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German Pages 402 Year 2018
Nadja Thoma Sprachbiographien in der Migrationsgesellschaft
Kultur und soziale Praxis
Nadja Thoma (Dr. phil.) ist Universitätsassistentin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen rekonstruktive Bildungsforschung, Biographieforschung, Mehrsprachigkeits- und Translationsforschung sowie Bildung und Professionalisierung im Kontext von Migration und sozialen Ungleichheitsverhältnissen.
Nadja Thoma
Sprachbiographien in der Migrationsgesellschaft Eine rekonstruktive Studie zu Bildungsverläufen von Germanistikstudent*innen
Gedruckt mit Förderung der Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft
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Inhaltsverzeichnis
Dank | 11 1. Einleitung | 13
TEIL I – Z um K ontext der F orschung
2. ›Sprachbiographie‹ – Reflexionen zu zentralen Forschungslinien | 21 2.1 Sprachbiographien als Zugang zu sprachlicher Form und Sprachgebrauch | 23 2.2 Sprachbiographien als Zugang zu ›sprachlicher Identität‹ und zu Sprachaneignungsprozessen | 25 2.3 Sprachbiographien als Zugang zu Erfahrungen mit Sprache(n) und sprachlichen Praktiken an Bildungsinstitutionen | 31 2.4 Sprachenportraits und multimodale Sprachbiographien | 33 2.5 Abschließende Reflexionen und Anknüpfungsmöglichkeiten für die eigene Studie | 35
TEIL II – T heoretischer und methodologischer R ahmen 3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung | 39 3.1 Biographie als theoretisches Rahmenkonzept | 39 3.1.1 Biographie als kulturelle Praxis der Selbstpräsentation | 40 3.1.2 Biographie als Zugang zu Lern- und Bildungsprozessen | 43 3.1.3 Biographie als Zugang zu Wissensordnungen | 45 3.1.4 Die Bedeutung von Bildungsinstitutionen für Bildungsprozesse | 47
3.2 Sprachliche Heterogenität, Gesellschaft und Bildung | 50 3.2.1 (R)Einheit und die Hierarchisierung von Sprecher*innen: Sprachideologien im Kontext europäischer Nationalstaatenbildung | 51 3.2.2 Sprache als Stellvertreterin für ›race‹: Sprachliche Heterogenität in Migrationsgesellschaften | 55 3.2.3 Sprachliche Heterogenität in Bildungsinstitutionen: Von der ›doppelten Halbsprachigkeit‹ zu sprachlichem Handeln unter Bedingungen von Migration | 60
4. Methodologie und Methode | 69 4.1 Interpretative Sozialforschung als methodologisches Rahmenkonzept | 69 4.2 Biographieforschung als Methode | 76 4.2.1 Das biographisch-narrative Interview als Erhebungsinstrument | 76 4.2.2 Biographische Erzählungen als Konstruktionen | 79 4.2.3 Das biographische Interview als Interaktion | 81 4.2.4 Repräsentation und das Verhältnis zwischen Erzähler*in und Forscher*in | 83
5. Dokumentation des Forschungsprozesses | 89 5.1 Feldzugang, Erfahrungen im Feld und Sampling | 89 5.2 Durchführung der biographischen Interviews | 92 5.3 Transkription und Anonymisierung | 96 5.4 Analyse | 98
TEIL III – F alldarstellungen 6. Einführung in den empirischen Teil | 103 7. Kindliche Lebenswelt und Sprache | 105 7.1 Die Rekonstruktion der eigenen Sprachigkeit vor dem Hintergrund familialer SprachGeschichte(n) | 106 7.1.1 Sprachliches Repertoire der Eltern als Ausgangspunkt für die eigene Sprachaneignung | 107 7.1.2 Sprache als zentrales Moment für soziale Anerkennung und Aufstieg | 113 7.1.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Verwobenheit individueller und familialer Sprachgeschichten | 129
7.2 (Nicht) Erinnerte Sprachaneignung zwischen Selbstinitiative, Fremdbestimmung und Zufall | 130 7.2.1 Beginnende Sprachaneignung als ›Leerstelle‹ in der Erinnerung | 130 7.2.2 Sprachliche Instruktion durch signifikante Andere | 141 7.2.3 Sprachaneignung zwischen Zufall und eigenem Projekt | 150 7.2.4 Zusammenfassende Überlegungen: Erste Sprachaneignungsprozesse und die Bedeutung signifikanter Anderer | 159 7.3 Familiensprachen zwischen ›natürlicher‹ Bedingung und Aushandlungsprozess | 161 7.3.1 Sprachwahl und die Herstellung sprachlicher Räume | 161 7.3.2 Die Hierarchisierung sprachlicher Varietäten | 166 7.3.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Konstruktion sprachlicher Räume in Familien in der Migrationsgesellschaft | 174 7.4 Zwischenfazit: Kindliche Lebenswelten in sprachbiographischen Erzählungen | 175
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit | 179 8.1 Schulische Übergänge als sprachbiographisch relevantes Thema | 180 8.1.1 Die Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch für den Eintritt in die Primarstufe | 181 8.1.2 Die Bedeutung von Sprache(n) für den Übergang ins Gymnasium | 191 8.1.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch im Kontext bildungsinstitutioneller Übergänge | 209 8.2 Schulische Erfahrungen von Inklusion, Exklusion und Ermächtigung | 210 8.2.1 Adressierungen als ›Andere‹ und Zuschreibungen von sprachlichem Förderbedarf | 211 8.2.2 Hierarchisierungen von Sprachen im Raum Schule | 219 8.2.3 Zusammenfassende Überlegungen: Sprache als relationale soziale Kategorie im hierarchisierten Raum Schule | 235 8.3 Zwischenfazit: Sprache in biographischen Erzählungen über die Schulzeit | 238 9.
Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums | 241
9.1 Adressierungen als (sprachlich) Andere | 243
9.2 Bedeutung eigener Sprachen und Positionierungen zu sprachbezogenen Differenzierungen | 255 9.2.1 Subjektive Ordnungen von Sprachen | 256 9.2.2 Die ›Muttersprache‹ und die Sprache(n) der Eltern: zwischen Dekonstruktion und moralischer Verpflichtung | 258 9.2.3 Thematisierungen von Fremdzuschreibungen | 264 9.2.4 Die biographische Suche nach eindeutiger Zuordnung | 267 9.2.5 Zusammenfassende Überlegungen – Sprachliche Kategorisierungen in biographischer Perspektive | 274 9.3 Auf dem Weg zur legitimen Deutschsprecher*in | 276 9.3.1 Kontinuierliche Selbstdisziplinierung auf dem Weg zum ›perfekten‹ Deutsch | 276 9.3.2 Deutsch als ›Grenze‹ | 278 9.3.3 Dialekt und die Zuschreibung mangelnden Intellekts | 282 9.3.4 Ambivalente Positionierungen im Kontext sprachlicher Hierarchien | 284 9.3.5 Zusammenfassende Überlegungen: Sprachliche Hierarchisierungen an der Universität | 289 9.4 Die Bedeutung von Sprache für berufliche Erfahrungen und Perspektiven | 290 9.4.1 Sprache und berufliche Erfahrungen | 290 9.4.2 Die Bedeutung von Sprache für berufliche Perspektiven | 298 9.4.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Bedeutung von Sprachen im Kontext beruflicher Erfahrungen und Pläne | 304 9.5 Sprache(n) und die ›nächste Generation‹ | 307 9.5.1 Zusammenfassende Überlegungen – Verantwortung von Eltern im Kontext sprachlicher Hierarchisierungen in Migrationsgesellschaften | 317 9.6 Zwischenfazit: Sprache in der biographischen Phase des Studiums | 318
TEIL IV – T heoretische R eflexion 10. Schlussbetrachtung | 323 10.1 Reflexion des theoretisch-methodologischen Ansatzes der Studie und der damit verbundenen Konzeptionalisierung von ›Sprachbiographie‹ | 325
10.1.1 Sprachbiographien als zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzungen | 325 10.1.2 Biographien als Zugang zu sprachlichen Bildungsprozessen | 329 10.2 Sprachbiographien als transnational und transgenerational strukturierte Konstruktionen | 332 10.2.1 Die transnationale Dimension von Sprachbiographien | 332 10.2.2 Die transgenerationale Dimension von Sprachbiographien | 334 10.3 Sprachbiographische Konstruktionen nicht-dominant positionierter Germanistikstudent*innen und zukünftiger Professioneller im Kontext Germanistik | 337 10.3.1 Zur Bedeutung des (Sprach-)Studiums in den sprachbiographischen Konstruktionen | 337 10.3.2 Professionalisierungsprozesse in den sprachbiographischen Konstruktionen | 339 10.4 Biographisierung im Kontext sprachideologischer Diskurse an Bildungsinstitutionen in Migrationsgesellschaften | 341
Literatur | 347
A nhang Kurzbiographien | 387 Transkriptionsnotation | 399
Dank
Dieses Buch enstand in einem mehrjährigen Arbeitsprozess, an dem zahlreiche Menschen auf unterschiedliche Weise Anteil hatten. Ich schätze mich sehr glücklich, beim Forschen und Schreiben so viel Motivation, Inspiration und Rückhalt erfahren zu haben. An erster Stelle bedanke ich mich bei meinen Interviewpartner*innen, die mir ihre Lebensgeschichten erzählt und anvertraut und dadurch neue Perspektiven auf Sprachbiographien in Migrationsgesellschaften ermöglicht haben. Von ganzem Herzen möchte ich Prof.in Dr.in Bettina Dausien und Prof.in in Dr. İnci Dirim für die Betreuung der Arbeit und des Forschungsprozesses danken. Sie brachten große Offenheit für Perspektiven aus dem jeweils anderen Fachgebiet mit und unterstützten mich darin, meinen eigenen Weg an der Schnittstelle verschiedener Forschungszugänge zu finden. Im Arbeitsbereich von Prof.in Dr.in Bettina Dausien durfte ich über mehrere Jahre hinweg in einem sehr inspirierenden, bestärkenden und von freundschaftlichen Beziehungen geprägten Umfeld arbeiten und viel über rekonstruktive Forschung lernen, wofür ich ihr ebenfalls sehr danke. Prof. Dr. Gerhard Riemann und Prof.in Dr.in Brigitta Busch gilt mein herzlicher Dank für ihre Gutachten und ihre ausführlichen und hilfreichen Rückmeldungen. Intensive Denk- und Diskussionsräume waren auch Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen, die neben meinen Betreuerinnen unter anderem von Prof.in Dr.in Agnieszka Czejkowska, Prof.in Dr.in Daniela Rothe, Prof. Dr. Paul Mecheril und Prof.in Dr.in Ruth Wodak geleitet wurden. Wichtige Hinweise und Impulse für die Interpretation einzelner Textstellen kamen von Lisa Blasch, Alisha Heinemann, Natascha Khakpour, Magdalena Knappik, Rosemarie Ortner und Birgit Springsits. Darüber hinaus hat die intensive Zusammenarbeit mit Martina Enzendorfer, Gertraud Kremsner und Elif Medeni während des gesamten Interpretationszeitraums meinen Blick für verschiedene andere Differenzierungskategorien neben Sprache geschärft. Für das Lesen von Interpretationstexten, Fallrekonstruktionen und (Teil-) Kapiteln in verschiedenen Phasen des Arbeitsprozesses sowie für ermutigende Rückmeldungen danke ich Lisa Blasch, Tobias Buchner, Martina Enzendor-
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fer, Marita Haas, Merle Hinrichsen, Magdalena Knappik, Gertraud Kremsner, Angela Rein, Daniela Rothe, Anna Schnitzer, Dorothee Schwendowius, Julia Seyss-Inquart, Irini Siouti und meinen Grazer Kolleg*innen. Sie alle werden ihre Gedanken und meine Überlegungen zu ihren Kritikpunkten an der einen oder anderen Stelle in diesem Text (wieder-)finden. Großer Dank geht auch an Andrea Hellmer für das formale Vereinheitlichen der Transkripte und die unschätzbare Unterstützung bei diversen Formalia. Während der Promotionszeit durfte ich verschiedene Forschungszusammenhänge außerhalb ›meiner‹ Institute kennenlernen. Stellvertretend danke ich Prof.in Dr.in Ewa Kurantowicz vom Institute of Continuing Education and Educational Studies sowie Prof.in Dr.in Hana Cervinkowa vom International Institute for the Study of Culture and Education, beide an der University of Lower Silesia, Wrocław, sowie Prof.in Dr.in Silvia Dal Negro, Prof.in Dr.in Rita Franceschini und Alexander Glück vom Kompetenzzentrum Sprachen der Freien Universität Bozen. Die letzte Phase des Schreibprozesses fiel mit einem Übergang an eine neue Arbeitsstelle zusammen: Meinen Grazer Kolleg*innen vom Institut für Pädagogische Professionalisierung danke ich, dass sie mich so offen, unterstützend und zugewandt in ihr Team aufnahmen. Prof.in Dr.in Agnieszka Czejkowska danke ich ganz besonders, dass sie mir in dieser sehr arbeitsintensiven Phase viele Freiräume ließ und mir darüber hinaus eine wichtige Mentorin war. Meine Freund*innen und meine Familie haben den Arbeitsprozess mit unaufdringlichem Interesse begleitet und hatten viel Verständnis für Phasen des ›Abtauchens‹. Für ihre Geduld, Offenheit und Bestärkung möchte ich vor allem meinen Eltern Karolina Sailer und Ernst Thoma sowie meinem Bruder Ludwig, seiner Freundin Karin und dem Wiener Sailer-Clan danken. Lisa Blasch war mir weit über die Zeit und die Themen dieses Schreibprozesses hinaus eine wichtige Weggefährtin. Ich danke ihr für unendlich viele Unternehmungen und Gespräche, für so manches Dick und Dünn in den Wirren der Wissenschaft und des Lebens daneben, für regelmäßige Dominantseptakkorde und für das gemeinsame Fabrizieren zoologischer Mischungen frei nach Peter Turrini. Für Amer Alkojjeh fiel die Zeit meiner Promotion mit mehrfachen Übergängen transnationaler und bildungsinstitutioneller Art zusammen. Ich danke ihm, dass er mich trotz aller Herausforderungen, mit denen dies verbunden war, immer ermutigte und stärkte und den Arbeitsprozess in allen Phasen mittrug.
1. Einleitung
Sprachliche Heterogenität an Bildungsinstitutionen ist seit einigen Jahren verstärkt zum Gegenstand bildungspolitischer Auseinandersetzungen sowie sprach- und bildungswissenschaftlicher Reflexionen geworden. In der vorliegenden Studie geht es um die Bedeutung von Sprache(n) und sprachlicher Heterogenität für Bildungsprozesse in Migrationsgesellschaften. Im Zentrum steht die Frage, wie Germanistikstudent*innen ›mit Migrationshintergrund‹ ihre Sprachbiographien konstruieren und welche sprachbezogenen Erfahrungen sie an Bildungsinstitutionen mach(t)en. Standen zu Beginn der bildungswissenschaftlichen Beschäftigung mit Migration ›ausländische‹ und später ›kulturell andere‹ Kinder und Jugendliche im Fokus, lenkte das Paradigma der Migrationspädagogik den Blick weg von den ›Anderen‹ und hin zu natio-ethno-kulturellen Ordnungen sowie zu den Verhältnissen, die dominant und nicht-dominant positionierte Personen und Gruppen in diesen Ordnungen miteinander und mit den Ordnungen eingehen und eingehen müssen (vgl. Mecheril et al. 2013: 7). Sprache bildet seit Beginn der genannten Auseinandersetzungen in der Bildungswissenschaft und in sprachbezogenen Disziplinen ein zentrales Differenzierungskriterium: Mit einer vorwiegend defizitorientierten Perspektive auf die migrationsbedingte Sprachigkeit von Kindern und Jugendlichen ging es zu Beginn darum, möglichst pragmatische Lösungen für deren sprachliche Integration1 oder Assimilation zu finden. Erst mit der Zeit rückten Diskurse in den Vordergrund, die sprachliche Heterogenität als Ressource und nicht als Defizit thematisieren (Krumm/Jenkins 2001; Fürstenau 2005; Rosenberg/Schroeder 2016), und die sich mit spezifischen Potentialen von Sprache(n) und sprachlicher Heterogenität im Kontext von Migrationsgesellschaften beschäftigen (Auer 2013; Wiese 2012). Ein weiterer Diskursstrang, der sich auf handlungstheoretische und/oder machtkritische Theorien beruft, betrachtet Sprache als subjektivierendes Differenzierungsmerkmal, mit dem auch bildungsinstitu1 | Kritisch zum Integrationsbegriff vgl. Gatt 2013; Horner/Weber 2011; Reithofer 2015.
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tionell relevante Hierarchisierungen und Ausschlüsse verbunden sein können (vgl. Del Percio/Duchêne 2015; Springsits/Dirim 2016; Heller 1996; Piller 2016; Schnitzer 2017). Auch wenn in einigen dieser Studien die Perspektiven der Subjekte in den Blick genommen werden, so bleibt die Prozessualität von Sprachaneignungsprozessen und Bildungswegen meist unberücksichtigt. Die Biographieforschung bietet die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels hin zu den Erfahrungen und Sichtweisen der Subjekte und ermöglicht es darüber hinaus, gesellschaftliche Makrostrukturen, die im Kontext von sprachlicher Heterogenität von Bedeutung sind, durch deren Binnenperspektive zu rekonstruieren: Aus einer biographietheoretischen Perspektive stellt sich die Frage, welche Erfahrungen Subjekte, die in Migrationsgesellschaften sozial und natio-ethnoreligio-kulturell2 unterschiedlich positioniert sind, mit Sprache(n) und sprachlicher Heterogenität an Bildungsinstitutionen machen, wie sie sich ihre Wege durch Institutionen bahnen, die vorwiegend von einem monolingualen Habitus (Gogolin 2008 [1994]) gekennzeichnet sind, sowie welche Handlungsspielräume ihnen offen stehen und/oder welche sie sich selbst erarbeiten (können). Vor dem Hintergrund der Doppelfunktion von Sozialisation und Selektion, die Parsons (1968 [1959]) für Bildungssysteme moderner Gesellschaften beschrieben hat, stellt sich die Frage, wie der widersprüchliche ›Mechanismus‹ institutioneller Bildung, der gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, zugleich aber auch erschweren oder verhindern kann (Dausien et al. 2016: 25), von den Individuen biographisch angeeignet wird, und welche Bedeutung sie Sprache(n) für die Bildungswege, die sie (nicht) durchlaufen haben, zuschreiben. Ein besonders interessantes Untersuchungsfeld für diese Frage ist das Fach Germanistik, da Deutsch in diesem Fach nicht nur Bildungs- und Kommunikationssprache, sondern auch Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung ist. Vor dem Hintergrund von Sprachideologien, denen zufolge ›Muttersprachler*innen‹ ein privilegierter Zugang zu und ein besonderes ›Recht‹ auf das Verfügen über Nationalsprachen zugeschrieben wird (Bonfiglio 2010; Davies 2003), stellt sich die Frage, welche Erfahrungen Student*innen machen, die in diesem Raum auf doppelte Weise nicht-dominant positioniert sind, nämlich zum einen als migrantisch positionierte Germanistik-Student*innen, zum anderen als migrantisch positionierte zukünftige Deutschlehrer*innen und/oder Expert*innen für Deutsch in anderen beruflichen Segmenten (etwa als Dolmetscher*in, Redakteur*in, Wissenschaftler*in oder Bibliothekar*in). In dieser 2 | Ich verwende diesen Begriff in Anschluss an Mecherils Begriff der natio-ethnokulturellen Zugehörigkeit (Mecheril 2003) und weise damit auf die zunehmende Bedeutung von Religion als Differenzierungsmerkmal hin. Wenn es in der Arbeit darum geht, stärker auf Sprache als Differenzierungskriterium hinzuweisen, verwende ich den Begriff der natio-ethno-lingualen Zugehörigkeit.
1. Einleitung
Doppelheit sind sie in besonderer Weise gefordert, ihre biographischen Erfahrungen mit Sprache – konkret: mit Deutsch – mit dem objektivierten Wissen, das an der Universität gelehrt wird, zu verbinden und biographischen Sinn daraus herzustellen. Im Fokus der Studie stehen aus diesem Grund die Erfahrungen und Deutungen von Subjekten, die das Fach Germanistik studieren und aufgrund ihrer (zugeschriebenen) Migrationsgeschichte auf ›prekäre‹3 Weise im Feld positioniert sind. Mein Erkenntnisinteresse richtet sich auf die mit sprachbezogenen Erfahrungen in Verbindung stehenden Relevanzsetzungen der Student*innen. Neben Sprachaneignungserfahrungen können dies Inklusions- und Exklusionserfahrungen und -prozesse sowie Selbst- und Fremdpositionierungen in institutionellen Kontexten sein, die mit der sprachlichen Heterogenität der Student*innen bzw. ihrer Positionierung als Migrationsandere in Verbindung stehen. Ziel der Arbeit ist es, durch eine Perspektive, die Subjekte, ihr Erleben, ihre Erfahrungen und ihre Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt stellt, zu einer differenzierten Betrachtung von (sprachlichen) (Zugehörigkeits- und Macht-)Verhältnissen im migrationsgesellschaftlichen Kontext – konkret: in Germanistik-Studiengängen – beizutragen. Im Unterschied zu bereits vorliegenden sprachbiographischen Arbeiten im Kontext von Migration werden in dieser Arbeit die Erfahrungen der Student*innen im Kontext von Bildungsinstitutionen ins Zentrum gerückt und umfassend im Zusammenhang der gesamten Lebensgeschichte rekonstruiert. Dabei wird analysiert, welche Ein- und Ausschlusserfahrungen die Student*innen an Bildungsinstitutionen machen sowie welche Handlungsmöglichkeiten ihnen offen stehen und/oder sie sich erarbeiten können. Daneben wird rekonstruiert, wie sie ihre Erfahrungen und ihr biographisches Wissen mit dem institutionalisierten Wissen verknüpfen und wie sie sich zu migrationsgesellschaftlich und bildungsinstitutionell relevanten Sprachideologien ins Verhältnis setzen. Mit dem Fokus auf Studiengänge, die für eine pädagogische Tätigkeit im Kontext der Nationalsprache qualifizieren, geht die Frage nach Selbst- und Fremdpositionierungen von Student*innen, denen häufig zugeschrieben wird, Deutsch nicht als ›Muttersprache‹ zu haben, einher. Vor dem zuvor dargestellten Hintergrund wurden – im Sinne forschungsleitender Aufmerksamkeitsrichtungen – die folgenden Fragenkomplexe formuliert: Wie erfahren Student*innen sprachliche Heterogenität und die Hierarchisierung von (Bildungs-)Sprachen im Kontext des Germanistikstudiums? In welchem Verhältnis stehen diese Erfahrungen im Vergleich zu Erfahrungen an anderen Bildungsinstitutionen, die sie durchlaufen haben? 3 | ›Prekär‹ hier im Sinne Mecherils (2003).
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Wie positionieren sich die Student*innen selbst im universitären Feld, konkret: in einem Studiengang, in dem die Nationalsprache gelehrt und erforscht wird und in dem zukünftige Lehrende dieser Sprache ausgebildet werden? Was berichten sie über Fremdpositionierungen und Zuschreibungen im Feld? Welche Bedeutung kommt dem Studium der Germanistik im Kontext der (Sprach-)Biographie zu? Wie konstruieren Student*innen ihre (Sprach-)Biographie in der Interviewinteraktion? Methodologisch habe ich mich an einer abduktiven Forschungslogik orientiert, die ich mit Hilfe der Grounded Theory Methodologie (Glaser/Strauss (2010 [1967]) und der biographieanalytischen Methode (Dausien 1996, 2002) umgesetzt habe. Das Datenmaterial bilden biographisch-narrative Interviews (vgl. Schütze 1983, 1987; Rosenthal 2014: 139ff.) mit Germanistikstudent*innen, die über eigene oder familiale Migrationserfahrungen verfügen. Kennzeichnend für diese Form des Interviews ist die offene Bitte, die gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, die es ermöglicht, den Raum für die Relevanzsetzungen der Interviewten zu öffnen und auch für die Interviewerin überraschende Inhalte zu entdecken. Zudem ist dieser Zugang für mein Vorhaben besonders geeignet, weil die Interviewten eine aktive Rolle im Gesprächsverlauf erhalten, und weil die Interaktion zwischen Interviewer*in und Interviewten »nicht als Störung […], sondern selbst als ein wesentlicher Bestandteil des Forschungsprozesses« und als »eine Form der gemeinsamen sozialen Produktion sozialer Wirklichkeit« (Rosenthal 2014: 140f.) angesehen wird. Das auf diese Weise zustande gekommene Sample besteht aus zwölf Interviews mit einer Länge von jeweils etwa 1,5 bis 3 Stunden.
A ufbau der A rbeit Die Arbeit gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil (Kap. 2) stelle ich relevante Forschungszugänge dar, auf die ich mich beziehe: An ausgewählten Forschungssträngen zum Thema ›Sprachbiographie‹ mache ich unterschiedliche theoretische und methodologische Zugriffe und inhaltliche Fokussierungen deutlich. Zugleich markiere ich Leerstellen bestehender Studien und offene Fragen, denen ich mich in meiner Arbeit widme. Auf der Basis dieser Überlegungen stelle ich im zweiten Teil der Arbeit (Kap. 3-5) den theoretischen und methodologischen Rahmen vor und zeichne mein methodisches Vorgehen nach. Zu den zentralen theoretischen Bezugspunkten, die sich im Laufe des Forschungsprozesses als besonders geeignet für ein besseres Verständnis des Forschungsgegenstandes herauskristallisiert
1. Einleitung
haben, zählt die bildungswissenschaftliche Biographieforschung, die es ermöglicht, Lern- und Bildungsprozesse, und damit unter anderem auch Sprachaneignungsprozesse, »in ihrer Einbettung in die individuelle und gleichzeitig gesellschaftlich geformte Lebensgeschichte zu untersuchen« (Rothe 2011b: 43) (Kap. 3.1). Daneben stehen handlungstheoretische und machtkritische Zugänge zu sprachlicher Heterogenität, Gesellschaft und Bildung, vor allem Zugänge, die sich mit Sprachideologien und deren Bedeutung für migrationsgesellschaftliche und bildungsinstitutionelle Kontexte beschäftigen (Kap. 3.2). Den methodologischen Rahmen stellt die interpretative Sozialforschung dar. Ich stelle das biographische Interview als Erhebungsinstrument dar und thematisiere den Konstruktionscharakter von Erzählungen, das Interview als Interaktion und Fragen der Repräsentation (Kap. 4). Darauf auf bauend dokumentiere ich den gesamten Forschungsprozess (Kap. 5). Der dritte Teil (Kap. 6-9) bildet das empirische Herzstück der Arbeit. In diesem Teil begegne ich zentralen Aspekten und Fragen, die in den vorherigen Teilen behandelt wurden, auf empirischer Basis. Ich stelle anhand drei zentraler biographischer Phasen, die sich als geeignete Ordnungs- und Darstellungsform für die Bündelung der in den Lebensgeschichten rekonstruierten Erfahrungs- und Deutungsmuster ergeben haben (Kindheit, Schulzeit, Studienzeit), fallübergreifend relevante Themen dar, die ich im Sinne eines theoretischen Samplings (Glaser/Strauss 2010 [1967]: 61-91) und einer schrittweisen Theoretisierung der Befunde formuliert habe. Aus ausgewählten biographischen Erzählungen stelle ich jeweils Auszüge vor, an denen ich die Besonderheiten sprach- und bildungsbiographischer Prozesse in Migrationsgesellschaften in ihrer Vielgestaltigkeit deutlich mache. Im vierten Teil der Arbeit (Kap. 10) folgt eine theoretisierende Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des empirischen Teils. In diesem Teil beziehe ich die Ergebnisse auf meine Forschungsfragen sowie auf die theoretischen und methodologischen Konzepte zurück.
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TEIL I Zum Kontext der Forschung
2. ›Sprachbiographie‹ – Reflexionen zu zentralen Forschungslinien
Das Interesse für die Entwicklung von Sprache über längere Lebensphasen hinweg besteht schon seit Beginn des letzten Jahrhunderts (vgl. Ronjat 1913; Leopold 1949) und erfuhr in den 1980er Jahren im Kontext des narrative bzw. discursive turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften einen Aufschwung (vgl. Busch 2013: 114; Pavlenko 2007), der bis heute anhält. In diesem Kapitel wird ein Überblick über verschiedene Stränge sprachbiographischer Forschung gegeben. Aus der Fülle von Arbeiten werden einzelne Studien herausgegriffen, anhand derer exemplarisch zentrale theoretische und methodologische Zugänge sowie inhaltliche Schwerpunkte nachgezeichnet werden. Zusätzlich nehme ich eine Eingrenzung auf Studien vor, die sich mit der Sprache Deutsch und/oder mit Sprachen in dominant deutschsprachigen Regionen und Nationalstaaten beschäftigen, und in denen sprachliche Heterogenität thematisiert wird. Dies trägt zu einer inhaltlichen Sensibilisierung für entsprechende nationalstaatliche, migrationsgesellschaftliche und bildungsinstitutionelle Rahmenbedingungen bei.1 Am Ende des Kapitels werden Anknüpfungsmöglichkeiten für die eigene Perspektive auf den Gegenstand formuliert.
1 | Einen Überblick über den internationalen Forschungsstand bieten Busch (2013: 1417) und Pavlenko (2007). Der oben genannten Fokussierung fallen mehrere Texte zum Opfer: Das sind eine Studie zu sprachlicher Heterogenität und Sprachidentität bei Waliser*innen (Treichel 2004a), eine Studie zu Sprachbiographie und Sprachstörung bei hirnorganischen Erkrankungen (Tophinke 1994) sowie eine Studie zum Sprachenwechsel der sogenannten Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert (Böhm 2010), die aufgrund ihrer sprachhistorischen Anlage an dieser Stelle nicht referiert wird. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird ein Text zu Jugendsprache und Sprachbiographie (Androutsopoulos 2001), da es darin nur am Rande um einzelsprachübergreifende Heterogenität geht.
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TEIL I — Zum Kontext der Forschung
Die Beschäftigung mit Sprachbiographien in der deutschsprachigen Wissenschaft lässt sich auf zwei Stränge zurückführen: Auf der einen Seite stehen linguistische Ansätze, die sich für die Entwicklung von Sprache über eine längere Zeitspanne hinweg und/oder für bestimmte sprachbezogene Themen, etwa Spracherhalt (Betten 2010, 2011), Spracherleben (Busch 2010; Busch/Reddemann 2013), ›Sprachstörungen‹ (Tophinke 1994) oder Identitätskonstruktionen (König 2011, 2014) interessieren. Diesen Fragen gehen die Autor*innen mit sehr unterschiedlichen theoretischen Bezügen und methodischen Wegen nach: Während sich einige für sprachstrukturelle Fragen interessieren, die sie aus einer Außenperspektive betrachten, stellen andere die Perspektiven der Subjekte ins Zentrum ihrer Analysen. Auf der anderen Seite steht die maßgeblich von Fritz Schütze und seinem Umfeld geprägte sozialwissenschaftliche Biographieforschung (Schütze 1983, 1984; vgl. Kap. 4). Diese betrachtet Biographien als »alltagsweltliche Konstruktionen, die von den Individuen in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Realität entwickelt und kontinuierlich verändert werden« (Dausien 2003: 149), und die es auf der Basis narrativ-biographischer Interviews ermöglichen, soziale Phänomene aus der Perspektive biographischer Erfahrung zu verstehen und zu analysieren (ebd.: 145). Sprachbiographien standen, mit einigen Ausnahmen (etwa Treichel 2004a, 2004b), nicht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Interessen dieser Gruppe. Dennoch ist ihre theoretisch-methodologische Auseinandersetzung mit biographischen Texten stark von linguistischen, v.a. narrationsanalytischen Zugängen, etwa den Arbeiten von Labov und Waletzky (1973), geprägt (vgl. Schütze 1982; Kallmeyer/Schütze 1977), und die sprachliche Repräsentation bildet einen wesentlichen Bestandteil der Analysen. Die von der Gruppe entwickelten theoretischen und methodischen Zugänge wurden in weiterer Folge genutzt, um sprachbezogenen Fragen nachzugehen (etwa von Franceschini 2001a, 2004; Ohm 2004, 2012; Schnitzer 2017; Thoma i. Dr.). In der nun folgenden Darstellung werden zunächst diejenigen Studien referiert, die mündliche Texte und Beobachtungen mündlicher Interaktionssituationen als empirische Basis für die Untersuchung verschiedener sprachbezogener Fragen haben (Kap. 2.1-2.3). Einer Auseinandersetzung mit visuellen und kombinierten Zugängen (Kap. 2.4) folgen abschließende Reflexionen zu bereits bestehenden Zugängen sowie Anknüpfungsmöglichkeiten für die eigene Studie (Kap. 2.5).
