantasy charakteristisch, sondern ist aus vielen populären Genres in Film und Fernsehen bekannt, in denen „überlieferte Vorstellungen von Heldentum immer wieder aufs neue durchgespielt“ 55 und eigene Traditionslinien wie der Westernheld oder der Superheld ausgebildet werden. Über diese intertextuellen und intermedialen Bezugskontexte, die teilweise über explizite Verweise in den Romanen selbst angelegt sind, die vor allem aber von Leserinnen und Lesern in ihrer Lektüre und Anschlusskommunikation aktualisiert werden, eröffnen sich weitere Bedeutungsebenen in Bezug auf den Helden bzw. die Heldin.56 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das aktuelle Fantasy-Schema folgende Merkmale aufweist: eine Zunahme an komplexen Welt-Zeit-Strukturen, eine Zurückdrängung des fantastischen Elements zugunsten realistischer Erzählschemata sowie eine daraus resultierende Spannung der Figuren zwischen Heroentum und normalen Jugendlichen. Dystopieschema Die charakteristischen Merkmale des aktuellen Dystopie-Schemas werden im Folgenden aus der Gegenüberstellung von klassischen erwachsenenliterarischen, neueren erwachsenliterarischen sowie älteren und neueren jugendliterarischen Dystopien und Fantasyromanen gewonnen. Im Vergleich zum Fantasy-Schema erscheint die raum-zeitliche Struktur aktueller Dystopien zunächst weniger komplex, insofern als diese in postapokalyptischen Sekundärwelten spielen und damit durchgängig einer Einweltenstruktur folgen. Häufig sind diese zukünftigen Welten mit technologischen Science-Fiction-Elementen durchsetzt, wie beispielsweise in Tribute von Panem, Godspeed, Ugly oder Gelöscht. Innerhalb dieser Einweltenstruktur besteht jedoch eine große Variationsbreite, wie der thematische Kern der Dystopie ausgestaltet wird. Grundsätzlich handeln auch
54Zum
tragischen Schicksal der griechischen Helden, das in seiner spezifischen „Gebrochenheit“, einer Schuld oder einem Fehler, der exzessiv bestraft wird, begründet liegt vgl. Neuhaus/Wallenborn 2003, S. 233. 55Ebd., S. 237 und Stiglegger 2010. 56Vgl. hierzu Abschnitt 7.2.1.2 und hier die Kategorie „Inferenzbildung durch die Herstellung intertextueller Bezüge“.
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
aktuelle jugendliterarische Dystopien vom Widerstand eines Individuums gegen eine übermächtige totalitäre Gesellschaft. Ähnlich wie die Heldinnen und Helden der Fantasyromane werden die Figuren des Widerstands sich erst allmählich ihrer Rolle bewusst. Aufgrund ihrer gattungsinhärenten Referenz auf aktuelle Themen können auch jugendliterarische Dystopien verschiedene Warnbotschaften enthalten, die aus der Schilderung der dystopischen Realität resultieren. So wird beispielsweise den Tributen von Panem in der Forschungsliteratur überwiegend ein kritisches Potential zugeschrieben, das sich auf aktuelle Tendenzen der Gesellschaft bezieht, die in eine postapokalyptische Zukunft extrapoliert werden.57 Inwiefern dieses kritische Warnpotential von aktuellen jugendliterarischen Dystopien jedoch tatsächlich genutzt wird, wird kontrovers diskutiert und muss für jeden Zyklus einzeln betrachtet werden.58 Für manche Dystopien lässt sich die Tendenz einer Zurückdrängung des dystopischen Elements konstatieren, die ähnlich auch im Fantasy-Schema in Bezug auf das fantastische Element vorliegt. Die damit einhergehende Marginalisierung des Warncharakters lässt sich an Beispielen wie Endgame, Die Verratenen oder Amor vor dem Hintergrund ihres paradigmatischen Serialitätscharakters erklären. In Endgame und Die Verratenen wird das dystopische Schema zugunsten des Krimi- und Abenteuerroman-Schemas zurückgedrängt, so dass es in beiden Zyklen lediglich noch als raum-zeitliches Setting wirksam wird. In der Amor-Trilogie ist das Liebesroman-Schema gekoppelt mit dem Abenteuerroman-Schema dominierend, was ebenfalls dazu führt, dass der Warncharakter der Dystopie zurücktritt.59 Insgesamt scheint die enge Verschränkung von Dystopie- und Abenteuerroman-Schema für viele der aktuellen Dystopien charakteristisch zu sein. Als genrebildend kann hier ähnlich wie Twilight für die nachfolgenden Liebesromane Die Tribute von Panem gelten. Die Protagonistin Katniss ist (ebenso wie ihre Nachfolgerinnen in Godspeed oder Amor) stark der Figur des Abenteurers verpflichtet (Abschnitt 4.2.4); im
57Vgl. z. B. Henthorne 2012 bzw. die Beiträge in Pharr/Clark 2012 oder Connors 2014. Das kritische Potential der Dystopien wird angesichts der weiblichen Hauptfiguren in der Forschung vor allem auch unter einer Gender-Perspektive analysiert (vgl. z. B. Kalbermatten 2016, Day 2014 oder Hentges 2018). 58Kritisch z. B. Schweikart 2012 und 2014 oder Broad 2013. 59Interessanterweise gestaltet die Amor-Trilogie in ihrem Kern ein Motiv der klassischen Dystopie aus: Liebe als Keimzelle des Widerstandes und als Medium der Individualisierung. Durch die Integration einer Dreiecksgeschichte, verschiedener Hindernisse und der genretypischen Verknüpfung mit dem Abenteuerroman-Schema wird das Liebesmotiv jedoch im Sinne des aktuellen Liebesroman-Schemas ausgebaut.
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egensatz zu den Fantasyheldinnen und -helden beruht ihr Agieren nicht auf G einem schicksalhaften Auserwähltsein bzw. auf übernatürlichen Fähigkeiten, sondern ist Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen, wobei ihre Selbstbestimmtheit dem dystopischen Schema entsprechend in starker Spannung zu der Fremdbestimmung in einem diktatorischen Regime steht. Auch die Handlung ist in vielen aktuellen Dystopien im aktuellen Abenteuerroman-Schema verankert und besteht über weite Strecken aus einer Abfolge von actionhaltigen Abenteuerepisoden, die zu den Handlungsschritten der klassischen Dystopie (Exposition, Widerstand, Niederschlagung des Widerstands) hinzukommen. Besonders augenfällig wird dies nach den Tributen von Panem vor allem in Endgame oder Die Verratenen, abgeschwächt auch in den anderen analysierten Dystopien des Korpus. Gegenläufig zur Tendenz der Marginalisierung des Dystopie-Schemas durch andere Schemata und innerhalb des jugendliterarischen Bezugssystems sind die offenen bzw. gemischten Enden der aktuellen jugendliterarischen Dystopien zu sehen, die den Texten im Vergleich zu klassischen Dystopien ein höheres utopisches Potential zuweisen.60 Während klassische Dystopien häufig mit dem Tod oder der psychischen Vernichtung der Protagonisten enden, deren Widerstand am Ende vom Staat niedergeschlagen wird,61 wird den rebellischen Jugendlichen die Möglichkeit zugestanden, sich teilweise als Subjekte ihres Handelns zu erleben und zu einer gewissen Verbesserung des Zustandes beizutragen, auch wenn diese Verbesserung mit einem hohen Preis, wie beispielsweise dem Tod vieler Gefährten oder der eigenen Traumatisierung (wie in Tribute von Panem), verbunden ist bzw. in eine utopische Zukunft ausgelagert wird (wie in Amor oder Godspeed). In Bezug auf die Erzählverfahren lassen sich auch in neueren jugendliterarischen Dystopien ähnliche Tendenzen der Literarisierung wie im erwachsenenliterarischen Bereich feststellen, darunter mehrsträngige Handlungsverläufe, unzuverlässige Ich-Perspektiven und wechselnde Fokalisierungsfiguren. Unzuverlässige Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzähler finden sich nach den Tributen von Panem beispielsweise auch in Godspeed, Amor, Gelöscht und Die Verratenen, wechselnde Fokalisierungsfiguren und Handlungsverläufe in Godspeed, Endgame und Amor.
60Vgl. z. B. Glasenapp 2013, S. 83; Rank 2014, S. 8; Kalbermatten 2016, S. 163 oder Basu/ Broad/Hintz 2013, S. 3. Dass auch klassische Dystopien einen utopischen Impuls enthalten, wurde oben dargelegt. 61Vgl. z. B. Meyer 2001, S. 98 und Zeißler 2008, S. 30 und 218.
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Neben der Einweltenstruktur und der klassischen Gegenüberstellung von Individuum und totalitärem System sind also die Zurückdrängung des dystopischen Warncharakters zugunsten einer actionhaltigen Abenteuergeschichte und gegenläufig dazu die offenen und gemischten Enden mit ihrem utopischen Potential sowie die im Vergleich zu klassischen erwachsenenliterarischen Dystopien komplexeren Erzählverfahren typische Merkmale des aktuellen Dystopie-Schemas.
4.2.2 Das Liebesroman-Schema Mit dem Erfolg von Stephenie Meyers Twilight-Büchern etabliert sich das Liebesroman-Schema als ein zentrales Genre-Schema in der aktuellen seriellen Jugendliteratur. Ausgehend von einer Theorie der paradigmatischen Serialität kann gezeigt werden, dass Meyers Kombination von Liebesroman-, Abenteuerund fantastischem Schema in der Folge häufig reproduziert und variiert wird und verlagsprogrammatisch das Subgenre Romantic Fantasy in der Jugendliteratur begründet.62 Der vierbändige Twilight-Zyklus der amerikanischen Autorin Stephenie Meyer gilt nach Harry Potter als das erfolgreichste Jugendbuchphänomen der Gegenwart. Exakte Verkaufszahlen zu eruieren ist schwierig, aber verschiedenen Quellen zufolge wurden bis 2010 weltweit über 100 Millionen Bücher verkauft, in Deutschland laut Auskunft des C arlsen-Verlages allein 8,5 Millionen.63 In der deutschsprachigen Forschungstradition ist der unter Trivialverdacht stehende Liebesroman keine spezifisch jugendliterarische Gattung und taucht als Gattungsbegriff in Lexika, Handbüchern oder Bibliographien nicht auf, obwohl das Thema Liebe und Sexualität, wie Hans-Heino Ewers in einem Überblicksartikel über Erste Liebe und Sexualität in der Jugendliteratur der Gegenwart festgehalten hat, seit den späten 70er-Jahren in der Jugendliteratur prominent vertreten ist.64 Das Thema Liebe und Sexualität wird auch in neueren Publikationen
62Auf
der Romantic Fantasy-Bücherliste der Buchplattform Lovelybooks finden sich neben den Twilight-Bänden beispielsweise auch die Bände der Edelstein-Trilogie von Kerstin Gier, der Ewiglich-Trilogie von Brodi Ashton, der Nach dem Sommer-Trilogie von Maggie Stiefvater oder der Evermore-Serie von Alyson Noël. 63Vgl. https://www.carlsen.de/sites/default/files/Pressemappe%20Stephenie%20Meyer.pdf [12.07.2020] oder Grossman 2009 [17.11.2015]. 64Vgl. Ewers 2013b, S. 233.
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vor allem unter die Gattung des Mädchenbuchs subsumiert.65 Ewers dagegen plädiert für einen Erste-Liebe-Roman als Gattung der modernen Jugendliteratur, der seit den 1970er-Jahren und verstärkt seit den 1990er-Jahren in unterschiedlichen Ausprägungen vorliege und „in Beschränkung zumeist auf den einschlägigen Lebensabschnitt seiner Charaktere – vom Zustandekommen einer Liebesbeziehung, von deren Vollzug bis hin zur sexuellen Vereinigung und von der anschließenden Wiederauflösung der Beziehung und Trennung der Partner“ handle.66 Kennzeichnend für viele neuere Erste-Liebe-Romane ist Ewers zufolge ein „pornografischer Stil“, der explizit und z.T. derb über sexuelles Begehren und sexuelle Handlungen spricht.67 Von diesem für den Erste-Liebe-Roman typischen Handlungsverlauf und Stil unterscheidet sich das Liebesroman-Schema, wie es für die serielle Jugendliteratur von Twilight geprägt wurde, wie zu zeigen sein wird, in mehrfacher Hinsicht. In der amerikanischen Jugendliteraturforschung, in der im Umgang mit populärer Literatur und populären Genres eine andere Tradition herrscht, werden die Anfänge des amerikanischen Liebesromans für Jugendliche auf die 1950er-Jahre datiert, auf die nach einer Hochphase des problemorientierten Jugendromans in den 1970er-Jahren in den 1980er-Jahren mit einer Reihe an Liebesromanserien ein erster großer Aufschwung erfolgt.68 Cole nennt für die 80er-Jahre 39 Liebesromanserien, von denen jedoch einzig die Sweet Valley High-Serie durch die Ausstrahlung ihrer TV-Fassung Ende der 1990er-Jahre in Deutschland einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Die rund 150 Bände umfassende Buchvorlage wurde jedoch nicht ins Deutsche übersetzt. Allerdings existieren zwei TV-Romane zur Serie, so genannte Verbuchungen, wie sie in den 1990er-Jahren weit verbreitet waren, danach jedoch wieder an Bedeutung
65Vgl.
das Kapitel Das aktuelle Mädchenbuch von Anita Schilcher in dem von Günter Lange herausgegebenen Handbuch Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart (Schilcher 2011) oder das von Dagmar Grenz verfasste Kapitel zur aktuellen Mädchenliteratur sowie Gisela Wilkendings Ausführungen zu Mädchenliebesromanen in der Zeit von 1870 bis 1914 in Reiner Wilds Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (Grenz 2008, Wilkending 2008a). 66Ewers 2013b, S. 240 f. Als Beispiele nennt Ewers z. B. Forever (1975) von Judy Blume, In the Deep End (1997; dt. Im Tiefen 2001) von Kate Cann, Melvin Burgess’ Doing it (2003, dt. 2004), Relax (1997) von Alexa Henning von Lange oder Mirjam Münteferings Flug ins Apricot (2008) als Beispiel für einen gleichgeschlechtlichen Erste-Liebe-Roman. 67Vgl. Ewers 2013b, S. 236–239. 68Vgl. Cart 2011, S. 37–41 und Cole 2009, S. 164 f.
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verloren haben.69 Einen zweiten Aufschwung erfährt der amerikanische jugendliterarische Liebesroman in den 2000-er Jahren, für die Cole allein 35 populäre Serien nennt, darunter auch Titel, die in die Kategorie der Chick Lit für Jugendliche fallen.70 Da die Chick Lit und der mit ihr in Zusammenhang stehende Postfeminismus Einfluss auf die aktuelle serielle Jugendliteratur haben (Abschnitte 4.3.1 und 4.3.3), wird im Folgenden in der notwendigen Ausführlichkeit auf dieses Genre und dessen Rezeption innerhalb eines postfeministischen Diskurses eingegangen: Als Ursprung der Chick Lit für Erwachsene wird einhellig auf Helen Fieldings Roman Bridget Jones’s Diary (1996) verwiesen, in dessen Nachfolge sich zunächst vor allem in Großbritannien und den USA ein Genre entwickelte, das sich speziell an junge Frauen, sogenannte Chicks, richtet. Neben Büchern, für die die Verlage eigene Reihen (Imprints) gründen, sind Zeitschriften, TV-Serien wie die auf einem Roman von Candace Bushnell basierende amerikanische Serie Sex and the City (ab 1998), die als zweite wichtige Quelle des Genres angesehen wird, Kinofilme und Internetplattformen Teil des kommerziell überaus erfolgreichen populärkulturellen Phänomens, das mit Einnahmen von 71 Millionen US-Dollar im Jahr 2002 auch als „commercial tsunami“71 bezeichnet wurde. Zu diesem ökonomischen Aspekt gehört auch eine Marketingstrategie, die mit einer eindeutig identifizierbaren Covergestaltung, die häufig mit Pastellfarben, cartoonähnlichen Illustrationen, der Darstellung von Konsumobjekten und einer speziellen, auf die Werbung verweisenden Typographie arbeitet und zur Konstitution des Genres beiträgt.72 Die deutschsprachige Chick Lit entsteht, wie Annette Peitz in ihrer Untersuchung zeigt, unter unmittelbarem angloamerikanischen Einfluss, der sich in expliziten intertextuellen Verweisen und einer Übertragung von Narrationsmustern und -strategien zeige.73 Als ersten
69Vgl.
Pascal 1997 und 1999. Zu Verbuchungen vgl. z. B. Bischof/Heidtmann 2003. Zur Sweet Valley High-Serie vgl. Pattee 2011. 70Vgl. Cole 2009, S. 167 f. Mit unterschiedlichen Ausprägungen des aktuellen amerikanischen jugendliterarischen Liebesromans beschäftigt sich Cart 2011. 71Zernike, zit. n. Ferriss/Young 2006, S. 2. Einführungen in die Chick Lit bieten der Sammelband von Ferriss/Young 2006, Montoro 2012 und Peitz 2010. 72Vgl. Montoro 2012, S. 3. 73Vgl. Peitz 2010, S. 15. Die Chick Lit ist mittlerweile ein globales Phänomen. Ferriss/ Young 2006 (S. 6) erwähnen indonesische und ungarische Versionen der Chick Lit.
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deutschsprachigen Chick Lit-Roman identifiziert Peitz Mondscheintarif (1999) von Ildikó von Kürthy, als weitere Autorinnen nennt sie beispielsweise Anette Göttlicher, Karin Rübesamen, Anke Greifeneder und Susanne Leinemann, wobei weder die Autorinnen noch die Verlage in Deutschland auf den Begriff der Chick Lit zurückgreifen und eine Genrezuordnung allein aufgrund thematischer und narrativer Aspekte erfolgen kann.74 Aufgrund der weiblichen Zielgruppe, der inhaltlichen Thematik und der Geschlechterdarstellung wird die Chick Lit als Weiterentwicklung bzw. aktuelle Ausprägung des Liebesromans diskutiert.75 Im Mittelpunkt der Romane steht in der Regel eine junge Frau zwischen 20 und 30 Jahren, die in einem großstädtischen, konsumorientierten Umfeld lebt und arbeitet und deren Auseinandersetzung mit dem eigenen unvollkommenen Aussehen und deren Suche nach dem perfekten Mann in einem humorvollen Ton erzählt werden. In ihrem Vergleich zwischen Chick Lit- und traditionellen Liebesromanen kommen Gill und Herdieckerhoff zu dem Schluss, dass eine klare Kontinuität zwischen den Gattungen bestehe, die sich im romantischen Liebesplot und der Geschlechterdarstellung äußere. Zwar seien die Heldinnen der Chick Lit im Gegensatz zu den Protagonistinnen des klassischen, von den Verlagen Harlequin und Mills & Boon herausgegebenen Liebesromans finanziell unabhängig, berufstätig und sexuell selbstbestimmt, dennoch hänge ihr persönliches Glück letztlich vom Auffinden des perfekten Mannes und von dessen Errettung aus einem in der Regel als unbefriedigend geschilderten Arbeitsleben und Singledasein ab.76 Das Genre der Chick Lit wird von der feministischen Kritik in der Tradition der Neuen Frauenbewegung der 1960er-Jahre, die darin eine Neuauflage des traditionellen Liebesromans in modernem Gewand sieht, scharf kritisiert und abgelehnt, während die
74In
ihrer Bibliographie deutschsprachiger Chick Lit führt Peitz 39 Romane an, was deutlich macht, dass die Produktion von deutschsprachigen Autorinnen wesentlich weniger umfangreich ist als diejenige von amerikanischen und britischen Autorinnen, deren Übersetzungen auch den deutschen Markt beherrschen. In Deutschland erfolgreiche englischsprachige Autorinnen sind neben Helen Fielding beispielsweise Sophie Kinsella (Shopaholic-Serie), Plum Sykes (Park Avenue Prinzessinnen; orig. Bergdorf Blondes) oder Lauren Weisberger (Der Teufel trägt Prada) (vgl. z. B. Cart 2011, S. 83 und Cole 2009, S. 168). 75Vgl. v. a. Gill/Herdieckerhoff 2006 und Montoro 2012. 76Vgl. Gill/Herdieckerhoff 2006. Den Schlussfolgerungen liegt eine Analyse von 20 zwischen 1997 und 2005 erschienenen Chick Lit-Romanen zugrunde.
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sogenannte postfeministische Kritik zu einer wohlwollenderen Beurteilung des Genres gelangt.77 Der postfeministische Diskurs bringt seit den 1980er-Jahren ein neues Verhältnis zwischen Populärkultur und Feminismus zum Ausdruck, nachdem der Feminismus der 60er- und 70er-Jahre die Populärkultur und ihre Erzeugnisse als ideologisches und die bestehenden Ungleichheiten reproduzierendes System ablehnte.78 Dabei stellt das, was heute in akademischen, politischgesellschaftlichen und populärkulturellen Kontexten als Postfeminismus gefasst wird, kein einheitliches Phänomen dar, sondern besteht aus unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Strömungen und Diskursen, die teils beschreibend, teils wertend sind. Im populärkulturellen Kontext dient der Begriff zur Beschreibung weiblicher Charaktere wie den Sängerinnen der in den 90erJahren sehr erfolgreichen britischen Popband der Spice Girls, den TV-Heldinnen der amerikanischen Serie Sex and the City oder den Protagonistinnen der Chick Lit in der Nachfolge von Helen Fieldings Roman Bridget Jones.79 Gemeinsam ist diesen Charakteren eine selbstbewusste Darstellung von Weiblichkeit und weiblicher Sexualität, die in einer individualistischen Rhetorik mit Begrifflichkeiten wie Wahlfreiheit, Selbstbestimmung, weibliche (sexuelle) Ermächtigung (empowerment) oder dem durch die Spice Girls geprägten Girl Power offensiv zum Ausdruck gebracht wird. Dieses neue postfeminine Subjekt stellt sich im Sinne postmoderner Theorien als in sich widersprüchliches Konstrukt dar, das in einem aktiv-passiven Verhältnis zur populären Konsumkultur steht, da es einerseits Teil dieser Kultur ist und von dieser hervorgebracht wird und andererseits vorgibt, selbstbestimmt und kreativ in dieser Kultur zu agieren. Damit wird die Ambivalenz als eine dem postfemininen Diskurs inhärente deklariert: „We argue that the most challenging representations of postfeminist subjectivity depict the double bind of consumption and the struggle of a ‚free-yet-bounded‘ self who is both subject and object, active and passive, complicit and defiant“.80 Im Genre der Chick Lit stellt sich die Widersprüchlichkeit des postfeministischen
77Zur
feministischen Kritik an der Chick Lit vgl. z. B. McRobbie 2010, S. 31–46; Whelehan 2000, S. 138 und Whelehan 2005, S. 186. 78Einen informierten Überblick über verschiedene postfeministische Diskurse und Strömungen stellen Genz/Brabon 2009 dar. Vgl. im Überblick auch Tasker/Negra 2007 und Volkmann 2011. 79Vgl. Genz/Brabon 2009, v. a. S. 5 und S. 18–27. Auch Gill/Herdieckerhoff 2006 diskutieren die Chick Lit im Rahmen des postfeministischen Diskurses. 80Genz/Brabon 2009, S. 27.
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Subjekts als ein Nebeneinander von feministischen Werten wie dem Wunsch nach Selbstständigkeit, Erfolg im Beruf und sexueller Freiheit einerseits und dem romantischen Wunsch nach einer dauerhaften heterosexuellen Partnerschaft mit Happy Ending andererseits dar. Diese Ambivalenz wird als Ausdruck eines authentischen weiblichen Bildes von heutigen Frauen verstanden: Festzuhalten bleibt jedoch, dass CL [Chick Lit] ein durchaus repräsentatives Bild der Frauen, ihres Selbstverständnisses und ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft aufzeigt und frauenrelevante Fragestellungen in die Mitte der Gesellschaft rückt. Dass ein umfassendes Bild der Lebenssituation junger Frauen um die Jahrtausendwende gezeigt wird, indem nicht verheimlicht wird, dass die Selbstverwirklichungswünsche der Frau sich nicht nur auf ihre Karrieren beziehen, sondern die ‚private sphere‘ innerhalb des weiblichen Lebensentwurfes und die jeweiligen Glücksauffassungen eine große Rolle spielen, ist als deutlicher Fortschritt innerhalb der Frauenbewegung zu sehen.81
Und genau an dieser Interpretation des ambivalenten Frauenbildes setzt die feministische Kritik an, die dem Postfeminismus seinen kommerziellen, a-politischen, fetischistischen und individualistischen Charakter vorwirft, der letztlich patriarchalische Machtstrukturen eher befördere als abbaue, da er einen scheinbar „neuen“ Feminismus breitenwirksam propagiere und ihm zugleich jegliches kritische Potential raube.82 Ähnlich wie die in der vorliegenden Studie untersuchte serielle Jugendliteratur entfaltet die Chick Lit eine hohe Produktivität, indem sie sich in unterschiedliche Subgenres ausdifferenziert und so immer neue Texte hervorbringt. Ihre Variationsvariable ist hierbei die Figur der Protagonistin und die der intendierten Leserin, deren Alter, Ethnie und Herkunft variieren. Dadurch bilden sich Subgenres aus, wie die Chick Lit Jr. oder Young Adult Chick Lit für Jugendliche, die Mommy Lit für Frauen zwischen 30 und 40, die Hen Lit für Frauen ab 40, die Ethnick Lit in Form der afroamerikanischen Sistah Lit oder der hispanoamerikanische Chica Lit und als Gegenbewegung die Lad Lit für Männer, wobei es sich bei all diesen Subgenres ähnlich wie im Bereich der Subgenres der Fantasy um verlagsprogrammatische, zielgruppenorientierte und nicht um literaturwissenschaftliche Kategorien handelt.83
81Peitz
2010, S. 248. Auch Gill/Herdieckerhoff 2006, Ferriss/Young 2006 und Genz/ Brabon 2009 heben die Widersprüchlichkeit des Frauenbildes in der Chick Lit hervor. 82Vgl. z. B. Whelehan 2005 oder McRobbie 2010. 83Vgl. Ferriss/Young, S. 5–7. Weitere Subgenres nennt Montoro 2012, S. 13.
100
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Dem Variationsmechanismus entsprechend lässt sich die Chick Lit für Jugendliche über ihre Protagonistinnen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren bestimmen, die ihrem Alter gemäß erste Erfahrungen mit Liebe und Sexualität machen und sich genauso intensiv mit den Themen Mode, Aussehen und Konsum beschäftigen wie ihre erwachsenen Schwestern.84 Bislang hat sich jedoch weder die deutsche noch die englischsprachige KJL-Forschung intensiv mit dem Phänomen der Chick Lit für Jugendliche auseinandergesetzt, so dass abgesehen von der oberflächlichen Bestimmung der Romane über das Alter der Protagonistinnen und sich hieraus ergebenden Themen nicht geklärt ist, wie sich die Chick Lit für Jugendliche zu anderen jugendliterarischen Genres wie dem Liebesroman für den englischsprachigen Bereich oder dem Mädchen- und Adoleszenzroman für den deutschsprachigen Bereich verhält.85 Ähnlich wie im Erwachsenensektor dominieren auch im Jugendbuchbereich Übersetzungen von englischen oder amerikanischen Autorinnen wie Meg Cabot (Prinzessin Mia-Serie), Cecily van Ziegesar (Gossip Girl-Serie) oder Louise Rennison (Georgia Nicolson-Serie) den Markt. Thematische Ähnlichkeiten mit der angloamerikanischen Chick Lit für Jugendliche, die sich auch in einheitlichen Covergestaltungen niederschlagen, und eine ähnliche Zielgruppenorientierung weisen im deutschsprachigen Raum Jugendromane von Autorinnen wie Kerstin Gier oder Gabriella Engelmann sowie Mädchenbücher verschiedener Imprints wie Pink (Oetinger) oder Freche-Mädchen-Bücher (Thienemann) auf.86 Diese populären Mädchenbücher oder Liebesromane sind von der KJL-Forschung und hier von den Forschungen zum Mädchenbuch bislang nicht wahrgenommen werden. Aufgrund der zahlreichen Übersetzungen von englischsprachigen Chick Lit- oder Liebesromanen ins Deutsche seit Ende der 1990-er Jahre lässt sich vermuten, dass sich auch die Jugendliteratur in diesem Bereich stark an ihre angloamerikanischen Vorbilder anlehnt. Im Liebesroman-Schema der aktuellen
84Webb
Johnson führt den Begriff der Chick Lit Jr. ein, der sich auch auf der Literaturplattform Goodreads als Ordnungsbegriff wiederfindet und der bspw. auch von Montoro aufgegriffen wird (vgl. Webb Johnson 2006 und Montoro 2012, S. 13). 85Kritiker wie Cole oder Cart subsumieren die Chick Lit für Jugendliche unter den jugendliterarischen Liebesroman, wobei bei Cart die Grenzen zwischen jugendliterarischen und erwachsenenliterarischen Texten des Genres verwischen. Cole verwendet verschiedene Begrifflichkeiten wie „Romance“, „Romantic Comedy“ und „Chick Lit“ wenig trennscharf (vgl. Cole 2009, S. 163–194 und Cart 2012, S. 89–95). 86Die Webseite der Freche-Mädchen-Bücher-Reihe listete 2014 allein 20 Serien auf.
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
101
seriellen Jugendliteratur lassen sich, was die Darstellung der Geschlechterrollen und die Covergestaltung anbelangt, bei Autorinnen wie Stephenie Meyer, Kerstin Gier oder Alexandra Pilz Einflüsse der Chick Lit vermuten. Das Liebesroman-Schema von Twilight und seinen Nachfolgern stellt eine Variation der Grundstruktur von Liebesromanen dar, wie sie in der Literatur seit Mitte des 18. Jahrhunderts auftritt, und lässt sich durch sechs Aspekte auf der Ebene des Inhalts sowie der Erzählverfahren charakterisieren: (1) Grundstruktur als Liebe mit massiven Hindernissen, (2) Dreiecksgeschichte, (3) Verknüpfung mit dem Abenteuerroman-Schema und dem fantastischen Schema, (4) Aufschieben der endgültigen Vereinigung und Serialität, (5) romantische Liebe unter dem Vorzeichen des ersten Mals, (6) weibliche Perspektive und Geschlechterdarstellung unter dem Einfluss der Chick Lit. Die Grundstruktur des Handlungsverlaufs folgt dem klassischen LiebesromanSchema mit den Handlungsschritten Begegnung und gegenseitiges Verlieben, aus dem Weg zu räumenden Hindernissen und der letztendlichen Vereinigung der Liebenden.87 Regis’ Analyse des Liebesromans, die von der dreiteiligen Grundstruktur ausgeht, führt acht obligatorische Elemente auf, die sich alle in zum Teil leicht variierter Form auch im Liebesroman der aktuellen seriellen Jugendliteratur finden: die Definition der Gesellschaft, in der die Liebenden leben (im Jugendroman in der Regel als fantastisches oder dystopisches Setting), die Begegnung,
87Eine Übersicht über Studien zum Liebesroman, die im Kontext der Trivialliteraturforschung der 60er- und 70er-Jahre entstanden sind, findet sich bei Nusser 1991, S. 107–109. Zur Struktur des Liebesromans vgl. auch Zimmermann 1982, S. 70–83. Einschlägige Studien zum Liebesroman aus dem angloamerikanischen Raum bzw. zu angloamerikanischen romances sind Frye 1976, Modleski 1982, Radway 1984, Regis 2003, Linke 2003 und Gill 2007 (Kapitel 7 zur postfeminist romance). Auch bei Cawelti 1976 und Gelder 2004 findet der Liebesroman Beachtung. Der Beginn der Gattungsgeschichte des Liebesromans wird i.d.R. mit Samuel Richardsons Pamela (1740) angesetzt (vgl. Regis 2003, S. 63 ff. oder Nusser 1991, S. 58 f.). In der germanistischen Forschung der letzten drei Jahrzehnte, die Beispiele der Populärliteratur ausklammert, steht weniger die gattungstypologische Betrachtungsweise im Fokus als die kulturwissenschaftliche und diskursanalytische Erforschung von unterschiedlichen historischen Liebeskonzeptionen und Liebescodes, deren Ausgangspunkt Luhmanns einschlägige Studie Liebe als Passion darstellt, in der Luhmann den Liebescode einer Epoche als Kommunikationsmedium bestimmt, der die Darstellung der Gefühle und der jeweiligen Liebesbeziehung organisiert (vgl. Luhmann 1982). Einen Forschungsüberblick gibt Metz 2012, S. 7–18. Interessant wäre es, Verbindungen zwischen Luhmanns soziologisch und kommunikationstheoretisch geprägtem Codebegriff und dem Schemabegriff genauer herauszuarbeiten.
102
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
das Hindernis, die gegenseitige Anziehung, das Liebesgeständnis, der Tiefpunkt, in dem die Liebe absolut unmöglich erscheint, die Beseitigung des Hindernisses und die Verlobung bzw. die Vereinigung.88 Die äußeren und inneren Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen, sind in der seriellen Jugendliteratur in der Regel dem fantastischen oder dystopischen Setting geschuldet, das heißt der Gesellschaft bzw. der Weltordnung, in der die Liebenden leben. Diese Hindernisse stellen dabei nicht nur die Verknüpfung zu den fantastischen Schemata, sondern auch zum Abenteuerroman-Schema dar, da das Leben und die Liebe der Protagonisten auch durch äußere Gefahren bedroht werden, die abgewendet und bekämpft werden müssen. An dieser Gelenkstelle zwischen Liebesromanund Abenteuerroman-Schema ist das Motiv der gegenseitigen körperlichen oder seelischen (Er-)Rettung angesiedelt. Ein häufig auftretendes Motiv bzw. Hindernis, das nicht auf das fantastische oder dystopische Setting verweist, ist überdies die Dreiecksliebe. Die in den Romanen auftretenden Hindernisse – in der Regel handelt es sich nicht um ein einzelnes Hindernis – sind so massiv, dass die Vereinigung der Liebenden ständig, also bis zum Abschluss des Zyklus, aufgeschoben wird. Während in allen Texten des Textkorpus einzelne Elemente des Liebesromans zu finden sind, bestimmt in den in Abschnitt 4.3 besprochenen Werken das Liebesroman-Schema die syntagmatische Serialität und liefert den über alle Bände hinwegreichenden Handlungsbogen, der für die aktuellen Zyklen charakteristisch ist. Es ist also die Frage, ob die Liebenden letztlich zusammenfinden, über die die Spannung für den Leser über mehrere Bände hinweg aufrechterhalten wird. Mit der Aufschiebung der Vereinigung in Zusammenhang steht in den Romanen die Aussparung sexueller Handlungen – hierin liegt einer der Hauptunterschiede zwischen diesen Texten und den von Ewers so betitelten Erste-Liebe-Romanen. Auch hier scheint Twilight genrebildend gewirkt zu haben, da die Moral der Enthaltsamkeit, die Sex vor der Ehe bis auf das Austauschen von harmlosen Zärtlichkeiten ausschließt, sowie der damit verbundene erzählerische Fokus auf der erotischen Spannung in Folgetexten vielfach reproduziert wird; Christine Seifert spricht hier von dem jugendliterarischen Genre des abstinence porn, das in jüngster Zeit zur Herausbildung eines „Gegen-Genres“ geführt hat,
88Vgl.
Regis 2003, S. 30–38. Regis setzt sich mit ihrer ahistorischen und allgemeingültigen Definition des Liebesromans, die sie an Beispieltexten des 18. bis Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt (darunter auch popular romances der Verlage Mills & Boon sowie Harlequin), von Schemadefinitionen mit geringerer Reichweite ab. Ihre Definition ist als Grundstruktur von Liebesromanen zu verstehen, die jedoch in der Geschichte des Liebesromans in unterschiedlichen Ausprägungen aktualisiert wird.