2. ›Sprachbiographie‹ – Reflexionen zu zentralen Forschungslinien
2.1 S pr achbiogr aphien als Z ugang zu spr achlicher F orm und S pr achgebr auch Anne Betten führte zwischen 1989 und 1994 Gespräche mit mehr als 100 deutschsprachigen jüdischen Personen, die in den 1930er Jahren nach Israel geflüchtet waren. Neben dem linguistischen Interesse verband sie damit das Ziel, »Ausdrucksformen des deutschen Judentums zu dokumentieren, die mit dieser letzten noch lebenden Emigrantengeneration endgültig zu Ende gehen« (Betten 1995: 6). Der Band enthält auf über 400 Seiten eine beachtliche Fülle an Gesprächstranskripten sowie eine CD mit Tonaufnahmen. Der sehr fokussierte Erzählimpuls (»Wie kommt es, dass Sie 60 Jahre nach der Emigration und nach allem, was Ihnen Deutsche angetan haben, immer noch deutsch sprechen?« (Betten 2009: 229) zeigt dabei eine weitgehende Übereinstimmung mit der Forschungsfrage. Die Transkripte der aufgezeichneten Gespräche sind in thematischen Einheiten zusammengefasst (etwa ›Das Leben in Mitteleuropa bis zur Emigration‹, ›Auswanderungsvorbereitungen und Fluchtwege‹ oder ›Das neue Leben in Palästina/Israel‹). Jedem Ausschnitt sind in einem kurzen ›Vorspann‹ Informationen zu lebensgeschichtlichen Daten der Interviewpartner*in und zur Tonaufnahme sowie knappe linguistische Anmerkungen vorangestellt. Diese beziehen sich unter anderem auf die Textstrukturierung, auf verwendete Sprachvarietäten und auf die Stimme. In der Einleitung zum Band identifiziert Betten als zentrales linguistisches Merkmal der Aufnahmen eine »zum Teil sehr deutlich spürbare Normorientierung der Sprecher auf allen sprachlichen Ebenen« (ebd.: 5). Im zweiten Band (Betten et al. 2000) sind zunächst auf etwa 150 Seiten Transkripte zum Thema Sprache zusammengefasst, die ebenfalls thematischen Einheiten zugeordnet sind (etwa ›Sprache(n) im Elternhaus in Europa‹, ›Erwerb des Hebräischen‹ oder ›Veränderungen in der Einstellung zur deutschen Sprache‹). Danach folgen linguistische Analysen zu ausgewählten Themen, etwa zu syntaktischen Charakteristika des Korpus (Betten 2000; Weiss 2000) oder zu Sprachwandel und Sprachenmischung (Du-nour 2000; Mauser 2000). Insgesamt enthalten einige der Texte starke Bewertungen der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksfähigkeit der Interviewpartner*innen und orientieren sich an der normativen Konstruktion eines Deutsch, »das es so korrekt und gebildet kaum noch anderswo gibt«2 (Betten 2000: 180). Auch wenn die Bewertungen zum großen Teil sehr positiv und wertschätzend ausfallen, 2 | Zu dieser normativen Konstruktion passt auch die Suche nach sozial gestreuten Formen sprachlicher Parameter und der Fokus auf quantifizierbare Daten, hinter denen Sprache als soziale Praxis unsichtbar bleibt. Weiss (2000) etwa analysiert syntaktische Strukturen von Texten, die er nach Geschlecht und Ausbildung der Sprecher*innen
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fällt aus der Perspektive der interpretativen Sozialforschung auf, dass die je konkrete Interaktionssituation sowie die Konstruktionen und Deutungen der Subjekte, die im Material in beachtlicher Fülle und in großem Variantenreichtum zu finden sind, kaum Berücksichtigung erfahren. Betten lädt dazu ein, das gut zugängliche Material aus verschiedenen disziplinären Perspektiven weiterzubearbeiten (Betten et al. 2000: IX) und tut dies in einem späteren Text auch selbst (Betten 2009). Darin analysiert sie die Verwendung verschiedener Textsorten vor dem Hintergrund der Interaktionssituation in den Interviews und zeigt auf überzeugende Weise, dass es sich bei den von ihr analysierten Texten vorwiegend um ›Gesamtargumentationen‹ handelt, für die sie den Begriff »argumentativ-narrative autobiografische Interviews« (ebd.: 242) vorschlägt.3 Dagmar Barth bringt die sprachliche Form systematisch in einen Zusammenhang mit den erzählten Inhalten: In einem zwischen 1994 und 1999 durchgeführten Projekt geht sie gemeinsam mit Ulla Fix der Frage nach, wie Einzelne den sprachlich-kommunikativen Wandel in den sogenannten ›neuen‹ Bundesländern Deutschlands seit 1989 erlebt haben (Fix/Barth 2000). Barth (2000) beschäftigt sich mit sprachlichen Defokussierungsstrategien in ausgewählten Interviews aus dem Korpus. Sie zeigt dabei, dass der Gebrauch von Pronomina in biographischen Erzählungen nicht nur grammatischen Regeln unterliegt, sondern dass Sprecher*innen deren Verwendung so gestalten, dass sie eigene frühere Überzeugungen und Handlungen, die sie retrospektiv als kritikwürdig einstufen, weniger negativ darstellen können. Beispielsweise wird damalige Systemloyalität von einigen Interviewpartner*innen aus heutiger Sicht als »Irrweg« (ebd.: 139) begriffen, weswegen Strategien sprachlicher Defokussierung angewendet werden, etwa über »Verwischung der Referenzidentität zwischen dem Sprecher und dem Agens der erzählten Handlung« (ebd.: 140). Beispiele dafür sind, dass die Pronomina ›ich‹ und ›wir‹ durch das unpersönliche ›man‹ substituiert werden oder dass das Agens über passivische Konstruktionen unsichtbar gemacht wird. Barth unterscheidet in Hinblick auf die Bearbeitung der eigenen Involviertheit in das ehemalige System ›Konfor-
trennt, erklärt allerdings nicht, welche Bedeutung die soziale Kategorie Geschlecht und die danach unterschiedenen Ergebnisse eigentlich haben. 3 | Betten führte zwischen 1999 und 2007 weitere 62 Interviews mit der Generation der Kinder der bereits interviewten Gruppe (vgl. Betten 2010, 2011), von denen die meisten bereits in Palästina/Israel geboren worden waren, und geht anhand des erhobenen Korpus der Frage nach den Auswirkungen individueller Erfahrungen und Emotionen auf die Sprachkompetenz im Deutschen nach.
2. ›Sprachbiographie‹ – Reflexionen zu zentralen Forschungslinien
mist*innen‹ und ›Nonkonformist*innen‹, die sich entsprechend auch in der Verwendung von sprachlichen Defokussierungsstrategien4 unterscheiden. Besonders hervorzuheben ist an der Studie, dass Barth in der Analyse nicht nur die unmittelbare Interviewinteraktion, sondern auch deren Eingebundenheit in den breiteren Forschungskontext und das Wissen und/oder die Vorannahmen der Interviewpartner*innen über diesen berücksichtigt.
2.2 S pr achbiogr aphien als Z ugang zu › spr achlicher I dentität‹ und zu S pr achaneignungsprozessen Eine Reihe sprachbiographischer Arbeiten stellt ›sprachliche Identität‹ und Sprachaneignungsprozesse in den Fokus des Interesses: Eine explizit von Schützes biographietheoretischen Texten inspirierte Sicht auf Sprachbiographien nimmt Rita Franceschini ein. In ihrem Vorwort zu einem Band, der sich aus kritischer Perspektive mit Biographie und ›Interkulturalität‹ beschäftigt, betont sie den Konstruktionscharakter von Biographien und verweist auf die Notwendigkeit, den jeweiligen Interaktionsrahmen sowie soziokulturelle, historische und geschlechtsbezogene Dimensionen zu berücksichtigen (Franceschini 2001b). In einer weiteren Publikation führt Franceschini das Thema Sprache als Leerstelle biographischer Forschung ein (Franceschini 2001a) und konstatiert die Notwendigkeit, empirisches Material zu erheben, in dem Sprecher*innen aus ihrer Perspektive erzählen, »in welcher Kontaktsituation sie Sprachvarietäten erlernt haben, zu welchen Zwecken, unter welchen Umständen« (ebd.: 113). Vor dem Hintergrund eines ›Zentrum-Peripherie-Modells‹5, das sie in ihrer Habilitationsschrift (Franceschini 1998) ausführte, geht sie davon aus, dass Sprecher*innen ihre Sprachen im Lebensverlauf ausweiten, und dass sich im Zentrum des Sprachsystems »jene Varietäten [befinden], die in einem bestimmten Moment des Lebens unter den Annahmen von Normalität und Unmittelbarkeit verwendet werden, mit denen sich der Sprecher am ehesten identifiziert« (Franceschini 2001a: 114). Konkret beschäftigt sie sich am Beispiel von Migrant*innen ›zweiter Generation‹, deren Eltern aus Italien in die Schweiz migriert sind, mit Sprachbiographien sogenannter »randständiger Sprecher« (Franceschini 2001a). Dabei interessiert sie sich für Sprachkompetenzen, die »durch unregelmäßigen Kontakt, durch nahezu passives Ausge4 | Die Erforschung solcher Strategien ist innerhalb der Linguistik grundsätzlich nicht neu (vgl. z.B. Wodak et al. 1998), allerdings stellt die Analyse ihrer Einbindung in sprachbiographische Interviews durchaus eine interessante Perspektive dar. 5 | Das von Franceschini entwickelte Zentrum-Pheripherie-Modell ist dynamisch gedacht und sieht auch Verschiebungsmöglichkeiten vor (2001a: 114).
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setztsein oder durch selbstverständliche soziale Anwesenheit einer Sprache zustande gekommen sind« (ebd.: 111). Diese ›Randkompetenzen‹ sind solche, »die selten die volle Aufmerksamkeit der Sprecher auf sich ziehen und auch gesellschaftlich wenig wahrgenommen werden« (ebd.). Franceschini identifiziert in Anlehnung an Schützes ›kognitive Figuren autobiographischen Stegreiferzählens‹ (Schütze 1984; vgl. Kap. 4.2.2) Figuren sprachbiographischen Erzählens, die in den Interviews wiederkehren und »die einen vermuten lassen, daß sie allgemeinere Geltung für sprachbiographisches Erzählen haben« (Franceschini 2001a: 119). Als erste Figur beschreibt sie »die Einbettung des Erwerbskontexts in persönliche Beziehungen« (ebd.) und eine enge Inbezugsetzung von Sprachen und Sprecher*innen. Damit einher geht als zweite Figur »die Zuordnung von WIR-Eigenschaften« (ebd.: 120), die – meist in Form positiver Eigenschaften – der eigenen Sprecher*innengemeinschaft zugeschrieben werden. Als weitere Figur beschreibt Franceschini »Darstellungen der eigenen Kommunikationsfreudigkeit als Begründung des erfolgreichen Lernens« (ebd.). Als ›Gegenstück‹ dazu identifiziert sie bei Sprachbiographien zu ›randständigen‹ Kompetenzen »Figuren der Unbeachtetheit«, die »in ihrer Nicht-Eloquenz beredter Ausdruck von Randständigkeit [sind]« (ebd.: 121). Während die erste von Franceschini beschriebene Figur durchaus Analogien zu der ersten Figur von Schütze aufweist,6 liegen die anderen Figuren meines Erachtens auf einer weniger verallgemeinerbaren und abstrakten Ebene. Im Projekt »Gelebter Sprachkontakt in einer Schweizer Stadt: Die Aufnahme einer Minderheitensprache im Sprachrepertoire der Mehrheit (am Beispiel der italienischen Sprache)« gingen Franceschini und ihre Mitarbeiter*innen der Frage nach, was Personen über die Aneignung mehrerer Sprachen erzählen. Neben spracherwerbstheoretischen Fragen, etwa nach Lernstrategien und »ersten linguistischen Erlebnisse[n]« (Franceschini 2004: 121) hatte die Gruppe auch soziolinguistische Interessen, etwa an sozialen Kontexten, in denen Sprachen angeeignet wurden und nach der Bedeutung des Alters für die Sprachaneignung (ebd.: 122). Franceschini identifiziert in den Sprachbiographien eine Reihe ›wiederkehrender Strukturelemente‹. Dazu zählt die Beobachtung, dass Sprecher*innen ihre Sprachkenntnisse fortwährend beurteilen und ihre Einstellungen dazu kundtun (ebd.: 132), dass es einen »engen Zusammenhang zwischen positiver Bewertung und gelungenem Spracherwerb« (ebd.: 135f.) zu geben scheint und dass Erzähler*innen kaum über Routineformeln verfügen, die ihnen das Erzählen der eigenen Sprachbiographie erleichtern (ebd.: 137). Insgesamt stellt die Forschung von Franceschini die erste Zusammenführung
6 | Dies sind Biographieträger*in und Ereignisträger*innen, die »in einem Geflecht grundlegender und sich wandelnder sozialer Beziehungen« stehen (Schütze 1984: 85; vgl. Kap. 4.2.2).
2. ›Sprachbiographie‹ – Reflexionen zu zentralen Forschungslinien
linguistischer und sozialwissenschaftlicher Zugänge dar und diente als Inspiration für eine Reihe weiterer Arbeiten. Ein Beispiel dafür stellt eine Studie von Daniela Veronesi (2008, 2010) dar, die ebenfalls am Beispiel Deutsch und Italienisch, aber in einem anderen regionalen und sprachlichen Kontext forscht. Sie geht in narrativen Interviews mit Personen, die ihren Wohnsitz in Südtirol haben, der Frage nach, welche Vorstellungen die Interviewpartner*innen zu Sprache(n) und ›Zweisprachigkeit‹ haben, welche Sprachlernerfahrungen sie mit der jeweiligen ›Zweitsprache‹ gemacht haben und wie sie Deutsch und Italienisch kategorisieren. Dabei legt sie einen Schwerpunkt auf die in den Erzählungen zum Ausdruck gebrachten Metaphern und arbeitet heraus, dass die Interviewpartner*innen die jeweilige Standardsprache (im Unterschied zu den Dialekten) mit Begriffen der Reinheit, Sauberkeit, Grammatikalität und Orientierung an der Schriftsprachigkeit beschreiben (Veronesi 2008: 266, 2010: 89), die nicht mit Elementen anderer Varietäten vermischt werden sollen. Der deutsche Südtiroler Dialekt, der für die deutschsprachig sozialisierten Interviewpartner*innen den Status einer »wahre[n] Erstsprache« (Veronesi 2010: 103) annimmt, wird von den italienischsprachig sozialisierten Interviewpartner*innen mit Metaphern aus dem Bereich der Bergwelt beschrieben. In dieser Logik wird er als Barriere auf dem eigenen (Sprachlern-)Weg konstruiert, der gleichzeitig verhindert, dass die als deutschsprachig konstruierte Gruppe in Aktion mit dem ›Außen‹ tritt (Veronesi 2008: 268). Italienische Dialekte, mit denen die italienischsprachig sozialisierten Interviewpartner*innen auf unterschiedliche Weise in Berührung kamen, werden mit Metaphern emotionaler und physischer Nähe sowie Wärme beschrieben. Darüber hinaus werden Dialekte von dieser Gruppe mit aus der Pflanzenwelt entlehnten Metaphern beschrieben, nämlich als Sprachen, die ›kultiviert‹ werden können oder müssen (Veronesi 2008: 269). Metaphern, die im Kontext schulischer Lernprozesse der ›Zweitsprache‹ vorkommen, sind ›Trauma‹, ›Nebel‹ und ›Löcher‹ (im Lernprozess). Veronesi kommt abschließend zur Beschreibung einer Dynamik in der Beziehung zwischen Sprecher*innen und Sprachen, die »dank (oder wegen) der Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹ immer wieder neu ausgehandelt wird« (Veronesi 2010: 104). Dabei könne sich eine Vielzahl von Erscheinungsformen »zweisprachige[n] und bikulturelle[n] Aufwachsen[s]« herausbilden, »die über die puristischen und normativen Darstellungen« (Veronesi 2010: 104), mit denen Individuen oft konfrontiert sind, weit hinausreichen. In der Analyse des Materials übernimmt Veronesi die Deutungen der Interviewpartner*innen aus der Südtiroler Grenzregion, die sie nicht nur als geographische, sondern auch als »Sprach- und Kulturgrenze« konzeptualisiert (Veronesi 2010: 104). Sie leitet aus ihren Überlegungen zwei Forschungsdesiderata ab: Zum einen plädiert sie für die Erforschung von Sprachbiographien von Sprecher*innen, die kein besonderes Interesse für Sprachen zeigen, was alternative Sicht-
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weisen auf Sprache deutlich machen könnte, die möglicherweise im Kontrast zu Sprachbiographien von Sprecher*innen stehen, die sich als ›zweisprachig‹ definieren.7 Zudem schlägt sie vor, Sprecher*innen zu befragen, die sich derzeit in einer Bildungsinstitution befinden, an der sie alltäglich mit Zwei- oder Dreisprachigkeit 8 in Berührung kommen (Veronesi 2008: 272). Mit einer etwas anderen Gruppe und einem Fokus auf einen ganz bestimmten Ausschnitt sprachlicher Kompetenz beschäftigt sich Eva-Maria Thüne: Sie geht auf der Basis narrativer Interviews mit zwei Frauen, die seit mehr als 35 Jahren in Deutschland leben, der Frage nach dem »›fremden‹ Akzent in italienisch-deutschen Sprachbiographien« nach (Thüne 2011). Der Schwerpunkt des Textes liegt auf Befunden aus Interviewpassagen,9 in denen die Sprecherinnen ihre Deutschaneignung nachzeichnen und dabei problematische Situationen im Zusammenhang mit einem Akzent hervorheben. Eine Interviewpartnerin, die in ihrer Kindheit einen sizilianischen Dialekt erworben hat, spricht eine regionale Varietät des Deutschen, was dazu führt, dass sie oft für eine ›native‹ Bewohnerin ihres aktuellen Wohnortes gehalten wird (ebd.: 242). Dass die Interviewpartnerin sich als Sprecherin konstruiert, die kaum von den Mehrheitsangehörigen des kleinen Ortes unterschieden werden kann, interpretiert Thüne als »vielleicht größtmöglichen subjektiv wahrnehmbaren Grad an Integration […], der sich symbolisch an der Aussprache festmachen lässt« (Thüne 2011: 242). Anders gelagert ist das Problem der Aussprache bei der zweiten Interviewpartnerin, die eine sehr hohe Kompetenz in der deutschen Standardsprache hat, allerdings trotz jahrzehntelangen Aufenthalts in Deutschland aufgrund ihres Akzents immer wieder als Andere ›erkannt‹ wird. Die Interviewpartnerin bedient sich bei der Rekonstruktion des Problems ihres nicht-deutschen Akzents einer Reihe von Metaphern, die »die Dimension des Nicht-Erkanntwerdens […] und des Schutz-Suchens« (Thüne 2011: 250) betrifft, etwa »tarnen« oder »schützen«. Der Wunsch nach ›perfekter‹ Aussprache einerseits und die Erfahrung von Ablehnung andererseits wird von Thüne als »tiefsitzender Konflikt« interpretiert, dessen Austragungsort die »Aussprache« ist (ebd. 251). Auch wenn die Konstruktion einer ›perfekten‹ (Aus-)Sprache nicht in den Kontext entsprechender Sprachideologien gestellt wird, bleibt hervorzuheben, 7 | Der Konstruktion dieser beiden Gruppen liegt allerdings implizit die Annahme zugrunde, dass Sprecher*innen, die sich als ›zweisprachig‹ definieren, qua natura ein besonderes Interesse für Sprachen zeigen. 8 | Die Freie Universität Bozen, an der Veronesi zum Zeitpunkt des Erscheinens der Texte arbeitete, ist eine Bildungsinstitution, an der in drei Sprachen (Deutsch, Italienisch, Englisch) gelehrt wird. 9 | Ergänzt werden diese durch Selbstaussagen der Frauen in einem Fragebogen (vgl. Thüne 2011: 237), dessen Form allerdings nicht näher erläutert wird.
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dass Thüne ihre Interviewpartnerinnen umfassend zu Wort kommen lässt, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Erzählungen über sprachbezogene Erfahrungen als auch ihrer retrospektiven Deutungen. Von zentraler Bedeutung ist ihr Befund, dass sich die Interviewpartnerinnen der Bedeutung von Aussprache und der symbolischen und sozialen Anerkennung unterschiedlicher sprachlicher Praktiken bewusst sind, und dass in ihren Argumentationen Sprachkompetenz und Selbst- und Fremdpositionierung auf vielschichtige Weise miteinander verwoben werden. In Abgrenzung zu Studien, die einen Fokus auf bestimmte sprachliche Gruppen in Migrationsgesellschaften legen, führt Katharina König im Rahmen ihrer Dissertation (2014; vgl. aber auch König 2010, 2011) narrative Interviews mit zwölf Frauen und Männern mit vietnamesischem Migrationshintergrund, die in Deutschland leben und sich selbst als ›bilingual‹ beschreiben. Sie verortet ihre Studie im Kontext sprachideologisch geprägter Diskurse zu migrationsbedingter Mehrsprachigkeit »im Nachgang zum sogenannten ›PISASchock‹« (König 2014: 345) in Deutschland. König geht vor dem Hintergrund eines konversations- und gesprächsanalytischen Interesses sprachlichen Kategorisierungsverfahren und subjektiven Theorien über Sprache nach, die von den Interviewpartner*innen geäußert werden. In ihrer Erhebung folgt auf einen ersten Interviewteil, in dem die Gewährspersonen aufgefordert werden, »wichtige Stationen ihres bisherigen Lebens zu beschreiben« (König 2010: 38), ein leitfadengestützter Nachfrageteil, der auf die Oberbereiche »Erlernen der Sprachen, Nutzung der Sprachen in verschiedenen sozialen Kontexten, Einstellungen verschiedener Personen zu Mehrsprachigkeit und Vermutungen zur zukünftigen Sprachnutzung« (König 2010: 51) abzielt. König kommt zum Schluss, dass subjektive Theorien über Sprache als »positionierungsrelevante sprachliche Praktiken« (König 2010: 50) genutzt werden können, mittels derer (Nicht-)Zugehörigkeit zu Kategorien oder sozialen Gruppen kommunikativ bearbeitet wird (vgl. ebd.). In diesem Sinn sind, so die Autorin, Vorstellungen von einer für die Interviewten relevanten Identität, auch von einer ›zwischen den Stühlen‹, zu kurz gegriffen. Vielmehr geht es darum, unterschiedliche sprachliche Positionierungsstrategien und kommunikative Praktiken herauszuarbeiten. Diese sind immer auch mit Blick auf die Interaktionsteilnehmer*innen und vor dem Hintergrund der Frage zu betrachten, »wie diese sich gegenseitig ihr Verständnis der Redebeiträge des Gegenübers anzeigen« (ebd.: 50). In diesem Sinne plädiert die Autorin für eine stärkere Berücksichtigung der dialogischen Ausrichtung der Interviews. Dieser Forderung folgt sie konsequent in ihrer Analyse, in der die Redebeiträge der Gesprächsteilnehmer*innen vor dem Hintergrund des Interviews als Interaktionssituation systematisch und sehr differenziert analysiert werden. König identifiziert verschiedene rhetorische Strategien, mittels derer ihre Interviewpartner*innen der Interviewerin ihre Perspektiven auf Mehrsprachigkeitserlebnisse verdeutlichen. Zudem geht
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aus ihrer Untersuchung des von den Interagierenden verwendeten Kategorieninventars hervor, »dass die Zuordnung zu diesen Kategorien kontextsensitiv erfolgt« (König 2011: 161). Als Strategien einer positiven Selbstpositionierung beschreibt sie zum einen die Abgrenzung von einem negativ besetzten Anderen als auch eine positive Fremdpositionierung in Form von direkt wiedergegebener Rede (ebd.). Sie hält fest, dass eine Identitätsverortung »vor allem durch Umformungen von Fremd- in Selbstkategorisierungen und durch Selbstpositionierungen durch Fremdpositionierungen« (ebd.: 162) erfolgt. In den Kontext der Zweitsprachenerwerbsforschung stellt Udo Ohm (2004, 2012) seine Studien: Er positioniert sich kritisch zu gegenwärtig dominierenden Zugängen, die Sprachaneignungsprozesse mittels Identifizierung und Beschreibung von ›Faktoren‹ untersuchen, da diese zu »unangemessenen Reduktionen des Gegenstandes Zweitsprachenerwerb« (Ohm 2004: 47) führen. Diesen Zugängen stellt er einen sozialwissenschaftlichen Ansatz gegenüber, der »das sinnhafte Handeln sprachlernender Subjekte« (ebd.: 48) als Ausgangspunkt nimmt und Zweitsprachenerwerbsprozesse vor dem Hintergrund deren Verwicklung in Lebensgeschichten betrachtet (Ohm 2012: 261). Am Beispiel einer ›finnischen Deutschlernerin‹ und eines ›deutschen Englischlerners‹ arbeitet er heraus, wie diese ihre Erfahrungen beim »Sprechen in Zielsprachensprechergruppen« (Ohm 2012: 267) deuten. Er zeigt, dass für beide Interviewpartner*innen Fremdpositionierungserfahrungen durch ›Zielsprachensprecher*innen‹ während ihrer Studienzeit »von entscheidender Bedeutung für die weitere Auseinandersetzung mit der Zielsprache« (ebd. 276) waren. Als Beispiele für solche Erfahrungen beschreibt er Anrufungen als »NichtMuttersprachler« und die Erfahrung, »in studentischen Arbeitsgruppen nicht als würdige Gesprächspartnerin wahrgenommen zu werden« (ebd.: 276f.). Er verdeutlicht am Beispiel der damaligen Studentin, dass sie die Erfahrung, als ›würdige‹ Sprecherin akzeptiert zu werden, erst machte, als sie in einem Netzwerk von Künstler*innen aktiv wurde, in dem ihr »qua ihrer Identität als Künstlerin mit eigenen Ausstellungen das Recht zu[gesprochen wurde], in der Zweitsprache zu sprechen und gehört zu werden« (ebd. 280). Als Ansatzpunkt für eine aus den Interpretationen abgeleitete Theoriegewinnung beschreibt Ohm Identität als »Ort zähen Ringens« (ebd. 278) und weist darauf hin, dass »das Identitätsgefühl« (ebd.: 280) an von Macht strukturierten sozialen Orten hervorgebracht wird, in denen Personen unterschiedliche Positionen einnehmen, in denen sie sowohl Objekt als auch Subjekt von Machtbeziehungen sein können, die aber immer Gegenstand von Auseinandersetzungen sind (ebd.). Bezogen auf an ›Faktoren‹ orientierte Konzeptionalisierungen von Zweitsprachenerwerb zeigt Ohm (2004) am Beispiel zweier biographischer Erzählungen sehr eindrucksvoll, dass ein faktorenbasierter Ansatz den Zweitsprachenerwerb »aus seiner Verwobenheit mit den beschriebenen lebensgeschichtlichen Prozessstrukturen herauslösen und die Betroffenen auf geschichtslose und
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austauschbare Individuen reduzieren würde« (ebd.: 60). Er betont, dass ›Identitäten‹ von Lernenden nicht unabhängig von sozialen Kontexten verstanden werden können, und dass die wechselseitige Konstitution sozialer Rollen »in Interaktion mit Zielsprachensprechern […] über den Zugang der Lerner zu interaktiven und sprachlichen Ressourcen, über ihre Möglichkeiten, zu sprechen und gehört zu werden [entscheidet]« (ebd.: 61).
2.3 S pr achbiogr aphien als Z ugang zu E rfahrungen mit S pr ache (n) und spr achlichen P r aktiken an B ildungsinstitutionen Einige der im letzten Unterkapitel referierten Studien thematisieren auch die Bedeutung von Sprache(n) und sprachlicher Heterogenität an Bildungsinstitutionen. In diesem Unterkapitel werden zwei Studien referiert, die den Schwerpunkt auf diesen Gegenstand legen: Johanna Miecznikowski (2010) geht anhand biographischer Erzählungen von fünf Studienanfängerinnen der Frage nach, wie diese die institutionelle und lebensweltliche Mehrsprachigkeit an einer Schweizer Universität, an der sie studieren, wahrnehmen und über welche Ressourcen sie in Hinblick auf kommunikative Situationen und auf das Lernen an einer mehrsprachigen Universität verfügen. Anhand der in verschiedenen Sprachen (Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Italienisch) geführten Interviews arbeitet die Autorin heraus, dass die Sprachaneignung von den Studentinnen als Wandlungsprozess und/oder als Konsequenz eines institutionellen Ablaufmusters (vgl. Schütze 1984) gesehen wird. Daneben identifiziert sie sogenannte »Schlüsselhandlungen«, durch die in bestimmten biographischen Momenten der Aneignungsprozess von den Biographieträgerinnen selbst angestoßen wird (Miecznikowski 2010: 138). Neben der Möglichkeit des aktiven Eingreifens in den Sprachaneignungsprozess – etwa in Form eines Selbststudiums außerhalb institutioneller Rahmungen oder der Entscheidung für ein Studium jenseits nationaler und/ oder sprachlicher Grenzen – berichten die Studentinnen auch von bewusstem Unterlassen der Beschäftigung mit bestimmten Sprachen oder von Vermeidungs- und Verweigerungsentscheidungen. Miecznikowski kommt zum Schluss, dass die vor dem Studium erworbenen Sprachkenntnisse der Studentinnen »eine wesentliche Voraussetzung [sind], um an der Universität zu bestehen« (ebd.: 148), dass diese eine tragende Rolle bei der Entscheidung für Studienort und Universität spielen, und dass die Reflexion von Lernerfahrungen als Ressource dient, um sowohl mit Lernsituationen in Sprachkursen als auch mit Kommunikationssituationen in Alltagssituationen besser umgehen zu können (ebd.: 148). Die tatsächliche Nutzung des Lernpotentials hängt, so Miecznikowski, in hohem Maß von sozialen Kontakten ab, zu denen die Stu-
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dentinnen in ihrem ersten Semester Zugang finden. Die Suche nach Vertrauten orientiert sich dabei stark am Kriterium der Herkunft, und geteilte kulturelle Erfahrungen erweisen sich als Schlüsselressource für den Zugang zu sozialen Netzwerken und informellen Lernsituationen in den ersten Wochen des Studiums. Anna Schnitzer verfolgt mit ihrer Studie »Mehrsprachigkeit als soziale Praxis. (Re-)Konstruktionen von Differenz und Zugehörigkeit unter Jugendlichen im mehrsprachigen Kontext« das Ziel, »über eine ökonomische Verwertungslogik, aber auch eine idealisierende Vorstellung von Mehrsprachigkeit hinaus den Blick auf mehrsprachige Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen zu richten« (Schnitzer 2017: 21). Am Beispiel einer ›bilingualen‹ Schule in der Schweiz geht sie der Frage nach, wie über die Konstruktion sprachlicher Zuordnungen Zugehörigkeit und Differenz hergestellt wird und inwiefern sich sprachliche Selbst- und Fremdpositionierungen der Jugendlichen sprachbiographisch rekonstruieren lassen (ebd.: 37f.). Schnitzer kombiniert dabei einen ethnographischen mit einem biographischen Zugang: über teilnehmende Beobachtung rekonstruiert sie sprachliche Praktiken und Sprechen über Sprache(n), über sprachbiographische Interviews rekonstruiert sie erzählte Praktiken und die Praxis der Erzählung im Interview (ebd.: 58f.). Schnitzer kann überzeugend darstellen, dass die Unterscheidung ›französischsprechend‹ vs. ›deutschsprechend‹ im Kontext der bilingualen Klasse auf verschiedenen Ebenen beständig als äußerst relevant konstruiert wird: Die Schulorganisation (re-) produziert eine klare Trennung der Sprachen und der mit ihnen verbundenen Sprecher*innen. Auch wenn sich die Lehrer*innen sprachenübergreifender Verständigungspraktiken bedienen, nehmen sie in ihrem pädagogischen Handeln auf der Basis sprachlicher Differenzierungen eine ›physische Sortierung‹ der Jugendlichen entlang der beiden Sprachen vor. Die Jugendlichen selbst sehen sich in diesem Kontext mit hohen Anforderungen auf der Ebene der Selbst- und Fremdpositionierung konfrontiert. So wird für sie das ›BilingueSein‹ im Sinne einer ›doppelten Einsprachigkeit‹ zu einem hohen Ideal, das mit vielfältigen Ausschlussprozessen verbunden ist, auch wenn ihre sprachlichen Praktiken viel flexiblere Umgangsweisen mit den Sprachen aufweisen (ebd.: 343). Schnitzer zeigt, dass ›Sprachkompetenzen‹ von den Jugendlichen selbst kontextabhängig und situativ gedeutet werden und dass im untersuchten schulischen Kontext Sprache als Distinktionsmittel eingesetzt wird, das soziale Positionen markiert und zuweist (ebd.: 346).
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2.4 S pr achenportr aits und multimodale S pr achbiogr aphien Die in diesem Unterkapitel beschriebenen Sprachenportraits und multimodalen Sprachbiographien liegen inhaltlich zum Teil quer zu den in den vorangegangenen Unterkapiteln referierten Studien, unterscheiden sich von diesen aber durch ihr empirisches Material: Sowohl Ingrid Gogolin und Ursula Neumann als auch Hans-Jürgen Krumm arbeiten mit Sprachenportraits, um die an Schulen vorhandene lebensweltliche Vielsprachigkeit sichtbar zu machen (Krumm/Jenkins 2001), Kindern einen Anlass zu geben »sich selbst sprachlich zu entdecken« (Gogolin 2015: 297) und das Sprachbewusstsein der Kinder zu erhöhen (Gogolin/Neumann 1991). Die Kinder erhalten stilisierte zweigegenderte10 Körpersilhouetten, in die sie ›ihre‹ Sprachen mit verschiedenen Farben malen können. Krumm versteht solche Sprachenportraits »auch als Sprachbiographie« (Krumm 2002: 198), wenn die Kinder ihre Zeichnungen erläutern und beispielsweise angeben, welche Sprache sie mit wem und in welchen Kontexten sprechen oder welche Bedeutung Sprachen für sie haben (Beispiele dafür finden sich auch in Krumm/Jenkins 2001). Der von Krumm und Jenkins herausgegebene Band (ebd.) enthält auf etwa 90 Seiten eine umfangreiche Sammlung von Sprachenportraits, die in verschiedene Kapitel eingeteilt sind, zu denen es jeweils eine knappe Einführung gibt. Die Autor*innen setzen die Platzierung von Sprachen an verschiedenen Körperteilen mit den faktischen bzw. in verschiedenen Diskursen zugeschriebenen symbolischen Funktionen dieser Körperteile gleich, etwa ›Fremdsprachen‹ in den Füßen als »nützliche Hilfe für das Reisen durch die Welt« (ebd.: 14). In ähnlicher Weise werden Farben interpretiert, etwa die Farbe Rot für die ›Muttersprache‹. Weitere Deutungen, etwa die nationaler oder politischer Symbole in den Sprachenportraits, orientieren sich insoweit an der (bildlichen) Symbolik der Kinder, als diese eine natio-ethno-kulturelle Zuordnung ermöglichen, aber manche sozialen Bedeutungsdimensionen von Sprache(n) unberücksichtigt lassen. Isabella Galling, die im Anschluss an Gogolin, Neumann und Krumm ebenfalls mit Sprachenportraits arbeitet, weist darauf hin, dass nicht alle Kinder den im Konzept angedachten Freiraum für sich nutzen, und dass in einer Unterrichtseinheit das Portrait der Lehrerin mehrfach als Vorlage zur Imitation genutzt wurde (Galling 2011: 4f.). Inwieweit dies auch im Sample von Krumm und Jenkins (2001) geschah, ist eine offene Frage, da die Autor*innen nur sehr knappe Angaben zu den Anleitungen machen, die den Kindern 10 | Zumeist werden eine Silhouette mit einer Hose und eine mit einem Rock angeboten (Galling 2011: 1; Krumm/Jenkins 2001: Kopiervorlagen im Anhang).
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gegeben wurden. Was vergleichbare ›imitatorische‹ Gestaltungsformen der Sprachenportraits zumindest plausibel macht, ist die Tatsache, dass das, was entweder die Kinder selbst oder die Autor*innen als ›Muttersprache‹ bezeichnen, häufig rot gezeichnet wird, oder dass in einer Reihe von Portraits Farben zu Nationalflaggen kombiniert werden, die dann in bestimmte Körperteile gezeichnet werden. Die Sprachenportraits werden seit vielen Jahren in der schulischen und hochschulischen Praxis angewandt und haben mit Sicherheit sehr stark zu einer Sensibilisierung von Lehrenden und Lerndenden in Bezug auf Mehrsprachigkeit beigetragen. Sie stellen zudem einen wichtigen Ausgangspunkt für die weitere theoretische Beschäftigung mit der Schnittstelle Sprache und Körper dar. An die genannten Arbeiten knüpft Brigitta Busch (2006, 2010, 2011) an und entwickelt sie weiter. Busch interessiert sich für Spracherleben in mehrsprachigen Zusammenhängen. Theoretisch knüpft sie am Konzept des sprachlichen Repertoires (Ferguson/Gumperz 1960) an, das sie um eine poststrukturalistische Perspektive erweitert (Busch 2012c) und stellt somit nicht Einzelsprachen und deren Varietäten in den Mittelpunkt, sondern heterogene Ausdrucks- und Stilmittel und die soziale Bedeutung deren Verwendung in spezifischen Situationen (Busch 2006: 7-9, 2010: 58). Mit ihrer sprecher*innenzentrierten Perspektive geht eine theoretisch-methodologische Hinwendung zu einer als heteroglossisch verstandenen Lebenswelt einher (ebd.: 59). Damit verbindet Busch unter Rückgriff auf Merleau-Pontys Konzept der Leiblichkeit (MerleauPonty 2009 [1945]) und Bourdieus Habitus-Konzept (Bourdieu 2005 [1992]) eine Perspektive, die Sprache als Teil des Leibgedächtnisses begreift, und die mit einem Fokus auf deren körperlich-emotionale Dimensionen verbunden ist. Die Arbeit mit Bildern stellt Busch in den Kontext des pictorial bzw. iconic turn und begründet sie mit der »zunehmenden Relevanz von Bildern bei der Bedeutungs- und Sinnkonstituierung in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens« (Busch 2010: 62). Busch entwickelte gemeinsam mit der Gruppe Spracherleben (vgl. Mossakowski 2011; Purkarthofer 2011) auf dieser theoretischen Basis ›multimodale Sprachbiographien‹, deren Ausgangspunkt die bereits erwähnten Sprachenportraits bilden. Die entstandenen Zeichnungen werden zur Gesprächseröffnung und zum Elizitieren biographischer Erzählungen genutzt und als eigenständige Ausdrucksform betrachtet. Busch zufolge ist die Darstellung des Spracherlebens auf Bildern – im Gegenzug zu Narrationen – eher relational, proportional und raumbasiert. Darüber hinaus bestehe – so die Autorin mit Bezug auf die Bildanalyse von Breckner (2003) – die Tendenz, Widersprüche, Brüche, Überlappungen und Ambiguitäten stehenzulassen (Busch 2010: 64), wodurch etablierte Kategorien, etwa »die Vorstellung von Sprachen als abzählbare, voneinander abgrenzbare und in sich geschlossene Einheiten« (Busch 2010: 66), dekonstruiert
2. ›Sprachbiographie‹ – Reflexionen zu zentralen Forschungslinien
würden. Busch wendet allerdings auch ein, dass die Körpersilhouette unter Umständen dazu führen könne, dass in den Erzählungen häufig Körpermetaphorik eine große Rolle spielt.11 Mit Bezug auf Bachtin (1979) weist die Autorin auf den dialogischen und intertextuellen Charakter sprachbiographischer Erzählungen hin und darauf, dass jedes Sprechen immer auch ein sich Positionieren gegenüber gesellschaftlichen Diskursen und Sprechweisen ist, »die ihrerseits auf unterschiedliche soziale Räume und Zeitabschnitte verweisen« (Busch 2012a: 12). Da die Methode keine Definitionen zu Sprache vorgibt, umfassen die von den Subjekten genannten Linguonyme nicht nur gängige Varianten wie etwa ›Hochsprache‹, ›Schriftsprache‹ oder ›Muttersprache‹, sondern auch solche, »die auf spezifische Situationen, Praktiken, Attitüden und Imaginationen verweisen« (ebd.: 66), etwa ›Urlaubssprache‹, ›Tantensprache‹, ›dunkle Sprache‹ oder ›Wunschsprache‹, wodurch die Dekonstruktion etablierter Kategorien begünstigt wird. Um die Selbstpositionierungen erzählender Subjekte vor dem Hintergrund relevanter Anderer, an die die Erzählung gerichtet ist (Busch 2006: 14), besser verstehen zu können, schlägt Busch vor, den sprachbiographischen Ansatz um zusätzliche Komponenten zu erweitern. Als Möglichkeiten nennt sie ethnographische Beobachtungen, diskursanalytische Verfahren, erzählanalytische Verfahren und kreative Visualisierungen (Busch 2010: 67). Der Ansatz von Busch lässt sich als äußerst komplexe Weiterentwicklung der von Krumm, Gogolin und Neumann eingesetzten Sprachenportraits verstehen, die mit hohen Ansprüchen an die Analyse verbunden ist. Für die vorliegende Arbeit scheint vor allem die Frage interessant, wie sprachliche Räume in biographisch-narrativen Erzählungen, die ja einer zeitlichen Gestalt folgen, konstruiert werden.
2.5 A bschliessende R efle xionen und A nknüpfungsmöglichkeiten für die eigene S tudie Abschließend bleibt festzuhalten, dass unter dem Label ›Sprachbiographie‹ sehr unterschiedliche theoretische und methodologische Zugänge firmieren. Neben Forschungsarbeiten ohne expliziertes theoretisches Verständnis von ›Biographie‹ stehen sozialwissenschaftlich orientierte Studien, die den Konstruktionscharakter von Biographien (vgl. Kap. 3.1) mitreflektieren. Den Zugängen ist mehrheitlich gemeinsam, dass sie eine subjektorientierte Perspektive einnehmen und rein quantifizierenden Verfahren zumindest skeptisch gegenüberstehen, sie unterscheiden sich allerdings hinsichtlich des 11 | Körpermetaphorische Aussagen werden von Busch, genauso wie farbmetaphorische, mit großer Behutsamkeit interpretiert.
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TEIL I — Zum Kontext der Forschung
erhobenen Materials: Neben mündlichen und schriftlichen Quellen sowie Beobachtungen stehen Bilder, die zu Texten ins Verhältnis gesetzt werden. Unter den bei weitem vorwiegenden mündlichen Texten lässt sich die gesamte Bandbreite von stark strukturierten bis hin zu sehr offenen Erhebungsmethoden und verschiedenen Kombinationen dieser Verfahren finden, deren Produktionsbedingungen auch unterschiedlich stark reflektiert werden. Inhaltlich liegt ein starker Fokus auf sprachlicher Heterogenität vor, in dessen Zentrum migrationsbedingte Heterogenität steht, und besonders häufig untersucht werden die Perspektiven von Jugendlichen und Erwachsenen auf ihre Sprachaneignungsprozesse. Auch wenn es vereinzelt Studien gibt, in denen die Bedeutung von sprachlicher Heterogenität an Bildungsinstitutionen im Mittelpunkt steht oder mitreflektiert wird, fehlen Studien, in denen die Bildungswege und damit verbundene sprachbezogene Erfahrungen von Student*innen fokussiert werden. Ein biographietheoretischer Zugang ermöglicht einen Blick auf Sprache(n) im Lebensverlauf, der neben Sprachaneignungs- und -verlernprozessen auch die Herausbildung und Veränderung sprachbezogener Haltungen und Ideologien berücksichtigen kann. Der Fokus auf Student*innen der Germanistik, die über individuelle und/oder familiale Migrationserfahrungen verfügen, ermöglicht den Blick auf die Fragen, wie die Universität, konkret: ein stark mit der Nationalsprache verbundener Studiengang, von Individuen angeeignet wird, die in diesem Raum nicht dominant positioniert sind. Da auch die Art und Weise, wie sich Lehrer*innen als Professionelle verstehen und wie sie ihre Rolle ausfüllen, in hohem Maße biographisch gerahmt ist (vgl. Schwendowius 2015: 70f.), ist es sinnvoll, den Positionierungen angehender Lehrer*innen im Kontext ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Wissensbestände nachzugehen.
TEIL II Theoretischer und methodologischer Rahmen
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
In den beiden folgenden Unterkapiteln wird die theoretische Rahmung für die empirische Studie dargestellt: In Kap. 3.1 wird der sozialwissenschaftlich orientierte biographietheoretische Zugang eingeführt, in Kap. 3.2 ein machtkritisch inspirierter soziolinguistischer Zugang auf sprachliche Heterogenität in Migrationsgesellschaften.
3.1 B iogr aphie als theoretisches R ahmenkonzep t Wir haben […] nicht die Freiheit, keine Biographie zu haben. (Hanses 2010: 255)
Wie im Kapitel 4 näher ausgeführt werden wird, hatte die soziologische Biographieforschung ihre Anfänge in den 1920er Jahren im Kontext der Chicago School. Nachdem eine Studie von Thomas und Znaniecki (1984 [1918-1920]) (vgl. Kap. 4.1) deutlich gemacht hatte, dass Lebensgeschichten ein besonders gut geeignetes empirisches Material darstellen, um gesellschaftliche Veränderungen besser zu verstehen und zu beschreiben, wurde die Biographieforschung in den Jahrzehnten danach von anderen Zugängen, insbesondere quantitativen, wieder in den Hintergrund gedrängt. Erst in den 1970er Jahren kam es zu einer erneuten Beschäftigung mit biographietheoretischen Ansätzen in Europa, die häufig – im Sinne einer Reaktion auf die Leerstellen positivistischer Ansätze (vgl. Rustin 2000) – als ›biographical turn‹ in den Sozialwissenschaften beschrieben wird (Chamberlayne et al. 2000; Wengraf et al. 2002). Die Weiterentwicklung biographietheoretischer Ansätze in Deutschland steht in einem engen Zusammenhang mit den Arbeiten einer Gruppe von Soziolog*innen um Fritz Schütze in Bielefeld, die auf der Basis miteinander
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
verwandter theoretischer Ansätze (Pragmatismus, Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, Konversationsanalyse, Soziolinguistik) an der konzeptuellen und methodologischen Weiterentwicklung der Biographieforschung arbeitete (Apitzsch/Inowlocki 2000; Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981; Riemann 2009). Inhaltlich stand – entsprechend den US-amerikanischen Vorbildern – das Interesse im Vordergrund, der Geschichte ›großer Männer‹ die (Alltags-)Geschichte(n) von Arbeiter*innen und sog. ›kleinen Leuten‹ entgegenzustellen (Völter 2006: 269).1 Inzwischen hat sich die Biographieforschung zu einem ausdifferenzierten transdisziplinären Forschungsfeld mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und methodischen Verfahren entwickelt. Gemeinsam ist den Ansätzen ein theoretisches Verständnis von Biographie als sozialweltlichem Orientierungsmuster (Fischer/Kohli 1987: 27) und als sozialer Konstruktion, »die über die Partikularität des Einzelfalls hinausweist« (Alheit 2005: 21). Daran knüpft sich eine nicht-dualistische Konzeption von Theorie und Empirie, die an einem dialektischen Verständnis von Individuum und Gesellschaft ansetzt und empirische Daten für die Theoriegenerierung nutzt (Dausien 1996, 2006; Rosenthal 2014).
3.1.1 Biographie als kulturelle Praxis der Selbstpräsentation Natürlich findet sich die Vorstellung, dass Menschen eine Biographie haben, bereits in Texten seit der Antike (Alheit 2008: 17; Herrmann 1991: 51). Allerdings dienten diese eher der Unterhaltung, Belehrung oder Herrschaftslegitimation, und entsprechende Texte waren ›didaktisch‹ motiviert (Alheit 2008: 17). Neben die Darstellung dieser Lebensgeschichten von Mächtigen und Heiligen in weltlichen und religiösen Kontexten tritt mit der Renaissance diejenige bemerkenswerter, auch anstößiger Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben (ebd.). Die Entwicklung und Entfaltung subjektiver Einzigartigkeit, einer ›Identität-Für-Sich‹ (Hahn 2000: 100), tritt allerdings erst mit der europäischen Moderne in den Vordergrund. Eine Grundvoraussetzung dafür war die Ablösung der feudalen von einer bürgerlichen Gesellschaft, die Individuen2 erweiterte Möglichkeitsräume für eine Lebensgestaltung jenseits des Standes, in den sie ›hineingeboren‹ waren, ermöglichte. Eine andere Voraussetzung war die Veränderung religiöser und weltanschaulicher Konzepte und eine Wahrnehmung, in der der eigene Lebensweg nicht als von einem übermächtigen Gott, sondern vom Individuum selbst gestaltet betrachtet wird (Hahn 2000: 108). Diese neue Selbstwahrnehmung von Individuen, die mit einem Bewusst1 | Seit einiger Zeit lässt sich auch in der US-amerikanischen Forschung wieder ein gesteigertes Interesse an Biographieforschung feststellen (beispielsweise Jindra 2014). 2 | Zunächst betraf dieses Privileg nur Männer aus privilegierten Schichten.
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
sein über eigene Gestaltungsmöglichkeiten verbunden war, erforderte neue Formen der Selbstdarstellung, für deren Verständnis Hahn die konzeptionelle Unterscheidung zwischen ›Lebenslauf‹ und ›Biographie‹ einführt. Der Lebenslauf ist für Hahn zunächst ein »Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit einer unendlichen Zahl von Elementen« (Hahn 2000: 101). In modernen Gesellschaften ist er sozial institutionalisiert und von bestimmten Karrieremustern und Positionssequenzen in vorstrukturierten und gesellschaftlich erwartbaren Abläufen und Phasen normiert (ebd.). Als solcher stellt er Normierungen und Bewertungen für das zur Verfügung, »was in der jeweiligen Gesellschaft als ›gelungenes‹, ›erstrebenswertes‹ oder ›missratenes‹, ›verfehltes‹ Leben gilt« (Dausien 2003: 131). Die bloße Präsenz des Lebenslaufs in Form »bleibende[r] Resultate« (Hahn 2000: 107) ist laut Hahn ab dem Moment nicht mehr ausreichend, ab dem »gleiche Gegenwarten der Endpunkt extrem verschiedener Vergangenheiten sein können, wo also die Gegenwart nicht mehr hinlänglich viel Vergangenheit transparent macht« (Hahn 2000: 107). Aus diesem Grund ist eine temporalisierte Selbstdarstellung notwendig, die den jeweiligen Entstehungszusammenhang und die Wege verdeutlicht, »die mich zu dem Punkt geführt haben […], an dem ich jetzt angelangt bin« (Hahn 2000: 107), und die es ermöglichen, das Selbst »als ein geschichtliches Subjekt, als ein ›Ich‹ im zeitlichen Wandel zu präsentieren« (Schwendowius 2015: 77). Allerdings macht erst die Biographie »für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema« (Hahn 2000: 101). Im Unterschied zum Lebenslauf stellen Biographien »selektive Vergegenwärtigungen« (ebd.) dar, die Zusammenhänge stiften, die es auf diese Weise vorher noch nicht gab, und die es ermöglichen, eine prinzipiell unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten, Erlebnissen und Handlungen zu präsentieren und durch Auswahl und Vereinfachung in eine Ordnung zu bringen (Hahn 2000: 103). Dabei sind auch weit über die eigene Lebenszeit hinausreichende Ereignisse (ebd.: 101) eingeschlossen sowie das ›ungelebte Leben‹ mit unzähligen nicht realisierten Möglichkeiten.3 Um eine Ordnung in diese Vielzahl von Momenten zu bringen und individuelle Identität herzustellen und aufrechtzuerhalten, sind »sozial gestiftete Formen der Erinnerung« (Hahn 2010: 30) notwendig. Hahn beschreibt historisch und kulturell variierende ›Biographiegeneratoren‹ (Hahn 2000, 2010). Dabei handelt es sich um Formate, in denen Personen »in mehr oder weniger standardisierter Form sich selbst über ihr Leben Rechenschaft abgeben, um soziale Inszenierungen, in denen die eigene Vergangenheit thematisiert und rekonstruiert wird, in denen ein ›Lebenslauf‹ in eine Biographie transformiert wird« (Hahn 3 | Das erstmals von Weizsäcker beschriebene ›ungelebte Leben‹ wurde von Alheit für einen biographietheoretischen Kontext fruchtbar gemacht (Alheit 2008; vgl. auch Alheit 1995).
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
2010: 30). Als Beispiele für Biographiegeneratoren nennt Hahn die Beichte, die Psychoanalyse und die Autobiographie (ebd.: 31).4 Auch sozialwissenschaftliche Methoden, etwa das narrative Interview, können als Biographiegeneratoren begriffen werden (Hahn 2000: 100; Völter 2006: 275). Hahns Verdienst liegt vor allem darin, überzeugend gezeigt zu haben, dass Biographien nicht etwas sind, das Individuen einfach ›haben‹, sondern dass es sich dabei um komplexe Konstruktionsleistungen handelt, die mit der Vervielfältigung möglicher Formen der Lebensführung notwendig geworden sind. Kohli beschreibt in einer historisch fundierten Analyse die Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1985), die als Antwort auf komplexer werdende Herausforderungen der Vergesellschaftung die soziale Mitgliedschaft und Zugehörigkeit der Einzelnen regelt (Dausien/Mecheril 2006: 156). Diese Institutionalisierung umfasst die sequentielle Ordnung und Normierung von (›Verhaltens‹-)Abläufen (Kohli 1988: 38) und wird insbesondere vom Bildungssystem und der Organisation von Erwerbsarbeit und Rentensystem hervorgebracht und aufrechterhalten (Kohli 1985: 8-10). Der chronologisch standardisierte ›Normallebenslauf‹ (ebd.: 2), den Kohli beschreibt, ist rund um das Erwerbssystem organisiert und über eine Dreiteilung in Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase (ebd.: 3) gekennzeichnet.5 Allerdings würde ein voreiliges Schließen von statistischen Varianzen in diesen Phasen auf die Geltung und Bedeutung sozialer Normen zu kurz greifen (Kohli 1988: 8).6 Der theoretische Mehrwert Kohlis Überlegungen liegt darin, dass die von ihm beschriebene Institutionalisierung des Lebenslaufs auch »den Übergang zu einer biographischen – d.h. vom Ich aus strukturierten und verzeitlichten – Selbst- und Weltauffassung« (ebd.: 38) umfasst. In diesem Sinne lässt sich das lebenszeitliche Regelsystem an zwei unterschiedlichen Bereichen aufzeigen: einmal an der »Bewegung der Individuen durch das Leben im Sinn von Positionssequenzen bzw. ›Karrieren‹« (Kohli 1985: 3, Hervorh. i. O.), zum anderen an ihren biographischen Perspektiven und Handlungen (ebd.), die nicht ohne eine Berücksichtigung ihrer Verstrickung in soziale Räume verstanden werden können.
4 | Ausführlich zur Beichte vgl. Hahn 1982. 5 | Die Organisation der Institution ›Lebenslauf‹ rund um die Arbeitsbiographie galt allerdings immer schon nur für einen privilegierten Teil erwerbstätiger Männer. Zu Biographien von Frauen vgl. Dausien 1996 und Thon 2010. Auch Kohli selbst sieht die Institutionalisierung des Lebenslaufs in späteren Publikationen differenzierter und dessen Dreiteilung ›vielfach gefährdet‹ (Fischer/Kohli 1987: 43). Zur De-Institutionalisierung des Lebenslaufs vgl. Brose 1988; Kern 1998; Walther/Stauber 2007 und Wohlrab-Sahr 1993: 37-64. 6 | Als Beispiel für eine solche »demographische Psychologie« nennt Kohli den Schluss von hoher Säuglingssterblichkeit auf geringe ›Mutterliebe‹ (Kohli 1985: 8).
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
Für die vorliegende Arbeit sind diese Überlegungen insofern relevant, als sie nahelegen, dass auch Sprachbiographien nicht einfach eine Aneinanderreihung von sprachbezogenen Ereignissen und Erfahrungen sind, sondern dass es sich dabei um Konstruktionen eines sprachlichen ›Ich‹ im zeitlichen Wandel handelt, mittels derer in der Erzählung neue Zusammenhänge geschaffen werden. Möglicherweise zeigen sich in den Erzählungen auch gesellschaftlich normierte sprachbezogene Abläufe und Phasen.
3.1.2 Biographie als Zugang zu Lern- und Bildungsprozessen Auch wenn die bildungswissenschaftliche Beschäftigung mit Biographie bisher keinen »kohärenten theoretischen Entwurf« (Rothe 2011b: 43),7 sondern vielmehr Elemente einer Theorie biographischen Lernens geliefert hat (ebd.), so ist die biographietheoretische Perspektive in der Bildungswissenschaft längst ein etablierter Zugang, »um Lern- und Bildungsprozesse in ihrer Einbettung in die individuelle und gleichzeitig gesellschaftlich geformte Lebensgeschichte zu untersuchen« (ebd.). Für die Bedeutung von Sprache im Lebenslauf sind zunächst die Überlegungen von Schulze zur Unterscheidung von Lebenslauf8 und Lebensgeschichte (Schulze 1993) hilfreich: Lebensläufe enthalten zumeist ausschließlich Lernergebnisse (ebd.), das sind im Kontext von sprachlicher Heterogenität etwa Sprachzertifikate, abgeschlossene Sprachkurse oder Sprachniveaus nach normierten Vorgaben, wie etwa der des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (Europarat 2001). Auch der Besuch bestimmter Schulen – etwa einer bilingualen Schule oder einer Schule, an der ›alte‹ Sprachen gelehrt werden – sowie Auslandsaufenthalte setzen zwar Lernprozesse voraus, allerdings erlaubt die Textsorte Lebenslauf keine Rückschlüsse auf eine Entfaltung und Reflexion dieser Prozesse. Die in biographischen Texten erinnerten und reflektierten Lernprozesse, die auf die Herstellung und Balance von Identität zielen, 7 | Für einen Überblick und eine Diskussion zu aktuellen biographiewissenschaftlichen Perspektiven in der Pädagogik vgl. das Heft 62/2 der Zeitschrift für Pädagogik, das u.a. Beiträge zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung (Koller 2016), zur Biographieforschung in der Sozialen Arbeit (Riemann 2016) und zur bildungswissenschaftlichen Geschlechterforschung (Thon 2016) enthält. Zum Verhältnis zwischen bildungstheoretisch und sozialwissenschaftlich orientierter Biographieforschung in der Bildungswissenschaft vgl. Dausien 2016. 8 | Schulze bezieht sich hier – im Unterschied zu Hahn – auf formalisierte und bei Bewerbungen verwendete Lebensläufe. Auf die erkenntnistheoretische Problematik einer solchen Unterscheidung weist er selbst hin (Schulze 1999: 39; vgl. auch Dausien 2003: 129-131); die Unterscheidung findet in dieser Arbeit ihren Ort jedoch als ›Aufmerksamkeitsrichtung‹ zum besseren Verständnis des empirischen Materials.
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Sinn schaffen und eine individuelle Lebensperspektive erzeugen (vgl. Schulze 1993: 201), sind in besonderem Maße auch für sprachliche Lernprozesse von Bedeutung. Genauso wie Lebenslauf und Lebensgeschichte wechselseitig aufeinander bezogen sind, sind dies curriculares und lebensgeschichtliches Lernen (ebd.: 219). Während die Bestimmtheit curricularen Lernens außerhalb der Lernenden liegt und diese sich in ein vorbereitetes Programm fügen (müssen) (ebd.: 202),9 entwickelt sich lebensgeschichtliches Lernen »in der Auseinandersetzung mit den von außen kommenden Einwirkungen, in ihrer Annahme oder Ablehnung, in ihrer Auswahl, Modifikation und Umdeutung« (ebd.: 203). Zudem folgt lebensgeschichtliches Lernen keiner durchdachten Systematik, sondern ist diskontinuierlich, und zwar sowohl »im Hinblick auf die zeitliche Abfolge wie auf die inhaltlichen Verknüpfungen« (ebd.: 206). Lebensgeschichtliches Lernen wird im Kontext der zuvor beschriebenen Ausdifferenzierung von Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Moderne zur Notwendigkeit. Die erweiterten Möglichkeitsspielräume erfordern von Subjekten »eine Art Dauerreflexion im Hinblick auf ihre Biographie und gesellschaftliche Identität« (Dausien 2011: 111) und sind mit dem Erfordernis verbunden, Konsistenz und Kontinuität vielfältiger Erfahrungen immer wieder neu herzustellen (Alheit 2010: 220). Zur Bewältigung dieser Anforderungen sind Kompetenzen notwendig, die Alheit im Anschluss an Kohli mit dem Begriff Biographizität bezeichnet, und die er als ›Schlüsselqualifikation‹ (Alheit 1995, 2008) und als »versteckte[s] Lernpotenzial der Moderne« (Alheit 2008: 21) beschreibt. Biographizität bedeutet, »dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und daß wir diese Kontexte ihrerseits als ›bildbar‹ und gestaltbar erfahren« (Alheit 1995: 300). Es handelt sich also um das Potential, soziale Wirklichkeit »aus dem aufgeschichteten und sich verändernden biographischen Wissen« zu konstruieren (Alheit/ Dausien 2005: 29). Diese Fähigkeit moderner Individuen, kontinuierlich neue Wissensbestände an biographische Erfahrungen und Sinnressourcen anzuschließen, stellt eine kreative Eigenleistung von Subjekten dar. Zudem kann Biographizität insofern als generatives Prinzip (Dausien 2003: 135) verstanden werden, als soziale Wirklichkeit »durch die biographische Leistung der Individuen und im Modus biographischer Konstruktionen hervorgebracht wird« (ebd.). Von besonderer Relevanz sind dabei das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und die Interdependenz von Subjekt und Struktur (Alheit 1995: 293). Bildungsprozesse können als ›Synchronisationsversuche‹ zwischen äußerlichem Ablaufprogramm und der Binnensicht der Subjekte begriffen werden (Alheit 1995: 293). 9 | Auch wenn curriculares Lernen eng an den Lebenslauf gebunden ist, unterstellt Schulze kein ›vorausgeplantes Lernen‹ (vgl. Schulze 1993: 201).
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Bildungsprozesse immer einen biographischen Bezug haben, da sie sich als »ausgedehnte Zeitgestalten […] im Zeithorizont der Biographie ab[spielen]« (Dausien 2016: 29). Neben Bildungsund Qualifikationsprozessen, die innerhalb formaler und institutionalisierter Rahmenbedingungen stattfinden, sind auch ›mitlaufendes‹ und nicht intendiertes Lernen (Dausien 2003: 139) sowie Prozesse des Verlernens (Dausien 2001: 102) von Bedeutung. Eine biographische Betrachtungsweise von Lern- und Bildungsprozessen ist im Kontext der vorliegenden Arbeit von besonderer Bedeutung, weil sie die Bedeutung von Sprache(n) jenseits normierter und normierender Curricula, Tests und sprachstandsdiagnostischer Verfahren zu berücksichtigen vermag. Daneben ermöglicht sie es im Unterschied zu spracherwerbstheoretischen und anderen Zugängen, die sich mit Sprache auf einer biographischen Zeitachse beschäftigen, auch biographische Gestaltungprozesse und die ›Eigenlogik‹ der autobiographischen Rekonstruktion (Dausien 1996: 106) in den Blick zu nehmen.
3.1.3 Biographie als Zugang zu Wissensordnungen Um die Struktur der Biographie und autobiographische Rekonstruktion besser zu verstehen, sind ›Erinnerungs- und Deutungsschemata‹ bedeutsam: Alheit bezeichnet Erinnerungsschemata als »individuelle und kollektive Wissensformen, deren Konstitutionskern die Ereignis- und Erlebnisebene darstellt« (Alheit 1989: 140), während Deutungsschemata »ereignisunabhängige Verarbeitungsformen sozialer Wirklichkeit« darstellen (ebd.: 142). Unter einer im Grunde unendlichen Fülle solcher Wissensformen hebt Alheit das ›herrschende Wissensprofil‹ und »mehr oder minder habitualisierte und sedierte ›Gegenwissensprofile‹« hervor (ebd.: 144), die sich gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Zentral an Alheits Überlegungen ist, dass biographisches Wissen nicht als individuelle und von Gesellschaft ›abgeschnittene‹ Kategorie gedacht werden kann. Vielmehr sind die mit der Biographie in Beziehung gestellten Erfahrungen und Deutungen sowie die Performanz des Erzählens »Evidenz sozialer Bedingtheit von Biographie« (ebd.). Auch Hanses (2010) schlägt vor, Wissen als zentralen Gegenstand biographieanalytischer Forschung zu konzeptualisieren. Dies begründet er damit, dass Erzählungen »auf gesellschaftliche, institutionelle und interaktive Wissensordnungen und deren Wirkungen auf die sozialen Akteure sowie gleichsam auf die eigensinnigen Brechungen dieser Wissensarrangements durch das Subjekt« (Hanses 2010: 253) verweisen. Die Analyse biographischen Wissens ermöglicht es demzufolge, Biographie nicht entweder als Subjektbezug oder als Mikroanalyse gesellschaftlicher Strukturiertheit polar zu denken, sondern die »Ambiguität narrativer Selbstthematisierungen« (Hanses 2010:
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253f.) produktiv zu fassen. Inspiriert von Foucault (1978) identifiziert Hanses in biographischen Erzählungen lokale Wissensformen, also Wissensformen, die an die konkreten Lebenszusammenhänge von Akteur*innen gebunden sind, und an denen er zwei Charakteristika hervorhebt: Zum einen sind lokale Wissensformen als ›disqualifiziertes‹ Wissen »auf irgendeine Art und Weise an die Person und ihre lokale Lebenswelt gebunden«, zum anderen hat dieses Wissen »eine Härte, widersetzt sich der Macht dominierender Wissensordnungen« (Hanses 2010: 257)10 und besitzt ein kritisches Potenzial. Hanses zeigt am Beispiel biographischer Erzählungen von an Brustkrebs erkrankten Frauen, dass sich die Erzähler*innen den Logiken der medizinischen Wissensordnung nicht widerspruchslos fügen. Diese »eigenwillige Brechung und Selbstsetzung« von Biograph*innen versteht und analysiert er als Phänomene von ›Eigensinn‹ (Hanses 2010: 253). Auch Thon beschäftigt sich im Zusammenhang mit dem Eigensinn biographischer Subjekte mit Konzeptionalisierungsmöglichkeiten von Wissen. Sie begreift unterdrückte Wissensarten in Anlehnung an Laclau und Mouffe »als Ausdruck des verworfenen ›Anderen‹ […], das im hegemonialen Diskurs zwar marginalisiert wird, aber nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, weil seine Ausgrenzung für das Hegemonialisierte konstitutiv ist« (Thon 2016: 195). Das ›Andere‹ hält aus der Position des Partikularen heraus »die Erinnerung wach, dass das scheinbar Universale nicht das allein Denkbare ist« und macht somit die Kontingenz des Hegemonialen sichtbar (ebd.). Zwei unterschiedliche Formen von Wissen identifizieren auch Dausien, Ortner und Thoma (2015):11 Sie zeigen, wie das von Lehrenden vermittelte systematisierte und objektivierte Wissen auf das biographische Wissen der Student*innen trifft. Dabei entsteht eine ›Hierarchie der Wissensformen‹ (ebd.: 191), die dadurch gekennzeichnet ist, dass das biographische Erfahrungswissen »in der Position der Differenz und der Kritik an der Norm (als ›Gegenwissen‹)« eingebracht wird (ebd.: 192). Welche Bedeutung diese Wissensformen und deren Hierarchisierung in unterschiedlichen pädagogischen Settings annehmen, formulieren sie als offene Frage (ebd.). Für die vorliegende Arbeit sind all diese Überlegungen als sensibilisierende Konzepte insofern relevant, als die soziale und bildungsinstitutionelle Positionierung der Student*innen, um deren Biographien es geht, ebenfalls marginalisierte Wissensbestände vermuten lässt. Es liegt nahe, dass sie auf ihren bisherigen Bildungswegen mit verschiedenen kollektiven Erinnerungs- und Deutungsschemata in Berührung kamen, zu denen sie sich in den betreffen10 | Lokale Wissensformen sind nicht mit biographischem Wissen zu verwechseln und werden von der biographischen Gesamtgestalt nicht überformt. 11 | Eines der in diesem Text analysierten Beispiele (Dausien et al. 2015: 178-129) stammt aus dem Korpus der vorliegenden Arbeit.
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
den Situationen und in der Interviewinteraktion positionier(t)en. Dabei scheint die Frage interessant, welche Rolle die verschiedenen Wissensarten und mögliche mit ihnen verbundene Hierarchisierungen in den biographischen Rekonstruktionen spielen, und wie diese im biographischen Format »aufgegriffen, reproduziert, variiert und transformiert« (Dausien 2006: 37) werden.
3.1.4 Die Bedeutung von Bildungsinstitutionen für Bildungsprozesse Bildungsinstitutionen kommt eine zentrale Bedeutung für Bildungsprozesse und die spätere sozialräumliche Positionierung von Lernenden zu. Für die in der vorliegenden Arbeit interessierenden Bildungswege sind zunächst die Studien von Bourdieu und seinem Umfeld von Bedeutung. Diese verstehen das Bildungssystem insgesamt als von hierarchischen Strukturen durchzogenes Feld. Am Beispiel von Frankreich zeigen sie, dass die Zugangschancen zu höherer Bildung und zu bestimmten Studiengängen stark von Geschlecht und sozialer Herkunft bestimmt sind (Bourdieu/Passeron 2007). Konkret hängen formaler Studienerfolg und eine ›Passung‹ mit der Studienkultur nicht nur von an der Schule erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten ab, sondern auch davon, welche Formen von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital Lernende aus ihrem sozialen, vor allem familiären, Umfeld mitbringen. Dazu zählt beispielsweise der vertraute Umgang mit Kunst und Kultur, wie er in der Schule nur in beschränktem Ausmaß vermittelt wird (Bourdieu/Passeron 2007: 29). Diese Befunde sind zentral für ein besseres Verständnis hierarchischer Strukturierungen des sozialen Raums, vor allem, weil sie deutlich machen, dass soziale Ungleichheiten nicht als »natürliche Ungleichheiten« oder als »Ungleichheiten der Begabungen« (Bourdieu/Passeron 2007: 95) erklärt werden können. Sprache definieren die Autoren auch im Kontext Universität als ein offensichtliches »Kennzeichen für die soziale Stellung des Sprechenden« (Bourdieu/Passeron 1971: 112), wobei sie den zentralen Unterschied zwischen dem, was sie ›bürgerliche Sprache‹ und ›Vulgärsprache‹12 nennen, in der »sozial bedingte[n] Haltung zur Sprache, das heißt zum Gesprächspartner und zum Gegenstand der Unterhaltung« (ebd.: 111) sehen. Auch wenn Bourdieu den solcherart strukturierten und hierarchisierten sozialen Raum keineswegs statisch oder deterministisch denkt, so kann sein Ansatz die individuellen Wege, die durch den sozialen Raum führen, nicht befriedigend erklären, und auch die Subjektperspektive kommt in seinem An12 | Auch wenn sich einige der von den Autoren beschriebenen Charakteristika der französischen ›bürgerlichen‹ Sprache (etwa die Nähe zu Latein) von Deutsch unterscheiden, so lassen sich die zentralen Befunde dennoch auch auf die deutsche Sprache übertragen.