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
103
dem von Kritikern in den USA so betitelten New Adult-Genre, das sich explizit von den Liebesromanen in der Nachfolge von Twilight absetzt.89 Während in den von Ewers besprochenen Erste-Liebe-Romanen häufig reelle Liebesbeziehungen mit allen Problemen und Ängsten, die mit der ersten Liebe verbunden sind, erzählt werden, wird in den seriellen Jugendromanen in der Nachfolge von Twilight das Ideal der „romantischen“ und idealisierten Liebe propagiert.90 Neben der breiten Darstellung von Liebeskummer, der aus dem Auftauchen verschiedenster Hindernisse resultiert, liegt der erzählerische Fokus auf dem Ausmalen von Sehnsüchten und der unerfüllten sexuellen Begierde. Außerdem spiegelt sich das Ideal der „romantischen“ Liebe in Motiven wie der Liebe auf den ersten Blick, der ersten (wahren) Liebe oder der ewigen und schicksalhaften Liebe sowie dem Absolutheits- und Vollkommenheitsanspruch der Liebe wider.91 Als letzter Aspekt des Liebesroman-Schemas in der aktuellen seriellen Jugendliteratur sei die überwiegend weibliche Perspektive genannt, aus denen in den besprochenen Texten die Liebesgeschichte erzählt wird. Inwieweit Einflüsse der Chick Lit bei der Geschlechterdarstellung vorliegen, wird im Einzelfall diskutiert werden.
4.2.3 Das Krimi-Schema Das Erzählschema des Kriminalromans findet sich in unterschiedlicher Ausprägung als zentrales Gestaltungselement in zahlreichen aktuellen seriellen Jugendromanen. Während es in einzelnen Romanen wie zum Beispiel der Engelsfors-Trilogie als die Gesamtstruktur dominierendes und strukturierendes Schema eingesetzt wird, ist es in anderen Romanen nur ein Genre-Schema unter vielen. Der Kriminalroman galt bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts als integrationsresistente Gattung, die zwar unterschiedliche Spielarten wie den
89Seifert
2008. Zum New Adult-Genre vgl. Abschnitt 4.3.4. Der Genrebegriff wird bei New Adult und abstinence porn von Kritikern als Ordnungsbegriff für eine Textgruppe verwendet, um Gemeinsamkeiten der Texte und aktuelle Trends zu beschreiben. 90Vgl. Ewers 2013b, S. 241. 91Das Adjektiv „romantisch“ wird hier in seiner Alltagsbedeutung verwendet und die Schreibweise in Anführungszeichen signalisiert den Unterschied zu dem in der Forschung diskutierten Konstrukt der romantischen Liebe als spezifisch historischer Liebeskonzeption, die Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext der Epoche der Romantik entsteht. Vgl. zur romantischen Liebe z. B. Tyrell 1987, S. 570 ff.
104
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Detektivroman, den Thriller oder den Krimi im engeren Sinne ausbildete, sich jedoch nicht mit anderen Gattungen mischte.92 Mit der Erforschung der zeitgenössischen Kriminalliteratur zeigt sich jedoch, dass diese mit „verschiedenen Gesetzen der tradierten Kriminalliteratur“ bricht und dass das Erzählschema des Kriminalromans zum Beispiel „zu einem zentralen Gestaltungselement des postmodernen Romans geworden“93 ist. In Romanen wie Der Name der Rose (1980) von Umberto Eco, Das Parfum (1985) von Patrick Süßkind, Das Grau der Karolinen (1986) von Klaus Modick oder Der Vorleser (1995) von Bernhard Schlink wird das Krimi-Schema als „Trägersystem für ein Werk [benutzt], das im Grunde gar kein Kriminalroman sein will“94, wie es Ulrich Suerbaum formuliert. Ebenso verwenden skandinavische Jugendromane der 1990er-Jahre das KrimiSchema und dekonstruieren es, wie Svenja Blume gezeigt hat.95 In den aktuellen seriellen Jugendromanen findet ebenfalls ein flexibler Umgang mit dem KrimiSchema statt, das aus den engen Grenzen der Gattung befreit und mit anderen Schemata kombiniert wird. Das hier im Fokus stehende Krimi-Schema ist jedoch im Gegensatz zu den von Wilczek und Blume analysierten Texten, in denen die Aufklärung eines Falles oder eines Geheimnisses vor dem Hintergrund eines postmodernen Weltbildes zumindest problematisch wird, einem aufklärerischen Krimi-Verständnis verpflichtet.96 Im Mittelpunkt steht ein Verbrechen, ein Rätsel oder ein Geheimnis, das im Laufe der Geschichte aufgedeckt bzw. aufgelöst wird. In vielen Fällen findet kein Verbrechen im engeren Sinn statt, sondern das Rätsel
92Vgl. z. B. Nusser 2003, S. 15 und Wilczek 2007, S. 138. Wilczek verwendet den Begriff des (modernen) Kriminalromans als Oberbegriff für den Detektivroman, der die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens erzählt, den Thriller oder kriminalistischen Abenteuerroman, in dem das Action-Element zugunsten des Aufklärungselementes stärker betont wird, und den Kriminalroman im engeren Sinn, der die Geschichte eines Verbrechens erzählt. Wilczek folgt hierin der älteren Definition von Alewyn oder Lange (vgl. Wilczek 2007, S. 72). Eine ähnliche Systematik verwendet auch Suerbaum 1984. 93Wilczek 2007, S. 138 und S. 180. 94Suerbaum 2009, S. 445. 95Vgl. Blume 2006, S. 211–296. Svenja Blume verdanke ich auch den Hinweis auf die Kriminalromane von Zoran Drvenkar (Du bist zu schnell, Sorry und Du), die das KrimiSchema auf ähnliche Weise dekonstruieren. 96Auch viele Jugendkrimis beginnend mit Erich Kästners Emil und die Detektive (1929), der Fünf Freunde-Serie (1942–63) von Enid Blyton, Kalle Blomquist (1946–53) von Astrid Lindgren bis hin zu den Rico und Oskar-Romanen (2008–17) von Andreas Steinhöfel sind dem aufklärerischen Krimi-Modell verpflichtet. Vgl. zur jugendliterarischen Ausprägung des Kriminalromans Lange 2000b, Josting/Stenzel 2002 oder Stenzel 2011.
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105
bezieht sich auf Motive der Figuren, auf Hintergründe der Handlung, auf den Kausalzusammenhang der Handlung oder auf ein Geheimnis, das in Zusammenhang mit der Herkunft und Identität der Protagonisten steht. Ausgehend von dieser thematischen Ausweitung sind Verknüpfungen mit verschiedenen anderen Schemata problemlos möglich: mit dem Abenteuerroman-Schema, wenn das zu lösende Geheimnis zugleich eine Gefahrenquelle darstellt, die es wie in den Hollyhill-, Endgame- oder L ockwood-Romanen zu bekämpfen gilt, oder mit dem Liebesroman-Schema, wenn ein geheimnisvolles Hindernis der Vereinigung der Liebenden im Weg steht wie in der Göttlich- oder der Edelstein-Trilogie. Neben dieser inhaltlich-thematischen Dimension kommt das Rätsel in den Romanen auch auf der Ebene der Darstellung zum Tragen, wenn mithilfe von verschiedenen Erzählverfahren, wie dem gezielten Einstreuen von lösungsrelevanten Hinweisen (clues) oder dem Legen falscher Fährten, Spannung aufgebaut wird. Durch die Fokalisierung auf die Hauptperson(en) hat der Leser den gleichen defizitären Wissensstand wie diese und wird selbst zum Detektiv, der die Mosaiksteinchen zur Lösung des Rätsels zusammentragen muss.97 So weiß der Leser des zweiten Bandes der Tribute von Panem beispielsweise genauso wenig wie die Protagonistin Katniss von den Plänen für eine Rebellion, die die Personen in Katniss’ Umfeld schmieden.
4.2.4 Das Abenteuerroman-Schema Das Abenteuerroman-Schema ist in der aktuellen seriellen Jugendliteratur strukturell eng mit den anderen Schemata verknüpft. Es bestimmt maßgeblich die episodische Struktur vieler Romane und hat ebenfalls Einfluss auf die Figurenkonzeption. Seine Blütezeit hat der moderne neuzeitliche Abenteuerroman, dessen Gattungsgeschichte mit Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) beginnt, im 19. Jahrhundert mit Autoren wie James F. Cooper, Eugène Sue, Alexandre Dumas, Robert L. Stevenson und Karl May.98 Bereits mit Jules Vernes und Mark Twain im späten 19. Jahrhundert findet eine Verknüpfung des AbenteuerromanSchemas mit Science-Fiction-Elementen statt, wenn Fahrten zum Mittelpunkt
97Die
drei genannten Erzählverfahren führt auch Bergenthal bei ihrer Analyse der Harry Potter-Bände an (vgl. Bergenthal 2008, S. 221 f.). 98Zur Geschichte des Abenteuerromans vgl. z. B. Dunker 2009, Hügel 2003b und Klotz 1979.
106
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
der Erde, ins All oder durch die Zeit unternommen werden.99 Mit J. R. R. Tolkien beginnt die Übertragung des Abenteuerroman-Schemas in die Fantasy, in der es in eine mythische und archetypale narrative Form gekleidet wird.100 Auch unter den seit etwa 1900 in Deutschland weit verbreiteten, vor allem von Jugendlichen gelesenen Groschenheften befinden sich zahlreiche Abenteuerserien, wobei auch in diesem Format das Abenteuerroman-Schema nur selten in Reinform auftritt, sondern mit anderen Genres wie dem Kriminalroman, mit Militärgeschichten oder dem Liebesroman verknüpft wird. Die Popularisierung im Format des Heftromans, an dem sich der Schundkampf der Kaiserzeit entzündete, trägt wesentlich zur Abwertung des Abenteuerroman-Schemas bei.101 Im 20. Jahrhundert wird der Film und später das Fernsehen zum „ureigenen Feld“ der Abenteuergeschichten, die mit ihrer Betonung der äußeren Handlung im bewegten Bild ein geeignetes Medium finden und sich mit zunehmenden technischen und digitalen Möglichkeiten zum Genre des Actionfilms ausdifferenzieren.102 Im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur finden sich erst ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt Abenteuerromane, die eine jugendliche Figur ins Zentrum stellen, wobei eine Trennung zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur im Bereich des Abenteuerbuchs besonders schwierig ist, da viele der klassischen modernen Abenteuerromane unter Jugendlichen zahlreiche Leser fanden und finden.103 In der jüngeren Entwicklung des Abenteuerromans für Kinder- und Jugendliche verzeichnet Günter Lange in den 1970er- und 1980er-Jahren einen starken Rückgang zugunsten der Science-Fiction-Literatur und später der fantastischen Literatur, die das Abenteuerroman-Schema aufnehmen und variieren.104 Seit den 1990er-Jahren sind es insbesondere die
99Vgl.
Jules Vernes’ Romane Reise zum Mittelpunkt der Erde (orig. 1864), Von der Erde zum Mond (orig. 1865) und Reise um den Mond (orig. 1870) sowie Mark Twains Ein Yankee am Hofe des König Artus (orig. 1889). 100Vgl. Rüster 2013b, S. 285. Petzold bezeichnet Tolkiens Werke als Abenteuergeschichten (vgl. Petzold 1980, S. 102). 101Vgl. Maase 2012, S. 67 ff. und S. 48 102Vgl. Hügel 2003b, S. 97. 103Neben der nicht-intendierten Jugendlektüre finden sich in der Geschichte der Abenteuerliteratur auch zahlreiche Bearbeitungen klassischer Abenteuerbücher für Kinder- und Jugendliche (vgl. Baumgärtner/Launer 2000, S. 428). 104Vgl. Lange 2011b, S. 257.
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107
Fantasy105 und, wie am Beispiel der Tribute von Panem zu zeigen sein wird, auch die Dystopie für Kinder- und Jugendliche, in denen das Abenteuerroman-Schema die Handlungsstruktur und die Figurenzeichnung bestimmt. Das Erzählschema des modernen Abenteuerromans des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wie es unter anderem von Klotz, Ueding, Baumgärtner und Hügel herausgearbeitet wurde, fokussiert auf zwei Elemente: auf die Struktur des Abenteuers und auf die Figur des Abenteurers.106 Ein Abenteuer ist von der Wortbedeutung her ein Ereignis, das sich durch Unberechenbarkeit und Unabsehbarkeit auszeichnet.107 Es ist für denjenigen, der es erlebt, mit der Preisgabe des Gewohnten und Sicheren verbunden, weshalb das Abenteuer häufig mit einer Reise in unbekannte und exotische Welten verknüpft ist.108 Die Abenteuer dienen der „Versinnlichung“109 aller psychologischen Probleme, die in „Wahrnehmbares umgesetzt, […] in ein festes Repertoire an Stoffen, Motiven und Figuren [überführt werden]: Schiff und Schiffbruch, einsame Inseln, Naturgewalten, wilde Tiere und böse Menschen“.110 Als weitere strukturelle Merkmale des Abenteuers werden sein episodischer, mit Spannung verbundener Charakter und der gute und glückliche Ausgang hervorgehoben.111 Der Abenteurer ist Klotz zufolge eine totale Figur, „die vor allem mehr und anders sein [muss] als die Umwelt.“112 Neben speziellen Tugenden wie Mut, Einsatzbereitschaft und Härte hat er „Charisma“, eine spezielle Form der „Ausstrahlungskraft“, die aus einer besonderen „Gnadengabe“ hervorgeht.113
105Vgl.
Kalbermatten 2011, S. 8 f. informativer Forschungsüberblick findet sich bei Kalbermatten 2011, S. 13–55. 107So z. B. Klotz 1979, S. 14: Abenteuerromane „sind ausführliche Erzählungen, in denen der Held, letztlich erfolgreich, sich auf unabsehbare Ereignisse einlässt.“ Ueding und Baumgärtner betonen den Zusammenhang zwischen Abenteuer und Zufall bzw. Wagnis (vgl. Ueding 1973, S. 73 und Baumgärtner 1995, S. 1). Hügel benennt dagegen zwei Modellvorstellungen des Abenteurers: den allein ausziehenden Ritter, der das unvorhergesehene Abenteuer als Chance begreift, und den mittelalterlichen und früh-neuzeitlichen Kaufmann, der das Abenteuer unter dem Aspekt des Risikos und der Gewinnminimierung betrachtet (vgl. Hügel 2003b, S. 92). 108Vgl. Baumgärtner 1995, S. 1. 109Klotz 1979, S. 167. 110Dunker 2009, S. 1. 111Vgl. Dunker 2009, S. 2; Hügel 2003b, S. 92; Klotz 1979, S. 14 und Baumgärtner 1995, S. 1. 112Klotz 1979, S. 14. 113Ebd., S. 15. 106Ein
108
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Allerdings mangelt es ihm aufgrund der Versinnlichung der Welt des Abenteuerromans häufig an psychologischer Tiefe. Während Volker Klotz’ Definition des Abenteuerromans und des Abenteurers ahistorische und universelle Tendenzen aufweist und sowohl auf den modernen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts als auch auf seine antiken und mittelalterlichen Vorläufer angewandt werden kann, betonen Ueding und Hügel stärker, dass der Abenteurer kulturellen und historischen Wandlungen unterliegt.114 Mit der Charakterisierung der „Gnadengabe“ rückt Klotz den Abenteurer semantisch in die Nähe des antiken Helden, dessen Taten jedoch im Gegensatz zu denen des neuzeitlichen Abenteurers schicksalsgebunden sind.115 Der bürgerliche Abenteurer zeichnet sich dagegen durch eine „immer ausuferndere IchSetzung“, ein „gesteigerte[s] Selbst-Bewußtsein“, seine „Selbständigkeit“ und durch die Lust am Abenteuer aus.116 Als zentral für den Abenteurer des 19. Jahrhunderts wurde auch immer wieder seine spezifisch moderne Doppelrolle als Kritiker und Verfechter der eigenen Gesellschaft hervorgehoben, der durch seinen Aufbruch in die Fremde zwar die bürgerliche Ordnung und Sicherheit in Frage stelle, diese aber gleichzeitig durch seine bürgerlichen Tugenden und seine Überlegenheit auch bekräftige.117 Im Gegensatz zu Klotz erscheint es im Hinblick auf eine historische und kulturspezifische Bestimmung von Genreschemata sinnvoll, den antiken Helden genauso wie den mittelalterlichen Ritter als historische Vorläufer des bürgerlichen Abenteurers zu verstehen und die Unterschiede der verschiedenen Konzepte nicht zu verwischen. Wie am Beispiel von Katniss Everdeen aus Die Tribute von Panem zu plausibilisieren sein wird, können die Figuren der aktuellen seriellen Jugendliteratur weder dem Konzept des Abenteurers noch demjenigen des archaischen Helden eindeutig zugeordnet werden, sondern sind gleichzeitig in mehreren Schemata verankert (Abschnitt 4.4). Eindeutig ist an den Texten des Korpus jedoch die Verschiebung hin zu weiblichen Hauptfiguren, was für die
114Vgl. Ueding 1973, S. 68 und Hügel 2003b, S. 91. So bildet z. B. Eugène Sue in Frankreich ein eigenes Muster des Abenteuerromans aus, bei dem das Abenteuer nicht in der Ferne, sondern im asozialen und kriminellen Milieu der zeitgenössischen Großstadt stattfindet (vgl. Dunker 2009, S. 4 f.). Auch die mit Mark Twain beginnende sozialkritische Tendenz in der Abenteuerliteratur für Kinder und Jugendliche stellt eine spezifische Ausprägung des Schemas dar (vgl. Hügel 2003b, S. 94). 115Vgl. Abschnitt 4.2.1. 116Hügel 2003b, S. 92 f. 117Vgl. Ueding 1973, S. 81 und Hügel 2003b, S. 93 f.
4.2 Genre-Schemata in der seriellen Jugendliteratur: Eine Theorie …
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Abenteurerinnen in der KJL-Forschung bereits betont wurde.118 Das Abenteuerroman-Schema der aktuellen seriellen Jugendliteratur greift die episodische Handlungsstruktur des modernen Abenteuerromans auf, in der sich ein Abenteuer an das andere reiht, und reichert diese mit Actionelementen an. Diese Actioninszenierungen werden über filmästhetische Schreibweisen, die die Ästhetik des Actionfilms imitieren, umgesetzt. Die Ästhetik der Action, die im Film „durch Tricktechnik, schnelle Schnitte, rasante Kamerafahrten und Zooms“119 erzeugt wird, ist durch Geschwindigkeit und Bewegung gekennzeichnet und stellt in ihrer Dramaturgie Konflikte und Kämpfe in den Mittelpunkt, bei denen „Gewalt […] sowohl das zu überwindende Problem als auch das Mittel zu dessen narrativer Lösung“120 darstellt. In der aktuellen seriellen Jugendliteratur finden sich zahlreiche Kampfszenen, in denen Spannung und Dynamik auf einer äußeren, auf die Handlung bezogenen Ebene sowie auf einer mikroskopischen, auf die Episode bezogenen Ebene erzeugt werden.121 Die einzelnen Abenteuer- bzw. Actionepisoden sind nach dem Prinzip der Variation durch Steigerung angeordnet, wie im Folgenden am Beispiel von Twilight und der Göttlich-Trilogie gezeigt werden wird (Abschnitte 4.3.1 und 4.3.2), in denen die Bedrohung, die häufig in der Figur eines oder mehrerer Antagonisten personifiziert ist, von Band zu Band zunimmt.122 Ohne in der Figur des Abenteurers gänzlich aufzugehen, ist für die Protagonistinnen und Protagonisten der aktuellen seriellen Jugendliteratur das Erleben von Abenteuern und die Abwendung von Bedrohungen häufig mit dem Verlassen der Heimat und des Vertrauten verbunden. Damit verknüpft ist das Motiv der Reise, sei es die Reise in eine fantastische Sekundärwelt, die Zeitreise, die Reise zu anderen Planeten oder in andere Bezirke einer postapokalyptischen Welt, die alle die Funktion haben, die bedrohte oder gestörte Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Dabei verlaufen die Fronten zwischen
118Vgl.
Kalbermatten 2011. 2003, S. 99. 120Ebd. Tasker versteht Action weniger als Genre, sondern als Modus, der in unterschiedlichen Genres wie Krimi, Western, Science-Fiction, Fantasy, Horror oder Kriegsfilm stattfindet (vgl. ebd., S. 100). 121Die erzählerischen Verfahren der Spannungserzeugung lassen sich auf der semantischen und syntaktischen Ebene sowie auf der Ebene der Raum- und Zeitgestaltung und der Fokalisierung nachweisen. Vgl. zu Actioninszenierungen in der modernen KJL am Beispiel der Artemis Fowl-Romane von E. Colfer Prestel 2011, v. a. S. 171–234. 122Zum Prinzip der Variation durch Steigerung vgl. J ahn-Sudmann/Kelleter 2012. 119Tasker
110
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dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Gut und Böse, relativ eindeutig, was narrativ in einem auf ein gutes Ende hin angelegten Plot zum Ausdruck kommt.123 Dass in den Fantasyromanen dabei die Weltrettung im Vordergrund steht und weniger die Selbstbehauptung der Abenteurerin oder des Abenteurers, die aufgrund der übernatürlichen Fähigkeiten der Figuren nie wirklich bedroht ist, zeigt, dass in diesem Punkt das Abenteuerroman-Schema hinter das FantasySchema zurücktritt. Gleichzeitig wird der epische Gehalt der Fantasy durch die Verknüpfung mit dem Abenteuerroman-Schema und anderen Schemata abgeschwächt (Abschnitt 4.2.1). Auch Dystopie- und Abenteuerroman-Schema sind in den aktuellen seriellen Jugendromanen strukturell eng miteinander verbunden, sowohl was die Handlungsführung als auch die Figurengestaltung anbelangt (Abschnitt 4.2.1). Eine Verbindung zum Liebesroman-Schema wird an den Stellen ersichtlich, an denen die Liebe der Protagonisten durch äußere Gefahren bedroht ist, die abgewendet werden müssen (Abschnitt 4.2.2). Über das Motiv der Reise ist das Abenteuerroman-Schema in den Jugendromanen mit dem Adoleszenzroman verknüpft, da die abenteuerliche Reise zugleich den Weg des Erwachsenwerdens und der Ich-Findung verkörpert. Häufig findet außerdem eine Kombination mit dem Krimi-Schema statt, wenn das erlebte Abenteuer in eine Rätselstruktur integriert wird, bei der der gute Ausgang des Abenteuers mit dem Lösen des Rätsels einhergeht (Abschnitt 4.2.3).
4.3 Genre-Schemata am Beispiel (I): Liebesromane in der Nachfolge von Twilight 4.3.1 Genre-Schemata in Twilight Dominierend und strukturbestimmend ist in Twilight das Liebesroman-Schema. Die Hindernisse, die einer Vereinigung von Bella und Edward entgegenstehen, resultieren aus dem Vampirsein von Edward und der darauf beruhenden Spannung zwischen Mensch und Vampir. Edward stellt für Bella trotz seiner enthaltsamen Ernährungsweise durch tierisches Blut eine ständige Gefahr dar, da der Duft ihres Blutes auf ihn eine besondere Anziehungskraft ausübt und er seinen Jagdtrieb nur schwer unter Kontrolle halten kann. In Edwards Vampirsein
123Zu strukturellen Verschränkungen zwischen Gut und Böse bzw. zwischen Eigenem und Fremdem unterhalb der Textoberfläche vgl. Schlachter 2013b, S. 155 f.
4.3 Genre-Schemata am BeispieI (I): Liebesromane in der Nachfolge …
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sind somit Liebesroman-Schema, Abenteuerroman-Schema und F antasy-Schema verbunden. Das Hindernis ihrer unterschiedlichen Wesensart ist zugleich eine Gefahr, die (von Edward selbst) bekämpft werden muss. Andererseits erhöht diese Gefahr die Anziehungskraft und die erotische Spannung, die zwischen den beiden Figuren herrschen; die Funktion des fantastischen Vampir-Motivs sowie des Abenteuerroman-Schemas liegt also nicht nur darin, das Hindernis für die Liebesgeschichte zu liefern, sondern sie intensivieren und dramatisieren das Liebeserlebnis zugleich.124 Um über drei Bände hinweg (am Anfang des vierten Bandes findet die Hochzeit statt) als Hindernis zu funktionieren, muss es in immer neuen Variationen aktiviert werden: So ist Edwards Vampirsein und die daraus resultierende Gefahr nicht nur Grund für die zwischenzeitliche Trennung von Bella, sondern auch Auslöser für Bellas erwachende Liebe zu Jacob und die sich daraus entwickelnde Dreiecksgeschichte. An der Schnittstelle zwischen Liebesroman- und Abenteuerroman-Schema sind außerdem die Angriffe der feindlichen Vampire angesiedelt, die Bella nach dem Leben trachten, da sie als Gefährtin eines Vampirs nicht akzeptiert wird. Diese Angriffe folgen einer Actionästhetik und sind über die verschiedenen Bände des Zyklus hinweg nach dem Prinzip der Variation durch Steigerung orchestriert – solche Steigerungs- oder Überbietungsphänomene sind, wie Jahn-Sudmann und Kelleter am Beispiel von amerikanischen Quality-TV-Serien gezeigt haben, gängige Praxis von populären Serien egal welchen Mediums, die vor der paradoxen Notwendigkeit stehen, innovativ zu reproduzieren.125 Während es im ersten Band ein einzelner Menschenjäger ist, der Bellas Leben bedroht, sind es im zweiten Band bereits zwei Vampire. Im dritten Band trachtet eine ganze Armee neugeborener Vampire nicht nur nach Bellas, sondern auch nach Edwards Leben, und im letzten Band schließlich möchte der feindliche Vampirclan der Volturi die gesamte Vampirfamilie Cullen samt befreundeter Vampire vernichten. Mit diesen Angriffen in Zusammenhang steht das Motiv der gegenseitigen Rettung, das mit der finalen Rettung von Bella durch Edwards Biss, der sie in dem Moment in eine Vampirin verwandelt, als sie bei der Geburt ihrer Tochter stirbt, und mit der Rettung der Familie Cullen durch die mächtige Bella am Ende des vierten Bandes für ein Happy-End auf den Ebenen des Abenteuerroman-Schemas und des Fantasy-Schemas sorgt.
124Vgl. 125Vgl.
Moruzi 2012. Jahn-Sudmann/Kelleter 2012, S. 208.
112
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
An der Genderthematik und an der Liebeskonzeption setzen viele Besprechungen und Forschungsbeiträge zu Twilight an. Das LiebesromanSchema lässt zunächst auf eine traditionelle und anti-feministische Darstellung der weiblichen Geschlechterrolle in Twilight und seinen Nachfolgern schließen. Eine Meta-Analyse verschiedener Forschungsbeiträge zeigt im Folgenden jedoch, dass verschiedene Lesarten der Hauptfigur Bella konkurrieren. Feministisch orientierte Beiträge beschreiben Bella als anti-feministische Heldin, die als schwache und verletzliche Person von dem mit den Attributen der körperlichen und moralischen Stärke und Schönheit ausgestatteten Vampir Edward beschützt werden muss, bevormundet wird und schließlich in ihrer traditionellen Rolle als Ehefrau und Mutter aufgeht.126 In diesen Beiträgen zeigt sich ganz deutlich, dass die Wurzeln des Zyklus im klassischen Liebesroman liegen. Die Kritik am Frauenbild, an der Rollenverteilung und an der Darstellung der Sexualität in Twilight ist, wie die Geschichte des Liebesromans von Pamela Regis zeigt, symptomatisch für die Kritik, die generell an der Gattung geäußert wird und die im Feminismus der 1960er-Jahre begründet liegt. Die drei Hauptvorwürfe, denen sich der Liebesroman ausgesetzt sieht, finden sich auch in Besprechungen der Twilight-Saga wieder: Darstellung einerseits weiblicher Passivität und Machtlosigkeit und andererseits unrealistischer und idealisierter Männerfiguren sowie Liebesliteratur als Medium der Versklavung von Frauen, deren Lektüre von Liebesromanen eine Kompensation für die Defizite des realen Lebens darstelle.127 Die Kritik an der Darstellung von Sexualität und der antiquierten Moral in Twilight schließt somit nahtlos an die feministische Kritik des Liebesromans an. Wirft man einen Blick in Fanforen, so zeigt sich jedoch, dass die überwiegend weiblichen Fans Bella sehr unterschiedlich beurteilen. Neben Stimmen, die Bellas Schwäche und Unterwürfigkeit betonen, finden sich andere, die Bella
126Hier können exemplarisch nur einige kritische Besprechungen des Zyklus aufgeführt werden: Seifert 2008, Clasen 2010, Platt 2010, Morey 2012c, Ashcraft 2013, Spreckelsen 2009 oder Freund 2009. Auch Grenz 2011 kommt nach einer differenzierten Analyse der intertextuellen Struktur der Romane zu der Schlussfolgerung, dass Bella im Gegensatz zu ihrem widersprüchlichen männlichen Gegenüber Edward eine Figur sei, die „in sich und mit sich eins konzipiert“ (ebd., S. 275) sei und dass in Twilight „die traditionelle weibliche Geschlechterrolle, die sich auf der gesellschaftlichen Ebene bereits aufgelöst hat, auf auffällige Weise wieder befestigt und als sich lohnend dargestellt“ (ebd., S. 285) werde. 127Vgl. Regis 2003, S. 3–7. Einen Bruch mit der einhelligen feministischen Kritik am Liebesroman stellen die Veröffentlichungen von Modleski 1982 und Radway 1984 dar, die der Lektüre von Liebesromanen keine rein eskapistische Funktion zuschreiben, sondern deren in Ansätzen widerständige Natur hervorheben.
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als stark, eigenständig und sogar egoistisch wahrnehmen.128 Auch verschiedene Forschungsbeiträge schreiben Bella feministisch-emanzipatorische Züge zu.129 Wie kommt es zu diesen sich diametral gegenüberstehenden Interpretationen? Zwei Erklärungsansätze sollen im Folgenden diskutiert werden: Betrachtet man die Dimension der Leserinnen und Leser, so wird deutlich, dass die Texte, wie im zweiten Teil dieser Studie noch ausführlich gezeigt werden wird, ausgehend von Identitätsthemen gelesen und zur Identitätsbildung herangezogen werden. Dabei werden jeweils individuell die Textmerkmale aufgegriffen, die für die eigene Lebensthematik relevant sind. Neben der eigenen Lebensthematik werden die Texte jedoch auch – sowohl von jugendlichen als auch von erwachsenen Leserinnen und Lesern – vor der Folie unterschiedlicher Geschlechterdiskurse gelesen, die hier vereinfacht als feministischer Diskurs einerseits und postfeministischer Diskurs andererseits bezeichnet werden.130 Damit in Zusammenhang steht, dass jeweils unterschiedliche intertextuelle Bezüge aktualisiert und zur Bedeutungsbildung herangezogen werden. Die Diskrepanzen in den Interpretationen sind somit nicht allein leserseitig begründet, sondern sind in den Texten selbst angelegt. Interpretationen vor der Folie eines feministischen Diskurses, der neokonservative Ideale wie Hochschätzung der Ehe, traditionell-patriarchalische Rollenverteilung, Ablehnung von Homosexualität und sexuelle Abstinenz scharf kritisiert, können sich auf zahlreiche Elemente der Geschichte stützen: Wie bereits mehrfach durch textnahe Lektüren aufgezeigt, wird Bella in den ersten drei Bänden als schwach, unscheinbar, mit geringem Selbstbewusstsein ausgestattet und als von feindlichen Vampiren verfolgtes schutzbedürftiges Opfer dargestellt.131 Bella werde, so Platt, auch als Opfer ihrer eigenen Begierde dargestellt, vor der sie von Edward beschützt werden müsse, da der Vollzug des Geschlechtsaktes mit einem Vampir für Bella als Mensch unkalkulierbare körperliche Gefahren beinhalte. Weibliche Sexualität werde damit dämonisiert und als etwas Lebensgefährliches dargestellt, während sexuelle Abstinenz als richtige
128Vgl. z. B. http://forum.twilight-wiki.de/index.php?page=Thread&threadID=1392 oder http://twilight.4fans.net/forum/showthread.php?tid=445 [12.09.2014]. 129Vgl. Moruzi 2012, Gwynne 2013 (hier: S. 8), Zack 2009 und Deffenbacher/ZagoriaMoffet 2011. 130Zum Postfeminismus vgl. Abschnitt 4.2.2. 131Vgl. z. B. Grenz 2011, S. 275–286 oder Platt 2010. Zur neokonservativen Stimmung der Jahre der Bush-Regierung in Amerika vgl. Strube 2009, S. 167 f.
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Lebensform (vor der Ehe) erscheine.132 Für eine konservative Lesart spricht auch die romantische Liebeskonzeption des Zyklus mit den Motiven der Liebe auf den ersten Blick und der absoluten Liebe, der alle anderen Lebensbereiche und Beziehungen untergeordnet werden. Dieser Absolutheitsanspruch korrespondiert mit der breiten Darstellung von Liebeskummer und auf struktureller Ebene mit dem Primat des Liebesroman-Schemas, das die anderen Schemata dominiert. Auch die feministische Kritik von patriarchalischen Strukturen findet in den vier Bänden des Zyklus zahlreiche Ansatzpunkte: So wird Bella von verschiedenen Seiten mit patriarchalischen Interessen konfrontiert, die beispielsweise in Edwards Kontrollsucht im dritten Band, seinem Wunsch nach Heirat, in Jacobs Rolle als beschützender Werwolf und Carlisles väterlicher Rolle zum Ausdruck kommen.133 Außerdem wird ihr im Zusammenleben mit ihrem Vater eine typisch weibliche Geschlechterrolle zugeschrieben: Sie kocht für ihren Vater und organisiert den Haushalt; allerdings macht sie dies freiwillig und gerne, wie sie mehrfach betont: Am Abend zuvor hatte ich nämlich entdeckt, dass Charlies Kochkünste nicht über Spiegeleier mit Speck hinausgingen, und für die Dauer meines Aufenthaltes das Küchenkommando beansprucht. […] Es war angenehm, in einem Supermarkt zu sein, es gab mir ein Gefühl von Normalität. Zu Hause hatte ich auch die Einkäufe erledigt und war froh über die vertraute Aufgabe.134
Dieser Aspekt der Freiwilligkeit der übernommenen häuslichen Aufgaben wird nun von Bella-Verteidigerinnen angeführt, die die Figur als eine im postfeministischen Sinn emanzipierte Heldin interpretieren, und als Ausdruck von Wahlfreiheit gedeutet.135 Stephenie Meyer selbst verweist in verschiedenen paratextuellen Äußerungen immer wieder auf ihr Verständnis von Feminismus, für das die Begriffe „Wahlfreiheit“ und „Selbstbestimmung“ zentral sind, so beispielsweise auf ihrer Homepage, auf der sie die Frage „Is Bella an anti-feminist
132Vgl.
Platt 2010, S. 77. Moruzi 2012, S. 49 f. Das Leiden an patriarchalischen Strukturen ist, wie Moruzi zeigt, charakteristisch für das Genre des female gothic, für den von Frauen verfassten Schauerroman des späten 18. Jahrhunderts, der Elemente des Liebesromans mit fantastischen, übernatürlichen Phänomenen verbindet. In der anglo-amerikanischen Forschungsliteratur wird Twilight häufig in die Tradition der gothic novel, des Schauerromans, gestellt (vgl. z. B. Brabon/Genz 2007 oder Botting 2008). 134Meyer 2008 (Bis(s) zum Morgengrauen), S. 36 f. Vgl. ebd., S. 158. 135Vgl. z. B. Zack 2009, S. 123 ff. 133Vgl.