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satz zu kurz. An dieser Leerstelle setzen Arbeiten aus der Biographieforschung an. Sie machen deutlich, dass Universitäten ein ›Ort riskanter Biographien‹ sind, an denen »Erfolg und Scheitern sehr eng beieinander liegen [können] (Kokemohr/Marotzki 1989: 5). Zudem zeigen sie, mit welchen individuellen Problemkonstellationen Student*innen konfrontiert sind und welche Handlungsspielräume ihnen (nicht) offenstehen, um ihre Studienwege zu gestalten (Haas 2016; Hoffmann-Riem 1989; Koring 1989; Kreitz 2000; Marotzki 1990b; Schwendowius 2015). Zudem spielen Bildungsinstitutionen insofern eine wichtige Rolle, als sie biographisierende Wirkung entfalten: Da die »Variation möglicher Lebensläufe und -konstruktionen […] durch die institutionalisierten Vorgaben an Lebensläufe« (Schwendowius 2015: 81f.) begrenzt ist, sind biographische Konstruktionen in Gesellschaften, die über ausdifferenzierte Bildungssysteme verfügen, ohne Bezug zu Bildungsinstitutionen und pädagogische Praxen kaum denkbar (Dausien/Hanses 2016: 160). Da Bildungsinstitutionen, wie bereits skizziert, für die Strukturierung und Normierung des Normallebenslaufs eine zentrale Rolle spielen, sind sie wichtige ›Strukturgeberinnen‹ (Schwendowius 2015: 94) im Lebensverlauf und bilden ein ›Gerüst‹, entlang dessen zeitlichem Verlauf die eigene Lebensgeschichte erzählt werden kann (ebd.). Daneben werden an Bildungsinstitutionen biographiebezogene und biographieproduzierende Normierungen erzeugt und wirksam, etwa »die Altersgliederung von Bildungsverläufen, die Koppelung von Bildungstiteln an soziale Karrierewege oder auch die normative Idee des sich bildenden Subjekts, das seinen Lebensweg (selbst-)verantwortlich gestaltet (Dausien et al. 2016: 30).13 Zudem wird in pädagogischen Kontexten häufig auf Biographisches Bezug genommen. Pädagogisch Professionelle legen ihrem Handeln biographisierte und biographisierende Normvorstellungen zugrunde. Zum Beispiel sind dies Vorstellungen über bildungsbiographische ›Normalverläufe‹ oder unterstellte biographische Zusammenhänge (etwa die Vorstellung bestimmter Lerninhalte als für bestimmte Individuen oder Gruppen biographisch bedeutsam). Diese Vorstellungen dienen zur Begründung und Legitimierung pädagogischen Handelns und darüber hinaus dazu, Orientierung und Ordnung im pädagogischen Raum herzustellen (Dausien et al. 2015). Daneben werden biographiebezogene Argumente auch von Lernenden verwendet, um Normen in Frage zu stellen (ebd.). Im Kontext der vorliegenden Arbeit stellt sich die Frage, welche Rolle Bildungsinstitutionen und die darin relevanten Sprachenordnungen in den sprachbiographischen Konstruktionen spielen und an welchen Stellen biographisierte und biographisierende sprachliche Normvorstellungen sichtbar werden.
13 | Vgl. ausführlich Rothe 2011a.
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
Abschließend kann festgehalten werden, dass die Erweiterung der Möglichkeitsräume, die Individuen mit der europäischen Moderne erhielten, zur Notwendigkeit temporalisierter Selbstpräsentationen führte, die Konsistenz und Kontinuität in eigene Erlebnisse und Erfahrungen bringen und das eigene Gewordensein thematisierbar machen. Biographizität kann in diesem Zusammenhang als kreative Eigenleistung und als Lernpotential moderner Individuen begriffen werden, um laufend neue Wissensbestände an bereits vorhandene anzuschließen und mit Sinn zu versehen. Dementsprechend können auch Sprachaneignungsprozesse weder als bloße Aneinanderreihung von ›Erwerbssequenzen‹ verstanden noch mit Hilfe von Faktorenmodellen abgebildet werden. Vielmehr müssen diese vor dem Hintergrund der Bedeutungszuschreibungen der biographischen Subjekte (Koller 2016: 173f.) verstanden werden. Die biographische Perspektive ermöglicht es, die in Zusammenhang mit Sprache stehenden biographischen (Re-)Konstruktionen in den Blick zu nehmen und damit die Bedeutung von Sprache(n) sowie Sprachigkeit in ihrer individuellen Gewordenheit und aus der Perspektive der biographischen Subjekte mit ihren jeweiligen »Reflexions- und Gestaltungsspielräume[n]« (Dausien 2016: 42) zu rekonstruieren. Daneben stellt Biographieforschung einen Zugang zu Wissensordnungen dar, die im Kontext von Sprachhierarchien an Bildungsinstitutionen (Kap. 3.2.3) von besonderer Bedeutung sind. In einer Reihe bereits vorliegender Studien, die auf biographisch-narrativen Interviews basieren, wurde die Bedeutung von Sprache, genauer: der dominanten Sprache Deutsch, in Migrationsgesellschaften bereits sichtbar (Rose 2012; Ruokonen-Engler 2012; Spies 2014; Schwendowius 2015; Siouti 201314; Wischmann 2014; Zölch 2014). Diese wurde allerdings vor dem Hintergrund der jeweiligen Forschungsinteressen zumeist nicht genauer in den Blick genommen.15 Dies spricht umso mehr für eine systematische Beschäftigung mit der Bedeutung von Sprache in lebensgeschichtlicher Perspektive. Zu diesem Zweck scheinen vor allem die von Dausien, Rothe und Schwendowius (2016) formulierten Erkenntnismöglichkeiten eines biographietheoretischen Ansatzes für die empirische Erforschung von Bildungswegen fruchtbar: Sie ermöglichen es, Bildungsprozesse als »kumulative, langfristig wirksame, nicht-lineare Prozesse am konkreten Fall« (ebd.: 59) zu rekonstruieren. Verbunden ist dies mit einer Perspektive auf Student*innen, die diese nicht als »Objekte von Platzierungs- und Ausgrenzungsprozessen bzw. von pädagogi14 | Siouti (2013) und Rose (2012) berücksichtigen Sprache nicht nur auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern auch auf der der Interviewinteraktion. Zu Übersetzungsprozessen im Forschungsverlauf vgl. Bittner 2013; Lutz 2011; Palenga-Möllenbeck 2009; Pietig 2014. 15 | Ein beeindruckendes Beispiel für einen solchen Forschungszugang bietet die Studie von Treichel (2004a), in der allerdings Migration keine wesentliche Rolle spielt.
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schen Bemühungen« (ebd.: 60) sieht, sondern als biographische Subjekte, »die im Rahmen ihrer je begrenzten, aber nicht determinierten Handlungsspielräume aktive Konstrukteur_innen ihrer sozialen Wirklichkeit sind« (ebd.). Einem Vorschlag von Dausien folgend werden deshalb »Subjekt-Kontext-Relationen« (Dausien 2003) analysiert, die für die Subjekte bedeutsame soziale Kontexte nicht in abstrakter Form, etwa als ›soziales Milieu‹, sondern in ihrer ganz konkreten Ausformung deutlich macht.
3.2 S pr achliche H eterogenität, G esellschaft und B ildung [T]heory is about what we see and experience in the social world of language, and about how we impute meaning to actions. (Coupland 2016: 1)
In diesem Kapitel gebe ich einen Einblick in theoretische Perspektiven, die ich meiner Arbeit im Sinne sensibilisierender Konzepte (Blumer 1954; vgl. auch Kap. 4 und 5) zugrunde lege, und die Erklärungskraft für die von mir untersuchten empirischen Phänomene besitzen. Dabei beziehe ich mich auf ein theoretisches Terrain, das von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Strängen16 bespielt wird. Da diese zum Teil unabhängig voneinander Wissen produzieren, lenke ich den Blick auf ihre theoretischen Knotenpunkte, an denen das bedeutungsvolle Zusammenwirken von Sprache, Gesellschaft und Bildung verhandelt wird. Sprache betrachte ich nicht als natürlich gegebenes ›Objekt‹ oder als autonomes System, das gewissermaßen vor dem Sprechen oder dem Schreiben steht. Vielmehr ist Sprache dynamisch und wird in Interaktionen laufend weiterentwickelt. Da sprachliche Äußerungen an soziale Prozesse gebunden sind, können sie nicht ›neutral‹ sein. Sprache ist an der (Re-)Produktion sozialer Normierungen, Hierarchisierungen und Ein- und Ausschlüssen beteiligt (hornscheidt 2012: 30-41) und stellt eine Arena dar, in der soziale Fragen verhandelt werden (Heller 2011: 49). Um zu verstehen, welche Erfahrungen die Student*innen, um die es in dieser Arbeit geht, in Migrationsgesellschaften und vor allem an Bildungsinstitutionen machen, welche Haltungen zu Sprache(n) sie entwickeln und welche Handlungsräume ihnen offen stehen 16 | Dies sind Forschungszugänge, die im weitesten Sinn der Soziolinguistik, der linguistischen Anthropologie und dem Feld ›Deutsch als Zweitsprache‹ zuzurechnen sind und die sich als kritisch, sozialkonstruktivistisch, poststrukturalistisch und/oder praxeologisch verstehen.
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
bzw. sie sich erarbeiten (können), ist es notwendig, in diesem Kapitel relevante Untersuchungsfelder und wissenschaftliche Perspektiven vorzustellen. Zunächst werde ich darstellen, wie mit der Konstitution europäischer Nationalstaaten und deren territorialer Expansion durch Kolonisation die ›Erfindung‹ von Einzelsprachen und in Zusammenhang damit die Hierarchisierung von Sprecher*innen einherging, die mit einer Reihe sprachideologischer Konzepte verbunden war (Kap. 3.2.1). Danach werde ich ausführen, welche Rolle sprachliche Heterogenität in Migrationsgesellschaften spielt und welche rechtlichen und sozialen Dimensionen für Individuen und Gruppen damit verknüpft sein können (Kap. 3.2.2). Zuletzt werde ich mich der Bedeutung sprachlicher Heterogenität für Akteur*innen an Bildungsinstitutionen widmen und herausarbeiten, inwiefern die zuvor charakterisierten Sprachideologien an Bildungsinstitutionen Wirksamkeit entfalten (Kap. 3.2.3).
3.2.1 (R)Einheit und die Hierarchisierung von Sprecher*innen: Sprachideologien im Kontext europäischer Nationalstaatenbildung Ein zentrales Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sind Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n). Das Beziehungsgeflecht zwischen Gesellschaft und Sprache ist von einer Reihe von Sprachideologien durchdrungen, die vor allem in der Soziolinguistik und in der linguistischen Anthropologie erforscht wurden und werden (Gal 2005, 2006; Mar-Molinero/Stevenson 2006; Woolard/ Schieffelin 1994; Rosa/Burdick 2016; Silverstein 1979, 1998). Im Anschluss an Silverstein (1979) können Sprachideologien als »any sets of beliefs about language articulated by the users as a rationalization or justification of perceived language structure and use« (Silverstein 1979: 193) verstanden werden. Die Konzeptionalisierung von ›Ideologie‹ fällt dabei sehr unterschiedlich aus. Ich folge hier einem Vorschlag von Thompson, der Ideologie als ›meaning in the service of power‹ beschreibt (Thompson 1990: 6). Als soziale Konstruktionen sind Ideologien einer solchen Lesart zufolge an der (Re-)Produktion oder Transformation von Dominanzverhältnissen beteiligt (Fairclough 1992: 87) und für eine Analyse sozialer Verhältnisse in Migrationsgesellschaften von besonderer Bedeutung. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist eine kritische Perspektive auf Sprachideologien besonders hilfreich, da mit ihnen Bewertungsschemata von Sprachen und Sprecher*innen, Marginalisierungsprozesse sowie die Naturalisierung von Machtbeziehungen verbunden sind (Martin-Jones/Heller 1996: 129; Rosa/Burdick 2016). Unter einer Reihe von Sprachideologien, die einander zum Teil gegenseitig ergänzen, mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet wurden und in einem engen Beziehungsgeflecht zueinander stehen, werde ich im Folgenden
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
die (R)Einheitsideologie, die Standardsprachenideologie, die Nationalsprachenideologie und die Muttersprachenideologie einführen: Die erste Ideologie, die von Weber und Horner als Sprachenhierarchie (the hierarchy of languages, Weber/Horner 2012: 16f.) beschrieben wird, und die die Vorstellung einheitlicher, ›reiner‹ und klar voneinander abgrenzbarer Sprachen zugrunde legt, bezeichne ich als (R)Einheitsideologie 17. Die mit dieser Ideologie verbundenen Vorstellungen werden in der Linguistik bereits seit Langem als empirisch nicht haltbar kritisiert. Spitzmüller beschreibt am Beispiel von Anglizismen im Deutschen vier gängige Metaphern, in denen Einzelsprachen als Substanzen, als Container, als Organismen und als Artefakte, jedenfalls als klar umrissene und abgegrenzte Einheiten konstruiert werden (Spitzmüller 2005: 204-249).18 Die Konzeptualisierung von Sprachen als eindeutig und abgrenzbar, wie dies mit herkömmlichen Linguonymen suggeriert wird (etwa ›Suaheli‹, ›Schweizerdeutsch‹, ›Sizilianisch‹), muss somit als soziokulturelles Konstrukt (Jørgensen et al. 2011), als idealistische Abstraktion (Piller 2016: 29) und als Erfindung (Gal 2006: 14; Makoni/Pennycook 2006) betrachtet werden. Große Ähnlichkeiten mit der (R)Einheitsideologie hat die Nationalsprachenideologie 19: Die linguistische Beschreibung und Normierung von Nationalsprachen wird mit der Konstitution von Nationalstaaten (Bourdieu 2012; Ellis et al. 2010: 440) und mit der Expansion von Territorien in der Kolonialzeit (Calvet 1978; Errington 200820; Irvine 2008) in Zusammenhang gebracht. (National-) Sprachen wurden in diesem Kontext als besonders geeignete Mittel angesehen, um eine Identifikation der Bevölkerung mit dem jeweiligen Nationalstaat zu erreichen (vgl. Patrick 2010)21 und koloniale Projekte voranzutreiben (Flores et al. 2016: 547). Erleichtert wurde und wird dies durch die (R)Einheitsideologie und eine in Verbindung damit vermeintlich ›garantierte‹ gegenseitige 17 | Diese Ideologie wurde bereits vielfach beschrieben, allerdings nicht immer mit einer Bezeichnung versehen (vgl. z.B. Flores et al. 2016: 546; Spitzmüller 2005). 18 | Dies betrifft nicht nur die Trennung von Einzelsprachen, sondern auch die von Varietäten (vgl. Jørgensen et al. 2011: 27). 19 | Weber und Horner sprechen in diesem Zusammenhang von einer »one nation − one language ideology« (Weber/H orner 2012: 18). Auf der Ebene der Sprachkontaktforschung zeigt sich die Verknüpfung der beiden Ideologien an der Vorstellung, dass entweder die dominierte Sprache von der dominanten ersetzt wird oder umgekehrt (vgl. kritisch: Vetter 2015). 20 | Für eine kritische Betrachtung der Rolle der Linguistik in der Kolonialzeit vgl. Errington 2008 und Stolz et al. 2016. 21 | Auch wenn Intellektuelle wie etwa Fichte, Bacon und Locke (Ellis et al. 2010: 440) sowie Jacob Grimm (vgl. Becker 2016: 43) maßgeblich an diesem Prozess beteiligt waren, so sind manche dieser sprachideologischen Vorstellungen schon älter (Gal 2006: 14).
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
Verständigung verschiedener Bevölkerungsgruppen innerhalb des jeweiligen Staatsgebiets (vgl. Gal 2006: 15). Für die Konstitution von Nationalstaaten und deren Expansion war und ist diese Ideologie auch deshalb bedeutsam, weil sie von einer den Sprachen inhärenten Inferiorität oder Superiorität ausgeht und die Vorstellung umfasst, dass bestimmte Sprachen ›logischer‹, ›zivilisierter‹, ›moderner‹ oder ›nützlicher‹ als andere seien (vgl. Patrick 2010: 178f.).22 Die Vorstellung, dass eine bestimmte Gruppe von einer sie einenden Sprache (die auch an einen einheitlichen ›kulturellen Charakter‹ gebunden ist) zusammengehalten wird, spielt auch heute noch eine zentrale Rolle für die Förderung und Stabilisierung nationalen Zusammenhalts (Patrick 2010: 180). Darüber hinaus variieren im Kontext territorialer Grenzverschiebungen die Definitionen dessen, was als Sprache, Varietät oder Dialekt gesehen wird. Zudem verändert sich – politischen und sozialen Kräfteverhältnissen entsprechend – die Anerkennung von Sprachen innerhalb von Nationalstaaten oder Regionen nach wie vor (vgl. Busch 2013: 102-105; Patrick 2010: 177). Die Nationalsprachenideologie ist eng mit der Standardsprachenideologie (Lippi-Green 1994, 1997; Mugglestone 1995) verknüpft. Mit der Auswahl einer geeigneten Varietät als Standard in Nationalstaaten war die Kodifizierung sprachlicher Normen verbunden, für deren Einhaltung, Verbreitung und gesellschaftliche Akzeptanz sowohl eine »Objektivierung in der Schrift 23« (Bourdieu 2012: 51, Hervorh. i. O.; auch Gal 2006: 15; Lippi-Green 1994: 166) als auch Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle spielten (Bourdieu 2012: 53f.; Lippi-Green 1997: 104-132; Mugglestone 1995: 258-315). Standardisierungsprozesse von Sprachen wurden politisch auch deshalb so wirkmächtig, weil sie die Differenzierung und hierarchisierende Anordnung verschiedener sprachlicher Formen naturalisierten und je einer als ›Standard‹ kategorisierten Varietät Unabhängigkeit von Ort, Zeit und Sprecher*innen und damit Neutralität zuschrieben (vgl. Gal 2012: 29f.). Mit der Konstruktion einer Standardsprache als legitimer Sprache geht die Entwertung anderer Ausdrucksweisen einher, wie Bourdieu am Beispiel Frankreichs ausführlich belegt hat (Bourdieu 2012: 4772). Dies führt dazu, dass unterschiedliche Sprachen zur Begründung einer naturalisierten Rangordnung zwischen (Gruppen von) Sprecher*innen herangezogen werden können. Wie eng die Frage von Standardsprachen an nationale Grenzen gebunden ist, zeigt die Diskussion um die deutsche Standardsprache, die häufig mit der Standardvarietät Deutschlands gleichgesetzt wird. Mehrfach wurde in Verbindung damit eine Hierarchisierung und Schlechterstellung des österreichischen bzw. schweizerischen Standards kritisiert, die als 22 | Wie schon erwähnt, fassen Weber und Horner diese Hierarchisierung als eigene Ideologie (vgl. Weber/Horner 2012: 16f.). 23 | Der quasi rechtlichen Kodifizierung von Sprache über Grammatik, Orthographie und Wörterbücher schreibt Bourdieu in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung zu.
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Akzente oder Dialekte abqualifiziert werden (vgl. Ammon 2005; Hägi 2007). Kodifizierungen der anderen Varietäten, wie sie beispielsweise im Österreichischen Wörterbuch (Pabst et al. 2016) vorgenommen werden, können auch als Reaktion auf solche Hierarchisierungen gelesen werden. Eine weitere im Kontext dieser Arbeit bedeutsame Ideologie ist die Muttersprachenideologie (Weber/Horner 2012): Diese hängt insofern mit der Nationalsprachenideologie zusammen, als sie mit der Annahme verknüpft ist, dass Menschen (nur) eine ›Muttersprache‹ haben, die die jeweilige Nationalsprache ist (Weber/Horner 2012: 18). Gekennzeichnet ist sie von einer (auch unter Linguist*innen24) verbreiteten und äußerst wirkmächtigen Vorstellung eines Besitzes (ownership; Flores et al. 2016: 546) und Geburtsrechts (birthright; Bonfiglio 2010: 1) einer bestimmten Sprache, die üblicherweise als ›Muttersprache‹25 bezeichnet wird. Um die Jahrtausendwende entstanden vermehrt Arbeiten, die bei allen unterschiedlichen inhaltlichen Interessen und Schwerpunktsetzungen aufzeigen, dass es an eindeutigen linguistischen Kriterien mangelt, um ›Muttersprachler*innen‹ zu definieren. Mit dem im anglophonen Raum eingeführten Begriff Native Speakerism wird demzufolge die Bevorzugung von Personen und/oder Gruppen, die als ›muttersprachig‹ gelten, beschrieben (vgl. Davies 2003; Bonfiglio 2010; Dal Negro 2011; Piller 2001b). Kramsch (1997) bezeichnet Native Speaker als imaginary construct – a canonically literate monolingual middle-class member of a largely fictional national community whose citizens share a belief in a common history and a common destiny (Kramsch 1997: 363).
Der Hinweis auf die Schichtzugehörigkeit verdeutlicht den engen Zusammenhang nicht (nur) zu einer Einzelsprache, sondern zu der als ›Standard‹ konstruierten Varietät. Zudem trägt der Hinweis auf den Glauben an eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Schicksal Züge der von Anderson beschriebenen ›imagined community‹ (Anderson 1998) und verweist somit auf den engen Zusammenhang zur Nationalsprachenideologie. ›Native‹ und ›non-native‹ Sprecher*innen werden darüber hinaus – zum Vorteil von natives – unterschiedliche Charaktereigenschaften zugeschrieben (Bonfiglio 2010: 13). Dass die Konstruktion von ›Muttersprachler*innen‹ eng mit rassialisierenden 24 | Ferguson wies bereits 1983 kritisch darauf hin, dass die Linguistik ›Muttersprachler*innen‹ über lange Zeit als einzig ›richtige‹ und zuverlässige Quelle für sprachbezogene Daten ansah (Ferguson 1983: vii, zitiert nach: Davies 2003: 2). Das ist in manchen Forschungsrichtungen bisher so geblieben. 25 | Zur historischen Genese biologistisch anmutender Linguonyme wie etwa ›native language‹, ›Muttersprache‹, ›langue maternelle‹, ›locuteur natif‹ etc. vergleiche Bonfiglio 2010: 72-83.
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
Vorstellungen verbunden ist, gilt inzwischen weitgehend als Konsens (Dirim 2013; Flores et al. 2016; Lippi-Green 1997; Pennycook 2012: 74-100; Piller 2016: 53). Ein zentraler Befund der genannten und ähnlicher Arbeiten zu Sprachideologien ist, dass Sprachen und/oder Varietäten nicht neutral oder gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern eine konstitutive Rolle für die Konstruktion sozialer Gruppen und deren Hierarchisierung spielen. Sprache spielt neben anderen Markern sozialer Zugehörigkeit eine zentrale Rolle für die Konstruktion von Grenzen, die Mitglieder bestimmter Gruppen definieren und ein- oder ausgrenzen (Patrick 2010: 176) und damit Ungleichheit organisieren und legitimieren (Heller 2011: 37). Die Grenzen verlaufen zwischen denjenigen, die über die jeweils anerkannte Sprachform verfügen, die Bourdieu ›legitime Sprache‹ genannt hat, und denjenigen, die nicht darüber verfügen. Indem Sprache zur Durchführung von Inklusions- und Exklusionsprozessen verwendet wird, werden auch diese Prozesse selbst legitimiert und deren eigentliche Anlässe ›maskiert‹ (vgl. Heller 2011: 38).
3.2.2 Sprache als Stellvertreterin für ›race‹: Sprachliche Heterogenität in Migrationsgesellschaften Historisch lässt sich die Beschäftigung mit sprachlicher Heterogenität in Migrationsgesellschaften mit der Herausforderung erklären, die diese für jeweils vorherrschende Ideologien darstellte (Heller/Pavlenko 2010: 71). Immer, wenn Einsprachigkeit für nationalstaatliche Expansion oder die Herausbildung von Nationalstaaten als notwendig erachtet wurde, wurde sprachliche Heterogenität als Problem konstruiert, das kontrolliert werden musste (ebd.). In sozialwissenschaftlich informierten Arbeiten besteht längst Konsens darüber, dass nicht sprachliche Homogenität und Stabilität, sondern Heterogenität und dynamischer Wandel die Norm sind (Blackledge/Creese 2014; Busch 2013; Jørgensen et al. 2011).26 Allerdings wurde und wird sprachliche Heterogenität im Kontext von Migration häufig als Problem konstruiert: In Anlehnung an Rational-Choice-Modelle und aus eher ökonomistisch motivierten Perspektiven – unter anderem mit Argumenten einer Entscheidungen erzwingenden Ressourcenknappheit – wird individuelle Mehrspra26 | Diese Erkenntnis basiert auf älteren linguistischen Texten, in denen Sprache mit unterschiedlichsten inhaltlichen Interessen, theoretischen Bezügen und methodischen Herangehensweisen als sprachliches Handeln untersucht wurde (beispielsweise Garfinkel 1994 [1967]; Gumperz 1964, 1982, 1999; Hymes 1972, 1974, 1996; Kallmeyer 1996), und die für die Forschung zu sprachlicher Heterogenität in Migrationskontexten fruchtbar gemacht wurden.
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chigkeit eher als Schaden denn als Nutzen begriffen (etwa Esser 2009). In solchen Modellen, die mehrheitlich nicht von Linguist*innen stammen und zuletzt an Häufigkeit abgenommen haben, sind Sprachen im Kontext migrationsbedingter Sprachaneignung als grundsätzlich in negativer Weise konkurrierend konzipiert, und Migrationssprachen werden vor dem Hintergrund eines zu erwartenden ›Nutzens‹ oder einer ›Funktion‹ für das Erlernen von Nationalsprachen betrachtet (Esser 2006, 2009; Hopf 2005; kritisch: Boeckmann 2008; Roche 2009). Neben und zum Teil an die Stelle solcher Modelle treten zunehmend Perspektiven, die sprachliche Heterogenität positiv begreifen. In diesem Kontext wird Zwei- oder Mehrsprachigkeit häufig als ›Kapital‹ (vgl. Krumm 2016) oder als ›Ressource‹ (Göbel/Schmelter 2016; Rosenberg/ Schroeder 2016) bezeichnet.27 Auch wenn sich solche Perspektiven – durchaus in soziolinguistischer Tradition – an die Seite minorisierter Gruppen stellen, stehen sie in der Gefahr, in Zusammenhang mit Sprache stehende a-prioriIdentitäten zuzuschreiben und die utilitaristische Engführung defizitorientierter Perspektiven implizit zu stärken. Zudem können ›linguistische Lösungen‹ allein keinen sozialen Wandel herbeiführen (Flores et al. 2016: 551),28 weshalb es notwendig ist, andere soziale Kategorien, die mit Sprache verknüpft sind, systematisch in den Blick zu nehmen. Aus soziolinguistischer Perspektive wird zunehmend darauf hingewiesen, dass Bezeichnungen wie ›Zweisprachigkeit‹, ›Dreisprachigkeit‹, aber auch ›Mehrsprachigkeit‹ usf. eine Zähl- und Abgrenzbarkeit von Sprachen suggerieren (Busch 2013; Weber/Horner 2012), was auf ihre enge Verknüpfung mit der (R)Einheitsideologie verweist. Auch deshalb stehen nicht mehr isolierende ›systemlinguistische‹ Analysen im Fokus sprachwissenschaftlicher Beschäftigung, also Analysen von Phänomenen, die (nur) als den jeweiligen (abstrakten) Einzelsprach- bzw. Varietätensystemen inhärent gedacht werden; vielmehr sind Sprachgebrauch, Sprachwandel und Sprachkontakt bzw. Sprachmischun-
27 | Beiden Perspektiven kommt eine zentrale Bedeutung für Bildungsinstitutionen zu, weshalb sie im nächsten Kapitel noch einmal aufgegriffen werden. 28 | Dorostkar bezeichnet die »Überzeugung, dass bestimmte (gesellschafts-)politische Probleme in erster Linie durch Sprache zu lösen wären, genauer gesagt durch sprachenpolitische Maßnahmen im Allgemeinen sowie durch die Thematisierung und Beeinflussung von ›Sprachigkeit‹ […] im Besonderen« (Dorostkar 2014: 56) als Lingualismus (ebd.).
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
gen29 sowie die damit verwobenen historischen, sozialen und politischen Dynamiken ins Zentrum gerückt.30 Um vereinfachende Zu- und Beschreibungen zu vermeiden, wurde eine Reihe von Begriffen und Konzepten entwickelt, die einen differenzierteren Blick auf sprachliche Heterogenität ermöglichen: Dorostkar (2014) entwickelt den Begriff der Sprachigkeit, worunter er »alle (i. O. unterstrichen) Formen von Sprachfähigkeit, Sprachverfügbarkeit, Sprachverbreitung und Sprachverwendung« (Dorostkar 2014: 53) versteht.31 Busch verwendet im Anschluss an Gumperz (1964) den Begriff des sprachlichen Repertoires, nach dem bestimmte Sprechweisen nicht notwendigerweise Schlüsse auf die Zugehörigkeit zu bestimmten regionalen oder sozialen Gruppen zulassen. Vielmehr ist das sprachliche Repertoire »eine Positionierung, die Sprecher_innen in situierten Interaktionen vornehmen« (Busch 2013: 21). Im anglophonen Raum wurden Begriffe wie polylanguaging (Jørgensen et al. 2011), metrolingualism (Otsuji/Pennycook 2010), inclusive multilingualism (Backus et al. 2013) und translanguaging (García/Wei 2014) geprägt. Gemeinsam ist diesen Begriffen und den dahinterstehenden Konzepten ihre Einzelsprach- bzw. Varietätengrenzen übergreifende bzw. diese transzendierende Auffassung sprachlicher Praktiken und ihr Interesse dafür, wie sprachlich Handelnde sich diese aneignen und sie situiert einsetzen. Einige beziehen sich mehr oder weniger explizit auf Vertovecs Konzept der super-diversity (Blommaert/Rampton 2011; Jørgensen et al. 2011), während andere die semantische Unschärfe von Präfixen wie ›super-‹, ›pluri-‹ oder ›multi-‹ kritisieren und auf damit verbundene West-zentrierte (›Western-centric‹) Sichtweisen auf Sprache hinweisen, die historische Entwicklungen nicht berücksichtigen (Pavlenko i. Dr.). Grundsätzlich besteht Einigkeit darüber, dass ein strukturalistisch-funktionalistischer Blick auf zähl- und abgrenzbare Einzelsprachen und damit verbundene Zuschreibungen unzulässig vereinfachend ist. 29 | Auf die in der deutschsprachigen Forschung diskutierten Formen von Sprachmischung, die unter so unterschiedlichen Bezeichnungen wie ›Pidgin-Deutsch‹ (Clyne 1968), ›Gastarbeiterdeutsch‹ (Keim 1978; Orlović-Schwarzwald 1978), ›Deutschlandtürkisch‹ (Cindark/Aslan 2004), ›Türkischdeutsch‹ (Kern 2013), ›Türkenslang‹ (Auer 2003), ›Ghetto-Deutsch‹ (Keim 2004) und ›Kiezdeutsch‹ (Dirim/Knappik 2014; Wiese 2012) zum Teil sehr kontrovers diskutiert wurden, kann an dieser Stelle genauso wenig eingegangen werden wie auf Sprechweisen dominant Positionierter gegenüber Migrant*innen, die etwa als ›Xenolekt‹ (Roche 1989) oder als ›Foreigner-Talk‹ (Hinnenkamp 1982) bezeichnet wurden. 30 | An diesem Paradigmenwechsel waren nicht nur Linguist*innen beteiligt, sondern ebenso Sozial- und Kulturwissenschaftler*innen wie Bourdieu, Foucault und Goffman (vgl. Blommaert/Rampton 2011: 3). 31 | Auf diesen Begriff werde ich auch in dieser Arbeit zurückgreifen.
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Daneben wird zunehmend kritisch auf eine ›celebration of diversity‹ (Piller 2016: 19) Bezug genommen, da diese hierarchisierende Anordnungen von Sprachen und Sprecher*innen unsichtbar macht. Sprachbezogene ›Diversity‹ gerinnt, so die Argumentation, zum Euphemismus für Personen und Gruppen, die sprachlich und natio-ethno-kulturell als außerhalb der Norm betrachtet werden (ebd.: 29). Eine solche Kritik betrifft auch das Feiern einer zunehmenden Sichtbarkeit mehrsprachiger Texte und Texte in nicht-dominanten Sprachen im öffentlichen Raum oder in Bildungsinstitutionen, da diese nicht notwendigerweise mit einer Wertschätzung der betreffenden Sprachen und ihrer Sprecher*innen einhergeht: Wenn etwa bestimmte Verhaltensregeln und/oder Verbote nur in bestimmten, nicht-dominantsprachigen Texten formuliert werden, so werden unter allen potentiellen Adressat*innen nur bestimmte Gruppen adressiert, die damit als besonders anfällig für die Übertretung von Regeln konstruiert werden (ebd.: 56). Entsprechende Adressierungen und Hierarchisierungen werden zunehmend unter Rückgriff auf Rassismustheorien analysiert: Dirim und Springsits beschreiben Linguizismus als sprachbezogene Form von Rassismus, die in Vorurteilen, Sanktionen und Diskriminierung gegenüber Individuen oder Gruppen besteht, die eine Migrationssprache oder die Nationalsprache in einer durch Migration beeinflussten Art und Weise sprechen (Dirim 2010) oder von denen dies aufgrund von Namen oder anderen Merkmalen angenommen wird (Springsits 2015). Linguizismus wird als Instrument der Machtausübung gegenüber bestimmten sozialen Gruppen mit der Funktion der (Re-)Etablierung einer sozialen Rangordnung beschrieben (Dirim 2010: 91). In ähnlicher Weise schreibt Weber in seinem Konzept des Sprachrassismus (language racism) Sprache eine Stellvertretungsfunktion für ›race‹ zu 32 (Weber 2015). Der Verweis auf zugeschriebene oder tatsächliche sprachliche Besonderheiten ist somit eine gesellschaftlich relativ breit akzeptierte Form, unerwünschte soziale Gruppen auszuschließen und sie selbst für ihren Ausschluss verantwortlich zu machen (Del Percio/Duchêne 2015; Piller 2016; Weber 2015). Dass sprachliche Heterogenität neben sozialen auch mit rechtlichen Ungleichstellungen verknüpft sein kann, zeigt eine Reihe von Studien, die sich mit der Schnittstelle von Migration, Sprache und Recht befasst: Nationalstaaten führen zunehmend Sprachtests ein, mittels derer Migrant*innen ein bestimmtes Niveau in der Beherrschung der jeweiligen Nationalsprache nachweisen müssen. Sprachtests werden aus diesem Grund auch als rechtliche Instrumente mit dem Ziel einer Kontrolle von Migration gesehen (Avermaet et al. 2009; Hogan-Brun et al. 2009b). Im Kontext von Einbürgerungen spielen Kenntnisse der jeweiligen Nationalsprache schon länger eine Rolle. Sprachtests werden allerdings zunehmend auch zu Hilfsmitteln von Nationalstaaten, die 32 | Dittmar bezeichnet Sprache als ›Torhüter‹ von Institutionen (Dittmar 1997: 122f.).
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
den Aufenthalt und sogar die legale Einreise in Länder des Globalen Nordens regeln sollen (Blackledge 2009; Extra/Spotti 2009; Gatt 2013). Dabei unterscheiden sich die Anforderungen hinsichtlich erforderlicher Sprachniveaus zwischen den einzelnen Nationalstaaten ganz erheblich (Hogan-Brun et al. 2009a). Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass Sprachtests keine geeigneten Instrumente sind, um höhere sprachliche Standards bei Migrant*innen zu erreichen. Vielmehr messen diese nicht nur sprachliche Kompetenzen, sondern können auch zur Durchführung politischer Agenden, etwa der Exklusion nicht erwünschter sozialer Gruppen, gebraucht werden (Ha 2010; Shohamy 2009), weshalb sie auch als undemokratisch kritisiert werden (Piller 2001a). Wie flexibel Migrationsregime33 solche Regelungen im Einzelfall umschiffen, und dass hohe sprachliche Kompetenzen entgegen dem ›Integrationsversprechen‹ auch zum Problem werden können, beschreibt Piller am Beispiel eines geflüchteten Mannes, dem gerade aufgrund seiner hohen Sprachkompetenzen in Englisch, seines als ›zu amerikanisch‹ eingestuften Akzents und seines als ›englisch‹ klassifizierten Namens seine Fluchtgeschichte abgesprochen wurde (Piller 2016: 54-55).34 Der jeweiligen Nationalsprache kommt auch in dominant deutschsprachigen Nationalstaaten zunehmende Bedeutung als Integrationsmessungsinstrument zu (Gatt 2013; Ha 2010; Möllering 2010; Stevenson 2006). An den skizzierten Maßnahmen wurde eine Reihe von Punkten kritisiert: Aus der Perspektive der Sprachlehr- und -lernforschung spricht Einiges dafür, Kenntnisse der Nationalsprache nicht als Voraussetzung, sondern als Ergebnis sozialer ›Integration‹35 in Bildungssysteme und Arbeitsmarkt zu verstehen (Plutzar 2010). Im Umkehrschluss können nicht ausreichende Kenntnisse der Nationalsprache als Effekt sozialer Marginalisierung von Migrant*innen betrachtet werden (Avermaet 2009). Dass auch sehr umfassende Kenntnisse der Nationalsprache aus sozialen Ungleichverteilungen resultierende Spannungen nicht verhindern können, wurde ebenfalls nachgewiesen, etwa am Beispiel der sozialen Unruhen in den Pariser banlieus, an denen Jugendliche beteiligt waren, die hervorragend Französisch sprachen (ebd.: 35). Darüber hinaus wurde die staatliche Förderung geeigneter Kursangebote in Österreich, vor allem auf dem Niveau, das im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen als ›kompetente Sprachverwendung‹ bezeichnet wird, mehrfach als nicht ausreichend kritisiert: Die Förderstruktur stärkt den Verdacht, dass eher die öf33 | Häufig wird in diesem Zusammenhang von testing regimes (Avermaet et al. 2009; Hogan-Brun et al. 2009a) gesprochen. 34 | Piller weist darauf hin, dass dem jungen Mann nach langanhaltenden Debatten und öffentlicher Diskreditierung in den Medien letztendlich Asyl zugestanden wurde (ebd.). 35 | Zum Integrationsbegriff vgl. kritisch Holly/Meinhof 2013; Horner/Weber 2011; Reithofer 2015; Weber 2015.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
fentliche Wahrnehmung von der Bedeutung der Nationalsprache gestärkt werden soll als die Fähigkeit von Migrant*innen, sprachlich für ihre Rechte einzustehen (vgl. Plutzar 2010; Stevenson 2006). Am verpflichtenden Charakter von Sprachtests und/oder Sprachkursen wird darüber hinaus kritisiert, dass darüber Klischees der ›faulen‹ Anderen bedient werden, die nur über Zwang zu (sprachlicher) Bildung bewogen werden können (Ha 2010: 408; Piller 2016: 45-46). Abschließend lässt sich festhalten, dass sprachliche Heterogenität in Migrationsgesellschaften relevant gemacht wurde und wird, um soziale Fragen zu bearbeiten oder ›in den Griff‹ zu bekommen, und dass Sprache dabei zunehmend an die Stelle gesellschaftlich mehrheitlich nicht mehr akzeptierter Differenzierungskategorien wie ›race‹ trat. In den meisten europäischen Staaten zeigen sich die sprachideologischen Vorstellungen, die im letzten Unterkapitel beschrieben wurden, in materialisierter Form als rechtliche Regelungen zur Steuerung und vor allem Begrenzung von Migrationsbewegungen, aber auch an sozialen Ein- und Ausschlussprozessen, die an tatsächlichen oder zugeschriebenen sprachlichen ›Merkmalen‹ von Individuen oder Gruppen ansetzen. Ein wissenschaftlicher Austausch über Möglichkeiten, die Sprachigkeit von Menschen jenseits sprachideologischer Kategorisierungen und vorgefertigter Variablengerüste zu verstehen, sowie das Spannungs- und Beziehungsfeld zwischen Sprache und Gesellschaft auf differenziertere Weise in den Blick zu nehmen, wird zunehmend auch im Kontext von Bildung geführt. Dies ist Thema des nächsten Unterkapitels.
3.2.3 Sprachliche Heterogenität in Bildungsinstitutionen: Von der ›doppelten Halbsprachigkeit‹ zu sprachlichem Handeln unter Bedingungen von Migration Unter den komplexen Funktionen und Aufgaben, die der Schule zugeschrieben werden, finden sich neben der Herausbildung kompetenter Bürger*innen und potentiell produktiver Arbeitskräfte, die den Nationalstaat und seine Strukturen akzeptieren und aufrechterhalten (vgl. Lippi-Green 1997: 105; Del Percio et al. 2017: 64), die Vermittlung von Bildungsinhalten und Kulturtechniken sowie die Zuweisung und Reproduktion von Status (Bourdieu 2012). Die Vermittlung der jeweiligen Nationalsprache stellt ein Verbindungselement der oben genannten Funktionen dar und steht im Zentrum schulischer Aufgaben. Bourdieu sieht den Bildungsmarkt als sprachlichen Markt, der Kapitalunterschiede tendenziell eher verfestigt als auflöst (Bourdieu 2012: 69). Aus diesem Grund kommt dem Bildungssystem für die »Entwicklung, Legitimierung und Durchsetzung der offiziellen Sprache« (Bourdieu 2012: 53) eine entscheidende Rolle zu, womit die Entwertung anderer Formen des Sprachgebrauchs einhergeht. Neben ihrer Aufgabe, Kenntnisse der legitimen Sprache weiterzugeben,
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
bewerten Bildungsinstitutionen allerdings vor allem sprachliche Ressourcen, die Schüler*innen bereits in die Schule mitbringen, und verstärken damit ungleiche Ausgangspositionen und ungleiche Verteilung von Privilegien (Bourdieu 2003). Bourdieus Befunde, die sich vor allem auf Varietäten des Französischen stützen, wurden verschiedentlich für ein besseres Verständnis sprachlicher Heterogenität in Migrationsgesellschaften reflektiert und weiterentwickelt: Über Nationalsprachen und deren Varietäten hinaus werden in entsprechenden Studien weitere Sprachen berücksichtigt, denen in (nicht nur) bildungsinstitutionellen Kontexten unterschiedliches Prestige zukommt. Neben Nationalsprachen36 haben die Sprachen ehemaliger Kolonialmächte und heute ökonomisch privilegierter Nationalstaaten als schulische ›Fremdsprachen‹ ungebrochen hohes Prestige und einen festen Platz in Curricula. Hochschulisch zeigt sich deren Bedeutung zum Beispiel an der Zunahme englischsprachiger Studiengänge. Daneben gelten in bestimmten Schulformen auch Latein und Griechisch als prestigiös, Sprachen, die weniger für die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat als für diejenige zur »Trias Europa*Christentum*Abendland« relevant sind (vgl. Thoma 2015: 197). Grundkenntnisse in Latein oder in beiden Sprachen bilden an vielen europäischen Universitäten nach wie vor die Voraussetzung für die Inskription bestimmter Studiengänge, vor allem prestigereicher wie etwa Humanmedizin oder Rechtswissenschaften. Neben diesen Sprachen sind zudem solche relevant, die häufig als Sprachen ›autochthoner Minderheiten‹ bezeichnet werden. Bereits etymologisch wird über den Begriff ›autochthon‹37 ein Naheverhältnis zum nationalstaatlichen Territorium konstruiert. Dieses äußert sich auch in der curricularen Bevorzugung anderen Sprachen gegenüber, die in Abhängigkeit vom Kontext als ›Migrationssprachen‹, ›Herkunftssprachen‹ oder ›Fremdsprachen‹ bezeichnet werden.
36 | Neben Staaten mit nur einer Nationalsprache gibt es Staaten und Regionen mit gleichberechtigten Sprachen und entsprechenden bildungsinstitutionellen Regelungen. Für unterschiedliche nationalstaatliche und regionale Kontexte vgl. Busch 2013; Canagarajah 2005; Dal Negro 2015; Gogolin 2008 [1994]; Pennycook 2012; Piller 2016a; Schnitzer 2017; Stratilaki-Klein 2016; Weber/Horner 2012. Die Bedeutung von Nationalsprache wird je nach Kontext in Abgrenzung zu anderen Sprachen betont. Dabei spielen neben als ›autochthon‹ bezeichneten Sprachen und sogenannten ›Migrationssprachen‹ auch unterschiedliche Varietäten von Einzelsprachen eine Rolle, etwa österreichisches vs. bundesdeutsches Deutsch (vgl. v.a. Wodak et al. 1998: 451-457; Dirim et al. i. Dr.). 37 | Altgriechisch: αὐτός (autós) ›selbst‹ und χθών (chth ṓ n) ›Erde‹, ›Land‹, versus allochthon von ἄλλος (állos) ›anders‹, ›verschieden‹.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
In dominant deutschsprachigen Regionen wurde die systematische Auseinandersetzung mit Bildung und sprachlicher Heterogenität erst in den 1960er Jahren mit einer Reihe pädagogischer Maßnahmen und Strategien eingeleitet, die später als Ausländerpädagogik bezeichnet wurden. Diese richteten sich vor allem an Kinder sogenannter Gastarbeiter*innen und waren von mehreren Defizitannahmen gekennzeichnet: Den Kindern wurden ›Sprachdefizite‹ zugeschrieben, womit in der Regel nicht ausreichende Deutschkenntnisse gemeint waren.38 Neben diese auf die Ebene von Einzelsprachen bezogene Annahme trat diejenige von Sprachcodes: Der Zielgruppe der ›Ausländerpädagogik‹ wurde ein ›restringierter‹ Sprachcode zugeschrieben, der – im Gegensatz zum ›elaborierten‹ Code39 – für bildungssprachliche Kompetenzen im Kontext Schule als nicht ausreichend angesehen und auf die familiale Sozialisation zurückgeführt wurde. Pädagogisch wurde diesem ›Problem‹ mit Sprach- (als Deutsch-) förderprogrammen begegnet, terminologisch wurde die Mehrsprachigkeit von Kindern mit defizitär-pathologisierenden Begriffen wie etwa ›doppelte/ doppelseitige Halbsprachigkeit‹, ›Semilingualismus‹ oder ›substraktive Zweisprachigkeit‹ bezeichnet,40 Phänomene, die zudem als Gefahr für die kognitive Entwicklung konstruiert wurden (Fthenakis et al. 1985; kritisch: Hinnenkamp 2005).41 In Kritik an und in Abgrenzung zur Ausländerpädagogik entwickelte sich in den 1980er Jahren die Interkulturelle Pädagogik, die von der Annahme einer prinzipiellen Gleichwertigkeit von ›Kulturen‹42 ausging und -geht. Ver38 | In der ausländerpädagogischen Perspektive stehen ›Sprache‹ und dazugehörige Komposita synekdochisch für ›Deutsch‹ und die jeweiligen Komposita. 39 | Diese voreilige Zuschreibung verschiedener Codes lässt sich auch mit einer vereinfachenden Rezeption von Bernsteins (1971 [1965]) Studien erklären (zur Rezeption im dominant deutschsprachigen Raum vgl. Barbour/S tevenson 1998: 202-208). 40 | Der Begriff semilingualism, auf den die deutschen Bezeichnungen zurückgehen, wurde von Hansegård (1968, zitiert nach Hinnenkamp 2005) eingeführt. 41 | Interessanterweise kommt auch in diesen Begriffen die (R)Einheitsideologie und das damit verbundene Begehren zum Vorschein, Sprachen zu ›zählen‹, allerdings nicht in Form einer Addition, sondern eines Teilens von Einzelsprachen. 42 | Allerdings lag und liegt nicht allen Zugängen innerhalb dieser Forschungsrichtung ein theoretisch fundierter Begriff von ›Kultur‹ zugrunde. Verschiedentlich wurden der Interkulturellen Pädagogik aus diesem Grund Blindheit für soziale Ungleichheit (BoosNünning et al. 1984, zitiert nach Nohl 2006: 48f.) und Ethnisierung sozialer Konflikte (Griese 2004) vorgeworfen. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass bereits die Bezeichnung ›Interkulturelle Pädagogik‹ suggeriert, dass diese die »Tatsache der Diversifizierung und Pluralisierung von Problemlagen, Bildungsanliegen und -voraussetzungen sowie die Vielfalt der Bildungsverläufe in einer Migrationsgesellschaft unter der Kategorie ›Kultur‹ beschreibt und behandelt (Mecheril 2010: 64). Diesem Problem entkommen
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
bunden mit dieser Perspektive war und ist die Anerkennung nicht-dominanter Sprachen als prinzipiell gleichberechtigter ›Muttersprachen‹ von Kindern und Jugendlichen. Dies ist mit einer Normalisierung migrationsspezifischer Sprachaneignungsverläufe verbunden und beschreibt Formen individueller Mehrsprachigkeit beispielsweise als ›Muttersprache Zweisprachigkeit‹ (Gogolin/Krüger-Potratz 2010: 180) oder als ›lebensweltliche Zweisprachigkeit‹ (Gogolin 2008 [1994]: 16). Auf institutioneller Ebene nimmt sie Strukturen, Routinen und Formen pädagogischen Handelns in den Blick, die mit der Nationalsprachenideologie verbunden sind. So beschreibt Gogolin die Annahme, dass Einsprachigkeit der ›Normalfall‹ (vgl. auch Ellis 2006) und Mehrsprachigkeit die ›Ausnahme‹ sei, als ›monolingualen Habitus‹43 (Gogolin 2008 [1994]) von Lehrer*innen in de facto mehrsprachigen Schulen. Sie zeichnet die Ursprünge naturalisierender Vorstellungen von sprachlich homogenen Schulen und Unterrichtsformen im 19. Jahrhundert nach und weist auf die Begrenzungen pädagogischen Handelns durch die monolinguale Orientierung hin.44 In Kritik an denjenigen Konzepten der Interkulturellen Pädagogik, denen ein essentialisierendes Verständnis von (National-)Kultur zugrunde lag und liegt, bildete sich die Migrationspädagogik (Mecheril 2004) heraus, die eine systematische kritische Reflexion von ›Kultur‹-Konzepten und gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen fordern. Aus einer Verflechtung entsprechender kritischer Zugänge aus der Bildungswissenschaft und der Linguistik entstanden neue Perspektiven auf sprachliche Heterogenität an Bildungsinstitutionen, die davon ausgehen, dass Wissensproduktion mit der Konstruktion sprachbezogener Ordnungen in Bildungsinstitutionen und Klassenräumen einhergeht (vgl. Martin-Jones/Heller 1996: 132). Diese zeichnen sich vor allem durch zwei Schwerpunkte aus: Zum einen betrachten sie den Umgang mit Sprachen an Bildungsinstitutionen im Kontext sprach-, kultur- und gesellschaftsbezogener Ideologien und Machtverhältnisse und lehnen essentialisierende Zuschreibungen an und Einordnungen von Sprach(en)lernende(n) ab, zum anderen sind sie gekennzeichnet von einem Perspektivenwechsel vom Fokus auf Sprache(n) hin zur Fokussierung auf sprachliches Handeln (Busch 2013; Dirim 2015; Piller 2016; Schnitzer 2017; Thoma/Knappik 2015). Doch wie wird sprachliche Heterogenität aktuell in österreichischen Bildungsinstitutionen relevant (gemacht)? Zunächst werden Sprachen auf statistische Variablen reduziert, die soziale Unterscheidungen nach sich ziehen: auch Versuche begrifflicher Differenzierung wie etwa der Vorschlag Hamburgers einer ›Reflexiven Interkulturellen Pädagogik‹ (Hamburger 1999) nicht. 43 | Clyne spricht in ähnlicher Weise von einem ›monolingual mindset‹ (Clyne 2005, zitiert in Ellis et al. 2010). 44 | Zu Perspektiven von Lehramtsstudent*innen und Sprachlehrer*innen auf sprachideologische Normen vgl. Panagiotopoulou/Rosen 2016 und 2017.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
Schüler*innen werden bei der Einschreibung in die Schule nach ihrer ›Muttersprache‹ gefragt, wobei bis zu drei Nennungen möglich sind (Busch 2015: 45). Die erhobenen Daten fließen in eine Statistik ein, in der die Schüler*innen zu einer Gruppe von »SchülerInnen mit anderer Erstsprache als Deutsch« (vgl. ebd.: 46) homogenisiert werden. Trotz der »fixierenden und symbolisch hierarchisierende[n] Konnotation« (Miladinović 2016: 313) des Labels ›Deutsch als Zweitsprache‹ ist eine entsprechende Kategorisierung notwendig, um unter der Voraussetzung ausreichender Ressourcen und eines entsprechenden Bedarfes (BMBF 2014) sogenannten ›muttersprachlichen Unterricht‹ in Anspruch nehmen zu können. Für welche Sprachen ›muttersprachlicher Unterricht‹ angeboten wird, hängt von etwas unklaren Kriterien ab: Während die Sprachen mancher anerkannter Minderheiten, die zugleich als ›Migrationssprachen‹ gelten können, als Maturafach gewählt und als Lehramt studiert werden können, ist dies bei anderen ›Migrationssprachen‹ nach wie vor nicht der Fall. Dirim und Mecheril führen dies darauf zurück, dass den Sprachen Bosnisch, Kroatisch und Serbisch in Zusammenhang mit der ehemaligen ›Donaumonarchie‹ ein anderer symbolischer Wert zukommt als etwa Türkisch im Rahmen historischer Sprachkontakte (Dirim/Mecheril 2016: 451).45 Neben bundesweit geregelten Positionen verschiedener Sprachen in schulischen Curricula ist die Frage nach diesen Sprachen als Kommunikationssprachen in Unterricht und schulischer Freizeit politisch hart umkämpft, was sich neben politischen und medialen Diskursen (vgl. Schrammel-Leber 2015: 144f.) beispielsweise an Erlässen einzelner Schulstandorte äußert, in denen die Verwendung von Migrationssprachen verboten wird (Dirim 2010; Dirim/Mecheril 2016).46 Empirische Belege im internationalen Kontext zeigen, dass die Einforderung der jeweils legitimen Einzelsprache (Heller 2011: 103-104) oder Varietät (Dirim et al. i. Dr.) an Schulen eingesetzt wird, um die soziale Ordnung zu wahren und Schüler*innen zu disziplinieren. Sie machen aber auch deutlich,
45 | Dieser Befund lässt sich jedoch nicht auf alle Sprachen übertragen: Romani etwa gilt ebenfalls als Sprache einer anerkannten Minderheit, verfügt allerdings nicht über ein den anderen Sprachen vergleichbares Prestige (für einen Überblick über Romani in Österreich vgl. Schrammel-Leber/Halwachs 2015). Möglicherweise hängt dies auch damit zusammen, dass Romani im Unterschied zu den von Dirim und Mecheril genannten und den anderen in Österreich anerkannten Sprachen in keinem Staat Nationalsprache ist. Zu Veränderungen sprachlicher Kategorisierungen in Österreich (u.a. am Beispiel ›Minderheitensprache‹) vgl. Busch 2015: 51; zu einer transnationalen Perspektive auf Romani in Bildungsinstitutionen vgl. Busch 2012b. 46 | Für entsprechende Regelungen in Deutschland vgl. Gogolin 2007. Zu Sprachverboten und -hierarchisierungen in Lehrer*innenzimmern vgl. Fereidooni 2015: 178-182.
3. Theoretische Perspektiven der Untersuchung
dass solcherart legitimierte machtvolle Beziehungen auch in Frage gestellt und widerständig unterlaufen werden können (Martin-Jones/Heller 1996: 131). Die angesprochene Forderung hängt mit der hervorgehobenen Position der jeweiligen Nationalsprache zusammen: In Österreich werden Deutschkenntnisse im Kontext politischer Diskurse als zentral für den Bildungserfolg herausgestellt, wobei im Umkehrschluss die jeweilige »nicht-deutsche Umgangssprache« (Expertenrat für Integration 2013: 17) von Schüler*innen als Ursache für Bildungsungleichheiten, etwa bei institutionellen Übergängen, konstruiert wird. In solchen Argumentationsweisen wird implizit unterstellt, dass sich dominant positionierte als ›deutschsprachig‹ geltende Kinder bildungssprachliche Fertigkeiten wie selbstverständlich aneignen.47 Mit einer solchen Kulturalisierung und Individualisierung sprachlicher Aneignungsverläufe wird die Bedeutung von Schule als Instanz, die über die Legitimität von Sprachen und sprachlichen Praktiken entscheidet (Martin-Jones/Heller 1996; Del Percio et al. 2017: 64), nicht sichtbar. Zum Beispiel geraten diskriminierende Strukturen, etwa die überproportionale Zuschreibung von ›sonderpädagogischem Förderbedarf‹ an Kinder, die als ›nicht muttersprachig deutsch‹ gelten (Lassnigg/ Vogtenhuber 2009) und die Unterrepräsentation von nicht-dominant positionierten Schüler*innen an höheren Schulen (Biffl-Skrivanek 2011) in den Hintergrund. Das zunehmende Bewusstsein über sprachliche Heterogenität in bildungsinstitutionellen Kontexten und das Bemühen um die Förderung sprachlicher Repertoires, die Schüler*innen mitbringen, zeigt sich an einer Reihe sprachbezogener Projekte an Schulen (Schrammel-Leber 2015; Projekt ›My literacies‹ 48, Projekt ›ZwischenWeltenÜberSetzen‹49) und an entsprechenden Professionalisierungsangeboten für Lehrer*innen (PH Wien 2012; PH Steiermark 2016), die sich zunehmend etablieren. Projekte für Kinder und Jugendliche mit besonders hohen Kompetenzen in mehr als einer Sprache50 vermögen die positive Wahrnehmung sprachlicher Heterogenität in der Öffentlichkeit und an Bildungsinstitutionen sicherlich zu stärken, laufen aber auch Gefahr, Vorstellungen zu reproduzieren, denen zufolge Kinder ›mit Migrationshintergrund‹ normalerweise nicht zu entsprechenden Leistungen fähig sind. Aus diesem Grund wird zunehmend kritisch auf eine ›idealisierende Förderung von Mehrsprachigkeit‹ (Schnitzer 2017: 347) und auf Konzepte ›muttersprachlichen‹, ›herkunftssprachlichen‹ und ›zweisprachigen‹ (sofern eine 47 | Zur Bedeutung von Schul- und Bildungssprache für (auch dominant positionierte) Schüler*innen vgl. Fürstenau 2016; Morek/Heller 2012; Mecheril/Quehl 2015. 48 | http://literacies.univie.ac.at/ 49 | http://zwischenweltenuebersetzen.univie.ac.at/ 50 | vgl. beispielsweise den vom Verein ›Wirtschaft für Integration‹ jährlich organisierten mehrsprachigen Redewettbewerb »SAG’S MULTI!«: http://sagsmulti.at/
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der beiden Sprachen als ›Erstsprache‹ der Schüler*innen gilt) Unterrichts hingewiesen. Grundsätzlich wird dem ›muttersprachlichen‹ oder ›herkunftssprachlichen‹ Unterricht in Migrationsgesellschaften besondere Bedeutung zugesprochen, da in ihm Sprachen, die Schüler*innen sprechen und mit denen sie sich mehr oder weniger identifizieren, wertgeschätzt und gefördert werden (vgl. Dirim 2015: 62). Allerdings laufen entsprechende Konzepte Gefahr, einige der Probleme, die mit der Nationalsprachenideologie verbunden sind, zu reproduzieren, etwa, indem sie sich an den Standardsprachen der entsprechenden Nationalstaaten orientieren und sowohl Varietäten als auch nicht-dominante Sprachen und deren Veränderung in Migrationsgesellschaften (vgl. Maas et al. 2004; Dirim/Auer 2004) unberücksichtigt lassen. Damit sind sie nur bedingt geeignet, um am vorhandenen sprachlichen Repertoire von Schüler*innen anzusetzen. Darüber hinaus werden durch die institutionelle Einbettung des Faches außerhalb des Curriculums und innerhalb anderer Sprachenfächer Marginalität, Nicht-Zugehörigkeit und Fremdheit symbolisiert (Dirim 2015: 69), was – trotz anderer Absichten – mit inferiorisierenden Positionierungsangeboten an Schüler*innen einhergehen kann (ebd.). Neben einer solchen Inferiorisierung kann auch eine Romantisierung von ›Muttersprachen‹ erfolgen, über die deren gesellschaftlicher Status in Migrationsgesellschaften ebenfalls unzureichend berücksichtigt wird: Bereits 1979 stellt sich Edwards dem idealisierenden Ziel des Erhalts von Herkunftssprachen kritisch gegenüber. Er plädiert dafür, sich für den Bildungserfolg nicht-dominant positionierter Schüler*innen einzusetzen. Dabei solle nicht der Erhalt dessen im Zentrum stehen, was ihnen als ›kulturelles Erbe‹ (heritage) zugeschrieben wird, sondern ein pädagogisches Handeln, das dieses Erbe, zu dem er auch die Sprache zählt, nicht degradiert (Edwards 1979: 135). In ähnlicher Weise argumentiert Labov (2010) am Beispiel des African American Vernacular English (AAVE), dessen linguistische Charakteristika er in früheren Publikationen ausführlich beschrieben hatte: Er spricht sich für Strategien aus, die nicht am Erhalt des AAVE als Selbstzweck, sondern an der Verbesserung der Situation ökonomisch und sozial marginalisierter Gruppen ansetzen, die diese Varietät sprechen. Er argumentiert, dass der Verlust der Varietät weniger bedauerlich wäre als die aktuelle von sozialräumlicher Segregation gekennzeichnete Situation der Gruppe der Sprecher*innen. Weber (2014) schließt an Edwards an und schlägt anstatt eines ›muttersprachlichen Unterrichts‹ einen ›flexiblen mehrsprachigen Unterricht‹ vor, der sich an den sprachlichen Ressourcen und Bedürfnissen von Schüler*innen orientiert und auch nicht-Standard-Varietäten einschließt. In ähnlicher Weise argumentieren Dirim und Wegner mit ihrem Konzept einer ›reflexiven sprachlichen Normativität‹ (Dirim/Wegner 2016). Ein reflexiver Umgang geht in diesem Sinne über eine ›Behübschung‹ von Unterrichtssituationen durch den gelegentlichen Gebrauch von nicht-dominanten Sprachen hinaus und reflektiert die Eingebundenheit von Schüler*innen in machtförmige gesellschaftliche Strukturen und
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die Bedeutung unterschiedlicher Sprachen darin (ebd.). Niedrig (2015) fordert in ihrer Analyse bildungsinstitutioneller Umgangsweisen mit sprachlicher Heterogenität, dass der Einbezug von Mehrsprachigkeit zu einer sprachlichen Ermächtigung aller Lernenden beitragen muss. Allerdings sind nicht nur Schüler*innen, sondern auch andere schulische Akteur*innen von Sprachideologien und damit verbundenen Hierarchisierungen betroffen: So zeigt Lippi-Green bereits in den 1990er Jahren, dass Professionelle an Bildungsinstitutionen aufgrund von Abweichungen von der idealisierten Standardsprache exkludiert werden (Lippi-Green 1994: 178-182). Im dominant englischsprachigen Raum setzt kurze Zeit später ein reger wissenschaftlicher Austausch zur Muttersprachenideologie ein (Davies 2003; Piller 2001b, 2002; Rampton 2003; Bonfiglio 2010), dem eine Fokussierung auf die Bedeutung von Native Speakerism für den Englischunterricht folgt (Holliday 2006; Pennycook 2012; Piller 2016). Fragen und Befunde dieser Arbeiten werden zunehmend auch für andere Sprachen und nationalstaatliche Kontexte aufgenommen und bearbeitet (Heinemann 2015; Knappik/Dirim 2013; Weber/ Horner 2012) und führen zu ähnlichen Ergebnissen: Dominant positionierte Lehrer*innen werden als besser geeignet für die Vermittlung der Nationalsprache (Del Percio et al. 2017: 65; Knappik et al. 2013a) und für diejenige des Konstrukts ›Nationalkultur‹ (Knappik et al. 2013b) angesehen. Zudem wird die Deutschkompetenz nicht dominant positionierter Lehrer*innen abgewertet (Fereidooni 2015: 176-178). Deren Autorität bei der Evaluierung sprachlicher Kompetenzen von Schüler*innen wird von dominant positionierten Lehrer*innen, auch von solchen nicht-sprachlicher Fächer, in Frage gestellt (Del Percio et al. 2017).51 Spuren kulturalisierender und neo-rassistischer Implikationen, die Holliday dem Label ›non-native‹ im Kontext sprachlicher Bildung zuschreibt (Holliday 2015: 11), finden sich auch in Diskursen innerhalb dominant deutschsprachiger Regionen (Knappik et al. 2013a, 2013b). Abschließend lässt sich festhalten, dass bildungsinstitutionelle Umgangsweisen mit sprachlicher Heterogenität stark von den in Kap. 3.2.1 beschriebenen Sprachideologien geprägt sind, und dass Schüler*innen und Student*innen die von ihnen an die Bildungsinstitutionen mitgebrachten Sprachen auf unterschiedliche Weise kapitalisieren können. Bildungsinstitutionen sind in die Legitimierung machtförmiger Beziehungen zwischen sozialen Gruppen eingebunden, unter anderem, indem sie Sprachen und Sprachwahlpraktiken 51 | Dies macht besonders deutlich, wie sehr Bewertung der Sprache als exklusives Recht derjenigen betrachtet wird, die aufgrund sozialer Merkmale – nicht eines entsprechenden Studiums – als ›rechtmäßige Besitzer*innen‹ der jeweiligen Sprache gesehen werden (vgl. Del Percio et al. 2017: 65f.). Gleichzeitig wird nicht-dominant positionierten Lehrer*innen eine besondere Eignung für die Zielgruppe ›mit Migrationshintergrund‹ zugeschrieben (ebd.).
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legitimieren oder delegitimieren (Martin-Jones/Heller 1996: 128). (Sprach-)Bildungsprogramme werden bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Eingebundenheit in Nationalstaaten von dominanten Gruppen definiert, die dafür weniger oder mehr Widerstand erfahren (Martin-Jones/Heller 1996: 128). Akteur*innen an Bildungsinstitutionen tragen – wenn auch unabsichtlich – zur Reproduktion sozialer Hierarchien bei, aber sie stellen diese und die herrschende symbolische Ordnung auch in Frage (Martin-Jones/Heller 1996: 128; Thoma i. Dr.). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Spannungsfeld Gesellschaft, Bildung und Sprache lässt sich zusammenfassend als Weg von einer defizitorientierten über eine romantisierende hin zu einer machtkritischen Perspektive beschreiben, die den Ausgangspunkt der Analysen im empirischen Teil dieses Textes bildet. Für die vorliegende Arbeit sind die in diesem Kapitel behandelten Themen und Fragen von Bedeutung, da sie im Sinne sensibilisierender Konzepte an das empirische Material herangetragen werden können. Die Student*innen, die im Rahmen dieser Studie ihre Lebensgeschichten erzählten, sind auf zweifache Weise in die beschriebenen nationalen, sozialen und bildungsinstitutionellen Gefüge eingebunden: Zum einen agieren sie als Student*innen des Faches Germanistik in einem Raum, in dem – so meine Annahme – die National- und Standardsprache auf besondere Weise gehütet wird. Darüber hinaus werden sie als zukünftige Deutschlehrer*innen und/oder als Expert*innen für Deutsch in anderen beruflichen Segmenten (etwa als Dolmetscher*in, Redakteur*in, Wissenschaftler*in oder Bibliothekar*in) zu Vertreter*innen von mit Sprache verknüpften sozialen Ordnungen. In dieser Doppelheit sind sie in besonderer Weise gefordert, ihre biographischen Erfahrungen mit Sprache(n) mit dem systematisierten und objektivierten Wissen, das an den Institutionen gelehrt wird, zu verbinden und biographischen Sinn daraus zu ziehen. Den bisher referierten Studien ist gemeinsam, dass sie die soziale Konstruiertheit von Sprache und die Bedeutung von Sprachideologien an Bildungsinstitutionen in Migrationsgesellschaften auf sehr differenzierte Weise herausarbeiten konnten. Allerdings thematisieren diese Arbeiten die Bedeutungsdimension von Sprache für die Subjekte nur in eher bedingtem Ausmaß. Wo dies erfolgt, geschieht es methodologisch häufig auf eine Art und Weise, die es lediglich ermöglicht, die aktuelle subjektive Perspektive zu bestimmten Themen in den Blick zu nehmen. Die vorliegende Arbeit setzt an der so entstandenen Leerstelle an und füllt diese, indem sie an den Konstruktionen der Subjekte in ihrer Eigenlogik ansetzt, mittels derer diese ihr Selbst vor dem Hintergrund ihres zeitlichen Gewordenseins präsentieren und in der Interviewinteraktion Kontinuität und Kohärenz herstellen. Dies ermöglicht es nicht nur, den biographischen Eigensinn der Subjekte, sondern darüber hinaus auch gesellschaftliche Makrostrukturen zu rekonstruieren, die im Kontext sprachlicher Heterogenität von Bedeutung sind.