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heroine?“ beantwortet.136 Sie greift damit die Kernthesen des Postfeminismus auf, die sie in der Gestaltung ihrer Figur beeinflusst zu haben scheinen. Neben dem Aspekt der weiblichen Wahlfreiheit ist es vor allem Bellas sexuelle Begierde, die den Angelpunkt für eine postfeministische Lektüre des Textes darstellt. Kristine Moruzi etwa schreibt: Bella’s determination and desire for sexual fulfillment (and intercourse) is one way in which Meyer moves away from representations of feminine purity and virtue […]. Central to the definition of Bella as a postfeminist heroine is her sense of herself as a sexual being.137
Betrachte man Bella in der Entwicklung ihrer sexuellen Ermächtigung, dann erscheine Edwards Vampirsein nicht als Gefahr für ihre körperliche Integrität, sondern als Bedingung und als Steigerungsfaktor für die zwischen den Figuren herrschende erotische Spannung, die über drei Bände hinweg aufrechterhalten wird. Bella handle innerhalb der patriarchalischen Strukturen zunehmend als selbstbestimmtes Subjekt und erreiche, was sie wolle: die sexuelle Vereinigung mit Edward vor der Verwandlung und schlussendlich ihre Verwandlung. In Bezug auf die Hochzeit mit Edward gebe sich Bella zögerlich, sie werde als diejenige gezeichnet, die Sex möchte, während Edward auf der Eheschließung beharrt – in diesem Punkt kehre Meyer die traditionelle Rollenverteilung um und zeichne Bella durchaus als moderne junge Frau. Als weiteren Aspekt von Bellas sexueller Ermächtigung könnten auch ihre zwischenzeitlich aufflammenden Gefühle für Jacob, die in einem leidenschaftlichen Kuss kulminieren, bei dem sie die Kontrolle zu verlieren droht und der ebenfalls unter dem Vorzeichen des ersten Mals und einer als absolut dargestellten Liebe steht, betrachtet werden: Mein Gehirn verabschiedete sich von meinem Körper, und ich erwiderte seinen Kuss. Gegen jede Vernunft bewegten meine Lippen sich auf eine merkwürdige, verwirrende Weise – wie nie zuvor, denn bei Jacob brauchte ich mich nicht in Acht zu nehmen, ebenso wenig wie er sich in Acht nahm. Ich krallte mich noch fester in sein Haar, aber jetzt zog ich ihn zu mir heran. Er war überall. Das grelle Sonnenlicht färbte meine Lider rot, und die Farbe passte zu der Hitze. Die Hitze war überall. Ich konnte nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen, das nicht Jacob war.138
136Vgl.
http://www.stepheniemeyer.com/bd_faq.html [12.07.2020]. 2012, S. 52. 138Meyer 2010 (Bis(s) zum Abendrot), S. 523. 137Moruzi
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Die Beziehung zu Jacob wird im Anschluss an den Kuss als Möglichkeit und als Gegenmodell zu der Beziehung zu Edward entworfen. Es ist allerdings nur eine Vision, die zusammen mit dem Kuss und ihren widerstreitenden Gefühlen bei Bella Gewissensbisse hinterlässt und sie wieder im Rahmen einer konservativen Moralvorstellung verortet, was durch die Drastik der Wortwahl unterstrichen wird: Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Schlafsack und wartete auf die gerechte Strafe. Vielleicht würde ich unter einem Steinschlag begraben werden. Hoffentlich. Ich wollte nie wieder in den Spiegel sehen.139
In Bezug auf die Interpretation von Bellas sexueller Begierde stehen sich also zwei unvereinbare Lesarten, die sich auf unterschiedliche Geschlechterdiskurse berufen, gegenüber: In feministischen Lektüren ist sie Ausweis von Bellas Schwäche und Schutzbedürftigkeit, in postfeministischen Lektüren Ausweis ihrer sexuellen Ermächtigung. Verstärkt wird die Schwierigkeit, Bellas Figur zu erfassen, wenn man sich ihre Wandlung im vierten Band anschaut: Nach ihrem Tod wird Bella in einem Akt der Rettung von Edward zu einer Vampirin verwandelt, deren Stärke, Schönheit und Beherrschtheit die Erwartungen aller übersteigt.140 Sie verfügt über die Fähigkeit, einen mentalen Schutzschild zu aktivieren, der die ganze Familie Cullen am Ende vor den Angriffen des feindlichen Vampirclans der Volturi beschützt und sie dadurch vor dem sicheren Tod rettet. Musste bislang Bella von Edward oder Jacob beschützt werden, kehren sich nun die Machtverhältnisse um, und Bella ist diejenige, die alle anderen rettet und beschützt. Mit dieser Verwandlung geht eine starke Betonung von Bellas Weiblichkeit und Schönheit einher, verbunden mit einem neuen Selbstbewusstsein der Figur. Diese Verwandlung von Bella zur Vampirin erfolge jedoch, so feministische Lektüren, durch den Rückgriff auf fantastische Elemente, weshalb ihre Macht nicht in ihrer Weiblichkeit begründet liege, sondern in ihren
139Ebd., S. 526. Moruzi integriert die Widersprüchlichkeiten in Bellas Charakter und Verhalten in ihre postfeministische Lektüre, übersieht dabei aber, dass die Widersprüchlichkeiten von Bella (im Unterschied zu Bridget Jones z. B.) selbst gar nicht wahrgenommen werden (vgl. Moruzi 2012, S. 57). Zur postfeministischen Interpretation von Bridget Jones vgl. Genz/Brabon 2009, S. 89 ff. 140Der Abschlussband wird von vielen Kritikern und Fans als Wendepunkt in der Geschichte wahrgenommen (vgl. z. B. Morey 2012b, S. 5). Zu negativen Fan-Reaktionen auf den letzten Band und deren mögliche Gründe vgl. DuBois 2010.
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übernatürlichen Fähigkeiten.141 Auch Bellas Verwandlung und ihre daraus gewonnene Stärke werden somit vor der Folie der Geschlechterdiskurse, durch die Aktualisierung verschiedener intertextueller Verweise und auf der Grundlage einer disparaten Bewertung des Fantastischen auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert. Ist Bella also eine tugendhafte und unschuldig leidende Clarissa, eine schwache und unvollkommene Jane Eyre oder eine selbstbewusste postfeministische Heldin à la Carrie Breadshaw oder Bridget Jones und steht damit in der Tradition der Chick Lit?142 Beide Lesarten finden Belege im Text, sind mit dem impliziten oder expliziten Verweis auf unterschiedliche Prätexte also bis zu einem gewissen Grad textuell angelegt. Von einer plausiblen psychologischen Wandlung der Figur kann kaum ausgegangen werden, vielmehr koexistieren all die angesprochenen Bedeutungsschichten und werden zu einem widersprüchlichen Konglomerat vermengt. Nun ist es ja gerade die Widersprüchlichkeit im Frauenbild, die von manchen Vertreterinnen des Postfeminismus als Kennzeichen und als Ausdruck von heutiger Weiblichkeit verstanden wird. Ist Bella also doch eher eine postfeministische als eine anti-feministische Heldin? Das heißt: Lassen sich die widersprüchlichen Bezüge zu einer konsistenten und zu einer für den Postfeminismus charakteristischen Widersprüchlichkeit zusammenfügen und damit auf der hier diskutierten Ebene der Deutungsansätze von Geschlechterrollen aufheben? Die Antwort lautet eindeutig nein, da sich die Widersprüchlichkeiten dem Bewusstsein und der Reflexion der Ich-Erzählerin vollständig entziehen. Dieses Fehlen einer Reflexionsebene spricht klar gegen eine durchgehend postfeministische Lektüre des Romans, die nichtsdestotrotz angelegt ist, aber letztlich dem Liebesroman-Schema untergeordnet wird, das auch Bellas und Edwards Bewusstsein prägt. Die beiden sind, wie vom Schema vorgesehen, am Ende ein glückliches und verheiratetes Liebespaar, das seine Verbindung dem romantischen Ideal der
141Vgl.
Morey 2012c, S. 16 und Moruzi 2012, S. 53. Moreys Bewertung liegt implizit eine Abwertung des Fantastischen zugrunde, das von ihr als eskapistisches Genre verstanden wird. 142Clarissa ist die Heldin des gleichnamigen Briefromans von Samuel Richardson (1747/48), Jane Eyre die Heldin des gleichnamigen Romans von Charlotte Brontë (1847), Carrie Bradshaw die Heldin der TV-Serie Sex and The City (1998–2004) und Bridget Jones die Protagonistin von Helen Fieldings Roman Bridget Jones’s Diary (1996). Letztere wurde v. a. durch die Verfilmung aus dem Jahr 2001 bekannt. Die feministischen Prätexte nennen Grenz 2011 (S. 279), Morey 2012c und Deffenbacher/Zagoria-Moffet 2011. Die postfeministischen Prätexte nennt Moruzi 2012, S. 52 f.
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Liebe entsprechend mit den letzten Worten des Zyklus für die Ewigkeit besiegelt, wobei „ewig“ hier aufgrund der Unsterblichkeit der beiden wortwörtlich zu verstehen ist: „Für immer und ewig und allezeit“, murmelte er. „Das klingt wie Musik in meinen Ohren.“ Glückselig setzten wir unsere Reise in den kleinen, aber vollkommenen Teil unserer Ewigkeit fort.143
Damit lässt sich auf der Ebene der Deutungsansätze der Widerspruch zwischen einer feministischen und postfeministischen Lektüre nicht auflösen; der Widerspruch ist in den disparaten intertextuellen Bezügen und im vierten Band in der Kombination des Liebesroman- und Fantasy-Schemas, die beide auf die Figurenkonzeption einwirken, angelegt. Die Geschichte, die den Abenteuerund Fantasy-Schemata folgend, auf eine spannende Handlung ausgerichtet ist, funktioniert jedoch trotz oder gar wegen dieser Widersprüche, die durch eine straffe Handlungsführung und eindeutige Plotstruktur an der Textoberfläche kompensiert werden.144 Ähnlich inkonsistent ist, wie zu zeigen sein wird, auch die Identität von Katniss Everdeen, der Protagonistin in Die Tribute von Panem (Abschnitt 4.4).
4.3.2 Halbgötter-Variationen: Göttlich und Arkadien Die Kombination von Liebesroman- und Fantasy-Schema, wie sie von Stephenie Meyer in Twilight praktiziert wurde, stellt ein Muster dar, das in der Folge vielfach reproduziert und variiert wird. Am Beispiel von verschiedenen Halbgötter-Zyklen kann gezeigt werden, wie über die Wiederholung und Variation erfolgreicher Muster neue Romanzyklen generiert werden. Das Figurenarsenal der griechischen Götter und Halbgötter ist einem breiten Lesepublikum durch das Erzähluniversum des amerikanischen Autors Rick Riordan bekannt geworden. In dem fünfbändigen Percy Jackson verhindert eine Reihe von jungen Halbgöttern einen Krieg der Götter untereinander sowie einen Krieg der Götter gegen den Titanen Kronos. Die Figuren und Sagen der griechischen Mythologie werden hier gemäß dem Modell der implizierten fantastischen
143Meyer 144Vgl.
2011 (Bis(s) zum Ende der Nacht), S. 789. Grenz 2011 und Schlachter 2016b.
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Sekundärwelt in ein weitgehend realistisches Setting, das dem modernen Amerika entspricht, gestellt, was Riordan zu einem humorvollen Nebeneinander von alten Mythen und amerikanischer Gegenwart ausgestaltet. Im Gegensatz zu den T wilight-Romanen und zu den im Folgenden unter dem Fokus des Liebesroman-Schemas besprochenen Romanen sind in Percy Jackson das Fantasy- und das Abenteuerroman-Schema dominierend, die durch eine sich in Prophezeiungen äußernde Rätseldramaturgie verknüpft werden. Eine Liebesgeschichte spielt ab Band drei zwar auch eine Rolle, bleibt den anderen Schemata aber untergeordnet. Die im Folgenden besprochenen Romanzyklen Göttlich, Arkadien und Ewiglich variieren das von Twilight geprägte Muster der Kombination von Fantasy- und Liebesroman-Schema auf zwei Ebenen: Zum einen wird bei der Ausgestaltung des Fantasy-Schemas auf ein anderes fantastisches Subgenre zurückgegriffen und die in der Tradition des Schauerromans weit verbreiteten Vampire145 werden durch Götter und Halbgötter bzw. durch Tiermenschen (im Falle der Arkadien-Trilogie) der griechischen Mythologie ersetzt. Die griechischen Mythen dienen dabei zugleich als Ideengeber für die Plots der Geschichten. Zum anderen werden die verwendeten Schemata (Fantasy-Schema, Liebesroman-Schema, Abenteuerroman-Schema und Krimi-Schema) unterschiedlich verknüpft und gewichtet. Die Göttlich-Trilogie von Josephine Angelini (2011–2013) reproduziert das Liebesroman-Schema, wie es von Twilight geprägt wurde, fast unverändert. Alle sechs Aspekte, die das aktuelle Schema konstituieren, finden sich in den Romanen wieder. Die Variation in Bezug auf das Werk von Stephenie Meyer entsteht auf einer ersten Ebene durch das fantastische Setting, in dem die Trilogie angesiedelt ist: Es ist die Welt der griechischen Götter und Halbgötter, die den Stoff für die Verwicklungen, Hindernisse und Bedrohungen, denen sich das Liebespaar ausgesetzt sieht, liefert. Es steht nicht weniger als der freie Wille und damit auch die freie Partnerwahl auf dem Spiel, die gegen eine zyklische und deterministische Weltordnung, wie sie durch ein Weiter- und Umschreiben der griechischen Mythologie entworfen wird, verteidigt werden müssen. Die Protagonisten Helen Hamilton und Lucas Delus sind Halbgötter und gehören verschiedenen Blutlinien an, die sich dem Willen der Götter zufolge nicht vereinigen dürfen – sie leben wie die Vampire und Werwölfe in Twilight in der
145Vgl.
Grizelj 2013, S. 307 ff.
120
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Welt der Menschen. Nachdem Helen siebzehn Jahre lang als normales Kind und normaler Teenager bei ihrem menschlichen Vater gelebt hat, wird sie sich durch verschiedene Ereignisse ihres Andersseins bewusst. Entscheidend in diesem Selbstfindungsprozess ist hier die Begegnung mit Lucas, der mit seiner Familie in Helens Nähe zieht. Das erste Zusammentreffen der Protagonisten variiert das Motiv der ersten Liebe. Die Inszenierung der Begegnung folgt mit dem Anhalten der Zeit, der Schwerelosigkeit, der Betonung der Körperlichkeit und Schönheit und dem gegenseitigen Blick den Konventionen des Schemas; das Gefühl, das die beiden füreinander empfinden, ist jedoch nicht Liebe, sondern Hass: Dann sah Helen Lukas zum ersten Mal. Draußen atmete der Himmel endlich den ganzen Wind aus, den er die letzten beiden Tage festgehalten hatte. Böen abgestandener, heißer Luft fegten durch die offenen Fenster in die brütend heiße Schule. Sie ergriffen lose Blätter, herumliegende Papierfetzen und anderen Kleinkram und wirbelten alles in Richtung Decke, wie Doktorhüte bei der Abschlussfeier. Einen Moment lang kam es Helen so vor, als würde alles dort oben bleiben, eingefroren auf dem höchsten Punkt, so schwerelos wie im Weltraum. Lucas stand etwa zehn Meter entfernt an seinem Schließfach und starrte Helen an, während die Welt darauf wartete, dass sich die Schwerkraft wieder einschaltete. Er war groß, mindestens eins achtzig, und kräftig gebaut. Er hatte kurze schwarze Haare und seine Spätsommerbräune hob das weiße Lächeln und die Swimmingpool-blauen Augen hervor. Seinem Blick zu begegnen, war wie ein Erwachen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste Helen, was reiner, das Herz vergiftender Hass war.146
Die Furien, die Helen und Lucas verfolgen und diese Abneigung erzeugen, stellen zugleich das erste Hindernis dar, das beseitigt werden muss. Weitere Verwicklungen ergeben sich durch die Dreiecksgeschichte, die analog zu Twilight den mittleren Teil des Zyklus (hier Band zwei) beherrscht. Orion Evander, ein weiterer Halbgott, taucht genau in dem Moment auf, als Lucas sich aufgrund der scheinbaren Unmöglichkeit ihrer Verbindung von Helen abwendet. In einem ständigen Wechsel zwischen Annäherung, erneuter Entfernung und damit verbundenem Liebeskummer wird die Vereinigung der Liebenden bis zum Ende des Zyklus hinausgezögert. Während der die Trilogie übergreifende Handlungsbogen somit durch das Liebesroman-Schema bestimmt ist, werden die
146Angelini
2011 (Göttlich verdammt), S. 49 f.
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Handlungs- und Spannungsbögen der einzelnen Teilbände durch die Kombination von Abenteuer- und Fantasy-Schema konstituiert, wovon Letzteres im Vergleich zu Twilight in dieser Trilogie eine eigenständigere und bedeutendere Rolle einnimmt. Während Bella und Edward vor allem um die Rettung ihrer eigenen Haut und im letzten Band um die Rettung ihrer Familie kämpfen, ist im letzten Band der G öttlich-Trilogie das gesamte Universum durch einen Aufstand der Götter bedroht: Dieser Kampf diente nicht der Belustigung der Götter. Die gesamte Erde, Jederland [eine von Helen geschaffene Welt; B.S.] und der Olymp standen auf dem Spiel […].147
Ähnlich wie in Twilight sind die verschiedenen Episoden des AbenteuerromanSchemas nach dem Prinzip der Variation durch Steigerung angeordnet und folgen einer Actionästhetik. Die Bedrohung steigt von Band zu Band und kulminiert in einer finalen Schlacht mit apokalyptischen Zügen, in der die vom Olymp herabgestiegenen griechischen Götter zusammen mit Menschen und riesigen Seeungeheuern gegen die Halbgötter um den Erhalt ihrer Macht kämpfen. Während in Twilight die drei Schemata Liebe, Fantasy und Abenteuer auf struktureller Ebene in der Figur Edwards und dessen Vampirsein verbunden sind, ist die Verbindung der Schemata in der Göttlich-Trilogie eine eher additive. Mitten im finalen Kampfesgeschehen löst sich auch das letzte Hindernis, das einer Verbindung von Helen und Lucas im Wege steht, auf, indem die Intrige von Helens Mutter, die eine Vereinigung der Liebenden verhindern wollte, aufgedeckt wird. Den Konventionen des Schemas folgend erweist sich diese Liebe auch in der Göttlich-Trilogie als schicksalhafte und für die Ewigkeit bestimmte. Noch inmitten des Kampfes besiegeln Helen und Lucas ihre Liebe durch einen Kuss: „Du könntest mich nie verlieren, Helen. Nicht einmal, wenn du es darauf anlegen würdest“, sagte er und zog sie am Arm dichter an sich. […] Einen Moment lang hatte Helen Angst, dass er es nicht tun würde. Sie hatte schon so oft darauf gehofft und war enttäuscht worden, dass sie bezweifelte, dass es jemals passieren würde. Doch dann passierte es wirklich. Er vergrub die Hände in ihren Haaren, zog sie an sich und küsste sie. Der Himmel war voller Brandpfeile und brennender Geschosse,
147Angelini
2013 (Göttlich verliebt), S. 427.
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die nach geschmolzenem Asphalt stanken. Um sie herum explodierte alles, doch das interessierte Helen nicht. Sie war endlich zu Hause und wollte es nie wieder verlassen.148
Mit den letzten Worten der Trilogie wird das Motto des Twilight-Zyklus aufgerufen, wodurch das „romantische“ Liebesmotiv sowie die Parallelen der beiden Zyklen nochmals bekräftigt werden: „Bis in alle Ewigkeit, wenn es nach mir geht“, fügte Lukas hinzu und sprang ihr nach.149
Helen weist auch in Bezug auf die Darstellung der Geschlechterrollen einige Ähnlichkeiten mit Bella aus Twilight auf: Weil Helen häufig unbedacht und impulsiv handelt, muss sie von Lucas beschützt werden, der ähnlich wie Edward als rationaler und kontrollierter Gegenpart zu Helen gezeichnet ist. Ebenso wie sein Vorläufer aus Twilight beschützt er Helen nicht nur vor Feinden, sondern auch vor ihrem eigenen Begehren, das er zurückweist, solange mit ihrer Liebe die Weltordnung bedroht ist. Innerhalb des Liebesroman-Schemas ist es Lucas, der gemäß der romantisch-konservativen Konvention in verschiedener Hinsicht aktiv wird und den Verlauf der Beziehung maßgeblich bestimmt, was sich auch in der oben zitierten Passage der Besiegelung der Liebe widerspiegelt. Im Rahmen des fantastischen Schemas findet jedoch eine gewisse Umkehrung der Geschlechterrollen statt: Analog zu Bellas Verwandlung zur mächtigsten Vampirin wird Helen zur Göttin. Sie erlangt nicht nur Unsterblichkeit, sondern sie hat übermenschliche Fähigkeiten, die sie im finalen Kampfesgeschehen den Göttervater Zeus besiegen und damit die Welt retten lassen: Sie kann fliegen und sehr schnell rennen, sie beherrscht die Elemente, indem sie Blitze und Erdbeben erzeugt und das Wasser kontrolliert, sie kann Welten erschaffen und sie kann die Gefühle anderer sehen und beeinflussen. Ganz wesentlich für Helens Macht ist jedoch auch die als typisch weiblich attribuierte Eigenschaft der Empathie. Somit ist die Darstellung der Geschlechterrollen in der Göttlich-Trilogie ähnlich widersprüchlich wie in Twilight, wobei sich die Stärke-Schwäche-Dichotomie der weiblichen Hauptfigur deutlicher auf die additive Kombination von Genre-Schemata zurückführen lässt:
148Ebd.,
S. 397 f. S. 449. Unter dem Titel „Bis(s) in alle Ewigkeit“ wird z. B. die DVD-Box der deutschen Fassung der Verfilmungen der Twilight-Tetralogie vertrieben. 149Ebd.,
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Als Liebende ist Helen in einer passiven Position und handelt überwiegend innerhalb traditioneller Rollenmuster, als Göttin dagegen rettet Helen die Welt. Während das Liebesroman-Schema in der Göttlich-Trilogie also fast unverändert reproduziert wird, entsteht durch die Wahl des fantastischen Schemas (griechische Mythologie) und durch den größeren Stellenwert der Abenteuergeschichte eine gewisse Variation in Bezug auf Twilight. Eine weitere Variation wird durch die Verwendung des Krimi-Schemas erzielt, das auch in vielen anderen Zyklen zur Spannungserzeugung beiträgt. Die Verrätselungsstrategien betreffen hier Helens Identität und Herkunft sowie die mythologischen Hintergründe der Figuren, die deren Handeln bestimmen und die von Helen als primärer Fokalisierungsinstanz erst nach und nach aufgedeckt werden.150 Auch die zentrale, handlungsbestimmende Intrige von Helens Mutter Daphne, die die Liebenden glauben lässt, dass sie Cousin und Cousine sind und deshalb nicht zusammenkommen dürfen, folgt einer Rätselstruktur. So werden Daphnes Motive und die Unwahrheit ihrer Behauptung durch verschiedene Hinweise, die vor allem über den dritten Band des Zyklus verstreut sind, nach und nach enthüllt. Durch die Verknüpfung von Liebesroman- und Krimi-Schema wird der Liebesgeschichte ein zusätzliches Spannungsmoment eingeschrieben. Eine noch stärkere Gewichtung des Abenteuer- bzw. Actionschemas und des Krimi-Schemas erfolgt in der Arkadien-Trilogie (2009–2011) des deutschen Autors Kai Meyer, in der das Liebesroman-Schema, aber vor allem das Fantasy-Schema marginalisiert werden. Angelehnt an den griechischen Mythos der Arkadier, die von Zeus dazu verflucht wurden, sich in Tiere zu verwandeln, gehören die beiden sich liebenden Protagonisten Rosa und Alessandro zwei unterschiedlichen Familien der Arkadier an, deren Verbindung von den Göttern verboten wurde, um die Macht der Arkadier einzuschränken. Durch eine Verknüpfung von Liebesroman- und Fantasy-Schema wird hier also ähnlich wie in Twilight und Göttlich ein übergreifender Handlungsbogen gespannt, der über die Frage, ob es Alessandro und Rosa am Ende gelingt, ihre Liebe in einer stabilen Verbindung zu besiegeln und zu leben, den Zusammenhalt der drei Bände schafft. Trotz dieser strukturbildenden Funktion des Liebesroman-Schemas spielt die Liebesgeschichte in der Arkadien-Trilogie keine ähnlich dominante Rolle wie in Twilight oder Göttlich, was sich zum Beispiel darin äußert, dass Meyer auf
150Zum Teil hat der Leser gegenüber Helen einen gewissen Wissensvorsprung, da das Geschehen nicht ausschließlich aus Helens Perspektive erzählt wird, sondern immer wieder Elemente, die den Fortgang der Handlung bestimmen, aus der Perspektive anderer Figuren berichtet werden.
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die breite Darstellung von Liebeskummer und inneren Hindernissen auf dem Weg zur endgültigen Vereinigung ebenso wie auf die Ausgestaltung einer Dreiecksgeschichte verzichtet. Meyer weicht auch auf der Ebene der Geschlechterdarstellung und der Liebeskonzeption von dem Schema, wie es in Twilight und Göttlich wirksam wurde, ab. Rosa wird bereits im ersten Band als starke, rebellische und unzähmbare junge Frau eingeführt, die weder die passiv-leidende Seite von Bella und Helen noch deren Unerfahrenheit in sexueller Hinsicht teilt. Auch wenn der Liebe heilende Kräfte zugeschrieben werden, sowohl in Bezug auf erlittene Traumata als auch im Hinblick auf eine Selbstfindung, wird in der Arkadien-Trilogie nicht das Motiv der „romantischen“ Liebe bemüht. Die Darstellung von Liebe und Sexualität ist, wie etwa Rosas Vorgeschichte einer Vergewaltigung und Abtreibung sowie ihr erotischer Traum in Band 1 zeigen, expliziter und realistischer.151 Eine ähnliche Marginalisierung wie beim Liebesroman-Schema kann in Bezug auf das Fantasy-Schema beobachtet werden: Die Arkadien-Trilogie ist wie Twilight und Göttlich nach dem Modell der implizierten Sekundärwelt gestaltet, eine eigene fantastische Sekundärwelt wird nicht mehr entworfen. Während die Protagonisten in Twilight und in Göttlich sich jedoch noch durch verschiedenste fantastische Fähigkeiten, von denen die physische Stärke nur eine unter mehreren darstellt, auszeichnen, ist das Fantastische von Rosa und Alessandro auf ihre übernatürlichen Kräfte beschränkt, die sie in Tiergestalt zu äußerst brutalen Kämpfern werden lassen. Das Fantasy-Schema wird also letztlich nur in zwei Bereichen wirksam: Es liefert über den Mythos der Tiermenschen zum einen die Hintergründe und das strukturbildende Hindernis für die Liebesgeschichte und zum anderen die Verwicklungen für die actionreiche Haupthandlung. Ähnlich wie in Twilight weist diese Art der Fantasy keine epische Dimension und keinen geschichtsphilosophischen Gehalt mehr auf, es geht nicht mehr um die Konfrontation von zwei unterschiedlichen Weltordnungen, sondern Rosa und Alessandro kämpfen einzig und allein um die Rettung ihrer Haut. Dieses Kampfgeschehen, dessen Motivierung und Hintergründe auf der Ebene des Arkadiermythos über eine Krimistruktur sukzessive enttarnt werden, steht in der Trilogie im Vordergrund. Rosa und Alessandro sind jedoch nicht nur auf der Flucht vor dem Anführer der Arkadier, der die uralte Herrschaft der Arkadier wieder ins Leben rufen möchte, sondern sie sind in ihrem realen Leben Oberhäupter von verfeindeten sizilianischen Mafiaclans. Diese Mafiahandlung
151Zu
Rosas erotischem Traum vgl. Meyer 2012 (Arkadien erwacht), S. 215 ff.
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fungiert neben dem Arkadiermythos als weiteres Action- und Bedrohungspotential, so dass die Doppelung von Mafiahandlung und Arkadiermythos zu einer Steigerung des Actionschemas führt, das in zahlreichen Kampfszenen ausgestaltet wird, etwa in einem brutalen Showdown mit zahlreichen Toten, unter denen auch Rosas Schwester ist. In der Abenteuerhandlung sind Action- und Krimischema mit dem Thema der für Adoleszenzromane typischen Identitätssuche verknüpft: Die zu lösenden Rätsel und Geheimnisse betreffen neben den Hintergründen des Arkadiermythos auch Rosas traumatische Vergangenheit und ihre Familiengeschichte, die auf verschiedenen Reisen, die Rosa zunächst nach Sizilien und dann zurück nach New York macht, aufgedeckt werden. Mit der Abwendung der Gefahren verbunden ist also zugleich der Selbstfindungsprozess der Protagonistin, die durch die erfahrene Liebe zu Alessandro und durch die Enthüllung ihrer Familiengeschichte eine gewisse Wandlung durchlebt und zu sich selbst und zu ihrer heldenhaften Rolle im Kampf gegen ihren Widersacher findet. Durch die Schwerpunktverlagerung auf das Action- und auf das KrimiSchema weist die Arkadien-Trilogie einen deutlich höheren Variationsgrad in Bezug auf Twilight auf als die Göttlich-Trilogie, in der gewisse Muster einfach imitiert werden. Bei aller Variation bleibt die Kontinuität zu dem musterbildenden Twilight jedoch erhalten, was in einer metafiktionalen Passage vom Roman selbst reflektiert wird: Wenn sie so ein bescheuerter Vampir wäre, dann würde ich mich von ihr beißen lassen, um wie sie zu sein. Aber das funktioniert bei euch nicht. Also habe ich mir diese Schlange tätowieren lassen, über meinen halben Körper, um ihr zu zeigen, dass ich … ach, Mist, Rosa, du weißt, was ich meine.152
4.3.3 Zeitreisekrimis und Chick Lit: Edelsteine und Holly Hill Eine weitere Variationsreihe von Liebesromanen stellen die Romane dar, die im Gefolge von Kerstin Giers Trilogie Liebe geht durch alle Zeiten (Edelstein-Trilogie; 2009–2010) entstanden sind. Das Liebesroman-Schema bestimmt hier ebenso wie in Twilight, der Göttlich-Trilogie und der Arkadien- Trilogie die Handlungsstruktur und den Spannungsbogen über die Bände hinweg. Durch die Kombination mit dem fantastischen Zeitreisemotiv und einer stark
152Ebd.,
S. 230.
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4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
elaborierten Rätselstruktur des Krimi-Schemas, die einen zweiten Spannungsbogen eröffnet, unterscheiden sich die Romane jedoch deutlich von den in den vorherigen Kapiteln analysierten. Eine weitere Inspirationsquelle von Giers Romanen wird im Genre der Chick Lit gesehen, was im Folgenden auf verschiedenen Ebenen aufgezeigt wird. Kerstin Giers Edelstein-Trilogie erlangte durch ihre Übersetzung in zahlreiche Sprachen auch internationale Bekanntheit, alle drei Bände wurden verfilmt. Aufgrund des Bekanntheitsgrades und des kommerziellen Erfolgs der Trilogie ist es plausibel anzunehmen, dass Giers Romane am Anfang einer Reihe von weiteren Zeitreiseromanen deutscher Autorinnen stehen, die ihre spezifische Kombination von Zeitreisemotiv, Geheimnissuche und Liebesgeschichte weitgehend übernehmen und nur kleinere Variationen vornehmen. In dieser Variationsreihe stehen bislang beispielsweise die Holly Hill-Romane (2013–2016) von Alexandra Pilz, die Zeitenzauber-Trilogie (2011–2014) von Eva Völler oder die Zeitreiseromane (Zeitreisende soll man nicht aufhalten; 2011–2012) von Kirsten John.153 Das Beziehungsgeflecht zwischen diesen Zeitreiseromanen wird im Folgenden exemplarisch an den Texten von Kerstin Gier und Alexandra Pilz aufgezeigt. Obwohl die Frage, ob die Liebenden letztlich zusammenkommen, ähnlich wie in Twilight, Göttlich oder Arkadien auch in der Edelstein-Trilogie einen über die drei Bände hinwegreichenden Spannungsbogen154 schafft, unterscheidet sich die Liebesgeschichte zwischen Gideon und Gwendolyn in einem wesentlichen Aspekt von der ihrer Vorgänger: Während in den bislang analysierten Romanen die der Liebe und einer stabilen Verbindung im Weg stehenden Hindernisse dem fantastischen Setting geschuldet waren, ist die Liebesgeschichte in der EdelsteinTrilogie als realistische angelegt. An die Stelle äußerer, auf die fantastische Weltordnung zurückzuführender Hindernisse treten innere, die im Wesentlichen in den Einstellungen und Überzeugungen der Protagonisten liegen. So sind es zunächst Vorurteile und Verdächtigungen, die zu Komplikationen zwischen den Liebenden führen. Dennoch verzichtet Gier nicht auf das Fantasy-Schema, das jedoch nur noch eine marginale Rolle einnimmt. Die beiden Protagonisten sind aufgrund einer genetischen Disposition und mithilfe eines altertümlichen Apparates, dem
153Bei den Romanen von Kirsten John, die jüngere Leserinnen ansprechen sollen, kommt als weitere Variationsvariable das Alter der intendierten Leserinnen hinzu, was zu verschiedenen Anpassungen auf den Ebenen Text und Marketing (Cover) führt. 154Auf der Ebene der syntagmatischen Serialität ist die Trilogie als Mehrteiler zu klassifizieren, da die Einzelbände nicht selbständig und narrativ abgeschlossen sind. Vgl. Abschnitt 3.1.3.
4.3 Genre-Schemata am BeispieI (I): Liebesromane in der Nachfolge …
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Chronografen, dazu in der Lage, durch die Zeit zu reisen. Gwendolyn besitzt darüber hinaus die Fähigkeit, Geister und Dämonen zu sehen, und ist unsterblich; alle anderen Zeitreisenden dagegen haben keine weiteren übernatürlichen Fähigkeiten mehr, wie sie noch die Vampire, die Halbgötter oder die Tiermenschen hatten. Damit ist die Welt-Zeit-Struktur der Romane durch die Existenz von mehreren zeitlichen Parallelwelten und durch eine implizierte fantastische Sekundärwelt der Geister und Dämonen zwar eine relativ komplexe, aber ihre Funktion ist darauf beschränkt, die Kulisse für eine Kriminal- und Liebesgeschichte darzustellen. Eine epische Dimension der Fantasy ist in den Romanen nicht mehr auszumachen: Die Weltrettungsmission, auf die die Protagonisten geschickt werden, stellt sich letztlich als egoistische Machenschaft eines Kriminellen, des Grafen von Saint-Germain, heraus, der den Stein der Weisen zusammensetzen und damit selbst unsterblich werden möchte. Das dem Zeitreisemotiv inhärente philosophische oder historische Potential wird in der Trilogie zwar immer wieder durch die Frage, inwieweit sich der Lauf der Dinge durch Reisen in die Vergangenheit ändern lässt und durch eine Ausgestaltung der historischen Epochen, in die die Protagonisten reisen, angedeutet. Das Zeitreisemotiv dient jedoch nicht dazu, historisches Wissen über verschiedene Epochen der Vergangenheit zu transportieren oder philosophische Reflexionen über das Wesen und den Verlauf der Zeit anzustellen wie in der Tradition der lehrreichen Zeitreiseerzählungen in der KJL.155 Vielmehr ist das Bild der Vergangenheit, wie es durch die Perspektive der Ich-Erzählerin konstituiert wird, ein medial kodiertes, das durch die Historienfilme, die Gwendolyn gesehen hat, geprägt ist. Das zweite den Handlungsverlauf neben dem Liebesroman-Schema maßgeblich bestimmende Schema stellt das Krimi-Schema dar, über das ein zweiter Spannungsbogen konstituiert wird, in dessen Zentrum das Geheimnis um den Unsterblichkeit verleihenden Stein der Weisen und die Machenschaften des Grafen von Saint-Germain stehen.156 Dieses Geheimnis fungiert auf der strukturellen
155Vgl. Zimmermann 2004, S. 118 f. Zur Tradition des Zeitreisemotivs in der KJL vgl. oelsch-Foisner 2013, S. 129. Das Zeitreisemotiv wird in den Romanen im Paradigma des C Wunderbaren ausgestaltet. Zeitreisen erfolgen nicht aufgrund wissenschaftlicher Plausibilität wie in der Science-Fiction, sondern sind die Folge einer genetischen Auserwähltheit. Zum Verhältnis von Science-Fiction und Fantasy vgl. Innerhofer 2013a. 156Vgl. z. B. Gier 2009 (Rubinrot), S. 191: „Was ist das Geheimnis, Mum?“ Ich hatte das Gefühl, diese Frage schon tausendmal gestellt zu haben. Und innerlich brüllte ich sie fast heraus. „Ich weiß es genauso wenig wie die anderen. Ich kann auch nur Vermutungen darüber anstellen. Mächtig ist es und große Macht verleiht es demjenigen, der es zu nutzen weiß. Aber Macht in den Händen der falschen Menschen ist sehr gefährlich. […].“
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Ebene des Romans als Verknüpfungspunkt zwischen den verschiedenen Schemata: Es ist im Rahmen der für Adoleszenzromane typischen Identitätsthematik zugleich ein Familiengeheimnis und beinhaltet Gwendolyns Herkunft und ihre Bestimmung in den Reihen der Zeitreisenden. Das Aufdecken des Geheimnisses ist zudem mit verschiedenen Abenteuern, die dem Schema gemäß auf Reisen (in die Vergangenheit) erlebt werden, verbunden. Und schließlich wird über das Geheimnis auch an das Liebesroman-Schema angeknüpft, indem dieses zur Ursache für eine zeitweilige Trennung der Liebenden wird und somit ein weiteres Hindernis, das überwunden werden muss, darstellt. So hängt Gideons Rückzug von Gwendolyn im dritten Band damit zusammen, dass er von dem Grafen manipuliert wird und der Ansicht ist, Gwendolyn nur dadurch retten zu können, dass er verhindert, dass sie sich in ihn verliebt. Er selbst hat das Geheimnis um den Stein der Weisen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig gelöst und geht damit von falschen Voraussetzungen aus. Während Gier durch die Art der Verknüpfung von Liebesroman-Schema, Krimi-Schema und Zeitreisemotiv eine Variation mit eigenem Gesicht schafft, verwendet sie das Liebesroman-Schema in anderen Aspekten konform zu ihren Vorläufern. Neben der obligatorischen Dreiecksgeschichte, die im Rahmen zahlreicher Eifersuchtsepisoden ausgestaltet ist, wird durch die Inszenierung des Endes, das explizit an Shakespeares Romeo und Julia angelehnt ist, an das Motiv der „romantischen“ Liebe angeknüpft. Gwendolyn soll sich selbst töten und damit Gideon vermeintlich retten, in Wahrheit jedoch in den Selbstmord treiben: „[…] Und um deine Einstellung in der Sache, sagen wir mal, etwas zu unterstützen, werde ich deinen Freund Gideon erschießen, sobald er hier eintrifft.“ Er sah auf die Uhr. „Das dürfte in etwa fünf Minuten der Fall sein. Wenn du sein Leben retten willst, solltest du die Kapsel daher sofort nehmen. Du kannst aber auch warten, bis er tot vor dir liegt. Erfahrungsgemäß ist das eine überaus starke Motivation, denk nur an Romeo und Julia…“ […] „Jetzt dürfte es jeden Augenblick so weit sein, Julia. Du willst deinen Romeo offenbar in seinem Blut liegen sehen!“157
Gemäß der Schemavorlagen werden jedoch alle Rätsel gelöst, der Widersacher wird besiegt und die Liebe von Gwendolyn und Gideon für die Ewigkeit besiegelt. Dadurch, dass Gideon das im Stein der Weisen enthaltene Pulver zu sich genommen hat, ist er nun ebenso wie Gwendolyn, der diese Eigenschaft von Geburt an zuteil ist, unsterblich:
157Gier
2010b (Smaragdgrün), S. 465–467.