4. Methodologie und Methode Es ist der soziale Prozeß des Zusammenlebens, der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten. (Blumer 2004 [1969]: 340) In einem topographischen Sinne verstanden, bezeichnet ›Entdeckung des Alltags‹ zunächst die (Wieder-) Erschließung einer Wirklichkeitsregion, die die Soziologen bei ihren theoretischen Höhenflügen und methodologischen Tiefbohrungen weitgehend aus dem Blick verloren hatten. (Bergmann 1985: 302)
4.1 I nterpretative S ozialforschung als methodologisches R ahmenkonzep t Die interpretative Forschungstradition bildet einen wichtigen Bezugsrahmen für diese Arbeit und zugleich für diejenigen Traditionen der Biographieforschung und der Linguistik, denen ich mich zuordne. In diesem Kapitel werden zentrale historische Stationen und theoretische Grundpositionen nachgezeichnet, die für die Entwicklung der interpretativen Biographieforschung und der interpretativen Soziolinguistik bedeutsam waren. Dazu zählen der Pragmatismus, der Symbolische Interaktionismus, die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie, die ethnomethodologische Konversationsanalyse und die interpretative Soziolinguistik. Methodologische Grundannahmen und Konsequenzen, die sich aus den vorgestellten theoretischen Prämissen ergeben, werden in Kap. 4.2 diskutiert. Die Bezeichnung der interpretativen Forschungstradition geht auf Thomas P. Wilson zurück, der das interpretative Paradigma – in Abgrenzung vom normativen Paradigma – erstmals 1970 beschrieb (Wilson 1970). Mit dem normativen Paradigma waren sehr heterogene Ansätze mit unterschiedlichen Grund-
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annahmen bezeichnet, denen eine Konzeption von menschlichem Handeln zugrunde liegt, die von der Annahme geleitet ist, dass Menschen auf der Basis erworbener Dispositionen und Rollenerwartungen (role-expectations) handeln (vgl. ebd.: 698-700). Dieses Paradigma ist deshalb normativ, weil die Bezugnahme auf Normen als handlungsbestimmend gesehen wird. Im Unterschied dazu liegt dem interpretativen Paradigma ein Verständnis von Gesellschaft zugrunde, dem zufolge Menschen nicht auf die sie umgebende Welt ›reagieren‹, sondern in Interaktion mit anderen soziale Wirklichkeit erzeugen (Wilson 1970: 700). Damit wird aus dem als automatisiert und passiv gedachten Rollenvollzug, wie er dem normativen Paradigma zugrunde liegt, eine aktive Rollenübernahme (vgl. Keller 2012: 13), und die Perspektive richtet sich auf die Art und Weise, wie Akteur*innen ihr Handeln in einem interpretativen Prozess planen und entwerfen. Eine zentrale philosophische Grundlage des interpretativen Paradigmas ist der Pragmatismus, eine Philosophie des Handelns, als deren wichtigste Vertreter Charles S. Peirce (1839-1914), John Dewey (1859-1952) und Herbert Mead (1863-1931) gelten. Im Unterschied zum Behaviorismus, in dem menschliches Handeln mittels Reiz-Reaktions-Schemata beschrieben wird, entwirft der Pragmatismus ein Handlungskonzept, in dessen Mittelpunkt das Interesse für »Verwicklungen des Denkens und Handelns in den konkreten Situationen des Handlungsvollzuges und Problemlösens« (vgl. Keller 2012: 37) steht. In diesem Sinne werden Menschen nicht als ›cultural dopes‹ (Garfinkel 1994 [1967]: 68)1 gedacht, die kulturell etablierten Normen und Institutionen ausgeliefert sind und diese blind befolgen, sondern ihre Handlungen und Interaktionen werden als »wissensgeleitete und zugleich prinzipiell wissensgenerierende Prozesse [und demnach als] interpretative Vorgänge« (Hitzler 2014: 61) gedacht. Neben der Anwendung von Routinehandlungen werden Menschen im Falle von Störungen oder Irritationen kreativ und erweitern ihre Deutungsräume und Strategien des Handelns. Problemlösungen sind zudem niemals nur individuelle Angelegenheiten, sondern finden im Rahmen einer sozial ausgedeuteten, d.h. mit Symbolen versehenen Welt statt (vgl. Keller 2012: 34). Menschliches Denken kann somit immer nur als in soziale Prozesse eingebunden verstanden werden, und ›Gesellschaft‹ und ›Individuum‹ stehen in einer wechselseitigen Konstitution zueinander (vgl. Rosenthal 2014: 33). Die Vertreter*innen des Pragmatismus waren durch vielfältige Netzwerke mit denen der Chicago School of Sociology verbunden, einem Kontext, der vor allem von William I. Thomas und Robert E. Park geprägt wurde. Die Chicago School of Sociology entstand als Forschungskontext, der Lösungen für soziale 1 | Neben solchen soziologischen Perspektiven kritisiert Garfinkel auch psychologische Sichtweisen, die Menschen als ›psychological dopes‹ begreifen (Garfinkel 1994 [1967]: 68).
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Probleme einer rapide wachsenden Großstadt bringen sollte. Zu diesen zählten schlechte Beschäftigungsbedingungen für Industriearbeiter*innen, soziale Segregation, Rassismus und eine hohe Kriminalitätsrate. Damit verbunden waren wiederum Streiks, Großdemonstrationen, Auseinandersetzungen über Arbeitsbedingungen sowie Reformbewegungen. Die Chicago School of Sociology ist vor allem durch drei Merkmale geprägt: Zum einen orientierten sich die Soziolog*innen an der pragmatistischen Handlungstheorie, zum zweiten galt ihr inhaltliches Interesse dem Zusammenhang von ökonomischen und politischen Entwicklungen sowie der Veränderung sozialer und kultureller Ordnungen, was sie am Beispiel Chicagos untersuchten. Drittens untersuchten sie die soziale Welt mit rekonstruktiven Methoden (vgl. Schubert 2007). Ihre besondere Bedeutung wird nach wie vor in der Verbindung der theoretischen Grundlagen des Interpretativen Paradigmas mit qualitativer Sozialforschung gesehen. Eine der ersten großen Studien dieser Schule, die in den Jahren 1918-1920 unter dem Titel ›The Polish peasant in Europe and America‹ von William I. Thomas und Florian Znaniecki publiziert wurde, beschäftigt sich mit Migrationserfahrungen. Die darin behandelten Themen, die am Beispiel von aus dem bäuerlichen Umfeld in Polen migrierten Personen aufgegriffen wurden, sind heute noch hoch aktuell. Die Studie basierte auf 15.000 Briefen an Familienangehörige, Zeitungen und Migrant*innenorganisationen, auf Akten polnischer und amerikanischer Behörden sowie auf einer von den Autoren in Auftrag gegebenen schriftlichen Autobiographie eines Migranten. Auch wenn das Fehlen einer expliziten methodologischen Konzeption später kritisiert wurde (vgl. Glaser/Strauss 2010 [1967]: 29-31), gilt die Studie nach wie vor als Klassiker der Biographieforschung. Eine der zentralen theoretischen Grundlagen der interpretativen Sozialforschung ist der symbolische Interaktionismus, den Blumer2 als Ansatz »zur Erforschung des menschlichen Zusammenlebens und des menschlichen Verhaltens« (Blumer 2004 [1969]: 321) beschreibt, in dem er »die wesentlichen Bestandteile eines provozierenden philosophischen Entwurfes, der in besonderem Maße auf soziale Erfahrungen abgestimmt ist« (ebd.: 343), sieht. In einem programmatischen Text zu einer Aufsatzsammlung, in der er sich vor allem auf George Herbert Mead und John Dewey bezieht, formulierte er 1969 die zentralen theoretischen Grundannahmen dieser Forschungsrichtung, von denen vor allem seine »drei einfachen Prämissen« (ebd. 322) immer wieder zitiert werden:
2 | Blumer gilt als Namensgeber des Symbolischen Interaktionismus. Zu seiner Perspektive auf den Begriff vgl. Blumer 2004 [1969]: 321).
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen »Die erste Prämisse besagt, daß Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ›Dingen‹ wird hier alles gefaßt, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale, wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.« (Blumer 2004 [1969]: 322)
Der vom Pragmatismus inspirierte Text ist gekennzeichnet von einer Kritik an Vorannahmen, denen zufolge sich ›menschliches Verhalten‹ als »Produkt verschiedener Faktoren« fassen lässt (ebd. 323).3 Im Gegensatz dazu misst Blumer Bedeutungen, die ›Dinge‹ für Menschen haben, einen zentralen Stellenwert zu. Bedeutungen werden als soziale Produkte verstanden, die von miteinander interagierenden Personen(gruppen) hervorgebracht werden und deren Gebrauch laufend Interpretationsprozessen unterliegt, in denen Bedeutungen von Handelnden ausgesucht, geprüft, zurückgestellt, neu geordnet und/oder umgeformt werden. Der symbolische Interaktionismus richtet somit den Blick auf Handelnde, die im Rahmen fortlaufender Aktivitäten Handlungslinien entwickeln und ihre Handlungen – die wiederum von der Bedeutung verschiedener ›Dinge‹ getragen sind – in Interaktionsprozessen aufeinander beziehen. Dieser Prozess kann nicht als Summation von ›Faktoren‹ verstanden werden, sondern muss vor dem Hintergrund der Positionen, die Personen in unterschiedlichen Gruppen einnehmen, vor dem Hintergrund früherer Handlungen verschiedener Interaktionsteilnehmer*innen und deren laufender (Neu-) Interpretationen interpretiert werden. Ebenso wie Blumer war auch Alfred Schütz (1899-1959), dessen Arbeit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie zugerechnet wird, vom Pragmatismus inspiriert. Nach seiner Emigration aus Österreich in die USA im Jahr 1939 arbeitete Schütz an einer sozialtheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften, v.a. der ›verstehenden‹ Soziologie, wie sie von Max Weber (1864-1920) entwickelt worden war. Schütz war besonders interessiert an der Frage, wie der Sinn, den Menschen mit ihrem Handeln verbinden, verstanden werden kann, 3 | Für den Bereich der Psychologie nennt Blumer als Beispiele für solche Faktoren Stimuli, Einstellungen, (un-)bewusste Motive etc., für den der Soziologie hingegen soziale Positionen/Rollen, Normen und Werte, soziale Zwänge etc.
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und entwarf eine Theorie über die Intentionalität menschlichen Verhaltens im individuellen Bewusstsein. Dabei beschäftigte er sich vor allem mit der Frage, in welchem Verhältnis Selbstverstehen und Fremdverstehen zueinander stehen (Keller 2012: 181). Er geht von einer engen Verzahnung alltäglicher und sozialwissenschaftlicher Verstehensprozesse aus. Sowohl wissenschaftliche als auch alltägliche Wissensformen enthalten, so Schütz, Konstruktionen: ›Reine‹ oder ›einfache‹ Tatsachen gibt es nicht, sondern alle Tatsachen sind »immer interpretierte Tatsachen« (Schütz 2004 [1971]: 158). Auch wissenschaftliche Begriffe und Modelle begreift Schütz als Konstruktionen. Allerdings handelt es sich dabei um sogenannte »Konstruktionen zweiten Grades« (ebd.: 159), die sich auf solchen gründen, mit denen Menschen ihre Sozialwelt im Voraus gegliedert und interpretiert haben. Ein weiterer für die Interpretative Sozialforschung relevanter Bezugsrahmen ist die auf Harold Garfinkel (1917-2011) zurückgehende Ethnomethodologie, die von den bisher genannten Zugängen inspiriert ist und diese weiterentwickelt. Als Theorie des Handelns distanziert sie sich vom normativen Paradigma, als Theorie der Ordnung und der Interaktion nimmt sie eine Anleihe beim Symbolischen Interaktionismus, und als Theorie des praktischen Verstehens orientiert sie sich an Alfred Schütz (vgl. Abels 2009: 88). Allerdings ist für die Ethnomethodologie offen, wie Interpretationen funktionieren, weshalb sie sich »die Analyse der Konstitutionsbedingungen« (Balog 2001: 106) zum Ziel setzt, »die in den Interaktionsprozessen schon vorausgesetzt werden« (ebd.). Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelte sich die ethnomethodologische Konversationsanalyse, deren Untersuchungsgegenstand sprachliche Interaktionen sind, die insofern in ›natürlichen‹ Situationen abgelaufen sind, als sie nicht von Forscher*innen »festgelegt, kontrolliert oder manipuliert« (Bergmann 1981: 18) wurden. Das gilt als Voraussetzung dafür, um den »kommunikativen Prinzipien der (Re-)Produktion von sozialer Ordnung in der situierten sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktion« (Bergmann 1984: 3, Hervorh. i. O. fett) auf die Spur zu kommen. Die Ethnomethodologie war nicht nur für die ethnomethodologische Konversationsanalyse prägend, sondern für die Soziolinguistik insgesamt (vgl. Spitzmüller 2013a: 263). Ähnlich wie interpretative Sozialforschung, aber auf den Forschungsgegenstand Sprache fokussiert, fasst die interpretative Soziolinguistik Sprachgebrauch »nicht als Index sozialer Strukturen auf, sondern die Gesellschaft wird von ihr umgekehrt als von den Beteiligten interaktiv hergestellter, interpretierter ›Sinn‹ betrachtet, der kommunikativ verhandelt wird« (Spitzmüller 2013b: 179). Im Unterschied zur quantitativen Soziolinguistik, in der sprachliche Variablen über statistische Korrelationen mit sozialen Kategorien verknüpft werden, ohne dabei die Konstruktion dieser Kategorien in konkreten Interaktionssituationen zu berücksichtigen, wendet sich die interpretative Soziolinguistik gegen Vorstellungen statischer Identitäten und vorgegebener sozialstruktureller Katego-
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rien, die den Sprachgebrauch von Individuen und Gruppen bestimmen (vgl. Günthner 1993: 39f.) und betrachtet Identität als soziales Konstrukt, das durch (sprachliches) Handeln immer wieder neu hervorgebracht wird (vgl. Spitzmüller 2013b: 171-182). Gesprächsbeteiligte handeln dieser Logik zufolge auf der Basis ihres Alltagswissen über die soziale Welt: »ihr Wissen über Partnerbeziehungen, über (die Kraft von) Kategorisierungen im Sinne von Status, sozialer Schicht und Klasse; ihr Wissen über Interaktionsrollen, über den ›Marktwert symbolischer Kapitale‹ (Bourdieu) und über Macht- und Herrschaftsstrukturen; ihr Wissen über institutionelle Kommunikationsbedingungen wie auch über die Verwendbarkeit von Stilen in typisierten sozialen Kontexten – Wissensbestände, die sich in die konkrete Produktion und Interpretation kommunikativer Praxis ›übersetzt‹ finden« (Selting/Hinnenkamp 1989: 9). Die Verwendung bestimmter sprachlicher Gestaltungs- und Ausdrucksmittel ist somit nicht als Index sozialer Zugehörigkeit zu verstehen, sondern als soziale Praxis, durch die soziale Zugehörigkeit hergestellt wird (Spitzmüller 2013b: 174). Wie Zugehörigkeiten und Beziehungen konstruiert und gemeinsame Interaktionsrahmen verhandelt und hergestellt werden, lässt sich besonders gut durch eine Analyse von Kontextualisierungshinweisen in Gesprächen verstehen: Auf bauend auf Cook-Gumperz/Gumperz (1976) wird Kontext nicht als material gegeben, sondern als interaktiv konstruiert betrachtet (vgl. Auer 1986). Kontextualisierungskonventionen wird auch in Arbeiten zu ›interkultureller‹ Kommunikation besondere Bedeutung zugeschrieben (vgl. Günthner 1993: 47ff.). Im Unterschied zu einigen linguistischen Arbeiten, in denen natio-ethno-linguale Zugehörigkeit (z.B. ›deutsch‹ oder ›chinesisch‹) und/oder ein bestimmtes Verhältnis zu Sprachen (z.B. ›muttersprachig‹) bereits im Untersuchungsdesign festgeschrieben sind, sind in der vorliegenden Arbeit auch diese Kategorien empirisch zu ergründen.
Grounded Theor y Methodologie als analytisches Rahmenkonzept Die forschungspraktische Umsetzung der Prämissen der Interpretativen Sozialforschung wurde am konsequentesten von Glaser und Strauss mit der Forschungslogik der Grounded Theory Methodologie (GTM) umgesetzt. Die Theoriegenerierung ist den Autoren zufolge ein Prozess des kontinuierlichen Verwebens von Datensammlung und -analyse (Glaser/Strauss 2010 [1967]). Der damit verbundene Anspruch der Theoriegenerierung aus empirischem Material ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, weil er über das hinausgeht, »was an prüf barem theoretischen Vorwissen und daraus abgeleiteten Hypothesen bereits existiert« (Mey/Mruck 2011: 11) und damit die Entdeckung von Neuem ermöglicht. Kathy Charmaz, die der ›zweiten Generation‹ der GTM zugerechnet wird (vgl. ebd. 11), entwickelte die konstruktivistische GTM. Diese Variante zeichnet sich durch eine relativistische Epistemologie aus, in der Wissen als sozial konstruiert verstanden wird und eine beständige
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(selbst-)reflexive Haltung der Forscher*innen – auch gegenüber ihren eigenen analytischen Konstruktionen – gefordert wird (Charmaz 2011). Die Konstruktion von Forschungsprozessen wird von »Perspektiven, Privilegien, Positionen, Interaktionen und geographischen Standorten« (Charmaz 2011: 184) der Forscher*innen beeinflusst, deren laufende Reflexion im Forschungs- und Schreibprozess notwendig ist. Eine solche »analytische Reise« (Corbin 2011) ermöglicht ein abduktives Forschungsverfahren,4 das nicht auf eine Verifizierung abzielt, an dessen Ende aber »eine intersubjektiv aufgebaute und ›geteilte Wahrheit‹« (Reichertz 2011: 290) steht. Die Bedeutung theoretischen Kontextwissens in der GTM besteht vor allem in sensibilisierenden Konzepten, die die Aufmerksamkeit für bestimmte Phänomene im Feld erhöhen (Dausien 1996: 97). Daneben sind Metatheorien als »begrifflich-theoretische Grundlagen« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 29) von Bedeutung. Diese beziehen sich nicht unmittelbar auf den Forschungsgegenstand, legen aber bestimmte Forschungsverfahren nahe, so wie in der vorliegenden Arbeit die biographietheoretische Perspektive die Arbeit mit biographischen Interviews nahelegt. Das Theoretische Sampling als Kernelement der GTM (Glaser/Strauss 2010 [1967]: 61-91) bringt mit sich, dass – im Unterschied zum statistischen Sampling – die Stichprobenkonfiguration, nämlich Anzahl und Merkmalsverteilung der Stichprobe, nicht vorab festgelegt werden kann, weil die einzubeziehenden Fälle erst entlang des sich entwickelnden theoretischen Wissens definiert werden können (Glaser/Strauss 2010 [1967]: 65-76; Mey/Mruck 2011: 28). Damit ist auch die Form der Repräsentativität verbunden: Der Anspruch der Verallgemeinerung in der interpretativen Sozialforschung gründet sich nicht auf statistischer, sondern auf »theoretischer Repräsentativität« (Hermanns 1992: 116). Die Schritte, aus denen der Forschungsprozess in den einzelnen Richtungen der GTM besteht und die verschiedentlich beschrieben wurden (u.a. von Breuer 2010; Glaser/Strauss 2010 [1967]; Mey/Mruck 2011), werden in der vorliegenden Arbeit nicht einzeln gegangen. Vielmehr wird das Konzept in den Mittelpunkt gestellt, mit dem der »zentrale[n] Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie in qualitativer Forschung« (Dausien 1996: 95) begegnet wird. 4 | Glaser und Strauss bezeichnen die GTM in ihrem Buch »Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung« (engl.: »The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research«) noch als induktiv (Glaser/Strauss 2010 [1967], 20-24). Später spaltete sich die GTM in zwei ›Schulen‹ auf, die theoretischem Vorwissen ganz unterschiedliche Bedeutung zuschrieben: Während Strauss davon überzeugt war, dass theoretisches Vorwissen in die Interpretation der Daten einfließen muss (vgl. auch Strauss/ Corbin 1990), meinte Glaser, dass Codes und Kategorien aus den Daten allein ›emergieren‹ müssten. Zu dieser Meinungsverschiedenheit und für eine Begriffsgeschichte und -kritik der Abduktion vgl. Reichertz 2011.
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4.2 B iogr aphieforschung als M ethode 4.2.1 Das biographisch-narrative Inter view als Erhebungsinstrument Fritz Schütze und seine Mitarbeiter*innen entwickelten innerhalb des theoretisch-methodologischen Rahmens des Symbolischen Interaktionismus das narrative Interview und brachten es in die deutschsprachige Methodendiskussion ein, wo es sich inzwischen über die Fachgrenzen hinweg als Erhebungsmethode etabliert hat und zu den grundlagentheoretisch fundiertesten Verfahren innerhalb der qualitativen Sozialforschung gehört (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 79). Den interaktionistischen Prämissen folgend ist das narrative Interview konsequent an den Prinzipien der Offenheit und Kommunikation orientiert (vgl. Hoffmann-Riem 1980). Dahinter steht die Annahme, dass im narrativen Format »Aspekte der individuell biographischen Handlungs- und Erfahrungsstruktur« (Dausien 2001b: 69) und des lebensweltlichen Ausschnittes, »in dem die Geschichten und Argumentationen situiert sind« (ebd.), deutlicher sichtbar werden als in anderen Formen der Sachverhaltsdarstellung, etwa in Beschreibungen oder Argumentationen (vgl. auch Kallmeyer/Schütze 1977; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 80). Diese Annahme hängt mit der Konzeptualisierung der biographischen ›Erfahrungsaufschichtung‹ (Schütze 1984) zusammen, bei der es sich um »einen aktiven Prozess der Sinnkonstruktion [handelt], in dem Vergangenes und Zukünftiges, Erfahrung und Erwartung, Retrospektion und Prospektion ineinandergreifen« (Dausien 2000: 109). Diesen Überlegungen folgend ist es ein zentrales Anliegen des biographisch-narrativen Interviews, Gesprächspartner*innen zu einer längeren Erzählung von selbst erlebten Ereignissen »unter der Perspektive der Erfahrungsrekapitulation« (Schütze 1987: 14) zu motivieren. Im Unterschied zu anderen Verfahren steht dabei die Rekonstruktion der Handlungsgeschichte im Zentrum. Auf bauend auf der linguistischen Erzählanalyse von Labov und Waletzky (1973) geht Fritz Schütze von der Wirksamkeit der sogenannten ›Zugzwänge‹ des Erzählens (Schütze 1983, 1984; Kallmeyer/Schütze 1977) aus, die mit dem Bemühen von Erzähler*innen, in der Interviewinteraktion eine möglichst kohärente Geschichte zu gestalten, erklärt werden können. Auf bauend auf empirischen Analysen unterscheiden Kallmeyer und Schütze (1977) drei ›Zug-
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zwänge‹5: der ›Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang‹6 meint die Notwendigkeit, die Geschichte unter bestimmten für das Gespräch als relevant erachteten Gesichtspunkten zu erzählen, was es erfordert, »Einzelereignisse und Situationen unter Gesichtspunkten der Gesamtaussage der zu erzählenden Geschichte fortlaufend zu gewichten und zu bewerten« (Kallmeyer/ Schütze 1977: 188). Der ›Gestaltschließungszwang‹ meint die Notwendigkeit, begonnene Geschichten zu Ende zu erzählen, und der ›Detaillierungszwang‹ führt dazu, dass Zuhörer*innen über notwendige Hintergrundinformationen, die nicht als bekannt vorausgesetzt werden können, in die Situation versetzt werden, der Rekapitulation der erzählten Erfahrungen folgen zu können. Die von Schütze (1983) ausgearbeitete und auf unterschiedliche Weise modifizierte 7 Grundstruktur sieht eine Dreiteilung des biographischen Interviews vor: Zu Beginn steht die Bitte zu erzählen,8 die sich entweder auf die gesamte Lebensgeschichte oder auf besonders interessierende Phasen beziehen kann. Manchmal folgen Konkretisierungswünsche, Nachfragen und zum Teil längere Aushandlungsprozesse zwischen den Beteiligten, in denen der Rahmen für die
5 | Ruokonen-Engler kritisiert am Begriff ›Zwang‹, dass er mit einem »Gefühl des Ausgeliefertseins« (Ruokonen-Engler 2012: 130) verbunden sei und nicht die Möglichkeit beinhalte, »Erzählkonventionen und Diskurse zu brechen« (ebd.). Sie schlägt aus diesem Grund vor, von ›Bedürfnis‹ zu sprechen (ebd.). Unabhängig von der Angemessenheit der Begriffe ist meines Erachtens die Frage, ob Erzähler*innen in der jeweiligen sprachlichen Interaktion Diskurse und Konventionen (zu) brechen (vermögen), eine empirische, die in der Auseinandersetzung mit den verschriftlichten Gesprächsinteraktionen beantwortet werden muss. 6 | Auf diesen ›Zwang‹ wird in der Literatur meist nur mit dem Begriff ›Kondensierungszwang‹ Bezug genommen. 7 | Viele Arbeiten beziehen sich auf die von Rosenthal (2014) in Anlehnung an Schütze (1983) vorgeschlagene Struktur. 8 | In den meisten biographieanalytischen Studien wird mit Bezug auf Schütze von ›Erzählaufforderung‹ (Schütze 1983) gesprochen. Ruokonen-Engler kritisiert an diesem Begriff zu Recht, dass er »einen merkwürdigen Klang eines Ausgeliefertseins beinhaltet« (Ruokonen-Engler 2012: 147, Fußnote 35) und schlägt stattdessen vor, von ›Erzählimpuls‹ zu sprechen. Dieser Begriff enthält allerdings eine kausalistische Implikation und erinnert an Versuchsanordnungen und stimulus-response-Modelle, die der Komplexität der Gesprächsinteraktion aus meiner Sicht nicht gerecht werden, weshalb ich es – eingedenk der pragmatischen Vielschichtigkeit des Begriffes – vorziehe, von ›Bitte‹ zu sprechen und damit stärker den interaktiv-kommunikativen Charakter des Gesprächs betone.
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Erzählung noch einmal ausgehandelt wird (Schwendowius 2015: 349).9 Darauf folgt die biographische Selbstpräsentation der Interviewpartner*innen. Um diesen einen größtmöglichen »Raum zur Gestaltentwicklung« (FischerRosenthal/Rosenthal 1997: 142) und zur Entfaltung der eigenen Relevanzstrukturen zu eröffnen, ist es von besonderer Bedeutung, in dieser Phase nicht durch Detaillierungsfragen oder Kommentare zu unterbrechen. Dass manche Erzähler*innen nicht unmittelbar in den von Schütze beschriebenen ›Erzählfluss‹ gelangen, ist auch der asymmetrischen Situation in der Interviewinteraktion geschuldet: Es besteht ein »Informations- und Intimitätsgefälle« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 82), das dadurch gekennzeichnet ist, dass Erzähler*innen einer fremden Person Einblick in ihr Leben geben, während sie von ihrem Gegenüber keine entsprechende ›Selbstoffenbarung‹ erwarten können (ebd. 87-86; Deppermann 2013). Trotzdem führt das uneingeschränkte ›Rederecht‹ doch in vielen Fällen zu sehr detaillierten Erzählungen. Rosenthal schlägt vor, während dieser ersten Phase der biographischen Selbstpräsentation, die im Anschluss an Schütze zumeist als ›Haupterzählung‹ bezeichnet wird, Notizen zu angesprochenen Erlebnissen und Themen zu machen und daraus »einen fallspezifischen, am Erleben und den Relevanzen des Interviewten orientierten Leitfaden« (Rosenthal 2014: 161, Hervorh. N.T.) für den Nachfrageteil des Interviews zu entwickeln. Signalisieren die Interviewten mit einer sogenannten ›Erzählkoda‹, dass sie mit ihren Ausführungen zu Ende sind,10 kann der Nachfrageteil beginnen. Dieser beginnt mit erzählinternen Nachfragen zur Vertiefung bereits erwähnter Inhalte, die sich am thematischen Auf bau der Haupterzählung orientieren. Im darauf folgenden externen Nachfrageteil können Themenbereiche angesteuert werden, die noch nicht er9 | Eine Interviewsituation ist nicht auf ›natürliche‹ Weise ein Interview, auch wenn in Transkripten die Rollenverteilung über die Angaben ›Interviewer*in‹ und ›Erzähler*in‹ o.ä. scheinbar zweifelsfrei gegeben ist. Vielmehr müssen Gesprächsteilnehmer*innen eine gegebene Situation erst als ›Interview‹ herstellen, in dem sie sich den Interaktionsmodus ›Interview‹ wechselseitig als solchen anzeigen. Dafür wenden sie unterschiedliche konversationelle Techniken, Interpretationsressourcen und Wissensbestände an (vgl. Uhlmann 1989). Uhlmann identifiziert in ihrem Text eine Reihe solcher ›Schaltstellen zum Interview‹ (ebd.: 137), die von unterschiedlichen Aktivitäten gekennzeichnet sind, mittels derer die Gesprächsteilnehmer*innen »den Kontext ›Interview‹ über die Herstellung und Zurschaustellung der Kategorien ›Interviewer/Interviewter‹ produzieren« (ebd.: 133). Inwieweit und wie genau diese Prozesse der Interpretation über das Transkript zugänglich sind, hängt unter anderem davon ab, zu welchem Zeitpunkt das Aufnahmegerät eingeschaltet wird (vgl. Bergmann 1985). 10 | Ein Beispiel für eine solche sprachliche Markierung ist »So, das war’s: nicht viel, aber immerhin …« (Schütze 1983: 285).
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wähnt wurden. Rosenthal schlägt – im Unterschied zu Schütze (1983) – vor, ausschließlich erzählgenerierende Fragen zu stellen und Meinungs- oder Begründungsfragen zu vermeiden (Rosenthal 2014: 162-163). Nach dem konsensuellen Abschluss des Gesprächs kann eine Gesamtbewertung der Interviewsituation durch die Erzähler*innen erbeten werden (Fischer-Rosenthal/ Rosenthal 1997: 147).
4.2.2 Biographische Erzählungen als Konstruktionen Neben den zuvor beschriebenen ›Zugzwängen‹ identifiziert Schütze sogenannte ›kognitive Figuren des Stegreiferzählens‹ als Ordnungsschemata, an denen sich Erzähler*innen bei ihren biographischen Selbstrekonstruktionen orientieren (Schütze 1984). Diese vier strukturgebenden Schemata, die Schütze auf der Basis empirischen Materials rekonstruiert, sind (1) Biographieträger*in und Ereignisträger*innen, die »in einem Geflecht grundlegender und sich wandelnder sozialer Beziehungen« stehen (ebd.: 85), (2) Ereignis- und Erfahrungsverkettungen, die sich in einer »Abfolge von Zustandsveränderungen des Biographieträgers« zeigen (ebd.: 88), (3) »Situationen, Lebensmilieus, soziale Welten« (ebd.: 98-102) und (4) die »Gesamtgestalt der Lebensgeschichte« (ebd.: 102-108). Dabei geht Schütze davon aus, dass die Segmentierung des Erzählstroms »von der Struktur der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung« der Erzähler*in als Biographieträger*in und ihrer »gegenwärtigen Haltung zu dieser« abhängt (ebd.: 80). Dass sich diese Ordnungsschemata auch in der Struktur der Erzählung zeigen (ebd.: 108-114), macht biographische Erzählungen zu einem besonders gut geeigneten Material für die Untersuchung biographischer Prozesse. Diese beschriebene Nähe des Erzählens zur Ebene des in der Narration dargestellten Handelns und Erlebens legt aber keineswegs ein Verständnis von Erzählungen als transparenten Fenstern zur ›wirklichen Wirklichkeit‹, zur ›historischen Wahrheit‹ oder zum ›Geist‹ nahe (vgl. Deppermann 2013: [6]; Dausien 1996: 112). Der ein solches Verständnis nahelegende Vorwurf um die sogenannte ›Homologie-These‹ Schützes lässt sich viel eher mit einer auf Missverständnissen beruhenden Rezeption seiner Studien erklären (vgl. auch Dausien 1996: 112; Schwendowius 2015: 125). Schütze legt nicht die Annahme zugrunde, dass eine Erzählung direkte Rückschlüsse auf das ›wirkliche‹ Leben zulasse. Vielmehr betont er, dass die Struktur der Erzählung und diejenige der Erfahrung homolog seien (vgl. Schütze 1976,11 1984). Darüber, 11 | Der Vollständigkeit halber sei allerdings erwähnt, dass manche Formulierungen, etwa die, dass »der Sprecher [die Erfahrungen] einem in der aktuellen Sprechsituation anwesenden Hörer direkt übermittelt« (Schütze 1976: 7), eine verkürzte Rezeption durchaus auch nahelegen oder zumindest erklären könnten.