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„Ich hatte solche Angst, du könntest es nicht getan haben. Denn Mr. Whitman hat das ganz richtig erkannt: Ohne dich will ich nicht weiterleben. Nicht einen einzigen Tag!“ „Ich liebe dich, Gwenny!“ Gideon umklammerte mich so fest, dass ich keine Luft mehr bekam. […] „Jetzt raffe ich es!“, rief Xemerius. „Das war also euer genialer Plan! Gideon hat den Stein der Weisen aufgefuttert und ist jetzt ebenfalls unsterblich. Nicht mal schlecht, vor allem, wenn man bedenkt, dass Gwenny sich sonst noch irgendwann mal ziemlich einsam gefühlt hätte.“ [Die Protagonisten überlegen, was nun alles getan werden muss; B.S.] „Und davor sollte ich dich unbedingt küssen“, sagte Gideon und nahm mich wieder in die Arme. Xemerius stöhnte. „Also wirklich! Dafür habt ihr doch ab jetzt die Ewigkeit zur Verfügung!“158
Wie diese Textpassage zeigt, wird die romantisch inszenierte Liebesgeschichte hier durch den Dämonen Xemerius humorvoll kommentiert und dadurch ironisch gebrochen, worin eine der Hauptfunktionen der fantastischen Figur liegt, deren jugendsprachliche Ausdrucksweise einen humorvollen Kontrast zu seiner Existenz als Dämon, der aus dem 11. Jahrhundert stammt, schafft.159 Neben dem Liebesroman-Schema wird auch das Fantasy-Schema mit seinen Motiven der Weltrettung, des Auserwähltseins und des Heldenstatus der Protagonisten immer wieder ironisiert: Gideon und ich waren mit dem Auftrag in die Zeit gereist, Lady Tilney in den Chronografen einzulesen (die Gründe dafür hatte ich, ganz nebenbei bemerkt, noch immer nicht ganz kapiert, aber das Ganze schien ungeheuer wichtig zu sein; soweit ich wusste, ging es um die Rettung der Welt, mindestens).160
158Ebd.,
S. 470 f. z. B. auch folgende Passage: „Mein Gefühl sagt mir, dass ihr wieder rumgeknutscht habt“, bemerkte Xemerius. „Das Gefühl und mein Scharfsinn.“ „Unsinn“, erwiderte ich und hörte Xemerius in keckerndes Gelächter ausbrechen. „Glaub mir, ich bin seit dem 11. Jahrhundert auf dieser Erde und ich weiß, wie ein Mädchen aussieht, das aus einem Heuhaufen kommt.“ (Gier 2010a (Saphirblau), S. 161) Die zweite Funktion von Xemerius, der für alle Figuren außer Gwendolyn unsichtbar ist und sich frei durch Raum und Zeit bewegen kann, liegt in der Mithilfe bei der Aufdeckung der Rätsel um den Grafen, so dass mit seiner Figur ein zusätzlicher Verknüpfungspunkt zwischen Liebesroman- und Krimi-Schema geschaffen wird. Eine Inspirationsquelle für Xemerius kann in dem Dämonen Bartimäus des erfolgreichen gleichnamigen Jugendromanzyklus von Jonathan Stroud (2003–2010) gesehen werden, der sich ebenfalls durch witzige und humorvolle Kommentare auszeichnet. 159Vgl.
160Gier
2010a (Saphirblau), S. 27.
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„Ich bin allein schon sehr weit gekommen“, sagte Gideon. „Ich kann es auch allein zu Ende bringen.“ „Genau das habe ich gehofft“, sagte Mum. Ich kann das auch alleine zu Ende bringen. Meine Güte! Ich unterdrückte nur mit Mühe ein Kichern. Das klang ja wie in einem dieser bescheuerten Action-Filme, in denen ein melancholisch dreinblickender Muskelprotz die Welt rettet, indem er mutterseelenallein gegen eine hundertzwanzigköpfige Ninja-Kampftruppe, eine Flotte feindlicher Raumschiffe oder ein ganzes Dorf voller bis unter die Zähne bewaffneter Gesetzloser kämpft.161 War das etwa ein Anflug von Humor? Mr-aus-dem-Weg-ich-bin-auf-einerwichtigen-Zeitreise-Mission machte tatsächlich einen Scherz?162
Dieser sich auf die Genrebezüge richtende Humor lässt sich metafiktional als von der Autorin bewusst inszeniertes selbstironisches Spiel mit Genrevorlagen lesen, das die Ernsthaftigkeit einer romantischen Liebesgeschichte und einer heldenhaften Fantasygeschichte immer wieder unterläuft und den Leserinnen in erster Linie Vergnügen bereiten soll, wie Gwens beste Freundin in einer weiteren metafiktionalen Passage zum Ausdruck bringt: Ich meine, ich weiß, dass es kein Spiel ist und dass es um Leben und Tod geht, aber ich hatte noch nie so viel Spaß wie in den letzten Wochen.163
Die These vom humorvollen Umgang mit Genrevorlagen und deren spielerischer Neuinszenierung lässt sich auch durch den Nachweis einer Vielzahl an expliziten und impliziten intertextuellen und intermedialen Bezügen im Roman erhärten, die wie am Beispiel von Romeo und Julia bereits gezeigt umgedeutet und humorvoll gebrochen werden. Das Stilmittel des Humors richtet sich in der Edelstein-Trilogie nicht nur auf die Genre-Bezüge, sondern auch auf die Figur der Protagonistin selbst. Hierin kann ein Indiz dafür gesehen werden, dass Kerstin Gier an das Genre der Chick Lit anknüpft, das in Abschnitt 4.2.2 als aktuelle Ausprägung des Liebesroman-Genres dargestellt wurde. Diese Parallelen kommen vor allem auf den Ebenen des Humors, der Figurenzeichnung und der Covergestaltung zum Ausdruck. Der Humor gilt als wichtigstes Stilmittel der Chick Lit und wird
161Gier
2009 (Rubinrot), S. 178. S. 227. Zur Ironisierung des Motivs des Auserwähltseins vgl. z. B. ebd., S. 68. 163Gier 2010b (Smaragdgrün), S. 415 f. 162Ebd.,
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vor allem durch die Selbstironie der Protagonistinnen, aus deren Perspektive die Geschichten autodiegetisch erzählt werden, erzeugt.164 So ist der selbstironische Humor auch in der Edelstein-Trilogie gegen die Unvollkommenheit der Ich-Erzählerin gerichtet, die ihre eigene Tollpatschigkeit, die an die Figurengestaltung in dem genrebildenden Roman Bridget Jones’s Diary erinnert, humorvoll kommentiert.165 Mit dieser Schilderung von Gwens Tollpatschigkeit setzt der erste Band der Trilogie ein. Gwendolyn verkleckert sich in der Schulkantine aufgrund eines Schwindelanfalls und reflektiert dies wie folgt: Erst letzte Woche war mir eine grüne Götterspeise aus ihrer Alu-Form gehüpft und zwei Meter weiter in den Spaghetti Carbonara eines Fünftklässlers gelandet. Die Woche davor war mir Kirschsaft umgekippt und alle am Tisch hatten ausgesehen, als hätten sie die Masern. Und wie oft ich die blöde Krawatte, die zur Schuluniform gehörte, schon in Soße, Saft oder Milch getunkt hatte, konnte ich gar nicht mehr zählen.166
Die Unzulänglichkeiten der eigenen Person und deren humorvolle Kommen tierung bilden einen wesentlichen Teil von Gwens Charakterprofils. Neben ihrer Tollpatschigkeit kommen regelmäßig auch ihre Minderwertigkeitsgefühle gegenüber ihrer Konkurrentin Charlotte, ihre mangelnde Erfahrung mit Jungen und ihre im Gegensatz zu Gideon und Charlotte lückenhafte Bildung in den Bereichen Literatur und Geschichte zum Ausdruck. Ebenso wie die Heldinnen der Chick Lit wird Gwendolyn als durchschnittliche und normale Figur entworfen, was auch durch ihre Verankerung in der realen Marken-, Konsum- und Medienwelt des 21. Jahrhunderts unterstrichen wird: [Gideon:] „Das sollte keine Beleidigung sein. Ich meinte gewöhnlich nicht im Sinn von ordinär, eher im Sinn von durchschnittlich, weißt du?“ Das wurde ja immer besser. „Schon gut“, sagte ich und funkelte ihn wütend an. „Es ist mir egal, was du von mir denkst.“ Er gab meinen Blick gelassen zurück. „Du kannst ja nichts dafür.“ „Du kennst mich doch überhaupt nicht!“, schnaubte ich. „Mag sein“, sagte Gideon. „Aber ich kenne haufenweise Mädchen wie dich. Ihr seid alle gleich.“ „Haufenweise Mädchen? Ha!“
164Vgl.
Harzewski 2006, S. 38, Peitz 2010, S. 52 f. Zur Diskussion des Humors im feministischen Kontext vgl. Whelehan 2005, S. 219. 165Zur Figurengestaltung in der Chick Lit vgl. Abschnitt 4.2.2 und ausführlicher Peitz 2010, S. 38 ff.; Montoro 2012, S. 58 ff. und Gill/Herdieckerhoff 2006. 166Gier 2009 (Rubinrot), S. 13 f.
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„Mädchen wie du interessieren sich nur für Frisuren, Klamotten, Filme und Popstars. Und ständig kichert ihr und geht nur gruppenweise aufs Klo. Und lästert über Lisa, weil sie sich ein Fünf-Pfund-T-Shirt bei Marks und Spencer gekauft hat.“167
Statt einer klassischen Bildung hat Gwendolyn eine Art populärkulturelle Bildung und nimmt die Realität ausgehend von gesehenen Filmen wahr, aus denen sie zitiert und die ihr Deutungsmuster für Erlebtes bieten.168 Ebenso wie die Protagonistinnen der Chick Lit hat sie eine beste Freundin, mit der sie alles bespricht. All diese Attribute – populärkulturelle Bildung, beste Freundin, Tollpatschigkeit, mangelnde Erfahrungen mit Jungen, Minderwertigkeitsgefühle – werden schablonenartig einem anderen Typus von Mädchen gegenübergestellt, der von Gwens Konkurrentin Charlotte verkörpert wird und das genaue Gegenbild von Gwendolyn darstellt. Diese übertriebene und plakative Kontrastierung, die auf beiden Seiten mit klischeebehafteten Bildern arbeitet, wie das vorige Zitat zeigt, deutet auf eine Ironisierung hin, deren Zielscheibe wiederum nicht nur die Protagonistin ist, sondern das Genre der Chick Lit mit seinen typischen Attributen als solches. Ein weiteres typisches Kennzeichen der Chick Lit stellt die einheitliche Covergestaltung dar, die sich mit der Verwendung von Pastelltönen, einer verschnörkelten Schrift und stilisierten Darstellungen gezielt an ein weibliches Lesepublikum richtet.169 Mit den rosa-, hellblau- und mintgrünfarbenen Grundtönen, den scherenschnittartigen Darstellungen, der verschnörkelten Schrift und einer insgesamt verspielten und aufwendigen Gestaltung der Cover der Edelstein- Trilogie wird vom Verlag eine Variation für ein jugendliches weibliches Publikum geschaffen, die auch über diesen äußeren Faktor in einer direkten Verbindung zur Chick Lit für Erwachsene steht.170 Auf die auf erwachsenliterarischen
167Ebd., S. 254. Weitere Marken, die erwähnt werden, sind z. B. ein H elloKitty-Schlafanzug (vgl. ebd., S. 82), ebay (vgl. ebd., S. 246), Apple-Aktien (vgl. ebd., S. 197), ein Sandwich von Prêt à Manger und der Aveda-Shop (vgl. ebd., S. 250). 168Vgl. z. B. ebd., S. 94: „Ja ich hab’s mir auch immer irgendwie romantischer vorgestellt. Weißt du, ich dachte, Charlotte erlebt da sozusagen ihre eigenen Historienfilme. Tanzt mit Mr Darcy auf einem Ball. Verliebt sich in einen sexy Highländer. Sagt Anne Boleyn, dass sie Heinrich VIII. auf keinen Fall heiraten soll. So was halt.“ „War Anne Boleyn die, die sie geköpft haben?“ Leslie nickte. „Es gibt da einen tollen Film mit Natalie Portman. Ich könnte uns die DVD ausleihen […].“ 169Vgl. ausführlich Peitz 2010, S. 65–69. 170Vgl. Gier 2009–2010. Aus rechtlichen Gründen können die Cover hier leider nicht abgedruckt werden.
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Titeln häufig vorkommenden Konsumobjekte wird hier verzichtet, obwohl die Protagonistin wie gezeigt durchaus in der realen Marken- und Konsumwelt beheimatet ist. Stattdessen wird der romantisch-verspielte Charakter, der in der floralen Darstellung, in den kostümierten Figuren und ihrer Körperhaltung171 zum Ausdruck kommt, durch auf das Fantasygenre verweisende Fantasietiere ergänzt. Die Faktoren der homogenen äußeren Gestaltung und der eindeutigen Verortung in einem Genre führen dazu, dass das Buch zu einem wiedererkennbaren Markenobjekt wird und als solches zunächst einmal nicht in seiner Individualität, sondern in seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe von anderen Büchern wahrgenommen wird.172 Diese aus ökonomischer Sicht verkaufsfördernde Maßnahme kann im Jugendliteratursektor auch bei den Zeitreiseromanen von Alexandra Pilz beobachtet werden, die nicht nur inhaltlich viele von Gier verwendete Muster imitieren, sondern auch durch die Covergestaltung eindeutig in einer direkten Linie zu Giers Romanen stehen, obwohl sie bei einem anderen Verlag erschienen und nicht Teil eines gemeinsamen Imprint sind.173 Neben der verschnörkelten Schrift, der Kostümierung von Figuren (auf dem 2. Band) und den floralen Motiven sind es vor allem die Scherenschnittdarstellungen, die eine Wiedererkennbarkeit gewährleisten. Vor dem Hintergrund einer Theorie der paradigmatischen Serialität stellt somit auch die Covergestaltung eine serienbildende Ebene dar. Ebenso offensichtlich wie auf der Ebene der Covergestaltung liegt eine inhaltliche Kontinuität zwischen Giers und Pilz’ Zeitreiseromanen vor. Die drei Bände der Holly Hill-Trilogie (2013–2016) übernehmen Giers spezifische Verknüpfung von Zeitreisemotiv, Liebesgeschichte und Rätselstruktur. Emily, die zunächst in München ein normales Teenager-Leben führt, entdeckt im Verlauf des ersten Bandes ihre Familienzugehörigkeit zu einem schottischen Dorf von Zeitreisenden, die durch die Zeit geschickt werden, um die Welt durch das Lösen von ungelösten Kriminalfällen bzw. verwickelten, mit zahlreichen Abenteuern verbundenen Familiengeschichten zu verbessern.174 Die ebenfalls rein als Kulisse
171Die Entwicklung der Körperhaltung auf den drei Covern zeichnet den Verlauf der Liebesgeschichte nach. 172Vgl. Whelehan 2005, S. 184 und Peitz 2010, S. 68. 173Vgl. Pilz 2013–2016. 174Emily erfährt gemäß der Rätselstruktur des Romans die Geheimnisse um ihre Herkunft, um das Verhalten ihrer Mutter sowie um die verschiedenen Dorfbewohner erst nach und nach. Mit ihrer Reise in das schottische Dorf und mit ihren Reisen durch die Zeit verknüpft ist außerdem dem Adoleszenzschema entsprechend ihre Identitätssuche (vgl. Pilz 2013 (Zurück nach Holly Hill), S. 164 oder 225).
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fungierende fantastische Welt-Zeit-Konstruktion der Romane entspricht damit derjenigen der Edelstein-Trilogie. Außerdem erfährt das fantastische Motiv der Weltrettung hier eine ähnliche Variation wie in Giers Romanen: Die Reisen in die Vergangenheit dienen nicht der Rettung der gesamten Welt, sondern haben den Zweck, „einzelne Schicksale zum Positiven zu wenden.“175 Das Dasein der Zeitreisenden wird dem Fantasy-Schema entsprechend als schicksalhaftes markiert: Die Zugehörigkeit zum Dorf der Zeitreisenden und der Besitz von übernatürlichen Fähigkeiten erfolgen qua Geburt, und mit dieser Auserwähltheit sind verschiedene Pflichten und Zwänge verbunden. So werden die Zeitreisenden, solange sie sich im Dorf aufhalten, durch die Zeit katapultiert, ohne dass sie selbst darauf Einfluss nehmen können. Die Aufgaben werden ihnen so zugeteilt, dass kein Butterfly-Effekt entsteht: „Jeder von uns würde gern die schlimmsten Tragödien verhindern. Weltkriege. Terror. Umweltkatastrophen. Es gäbe sicherlich genug zu tun.“ […] „Aber“, fuhr Matt fort, „wir können gar nichts beeinflussen. Gar nichts, außer der einen Aufgabe, wegen der wir hier sind.“ „Ihr werdet geschickt, um jemandem zu helfen.“ „So kann man es sagen, ja.“ „Aber ihr dürft nicht entscheiden, wer das ist – oder wann?“ Matt schüttelte den Kopf. Emily schwieg einen Moment. „Könnt ihr oder wollt ihr nicht?“, fragte sie. „Können und dürfen nicht“, betonte Matt. „Du kennst doch die Geschichte von dem Schmetterling, der an einem Ende der Welt mit den Flügeln schlägt?“ Emily nickte. „The Butterfly Effect.“ „Genau. Er schlägt dort mit den Flügeln, und woanders bricht ein Tornado los.“176
Während die einzelnen Bände der Trilogie durch jeweils unterschiedliche Krimi- bzw. Abenteuerepisoden in sich abgeschlossen sind, wird die Handlung durch das Liebesroman-Schema über die drei Bände hinweg strukturell verknüpft. Emily verliebt sich in einen Jungen des Dorfes, und diese Liebesgeschichte wird mit zahlreichen Hindernissen sowie der üblichen Dreieckskonstellation als „romantische“ ausgestaltet. Eine Besonderheit des zweiten Bandes liegt darin, dass hier das Liebesroman-Schema in der Subform der Regency Romance auftritt, die im England der Jahre 1811–1820 spielt und deren Hauptinspira-tionsquelle Jane Austen darstellt.177 Die Zeitreisenden werden diesem Schema gemäß in das Jahr 1811 geschickt, wo sie eine an Jane Austens Romanen orientierte Familien- und Liebesgeschichte, deren entscheidende
175Pilz
2014 (Verliebt in Holly Hill), S. 14. 2013 (Zurück nach Holly Hill), S. 194. 177Vgl. Gelder 2004, S. 46. 176Pilz
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Elemente als Rätsel inszeniert werden, miterleben und zu einem guten Ende führen.178 Die Liebesgeschichte aus dem 19. Jahrhundert, in der die beiden Liebenden „endlich für immer vereint“179 sein wollen, dient hierbei als Spiegelung der „romantischen“ Liebesgeschichte von Emily und Matt: Sie ließ die Hand über seinen Rücken nach oben wandern und vergrub sie in seinen Haaren. Dann küsste sie ihn, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt, denn genauso fühlte es sich an: selbstverständlich, absolut natürlich und über jeden Zweifel erhaben. Sie hatte keine Ahnung, wo diese Gewissheit plötzlich herkam. Es war einfach…als hätten sie sich schon immer geküsst. Als gehörten sie für immer zusammen.180
Dem Genre der Chick Lit lassen sich Pilz’ Romane auf einer inhaltlichen und sprachlichen Ebene dagegen weniger eindeutig zuordnen als diejenigen Giers.181 Zwar liegt mit Emily eine moderne selbstbewusste Protagonistin vor, der eine beste Freundin zur Seite gestellt wird und die sich zudem durch ihre Alltagsnähe und Verankerung in einem medialen populärkulturellen Umfeld auszeichnet, in dem Filme und Stars aus dem Film- und Popgeschäft Bezugspunkte der Weltwahrnehmung darstellen. Mit diesen Kennzeichen allerdings erschöpfen sich die Analogien zur Chick Lit. Weitere zentrale Attribute wie der Humor, der die Edelstein-Trilogie durchzieht, oder eine Fokussierung auf die Darstellung von Weiblichkeit und weiblicher Sexualität wie in Twilight fehlen. Diese kurze Darstellung von Covergestaltung, Inhalt und Struktur der Holly Hill-Romane zeigt bereits, dass diese im Gegensatz zu den bisher besprochenen Texten kaum Variations- und Innovationsmomente aufweisen, sondern in vielen Punkten die Muster von Vorgängern und hier vor allem der Edelstein-Trilogie aufgreifen und imitieren.182 Auch auf der Ebene der Erzählweise lässt sich
178Der intertextuelle Bezug zu Jane Austen wird mehrfach explizit hergestellt. Vgl. Pilz 2014 (Verliebt in Holly Hill), S. 63 f., S. 76, S. 180, S. 235, S. 239, S. 345 und S. 348. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Selbstinszenierung der Autorin auf ihrer Homepage, auf der sie als Geburtsdatum angibt: „Am gleichen Tag wie Jane Austen“. https://alexandrapilz.wordpress.com/about/ [09.01.2015]. 179Pilz 2014 (Verliebt in Holly Hill), S. 158. 180Ebd., S. 235. Zu weiteren Spiegelungen vgl. ebd., S. 284 und S. 345. 181Vgl. Abschnitt 4.2.2. 182Die Idee, dass ein ganzes Dorf in der Zeit reist, lässt an das zeitreisende Hotel in der Kinderbuchserie um die Familie Pompadauz von Franziska Gehm (2011–2012) denken.
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diese Analogie nachweisen: So erinnert das Verfahren der medialen Kodierung der Wirklichkeit, die auch von Emily häufig durch die Brille von Filmen wahrgenommen und gedeutet wird, an Gwendolyns Filmobsession in der EdelsteinTrilogie.183 Außerdem schließen Pilz’ Romane ebenso wie Giers Texte mit Epilogen, die die Funktion von Cliffhangern zum nächsten Band haben.
4.3.4 New Adult: Layken und Will Seit etwa 2012 lässt sich mit Romanen von Colleen Hoover, Jamie McGuire oder Cora Carmack ein Phänomen beobachten, das von amerikanischen Verlagen mit dem Label „New Adult“ etikettiert wurde und das im vorliegenden Kontext deshalb interessiert, da eine Reihe von Romanen das Liebesroman-Schema, wie es von Twilight geprägt wurde, aufgreift und es für eine Zielgruppe von 17- bis 25-jährigen Leserinnen weiterentwickelt.184 Der erste Band der drei Layken und Will-Romane wurde von der bis dahin unbekannten Colleen Hoover im Januar 2012 im Eigenverlag bei Amazon als E-Book veröffentlicht und hat sich Laufe eines Jahres zu einem Bestseller entwickelt, so dass Hoover Ende des Jahres 2012 sowohl einen Verlagsvertrag abgeschlossen als auch die Filmrechte verkauft hatte.185 Auch Jamie McGuires Beautiful Disaster, der erste Band einer Liebesroman-Trilogie, erschien zunächst im Eigenverlag als E-Book und hat sich aufgrund der Leserinnenreaktionen auf Blogs und Buchplattformen und der hohen E-Book-Verkaufszahlen innerhalb kürzester Zeit zu einem Bestseller entwickelt, so dass auch McGuire sowohl Druck- als auch Filmrechte verkaufen konnte.186 Der Erfolg dieser beiden Bücher, der seinen Anfang jeweils im Netz genommen hat, kann als Indiz dafür verstanden werden, dass sich eine Leserschaft konstituiert, die das
183So werden in Zurück nach Holly Hill an zahlreichen Stellen Filme oder Stars erwähnt, die der Protagonistin Deutungsmuster für ihre Erlebnisse liefern. Vgl. Pilz 2013 (Zurück nach Holly Hill), S. 16, S. 40, S. 42, S. 50, S. 55, S. 165, S. 208, S. 255, S. 265, S. 267, S. 271, S. 299 (Filme) sowie S. 65, S. 84 und S. 165 (Stars). 184Der Begriff „New Adult“ wurde laut Rachel Seigel, die für einen amerikanischen Buchgroßhandel Bücher einkauft, 2009 zum ersten Mal von dem amerikanischen Verleger Dan Weiss (St. Martin’s Press) verwendet. Vgl. Seigel 2013 [16.01.2015]. 185Vgl. Stengle 2013 [14.01.2015]. 186Vgl. Donahue 2013 [14.01.2015]. An die Trilogie schließt sich eine Sequel-Serie mit bislang sechs Bänden an (vgl. https://www.jamiemcguire.com/reading-order [20.03.2019]).
4.3 Genre-Schemata am BeispieI (I): Liebesromane in der Nachfolge …
137
Internet dazu nutzt, sich über Bücher auszutauschen, neue Buchempfehlungen zu erhalten, ebensolche auszusprechen, Bücher digital zu erwerben und damit den „online geführte[n], intensive[n] und dauerhafte[n] Austausch“ des „social reading“ praktiziert.187 Auch die im zweiten Teil der vorliegenden Studie untersuchten literalen Praktiken können als Teil dieses Phänomens betrachtet werden. Die bekanntesten Treffpunkte im Netz sind hier kommerziell betriebene Buchplattformen oder Literaturportale wie goodreads.com, lovelybooks.de, die nach Genres ausdifferenzierten Portale der Literatur-Couch (literatur-couch.de), Foren zu einzelnen Romanen und verschiedene Internetbuchhändler, auf deren Seiten Leserinnen und Leser Verkaufs- und Empfehlungslisten zu unterschiedlichen Genres und Formaten einsehen und jedes gelesene Buch kommentieren können. Daneben gibt es unzählige privat betriebene Blogs, Foren und Bücherseiten, auf denen Leserinnen und Leser gelesene Bücher rezensieren und Buchempfehlungen aussprechen und über Literatur diskutieren. Auch die Beispiele von Hoover und McGuire zeigen an dieser Stelle, dass die Dimension des realen Lesers mitberücksichtigt werden muss, wenn die Dynamik und Funktionsweise des Feldes der seriellen Jugendliteratur untersucht wird. Lesegewohnheiten und Lesevorlieben einer beachtlichen Anzahl von Rezipienten – Jamie McGuire hat im Eigenverlag 200.000 Exemplare ihres Erstlings verkauft188 – führen dazu, dass sich diese Bücher auch auf dem Printmarkt durchsetzen und im Verlagswesen zur Etablierung einer neuen Sparte beitragen, mit der speziell 17- bis 25-jährige Leserinnen bedient werden. Es stellt sich nun die Frage, welche Gründe dafür sprechen, diese in eine direkte Linie mit den Liebesromanen in der Nachfolge von Twilight zu stellen. Exemplarisch sollen diese Fragen am Beispiel der Layken und Will-Romane von Colleen Hoover erörtert werden. In Besprechungen, die zu Layken und Will, Beautiful Disaster und zum New Adult-Phänomen erschienen sind, wird betont, dass es sich um Liebesromane für Leserinnen und Leser handelt, die mit Romanen wie Harry Potter, Twilight und Die Tribute von Panem groß geworden, diesen aber mittlerweile entwachsen sind und nach einer expliziteren und offeneren Darstellung von Sexualität verlangen: The goal is to retain young readers who have loyally worked their way through series like Harry Potter, The Hunger Games and Twilight, all of which tread lightly, or not at all, when it comes to sexual encounters. In the Twilight books, for instance,
187Pleimling 188Vgl.
2012 [14.01.2015]. Vgl. auch Boesken 2010 sowie Abschnitt 5.2. Kaufman 2012 [14.01.2015].
138
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
readers are kept out of the bedroom when Bella and Edward, the endlessly yearning lead characters, finally consummate their relationship.189 The books cater to the former Twilight crowd who felt unsatisfied with the laughably chaste romance but maybe weren’t yet ready to move onto the absurdly unchaste knockoff, the much talked-about 50 Shades of Grey.190
Tatsächlich wird in den Layken und Will-Romanen das durch Twilight etablierte Liebesroman-Schema nur geringfügig variiert. Der auffälligste Unterschied zwischen Büchern wie Twilight und Göttlich einerseits und Layken und Will andererseits liegt darin, dass Letzterer ein realistischer Liebesroman ist und weder Abenteuer- noch Fantasyelemente aufweist. Umso auffälliger und bemerkenswerter sind jedoch die Analogien auf der Ebene des Liebesroman-Schemas, die sowohl inhaltlicher als auch formaler Natur sind. Wie Bella aus Twilight zieht die Protagonistin Layken in eine neue Stadt, begegnet dort einem Jungen, in den sie sich sofort verliebt, mit dem sie aber zunächst nicht zusammenkommen kann, weil sich herausstellt, dass er ihr Lehrer ist. Zu diesem äußeren Hindernis, das nach dem Ende von Laykens letztem Schuljahr überwunden ist, tritt eine Reihe von weiteren Hindernissen, die nach dem Prinzip der Variation durch Steigerung, das in den Twilight-Romanen die Anordnung der Abenteuerepisoden bestimmt, orchestriert sind. Zum einen sind es verschiedene innere Verwicklungen, wie Zweifel an der Liebe des anderen, mangelnde Offenheit oder Eifersucht auf eine Exfreundin im Rahmen einer Dreieckskonstellation, zum anderen aber auch dramatische Ereignisse wie die Krebserkrankung von Laykens Mutter oder ein schwerer Autounfall von Layken, bei dem diese lebensgefährlich verletzt wird.191 Diese Ereignisse sind so angeordnet, dass sie nach einer erneuten Annäherung zwischen den Liebenden jeweils wieder zu einer
189Kaufman
2012 [14.01.2015]. 2013 [14.01.2015]. Vgl. ähnlich auch Donahue 2013 [14.01.2015] oder Stengle 2013 [14.01.2015]. 191Mit dem Motiv der Krebskrankheit greift Hoover ein Thema auf, das aktuell in der Literatur und Kultur Hochkonjunktur hat, wie z. B. Romane bzw. autobiographische Darstellungen von Christoph Schlingensief, Wolfgang Herrndorf, Henning Mankell oder John Green, Libba Bray, Evan Kuhlmann und Sally Nicholls für die Kinder- und Jugendliteratur zeigen. Analog zur Chick Lit findet sich in Besprechungen und auf Buchplattformen der Begriff der Sick Lit für die Krankheit und Tod thematisierende Literatur. Vgl. zur Darstellung von Krankheit und Tod in der aktuellen Jugendliteratur z. B. Schäfer/Ullmann/ Blümer 2014. 190Sarner
4.3 Genre-Schemata am BeispieI (I): Liebesromane in der Nachfolge …
139
ntfernung bzw. zum Aufschub ihrer ersten Liebesnacht führen und damit E zu einer Steigerung der Spannung und der Emotionalität beitragen. Nachdem Laykens Mutter gestorben ist und Will und Layken ihr Versprechen, das sie der Mutter am Totenbett gegeben haben, „mit dem Sex noch ein Jahr zu warten“,192 eingelöst haben und ihre erste gemeinsame Nacht akribisch planen, taucht genau an diesem Abend die Exfreundin von Will auf, was zu einer erneuten Trennung führt. Nachdem dieses Hindernis durch eine Versöhnung und ein erneutes Liebesgeständnis überwunden ist und die Liebenden die Nacht gemeinsam verbringen möchten, passiert just auf der Heimfahrt von diesem Versöhnungsabend der schwere Unfall. Nach dem Erwachen aus dem Koma bekommt Layken einen Monat Ruhe verordnet, wodurch die Liebesnacht erneut hinausgeschoben wird: „Ist dir klar, wie schwer es für mich ist, mit dir zusammen in einem Bett zu schlafen und nichts tun zu dürfen? Bist du dir sicher, dass er von einem ganzen Monat gesprochen hat? Dass ich einen ganzen Monat komplette Ruhe brauche?“ „Na ja, er hat nicht von einem Monat gesprochen, sondern von vier Wochen“, sage ich und streichle ihren Arm. „Wir können es ja wörtlich nehmen, dann sind es nur achtundzwanzig Tage.“ […] „Nichts da. Wir müssen die vier Wochen abwarten. Ärztlichen Anordnungen widersetzt man sich nicht“, sage ich. „Was hältst du davon, wenn wir es auf den 2. März verschieben?“ […] „Aber ich will eine Suite in einem Hotel. eine richtig luxuriöse Suite mit allem Drum und Dran.“ „Sollst du haben.“ „Mit einem Blumenstrauß und einer Schachtel Pralinen.“ „Bekommst du beides“, sage ich, hebe den Kopf, küsse sie und rolle mich dann zur Seite. „Und einen Früchtekorb. Mit Erdbeeren.“ „Kriegst du auch“, gähne ich und ziehe mir die Decke über den Kopf. „Und flauschige Hotelbademäntel. Für uns beide. Die ziehen wir dann das ganze Wochenende nicht aus.“ „Ganz egal, was du haben willst, Lake, du wirst es bekommen. Aber schlaf jetzt. Du musst dich erholen.“193
An dieser Textstelle wird deutlich, dass das auf struktureller Ebene wirksame Prinzip der additiven Steigerung auch auf der Mikroebene eingesetzt wird, indem hier verschiedene Wünsche Laykens anaphorisch aneinandergereiht werden, die in einer Replik von Will kulminieren, der ihr im Sinne einer letzten und totalen Steigerung „alles“ verspricht. Dem Liebesroman-Schema entsprechend wird auch in Layken und Will die Hinauszögerung der gemeinsamen Liebesnacht zur Etablierung des
192Hoover 193Ebd.,
2014 (Weil ich Will liebe), S. 36. S. 330 f.
140
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
andlungszusammenhangs und damit zur Erzeugung von Serialität genutzt.194 H Nachdem alle Hindernisse am Ende des zweiten Bandes beseitigt sind und Will und Laykens Hochzeit stattgefunden hat, endet der zweite Band damit, dass Will seine Frau über die Schwelle des Hotelzimmers trägt und beginnt sie auszuziehen. Im Gegensatz zu den bislang besprochenen Jugendromanen nimmt die Darstellung der Sexualität spätestens ab dem dritten Band breiteren Raum ein, wie beispielsweise die kurze Schilderung des Geschlechtsaktes in der Hochzeitsnacht zeigt: As soon as I push myself inside her, our lips collide, our tongues collide, our bodies collide, and our hearts collide. Then this girl completely shatters the window to my soul and crawls inside.195
Allerdings macht dieses Zitat auch deutlich, dass Hoover keinen pornographischen Stil verwendet, wie ihn Ewers für den Erste-Liebe-Roman ausmacht und wie er für die aus einer Twilight-Fanfiction entstandene Shades of Grey-Trilogie (2011–2012) kennzeichnend ist, sondern im Anschluss an eine kurze explizite Passage sofort in einen metaphorischen Stil wechselt.196 Somit folgt die Liebeskonzeption analog zu den bislang besprochenen Romanen dem Ideal der „romantischen Liebe“, das in dem Motiv der Liebe auf den ersten Blick, der langen Phase der Enthaltsamkeit, der Ausschließlichkeit und Totalität des Liebeserlebens, in der frühen Heirat und der im Epilog des dritten Bandes geschilderten Geburt des gemeinsamen Kindes zum Ausdruck kommt.197 Neben der inhaltlichen Anknüpfung an das von Twilight geprägte Liebesroman-Schema können auch formale Analogien zu Meyers Romanen ausgemacht werden, wie beispielsweise die Inspiration durch Songtexte, die beide
194Bei den drei Layken und Will-Romanen handelt es sich nicht um eine von vornherein intendierte Trilogie, vielmehr lassen Selbstaussagen der Autorin sowie die Handlungsstruktur des ersten Bandes, der in sich abgeschlossen ist, darauf schließen, dass der zweite und dritte Band als Sequels konzipiert wurden. Dieser Entstehungskontext erklärt auch, weshalb die Liebesgeschichte im zweiten Teil durch eine Reihe von neuen Hindernissen (Exfreundin, Autounfall) redramatisiert werden muss. 195Hoover 2013 (This Girl), S. 278. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels war der dritte Band noch nicht auf Deutsch erschienen, weshalb hier aus der Originalfassung zitiert wird. 196Vgl. Ewers 2013b, S. 236–239 und Abschnitt 4.2.2. 197Das letzte Kapitel des dritten Bandes schließt mit dem Versprechen einer ewigen Liebe: „I kiss her on the forehead. ‚You. Always you.‘“ (Hoover 2013 (This Girl), S. 284)
4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel …
141
Autorinnen in paratextuellen Äußerungen betonen,198 oder der Wechsel der Fokalisierungsinstanz zwischen den einzelnen Bänden. Während der erste Teil aus Laykens Perspektive erzählt wird, erfolgt die Schilderung der Fortsetzung aus Wills Sicht. Im dritten Teil, in dem die Erzählzeit ausschließlich einen Tag des Flitterwochenendes umfasst, an dem kaum eine Handlungsentwicklung stattfindet, werden retrospektiv Szenen aus dem ersten Teil aus Wills Perspektive nochmals erzählt. Ein ähnliches Verfahren hatte Stephenie Meyer mit Edward – Auf den ersten Blick (orig. 2008) gewählt, in dem der erste Band des TwilightZyklus, in dem Bella durchgehend die Fokalisierungsinstanz ist, aus Edwards Perspektive neu erzählt wird.199 Nachdem das paradigmatische Konstruktionsprinzip nun am Beispiel der Fantasy-Liebesromane in der Nachfolge von Twilight aufgezeigt wurde, werden die entwickelten Thesen abschließend auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse von Suzanne Collins’ dystopischer Trilogie Die Tribute von Panem zu einem Fazit geführt. Das nachfolgende Kapitel fungiert gleichzeitig als Überleitung zum zweiten Teil der vorliegenden Studie, in dem literale Praktiken, die auf der Textgrundlage von Collins’ Romantrilogie entstanden sind, rekonstruiert werden.
4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel von Die Tribute von Panem – Fazit und Überleitung „Ich starre in den Spiegel und versuche mich zu erinnern, wer ich bin und wer ich nicht bin.“200
Was Katniss Everdeen, die Protagonistin der Tribute von Panem, nach ihrem Sieg in den Hungerspielen am Ende des ersten Bandes der Trilogie denkt, lässt sich metafiktional als Erzählstrategie aller analysierten Romane verstehen.
198Vgl. die Widmung und die Danksagungen im letzten Band der Twilight-Tetralogie (Meyer 2011) und die im Bis(s)-Handbuch veröffentlichten Playlists (Meyer 2011, S. 470– 504) sowie den ersten Band der Layken und Will-Trilogie, der der amerikanischen Folkrockband The Avett Brothers gewidmet ist und dessen Kapiteln jeweils ein Songzitat dieser Band als Epigraph vorangestellt wird. 199Vgl. Abschnitt 3.3.4. 200Collins 2009 (Tödliche Spiele), S. 412.
142
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
In den zurückliegenden Kapiteln wurde der Versuch unternommen, das serielle paradigmatische Konstruktionsprinzip der Romane aufzuzeigen und diese ausgehend von dieser Theorie zu deuten. Im Gegensatz zu Interpretationen, die die Romane einzeln oder in Gruppen innerhalb eines singulären Deutungsrahmens (in der Regel ausgehend von einem der Gattungsbezüge) lesen und verorten, wurde die These vertreten, dass zwischen verschiedenen Romanzyklen Zusammenhänge in Form einer paradigmatischen Serialität bestehen, die impliziert, dass sich wiederholende Genre-Schemata jeweils unterschiedlich kombiniert und variiert werden. Für die Figuren der Romane bedeutet dies, dass diese nicht in einem einzelnen Genrebezug aufgehen, sondern Merkmale verschiedenster Genre-Schemata in sich vereinen. Dies hat zur Folge, dass die Figuren keine konsistenten Identitäten aufweisen bzw. dass eine Lesart, die die Romane auf einen einzelnen Gattungsbezug zurückführt, aus der Perspektive einer paradigmatischen Serialität zwangsläufig einseitig bleiben muss. So sind die Protagonistinnen und Protagonisten weder ausschließlich vormoderne Heroinnen und Heroen201, noch ausschließlich Abenteurerinnen und Abenteurer202, noch ausschließlich Figuren des Widerstandes203, noch ausschließlich feministische oder antifeministische Heldinnen204, noch ausschließlich normale Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden205, sondern mitunter alles auf einmal.206 Die sich hieraus ergebenden widersprüchlichen Identitäten lassen sich kaum psychologisch im Sinne moderner oder postmoderner Identitätsdiskurse deuten, zu disparat sind die unterschiedlichen Genrebezüge, die ihrerseits wiederum eine Vielzahl an intertextuellen und intermedialen Verweisen enthalten.207 Vielmehr entstehen populärkulturelle Kunstfiguren, deren Inkonsistenzen und Brüche an der Textoberfläche durch eine straffe Handlungsführung und eine eindeutige
201Vgl. Abschnitt 4.2.1 und exemplarisch für die Deutung der Fantasyhelden als vormoderne Heroen Ewers 2012b oder Schweikart 2012. 202Vgl. Abschnitt 4.2.4 und exemplarisch für die Deutung weiblicher Fantasyfiguren als Abenteurerinnen Kalbermatten 2011. 203Vgl. Abschnitt 4.2.1 und exemplarisch für die Deutung der Protagonistinnen dystopischer Romane als Figuren des Widerstands Day 2014. 204Vgl. Abschnitt 4.2.2. 205Vgl. Mikota 2014 zur Darstellung weiblicher Adoleszenz in der fantastischen Jugendliteratur. 206Je nach Roman liegen die einzelnen Bezüge in unterschiedlicher Kombination und Gewichtung vor. 207Vgl. Schlachter 2014b.
4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel …
143
Plotstruktur verwischt werden.208 Abschließend soll dieses Fazit aus der Beschäftigung mit den Jugendromanen des Textkorpus am Beispiel von Katniss Everdeen veranschaulicht werden; dabei werden Inhalt und Struktur der Romane so ausführlich dargestellt, dass die im folgenden Teil im Mittelpunkt stehenden Beiträge aus dem Tribute von Panem-Forum nachvollzogen werden können. Mit dem die Welt-Zeit-Struktur sowie die Grundstruktur der Handlung bestimmenden Dystopie-Schema werden in den Tributen von Panem das Liebesroman-Schema, das Abenteuerroman-Schema und das Krimi-Schema verknüpft. Band 1 der Trilogie setzt mit der Schilderung der dystopischen Wirklichkeit von Panem ein, einem Land, das nach jahrzehntelangen Ökokatastrophen, Kriegen und Aufständen aus dem früheren Nordamerika hervorgegangen ist und von einem diktatorischen Regime beherrscht wird. Zum Machterhalt und zur Einschüchterung der Bevölkerung führt das Regime jährliche, als TV-Spektakel inszenierte Hungerspiele durch, in denen sich Kinder aus unterschiedlichen Distrikten des Landes in einer Freiluftarena bekämpfen müssen, bis nur noch ein Kind übrigbleibt. Die Hungerspiele als wesentlicher Bestandteil des dystopischen Settings sind in ihrer episodischen Struktur nach dem Abenteuerroman-Schema gestaltet. In der Arena reihen sich verschiedene, dem Prinzip der Steigerung unterworfene Abenteuerepisoden aneinander, in denen es für Katniss gilt, Bedrohungen abzuwenden und sich ähnlich wie der klassische Abenteurer selbst zu behaupten und am Leben zu erhalten. Die einzelnen Kampfepisoden folgen einer Ästhetik der Action, die mithilfe filmästhetischer Schreibweisen wie Zeitdehnung, einem parataktischen, elliptischen Satzbau und der detailreichen Schilderung von Gefühlen und Orten Dynamik, Bedrohung und Spannung erzeugt. Auch die Quellen der Bedrohung sind an das klassische Repertoire des Abenteuerromans angelehnt und variieren Motive wie Naturgewalten (Feuer, Hitze und Kälte, Regen und Dürre), gefährliche Tiere (Jägerwespen, Mutationen) oder böse Menschen (feindliche Tribute, Spielmacher). Mit dem Erleben oder Erleiden der Abenteuer ist für Katniss das Verlassen ihrer Heimat und ihrer Familie verbunden, das für Abenteuerromane typische Motiv der Reise findet sich in abgewandelter Form als lange Zugreise von ihrer Heimat zum Ort der Hungerspiele wieder. Auch was die Figurengestaltung anbelangt, trägt Katniss typische Züge einer klassischen Abenteurerin. Die Totalität des Abenteurers äußert sich in der Sonderstellung und Sonderrolle, die Katniss durch ihre freiwillige Meldung für
208Vgl.
ebd., S. 5 f.
144
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
die Hungerspiele einnimmt, die sie zu etwas Besonderem macht und von ihrer Umwelt abhebt: …jetzt sieht es so aus, als wäre ich auf einmal jemand Besonderes.209 Was ich getan habe, war radikal.210
Katniss hat auch die notwendige Ausstrahlungskraft einer Abenteurerin, auch wenn ihr das selbst zunächst nicht bewusst ist: Peeta verdrehte die Augen in Haymitchs Richtung. „Sie hat keine Ahnung, was für eine Ausstrahlung sie haben kann.“211
Ein grundlegendes und in der Arena zunehmend wachsendes Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten hat sie von Anfang an, das sie in Zusammenhang mit ihrer leicht entflammbaren Wut als geborene Kämpferin erscheinen lässt: Abgesehen davon liegt es nicht in meiner Natur, mich kampflos zu ergeben, selbst wenn die Hindernisse unüberwindlich scheinen.212
Trotz dieser im Abenteuerroman-Schema verankerten Eigenschaften und Fähigkeiten geht Katniss nicht in der Figur der Abenteurerin auf, da konkurrierend weitere Schemata hinzutreten, aus denen die Figur zusammengesetzt wird. So ist Katniss‘ Meldung für die Hungerspiele natürlich nur im Sinne einer unfreiwilligen Freiwilligkeit zu verstehen, die letztlich den dystopischen Zwangsmechanismen unterworfen bleibt und nicht mit der Lust des klassischen Abenteurers am Abenteuer in Einklang gebracht werden kann. Katniss’ freiwillige Teilnahme zur Rettung ihrer Schwester kann ebenso wie ihre beständige Sorge um ihre Familie allenfalls mit den Tugenden des klassischen Abenteurers assoziiert werden, bleibt über die Verknüpfung von Dystopie- und Abenteuerroman-Schema jedoch letztlich Ausdruck ihrer Fremdbestimmt heit in einem diktatorischen Regime. In gewisser Weise wird hier, auch über die Bezeichnung der Kämpfer als Tribute und durch die Anlehnung an den Theseus- und Spartakusmythos, eine Annäherung der Figur an den archaischen 209Collins
2009 (Tödliche Spiele), S. 30. S. 32. 211Ebd., S. 103. 212Ebd., S. 44. 210Ebd.,
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Helden angedeutet, dessen Schicksalsgebundenheit allerdings in der dystopischen Variation der Fremdbestimmung erscheint.213 Ganz im Sinne des dystopischen Schemas befreit sich Katniss zunehmend aus ihrer Fremdbestimmtheit und wird zu einer Figur des Widerstands, die eine kritische Perspektive auf das Geschehen entwickelt. Das Abenteuerroman-Schema wird dadurch jedoch nicht außer Kraft gesetzt: Das Geschehen in voller Romanlänge wird vielmehr nur dadurch möglich, dass Katniss mitspielt, sich den Abenteuern stellt und sich nicht etwa von vornherein komplett verweigert (und dadurch Widerstand leisten würde). Passagen im Text, die auf ihre äußere und innere Beteiligung im Spiel und damit auf das Abenteuerroman-Schema verweisen, wechseln sich mit solchen ab, die sie als zunehmend kritische Figur des Widerstands zeichnen. Dieser Widerspruch wird im ersten Band der Trilogie bis zum Ende in der Schwebe gehalten. So tötet sie zunächst indirekt, indem sie ein Jägerwespennest auf eine Gruppe Tribute fallen lässt, später tötet sie den Mörder ihrer Bündnispartnerin Rue. Ihre innere Beteiligung wird in folgenden Aussagen exemplarisch deutlich: Die Waffen verändern meine Einstellung gegenüber den Spielen völlig. Ich weiß, dass ich harte Gegner habe. Aber jetzt bin ich nicht mehr nur Beute, die davonrennt oder sich versteckt oder ihr Heil in Verzweiflungstagen sucht. Wenn Cato jetzt durchs Gebüsch herangestürzt käme, würde ich nicht fliehen. Ich würde schießen. Ich merke, dass ich mich auf diesen Augenblick regelrecht freue.214 Ich bin jetzt fest entschlossen, sie zu rächen, ihren Verlust unvergesslich zu machen, und das kann ich nur, indem ich gewinne und mich selbst damit unvergesslich mache.215 Einundzwanzig Tribute sind tot, aber noch muss ich Cato töten. Und war er nicht eigentlich immer derjenige, den es zu töten galt? Jetzt kommt es mir vor, als wären die anderen Tribute nur kleinere Hindernisse gewesen, die uns vom wahren Kampf dieser Spiele abgelenkt haben. Cato gegen mich.216
Das als Showdown-Szene inszenierte finale Duell zwischen Cato und ihr bringt die Spannung der Figur paradigmatisch zum Ausdruck: Die actionhaltige Auseinandersetzung gewinnt Katniss, indem sie Catos Hand mit einem Pfeil
213Zum Verweis
auf den Theseus- und Spartakusmythos vgl. Schlachter 2014b, S. 5. 2009 (Tödliche Spiele), S. 222. 215Ebd., S. 271. 216Ebd., S. 365. 214Collins
146
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d urchbohrt, was zur Folge hat, dass Cato in eine Meute hungriger Tiermutationen stürzt und von diesen zerfleischt wird. Der Schuss, mit dem sie Cato schließlich tötet, erscheint als Gnadenschuss: „Mitleid, nicht Rachsucht lässt mich den Pfeil in seinen Schädel abschießen.“217 Wie in dieser Szene wird Katniss von Anfang an auch als Figur mit Gewissen und Gefühlen gezeichnet, wodurch ihre Unschuld unterstrichen wird; in den zuletzt genannten, über den gesamten Roman verstreuten Zitaten, in denen Katniss als Abenteurerin die Spiele aktiv mitspielt und -denkt, war dagegen von ihrem Gewissen und von Gedanken des Widerstands nichts zu spüren. Die Idee des Widerstands wird bereits vor Beginn der Spiele durch Katniss’ Tributpartner Peeta geäußert, indem er ein S ich-selbst-Bleiben als mögliche Form des Widerstands entwirft, wodurch einer Vereinnahmung durch das Regime entgegengewirkt werden könne.218 Nach der Ermordung ihrer Mittributin Rue erinnert sich Katniss an Peetas Worte, die zu einer Art Bewusstwerdung ihres Widerstandsgeistes und in der Folge zu ihrem ersten Akt des Widerstands in Form einer Blumenbestattung von Rue führen: Ich hasse das Kapitol, das uns allen dies antut. Gales Worte fallen mir ein. Seine wirren Reden gegen das Kapitol erscheinen mir jetzt nicht mehr ohne Sinn, ich kann sie nicht länger abtun. Rues Tod hat mich gezwungen, mich meinem eigenen Zorn über die Grausamkeit zu stellen, über das Unrecht, das sie uns antun. Aber hier fühle ich mich noch ohnmächtiger als zu Hause. Es gibt keine Möglichkeit, es dem Kapitol heimzuzahlen. Oder? Da fällt mir ein, was Peeta damals auf dem Dach gesagt hat: „Ich wünsche mir nur, mir würde etwas einfallen, wie … wie ich dem Kapitol zeigen kann, dass sie mich nicht besitzen. Dass ich mehr bin als eine Figur in ihren Spielen.“ Und zum ersten Mal verstehe ich, was er meint. Ich möchte hier und jetzt etwas tun, das sie beschämt, das sie zur Verantwortung zieht und ihnen zeigt, dass jeder Tribut etwas hat, das sie nicht bekommen werden, was sie auch tun und wozu sie uns auch zwingen. Dass Rue mehr war als eine Figur in ihren Spielen. Und ich auch.219
Mit Katniss’ letzter Handlung in der Arena, der Andeutung ihres und Peetas Doppelselbstmordes, wird sie zum Auslöser und Symbol der Rebellion gegen das Regime, die die weitere Handlung in den Folgebänden bestimmen wird. Ihr selbst wird das Ausmaß ihrer Handlung allerdings erst im Nachhinein bewusst; im Augenblick des Geschehens ging es ihr vor allem darum, sich selbst und ihren Mittribut Peeta zu retten, für den sie zwiespältige Gefühle hegt.
217Ebd.,
S. 379. ebd., S. 160. 219Ebd., S. 264 f. 218Vgl.
4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel …
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Mit dem Liebesroman-Schema wird die Figur der Katniss in einem weiteren Genreschema verankert, das zum einen auf die Figurengestaltung einwirkt, zum anderen den Handlungsverlauf über die drei Bände der Trilogie mitbestimmt.220 Katniss wird auch als normales Mädchen gezeichnet, das in einer für das Schema typischen Dreiecksgeschichte zwischen zwei Jungen, ihrem Mittribut Peeta und ihrem Jugendfreund Gale, steht.221 Das grundsätzliche Hindernis liegt neben dieser Dreieckskonstellation in den dystopischen Umständen begründet, die für Katniss eine romantische Liebe mit Kindern, die dann ebenfalls potentielle Tribute für die Hungerspiele werden könnten, nicht zulassen.222 Damit das Schema über drei Bände hinweg trägt, werden Katniss’ Gefühle für beide Jungen bis in den dritten Band hinein offengehalten; so bleibt unklar, ob die für die Zuschauer inszenierte Liebesgeschichte in der Arena nur eine Überlebensstrategie darstellt oder ob sich auch wahre Gefühle einstellen. Eine weitere Strategie des Aufschubs liegt darin, dass auch Peetas Verhalten in der Arena und seine wahren Gefühle für Katniss erst am Ende des ersten Bandes enthüllt werden. Die Spannungen und Widersprüche, die sich aus der Kombination der drei beschriebenen Genre-Schemata ergeben, lassen sich, so die hier vertretene These, nicht einseitig auflösen223 und sind vielmehr Ausdruck des seriellen Konstruktcharakters dieser Kunstfiguren, der durch Versuche, die Widersprüche in Einklang zu bringen, verdeckt werden würde.224 In den beiden folgenden Bänden werden die drei beschriebenen Schemata weitergeführt, wobei das D ystopie-Schema zunehmend ausgebaut wird, jedoch in einer ständigen Spannung zum Abenteuerroman-Schema bleibt. Als weiteres die Handlungsstruktur beeinflussendes Schema tritt im Mittelband der Trilogie das Krimi-Schema hinzu. Im Rahmen des Dystopie-Schemas wird in Band 2 ausführlich Katniss’ zunehmende Bewusstwerdung als Figur des Widerstands geschildert; Gedanken und Aktionen des
220Das Liebesroman-Schema ist allerdings weniger dominant als in den in Abschnitt 4.3 analysierten Liebesromanen und in nachfolgenden Dystopien wie z. B. Amor. 221Vgl. Collins 2009 (Tödliche Spiele), S. 221, S. 314 und S. 412. 222Vgl. ebd., S. 46, S. 348 und S. 414 f. 223Sawyer Fritz 2014 und Green-Barteet 2014 deuten Katniss einseitig als Figur des Widerstands, während Broad 2013 ihr jegliches Widerstandspotential abspricht und sie im Sinne einer antifeministischen Romance-Heldin deutet. 224Kalbermatten 2016 unternimmt den Versuch, die Widersprüchlichkeiten vor dem Hintergrund postfeministischer Diskurse in Einklang zu bringen. Vgl. hierzu im Gegensatz meine Ausführungen zu Twilight in Abschnitt 4.3.1. Alle erwähnten Interpretationen vernachlässigen die Verankerung des Textes im Abenteuerroman-Schema.
148
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Widerstands durch Rebellenfiguren wechseln sich mit Aktionen des Kapitols ab, das Aufstände brutal niederschlagen lässt und neue Unterdrückungsmechanismen gegen das Volk in den Distrikten einsetzt. Mit diesem sich wiederholenden Wechsel zwischen Widerstandsaktionen und deren Niederschlagung wird das Handlungsschema der klassischen Dystopie aufgegriffen und dieses zugleich mit dem Abenteuerroman-Schema verknüpft, das wie oben beschrieben über eine Action-Ästhetik die Mikrostruktur der einzelnen Episoden bestimmt. Über diese Verknüpfung wird die Handlung des zweiten und dritten Bandes über weite Strecken in Gang gehalten: So bleiben die Kräfteverhältnisse zwischen Rebellen und Kapitol bis kurz vor Schluss offen und jede Aktion der Rebellen ruft die entsprechende Reaktion des Kapitols hervor. Um Langeweile und eine Abnutzung der Schemata zu verhindern, werden Strategien der Variation und Steigerung eingesetzt; außerdem sorgt im zweiten Band das Krimi-Schema für zusätzliche Spannung, wie nun am Beispiel des Jubel-Jubiläums veranschaulicht werden soll. Als Vergeltung für Katniss’ Widerstand in den ersten Hungerspielen stellt das Jubel-Jubiläum eine weitere Auflage der Hungerspiele, wie sie im ersten Band bereits ausführlich erzählt wurden, dar. Während Katniss’ Teilnahme durch die Regel, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den bisherigen Siegern in den Distrikten ausgelost werden, feststeht, da sie die einzige weibliche Siegerin von Distrikt 12 ist, meldet sich dieses Mal ihr Partner Peeta anstelle des gelosten Haymitch freiwillig für die Spiele. Eine weitere Variation in Bezug auf die ersten Hungerspiele besteht darin, dass sich die Beschützerrollen umkehren und Katniss es als ihre Mission ansieht, Peetas Überleben in der Arena zu sichern. Katniss’ Inszenierung als Symbol des Widerstands durch ihren Stylisten folgt der Strategie der Steigerung; ihre Kostüme sind noch toller und aufsehenerregender als bei den letzten Hungerspielen: Er dreht mich zu einem Spiegel hin, damit ich die Wirkung im Ganzen erkennen kann. Was ich sehe, ist kein Mädchen und auch keine Frau, sondern eine überirdische Erscheinung, die aussieht, als wäre sie in dem Vulkan zu Hause, der bei Haymitchs Jubiläumsspielen so viele Tribute vernichtet hat.225 Peeta und ich dagegen in unserem sich dauernd verändernden Kohle-Kostüm wirken so hypnotisierend, dass die meisten anderen Tribute uns nur anstarren. […] Die Hymne erklingt und während wir das letzte Stück fahren – irre ich mich? Oder starrt sogar der Präsident mich an?226
225Collins 226Ebd.,
2010 (Gefährliche Liebe), S. 232. S. 239.
4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel …
149
Während auch der Aufbau der Arena, die mit ihr verbundenen Gefahren und die einzelnen Action-Episoden innerhalb des Abenteuerroman-Schemas geringfügige Variationen der ersten Hungerspiele darstellen, wird die stärkste Variation dadurch erzeugt, dass die Verschwörung der Rebellen als Geheimnis inszeniert wird. Katniss und Peeta sind in dieses nicht eingeweiht, werden jedoch über regelmäßig in die Geschichte eingestreute clues misstrauisch gemacht bzw. auf die Existenz eines Geheimnisses hingewiesen. Im Sinne des Krimi-Schemas lassen sich die einzelnen Puzzleteile nach und nach zu einer kohärenten Geschichte zusammenfügen, und die Pläne und das Verhalten der Rebellen werden Katniss und den Leserinnen und Lesern schließlich nach Abbruch der Hungerspiele enthüllt. Im letzten Band der Trilogie schließlich nimmt das Dystopie-Schema immer breiteren Raum ein, wobei zunehmend deutlich wird, dass die Rebellen und deren Anführerin Coin mit denselben diktatorischen Mitteln regieren wie ihre Gegner: Das Leben in Distrikt 13, dem Sitz des Widerstandes, ist durch Uniformität, Überwachung und Fremdbestimmung gekennzeichnet, welche als Preis des Überlebens und des Gelingens der Revolution gerechtfertigt werden. Die Methoden der Kriegsführung erweisen sich als genauso brutal und mittleidlos gegenüber der eigenen und gegnerischen Zivilbevölkerung wie diejenigen des Kapitols, was vor allem in der Figur des Gale und dessen Rolle bei der Entwicklung von Waffen personifiziert wird: Jetzt sehe ich, was sie machen. Sie nutzen die Ideen, die in Gales Fallen stecken, und bauen daraus Waffen, die man gegen Menschen einsetzen kann. Vor allem Bomben. Es geht weniger um die Mechanik der Fallen als um die Psychologie dahinter. […] Wie zum Beispiel Mitleid. Eine Bombe geht hoch. Man lässt den Menschen Zeit, den Verwundeten zu Hilfe zu eilen. Und dann werden sie von einer zweiten, noch stärkeren Bombe getötet. „Dass ihr damit eine gewisse Grenze überschreitet, wisst ihr, oder?“, sage ich. „Dann ist jetzt also alles erlaubt?“ Die beiden starren mich an – Beetee zweifelnd, Gale feindselig. „Offenbar gibt es keine Vorschriften dafür, was man einem anderen Menschen auf keinen Fall antun darf.“ „Natürlich gibt es die. Beetee und ich halten uns an dieselben Vorschriften wie Präsident Snow, als er Peeta eingewebt hat“, erklärt Gale.227
Obwohl Katniss sich des Dilemmas des gewaltsamen Widerstands zunächst bewusst ist und das Vorgehen der Rebellen wie hier wiederholt kritisiert, wird sie zunehmend von ihren persönlichen Rachegefühlen dem Präsidenten des
227Collins
2011 (Flammender Zorn), S. 207.
150
4 Paradigmatische Serialität: Genre-Schemata
Kapitols gegenüber angetrieben und verwandelt sich selbst mehr und mehr in eine brutale Kämpferin, die auf ihrem Rachefeldzug ebenfalls eine unbewaffnete Zivilistin umbringt. Der utopisch-kritische Impuls der Dystopie wird somit nicht durch die Figur der Katniss verkörpert, auch wenn sie in einer überraschenden Wendung schließlich die Präsidentin der Rebellen erschießt, sondern in doppelter Hinsicht ex negativo durch das Verhalten des Kapitols und der Rebellen; Katniss lässt sich (aufgrund ihrer Verortung in mehreren Genre-Schemata) nicht eindeutig als positive Figur des Widerstands deuten – ein Umstand, der unter den jugendlichen Leserinnen und Lesern im Tribute von Panem-Forum viele Diskussionen auslösen wird (Abschnitt 7.2.1.3). Auf der formal-sprachlichen Ebene kommt Katniss’ zwiespältige Rolle in ihrer unzuverlässigen Ich-Perspektive und damit korrespondierenden Formen der Figurenrede und -charakterisierung zum Ausdruck. Eine utopische Gegenwelt gibt es innerhalb der Fiktion weder für Katniss noch für den Leser.228 Das Ende der Trilogie sowie deren Jahre später spielender Epilog, die andeuten, dass Katniss trotz ihrer Traumatisierung ins Leben zurückgekehrt ist, verweisen allerdings darauf, dass eine utopische Gegenwelt möglich erscheint; mit dieser utopischen Andeutung verortet sich die Trilogie innerhalb des jugendliterarischen Handlungs- und Symbolsystems (Abschnitt 4.2.1). Wie in den anderen Bänden bleibt auch in Band 3 das Dystopie- mit dem Abenteuerroman-Schema verknüpft. Der finale Kampf der Rebellen, um das Kapitol zu stürzen, wird in einer dritten Variation nach den jeweiligen Hungerspielen in den vorhergehenden Bänden wiederum als „Spiel“ inszeniert, in dem nun auch Präsident Snow mitspielt. Das Kapitol selbst gleicht einer Arena mit den unterschiedlichsten Bedrohungen und Gefahren, die ausgeschaltet werden müssen: Denn nur ein Sieger kann sehen, was ich sofort erfasst habe. Die Arena. Übersät mit Kapseln, die von den Spielmachern gesteuert werden. […] „[…] Die Kapseln stehen für unterschiedliche Hindernisse, von einer Bombe bis zu einer Meute Mutationen ist alles denkbar. Ihr dürft keinen Fehler machen, sonst geht ihr in die Falle oder werdet getötet.“229
228Das sich durch den dritten Band ziehende Motiv der nicht einholbaren Wahrheit unterstützt diese These (vgl. z. B. ebd., S. 131 oder S. 200 ff.). 229Ebd., S. 275.
4.4 Genre-Schemata am Beispiel (II): Figurendarstellung am Beispiel …
151
„Schlimm genug zu wissen, dass wir wieder in eine richtige Arena zurückmüssen. […]“ „Es wird nicht so sein wie bei den anderen Spielen“, sage ich entschieden, denn ich will mich selbst überzeugen. Dann dämmert mir der eigentliche Reiz der Situation. „Diesmal spielt auch Snow mit.“230
Im letzten Drittel des Romans reiht sich wie in den Hungerspielen der Bände zuvor eine Action-Episode an die andere, die insgesamt nach dem Prinzip der Variation durch Steigerung angeordnet sind. Die Bedrohung nimmt zu, die Kämpfe werden schlimmer, die Verluste werden höher, bis in einer letzten Kampfszene nicht nur Katniss’ Schwester Prim getötet wird, sondern auch Katniss und Peeta sich lebensgefährliche Brandverletzungen zuziehen. Die geschilderten Kämpfe können einerseits funktional innerhalb des Dystopie-Schemas als Widerstandsaktionen verortet werden; für diese These spricht auch die Tatsache, dass neben unschuldigen Zivilisten auch wichtige Figuren wie Finnick oder andere Rebellen sterben. Die formal-sprachliche Darstellung dieser Tode, die aus Katniss’ unzuverlässiger Ich-Perspektive geschildert werden, deren sprachliche Ausgestaltung Rückschlüsse auf ihren eigenen Gefühlszustand zulässt, kann innerhalb des Dystopie-Schemas ferner als kritischer Impuls gedeutet werden. Anderseits sind die Action-Ästhetik der Kampfschilderungen und die Inszenierung der Kämpfe als Spiel dem Abenteuerroman-Schema verpflichtet. Die daraus resultierenden Spannungen werden jedoch ähnlich wie in Twilight auf der Ebene des Plots an der Handlungsoberfläche verwischt, auf der das dystopische Schema durchgehend die Handlungsführung bestimmt, die dem klassischen dreiteiligen Aufbau der Dystopie folgt – innerhalb dieses Schemas nehmen, wie sich zeigen wird, auch die jugendlichen Leserinnen und Leser im Forum den Roman wahr.231
230Ebd.,
S. 277. didaktisch reduzierten Deutung, die der Rekonstruktion der Verstehensprozesse zugrunde gelegt wurde, vgl. Abschnitt 5.4. 231Zur
Teil II Facetten funktionaler Beteiligung – Eine Rekonstruktion literaler Praktiken und literarischer Verstehensprozesse im Rahmen einer GTM-Studie
5
Theoretische Rahmung
5.1 Das Tribute von Panem-Forum der Oetinger-Verlagsgruppe (2009–2014) als Untersuchungsgegenstand Als Untersuchungsgegenstand für die Rekonstruktion literaler Praktiken wurde das Tribute von Panem-Forum, das die Oetinger-Verlagsgruppe von Ende 2009 bis Oktober 2014 betrieben hat, gewählt. Zu Beginn dieses Forschungsvorhabens in den Jahren 2012/13 war dieses Forum eines der aktivsten im Bereich der Jugendliteratur: In fünf Jahren wurden hier von 2419 Mitgliedern knapp 465.000 Beiträge verfasst (Abbildung 5.1). Die Zahl der rezipierenden Zugriffe ist mit vier Millionen noch um ein Vielfaches höher, so dass davon ausgegangen werden kann, dass das Forum auch von passiven Leserinnen und Lesern frequentiert wurde. Der Forenstatistik zufolge lag der Besucherrekord bei 187 Besuchern, die am 21. März 2011 gleichzeitig online waren. Für eine Analyse in Betracht gezogen wurden außerdem verschiedene Twilight-Foren, die aber alle im Jahr 2012 bzw. 2013 bereits wieder geschlossen wurden. Forschungspragmatische Gründe, darunter die Bewältigung der Datenmengen, sprachen gegen die Auswahl eines großen Harry Potter-Forums.1 Da zu Jugendbuch-Foren,
1Das
hp-Fans.de-Forum (www.harry-potter-community.de) beispielsweise ist mit rund 807.000 Beiträgen (Stand: Februar 2019) doppelt so umfangreich wie das Tribute von Panem-Forum.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Schlachter, Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5_5
155
156
5 Theoretische Rahmung
die beispielsweise danach unterschieden werden können, ob sie von Privatpersonen oder von Verlagen betrieben werden, keine vergleichenden Studien vorliegen, kann aufgrund eigener Recherchen nur vermutet werden, dass die im Panem-Forum rekonstruierten literalen Praktiken auch in anderen Foren bzw. Online-Communities ausgeübt werden. Gerade in Bezug auf die Struktur von Jugendbuchforen und die sich darin widerspiegelnde Literalitätspraxis konnten bei stichprobenartigen Vergleichen hier keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Foren festgestellt werden. Ein gradueller Unterschied besteht jedoch in der Handhabung unerlaubter Inhalte. Hier scheinen sich von Verlagen betriebene Foren durch eine stärkere Sanktionierung auszuzeichnen, wobei auch privat betriebene Foren in der Regel auf Nutzungsbestimmungen hinweisen, die sich an den gesetzlichen Vorgaben orientieren. Um im Tribute von Panem-Forum Beiträge zu schreiben, musste eine Anmeldung und Registrierung erfolgen, bei der neben einer gültigen E-Mail-Adresse auch das Geburtsdatum, der Name und die Adresse angegeben werden mussten.2 Die verpflichtende Angabe sollte verhindern, dass sich Mitglieder Schein- oder Fake-Identitäten zulegten.3 Laut den am Jugendschutzgesetz orientierten Forenregeln mussten die User mindestens 14 Jahre alt sein, sich an Kommunikationsregeln zum Umgang miteinander halten, Gewaltdarstellungen vermeiden und sich in ihren Beiträgen (überwiegend) mit der Property Die Tribute von Panem auseinandersetzen.
2Die
Beschreibung des Forums orientiert sich an der Strukturanalyse von OnlineCommunities nach Marotzki 2003 bzw. an deren Weiterentwicklung durch Jörissen 2010 sowie an Döring 2010. 3Vgl. Döring 2010, S. 170.