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dass biographische Texte »nicht als Abbild vergangener Ereignis- und Handlungsabläufe verstanden werden können« (Schwendowius 2015: 128), besteht in der aktuellen Biographieforschung Konsens (ebd.). Bereits Hahn hatte ja darauf hingewiesen, dass die Thematisierung eines Lebenslaufes »nicht als Spiegelung mißverstanden werden [darf]« (Hahn 2000: 101), sondern dass Biographien eine ›selektive Vergegenwärtigung‹ von grundsätzlich unendlich vielen den Lebenslauf konstituierenden Elementen darstellen und somit Zusammenhänge stiften, »die es so vorher gar nicht geben konnte« (ebd.). In diesem Sinne sind biographische Erzählungen »nicht einfach als Summation von Handlungssequenzen auf einer biographischen Zeitachse« (Dausien 1996: 105) zu verstehen, sondern als subjektive Konstruktionen, »in denen ›objektive‹ Bedingungen in verschiedener Hinsicht gebrochen sind« (ebd.). Diese Konstruktionen verfügen über eine je spezifische Eigenlogik, mittels derer Subjekte Kontinuität und Kohärenz herstellen und ihr Selbst »in einer zeitlichen Figur des Werdens und Gewordenseins« (Dausien 2006: 190) präsentieren. Dazu gehört, dass in biographischen Erzählungen auch dem Zufälligen, Kontingenten ein Sinnzusammenhang gegeben wird (Rehbein 1982: 52), und dass ein Individuum im Erzählen »ein Selbstverständnis in die bruchhaften Ereignisse seines Lebens hinein[konstruiert] und versucht, seine Rolle in den verschiedenen Abschnitten seiner Biographie durchsichtig zu machen« (ebd.: 52). Biographien können mit Rehbein als Interpretationen »unter dem Erfordernis der Selbstdarstellung« (ebd.) betrachtet werden. Der sozialkonstruktivistisch orientierte Ansatz von Dausien zeigt am Beispiel der empirischen Geschlechterforschung, dass individuelle Biographien nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Kontexte verstanden werden können, und dass sich »Gesellschaftlichkeit im Konkreten, ›am Fall‹ und ›durch den Fall hindurch‹« (Dausien 2016: 37, Hervorh. i. O.) rekonstruieren lässt. Die von ihr vorgeschlagene Heuristik ermöglicht es, gesellschaftliche Makrostrukturen wie Klassen-, Geschlechter- oder Migrationsverhältnisse interpretativ zu rekonstruieren. Allerdings werden diese Verhältnisse, im Unterschied etwa zu sozialisationstheoretischen Modellierungen, aus der Perspektive des Subjekts bzw. des konkreten ›Falles‹ analysiert (Dausien 2001a: 102). Biographische Texte müssen danach befragt werden, welche narrativen Muster, Gattungen und Genres, welche kulturellen Modelle der Thematisierung von Biographien, welche konkreten Vorbilder, Erzähltraditionen und kollektiven Deutungsmuster, und auch welche sozialen Vorgaben und informellen Regeln und Formen biographisierender Praxis (Dausien 2010: 370) darin vorzufinden sind. Tuider und Pietig zeigen in ihren postkolonial informierten Studien, dass etwa die ›Erzählaufforderung‹ nicht selbstverständlich in jeden Kontext übertragen werden kann, und dass deren Anpassung bzw. Abänderung forschungsmethodologisch notwendig sein kann (Tuider 2007: 12, FN 26; Pietig 2014: 189). Aus einer an sprachlicher Heterogenität interessierten
4. Methodologie und Methode
Perspektive stellt sich die Frage, wie Mehrsprachigkeit in der Interviewinteraktion relevant wird. Das narrative Interview in der Tradition von Schütze wurde zunächst für einen monolingualen Kontext entwickelt, was eine Weiterentwicklung für transnationale (Apitzsch/Siouti 2013; Siouti 2013) und postkoloniale Kontexte (Pietig 2014; Ploder 2009) erforderlich machte. Lutz fordert im Anschluss an Spivak, dass sich empirisch arbeitende Sozialwissenschaftler*innen mit der Frage auseinandersetzen müssen, »wie der Produktionsvorgang des Sprechens aus der Sicht der postkolonialen Kritik zu analysieren und schließlich erneut sprachlich zu fassen ist« (Lutz 2010: 118). Eine Reihe von Arbeiten setzt sich unter anderem mit der Frage auseinander, welche Herausforderungen sich in mehrsprachigen Kontexten an die Interviewinteraktion stellen bzw. in welchen Facetten sich diese zeigt (Treichel 2004a; Pietig 2014). Daneben gibt es eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Sprachwahl in der Forschungsbeziehung und in der Interviewinteraktion (RuokonenEngler 2012: 137f.; Schnitzer 2017; Siouti 2013: 98) sowie mit der Bedeutung von Übersetzungen im Forschungsprozess (Bittner 2013; Lutz 2011; PalengaMöllenbeck 2009; Pietig 2014; Schnitzer 2017). Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist die Bedeutung von Mehrsprachigkeit zentral. Welche Bedeutung diese an welchen Stellen der Interaktion entfaltet, ist allerdings eine empirisch zu ergründende Frage.
4.2.3 Das biographische Inter view als Interaktion Auch wenn Schütze davon ausgeht, dass die Struktur biographischer Erzählungen weniger von der Orientierung an einem Gegenüber abhängt als von der »Struktur der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung« (Schütze 1984: 80) und der gegenwärtigen Haltung zu dieser (ebd.), so lässt sich aus seinen Texten durchaus ein Bewusstsein für Erzählungen als Interaktionsprozesse (vgl. Schütze 1976: 8f.) und von Interviewer*innen als »(relativ) aktive[n] Interaktionspartner[*innen]«12 (ebd. 9) herauslesen. Die interaktive Konstruktion von Biographien wird in der Biographieforschung bereits seit längerem diskutiert. So bezeichnet Völter das Interview im Anschluss an Hahn als ›Biographiegenerator‹ und weist auf das Paradox hin, »dass wir als BiographieforscherInnen etwas erforschen, was wir selbst helfen, mit hervorzubringen« (Völter 2006: 275). Rose betont in ihrer Studie, dass biographische Erzählungen »aus Anlass der Forschung« (Rose 2012: 232) konstruiert sind, und dass deshalb der interaktive Prozess deren Hervorbringung reflektiert werden muss. Die kulturelle Praxis der Selbst- und Fremdtypisierung, die
12 | Seine Bezeichnung »Hörer« legt diese aktive Rolle nicht unmittelbar nahe, dennoch wird sie in seinen Beschreibungen der Interaktion deutlich.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
(auch) im Interview hervorgebracht wird, wird als ›doing biography‹ bezeichnet (Dausien/Kelle 2005). Auch in der Linguistik wird der interaktive Rahmen, in dem Gespräche stattfinden, schon seit Langem reflektiert:13 Das Untersuchungsmaterial der ethnomethodologischen Konversationsanalyse bilden sprachliche Interaktionen. In Bezug auf den Erhebungskontext steht das biographische Interview außerhalb der von der ethnomethodologischen Konversationsanalyse festgelegten Rahmenbedingungen (Bergmann 1981: 18), da es keine ›natürliche‹ Situation darstellt.14 Allerdings muss das nicht als ›Störung‹ eines idealen Ablaufs gesehen werden: vielmehr kann die gesamte Interaktionsgeschichte, die mit der Suche nach geeigneten Interviewpartner*innen und der Kommunikation vor dem Interview beginnt (Helsig 2010) und über das Abschalten des Aufnahmegerätes nach dem Interview hinausgeht, in die Analyse der Daten miteinbezogen werden. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse bietet eine Reihe sensibilisierender Konzepte, die auf der Ebene der Interpretation an die Texte herangetragen werden können. Dazu zählen die sozialen Organisationsweisen verschiedener kommunikativer Gattungen, wie etwa die Beschreibung von Episoden, die Sachverhaltsdarstellung oder die Erzählung in Gesprächen, sowie die kontextsensitive Interpretation von Äußerungen in Form des ›recipient design‹ (Sacks et al. 1978 [1974]: 43),15 also des Zuschnitts von Äußerungen auf die jeweilige Adressat*in.16 Deppermann plädiert dafür, Interviews konsequent als Interaktionsereignisse zu sehen, in denen beide Gesprächspartner*innen durch performatives Handeln gemeinsam Sinn konstruieren. Dieser Sinn ist vom Prozess und Zweck der Interaktion, den in ihr hergestellten pragmatischen Strukturen sowie der Interaktionsgeschichte, »innerhalb derer sich geteiltes Wissen, zunehmende Vertrautheit und wechselseitige Einschätzungen von Einstellungen und Präferenzen entwickeln« (Deppermann 2013: [32]), mitstrukturiert. Auch wenn 13 | Ich gehe nicht von einer starren Trennung verschiedener Disziplinen aus. Die sozialwissenschaftliche Biographieforschung ist in mehreren Disziplinen u.a. in der Linguistik, verankert, und viele Wissenschafter*innen arbeiten explizit interdisziplinär (zu einer aktuellen Darstellung vgl. Dausien 2016). 14 | Mit ›natürlicher‹ Situation ist hier gemeint, dass Gespräche unter Bedingungen stattfinden, »die nicht vom Untersucher festgelegt, kontrolliert oder manipuliert wurden« (Bergmann 1981: 18). 15 | Dieses basiert auf Annahmen über Vorwissen und Haltungen des Gegenübers. Es zeigt sich u.a. auf der Ebene von Wortwahl und der Auswahl von Inhalten (ebd.). Darüber hinaus ist es von (Annahmen über) soziale(r) Erwünschtheit (Crowne/Marlowe 1960; Hartmann 1991) mitstrukturiert. 16 | Zu ausführlichen Literaturhinweisen und einem Überblick über andere konversationsanalytische Themen vgl. Bergmann 1981.
4. Methodologie und Methode
biographische Interviews formal von einem weitgehenden ›Rederecht‹ auf der Seite der Erzähler*in und von Zurückhaltung auf der Seite der Forscher*in sowie inhaltlich von einer Orientierung an den Relevanzstrukturen der Erzähler*innen gekennzeichnet sind, müssen auch die Interviewer*innenbeiträge in die Analyse miteinbezogen werden, und zwar als »sowohl faktisch steuernder, ermöglichender wie restringierender, bedeutungsschaffender Rahmen für das Handeln der Befragten im Transkript« (ebd.: [20]). Eine Interpretation der Interviewer*innenbeiträge ermöglicht ein umfassenderes Verständnis der Beiträge der Interviewten, da diese nicht wie abhängige Variablen auf Fragen ›reagieren‹, sondern mit den Interviewer*innen in einen Aushandlungsprozess eintreten und »selbstbestimmt Optionen und Spielräume der Diskursund Themengestaltung« (ebd.: [45]) nutzen sowie ihre Sicht oft auch entgegen den Relevanzen der Interviewenden artikulieren (Pietig 2014). Da biographische Interviews wie alle anderen sprachlichen Interaktionen in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden sind, bedarf es einer Reihe von Überlegungen zu Fragen, die über die sprachliche Interaktion hinausgehen, die im folgenden Kapitel reflektiert werden.
4.2.4 Repräsentation und das Verhältnis zwischen Erzähler*in und Forscher*in Edward Said, einer der Begründer*innen Postkolonialer Theorie, zeigte mit seinem Buch Orientalismus (2014 [orig.: Orientalism, 1978]), wie an wissenschaftlichen Institutionen des ›Westens‹ Wissen über kolonisierte Territorien produziert und zur Herrschaftsstabilisierung und Legitimierung von Gewalt eingesetzt wurde. Damit verbunden ist eine hierarchisierende Konstruktion eines westlichen ›Wir‹ und einer Gruppe der ›Anderen‹, die in einem unauflöslichen, dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Ähnlichen Machtverhältnissen geht Gayatri C. Spivak nach und prägt in diesem Kontext den Begriff ›Othering‹ als Prozess, durch den die Anderen erst als Andere hervorgebracht werden und gleichzeitig »am Sprechen gehindert bzw. nicht gehört und damit in der Artikulation ihrer Bedürfnisse sprachlos gemacht werden« (Riegel 2016: 37). Diese von Castro Varela und Dhawan als »Different-Machen«17 (Castro Varela/Dhawan 2005: 60) bezeichnete Praxis produziert Machtverhältnisse, innerhalb derer ›die Anderen‹18 zum Zweck der Erhöhung des Selbstbildes der verandernden Personen oder Gruppen funktionalisiert werden.
17 | Der Begriff wird im Deutschen sehr unterschiedlich übersetzt u.a. als ›Veranderung‹ (Pietig 2014) oder ›Besonderung‹ (Schwendowius/Thoma 2016). 18 | Die Praxis kann auf jede Differenzierungskategorie angewendet werden, etwa Geschlecht, sexuelle Zugehörigkeit, Religion, Migrationshintergrund, Behinderung, Klasse.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
Auch in der europäischen Migrationsforschung war lange Zeit ein defizitorientierter Blick auf Migrant*innen vorherrschend, der zur Stabilisierung von hierarchischen Verhältnissen beitrug. Zunehmend etablieren sich aber auch in der deutschsprachigen Wissenschaft kritische Ansätze, die sich unter anderem auf Postkoloniale Theorie beziehen (Castro Varela 2015) und die soziale Bedingtheit von Wissensproduktion thematisieren. Mit dem Begriff ›NichtAusländerforschung‹ bezeichnen Mecheril et al. (2013) Ansätze, die nicht ›die Anderen‹ zum Gegenstand von (Migrations-)Forschung machen, sondern diesen »in dem Verhältnis, das Individuen zu natio-ethno-kulturellen Ordnungen eingehen und eingehen müssen, in den politischen und kulturellen Kämpfen, den empirischen Ausprägungen, den Veränderungen und Beharrlichkeiten dieses Verhältnisses« (ebd.: 7) sehen. Somit hat es kritische Migrationsforschung mit einem relationalen Gegenstand zu tun (ebd.). Als Forschungskritik reflektiert sie die Reproduktion ethnisierender und kulturalisierender Zuschreibungen auf der Ebene der Datenproduktion, der Interpretation und der Ergebnisdarstellung (Ploder 2013: 142) und bezieht so das Verhältnis zwischen Forschenden und ›Beforschten‹ in den Forschungsprozess mit ein. Dieses Verhältnis ist mit einem Differenz-Dilemma19 verbunden, das konstitutiv für kritische Forschung ist: Mit der Entscheidung, Bildungs- und Sprachbiographien in der Migrationsgesellschaft aus der Perspektive der Subjekte zu rekonstruieren, wurden alienierende Differenzen, die eigentlich hinterfragt und dekonstruiert werden sollen, reproduziert, und zwar bereits in der Ansprache potentieller Interviewpartner*innen als »Student*innen, die eine (eigene oder familiale) Migrationsgeschichte haben« (vgl. 5.1). Diese Ansprache beinhaltet nicht nur die Vorannahme, dass die eigenen oder familialen Migrationserfahrungen relevant für die Sprach- und Bildungsbiographie sind. Der Fokus auf die Gruppe der Germanistik-Student*innen legt zudem ein beforschenswertes und grundsätzlich erklärungsbedürftiges Verhältnis von ›Migrationsgeschichte‹ einerseits und dem Studium der dominanten Sprache in der Migrationsgesellschaft andererseits zugrunde. Allerdings lässt sich eine solche Reproduktion von Differenz(-beschreibungen) und Relevanzsetzungen nicht vermeiden (vgl. Mecheril/Melter 2012: 271), da Differenzierungskategorien benannt werden müssen, um ihre Strukturen und Funktionen sowie ihre Produktionsmechanismen besser verstehen zu können.
19 | Martha Minow beschrieb in ihrem Buch ›Making all the difference‹ (1991) erstmals das ›dilemma of difference‹, das sie einerseits als notwendig sieht, um Diskriminierung zu überwinden, das andererseits aber Stigmatisierungen fortschreibt. Minow bezieht sich in ihrer Analyse vor allem auf Behinderung, das Dilemma betrifft aber natürlich jede Differenzierungskategorie, z.B. auch Gender (vgl. Smykalla 2010).
4. Methodologie und Methode
Scharathow schlägt vor, dem Dilemma zu begegnen, indem ›Beforschte‹ nicht »als Anders-Seiende, sondern als soziale Verhältnisse – unter bestimmten Gesichtspunkten (Hervorh. N.T.) – Anders-Erfahrende« (Scharathow 2014: 79) in den Blick genommen werden. Damit meint sie gesellschaftliche Verhältnisse, die für die einen mit unsichtbar bleibenden Privilegien einhergehen, von den anderen aber als restriktiv, beschränkend und diskriminierend erlebt werden können (ebd.). Auf die Gefahr, die einer solchen Perspektive zugrunde liegt, nämlich die einer Dichotomisierung in Dominante und Dominierte, Mächtige und Machtlose, Täter und Opfer20 weist Scharathow hin und schlägt vor, ihr zu begegnen, in dem der Blick auf die Unterschiedlichkeit sozialer Positionierungen, Erfahrungen und entwickelten ›Taktiken‹ der Subjekte gelegt wird (ebd.). Auch Schwendowius (2015) konstruiert ihr Sample entlang der Linie ›Migrationserfahrung‹. Sie begegnet der Gefahr der Essentialisierung, indem sie bewusst offen lässt, »welche Bedeutung ›Migration‹ für die Bildungswege und Studienerfahrungen der Subjekte jeweils hat« (Schwendowius 2015: 135), was auch »die Möglichkeit einer Irrelevanz der familialen Migrationsgeschichte bzw. der Positionierung als ›Migrationsandere‹ oder ihrer Bedeutungslosigkeit in bestimmten Kontexten und Konstellationen« (ebd.) impliziert. Neben den skizzierten Differenzierungskategorien, die die Konstruktion des Samples rahmen, ist auch das Verhältnis von Forscherin und ›Beforschten‹ von hierarchischen Verhältnissen mitstrukturiert, und das, was Forscher*innen sehen und interpretieren, ist von dem Ort aus mit hervorgebracht, an dem sie sich befinden (Mecheril/Melter 2012: 271). Allerdings meine ich, dass auch dieser Ort nicht statisch ist, sondern dass er sich vielmehr als biographischer Weg von Ortsveränderungen und in Zusammenhang damit sich wandelnden Position(ierung)en beschreiben lässt, und dass sich somit auch das Verhältnis zwischen Forschenden und ›Beforschten‹ nicht notwendigerweise in einfachen Dichotomisierungen wie ›mehrheitsangehörig‹ und ›nichtmehrheitsangehörig‹ beschreiben lässt, sondern sich in jeder Interviewsituation unterschiedlich gestaltet: Wurde ich von einigen Interviewpartner*innen als mehrheitsangehörige Österreicherin angesprochen, fragten andere nach den biographischen Wegen, die mich nach Österreich gebracht hatten. Auch die Bedeutung von Sprache gestaltete sich in den Interviews unterschiedlich: Während eine Interviewpartnerin ganz selbstverständlich in ihrem Dialekt sprach und ich in diesem Gespräch genauso selbstverständlich meinen verwendete, wurde in einem anderen Gespräch gerade mein nicht-Sprechen des Dialekts von meinem Interviewpartner thematisiert. Von manchen Gesprächspartner*innen, mit denen ich Standard sprach, wurde ich als sprachlich von 20 | Eine weitere Gefahr besteht m.E. auch in einer wohlwollenden Praxis der Romantisierung, Exotisierung und Infantilisierung (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 60; zitiert nach Pietig 2014: 185).
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
mehrheitsangehörigen Österreicher*innen ununterscheidbar wahrgenommen; andere äußerten sich nicht zu diesem Thema. Mit einer Interviewpartnerin begann das Gespräch zunächst auf Italienisch, wechselte dann aber ins Deutsche, da meine Gesprächspartnerin darauf Rücksicht nahm, dass mir diese Sprache vertrauter ist. Auch andere Sprachen, von denen manche Gesprächspartner*innen aus den Vorgesprächen wussten, dass sie mir biographisch vertraut sind, spielten in den einzelnen Gesprächen eine Rolle. In diesem Sinne kann es keine ›richtige‹ Repräsentation(spolitik) und auch kein ›richtiges‹ (sprachliches) Verhältnis zwischen Forscher*innen und ›Beforschten‹ oder ›richtige‹ Forscher*innen für bestimmte Themen oder ›Beforschte‹ geben. Zudem können durchaus auch Minorisierte in privilegierten Positionen gewaltvoll sprechen (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007: 34). Einen diesbezüglich hilfreichen Zugang schlägt Said vor, indem er die Frage relevant setzt, ob Forschende ihre Intellektualität »in die Dienste der Macht oder in die Dienste der Kritik, Gemeinschaft, des Dialogs und des moralischen Sinns« (Said 1981, zit.n. Castro Varela 2015: 313) stellen. In diesem Sinne fordert er eine ›interpretative Wachsamkeit‹ (ebd.), die auf einer intensiven Auseinandersetzung mit und kritischen Betrachtung von etablierten Bildern beruht und eine Voraussetzung für ›weniger gewaltsame Repräsentationen‹ darstellt (ebd.). In ähnlicher Weise argumentiert Dausien, dass es für das Dilemma der eigenen Eingebundenheit in soziale Verhältnisse keine Lösung gibt, sondern nur »unterschiedliche Grade von Reflexivität« (Dausien 2000: 98). Daraus ergibt sich die Forderung nach einer Forschungshaltung, die die Bedeutung von Zuschreibungen und die Positionierung der an der Forschung Beteiligten im gesamten Forschungsprozess konsequent reflektiert (Schwendowius 2015: 134). Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es eine Forschung außerhalb von Machtverhältnissen nicht geben kann und dass eine solche Forderung auch in dieser Arbeit nicht eingelöst werden kann. Den damit einhergehenden Dilemmata wurde aber theoretisch und methodisch reflektiert begegnet: Theoretisch bietet Biographieforschung einen fruchtbaren Zugang, da die der biographischen Perspektive immanente Zeitlichkeit »den Forschungsprozess systematisch auf die empirische Re-Konstruktion und Theoretisierung von Veränderungen, Umstrukturierungen, Wandlungen [lenkt]« (Dausien 2009: 163). Die damit einhergehende »Temporalisierung ihres Gegenstandes« (ebd.) ermöglicht es, Konstruktionen von Sprache und Migration nicht als statische Gebilde, sondern als historisch und gesellschaftspolitisch gerahmte, subjektbezogene Strukturen zu sehen, die veränder- und wandelbar sind. Methodisch bietet der re-konstruktive Zugang mit dem ihm immanenten Prinzip der Offenheit die Möglichkeit, Vorannahmen und Reifizierungen zurückzuweisen, umzudeuten, in Frage zu stellen und zu irritieren (Dausien 2009; Schwendowius 2015; Pietig 2014; Ploder 2009; Thoma i. Dr.). Zwar zeigte sich
4. Methodologie und Methode
quer über die Interviews hinweg, dass die offene Bitte zu erzählen, in der weder Migration noch Sprache relevant gesetzt wurde, die bei der Suche nach Interviewpartner*innen getroffenen Ansprachen und Kategorisierungen nicht außer Kraft zu setzen vermochte und dass beide Kategorien in fast allen Erzählungen eine zentrale Rolle spielen. Nichtsdestotrotz sind die Bedeutungen, die lebensgeschichtliche Erfahrungen für die einzelnen Subjekte haben, äußerst vielfältig, und meine Gesprächspartner*innen machten von der oben angesprochenen Möglichkeit, das Interview auf eine für sie passende Weise zu nutzen und gesellschaftliche und wissenschaftliche, tatsächliche und unterstellte Vorannahmen in Frage zu stellen, auf unterschiedliche Weise Gebrauch. Diese im gesamten Forschungsprozess reflektierten Verhältnisse finden sich in den Interpretationstexten an den jeweils relevanten Stellen wieder und werden im Abschlussteil der Arbeit noch einmal zusammenfassend reflektiert.
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5. Dokumentation des Forschungsprozesses 5.1 F eldzugang , E rfahrungen im F eld und S ampling Die Konstruktion des Samples war von mehreren Auswahlkriterien geleitet, die ich im Laufe des Forschungsprozesses gemäß dem theoretischen Sampling (Glaser/Strauss 2010 [1967]: 61-91) entwickelte und überarbeitete. Das erste Auswahlkriterium bildete eine eigene oder familiale Migrationserfahrung der Student*innen: Damit sind unterschiedliche Formen der Migration und eine Vielzahl an Bildungswegen eingeschlossen: Das Sample war sowohl offen für Student*innen, die bereits in Österreich geboren sind, als auch für solche, die im Rahmen einer (familialen) Migration in ihrer frühen Kindheit oder während ihrer Schulzeit nach Österreich gekommen sind. Zudem waren Student*innen inkludiert, die ihre Schullauf bahn und ein Studium oder Teile eines Studiums in anderen nationalen Kontexten durchlaufen haben und erst im Laufe ihres Studiums nach Österreich gekommen sind. Das Sample wurde nicht entlang sprachlicher oder natio-ethno-religio-kultureller Differenzlinien entwickelt, um im Forschungsprozess nicht vorab (vermeintliche) Besonderheiten und Unterschiede zu (re-)produzieren (vgl. Mecheril/ Melter 2012). Das zweite Auswahlkriterium bildete die Teilnahme der Student*innen an einem germanistischen Studiengang in Österreich. Damit waren zum einen Student*innen eingeschlossen, die einen Studiengang belegen, in dem Deutschlehrer*innen ausgebildet werden – entweder im Rahmen eines Lehramtsstudiums oder im Rahmen eines Studiengangs, der auf eine professionelle Tätigkeit im Feld Deutsch als Zweit- und Fremdsprache vorbereitet. Zum anderen war das Sample für Student*innen offen, die ein Doktoratsstudium belegen. Diese Auswahl war von der Vorannahme geleitet, dass in den genannten Studiengängen Vorstellungen zur sprachlichen Eignung für pädagogische Berufe (vgl. Knappik/Dirim 2013), andere sprachbezogene Berufe (vgl. Khakpour 2016) oder wissenschaftliche Tätigkeiten relevant sind. Zudem versprach ich mir durch diese Form der Heterogenität – vor allem vor dem Hintergrund der Kombinationspflicht des Lehramtsstudiums mit einem anderen Fach – interessante Befunde zu den Bedingungen verschiedener Studienkontexte.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
Auf formaler Ebene sind die Fälle somit hinsichtlich der eigenen oder familialen Migrationserfahrung der Student*innen, der aktuellen biographischen Phase des Studiums zum Interviewzeitpunkt sowie der fachlichen Ausrichtung des Studiums vergleichbar. Mein erster Zugang erfolgte über Lehrende eines österreichischen Germanistik-Instituts, die den Kontakt zu zwei potentiellen Interviewpartner*innen herstellten, die ich um ein biographisches Interview bat. Obwohl in beiden Fällen Interviews zustande kamen, verabschiedete ich mich von dieser Strategie – zum einen, weil die ›biographische Passung‹ für ein Interview von den Lehrenden zugeschrieben wurde, zum anderen, weil ich vermeiden wollte, dass die Interviewbereitschaft auch aus Gründen zustande kam, die mit Abhängigkeiten und/oder Loyalitäten im jeweiligen Studienkontext verbunden waren (vgl. Schwendowius 2015: 139). Auf der Suche nach einem alternativen Weg erstellte ich einen Flyer, auf dem ich mich und mein Forschungsprojekt vorstellte und meine Kontaktdaten für Interessierte angab. Das Problem potentiell problematischer Zuschreibungen blieb allerdings bestehen. Es war mir deshalb wichtig, die Ansprache auf dem Flyer so zu wählen, dass sie möglichst wenige Etikettierungen enthielt und sich gleichzeitig möglichst viele Student*innen angesprochen fühlen konnten. Ich entschied mich für die Formulierung ›Student*innen, die eine (eigene oder familiale) Migrationsgeschichte haben und mehrsprachig sind‹. In der Beschreibung meines Projektes bezog ich mich auf ›vielfältige Annahmen und Erwartungen‹, die in Diskursen über Student*innen mit Migrationshintergrund ins Spiel kommen und betonte mein Interesse an den Perspektiven der Subjekte, an deren Lebensgeschichten, Sprachen, individuellen Bildungswegen und Erfahrungen an der Universität und im Studium. Als Verteilungsstrategie wählte ich wieder den Weg über Lehrende und bat mehrere Dozent*innen, die Flyer über Lernplattformen oder E‑Mail-Verteiler zu versenden. Es kamen nach jeder dieser ›Aussendungen‹ relativ zeitnah (meistens innerhalb weniger Stunden) E‑Mails von ein oder zwei Student*innen, die sich entweder zu einem Interview bereit erklärten oder ihre ›Passung‹ mit dem Projekt klären wollten. Insgesamt fiel auf, dass sich bestimmte Student*innen nicht meldeten, nämlich solche, die in der öffentlichen Wahrnehmung und in vielen wissenschaftlichen Diskursen nicht als ›mit Migrationshintergrund‹ gelten: etwa Student*innen aus Skandinavien, westeuropäischen Ländern und dominant deutschsprachigen Ländern. Ich entschied mich dazu, diesem Problem zu begegnen, indem ich eine weitere Version des Flyers entwarf, in dem ich solche Student*innen explizit als potentielle Interviewpartner*innen ansprach. Weitere Interviewpartner*innen konnte ich über die Vermittlung von Student*innen gewinnen, mit denen ich bereits Interviews
5. Dokumentation des Forschungsprozesses
geführt hatte. Zum Teil schlugen die Interviewpartner*innen von sich aus vor, Kontakte zu Freund*innen oder Kolleg*innen herzustellen. Im Zuge des ersten Teils der Datenauswertung, die in Form eines Wechselprozesses zeitlich mit der Erhebung zusammenfiel (vgl. Glaser/Strauss 2010 [1967]), wurde deutlich, dass die Berücksichtigung der sprachlichen Differenzierungskategorie Dialekt-Standard, die unabhängig von transnationalen Migrationsprozessen besteht, für die Weiterentwicklung, Prüfung und Ergänzung bereits entwickelter Ideen und Konzepte hilfreich wäre. Aus diesem Grund wurde noch ein Flyer ausgeschickt, in dem ›Dialektsprecher*innen‹ ebenfalls zu einem Interview eingeladen wurden. Diese Entscheidung war zum einen von theoretischen Überlegungen und empirischen Befunden zur Bedeutung unterschiedlicher deutschsprachiger Varietäten in Bildungskontexten geleitet (Elspaß/Maitz 2011; Maitz/Elspaß 2011; Dirim et al. i. Dr.). Daneben waren auch theoretisch-methodologische Überlegungen dahingehend leitend, die Bedeutsamkeit ›nicht-deutschsprachiger‹ Hintergründe für den Kontext Migration nicht bereits im Prozess der Auswahl der Interviewpartner*innen zu unterstellen. Darüber hinaus war es mir wichtig, Student*innen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Zugehörigkeiten ins Sample aufzunehmen, weshalb ich die Texte in den Flyern mit der Sternvariante formulierte (vgl. hornscheidt 2012: 299-303). Ähnlich wie im Kontext ›Migration‹ und ›Sprache‹ beruhen auch im Kontext ›Gender‹ Statistiken und Kategorisierungen auf Vereinfachungen, Exklusionen und Vorannahmen (Österreichische Hochschüler_innenschaft 2016), weshalb eine ›richtige‹ Verteilung der Geschlechter auf ein Sample unmöglich ist. Vielmehr war es mir wichtig, auch diese Kategori(sierung)e(n) im Auswertungsprozess einer laufenden Reflexion zu unterziehen. Das erhobene Gesamtsample besteht aus zwölf biographischen Interviews mit einer jeweiligen Dauer von etwa 1,5 bis 3 Stunden. Übersicht über das Sample nach ausgewählten studienrelevanten Aspekten (zum Zeitpunkt der Interviews) Name (anonymisiert)
Abgeschlossene, abgebrochene und aktuelle Studiengänge und -fächer
Fachsemester/ Studienphase
Alter
Alime Alpaslan
Lehramt Französisch Lehramt Deutsch und Geschichte
abgebrochen kurz vor Abschluss
28
Afërdita Bushaj
Architektur BA Deutsch und Englisch Lehramt Deutsch und Englisch
abgebrochen abgeschlossen laufend
n.b.1
1 | Nicht bekannt (wurde im Interview nicht genannt und ist nicht rekonstruierbar).
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
Jonas Balta
BA Slawistik MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgeschlossen kurz vor Abschluss
26
Günnur Duman
Lehramt Deutsch und Geschichte
kurz vor Abschluss
25
Ece Erbay
Lehramt Englisch Lehramt Deutsch und Geschichte
abgebrochen kurz vor Abschluss
29
Majda Melić
BA Deutsche Sprache und Literatur (Bosnien) MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgeschlossen kurz vor Abschluss
24
Özlem Karaca
DS Rechtswissenschaften BA Slawistik MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgebrochen abgeschlossen 1. Semester
n.b.
Paola Pascucci
BA Literaturwissenschaft Deutsch Englisch MA Literaturwissenschaft Deutsch Englisch (Italien – mit Erasmus-Jahr in A-Stadt) Doktorat Germanistik
abgeschlossen abgeschlossen laufend
27
Milan Pavić
BA Transkulturelle Kommunikation (Serb/Frz/Dt) MA Transkulturelle Kommunikation MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgeschlossen abgebrochen kurz vor Abschluss
25
Katharina Peck
BA Sprachwissenschaft MA Sprachwissenschaft MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgeschlossen laufend 2. Semester
n.b.