5.1 Das Tribute von Panem-Forum der Oetinger-Verlagsgruppe …
Abbildung 5.1 Foren-Übersicht des Tribute von Panem-Forums
157
158
5 Theoretische Rahmung
Ab Januar 2013 mussten Beiträge in den Bereichen Fanfiction und Role Play Games von den Administratoren freigeschalten werden und in den entsprechenden Unterbereichen des Forums wurde nochmals auf die Regeln zur Darstellung von Gewalt hingewiesen. Die Betreibenden behielten sich vor, Mitglieder, die sich nicht an diese Forenregeln hielten, von der Nutzung auszuschließen. Für jedes Mitglied im Forum wurde automatisch ein Benutzerprofil erstellt, das aber als einzigen obligatorischen Eintrag einen Benutzernamen erforderte. Weitere Angaben zu Alter, Wohnort, Tätigkeit, Interessen und Angaben zu Benutzernamen oder -nummern anderer Internetdienste waren freiwillig. Die bei der Registrierung angegebenen Daten wurden im Benutzerprofil nicht öffentlich angezeigt. Soziale Beziehungen konnten im Profil über ein Buddy- und Ignore-System verwaltet werden, das die Kennzeichnung und Speicherung von Freunden bzw. ignorierten Mitgliedern ermöglichte.4 Die hierarchische Topic-Struktur des Forums war auf den ersten beiden Ebenen vom Verlag vorgegeben und war nach dem Muster eines Bulletin Boards linear-chronologisch strukturiert. Auf der dritten Ebene konnten angemeldete Forenmitglieder Gesprächssequenzen, sogenannte Threads, erstellen, indem sie einen Titel bzw. ein Thema benannten und einen ersten Beitrag (Anfangsposting) veröffentlichten, auf den andere Mitglieder dann antworten konnten. Neben dieser forenöffentlichen Kommunikationsmöglichkeit konnten sich angemeldete Mitglieder im Forum private Nachrichten (PN) schicken, die jeweils nur vom Adressaten bzw. Absender gelesen wurden. Das Identitätsmanagement im Forum erfolgte über vier Möglichkeiten der Selbstpräsentation. Neben dem Benutzernamen, der für jedes Mitglied obligatorisch war, konnten sich die Mitglieder fakultativ mittels eines Avatarbildes, einer Signatur und verschiedener Profilangaben darstellen.
5.2 Das Konzept der Anschlusskommunikation und seine Grenzen: Ergebnisse und Reflexion der Vorstudie Im Rahmen einer Vorstudie, in der rund 300 Forenbeiträge inhaltsanalytisch ausgewertet wurden, diente das in der Literaturdidaktik und Lesesozialisation gebräuchliche und damit naheliegende Konzept der Anschlusskommunikation als theoretischer Rahmen.5 Unter der leitenden Forschungsfrage, welche Formen
4Vgl.
Jörissen 2010, S. 137.
5Vgl.
Sutter 2002, Sutter 2010 und Friemel 2008.
5.2 Das Konzept der Anschlusskommunikation und seine Grenzen …
159
und Funktionen von Anschlusskommunikation im Forum nachgewiesen werden können, wurden folgende neun Kategorien ermittelt: 1. Unterhaltung und Spiel, 2. Selbstdarstellung, 3. Gemeinschaftsbildung, 4. Gestaltung, 5. Emotionsverarbeitung, 6. Verständnisklärung, 7. Bewertung des Gelesenen/Gesehenen, 8. Übertragung auf die eigene Lebenswelt/Identitätsarbeit, 9. Interpretation.6 Die Kategorien wurden nach dem Verfahren der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz im Wesentlichen induktiv aus dem Material entwickelt und anhand von Ankerbeispielen und Kategoriendefinitionen beschrieben.7 Ziel war es, einen ersten Überblick über das Forenhandeln zu erlangen, um die literaturdidaktische Relevanz des Feldes und die Qualität der Daten abschätzen zu können. Aus der Reflexion der Ergebnisse und des methodischen Vorgehens der Vorstudie ergaben sich für den Fortgang des Forschungsprozesses folgende Überlegungen bzw. Konsequenzen: 1. Das Internetforum stellt einen medialen Raum der literarischen Sozialisation dar; über solche Internetangebote und deren Nutzung ist in der literaturdidaktischen Forschung noch wenig bekannt. Die theoretischen Vorarbeiten haben überdies gezeigt, dass die Formen von Anschlusskommunikation in engem Zusammenhang mit der aktuellen seriellen Jugendliteratur stehen. Das Forum erweist sich als ein außerschulischer Ort, an dem ein serieller Jugendroman auf vielfältige Art und Weise verhandelt wird. Damit repräsentiert das Internetforum mit seinen Angeboten für einen spezifischen Rezipientenkreis offensichtlich einen wichtigen Raum der literarischen Sozialisation im Jugendalter. Hierbei ist auch die enge Verbindung zwischen Serialität und Anschlusskommunikation zu berücksichtigen. Aus der Lesesozialisationsforschung ist bekannt, dass die Peer Group als entscheidende Instanz der Lesesozialisation im Jugendalter gilt und dass durch Anschlusskommunikation unter Peers die Lesemotivation, das Leseverhalten sowie die Lesekompetenz gestützt werden.8 Abgesehen von Lektürevorlieben und Gratifikationen bei der Lektüre wurde das Freizeitlesen von Jugendlichen wenig beforscht.9 Noch wenig bekannt ist etwa, wie sich die literarische Sozialisation
6Zur
Durchführung und Auswertung der Vorstudie vgl. Schlachter 2014a. Kuckartz 2012, S. 77–98. 8Vgl. Philipp 2010 und im Überblick Philipp 2011, S. 129–138. 9Bertschi-Kaufmann hat mit Hilfe des Uses&Gratifications-Ansatzes untersucht, welche Gratifikationen mit der Freizeitlektüre von Jugendlichen verbunden sind. Der U&G-Ansatz ermittelt mit dem Instrument von Befragungen die Bedürfnisse, die zur Auswahl und Nutzung bestimmter Medien führen (vgl. Bertschi-Kaufmann 2011, 2013 und BertschiKaufmann/Graber 2017). Zu Lektürevorlieben von Jugendlichen vgl. z. B. Gattermaier 2003 oder Böhme et al. 2018. 7Vgl.
160
5 Theoretische Rahmung
von Jugendlichen angesichts des durch das Internet bereitgestellten Angebotsspektrums an Anschlusskommunikationsmöglichkeiten gestaltet. Die Bestandsaufnahme von Christine Garbe im Taschenbuch des Deutschunterrichts zum Verhältnis von literarischer Sozialisation und Mediensozialisation zeigt, dass in diesem Bereich noch große Forschungsdesiderate bestehen, die in den Jahren seit Erscheinen des Artikels nicht weniger geworden sind.10 Bezeichnenderweise werden literarische Sozialisation und Mediensozialisation getrennt voneinander abgehandelt und lediglich im letzten Abschnitt in ihrem Zusammenhang, aber unter einer Konkurrenzperspektive fokussiert. So heißt es dort: Ist der Forschungsbedarf zu Fragen der Mediensozialisation noch sehr groß, so lassen sich andererseits zu der Frage, wie sich Verlaufsformen der literarischen Sozialisation unter den Bedingungen wachsender Medienkonkurrenz gestalten, bereits einige Aussagen treffen.11
Durch eine Entgegensetzung von Buchkultur und den anderen Medien, wie sie auch in den repräsentativen JIM-Studien durch eine dichotome Formulierung von buch- bzw. medienbezogenen Items angelegt ist, gerät aus dem Blick, dass mit Internetforen12, Wikis, Fanfiction-Seiten, Bücherblogs13, Literaturplattformen14 und anderen Angeboten heute mediale Räume vorliegen, die auch von einer jugendlichen Rezipientengruppe stark frequentiert werden und die eine integrative Modellierung von Mediensozialisation und literarischer Sozialisation erfordern.
10Vgl.
Garbe 2013. S. 36. 12Mit dem zunehmenden Erfolg der Harry Potter-Bücher Anfang der 2000er-Jahre und ab 2006 mit Stephenie Meyers Twilight entstanden zwei Fandoms, die Internetforen im Bereich der Jugendliteratur etablierten. 13Vgl. verschiedene Beiträge in Bartl/Behmer 2017, Brendel-Perpina 2018 sowie Trilcke 2013. 14Vgl. Boesken 2010. Für das Lesen in digitalen Netzwerken, in denen Texte öffentlich gelesen, kommentiert und diskutiert werden können, hat sich der Begriff des social reading etabliert. Vgl. Stein o. J., Pleimling 2012 und Cordón-García et al. 2013. 11Ebd.,
5.2 Das Konzept der Anschlusskommunikation und seine Grenzen …
161
2. Das Datenmaterial ermöglicht Einblicke in Mikroprozesse des Textverstehens. Mit den Kategorien 5–9 wurde deutlich, dass der Text in manchen Threads tatsächlich ergiebig besprochen und verstanden wird. Es werden Deutungshypothesen geäußert, teilweise gemeinsam ausgehandelt und immer wieder am Text abgesichert. Andererseits gibt es, wie zu erwarten, auch Gesprächssequenzen, bei denen der Text nicht im Mittelpunkt steht. Außerdem zeigte sich, dass durch die Lektüre des Textes bei den Leserinnen und Lesern eine Vielzahl an Emotionen und subjektiven Einstellungen hervorgerufen werden. Damit in Zusammenhang stehen Bewertungen des Gesamttextes oder einzelner Aspekte. Emotionen, Einstellungen und Bewertungen scheinen also eine Schlüsselrolle im Rezeptionsprozess zu spielen, der weiter nachzugehen ist. Durch eine solche Zergliederung des Verstehensprozesses in Teilkomponenten knüpft die vorliegende Arbeit in diesem Teilbereich auch an die innerhalb der Literaturdidaktik seit mehreren Jahren etablierte empirische Textverstehensforschung an, die in zahlreichen Einzelstudien anstrebt, Einflussfaktoren und Teilkomponenten des Verstehens von literarischen Texten sowie deren Zusammenwirken zu ergründen.15 Diese Studien sind in Bezug auf ihre Textauswahl (vor allem Kurzprosatexte oder Gedichte) und auf ihre Rahmung alle auf den Literaturunterricht bezogen; mit der vorliegenden Arbeit wird eine Erweiterung auf das außerschulische Freizeitlesen vorgenommen. Im Anschluss an Dorothee Wieser kann die auf den Text bezogene Praxis im Forum als eine spezifische außerschulische Interpretations- oder Lesekultur verstanden werden, die aufgrund ihrer sozialen und systemischen Eingebundenheit bestimmten Regeln, Konventionen und Mustern folgt.16 Eine solch praxeologische Perspektive lenkt den Blick darauf, dass die Erforschung von Textverstehenshandlungen innerhalb eines theoretischen Rahmens erfolgen muss, der neben der Analyse der Teilprozesse auch deren soziale und kulturelle Bedingtheit modelliert (Abschnitt 5.3.1).
15Vgl. z. B. die Studien bzw. Beiträge von Freudenberg 2012, Steinmetz 2013, Stark 2016 und 2017, Seyler 2017, Lessing-Sattari 2017 sowie die Beiträge in dem Sammelband von Scherf/ Bertschi-Kaufmann 2018. 16Vgl. Wieser 2015, S. 47 f.
162
5 Theoretische Rahmung
3. Die theoretische Rahmung als Anschlusskommunikation erweist sich als zu eng, da sie zum einen die soziale Rahmung des Forenhandelns und zum anderen dessen produktive Komponenten nicht ausreichend miterfasst. Tilmann Sutter definiert Anschlusskommunikation als „kommunikative Verarbeitung bzw. ‚Aneignung‘ […] von Medienangeboten, die subjektive Rezeptionsprozesse begleitet und ergänzt“17. Er betont weiterhin die eigenständige Rolle der Anschlusskommunikation, die strukturell von der Bedeutung der Medienangebote einerseits und der subjektiven Rezeption andererseits unterschieden werden müsse.18 In Anschlusskommunikationshandlungen können somit eigenständige Bedeutungen des Medienangebots im sozialen Austausch konstruiert werden, wodurch sich „vielfältige Formen der Distanzierung“19 eröffnen, wie sie in der Tradition der Cultural Studies in zahlreichen Einzelstudien untersucht worden sind.20 Die ermittelten Kategorien zeigen jedoch zum einen, dass Teile des Forenhandelns nicht direkt auf den Text bezogen sind und damit nicht, wie Sutters Definition vorgibt, als kommunikative Verarbeitung oder Aneignung des Textes verstanden werden können. Diese Bereiche des Forums von einer genaueren Betrachtung auszuschließen, würde aber der sozialen und kulturellen Dynamik innerhalb des Forums nicht gerecht, die in den Kategorien der Gemeinschaftsbildung, der Selbstdarstellung und des Spiels offenbar wird. Die Attraktivität der Spielbereiche und des Off-Topic-Bereichs im Forum (Abbildung 5.1) sowie erste Profilanalysen21 lassen eine weitere Ausdifferenzierung dieser Kategorien als notwendig erscheinen. Viele Nutzerinnen und Nutzer des Forums vollziehen sowohl Spiel- als auch Textverstehenshandlungen und tauschen sich zugleich über ihre sonstigen Interessen aus, weshalb das Forum nicht nur einen Ort der literarischen Sozialisation, sondern auch der allgemeinen Sozialisation darstellt. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Formen des Forenhandelns, in deren Neben- und Miteinander gerade die Spezifik des vorliegenden Handlungsfeldes im Sinne einer Interpretationskultur zu liegen scheint. Zum anderen erfasst der Begriff der Kommunikation als diskursive Verarbeitung die produktiven Komponenten des Textumgangs wie das Schreiben von Fanfictions, das Erstellen von Fanart und von wiki-ähnlichen Informationen
17Sutter
2002, S. 82. ebd., S. 88 ff. und Sutter 2010, S. 138. 19Sutter 2002, S. 82. 20Vgl. z. B. Göttlich/Winter 2000, S. 9 ff. 21Vgl. Schlachter 2014a, S. 274 f. 18Vgl.
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
163
sowie das schriftliche Role Play Gaming nicht, die im Forum eine prominente Rolle spielen und im kulturellen Feld der Serialität zur Ausdehnung der Erzählwelten maßgeblich beitragen. Diese Praktiken stellen eine produktive, keine kommunikative Aneignung des Textes dar. Zusammenfassend kann als Ergebnis der Vorstudie festgehalten werden, dass das Forenhandeln sowohl individuelle Textverstehenshandlungen als auch deren soziale und kulturelle Rahmung sowie neben diskursiven auch produktive Formen der Textaneignung umfasst. Diese damit offenbar gewordene Struktur des Feldes lässt eine Modifikation des theoretischen Rahmens der Studie als notwendig erscheinen; als neue theoretische Rahmung wird im nächsten Kapitel das Konzept der literalen Praktiken eingeführt. Außerdem kann an dieser Stelle schon festgehalten werden, dass es zur empirischen Erforschung der Forenhandlungen einer Methode bedarf, die flexibel genug ist, die genannten unterschiedlichen Dimensionen und Formen und deren Zusammenwirken zu erfassen (Kapitel 6).
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte Auf der Grundlage theoretischer Vorarbeiten zur Serialität, der Reflexion der Vorstudie und im Anschluss an eine erste offene Phase des Kodierens nach der Grounded-Theory-Methodologie (dazu ausführlicher Kapitel 6) wurden die unterschiedlichen Formen des Forenhandelns als literale Praktiken im Feld der Serialität konzeptualisiert. Diese Modellierung folgt den forschungslogischen Grundlagen, die Udo Kelle und Susann Kluge für explorative, hypothesengenerierende Forschungsstrategien im Rahmen qualitativer Untersuchungen veranschlagen. Kelle und Kluge formulieren diese Grundlagen vor dem Hintergrund ihrer Auseinandersetzung mit der Rolle des Vorwissens in der Grounded Theory und im Anschluss an Herbert Blumer, einen der Theoretiker des symbolischen Interaktionismus, von dem sie den Begriff der „sensitizing concepts“ übernehmen. Sie setzen sich damit strikt dem „induktivistischen Selbstmissverständnis der qualitativen Methodenlehre“22 entgegen. Dieses habe sich aus der
22Kelle/Kluge
2010, S. 13. Auch Jörg Strübing setzt sich in seinem Lehrbuch zur Grounded Theory dezidiert mit der Rolle des Vorwissens im qualitativen Forschungsprozess auseinander und legt Inkonsistenzen und Brüche in der Argumentation und Vorgehensweise in verschiedenen Publikationen von Glaser/Strauss, Strauss/Corbin bzw. Glaser auf. Ähnlich wie Kelle/Kluge erklärt er die induktivistische Rhetorik vor dem Hintergrund des Entstehungszeitpunkts der Theorie als Legitimationsstrategie gegen das vorherrschende quantitative, hypothesenprüfende Forschungsparadigma (vgl. Strübing 2014, Kap. 4 und 5).
164
5 Theoretische Rahmung
induktivistischen Rhetorik von Glaser/Strauss 1998 [1967] entwickelt, derzufolge die Theorie quasi von selbst aus den Daten „emergieren“ würde. Stattdessen rufen die Autoren zu einem reflektierten und systematischen Umgang mit theoretischem Vorwissen auf, das nicht nur unumgänglich, sondern vor allem heuristisch notwendig sei. Die Konzepte „literale Praktiken“ und „Serialität“ stellen sensibilisierende theoretische Konzepte dar, die zum Wissensbestand der Forscherin gehören bzw. von dieser entwickelt wurden und die als ordnende Heuristik zur Anwendung kommen.23 Weitere sensibilisierende Konzepte im Rahmen der vorliegenden Studie sind aufgrund des Gegenstandsbereichs interdisziplinäre Forschungsergebnisse zu Online-Communities. Heuristische Konzepte müssen Kelle und Kluge zufolge zwei Anforderungen genügen. Sie 1. stellen […] dem Forscher oder der Forscherin jene „Linsen“ oder theoretischen Perspektiven zur Verfügung, durch die er oder sie soziologisch relevante Phänomene überhaupt erst wahrnehmen kann. 2. sind […] gleichzeitig hinreichend „offen“, so dass die Gefahr verringert wird, dass die Relevanzsetzungen der Befragten durch die vorgängigen Forscherhypothesen überblendet werden.24
Sensibilisierende Konzepte „können zu Beginn einer Untersuchung als theoretische Matrix oder als theoretisches Raster verwendet werden, welches dann anhand empirischer Beobachtungen zunehmend ‚aufgefüllt‘ wird.“25 Diese „Auffüllung“ erfolgt als zunehmende Präzisierung im laufenden qualitativen Forschungsprozess, wobei entscheidend ist, dass „[s]ensibilisierende Konzepte […] nicht vor einer empirischen Untersuchung (etwa durch eine genaue Definition und Operationalisierung) präzisiert werden, ihre Konkretisierung muss vielmehr in Auseinandersetzung mit der untersuchten Lebensform stattfinden.“26 Das Konzept der literalen Praktiken stellt einen hinreichend weiten Rahmen im Sinne eines empirisch nicht gehaltvollen Theoriewissens dar, von dem ausgehend mittels der GTM zu einem empirisch gehaltvollen Theoriewissen gelangt werden kann. Empirisch gehaltlos ist das Konzept der Literalität bzw.
23Vgl.
Kelle/Kluge 2010, S. 28 ff. S. 37.
24Ebd., 25Ebd. 26Ebd.,
S. 30.
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
165
der literalen Praktiken in Verbindung mit der Analyse des Forenhandelns der Jugendlichen insofern, als Letzteres unter der eingenommenen Perspektive als nahezu unerforscht gelten kann. In theoretischer Hinsicht verweist das Konzept der literalen Praktiken auf zwei Forschungsrichtungen, die Literalitätsforschung und deren angloamerikanische Ausprägung der New Literacy Studies sowie auf sozialwissenschaftliche Praxistheorien (Abschnitt 5.3.1). Auch Theorien aus dem interdisziplinären Gebiet der Online Community-Forschung liegen der Arbeit als sensibilisierendes Vorwissen zugrunde (Abschnitt 5.3.2). Nicht im Sinne von sensibilisierenden Konzepten, sondern als deduktive Theoriebausteine fließen kognitionspsychologische Theorien des Textverstehens sowie verschiedene Erkenntnisse der Emotions- und Wertungsforschung in die Kategorienbildung ein (Abschnitt 7.2.1).
5.3.1 Die deutschsprachige Literalitätsforschung, die New Literacy Studies und soziologische Praxistheorien Konzepte von Literalität, die sich mit dem Lesen- und Schreibenkönnen befassen, werden seit der PISA-Studie im Jahr 2000 auch in der Lese- und Literaturdidaktik kritisch diskutiert und stehen in direkter Nachfolge zu den Erkenntnissen der deutschsprachigen Lesesozialisationsforschung, die Anfang der 2000er-Jahre die Grundlagen für das Forschungsfeld der Literalität gelegt hat. Dieses wird von Andrea Bertschi-Kaufmann und Cornelia Rosebrock wie folgt umrissen: Die Frage, mit welchen Medien sich die Gesellschaft verständigt, ihr Wissen tradiert und entwickelt, muss bezogen werden auf die Frage, welche individuellen Fähigkeiten und kommunikativen Praktiken diesem kulturellen Status entsprechen und in der Folge auf die Frage, wie sie vermittelt werden k önnen.27
Auf der Grundlage der von den beiden Autorinnen herausgegebenen Übersicht über die Literalitätsforschung lassen sich verschiedene Dimensionen des
27Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2013, S. 8. Im Folgenden wird der Fokus stärker auf die lesebezogene Literalitätsforschung gelegt. Zu einem am schriftlichen Sprachgebrauch und Schriftspracherwerb orientierten Literalitätsbegriff vgl. Feilke 2015. Isler 2016 erforscht den vorschulischen Erwerb von sprachlichen Praktiken in Familien.
166
5 Theoretische Rahmung
Begriffs theoretisch bestimmen: Auf einer ersten Ebene kann danach unterschieden werden, an welchem normativen oder deskriptiven Konzept der Literalitätsbegriff ausgerichtet ist: an einem kognitiv zentrierten Konzept sensu PISA, an einer bildungstheoretischen Konzeption von Literalität oder an einer alltagsweltlichen Praxis.28 Die bildungstheoretische Konzeption von Literalität entspricht dabei einem an Kurztexten der Hochliteratur ausgerichteten Literaturunterricht, wie Bettina Hurrelmann 2009 in ihrer kritischen Diskussion unterschiedlicher Literalitätskonzepte aufgezeigt hat.29 Die Erforschung von Textverstehensprozessen im Literaturunterricht schließt an diese bildungstheoretische Konzeption von Literalität an. Ein an der alltagsweltlichen Praxis orientierter Literalitätsbegriff steht dagegen in direkter Nachfolge der deutschsprachigen Lesesozialisationsforschung und lenkt den Blick auf außerschulische Praktiken und Erwerbsformen. Im angloamerikanischen Raum haben sich für diese Strömung der Literalitätsforschung die New Literacy Studies etabliert. Quer liegend zu diesen unterschiedlichen Literalitätskonzepten kann auf einer zweiten Ebene in einer individuellen Perspektive der Literalitätserwerb des Einzelnen in Zusammenhang mit den entsprechenden Fähigkeiten, deren Messung und Förderung fokussiert werden. In einer kulturell-sozialen Perspektive wird der Blick stärker auf die in Gebrauch befindlichen Medien und Textsorten einzelner sozialer Gruppen und die jeweiligen Funktionen der literalen Praktiken sowie deren Situiertheit und Regelhaftigkeit gerichtet; diese Perspektive auf literale Praktiken ist praxeologischen Theorien verpflichtet. Mit den verschiedenen Dimensionen sind schließlich auch unterschiedliche Disziplinen und Forschungsansätze wie die Bildungswissenschaften, die pädagogische Psychologie, die Sprach- und Literaturdidaktik oder die ethnologische Literalitätsforschung verbunden, die in der Regel getrennt voneinander operieren. Die angloamerikanische interdisziplinäre Forschungsrichtung der New Literacy Studies geht von der Grundannahme aus, dass Literalität eine soziale Praxis ist.30 Mit dieser sozialen und praktikentheoretischen Perspektive, deren Ursprünge in ethnographischen Studien der 1980er-Jahre liegen, sind verschiedene analytische Achsen verbunden: Texte als kulturelle Ressourcen
28Vgl.
Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2013, S. 7–9. Hurrelmann 2009, S. 37 f. 30Übersetzt von Barton/Hamilton 2000, S. 7: „The starting point of this approach is the assertion that literacy is a social practice.“ Vgl. die Forschungsüberblicke von Böck 2013 und Gee 2015. 29Vgl.
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
167
literaler Praktiken, unterschiedliche alltagsweltliche Formen literaler Praktiken, deren Strukturierung durch soziale Institutionen und Machtbeziehungen, die Funktionalität literaler Praktiken, deren (historische) Situiertheit, deren Veränderlichkeit sowie Prozesse des informellen Lernens.31 Diese Konzeptualisierung literaler Praktiken, wie sie die New Literacy Studies vornehmen, verweist nicht nur auf die Nähe zum Literalitätsbegriff der deutschsprachigen Lesesozialisationsforschung, sondern grenzt sich zugleich deutlich von kognitionspsychologischen Zugängen zum Lesen und Schreiben ab, die als „dekontextualisierte“ Perspektive, die Literalität in einem „Vakuum“ betrachtet, kritisiert werden.32 Als einer der Vorläufer der New Literacy Studies kann der amerikanische Literaturwissenschaftler Stanley Fish gelten, einer der Vertreter der Reader-Response-Theory, einer angloamerikanischen Spielart der Rezeptions ästhetik. Fish geht in seiner Theorie der interpretive community von der Prämisse aus, dass die Bedeutung von Texten durch den sozialen, kulturellen und historischen Kontext ihrer Leser konstituiert wird und nicht unabhängig als objektive Größe existiert. Fish zufolge ist jeder Leser Teil einer bestimmten sozialen und kulturellen Gruppe, ausgehend von deren geteilten Annahmen und deren Erfahrungsschatz er einen Text interpretiert. Solche Interpretationsgemeinschaften zeichnen sich durch bestimmte Konventionen der Interpretation aus, wie aus seiner bekannten Definition des Phänomens hervorgeht: Interpretive communities are made up of those who share interpretive strategies not for reading (in the conventional sense) but for writing texts, for constituting their properties and assigning their intentions.33
Fishs Konzept deutet nicht nur auf die Erforschung von Literalität als soziale Praxis voraus, sondern wurde in den 1990er-Jahren auch in der von den Cultural Studies beeinflussten Medien- und Rezeptionsforschung auf breiter Basis adaptiert und, wie Andreas Hepp kritisch anmerkt, zu einem „ad-hoc Erklärungsansatz für die unterschiedlichsten Rezeptions- und Aneignungsphänomene“.34
31Vgl. Barton/Hamilton 2000, S. 8. Auf die Problematik der Kategorie des informellen Lernens in Bezug auf den (schulischen) Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeit macht Feilke aufmerksam (vgl. Feilke 2015, S. 261 ff.). 32Street 2013, S. 155 und 156. 33Fish 1980, S. 171. 34Hepp 1998, S. 145. Vgl. auch Bonfadelli 2004, S. 62.
168
5 Theoretische Rahmung
Hepp kritisiert, dass der Begriff der community bei Fish vage bleibe; so werde nicht deutlich, ob es sich tatsächlich um eine empirisch zugängliche Gruppe oder lediglich um ein theoretisches Gedankenkonstrukt handle.35 Angezweifelt wird außerdem die „Existenz eines von allen Gruppenmitgliedern in gleicher Weise geteilten Interpretationsrasters“36 als konstituierendes Merkmal einer Gemeinschaft. Die mit dem Konzept der interpretive communities verbundene Grundüberlegung hebt Hepp allerdings als zentrale Erkenntnis der medienwissenschaftlichen Rezeptionsforschungen, die in der Tradition der Cultural Studies entstanden sind, hervor: Diese lautet, daß das Medienpublikum nicht aus einer Masse atomisierter Einzelner besteht, sondern sich aus einer Reihe unterschiedlicher Gruppen konstituiert, deren Mitglieder in einer kommunikativen Beziehung zueinander stehen. Gerade diese Überlegung kann als eines der zentralen Ergebnisse der unterschiedlichen Aneignungsstudien gelten, die in der Tradition der Cultural Studies durchgeführt wurden […].37
Im Gegensatz zu Fishs literaturtheoretischer Fundierung einer interpretive community, deren Konstituens ein geteiltes Interpretationsraster darstellt, entwickelt Etienne Wenger sein Konzept der communities of practice im Rahmen einer Theorie des situierten Lernens, die praxeologisch fundiert ist. Ihm zufolge sind geteilte Praktiken das charakteristische Merkmal einer Gemeinschaft, deren Mitglieder über ähnliche Aufgaben miteinander verbunden sind: Over time, this collective learning results in practices that reflect both the pursuit of our enterprises and the attendant social relations. These practices are thus the property of a kind of community created over time by the sustained pursuit of a shared enterprise. It makes sense, therefore, to call these kinds of communities communities of practice.38
Wengers Konzept wurde in der Folge nicht nur auf virtuelle Lerngruppen39, sondern auch auf Fan-Communities (Abschnitt 5.3.2.1) übertragen, die beispiels-
35Vgl.
Hepp 1998, S. 146 ff. S. 149.
36Ebd., 37Ebd.
38Wenger 39Vgl.
1998, S. 45. z. B. Hanson-Smith 2013.
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
169
weise mittels exklusiver Praktiken populärkulturelle Datenbanken in Form von Wikis aufbauen oder Fanfiction produzieren.40 Im Zuge der technologischen Veränderungen im Bereich der digitalen Kommunikation und Medien rücken zunehmend auch neue multimodale41 Literalitätspraktiken, New Literacies oder Multiliteracies, in den Blick der New Literacy Studies.42 Die Digitalisierung von Texten führt zu neuen Formen der Produktion und Rezeption, wie sie exemplarisch von Henry Jenkins als Praktiken und Kompetenzen einer Convergence bzw. Participatory Culture beschrieben und ausgearbeitet werden.43 Digitale literale Praktiken, die in Wikis, Bücherblogs, auf Literatur- oder Fanfiction-Plattformen betrieben werden, finden jüngst auch in der deutschdidaktischen Forschung vermehrt Aufmerksamkeit.44 Weitere sensibilisierende Theorien für die folgende Studie, die sich mit Literalitätstheorien überschneiden, stellen sozialwissenschaftliche Praxistheorien dar, „in denen ‚Praktiken‘ die fundamentale theoretische Kategorie bilden“45. Die praxeologische Theoriebewegung bildet eine Klammer um verschiedene Forschungsfelder, die sich mit Praktiken und deren Eigenschaften befassen. In Abgrenzung zu anderen Sozial- und Kulturtheorien möchten die Praxistheorien eine „neue Perspektive auf das Soziale“46 entwickeln:
40Vgl.
Hills 2015. Kress 2010. 42Vgl. Cope/Kalantzis 2000, Barton/Hamilton 2000, Coiro et al. 2008, Lankshear/Knobel 2011, Buck 2012, Curwood/Magnifico/Lammers 2013, Sanford/Rogers/Kendrick 2014 oder Knobel/Lankshear 2017. Auch die auf die Schreibenden fokussierte Erforschung von Fanfictions fällt in den Bereich der New Literacies (vgl. Hellekson/Busse 2006 und 2014). 43Vgl. Jenkins 2006a+b und Jenkins 2009. Groeben/Christmann 2013 rezipieren Jenkins 2009 für die deutschdidaktische Literalitätsforschung. 44Vgl. z. B. Boesken 2010, Böck 2010 und 2012, Lötscher 2011, verschiedene Beiträge in Rosebrock/Bertschi-Kaufmann 2013, Böck/Fenkart 2013, Beißwenger 2016, Perschak/ Hudelist/Böck 2016, Anders/Wieler 2018 (darin z. B. Brendel-Perpina zu „(jugendlichen) BuchbloggerInnen“), Gailberger/Wietzke 2018 oder Pardy/Ruge 2019. 45Schäfer 2016, S. 11. Praxistheorien bilden auch einen der theoretischen Bezugspunkte der New Literacy Studies. Lankshear/Knobel 2011 (S. 33–35) beispielsweise berufen sich auf Andreas Reckwitz. 46Schäfer 2016, S. 11. 41Vgl.
170
5 Theoretische Rahmung
Die praxeologische Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass sie Handlungen nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Zusammenhang begreift […]. Die Identität einer Praxis ist demnach abhängig von ihrem Verhältnis zu anderen (auch vergangenen) Praktiken und vom sozialen Kontext, in dem sie auftritt.47
Als drei Grundelemente einer Praxistheorie benennt Andreas Reckwitz „eine ‚implizite‘, ‚informelle‘ Logik der Praxis und Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und Können; eine ‚Materialität‘ sozialer Praktiken in ihrer Abhängigkeit von Körpern und Artefakten; schließlich ein Spannungsfeld von Routinisiertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken.“48 Als Forschungsprogramm und theoretischer Ideenspeicher werden Praxistheorien seit Kurzem auch in der Deutschdidaktik diskutiert.49 Mit unterschiedlichen Interpretationskulturen in Literaturwissenschaft und im Literaturunterricht beschäftigt sich Dorothee Wieser.50 Neben Interpretationspraktiken in Literaturwissenschaft und im Literaturunterricht, deren Erforschung Wieser als Desiderat hervorhebt, stellen Interpretationspraktiken in einem außerschulischen Kontext, wie ihn das Forum darstellt, eine dritte systemisch und sozial verortete Interpretationskultur dar. Ausgeweitet wird diese Perspektive in einem Sammelband, der aus einer Sektion des Ludwigsburger Symposions Deutschdidaktik im Jahr 2016 hervorging. Wieser und Feilke regen hier an, schulische Lernprozesse in ihrer sozial-kulturellen Bedingtheit und Eigenlogik zu betrachten, und legen damit den Grundstein für „eine systematische Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern eine praxeologische Perspektive für die Deutschdidaktik fruchtbar ist und welche Verschiebungen der gängigen Forschungszugänge sich dadurch ergeben“.51 Für die vorliegende Studie ist maßgeblich, dass mit dem Konzept der literalen Praktiken eine hinreichend weite Rahmung vorliegt, die die E rgebnisse
47Ebd. 48Reckwitz
2003, S. 282. z. B. Wieser 2015, Kämper-van den Boogaart 2015, Feilke 2016 oder Feilke/Wieser 2018a+b. 50Vgl. Wieser 2015, S. 45. 51Feilke/Wieser 2018b, S. 10. 49Vgl.
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
171
der Vorstudie einzubeziehen vermag und ausgehend von der eine weitere Systematisierung möglich ist. Im Anschluss an die Grundsätze der GTM (Abschnitt 5.2 und Kapitel 6) und angesichts der Notwendigkeit, individuelle Textverstehenshandlungen und deren soziale und kulturelle Situiertheit zu integrieren, erfolgt keine der empirischen Arbeit vorgängige Festlegung des Literalitäts- oder Praktikenbegriffs auf eine spezifische Dimension oder auf bestimmte Eigenschaften; vielmehr wird es die Aufgabe der Arbeit am Datenmaterial sein, eine Theorie der literalen Praktiken im vorliegenden Handlungsfeld zu entwickeln.
5.3.2 Online-Communities als interdisziplinärer Forschungsgegenstand Im Tribute von Panem-Forum fand sich eine Gruppe von überwiegend jugendlichen Leserinnen und Lesern zeitweise zusammen, um einem geteilten thematischen Interesse nachzugehen. In der Fanforschung (als einem Forschungsschwerpunkt in der Medienwissenschaft und den Cultural Studies52), in der Medien- und Kommunikationswissenschaft und in der Medienpädagogik existieren unterschiedliche theoretische Ansätze, die zu beschreiben versuchen, wodurch sich virtuelle Gemeinschaften dieser Art auszeichnen.
5.3.2.1 Fan-Communities Die Fanforschung untersucht Praktiken von Fan-Communities mit dem Ziel, den Begriff des Fans zu schärfen und auszudifferenzieren.53 Für die vorliegende Studie wirft dies die Frage auf, ob das Forenhandeln der Jugendlichen ein Fanphänomen darstellt und welche sensibilisierenden Theorien in der Fanforschung für die Einordnung des Phänomens vorliegen.54 Hier wird jüngst die Debatte geführt, inwieweit sich der Fanbegriff durch eine Ausweitung des digitalen Fantums verändert und die in der Fanforschung bislang aufrechterhaltene Trennung zwischen dem Fan und dem normalen Medienpublikum obsolet werden lässt:
52Zu
den Cultural Studies vgl. auch Abschnitt 2.1. z. B. Hills 2015. 54Auf einen vollständigen Überblick über die Fanforschung wird an dieser Stelle verzichtet. Vgl. Hellekson/Busse 2014a, Busse/Gray 2014, Duits/Zwaan/Reijnders 2014 und CuntzLeng 2014a. 53Vgl.
172
5 Theoretische Rahmung
The academic analysis of fans has frequently foregrounded two dimensions: creativity and collectivity. These characteristics of fandom in turn appear to set the practices of fans apart from other less productive and tightly knit audience groups. Yet, the growing ubiquity of fandom in the era of digital media challenges notions of fandom as exceptional and distinct from ‚normal audiences‘ […].55
Während Fankulturen vor dem Internetzeitalter ein subkulturelles Phänomen darstellten, werden sie mit Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem allgegenwärtigen Massenphänomen, das sich zudem durch immer stärker ausdifferenzierte Praktiken kennzeichnet.56 Aus diesem Grund plädieren Cornel Sandvoss und Laura Kearns dafür, unterschiedliche Typen von Fans, Fan-Involvement und Fanpraktiken zu unterscheiden, deren kleinster gemeinsamer Nenner nur noch die affektive Bindung an ein Fanprodukt darstellt.57 Im Gegensatz zu einem solch weiten Fanbegriff heben engere Fandefinitionen neben der Kreativität von Fans auch deren „investment“ und „involvement“ in der Fan-Community hervor.58 Der Fokus der vorliegenden Studie liegt nicht in der Diskussion und Schärfung des Fanbegriffs, die Leserinnen und Leser des Tribute von Panem-Forums konstituieren aber durchaus eine Fangemeinschaft in einem weiten Begriffssinn. Fanpraktiken, die im Tribute von Panem-Forum eine Rolle spielen, sind das Schreiben von Fanfictions und das schriftliche Role Play Gaming. Während Fanfictions in unterschiedlichen Disziplinen breit erforscht werden, wurden schriftliche Foren-Rollenspiele bislang wenig wahrgenommen. Dies liegt vermutlich daran, dass sie als Sonderform von Role Play Games insgesamt weniger verbreitet sind als die bekannten Computer-Rollenspiele, die in den Varianten der Single-Player Computer Role-Playing Games oder der Multi-Player Online RolePlaying Games vorliegen, oder Life Action-Rollenspiele. Foren-Rollenspiele oder Online Freeform Role-Playing Games finden im Gegensatz zu ComputerRollenspielen, in denen Spielwelten mittels einer Software simuliert werden, ausschließlich auf der verbalen Ebene statt.59 Neben Foren werden sie auch auf verschiedensten O nline-Plattformen oder mobilen Apps gespielt und nutzen dabei Techniken (wie beispielsweise eine Forensoftware), die nicht eigens für das Role Play Gaming entwickelt wurden. Diese Streuung über verschiedene Plattformen
55Sandvoss/Kearns
2014, S. 91. Wandel von Fankulturen vgl. Jenkins 1992 im Gegensatz zu Jenkins 2006a. 57Vgl. Sandvoss/Kearns 2014, S. 92 ff. 58Busse/Gray 2014, S. 426. 59Vgl. Hammer 2018 und Pappe 2011. 56Zum
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
173
macht das Phänomen schwer erfassbar, die damit verbundenen Freiheiten tragen aber auch zur Vitalität und ständigen Erneuerung der Spielform bei.60 Im Gegensatz zu anderen Formen der Role Play Games wird die Spielhandlung in Foren asynchron oder nur nahezu synchron performiert.61 Erste Nutzerstudien zeigen, dass diese Spielform vor allem von jüngeren Frauen praktiziert wird, wofür Jessica Hammer folgende Erklärung findet: This pattern may be because of the form’s roots in fan fiction and online journaling; while some online freeform games develop original settings or require original characters, many games remain deeply engaged with popular books, movies, or television shows […].62
Ebenso wie andere Computerspiele ermöglicht das Role Play Gaming im Forum eine spezifische Form des Involvements, worunter in der Gameforschung ein Konzept verstanden wird, das verschiedene Modi der Beteiligung, Mitwirkung oder Einbindung umfasst.63 Während die Forschung zu Foren-Rollenspielen noch ganz am Anfang steht, nennen Karen Hellekson und Kristina Busse in ihrem Forschungsbericht über Fanfictions sechs analytische Achsen der Forschung: 1. Fanfictions als Interpretation des Ursprungstextes (literaturwissenschaftliche Perspektive), 2. Fanfictions als soziale Praktik, die Einblick in Strukturen von Fangemeinschaften geben, 3. feministische und queer-theoretische Ansätze, 4. individualpsychologische Ansätze, 5. Fanfictions als Form der widerständigen Medienaneignung (Tradition der Cultural Studies) und 6. Fanfictions als pädagogische oder didaktische Werkzeuge zum Erwerb verschiedener Kompetenzen.64 In der Deutschdidaktik wurden Fanfictions bislang nicht systematisch in den Blick genommen.65
60Vgl.
Hammer 2018, S. 168 f. ebd., S. 160. 62Hammer 2018, S. 160. 63Vgl. Neitzel 2018, S. 224 ff. 64Vgl. Hellekson/Busse 2014b, S. 8–10 sowie deren umfängliche Bibliographie in Hellekson/Busse 2014a, S. 239–252. Für die deutschsprachige Fanfiction-Szene vgl. Cuntz-Leng 2014b. 65Vgl. jedoch Lötscher 2011 und jüngst König 2018, Rittmann-Pechtl 2019. 61Vgl.
174
5 Theoretische Rahmung
5.3.2.2 Face-to-Face-Kommunikation vs. Online-Kommunikation Das Forenhandeln unterliegt speziellen Bedingungen, die in der Computervermitteltheit der Kommunikationssituation begründet liegen. Welche Auswirkungen die zunehmende „Mediatisierung“ (Friedrich Krotz) auf das Sozial- und Kommunikationsverhalten von Menschen hat, ist Gegenstand von medien- und kommunikationswissenschaftlichen Theorien. Als sensibilisierende Konzepte liegen dieser Studie die Ansätze von Friedrich Krotz und Nicola Döring zugrunde, die computervermittelte Forenkommunikation als eine modifizierte Form von Face-to-Face-Kommunikation modellieren. Ferner wird kurz auf die Besonderheiten einer Netzsprache eingegangen, insofern es für die vorliegende Studie relevant ist. Die Forenkommunikation lässt sich, einer Typologie von Krotz folgend, als einer von drei Typen von Medienkommunikation und zwar als „interpersonale medienvermittelte Kommunikation“66 beschreiben. Bei der Forenkommunikation handelt es sich wie bei einer Face-to-Face-Kommunikation um einen Austausch zwischen Menschen, der jedoch unter anderen Bedingungen stattfindet. Die Asynchronität, die fehlende räumliche Nähe zum Partner und die Schriftlichkeit der Kommunikation, die mit einer Reduktion von Wahrnehmungskanälen einhergeht, führen dazu, dass der Kommunikationsverlauf nicht in dem Maß von den Teilnehmern gesteuert werden kann wie in einem herkömmlichen Gespräch.67 Diese fehlende Steuerungsmöglichkeit kann auch als Wegfall von Merkmalen konzeptioneller Mündlichkeit, wie sie laut Koch und Österreicher für die F ace-to-Face-Kommunikation typisch sind, beschrieben werden. So entfallen in der Forenkommunikation beispielsweise der freie Sprecherwechsel, die Situationsbeschränktheit, die Spontaneität, teilweise auch der dialogische Charakter, zum Beispiel dann, wenn einzelne Mitglieder eines Forums sehr lange, monologische Beiträge posten.68 In der realen Kommunikation stehen neben der verbalen Ebene auch die non-verbale und die paraverbale Ebene für die Gesprächskontrolle zur Verfügung, also Gestik und Mimik, Lautstärke oder die Artikulation. In der Internetkommunikation hat sich durch den
66Krotz
2007, S. 90. noch weitergehende Konsequenz postuliert die mediendeterministische Kanalreduktions-Theorie, die davon ausgeht, dass der computervermittelte Austausch zwischen Menschen aufgrund der Reduktion von Sinneskanälen automatisch entmenschlicht ist (vgl. Döring 2010, S. 166). 68Vgl. Koch/Oesterreicher 1994. 67Eine
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
175
egfall non- und paraverbaler Kommunikationsmöglichkeiten eine große Zahl W an neuen Zeichenformen etabliert, die weitere Bedeutungsebenen eröffnen und beispielsweise den Ausdruck von Emotionen ermöglichen. Es sind dies etwa die Ikonisierungen durch Smileys, Visualisierungen von parasprachlichen Elementen wie HUURRRAAA!!! als „lauter Schrei der Freude“ oder die Indexikalisierungen durch Akronyme wie *lol* für „laughing out loud“.69 Diese Kompensationen sind jedoch im Bereich der Gesprächskontrolle weniger wirksam: Einem SCHREIIII!!! in der virtuellen Kommunikation kann man sich beispielsweise wesentlich besser entziehen als einem realen Schrei in der Face-to-Face-Kommunikation. Stefan Meißner weist ferner darauf hin, dass bestimmte Besonderheiten der Online-Kommunikation auch der Medialität bzw. Technizität von internetbasierten sozialen Medien geschuldet sind, die aufgrund ihrer spezifischen Möglichkeiten Sozialität formen.70 Er plädiert aus diesem Grund für eine Herangehensweise an Internet-Daten, die nicht einseitig die Perspektive der Akteure fokussiert, sondern die Eigenlogik bestimmter medialer Kommunikationssysteme berücksichtigt. Gerade die internetspezifischen Ausdrucksformen von Emotionen, wie sie mit Akronymen, Visualisierungen von parasprachlichen Elementen, Emoticons oder Indexikalisierungen vorliegen (Abschnitt 7.2.1.3 – Emotionen und Wertungen), deuten darauf hin, dass die Neuen Medien bestimmte Formen von Kommunikation überhaupt erst herausbilden. Eine weitere Besonderheit der Online-Kommunikation liegt in deren Multimodalität, das heißt im Zusammenwirken von Sprache (in ihrer visuellen und akustischen Modalität), Bildern und Musik.71 Da eine Integration von Bildern, Videos oder Tondokumenten im Tribute von Panem-Forum technisch nicht möglich war bzw. aus urheberrechtlichen Gründen von den Betreibern stark eingeschränkt wurde, wird an dieser Stelle nicht weiter auf die Multimodalität von Online-Kommunikation eingegangen. Die vielleicht wichtigste Konsequenz der asynchronen computervermittelten Situation besteht laut Krotz jedoch darin, dass die Kommunikationspartner anonym bleiben können, wodurch Möglichkeiten der Rollenübernahmen und
69Zur „Netzsprache“ vgl. Döring 2003, S. 182 ff., Schuegraf/Meier 2005, Crystal 2001, S. 17 („Netspeak“) und Siever/Schlobinski/Runkehl 2005 („Websprache“). 70Vgl. Meißner 2015, S. 34. 71Vgl. Kress 2010.
176
5 Theoretische Rahmung
der Täuschung entstünden.72 Etwas anders beurteilt Döring die Besonderheiten der computervermittelten Kommunikation auf der Grundlage ihrer Metaanalyse verschiedener deutsch- und englischsprachiger Studien zu Online-Verhalten. Ihr zufolge ist „[n]icht Anonymität, sondern Pseudonymität […] die wichtigste Form der Selbstdarstellung bei Online-Kontakten mit Unbekannten.“73 Als Pseudonymität bezeichnet sie die Übernahme von Online-Identitäten, die durch die wiederholte Verwendung eines bestimmten Pseudonyms, beispielsweise eines Nicknames oder Avatars, gekennzeichnet sind. Dieses Online-Pseudonym erlaube es, verschiedene Beiträge ein und derselben Person zuzuordnen, was dazu führe, dass die Person über ihren Nickname bzw. ihren Avatar im Netz wiedererkannt wird. Döring betont, dass „[d]ie Hauptfunktion der Pseudonymität im Netz […] nicht in der Täuschung [liege], sondern im Erhalt der Privatsphäre“.74 Trotz eines größeren Adressatenkreises der Online-Kommunikation erlaube die Schriftlichkeit des Austausches „mehr Kontrolle über die eigene Selbstdarstellung, lässt taktische Auslassungen und Beschönigungen zu […] und erzeugt weniger Handlungsdruck als eine Face-to-Face-Begegnung.“75 Der Online-Raum werde so nicht selten als Schutzraum erlebt, in dem Community-Mitglieder ihr „wahres Selbst“ bzw. Teil-Identitäten ihrer selbst, die sie im Alltag unter Verschluss halten, offenbaren.76 Dass in der Forenkommunikation auch Identitätsarbeit geleistet wird und der Umgang mit Emotionen eine große Rolle spielt, hat die Vorstudie bereits gezeigt. Die Identitätsrelevanz des Forenhandelns wurde dort ausgehend von Dörings Konstrukt der Pseudonymität erklärt. Für ein täuschendes Online-Verhalten wurden bislang keine Hinweise gefunden. Vielmehr scheint ein Teil der Forenmitglieder im Willkommen-Thread und im Off-Topic-Bereich auch einen nicht unbeträchtlichen Teil an persönlichen Informationen preiszugeben, die in sich konsistent wirken. In der Hauptstudie müssen die Funktionen des Forenhandelns vor dem Hintergrund der beschriebenen Besonderheiten der Online-Kommunikation weiter ausdifferenziert werden; neben dem kategorialen Zugriff stellen hier auch Profilanalysen, also Falldarstellungen, ein probates Mittel dar (Abschnitt 6.3.5 und Kapitel 8).
72Vgl.
Krotz 2007, S. 91. 2010, S. 166.
73Döring 74Ebd. 75Ebd., 76Vgl.
S. 167. Vgl. kritisch dazu Unger 2014. Döring 2010.
5.3 Sensibilisierende theoretische Konzepte
177
5.3.2.3 Online-Communities als mediale Orte der (literarischen) Sozialisation und als (informelle) Lernräume In der Vorstudie ist deutlich geworden, dass das Tribute von Panem-Forum ein Ort der allgemeinen und der literarischen Sozialisation und damit auch ein Ort des informellen Erwerbs von Literalität ist. So lassen sich manche textbezogenen Threads durchaus als literarische „Gespräche“ beschreiben, in denen Bedeutungen gemeinsam ausgehandelt werden. Insbesondere die Medienpädagogik beschäftigt sich in einer nicht fachbezogenen Perspektive mit solch informellen Lernkontexten, die durch eine fortschreitende Digitalisierung und durch veränderte Mediennutzungsgewohnheiten entstehen. Da die „Ausstattung mit und regelmäßige Nutzung von digitalen Endgeräten […] zunehmend den Normalzustand in der Bundesrepublik dar[stellen]“77, wird von „einer zunehmenden Grenzverschiebung von formalen Bildungskontexten hin zu weniger formalen oder angrenzenden non-formalen bis informellen Lernmöglichkeiten“78 ausgegangen. Im medienpädagogischen Fokus stehen dabei auch neue diskursive und produktive Praktiken in der digitalen Kultur, deren „Stellenwert […] im Hinblick auf Lernen, Bildung, Medienkompetenz usw.“ ausgelotet wird.79 Ein weiterer Schwerpunkt medienpädagogischer und mediensozialisatorischer Forschungen des letzten Jahrzehnts liegt in der Beantwortung der Frage, welche Auswirkungen die Mediatisierung immer weiterer Lebensbereiche auf die Identität von Jugendlichen hat und welche Funktionen digitale Medien und ihre Inhalte in der Identitätsarbeit übernehmen.80 Soziale Netzwerke eröffnen hier neben neuen Formen der Selbstdarstellung auch Möglichkeiten des Beziehungs- und des Informationsmanagements, die bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen als überwiegend unterstützend wahrgenommen werden, aber aus pädagogischer Sicht auch gewisse Risiken bergen.81 Dass gerade die Inhalte der Medien, wie sie auch in O nline-Communities oder sozialen Netzwerken verhandelt werden, als
77Mayrberger
et al. 2017, S. 7.
78Ebd. 79Kammerl/Unger
2014, S. 7. Vgl. zur Thematik auch Bachmair 2010. z. B. Fuhs/Lampert/Rosenstock 2010, Hugger 2010, Vollbrecht/Wegener 2010, Wagner/Brüggen 2013 (5. Konvergenzstudie des Münchner Instituts für Medienpädagogik) oder Unger 2014. 81Vgl. Schmidt 2010, S. 164 f. und Wagner et al. 2013, S. 1 und 5. 80Vgl.
178
5 Theoretische Rahmung
Symbolreservoir verstanden werden können, die Identitätsangebote machen und als „Vorlage zur reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Sozialisationsprozess“82 genutzt werden, ist die Grundannahme der Mediensozialisationsforschung. Mit den in der Vorstudie ermittelten Kategorien „Selbstdarstellung“, „Gemeinschaftsbildung“ und „Übertragung auf die eigene Lebenswelt/Identitätsarbeit“ wird deutlich, dass das Forenhandeln auch eine hohe sozialisatorische Relevanz in Bezug auf allgemeine Entwicklungsaufgaben aufweist, wie sie für das Medienhandeln von Jugendlichen generell charakteristisch ist.83
5.4 Explikation der normativen Vorannahmen: das fachdidaktische Erkenntnisinteresse Neben den im vorangehenden Kapitel aufgeführten sensibilisierenden Konzepten liegen der folgenden Studie auch normative Vorannahmen zugrunde, die aus dem deutschdidaktischen Erkenntnisinteresse und der eigenen normativen Verortung resultieren und die an dieser Stelle, soweit sie ins Bewusstsein gerückt sind, offengelegt werden sollen (zu den Schwierigkeiten Abschnitt 9.3).84 Wie in der Einleitung plausibilisiert, werden die im Forum beobachtbaren außerschulischen literalen Praktiken sowohl in ihrer sozial-kulturellen Situiertheit und Spezifik als auch in ihrer kognitiv-individuellen Dimension rekonstruiert. Die kognitiv-individuelle Perspektive auf beteiligte Rezeptionsprozesse ist nicht nur allein durch ihren Fokus normativ gerahmt, sondern auch dadurch, dass die ermittelten Rezeptionsprozesse und Interaktionsmuster im Hinblick auf ihre Angemessenheit bewertet werden. Bei literarischen Rezeptionsstudien kommt zusätzlich zu den von Dorothee Wieser und Christine Wiezorek genannten normativen Gesichtspunkten noch ein weiterer Aspekt hinzu: die Verankerung von Rekonstruktionen in der eigenen Deutung des Textes, die der
82Wegener
2010, S. 58. Die Ergebnisse der 5. Konvergenzstudie des JFF zeigen auf, wie auch in sozialen Netzwerken „[d]ie Identitätsarbeit der Jugendlichen […] eng mit konvergierenden Angeboten und Inhalten im Social Web verknüpft“ ist (Wagner et al. 2013, S. 4). 83Vgl. Schlachter 2014a. 84Diese Vorgehensweise orientiert sich auch an Überlegungen, die Dorothee Wieser oder Christine Wiezorek zur deutsch- bzw. literaturdidaktischen Rekonstruktion von Unterrichtsprozessen angestellt haben (vgl. Wieser 2017 und Wiezorek 2017).
5.4 Explikation der normativen Vorannahmen …
179
ategorienbildung zugrunde liegt und die in didaktisch reduzierter Form auch K den Maßstab für die Bewertung der Angemessenheit von Verstehensprozessen darstellt. Für rekonstruierte Verstehensprozesse bedeutet dies, dass deren Nachvollzug durch Leserinnen und Leser einer Rezeptionsstudie einer doppelten Plausibiliätsprüfung unterliegt. So muss nicht nur die Plausibilität der rekonstruierten Kategorien, sondern auch die Plausibilität der zugrunde liegenden Deutung des literarischen Textes nachvollzogen und deren wechselseitige Abhängigkeit erkannt werden (können). Die vorliegende Rezeptionsstudie basiert auf der in Abschnitt 4.4 entwickelten Deutung der Tribute von Panem, die für die Bewertung der Angemessenheit von Rezeptionsprozessen didaktisch reduziert wird. So werden Deutungen, die den Roman innerhalb des dystopischen Schemas verorten (beispielsweise im Hinblick auf sein kritisches Potential), als angemessen gewertet, auch wenn sie das paradigmatische Konstruktionsprinzip des Romans, das in der Verknüpfung verschiedener Schemata gesehen wird, nicht berücksichtigen.85 Hinsichtlich der Figurengestaltung werden Deutungen als angemessen bewertet, die die Widersprüchlichkeit und Komplexität von Figuren wie Katniss oder Gale wahrnehmen. Der normative Blick kommt in der vorliegenden Studie insbesondere bei der Rekonstruktion der vier Interaktionsmuster zwischen emotionalen und kognitiven Textverstehensprozessen zum Tragen, da hier die Interpretationskultur des Forums vor der Folie des Literaturunterrichts betrachtet wird (Abschnitt 7.2.1.3 – Muster der Interaktion). In konstruktiver Hinsicht ist damit auch das Interesse verbunden, über den Versuch einer argumentativen Generalisierung erkenntnisfördernde Ableitungen für die Praxis des Literaturunterrichts zu generieren (Abschnitt 9.2.2).86 Die Bewertung der Angemessenheit von Rezeptionsprozessen basiert, wie bereits dargelegt, auf der eigenen Textdeutung und ist darüber hinaus zum einen durch den kognitionspsychologischen Zugriff (Abschnitt 7.2.1.1), zum anderen durch die eigene normative Ausrichtung am zweiten Spinner’schen Aspekt literarischen Lernens „Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen“87 geleitet. Dieser Aspekt wird als ein
85In Abschnitt 4.4. wurde argumentiert, dass die Verknüpfung mit anderen Schemata zu Spannungen auf der Ebene der Figurengestaltung und der Einordnung der Action-Episoden führt, die jedoch den kritischen Warncharakter der Dystopie nicht obsolet werden lassen. 86Vgl. Wieser 2017, S. 134. 87Spinner 2006, S. 8.
180
5 Theoretische Rahmung
den anderen Aspekten übergeordneter begriffen, der nicht nur die zentrale Zieldimension literarischen Lernens vorgibt, sondern zugleich als Bedingung dafür erachtet wird, dass der Umgang mit Literatur im Unterricht überhaupt sinnhafte Erfahrungen ermöglichen kann (vgl. hierzu auch die didaktischen Ableitungen in Abschnitt 9.2.2).88 Im Bereich der produktiven Praktiken stehen die Kategorien „Kommunikativer Kontext“ und „Schreibpraxis und -entwicklung“ ebenfalls in einem normativschreibdidaktischen Bezugsrahmen, der in der vorliegenden Studie aufgrund ihrer Schwerpunktsetzung aber nur angedeutet werden kann (Abschnitte 7.3.1, 7.3.2 und 9.2.1).
88Vgl.
dazu auch Lösener 2015 und Winkler 2015a.
6
Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
6.1 Fragestellung und Gegenstand: Anforderungen an die Forschungsmethode In Teil I dieser Arbeit wurde der Gegenstand der Lektüre, die aktuelle serielle Jugendliteratur, literatur- und medienwissenschaftlich erschlossen. Dabei hat sich auch gezeigt, dass literale Anschlusshandlungen von Jugendlichen im Feld der Serialität verortet sind und unmittelbar aus diesem hervorgehen. Fragen, die den realen Leser betreffen, wie beispielsweise die Frage nach den Funktionen der literalen Praktiken oder die Frage nach den damit verbundenen Verstehensprozessen, lassen sich jedoch nur mit empirischen Methoden verfolgen, wie sie im zweiten Teil der Arbeit nun zum Einsatz kommen. Das methodische Vorgehen der empirischen Studie wird im Folgenden aus den Anforderungen des Forschungsgegenstandes und der in mehreren Schritten entwickelten Fragestellungen hergeleitet. Im Anschluss an die inhaltlich-theoretische Reflexion der Vorstudie (Abschnitt 5.2) wurde die Fragestellung wie folgt modifiziert: Mittels welcher literaler Praktiken rezipieren Jugendliche den seriellen Jugendroman Die Tribute von Panem (Suzanne Collins, 3 Bde., 2009–2011) im medialen Umfeld des vom Oetinger-Verlag betriebenen Tribute von Panem-Forums und welche Funktionen erfüllen diese Praktiken für die Leserinnen und Leser? Diese Fragestellung wurde im Zuge des Forschungsprozesses in mehreren Schritten präzisiert (Abschnitt 6.3). Dabei haben sich drei große Schwerpunkte ergeben, die auch an Erkenntnisse der Vorstudie anknüpfen:
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Schlachter, Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31003-5_6
181
182
6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
a. Welche unterschiedlichen Formen und Funktionen weisen literale Praktiken im Forum auf? (kategoriale Makroperspektive) b. Welche literarischen Textverstehensprozesse können im Bereich der diskursiven Praktiken ermittelt werden und wie interagieren diese? Welche Rolle spielen Emotionen und Wertungen im Prozess des Textverstehens? (kategoriale Mikroperspektive) c. Welche Literalitätspraxen einzelner Mitglieder lassen sich rekonstruieren? (fallbezogene Perspektive) Es handelt sich insgesamt um eine weite und offene Fragestellung, die den Anforderungen entspricht, wie sie Anselm Strauss und Juliet Corbin an Untersuchungen stellen, die mittels der Grounded Theory durchgeführt werden: Sie bestimmt literale Praktiken von Jugendlichen im Anschluss an die Lektüre eines seriellen Jugendromans als Phänomen, das untersucht werden soll.1 Sie ist „andererseits nicht so eingegrenzt und fokussiert, daß Entdeckungen und neue Erkenntnisse ausgeschlossen werden.“2 Außerdem weist sie eine „Handlungsund Prozeßorientierung“3 auf, insofern als literale Praktiken als Handlungen aufgefasst werden, denen bestimmte Motive und Funktionen zugrunde liegen. Miteinander verknüpfte prozessuale Aspekte4 sind in der Frage nach den beteiligten Textverstehensprozessen und in der fallbezogenen Perspektive auf literale Praktiken enthalten. Für die Forschungsmethode ergeben sich aus dem Untersuchungsgegenstand des Tribute von Panem-Forums und aus der genannten Fragestellung und ihrer drei Schwerpunkte verschiedene Anforderungen. Wie die vorangehenden Überlegungen zur theoretischen Rahmung zeigen, kann der Forschungsgegenstand der literalen Praktiken im Anschluss an die Lektüre eines Jugendromans trotz verschiedener sensibilisierender Konzepte als relativ unerforscht gelten. Darüber, wie sich das Freizeitlesen von Jugendlichen im Rahmen eines breiten digitalen Angebotsspektrums an Anschlusskommunikationsmöglichkeiten gestaltet, ist wenig bekannt. Hieraus ergibt sich zwangsläufig eine explorative Anlage der Studie, der methodisch Rechnung getragen werden muss. Weiterhin hat die Vorstudie ergeben, dass die literalen Praktiken verschiedene Formen und Funktionen aufweisen, deren Zusammenspiel interessiert. Es geht also darum herauszufinden, welche Aspekte
1Vgl.
Strauss/Corbin 1996 [1990], S. 23.
2Ebd. 3Ebd. 4Vgl.
ebd., S. 118.
6.2 Die Grounded-Theory-Methodologie als Forschungsansatz
183
des Phänomens in dem spezifischen Feld des Forums ermittelt werden können und wie diese zusammenhängen. Ziel der Untersuchung ist es, eine Theorie der literalen Praktiken zu entwickeln, die einen Erklärungsansatz für das Phänomen besitzt. Dazu muss im Forschungsprozess aus den rund 465.000 Beiträgen des Forums, deren Merkmalsverteilung im Vorhinein nicht bekannt ist, ein Sample erstellt werden, das für die Fragestellung relevante Beiträge umfasst. Aufgrund des spezifisch literaturdidaktischen Erkenntnisinteresses und der Befunde der Vorstudie liegt ein weiterer Schwerpunkt der Hauptstudie darin, im Bereich der diskursiven Praktiken literarische Textverstehensprozesse und deren Interaktion zu rekonstruieren, womit eine kategoriale Mikroperspektive eingenommen wird. Der dritte Schwerpunkt der Hauptstudie bezieht sich in einer fallorientierten Perspektive auf einzelne Mitglieder des Forums und deren spezifische Literalitätspraxis. Mit der Grounded-Theory-Methodologie liegt ein Forschungsansatz vor, der verschiedene Perspektiven auf das Phänomen der literalen Praktiken ermöglicht und den genannten Anforderungen Rechnung trägt: der explorativen Anlage, der Rekonstruktion von unterschiedlichen Dimensionen und Zusammenhängen, dem Ziel einer Theorieentwicklung, der Notwendigkeit einer theoriegeleiteten Erstellung eines Samples, der Erforschung von Textverstehensprozessen und der Integration von kategorialen und fallbezogenen Perspektiven auf den Gegenstand. Im Anschluss an die Skizzierung des Forschungsansatzes in seinen Grundzügen (Abschnitt 6.2) wird der Forschungsprozess der Studie (Abschnitt 6.3) nachgezeichnet und begründet.
6.2 Die Grounded-Theory-Methodologie als Forschungsansatz Zunächst einmal meine ich, Grounded Theory ist weniger eine Methode oder ein Set von Methoden, sondern eine Methodologie und ein Stil, analytisch über soziale Phänomene nachzudenken. (Anselm Strauss im Gespräch mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie)5
Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) gibt es nicht. Vielmehr existieren verschiedene Spielarten, vertreten durch unterschiedliche Forscherinnen und Forscher, ebenso wie verschiedene Stadien der Theorieentwicklung, wenn man beispielsweise den Fortgang der Theoriebildung ausgehend von Glaser/
5Strauss
2011, S. 74. Das Interview wurde in einer ersten Fassung 1995 im Journal für Psychologie veröffentlicht.
184
6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
Strauss 1967 [1998] über Strauss/Corbin 1990 [1996] bis hin zu Corbin/Strauss 2008 und der zweiten Generation an Forscherinnen und Forschern6 betrachtet. Zudem weisen „die in der Grounded Theory formulierten Verfahrensgrundsätze und Arbeitsprinzipien in der Tat ein hohes Maß an Allgemeinheit auf […] und [finden] in fast jeder Art von qualitativ-interpretativer Forschung in der einen oder anderen Weise Berücksichtigung“7, so dass ihr bisweilen schon der „Status einer allgemeinen Methodologie der qualitativen Sozialforschung“8 verliehen wird. Neben den Theorietexten der jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter liegen inzwischen zahlreiche Lehrbücher und zusammenfassende Übersichten vor, so dass eine erneute Darstellung vor der Herausforderung steht, diese unterschiedlichen Quellen mit ihren jeweiligen Schwerpunkten entsprechend zu berücksichtigen und gleichzeitig eine kohärente methodologische Fundierung für den eigenen Forschungsprozess zu legen.9 Dies ist nur möglich, wenn die Theorie(n) und die entsprechenden Verfahren, die Berücksichtigung finden, in einer angemessenen Ausführlichkeit und Präzision dargestellt werden. In der Terminologie folge ich der von Günter Mey und Katja Mruck vorgeschlagenen Unterscheidung in Grounded-Theory-Methodologie (GTM) zur Bezeichnung des Forschungsansatzes und damit verbundener methodischer Verfahren und Grounded Theory (GT) zur Benennung „des mittels dieser Strategie zu gewinnenden bzw. gewonnenen Produkts“.10 Abgewichen wird von dieser Terminologie, wenn Originalquellen dargestellt werden, in denen diese Unterscheidung nicht vorgenommen wird, wie in Glaser/Strauss 2005 [1967], Strauss/ Corbin 1996 [1990] und Corbin/Strauss 2008.11
6Vgl.
Morse/Noerager Stern/Corbin/Bowers/Charmaz/Clarke 2009. 2014, S. 2. 8Tiefel 2005, S. 65. 9Folgende Lehrbücher und Überblicksdarstellungen wurden herangezogen: Strübing 2014, Mey/Mruck 2011b, Breuer 2010, Urquhart 2013, Böhm 2000, Flick 2007 und Stark 2014. Vor einer Abkoppelung der Methodik von ihrer Methodologie warnen sowohl Breuer 2010, S. 69 als auch Strübing 2014, S. 1. 10Mey/Mruck 2011b, S. 12. Breuer und Urquhart dagegen verwenden das Kürzel GTM für „Grounded Theory-Methodik“ (Breuer 2010, S. 39) bzw. für „grounded theory method“ (Urquhart 2013, S. 14), womit aber eine gewisse Verengung der Methodologie auf Methoden einhergeht. 11Auch Strübing 2014 nimmt diese Differenzierung nicht vor, da er „die im Begriff [Grounded Theory; B.S.] nahe gelegte Identifizierung des Ergebnisses mit der Aktivität geradezu als Hinweis auf die von Strauss vertretene analytische Perspektive“ (S. 10) versteht. Dennoch erscheint sie als heuristische Unterscheidung in der Darstellung sinnvoll. 7Strübing
6.2 Die Grounded-Theory-Methodologie als Forschungsansatz
185
Das, was Anselm Strauss in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat als „Stil, analytisch über soziale Phänomene nachzudenken“, bezeichnet, sowie ihr Anspruch, Theorien zu entwickeln, kann nur vor dem Hintergrund des Entstehungskontextes der GTM nachvollzogen werden, der deshalb im Folgenden zunächst kurz skizziert wird. Die Passung des Forschungsansatzes zum Untersuchungsgegenstand dieser Studie lässt sich im Anschluss daran epistemologisch erläutern und zwar insbesondere in Bezug auf zwei Aspekte: Was bisher als explorative Anlage der Studie bezeichnet wurde, kann als iterativer Forschungsprozess präzisiert werden, dem ein spezifisches Erkenntnismodell zugrunde liegt, das sich methodisch wiederum im Verfahren des theoretischen Samplings niederschlägt. Vorher gilt es mit der Rolle des Vorwissens den in der Rezeption der GTM vielleicht meistdiskutierten Aspekt zu erläutern. Die vorliegende Studie vertritt diesbezüglich im Anschluss an Kelle/Kluge 2010, wie in Abschnitt 5.3 bereits kurz dargelegt, die Position, dass ein reflektierter Umgang mit Vorwissen entscheidend für die Qualität des Forschungsprozesses ist. Mit der Zielsetzung einer „regelgeleitete[n], kontrollierte[n] und prüfbare[n] ‚Entdeckung‘ von Theorie aus Daten/Empirie“12 verfolgten die Väter der Grounded Theory, Anselm Strauss und Barney Glaser, zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den 1960er-Jahren eine doppelte Stoßrichtung. Sie zielten „sowohl gegen die damals vorherrschende quantitative Orientierung an hypothetikodeduktiven Modellen als auch gegen die zu dieser Zeit überwiegend an Feldforschung und Deskription interessierte qualitative Tradition.“13 Wie der Titel The Discovery of Grounded Theory (1967) anzeigt, ging es den beiden Forschern nicht, wie im quantitativen Paradigma üblich, um die Überprüfung von vorab formulierten Theorien an den Daten, sondern um die Entwicklung von Theorien aus den Daten, das heißt um die Generierung neuer theoretischer Erkenntnisse. Bereits mit dieser Kurzcharakterisierung wird deutlich, dass dem Umgang mit bereits vorhandenen theoretischen Konzepten in der GTM eine zentrale Rolle zukommt, die für ihr methodologisches Selbstverständnis äußerst wichtig ist. Gleichzeitig führt diese doppelte programmatische Ausrichtung von The Discovery of Grounded Theory zu einer teilweise vereinfachenden und missverständlichen Rhetorik. Theorien sollen Glaser/Strauss 1967 zufolge aus den Daten emergieren und ihnen nicht aufgezwängt werden. Dazu sei es notwendig, „die Literatur über Theorie und Tatbestände des untersuchten Feldes zunächst buchstäblich zu ignorieren, um sicherzustellen, daß das Hervortreten von Kategorien
12Mey/Mruck 13Ebd.
2011b, S. 11.
186
6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
nicht durch eher anderen Fragen angemessene Konzepte kontaminiert wird.“14 Diese Haltung wurde in der kritischen Rezeption und Weiterentwicklung der GTM als empiristische und induktivistische Forschungsstrategie problematisiert und vor dem Hintergrund der programmatischen Ausrichtung wie folgt erklärt: Eine genauere Analyse der Monographie macht dabei deutlich, dass dieses ‚Emergenzkonzept‘ eher forschungspolitisch als methodologisch begründet war. […] Der Verifikationsrhetorik quantitativer Methodiker setzten GLASER und STRAUSS eine eigene induktivistische Rhetorik entgegen.15
In der Fortentwicklung der Theorie wird der Umgang mit dem theoretischen Vorwissen zum Hauptstreitpunkt zwischen Strauss und Glaser.16 Während Strauss dem theoretischen Vorwissen in späteren Werken eine wichtige Rolle im Forschungsprozess zuweist, hält Glaser mit seinem Konzept-Indikator-Modell (1978) und später mit Emergence vs Forcing. Basics of Grounded Theory analyses (1992) an einer induktivistischen Rhetorik und Vorgehensweise fest.17 In der nachfolgenden Studie orientiere ich mich im Wesentlichen an der GTM-Variante und Position von Strauss, die sowohl von Udo Kelle als auch von Jörg Strübing als die leistungsfähigere bewertet wird: Glasers Ansatz hat Udo Kelle nicht ganz zu Unrecht als einen dem frühen englischen Empirismus gleichenden ‚dogmatischen Rechtfertigungsinduktivismus‘ bezeichnet (Kelle 1996). Strauss hingegen steht für ein wesentlich differenzierteres und forschungslogisch besser begründetes Verfahren, das insbesondere in der Frage des Umgangs mit theoretischem Vorwissen sowie im Hinblick auf die Verifikationsproblematik sorgfältiger ausgearbeitet ist.18
Die induktivistische Strategie ist aus zwei Gründen problematisch: Das Ignorieren von Theorien zum untersuchten Feld, wie sie von Glaser und Strauss programmatisch als „wirksame und sinnvolle Strategie“19 bezeichnet wird, ist
14Glaser/Strauss
2005 [1967], S. 47. 2010, S. 20. Strübings kritische Darstellung lehnt sich an Kelle an (vgl. Strübing 2014, S. 51 ff.). 16Vgl. Kelle/Kluge 2010, S. 21; Mey/Mruck 2011b, S. 31; Strübing 2014, S. 65 ff. 17Vgl. Strauss/Corbin 1996 [1990], S. 25 ff. 18Strübing 2014, S. 77. 19Glaser/Strauss 2005 [1967], S. 47. 15Kelle/Kluge
6.2 Die Grounded-Theory-Methodologie als Forschungsansatz
187
vor dem Hintergrund erkenntnistheoretischer Erwägungen natürlich nicht möglich. Vielmehr kann die Erkenntnis, dass Wahrnehmung immer vor dem Hintergrund bereits vorhandener Kategorien und Begriffe stattfindet, als Konsens moderner Wissenschaftsphilosophie gelten.20 Kritisch betrachtet werden muss auch der erkenntnislogische Schluss der Induktion an sich und dessen Rolle bei der Generierung neuer theoretischer Konzepte. Das Erkenntnismodell, das der Strauss’schen Variante der GTM zugrunde liegt, lässt sich nur nachvollziehen, wenn man dessen Wurzeln im amerikanischen Pragmatismus skizziert, wie sie Strübing herausgearbeitet hat.21 In einem methodologischen Aufsatz äußern sich Strauss und Corbin wie folgt dazu: We follow closely here the American pragmatist position […]: A theory is not the formulation of some discovered aspect of a preexisting reality ‚out there‘. To think otherwise is to take a positivistic position that […] we reject, as do most other qualitative researchers. Our position is that truth is enacted […]: Theories are interpretations made from given perspectives as adopted or researched by researchers. To say that a given theory is an interpretation – and therefore fallible – is not at all to deny that judgements can be made about the soundness or probable usefulness of it.22
Der Pragmatismus basiert auf einer „prozessuale[n] und multiperspektivische[n] Realitätsauffassung“, der zufolge auch Theorien auf dem Untersuchungsmoment beruhende, „beobachtergebundene Rekonstruktionen“23 darstellen. Für die Untersuchungslogik bedeutet dies, dass neu gewonnene theoretische Erkenntnisse in einem iterativen und zyklischen Forschungsprozess immer wieder an die Daten rückgebunden werden müssen.24 Die entscheidende Frage, die wiederum mit dem Stellenwert der Induktion zusammenhängt, ist diejenige, wie neue theoretische Erkenntnisse gewonnen werden können. Strübing legt hier überzeugend dar, wie die bereits erwähnte programmatische Stoßrichtung von The
20Vgl.
Kelle/Kluge 2010, S. 19. Kelle/Kluge weisen auch darauf hin, dass die Argumentation von Glaser/Strauss in diesem Punkt widersprüchlich ist, da sie in einer Fußnote ihres Werkes konzedieren, dass „sich der Forscher der Realität [selbstverständlich] nicht als einer tabula rasa [nähert].“ (Glaser/Strauss 2005 [1967], S. 13, Fußnote 3) 21Vgl. Strübing 2014, S. 37 ff. 22Strauss/Corbin 1994, S. 279. 23Strübing 2014, S. 39. 24Vgl. ausführlicher und in Bezugnahme auf Peirce und Dewey ebd., S. 41 ff.
188
6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
Discovery of Grounded Theory zu einer Überbetonung der Induktion führt. Er zeigt sich zugleich verwundert, dass sich Strauss nicht auf die Erkenntnislogik der Abduktion nach Peirce beruft: Es dürfte müßig sein, die Frage zufriedenstellend zu klären, weshalb Strauss die pragmatischen Wurzeln seiner methodologischen Arbeiten so wenig differenziert darstellt und sie kaum auf die von ihm vorgeschlagenen Verfahren bezieht. […] Mir scheint aber wichtig festzuhalten, dass gerade jene Merkmale, in denen sich die Strauss’sche Fassung von Grounded Theory von der Variante Glasers unterscheidet (zyklisches Erkenntnismodell, Integration von nicht-prekärem Vorwissen mit der kreativen Interpretation neuer Wahrnehmungstatbestände, Perspektivität als Voraussetzung jedweder Erkenntnis, Methoden als pragmatische Heuristik statt als methodologischer Rigorismus), recht genau jene allgemeine Erkenntnishaltung beschreiben, die Peirce als abduktiv bezeichnet.25
Erst sogenannte abduktive Schlüsse, die metaphorisch als Erkenntnisblitze beschrieben werden, ermöglichen neue wissenschaftliche Erkenntnisse, da die Induktion als „Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen“26 lediglich zu einer Einordnung einer aktuellen Wahrnehmung in ein bereits bekanntes Konzept führt. Wenn der Forschende dagegen zur Erklärung eines unvermuteten Phänomens eine neue Regel aufstellt, handelt es sich um einen abduktiven Schluss, der „eine Umdeutung und Neubewertung empirischer Phänomene [erfordert], ein Vorgang, so PEIRCE, der ohne die Kreativität des Forschers oder der Forscherin, ohne einen spielerischen Umgang mit Daten und Theorien gar nicht denkbar ist.“27 Allerdings ist das Konzept der Abduktion keine Methode, mittels derer „gültige neue theoretische Aussagen aus empirischen Daten“ erschlossen werden können, sondern lediglich „eine formale Darstellung davon […], wie die Entwicklung neuer Erklärungen angesichts überraschender Fakten vor sich geht.“28 Da Abduktionen, wie Kelle und Kluge schreiben, „hochgradig riskant“ sind, haben sie lediglich den Status von vorläufigen Vermutungen, die weiter geprüft, sprich an die Daten rückgebunden werden müssen.29 Während Jo Reichertz, der sich
25Ebd.,
S. 55.
26Kelle/Kluge
2010, S. 23. Zur Unterscheidung von qualitativen Induktionen und Abduktionen nach Peirce vgl. auch Strübing 2014, S. 47. 27Kelle/Kluge 2010, S. 25. 28Ebd. 29Ebd.
6.3 Methodisches Vorgehen
189
intensiv und kritisch mit der Erkenntnislogik der Abduktion auseinandersetzt, den Erwerb einer „abduktiven Haltung“ zur Generierung neuer Erkenntnisse vorschlägt, geht die Grounded-Theory-Methodologie Strübing zufolge über diese Haltung hinaus und „zeigt auf, wie Abduktionen produktiv in den Forschungsprozess integriert werden können.“30 Angesprochen ist hier wiederum „jene[r] iterativ-zyklische[ ] Prozess experimenteller Erprobung, in dem aus qualitativen Induktionen ebenso wie aus Abduktionen ad hoc-Hypothesen erarbeitet werden, die dann im nächsten Prozessschritt in einer deduktiven Bewegung wiederum auf Daten bezogen werden“.31 Mittels welcher Verfahren ein solchermaßen epistemologisch begründeter iterativer Forschungsprozess konkret durchgeführt werden kann und wie hier Theorien in der Kombination mit bestehenden sensibilisierenden Konzepten (Abschnitt 5.3) generiert werden, wird im nächsten Kapitel bezogen auf die vorliegende Fragestellung methodisch präzisiert.
6.3 Methodisches Vorgehen Wenn ich nun sagen sollte, was zentral ist, würde ich drei Punkte hervorheben: Erstens die Art des Kodierens. Das Kodieren ist theoretisch, es dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. Es werden theoretische Konzepte gebildet, die einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen. Das Zweite ist das theoretische Sampling. Ich habe immer wieder diese Leute in Chicago oder sonst wo getroffen, die Berge von Interviews und Felddaten erhoben hatten und erst hinterher darüber nachdachten, was man mit den Daten machen sollte. Ich habe sehr früh begriffen, dass es darauf ankommt, schon nach dem ersten Interview mit der Auswertung zu beginnen, Memos zu schreiben und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl der nächsten Interviews nahelegen. Und das Dritte sind Vergleiche, die zwischen den Phänomenen und Kontexten gezogen werden und aus denen erst die theoretischen Konzepte erwachsen. Wenn diese Elemente zusammenkommen, hat man die Methodologie. (Anselm Strauss im Gespräch mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie)32
30Strübing
2014, S. 48 unter Berufung auf die Arbeiten von Jo Reichertz.
31Ebd. 32Strauss
2011 [1995], S. 74.
190
6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
6.3.1 Die Daten Mit den Beiträgen des Tribute von Panem-Forums liegen non-reaktive Daten vor, die nicht eigens für die Studie erhoben wurden. Die Vorteile solcher Daten, die mittels „unobtrusive measures“ (E. Webb) bzw. „unobtrusive methods“ (R. Lee) gesampelt werden, liegen darin, dass die beforschten Subjekte sich des Datenerhebungsprozesses nicht bewusst sind und die Daten somit nicht durch die Methode ihrer Erhebung beeinflusst werden, wie im Falle von Interviews, Fragebogen, Lautdenkprotokollen oder anderen reaktiven Verfahren.33 Mit dem Internet liegt eine unerschöpfliche archivalische Quelle non-reaktiven Datenmaterials vor, das wiederum speziellen medienbedingten Besonderheiten und Einschränkungen unterliegt.34 Probleme der Dynamik und Flüchtigkeit von Online-Inhalten können im vorliegenden Fall ausgeschlossen werden, da das Sampling nach der Schließung des Forums durchgeführt wurde und somit keine Veränderungen der Inhalte parallel stattgefunden haben. Das Forum wurde dazu extern gespeichert.35 Eine weitere Problematik von Online-Daten liegt in der Frage, wie deren Kontextualität zu beurteilen ist. Eine Stärke der qualitativen Sozialforschung liegt darin, dass sie ihre Frage im jeweiligen Forschungsfeld (sozialer Kontext) erhebt, die Perspektiven der Beteiligten berücksichtigt und die Daten vor dem Hintergrund ihres Kontextes interpretiert. Dieser Kontext umfasst neben dem beforschten Subjekt selbst auch gesellschaftliche und soziokulturelle Hintergründe sowie den kommunikativen Kontext.36 Während der kommunikative Kontext einer Forendiskussion, sofern nötig, über die Kontextbeiträge eines einzelnen Beitrags erhoben werden kann,37 unterliegen die Informationen über das Subjekt und dessen gesellschaftliche und soziokulturelle Hintergründe den Einschränkungen der Pseudonymität (Abschnitt 5.3.2.2) und
33Vgl.
Webb et al. 2000, Lee 2000, Janetzko 2008 oder Taddicken/Bund 2010. einer allgemeinen Übersicht vgl. Welker et al. 2010, S. 10 ff.; Janetzko 2008, S. 163 f. und Sander/Schulz 2015. 35Bei der Speicherung des Forums waren mir mein früherer Kollege Paul Libbrecht und eine Hilfskraft behilflich. 36Vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2000, S. 20–22 und Bohnsack 2003, S. 23. Der kommunikative Kontext einer Äußerung wird durch die Interaktion im Gespräch hergestellt. 37Die Frage, wie weit der kommunikative Kontext in einer Online-Kommunikation reicht, ist aufgrund der Nichtlinearität der Diskussionen schwieriger zu entscheiden als in Face-toFace-Gesprächen. 34Zu
6.3 Methodisches Vorgehen
191
der Verfügbarkeit. So liegt zwar eine große Anzahl von Forenbeiträgen vor, aber Kontext- und Rahmendaten fehlen zum Teil bzw. können nicht überprüft werden. Diesem Problem wird in der vorliegenden Studie teilweise mittels eines „data enrichment“38 begegnet, bei dem Daten, die die Mitglieder des Forums über sich preisgeben, gesammelt und tabellarisch aufbereitet werden. Quellen für diese personenbezogenen Daten sind neben den Profilen insbesondere der Willkommen-Thread, in dem neue Mitglieder sich vorstellen, oder verschiedene Off-Topic-Threads, wie die Threads „Klasse und Schulart“, „Echte Namen“, „Eure Hobby und soo:)“, „Aussehen in Real-Life“, „Wie alt seid ihr?“, „Jungs hier“ oder „Was bedeuten eure Signaturen?“. Welche Einschränkungen sich aus der nur teilweise vorhandenen Kontextualisierung für die Interpretation der Daten ergeben, muss im Rahmen einer Methodenkritik reflektiert werden (Abschnitt 9.3).
6.3.2 Theoretisches Sampling Ausgehend von der Fragestellung, welche literalen Praktiken im Tribute von Panem-Forum rekonstruiert werden können, und auf der Basis der Erkenntnisse der Vorstudie wurde das Sample der Vorstudie systematisch in Form eines theoretischen Samplings erweitert. Insgesamt wurden für die Studie rund 8000 Beiträge gesampelt. Das theoretische Sampling ist nach Strauss eines der drei Grundelemente der GTM. Als eine besondere Form des qualitativen Samplings zeichnet es sich durch zwei Merkmale aus, die es zugleich von anderen Strategien des Samplings abgrenzen: Ziel ist die Auswahl von Fällen, die für die Fragestellung und den Untersuchungsgegenstand bedeutsam sind, wodurch eine „Repräsentativität der Konzepte in ihren variierenden Formen“39 angestrebt wird. Eine Zufallsstichprobe, wie in statistischen Sampling-Verfahren üblich, würde nicht gewährleisten, dass relevante Fälle tatsächlich erhoben werden, wie am Beispiel des Tribute von Panem-Forum in Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung unmittelbar einleuchtet.40 Die quantitative Verteilung der Beiträge über die einzelnen Forenbereiche ist äußerst uneinheitlich (Abbildung 5.1); eine Zufallsstichprobe
38Janetzko
2008, S. 163. Dieses „data enrichment“ wurde teilweise von zwei Hilfkräften durchgeführt. 39Strauss/Corbin 1996 [1990], S. 161. 40Vgl. Kelle/Kluge 2010, S. 42 f.
192
6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
würde jeden x-ten Beitrag auswählen. Da das Ziel der Untersuchung aber eine qualitative Erfassung von literalen Praktiken ist, konnte nur durch die gezielte Suche erreicht werden, dass auch solche Beiträge gesampelt werden, die Hinweise auf quantitativ weniger prominente Praktiken geben. Voraussetzung hierfür ist eine hohe Vertrautheit mit dem Forum, die eine Orientierung überhaupt erst ermöglicht. Die Fragestellung erforderte außerdem ein unterschiedlich intensives Sampling in verschiedenen Forenbereichen bzw. eine unterschiedliche Berücksichtigung der Kontextbeiträge des Threads. Dort, wo Mikroprozesse des Textverstehens in den Blick genommen wurden, war der Einbezug einer hohen Anzahl von Minimalvergleichen notwendig, da Kategorien nur so zuverlässig konsolidiert werden konnten. Dort, wo es lediglich darum ging, unterschiedliche Praktiken in ihrer Erscheinungsform voneinander abzugrenzen, reichte in der Regel eine kleinere Anzahl an Maximalvergleichen zur Kategorienbildung aus, beispielsweise bei der Unterscheidung der Kategorien „Fanfiction“ und „Role Play Game“. Kelle und Kluge beschreiben die Intention dieser minimalen und maximalen Kontrastierung wie folgt: Die Minimierung von Unterschieden erhöht die Wahrscheinlichkeit, ähnliche Daten zu einem bestimmten Thema oder einer bestimmten Kategorie zu finden und dadurch deren theoretische Relevanz zu bestätigen. Durch die Maximierung von Unterschieden wird hingegen die Wahrscheinlichkeit erhöht, Heterogenität und Varianz im Untersuchungsfeld abzubilden.41
Der Kontext einzelner Beiträge wiederum musste erhoben werden, wenn soziale Prozesse betroffen waren, wie sie beispielsweise mit der vorläufigen Kategorie „Gemeinschaftsbildung“ rekonstruiert wurden. Die beschriebene Auswahlstrategie bedingt das mit dem Theoretischen Sampling verbundene Qualitätskriterium, dem zufolge „[n]icht die Zahl der Fälle, sondern die Systematik ihres Einbezugs und der Vergleiche […] die Qualität einer GT aus[macht].“42 Das zweite charakteristische Merkmal des Theoretischen Samplings liegt darin, dass relevante Fälle nicht nach vorab bestimmten Kriterien, etwa in Form eines Stichprobenplans43, ausgewählt werden, sondern entlang des sich entwickelnden
41Kelle/Kluge
2010, S. 48. Dieses Verfahren der minimalen bzw. maximalen Kontrastierung ist Teil der Strategie des Vergleichens, die von Böhm als wichtigste intellektuelle Tätigkeit im Rahmen der GTM bezeichnet wird (vgl. Böhm 2010, S. 476). 42Mey/Mruck 2011b, S. 29. 43Zu qualitativen Stichprobenplänen vgl. Kelle/Kluge 2010, S. 50 ff.
6.3 Methodisches Vorgehen
193
theoretischen Verständnisses.44 Wie Strauss in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat betont, bedeutet dies, dass sofort nach dem Sampling der ersten Daten mit deren Auswertung begonnen wird und dass die dabei gewonnene theoretische Erkenntnis wiederum leitend ist für die Auswahl der weiteren Daten. Vor dem Hintergrund dessen, was im vorigen Kapitel zur epistemologischen Fundierung der GTM hervorgehoben wurde, wird damit deutlich, dass sich im Verfahren des Theoretischen Samplings das zyklische Erkenntnismodell abbildet, das durch eine „Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie“ gekennzeichnet ist.45 Somit kann die zentrale Bedeutung des Verfahrens des Theoretischen Samplings und des ständigen Wechsels zwischen Datenerhebung und Datenanalyse für die GTM nicht hoch genug eingeschätzt werden.46 Im laufenden Auswahlprozess boten die Forenstruktur, worunter die einzelnen Forenbereiche, aber auch die Thread-Überschriften fallen, und die Vertrautheit mit dem Forum eine Orientierung. Diese Vertrautheit wurde im Forschungsprozess gesichert und laufend erhöht, indem parallel zur Lektüre und Auswahl Memos zu interessanten Mitgliedern, Threads oder einzelnen Beiträgen geschrieben wurden (Abschnitt 6.3.4). Da die Grundgesamtheit der Forenbeiträge im vorliegenden Forschungsvorhaben bekannt und statisch war, bedingten sich systematisches Sampling und theoretische Sättigung: Erst nachdem alle Forenbereiche in das Sampling miteinbezogen wurden, konnte eine theoretische Sättigung erreicht sein und der Samplingprozess abgebrochen werden: „Der Prozess des theoretischen Samplings wird dann beendet, wenn eine ‚theoretische Sättigung‘ erreicht ist, d. h. wenn keine theoretisch relevanten Ähnlichkeiten und Unterschiede mehr im Datenmaterial entdeckt werden können.“47 Trotz der Geschlossenheit des Forums wäre es im Sinne der „All is data“-Maxime der GTM grundsätzlich möglich, auch Daten außerhalb des Forums in die Untersuchung mit einzubeziehen, die helfen könnten, das theoretische Verständnis des Phänomens zu erhöhen.48 So wäre es im vorliegenden Vorhaben zum Beispiel möglich, mit einzelnen Mitgliedern des Forums Interviews zu führen bzw. 44Vgl.
Mey/Mruck 2011b, S. 28 und Strübing 2014, S. 29. 2011b, S. 27. 46Vgl. Breuer 2010, S. 69, der ebenso wie Strübing 2014 (S. 1) vehement davon abrät, die GTM losgelöst von ihrer Methodologie als reine Kodiermethode zu wählen, nachdem bereits eine Masse an Daten erhoben wurde. 47Kelle/Kluge 2010, S. 49. 48Vgl. Mey/Mruck 2011b, S. 28. Das Diktum wurde von Glaser formuliert, es entspricht aber dem Datenbegriff der Strauss’schen Variante. Vgl. dazu auch Breuer 2010, S. 60 f. 45Mey/Mruck
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6 Der Forschungsprozess: Methodologie und methodisches Vorgehen
deren Aktivitäten auf anderen Internetseiten zu verfolgen. Dass hiervon Abstand genommen wurde, hatte in erster Linie forschungspragmatische Gründe der Durchführbarkeit in einem bestimmten Zeitrahmen. Für die ausgewählten Forenmitglieder, die in einem zweiten Auswertungsschritt fallbezogen analysiert wurden, wurde das Sample über eine zweifache Strategie erweitert. Zunächst wurden über alle Forenbereiche hinweg systematisch weitere Beiträge der Mitglieder gesampelt. Um die Validität des Vorgehens zu erhöhen, das heißt, um zu gewährleisten, dass der Fall jeweils in seiner Gesamtheit erhoben wird, wurde abschließend eine Überprüfung und Erweiterung der vier Fallsamples durch eine zweite Forscherperson, die in das Forum und die Forschungsarbeit eingearbeitet war, vorgenommen. Mittels eines informatischen Suchbefehls wurde eine Liste erstellt, die sämtliche Beiträge des jeweiligen Mitgliedes aufführte, auf deren Grundlage dann eine zufällige Stichprobenziehung erfolgte.49 Bei May wurde jeder 8. Beitrag der Liste (insgesamt 230 Beiträge), bei SternenKrieger und Panemfreak jeder 12. Beitrag (insgesamt 180 bzw. 220 Beiträge) und bei Tribute12Katniss jeder 60. Beitrag der Liste (insgesamt 135 Beiträge) berücksichtigt. Der zweiten Forscherperson waren die bestehenden Samples der vier Fälle sowie die Falldarstellungen in einer ersten Fassung bekannt, so dass es in ihrer Verantwortung lag, Beiträge, die neue Aspekte beinhalteten, durch ein maximal kontrastierendes Verfahren in das jeweilige Sample mitaufzunehmen. Gleichzeitig fand so eine Überprüfung der vorläufigen Falldarstellungen statt; Zweifelsfälle bzw. neue Gesichtspunkte, die aus dem erweiterten Datenmaterial hervorgingen, wurden im Anschluss besprochen. Die Tatsache, dass bei der Validierung von Tribute12Katniss’ Sample prozentual weniger Beiträge berücksichtigt wurden, hängt damit zusammen, dass ihr Sample nach dem ersten Samplingschritt bereits wesentlich umfangreicher war als diejenigen der anderen Fälle.
6.3.3 Datenanalyse: offenes, axiales und selektives Kodieren Die Auswertung der Daten erfolgt in der GTM in einem mehrstufigen Kodierverfahren, das sich in der Strauss’schen Variante aus dem offenen, dem axialen und dem selektiven Kodieren zusammensetzt: „Kodieren stellt die Vorgehensweisen dar,
49Für
die Programmierung dieses Suchbefehls danke ich meinem ehemaligen Kollegen Paul Libbrecht.
6.3 Methodisches Vorgehen
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durch die die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden.“50 Breuer beschreibt den Kodierprozess, das „Herzstück“ 51 der GTM, wie folgt und definiert zugleich dessen zentrale Begrifflichkeiten: Mit „Kodes“ sind (vorläufige) Abstraktions- und Benennungsideen von Phänomenbeschreibungen (aus Transkripten oder Beobachtungsprotokollen) gemeint, wie sie Kodierer typischerweise im Zuge des „Offenen Kodierens“ entwickeln. Aus einer größeren Anzahl solcher Kode-Ideen entstehen durch Selektion, Zusammenfassung, Sortierung, Fokussierung u. Ä. im Laufe des Kodierprozesses „Kategorien“, die die theoretische Grundbegrifflichkeit einer entwickelten Grounded Theory darstellen. Die Kategorien werden im Laufe der Theorieausarbeitung in einer Modellstruktur konfiguriert, wobei sie unterschiedliche/n Gewichtigkeit bzw. Stellenwert in einer hierarchischen Anordnung der Theoriekomponenten bekommen können.52
Die Spezifik des Kategorienbegriffs der GTM liegt im Gegensatz zum Kategorienbegriff inhaltsanalytischer Verfahren darin, dass theoretische Kategorien aus dem Material gewonnen werden. Während inhaltsanalytische Verfahren letztlich immer einer Subsumptionslogik53 folgen, bei der Daten bereits existierenden Kategorien zugeordnet werden, werden in der GTM alle Kategorien am Material entwickelt, indem „begrifflich-konzeptuelle bzw. theoretische Identifikations-, Konstruktions- und Benennungsarbeit“54 geleistet wird. In diesem Konzeptualisierungsprozess ist der theoretische Gehalt der Kategorien begründet, die über eine reine Deskription oder Strukturierung, die häufig das Ziel inhaltsanalytischer Verfahren sind, hinausgehen.55 Im ersten Kodierschritt (offenes Kodieren) sollen die Daten durch generative oder theoriegenerierende Fragen kategorial aufgebrochen werden, damit die Phänomene und Konzepte, auf die das Datenmaterial verweist, erkannt und
50Strauss/Corbin
1996 [1990], S. 39.
51Ebd. 52Breuer
2010, S. 74 f. wenn in der Qualitativen Inhaltsanalyse (QIA) induktive Kategorien an einem Teil des Materials entwickelt werden, wird nach einiger Zeit das Kategoriensystem fixiert, das dann am gesamten Material zur Anwendung kommt (vgl. z. B. Kuckartz 2012, S. 64 und S. 78 oder Schreier 2014). Schreier zufolge liegt die Bedeutung der induktiven Kategorienbildung in der QIA darin, die Validität des Kategoriensystems zu gewährleisten. 54Breuer 2010, S. 70. 55Vgl. Strauss/Corbin 1996 [1990], S. 45: „Deswegen ist das Konzeptualisieren der Daten der erste Schritt der Analyse.“ 53Auch
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durch Kodes benannt werden können.56 Das analytische Verfahren des Vergleichens, das zur Auswahl eines Beitrags geführt hat, wird beim offenen Kodieren fortgesetzt und soll bewirken, dass die Kodes zunehmend ausdifferenziert und dimensionalisiert (vgl. unten zu Frage 2) werden. Dabei wird empfohlen, zunächst Zeile für Zeile, später absatzweise vorzugehen. Diese Phase des Kodierens wurde in der vorliegenden Studie überwiegend mit der Analysesoftware MAXQDA (Version 11) durchgeführt, die eine Verwaltung der Kodes erleichtert und zugleich das Schreiben von zusammenfassenden Memos ermöglicht (Abschnitt 6.3.4). Da die Kodes während des offenen Kodierens einer laufenden Modifikation unterliegen, kann der Forschungsprozess dieser Phase nur beschrieben und punktuell durch einzelne Beispiele dokumentiert werden, die Zwischenstände und teilweise Endresultate im Kodierprozess darstellen (Tabellen 6.1–7.5). Eine Auflistung aller verwendeten Kodes ist im Rahmen der GTM-Methodik nicht möglich bzw. aussagekräftig, da im parallel stattfindenden Sampling- und Kodierprozess laufend neue Kodes hinzukommen, Kodes verändert, aufgegeben oder zu Kategorien verdichtet werden. Die Phasen des offenen und axialen Kodierens gehen dabei fließend ineinander über und sind zeitlich nicht eindeutig zu trennen.57 Vielmehr stellen die einzelnen Kodierformen „verschiedene Umgangsformen mit textuellem Material dar, zwischen denen der Forscher bei Bedarf hin- und herspringt und die er miteinander kombiniert.“58 Am Anfang des Auswertungsprozesses wurden, wie in der Methodenliteratur vorgeschlagen, theoretische Fragen an den Untersuchungsgegenstand der literalen Praktiken gestellt. Bei den im Folgenden genannten Fragen zum ersten Forschungsschwerpunkt handelt es sich noch um relativ allgemeine Fragen, die auf der Grundlage des Datenmaterials zunehmend verfeinert bzw. in Bezug auf die verschiedenen Praktiken ausdifferenziert wurden: (1) Um welche Praktik geht es? (Was?) (2) Welche Eigenschaften/Spezifika weist eine bestimmte Praktik auf? (3) Welche Aspekte einer Praktik sind aus literaturdidaktischer Sicht interessant?
56Vgl.
ebd., S. 43 ff., Breuer 2010, S. 80 f. oder Böhm 2000, S. 477 f. Kodieren als „ineinander verschachtelter Prozess dreier Kodierformen“ vgl. auch Mey/Mruck 2011b, S. 41. 58Flick 2007, S. 387 f. 57Zum
6.3 Methodisches Vorgehen
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(4) Wer verwendet welche Praktik? (5) Welche Bedeutung hat die Praktik für die Akteure? (Perspektive der Akteure) (6) Warum und wozu wird eine bestimmte Praktik verwendet? (Perspektive der Forscherin) (7) In welchem Kontext kommt die Praktik zur Anwendung? (2) Im Zuge des offenen Kodierens sollen Eigenschaften/Dimensionen einer (vorläufigen) Kategorie bestimmt werden, um alle in ein Phänomen involvierten Aspekte zu identifizieren und somit eine möglichst hohe analytische Vielfalt zu erzeugen.59 Als mögliche Eigenschaften mit dimensionaler Ausprägung nennen Strauss und Corbin „Häufigkeit“, „Ausmaß“, „Intensität“ und „Dauer“ 60; an einem Beispiel aus einer der Krankenhaus-Studien wird aber auch deutlich, dass die Eigenschaften immer direkt aus der Art des Phänomens abgeleitet werden müssen und dass jedes Phänomen spezifische Eigenschaften aufweist, zum Beispiel wenn Strauss zwischen innerlichen und äußerlichen Apparat-KörperAnschlüssen unterscheidet.61 (5) und (6) Die Doppelung der Frage nach der Bedeutung bzw. Funktion der Praktiken, wie sie von den Akteuren bzw. von der Forscherin wahrgenommen werden, trägt der Tatsache Rechnung, dass die GTM als hermeneutische Methode der Theoriebildung eine „Mittelstellung“ auf einer Skala der Rekonstruktion von latentem bzw. manifestem Sinn einnimmt: Einerseits ist der Forscher an subjektiven Konzeptualisierungen der Akteure unter ihren „natürlich“-lebensweltlichen Umständen interessiert und schätzt deren Begriffsbildungs- und Theoretisierungsleistungen. Andererseits nimmt er auf dieser Grundlage eine Kategorien- und Modellbildung vor, die über die lebensweltlichen Selbst-/Verständnisse, die Denk-, Sortierungs- und Interpretationswelten der Feldmitglieder hinausgeht.62
59Vgl.
Strauss/Corbin 1996 [1990], S. 50 ff. und Strübing 2014, S. 19 ff. 1996 [1990], S. 52 f. 61Vgl. Strauss 1998, S. 40 ff. 62Breuer 2010, S. 51. 60Strauss/Corbin
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Neben der Rekonstruktion der Selbstdeutungen der Akteure geht es in der Forscherperspektive darum, mögliche Lesarten eines Phänomens zu ermitteln, nicht dessen verborgene „wahre“ Bedeutung.63 (7) Die Frage nach dem Kontext ist Teil des Kodierparadigmas nach Strauss, das eigentlich erst im axialen Kodieren zum Einsatz kommt. Mey und Mruck weisen jedoch darauf hin, dass Strauss’ Zuordnung des Kodierparadigmas zum axialen Kodieren wohl eher der Anwendungsorientierung geschuldet sei und dass die drei Kodierprozeduren nicht klar voneinander getrennt seien.64 Sobald Überlegungen angestellt werden, wie die unterschiedlichen Eigenschaften und Dimensionen eines Phänomens strukturiert und geordnet werden können, wozu deren Benennung bereits ein erster Schritt darstellt, wird die Grenze des offenen Kodierens überschritten. Die Frage nach dem Kontext bezieht sich bei der vorliegenden Fragestellung (auch) spezifisch auf den kommunikativen Kontext in Form der jeweiligen Gesprächssequenz. Bei denjenigen Beiträgen, bei denen dieser Kontext beim ersten Kodieren gleich relevant erschien, wurde er sofort mit gesampelt.65 Die beiden folgenden Beispiele (Tabellen 6.1 und 6.2)66 veranschaulichen das zeilenweise offene Kodieren, wie es mithilfe der oben genannten Fragen in den verschiedenen Forenbereichen durchgeführt wurde, und zeigen mit den zusammenfassenden Kategorien in der letzten Tabellenzeile zugleich den fließenden Übergang zum axialen Kodieren an, der an den Stellen erfolgt, an denen ordnende, zusammenfassende bzw. übergeordnete Kategorien bestimmt werden.
63Hierdurch
unterscheidet sich die GTM, wie Breuer hervorhebt, von anderen Deutungsverfahren wie der Psychoanalyse oder der Objektiven Hermeneutik (vgl. Breuer 2010, S. 79). 64Vgl. Mey/Mruck 2011b, S. 40 f. 65Rückt der Kontext bei einem bestimmten Beitrag erst in einem späteren Rücklauf zu den Daten in den Blick, dann kann er auch zu diesem Zeitpunkt gesampelt werden. 66Die Beiträge werden hier der besseren Übersichtlichkeit halber nach Sinneinheiten gegliedert. In MAXQDA stellt ein Beitrag die kleines Analyseeinheit (Dokument) dar.
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Tabelle 6.1 Offenes Kodieren (Beispiel 1) Thread: Off-Topic_Plaudern_Danksagung zu einem Jahr!!! (insg. 45 Beiträge) Im Anfangspost bedankt sich Glimmer1 bei „allen mitwirkenden Leuten hier“. Der Beitrag von Mondbärin ist der zweite Beitrag des Threads. Mondbärin ist nach eigenen Angaben 15 Jahre alt, weiblich und geht in eine 9. Klasse. Sie hat insgesamt 8964 Beiträge im Forum verfasst. Danke, dass ich den Thread nicht aufmachen • Interaktion: Zustimmung musste. ^^ Und bist du jetzt wieder öfters da? Ich hab mich voll gefreut, als ich dich gerade gesehen habe. ^^
• Interaktion: direkte Ansprache von Glimmer1 • Emotionsäußerung: Freude (verbal und Emoticon) • Auslöser der Emotion: Interaktion • Forenkommunikation: Flüchtigkeit, Unregelmäßigkeit der Anwesenheit im Forum
• Interaktion: Zustimmung und BeziehungsDann sage ich auch mal Danke. Für die aspekt gleichen Gründe wie Glimmer, dafür, dass ich hier einfach fangirlen kann, ohne dass es • Reflexion über eigene Forenkommunikation und über deren jemand seltsam findet. Dafür, dass ich hier angefangen habe, mehr zu schreiben. Für die Bedeutung: ○ fangirlen tollen FFs. Für die tollen Leute. Himmel○ Forum als Schutzraum chen, ich hab hier mit so vielen Kontakt ○ fördert eigenes Schreiben gehabt, mal mehr, mal weniger. Ich hab so ○ Lektüre von Fanfictions viele tolle Leute kennen gelernt und.. Ich ○ Kennenlernen von Gleichgesinnten und hab mich total gefreut, dass ich 3 von euch Freunden schon treffen durfte. *_________* Dass ich ○ Entwicklung von Online-Kontakten zu hier May kennengelernt habe war wirklich Offline-Kontakten super, ich bin dem Forum wirklich dankbar. ○ nutzt weitere Kommunikationsmöglich^^ Dann noch die anderen, mit denen ich keiten (jenseits des Forums): Skype, so viel schreibe. Und auch skype und alles. E-Mail (?) (Jaaaa Lilly, Lucie, ihr seid zum Beispiel gemeint. ^^) Danke!