Simona Popescu
BA Deutsche Philologie und Skandinavistik (Rumänien) mit Erasmus-Jahr in A-Stadt MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgeschlossen laufend
23
Jelena Selmanović
BA Deutsche Sprache und Literatur (Bosnien) MA Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
abgeschlossen kurz vor Abschluss
25
5.2 D urchführung der biogr aphischen I ntervie ws Richard wüsste gern, welche Fragen ins Land der schönen Antworten führen. (Erpenbeck 2015)
Um meine Interviewpartner*innen über mein Forschungsinteresse, meine wissenschaftlichen Perspektiven sowie über forschungsethische Fragen zu informieren und ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen (vgl. Alheit 1984), war es mir wichtig, bereits vor dem Interview ein Gespräch mit ihnen zu führen. Mit zwei Ausnahmen, in denen die Interviewpartner*innen aus Zeitgründen ein telephonisches Gespräch bevorzugten, traf ich mich mit allen
5. Dokumentation des Forschungsprozesses
Gesprächspartner*innen in einem ungezwungenen Rahmen in einem Café oder im Freien. Während manche Interviewpartner*innen bereits in diesen Vorgesprächen viel von sich erzählten, benannten andere sehr knapp inhaltliche Punkte, die ihnen mit Blick auf das bevorstehende Interview wichtig waren, oder stellten Fragen zu meinem Forschungsinteresse und zu einer möglichen ›Passung‹ ihrer Lebensgeschichten oder bestimmter für sie interessanter Aspekte. Eine Interviewpartnerin stellte sehr detaillierte Fragen zur biographischen Methode, einige interessierten sich für mein Studium und meinen ›Werdegang‹. Meine Eindrücke aus diesen Gesprächen dokumentierte ich ausführlich, um sie später in den Auswertungsprozess integrieren zu können. Neben einer Reflexion der Adressierung in den Flyern und der Kontaktaufnahme in den Mails und Telephonaten hielt ich eine Protokollierung dieser Gespräche für besonders bedeutsam hinsichtlich eines besseren Verständnisses wechselseitiger Vorannahmen (Helsig 2010; Potter/Hepburn 2012), die später Eingang in die Interviews fanden, und die auf der Basis der Protokolle besser rekonstruierbar waren. Ein Aspekt, der bereits in den Vorgesprächen deutlich wurde und sich auch in den Interviews als relevant erwies, war die Tatsache, dass die Universität und das Fach einen für die Interviewten und mich geteilten Erfahrungsraum darstellte (vgl. auch Schwendowius 2015: 141). Einerseits eröffnete das von uns geteilte Wissen bereits im Vorgespräch vielfältige Anknüpfungspunkte, und ähnliche biographische Situationen und Eingebundenheiten in das Feld Universität (als Doktorandin und Student*innen) unterstützten die Herausbildung einer Vertrauensbasis. Andererseits waren unsere unterschiedlichen Positionen (als Lehrende und Student*innen) Teil der akademischen Hierarchie, die auch in den Interviews auf unterschiedliche Weise sichtbar wurde. Meine Anstellung an einem Universitätsinstitut und meine Vertrautheit mit dem Institut, an dem meine Interviewpartner*innen studierten, brachte es mit sich, dass einige von ihnen das Interview auch nutzten, um sich mit mir über inhaltliche Fragen zu ihren eigenen Arbeiten auszutauschen oder um Informationen über Promotionsmöglichkeiten und Tätigkeiten im wissenschaftlichen Bereich zu erhalten und mich auf diese Weise als ›Auskunftsquelle‹ (Schwendowius 2015: 141) nutzten. Aufgrund des Umstands, dass meine Gesprächspartner*innen in den Vorgesprächen erfuhren, dass ich manche ihrer Lehrenden persönlich kenne, wurden diejenigen Stellen der Interviews, in denen Erfahrungen mit Lehrenden thematisiert wurden, einer besonders sorgfältigen Interpretation unterzogen. Ein weiterer Aspekt, der in den Vorgesprächen sehr unterschiedlich thematisiert wurde, war die Frage der Anonymisierung (vgl. Kap. 5.3). Der Ort für die Interviews wurde den Interviewpartner*innen freigestellt. Da manche öffentlichen Räume wegen einer für die spätere Transkription weniger idealen Geräuschkulisse nicht genutzt werden konnten und ich nicht
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
die Möglichkeit hatte, einen privaten Raum zur Verfügung zu stellen, fanden die Interviews entweder bei den Interviewpartner*innen zu Hause, an einem anderen von ihnen gewählten Ort oder in Räumen der Universität statt. Ich versuchte, nach Maßgabe der mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die Räume für die Interviewsituation so ›gemütlich‹ und persönlich wie möglich zu gestalten. Vor den Interviews fragte ich meine Gesprächspartner*innen, ob nach dem Vorgespräch noch Fragen, Unklarheiten oder Bedenken aufgetaucht waren. Ebenso wie bei den Vorgesprächen, wurden auch die Eindrücke aus den Interviews unmittelbar nachher schriftlich festgehalten. Das Interview begann mit einer offenen Bitte zu erzählen (Schütze 1983: 285; vgl. Kap. 4.2.1), die sich auf die gesamte Lebensgeschichte bezog und keinen sprachbezogenen Fokus hatte. Dies steht in Einklang mit der Forderung von Schütz, wissenschaftliche Konstruktionen auf denen des Alltags aufzubauen (vgl. Dausien 1996: 110) und sich an den Relevanzsystemen der Interviewpartner*innen zu orientieren. Die Eingangsfrage sollte noch einmal explizit machen, was ich mir von den Erzähler*innen wünschte, andererseits sollte ihr Gestaltungsspielraum und die prinzipielle zeitliche ›Unbegrenztheit‹ deutlich werden. In Anlehnung an Rosenthal (2014: 159) wählte ich folgende Erzählaufforderung: »Ich bitte dich, mir deine Lebensgeschichte zu erzählen, alles was dir einfällt und was du mir erzählen möchtest. Du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du möchtest. Ich werde dich nicht unterbrechen, mir nur ein paar Notizen machen, auf die ich vielleicht später noch zurückkomme.«
In der Ausgestaltung der Erzählaufforderung ergaben sich in den einzelnen Interviews kleinere Modifikationen. Im Interview mit Alime Alpaslan etwa kam es gar nicht zur Erzählaufforderung, da die Interviewte unmittelbar nach dem Einschalten des Gerätes wie selbstverständlich das Arrangement des Settings übernahm: Bereits vor der von mir geplanten Einleitung kommentierte sie kurz ihren ›Gesprächsplan‹ und begann mit ihrer sehr ausführlichen biographischen Erzählung. Solche Abweichungen von dem von mir intendierten Interviewablauf versuchte ich als ›produktive Irritationen‹ (Ploder 2009) zu lesen und für ein besseres Verständnis der Interaktion im Interview sowie der biographischen Erzählungen zu nutzen. Die Haupterzählungen wurden von mir nur durch Blickkontakt, Mimik und parasprachliche Phrasierungen begleitet. In einem Interview kam es zu einer Unterbrechung der Haupterzählung, da meine Gesprächspartnerin vom Sprechen über ihre Erfahrungen mit anti-muslimischem Rassismus so bewegt war, dass sie stark zu weinen begann. In diesem Fall stellte ich keine Nachfragen, sondern versuchte, ihr über ›aktives Zuhören‹ (Gordon 1997; Rogers 1951, zit.n. Rosenthal 2014: 163) zu vermitteln, dass ich bemüht bin, die Schwierig-
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keiten, die das Erzählen dieser Erlebnisse für sie bedeutet, zu verstehen. In der Interpretation des Interviews versuchte ich, auch diese ›Störung‹ der biographischen Erzählung als produktive Irritation in Hinblick auf meine Erwartungen an den Ablauf eines biographischen Interviews zu lesen. Zudem zeigte sich in der Feinanalyse dieser Sequenz im Kontext der gesamten Erzählung, dass diese Störung auch als Sichtbarwerden eines ›konkurrierenden Themas‹ (Bergmann 2013) in der Hinsicht gelesen werden kann, dass meine Gesprächspartnerin mir weniger ihre Lebensgeschichte erzählen wollte als vielmehr daran interessiert war, mir die Realität und Wirkmacht anti-muslimischer Diskurse und Übergriffe in der Migrationsgesellschaft deutlich zu machen. Im ersten Nachfrageteil orientierte ich mich anhand der Notizen, die ich mir während der Haupterzählung gemacht hatte, an den Inhalten und Strukturen, auf die die Erzähler*innen besonderen Wert gelegt hatten. Erst im zweiten Nachfrageteil stellte ich explizite und/oder vertiefende Fragen zu sprachbezogenen Erfahrungen an Bildungsinstitutionen. In der Entfaltung ihres Konzepts einer ›soziologischen Empathie‹ fordern Kannonier-Finster und Ziegler, »die traditionell übliche Haltung der naiven und scheinbar unwissenden Neutralität« (Kannonier-Finster/Ziegler 2005: 64) aufzugeben und einen »bewusst sozialwissenschaftlich-reflexive[n] Modus des Fragens und Nachfragens« (ebd.) zu wählen. Das dergestalt in das Forschungsgespräch eingebrachte eigene soziologische Denken soll den Interviewpartner*innen einen Rahmen bieten, »in dem sie ihre eigenen Erfahrungen in eine (sic!) Weise artikulieren können, wie sie das vielleicht im Kontext der eigenen Alltäglichkeit nicht tun« (ebd.). Ich entschied mich gegen diese Forderung, die verschiedentlich in der postkolonial informierten (Biographie-)Forschung aufgegriffen wurde (etwa von Ploder 2009 und Pietig 2014): zum einen scheint mir eine Trennung soziologischen oder allgemeiner: wissenschaftlichen Denkens von der ›eigenen Alltäglichkeit‹ theoretisch weder möglich noch überzeugend, zum anderen wurde in biographischen Studien mehrfach deutlich, dass offene (Nach-) Fragen sehr wohl Artikulationen wissenschaftlichen Denkens sowie widerständiger und kritischer Positionierungen ermöglichen (Buchner 2015; Gregor 2015; Schwendowius 2015; Thoma i. Dr.). Zuletzt implizieren offene Fragen keineswegs naive oder unwissende Neutralität, sondern stellen im Sinne einer Wissensproduktion, die hierarchische Gefüge und machtförmige Strukturen sichtbar zu machen und in Frage zu stellen gedenkt, diejenige Möglichkeit dar, die es methodisch am konsequentesten ermöglicht, an den Relevanzen der Befragten anzusetzen und ihnen die sprachliche Gestaltung von Erzähl- und argumentativen Räumen zu eröffnen, die möglichst wenig durch das wissenschaftliche Denken der Interviewer*innen strukturiert sind. Meine letzte Frage richtete sich auf Themen, die noch nicht angesprochen worden waren oder auf Fragen, die meine Interviewpartner*innen noch einbringen wollten (vgl. Schwendowius 2015: 142). In Interviews, in denen schwie-
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rige und belastende Themen und/oder Erfahrungen thematisiert wurden, war ich bemüht, meinen Gesprächspartner*innen die Möglichkeit zu geben, sich aus diesen Themen ›herauszuerzählen‹ und das Interview mit einem positiven und stärkenden Aspekt zu beenden (vgl. Rosenthal 2014: 164-165). Die Dauer der Interviews betrug zwischen etwa 1,5 und drei Stunden. Auch der Umfang der Haupterzählungen weist deutliche Unterschiede auf. Während die kürzeste Haupterzählung circa 20 Minuten knapp war, dauerte die längste etwa zwei Stunden. Die kürzeren Haupterzählungen orientierten sich sehr stark an Stationen des Lebenslaufs und des formalen Bildungswegs und enthalten vor allem berichtende und argumentative Passagen, während die längeren Erzählungen sich eher an dem von Schütze als idealtypisch beschriebenen Erzählschema orientierten und sehr ausführliche narrative Passagen enthalten.
5.3 Tr anskrip tion und A nonymisierung Alle erhobenen Interviews wurden vollständig wörtlich transkribiert. Dabei war mir bewusst, dass es nicht möglich ist, die ›eigentliche Gesprächsrealität‹, die Deppermann als »objektivistische Fiktion« (Deppermann 2008: 46, FN) entlarvt, ›wahrheitsgetreu‹ wiederzugeben, sondern dass es sich bereits bei der Produktion einer verschriftlichten Fassung um einen konstruktiven und interpretativen Prozess handelt (Günthner 1993: 36, 60; Redder 2001: 1038; Rose 2012: 233), der von Fragestellungen, Erkenntnisinteressen, fachlichen Perspektiven und inhaltlichen Interessen geleitet ist (Ziegaus 2009). Das von mir im Anschluss an diese Gedanken und in Anlehnung an Dausien (1996) gewählte Verfahren entspricht üblichen für biographisch-narrative Interviews gewählten Transkriptionsweisen und ist durch die weitgehende Vermeidung von Sonderzeichen und eine gute Lesbarkeit (vgl. Dausien 1996: 124f.) gekennzeichnet. Ein Transkriptionsschlüssel befindet sich im Anhang der Arbeit. Einen weiteren Schritt stellte die Anonymisierung der Interviews dar: Diese hatte ich potentiellen Interviewpartner*innen bereits auf den Flyern und in den Vorgesprächen zugesichert. Das Thema Anonymisierung hatte ganz unterschiedliche Relevanz für meine Gesprächspartner*innen: Während einige betonten, dass ihnen die Anonymisierung der Interviews kein Anliegen sei, wurde bei anderen auf einer eher impliziten Ebene deutlich, dass sie sich sehr wohl Gedanken über mögliche ›Wiedererkennungsgefahren‹ gemacht hatten.2 2 | Eine Interviewpartnerin sprach etwa über Thomas Manns Zauberberg und dessen Karikierung lebender Persönlichkeiten, die in der Rezeption wiedererkannt wurden (vgl. dazu Stemmermann 2003: 119). Ich hörte aus dieser Geschichte berechtigte Bedenken
5. Dokumentation des Forschungsprozesses
Die eher ›technische‹ Handhabung des informed consent mittels eines Formulars erwies sich in einigen Fällen als nicht hilfreich oder praktikabel, zum einen, weil die Gesprächspartner*innen im Erzählfluss von Inhalten ›überrascht‹ wurden, deren Thematisierung offenbar nicht geplant gewesen war, zum anderen, weil manche biographischen Konstellationen eine Anonymisierung erschwerten. Somit wurden Fragen der Anonymisierung in der Interviewsituation und während der Interpretation noch einmal virulent (vgl. Kap. 9.1). Dazu kam, dass ich während der Präsentation von Zwischenergebnissen in institutionellen Kontexten ein großes Interesse an den Lebensgeschichten der Student*innen bemerkte sowie ein Interesse daran zu erfahren, um wessen Biographie(n) es sich handelt (zu vergleichbaren Erfahrungen vgl. Dressel & Langreiter 2003). Das führte dazu, dass ich zur Gewährleistung der Anonymisierung der Student*innen in der Darstellung auf differenzierte Ausführungen mancher wissenschaftlich interessanter Aspekte der Lebens- oder Familiengeschichten verzichtete. Zur Gewährleistung der Anonymität von Lehrenden und anderen Personen, über die in den Interviews gesprochen wurde, beschloss ich ebenfalls, auf differenzierte Darstellungen mancher mir geschilderter Situationen an der Universität zu verzichten. Insgesamt versuchte ich, die Aufmerksamkeit weg von Personen und hin auf gesellschaftliche – vor allem: bildungsinstitutionelle – Strukturen und Prozesse zu richten (vgl. Dressel & Langreiter 2003) und entschied mich aus diesem Grund auch in der Darstellung gegen eine Präsentation gesamtbiographischer ›Fälle‹ (vgl. Kap. 6). Die Transkriptionen wurden so anonymisiert, dass alle Personennamen sowie Referenzen auf Orte und Institutionen durch Pseudonyme ersetzt wurden. Auch andere Angaben, die direkte Rückschlüsse auf meine Gesprächspartner*innen ermöglichen könnten, wurden durch alternative ersetzt. Allerdings wurden manche Bedeutungsgehalte, die in den Erzählungen enthalten waren und möglicherweise für die Forschung relevant sein könnten, im Anonymisierungsvorgang beibehalten (vgl. Schwendowius 2015: 145). Dazu zählten einerseits die Zuordnungen zu einer Stadt oder zu einem Dorf, die in der Transkription in der Form ›A-Stadt‹ und ›A-Dorf‹ sichtbar gemacht wurden. Andererseits wurden die Namen meiner Interviewpartner*innen und diejenigen von Personen, die in ihren Erzählungen vorkamen, durch Namen gleicher sprachlicher Herkunft und mit vergleichbaren anderen, etwa religiösen oder politischen Bedeutungen und Signalen ersetzt, um möglicherweise damit verbundene spezifische Assoziationen beizubehalten. Auch Sprachen und Nationalstaaten wurden keiner Anonymisierung unterzogen. hinsichtlich Anonymisierungsmöglichkeiten heraus. Diesen begegnete ich, indem ich die von mir angedachte Art der Transkription, Anonymisierung und Ergebnisdarstellung und meine grundsätzliche Haltung zu Datenschutz ausführlich erklärte und darüber das Vertrauen der Interviewpartnerin gewinnen konnte.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
5.4 A nalyse Die Analyse der erhobenen Interviews erfolgte mittels eines mehrstufigen Auswertungsprozesses, der im Folgenden dargestellt wird: Alle Interviews wurden kurz nach ihrer Erhebung einer Grobanalyse unterzogen, auf deren Basis ich eine formale Übersicht erstellte, die den Ablauf und die angesprochenen Themen beinhaltete. Danach erstellte ich eine chronologische Übersicht, die biographische Eckdaten und die Abfolge zentraler lebensgeschichtlicher Ereignisse enthielt (vgl. Schwendowius 2015: 147). Parallel dazu schrieb ich zu Themen, die mir wichtig und interessant schienen, Memos (Glaser/Strauss 2010 [1967]: 121-122), auf die ich im Interpretationsprozess zurückgriff und die ich laufend ergänzte und erweiterte. Da in der Eingangserzählung vieler biographischer Erzählungen bereits die zentralen biographischen Topoi vorkommen oder zumindest angedeutet sind (vgl. Ohlbrecht 2002: 232), folgte eine Analyse des jeweiligen Interviewbeginns. Eine Reihe von Interviewanfängen und ausgewählten Kernstellen wurden – wie in der interpretativen Forschung üblich (Dausien 1996: 130; Riemann 2011; Schütze 1993: 205-208; Siouti 2013: 109f.) – zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Forschungsprozesses in Forschungswerkstätten gemeinsam interpretiert. Der Dialog mit Kolleg*innen, die methodisch ähnlich vorgehen, aber ganz andere Themen bearbeite(te)n, ermöglichte verschiedene Perspektiven auf das Material und damit eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Plausibilität meiner eigenen Interpretationen. Das erste erhobene Interview sowie zwei weitere Interviews, die aufgrund ihres Umfangs, ihrer Dichte und Komplexität besonders vielversprechend schienen, wurden einer fallrekonstruktiven Analyse in Anlehnung an Fritz Schütze (1983, 1984, 1987) unterzogen. Dabei orientierte ich mich am Prinzip der Sequentialität und berücksichtigte den diskursiven und interaktiven Kontext des jeweiligen Interviews (Dausien 2003: 180ff.), den ich auf der Basis meiner Protokolle zu den Vortreffen und Rahmungen der Gespräche reflektierte. Als ersten Schritt schlägt Schütze eine formale Textanalyse vor: Diese textstrukturelle Analyse beinhaltet sowohl formale Elemente (etwa Rahmenschaltelemente, Pausen, Veränderungen im Grad der narrativen Darstellungen) als auch inhaltliche Aspekte (etwa Themenwechsel). Dabei wurde der Text allerdings nicht, wie von Schütze im Rahmen des Schrittes der ›formalen Segmentierung‹ (Schütze 1984: 112) vorgeschlagen, von nicht-narrativen Teilen ›bereinigt‹. Vielmehr setzte ich narrative, beschreibende und argumentative Passagen von Beginn an miteinander in Beziehung. Das ermöglichte eine Herstellung von Bezügen zwischen gegenwärtigen Deutungen und Eigentheorien der Interviewten sowie erzählten Ereignissen, Erfahrungen und Deutungsweisen (vgl. Schwendowius 2015: 149). Zudem ermöglichte die verschränkte Analyse der Textsorten ein besseres Verständnis für die Funktionen von in Er-
5. Dokumentation des Forschungsprozesses
zählungen eingelagerten argumentativen Passagen und diejenigen von Erzählungen als Teilen übergeordneter Argumentationen. Ziel der formalen Textanalyse war es, über die Identifizierung übergeordneter Erzählstränge und von Zusammenhängen zwischen einzelnen Segmenten die formale Gestalt der Gesamterzählung herauszuarbeiten (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 237f.). Grundlage für den zweiten Interpretationsschritt, die strukturelle Beschreibung, ist eine sequentielle, also dem Gesprächsverlauf folgende, Analyse des gesamten Interviewtextes. Teil dieses Schritts war die Identifizierung von Erzählketten und thematischen Schwerpunkten und damit verbunden die Entwicklung zentraler Interpretationsideen. In den Arbeitsprozess dieses Schrittes wurden sensibilisierende Konzepte (Blumer 1954) aus der Soziolinguistik integriert, die mir ein besseres Verständnis der Äußerungen meiner Interviewpartner*innen mit Blick auf Positionierungsprozesse in der Interviewinteraktion ermöglichten. Der Positionierungsanalyse liegt die Überzeugung zugrunde, dass es sich bei sprachlichen Interaktionen nicht lediglich um ›Informationsvermittlung‹ handelt, sondern dass darin immer auch »die Zuschreibung und Inanspruchnahme3 von Facetten sozialer und personaler Identität« (Deppermann 2013: [46]) enthalten sind. Auf bauend auf einem Vorschlag von Du Bois, der in seinem StanceDreieck Bewertung, Positionierung und Ausrichtung der Gesprächsteilnehmer*innen aufeinander korreliert (Du Bois 2007: 163), schlägt Jürgen Spitzmüller ein Modell metapragmatischer Positionierung vor, das Modelle sozialer Positionierung und solche sozialer Indexikalität integriert (Spitzmüller 2013b). Dadurch wird soziale Positionierung durch Sprache als komplexer Positionierungsprozess über verschiedene Ebenen sichtbar: Akteur*innen positionieren sich mit ihrem Sprachgebrauch oder werden positioniert »in Relation zu anderen Akteuren aufgrund ihrer Bewertung oder Praxis dieses Sprachgebrauchs« (ebd.: 273). Zudem positionieren sie sich oder werden positioniert »aufgrund des bestimmte sprachliche Varianten betreffenden, sozial aber unterschiedlich distribuierten Registerwissens auch in Relation zu typisierten Personengruppen und Verhaltensformen, die mit dem Sprachgebrauch assoziiert und von ihm kontextualisiert werden« (ebd.). Zu diesen können sich Akteur*innen auf unterschiedliche Weise (affirmierend, kritisch, ironisierend etc.) »durch Sprachbewertung und Sprachpraxis« positionieren (ebd.). Wegen des zentralen Bezugs auf Sprache und des Verständnisses sozialer Positionierung als »Grundlage für Prozesse sozialer Stratifizierung bzw. der Aushandlung und Verfestigung von gesellschaftlichen Hierarchien« (Spitzmüller 2013b: 268), eignet sich dieses Modell besonders für die Analyse der Positionierungsaktivitäten in einer machtkritisch interessierten Arbeit. 3 | Ich gehe davon aus, dass Positionierungsaktivitäten neben der Inanspruchnahme genauso die Ablehnung der oben genannten Facetten beinhalten.
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TEIL II — Theoretischer und methodologischer Rahmen
Als dritter von Schütze vorgeschlagener Schritt folgt die analytische Abstraktion, in der Strukturaussagen zu einzelnen Lebensabschnitten systematisch ins Verhältnis zueinander gesetzt (Schütze 1983: 286) und unter Rückgriff auf sensibilisierende theoretische Konzepte zu abstrahierenden Aussagen verdichtet werden. Während dieses Schrittes wurden bereits Ideen zu Vergleichsmöglichkeiten und -ebenen innerhalb der Fälle entwickelt. Beim vierten Schritt, der Wissensanalyse, stand eine Interpretation der argumentativen Muster und Eigentheorien der Student*innen in Hinblick auf sprachliche Kategorisierungen und die Bedeutung von Sprache in Bildungsinstitutionen im Vordergrund. Es folgte die Entscheidung, dass der nächste von Schütze vorgeschlagene Schritt, kontrastierende Vergleiche zu bilden, nicht auf ›Fälle‹ im Sinne gesamter biographischer Rekonstruktionen bezogen wird. Vielmehr entschloss ich mich dazu, alle Interviewtexte für Kontrastierungen heranzuziehen und entlang der im Kontext dieser Arbeit besonders interessierenden sozialen Phänomene Vergleiche zu bilden. Der Vergleich zwischen einzelnen Texten bezog sich zu Beginn vor allem auf die Eingangserzählungen und wurde sukzessive auf Inhalte, die sich als besonders relevant für die Fragestellung erwiesen, ausgedehnt. Ziel von Vergleichen ist sowohl in der Logik der Narrationsanalyse nach Schütze als auch in der der Grounded Theory Methodologie die Konstruktion theoretisch verallgemeinerbarer Aussagen (Muckel 2011; Schütze 1983: 288). In der vorliegenden Arbeit stand das Ziel im Vordergrund, fallübergreifende Strukturen, Muster und Prozesse zu beschreiben, ohne eine Typisierung der Gruppe der Interviewten vorzunehmen (vgl. Schwendowius 2015: 134) oder Spezifika von Sprachbiographien bestimmter Individuen und Gruppen zu unterstellen. So wurden die Erfahrungen und Selbstkonstruktionen der Student*innen in den Mittelpunkt gestellt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der sozialen und bildungsinstitutionellen Rahmenbedingungen und Prozesse aufzuzeigen, die im Kontext der erzählten Sprachbiographien bedeutsam waren.
TEIL III Falldarstellungen
6. Einführung in den empirischen Teil
Gegenstand des empirischen Teils sind Einzelfallanalysen aus den zwölf erhobenen sprachbiographischen Erzählungen. Im Unterschied zu dem in der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung gängigen Präsentationsmodus entlang ›ganzer Fälle‹ habe ich mich dazu entschieden, allgemeine Phänomene und Zusammenhänge über die Gesamtheit des erhobenen Korpus hinweg darzustellen. Neben der Einzigartigkeit der Fälle wird so der Vielfalt und Variationsbreite sprachbezogener Dimensionen und Prozesse Rechnung getragen. Während im Analyseprozess zunächst das Prinzip der Offenheit leitend war und das Interviewmaterial gemäß seiner eigenen ›Logik‹ interpretiert wurde (vgl. Schwendowius 2015: 154), richtete sich im Anschluss die Frage danach, auf welche Weisen und an welchen Stellen der biographischen Erzählungen Sprache thematisiert wird. Drei Aufmerksamkeitsrichtungen waren dabei leitend: 1) die Selbstpräsentation der Biograph*innen in der Interviewsituation als ›Student*innen mit Migrationshintergrund‹, die sich zur Durchführung eines biographischen Interviews im Rahmen einer Studie zu Sprachbiographien bereit erklärt hatten, 2) relevante gesellschaftspolitische Kontexte in unterschiedlichen nationalen und regionalen Kontexten, durch die familiale oder individuelle Migrationsbewegungen führten, und die jeweils vor dem Hintergrund natio-ethno-kultureller, religiöser und sprachlicher Heterogenität und in Zusammenhang damit stehender unterschiedlicher Möglichkeitsräume für verschiedene Gruppen betrachtet werden, sowie 3) migrationsgesellschaftliche Rahmenbedingungen in Österreich, mit denen die Interviewpartner*innen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens, in einigen Fällen erst im Rahmen des Studiums, in Berührung kamen. Die Darstellung der Fallanalysen orientiert sich an relevanten Dimensionen, die das konzeptuelle Resultat von permanenten Vergleichsprozessen (vgl. Mey/ Mruck 2011: 27) darstellen. In Hinblick auf die Fragestellung erwiesen sich dabei bestimmte Interpretationsstränge als besonders anschlussfähig. Eine Reihe von in der Analyse selbst verfolgten und ebenfalls plausiblen Lesarten, die vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses und der theoretischen Verortung der vorliegenden Arbeit aber weniger ertragreich sind, werden in der
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TEIL III — Falldarstellungen
Darstellung deshalb nicht mehr thematisiert. Da sich das zentrale Forschungsinteresse auf die Rekonstruktion der Bedeutung von Sprache in den biographischen Erzählungen richtet, werden in der Darstellung Passagen aus den biographischen Erzählungen rekonstruiert, die in dieser Hinsicht relevant sind. Die in den einzelnen Kapiteln herausgearbeiteten Phänomene stehen für exemplarische Varianten biographischer Konstruktionen in ihrer Komplexität. Die fallvergleichend herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den einzelnen Unterkapiteln ermöglichen es darüber hinaus, biographische Konstruktionsprinzipien in ihrer Variationsbreite darzustellen. Im Analyseprozess erwiesen sich drei biographische Phasen als besonders bedeutsam, entlang derer die einzelnen Kapitel strukturiert wurden. Im Kapitel 7 »Kindliche Lebenswelt und Sprache« werden die lebensweltlichen Kontexte rekonstruiert, die für die Herausbildung der Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen der Biograph*innen relevant waren und sind, und die von den meisten Erzähler*innen in ihren Eingangserzählungen thematisiert wurden. In diesem Kapitel spielen familiale Sprachgeschichten und sprachliche Repertoires eine zentrale Rolle. Im Kapitel 8 »Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit« wird herausgearbeitet, wie die soziale Wirklichkeit Schule und andere in dieser Lebensphase relevante soziale Kontexte in der Interviewsituation konstruiert werden und wie Sprache in diese Konstruktionen eingebettet ist. Im Kapitel 9 »Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums« wird herausgearbeitet, welche Erfahrungen die Biograph*innen in der Phase des Studiums mit Sprache mach(t)en und welche Haltungen zu Sprache sie entwickel(te)n. In diesem Kapitel steht die Universität im Zentrum, es werden aber auch Erfahrungen in Arbeitskontexten und Fragen der transgenerationalen Weitergabe von Sprache thematisiert. Da sich das Forschungsinteresse auf biographische Konstruktionen der Interviewpartner*innen richtet, stand die sprachliche Form der Erzählungen nicht im Mittelpunkt des Interesses. Stil, sprachliche Normgebundenheit, Code-Switching und explizite Bezugnahmen auf die in der Interviewinteraktion verwendete(n) Sprache(n) waren nicht Gegenstand der Analyse, bildeten aber eine mitlaufende Reflexionsebene, auf die an Stellen, an denen dies aus theoretischen Gründen sinnvoll ist, Bezug genommen wird. Um Leser*innen den Überblick über die zwölf biographischen Erzählungen zu erleichtern, wurden Kurzbiographien (siehe Anhang) erstellt, die einen Überblick über zentrale ›Ereignisse‹ der erzählten Lebensgeschichten bieten.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
In diesem Kapitel werden die Kontexte rekonstruiert, die die kindlichen Lebenswelten und Erfahrungsräume der Biograph*innen formten und die für die Herausbildung ihrer Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen relevant waren und sind. Der Fokus liegt auf der Frage, wie die Erzähler*innen in den Interviews die Welt ihrer Kindheit präsentieren, mit welchen Personen sie diese Welt ›bevölkern‹ und in welche Beziehung sie sich zu diesen setzen. Neben signifikanten Anderen, die für die Biograph*innen relevant waren, wird der Blick auf materielle und symbolische Güter gelegt, die den damaligen Kindern in ihrem sozialen Umfeld begegneten und zu denen sie sich in je spezifischer Weise ins Verhältnis setz(t)en. Bei der Rekonstruktion der kindlichen Lebenswelten geht es nicht um eine Suche nach determinierenden ›Faktoren‹, die den Biograph*innen als Prägungen anhaften oder von ihnen in Form eines Sozialisationsrucksackes durchs Leben getragen werden. Vielmehr liegt der Fokus auf der je spezifischen Auseinandersetzung der Biograph*innen mit damals von den signifikanten Anderen (in den meisten Fällen Eltern) präsentierten Deutungsangeboten und -vorgaben (vgl. Cloer et al. 1991: 69-73). Diese verstehe ich als Basis für die Aneignung alternativer Deutungen und Selbstverortungen in anderen sozialen Kontexten, mit denen die Biograph*innen im weiteren Verlauf ihres bisherigen Lebens in Berührung kamen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Frage, wie und unter welchen Bedingungen Aneignungs- und Umgestaltungsprozesse oder Verwerfungen dieser Deutungshaushalte überhaupt möglich waren (vgl. ebd.). Zur Ermittlung der Art und Weise, wie Sprache in den kindlichen Lebenswelten aus heutiger Perspektive von den Interviewpartner*innen thematisiert wird, trägt zum einen die zu Beginn des Interviews formulierte Bitte zu erzählen bei, in der ›Sprache‹ nicht thematisiert wird, wodurch die größtmögliche Offenheit für die Relevanzsetzungen der Interviewten, auch abseits möglicher Vorstellungen und Erwartungen der Interviewerin, angestrebt wurde (vgl. Kap. 4.2). Zum anderen sind die in den Flyern getroffene Adressierung und das dort formulierte Forschungsinteresse (vgl. Kap. 5.1) relevant.
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TEIL III — Falldarstellungen
Die lebensweltliche Perspektive der damaligen Kinder und die heutige Perspektive der Student*innen auf die damalige Welt sind in den Erzählungen auf unterschiedliche Weise ineinander verschränkt und tragen je individuelle Akzente. Eine fallübergreifende Betrachtung der biographischen Erzählungen macht eine Rekonstruktion von lebensweltlichen Kontexten bis zum Schuleintritt1 möglich, die für die Biographien und die Herausbildung und Transformation von Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen in zum Teil verschiedenen sprachlichen Umgebungen relevant sind. Diese sozialen und sprachlichen Bedingungskonstellationen ermöglichten den Subjekten unterschiedliche Erfahrungs- und Gestaltungsspielräume, innerhalb derer sie sich aktiv aneignend mit sprachlichen Angeboten und Normen sowie mit damit verbundenen Deutungsstrukturen und -vorgaben signifikanter Anderer auseinandersetzten.
7.1 D ie R ekonstruktion der eigenen S pr achigkeit vor dem H intergrund familialer S pr ach G eschichte (n) In diesem Unterkapitel wird herausgearbeitet, auf welche Weise in den biographischen Erzählungen auf sprachliche Ausgangsbedingungen Bezug genommen wird und in welche lebensweltliche Rahmung die Sprachaneignungsprozesse eingebettet waren. Manche Lebensgeschichten werden als Sprachaneignungsgeschichten erzählt, sodass Sprache von Beginn der Erzählung an ein zentrales Thema ist. In anderen Erzählungen kommt Sprache eher nur am Rande vor und wird erst im Nachfrageteil stärker fokussiert. Ein in allen Biographien relevanter Bezugsrahmen für Zugänge zu und Erfahrungen mit Sprache sind das sprachliche Repertoire signifikanter Familienmitglieder sowie deren Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n): In einigen Erzählungen wird die eigene Sprachbiographie vor dem Hintergrund der Sprachbiographien signifikanter Anderer in unterschiedlichen soziohistorischen Konfigurationen und Machtgefügen erzählt: Deren Sprachaneignungsprozesse sowie deren Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n) bilden den Rahmen, in den die eigene Lebensgeschichte eingespannt und vor dessen Hintergrund diese in ihrer Komplexität erst erzählbar wird. In anderen Fällen werden Themen und Aspekte, die die Sprache(n) der Eltern, Großeltern oder anderer Familienmitglieder betreffen, an bestimmten Punkten der Er-
1 | Die Relevanz der lebensweltlichen Kontexte vor dem Übergang in die Schule endet selbstverständlich nicht mit dem Eintritt in die Institution. Vielmehr erweist sich die Zeit nach dem Schuleintritt als neuer Erfahrungshorizont mit neuen sozialen Akteur*innen und einer Reihe relevanter Aspekte (siehe Kapitel 8), die bereits vorhandene Deutungsangebote und -vorgaben weiterführen, ergänzen oder zu ihnen in Kontrast stehen.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
zählung in Form von Hintergrundkonstruktionen2 eingebracht. In zwei Interviews werden familiale Erfahrungen mit Sprache erst im Nachfrageteil explizit angesteuert. Wie sehr die Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n) sowie das sprachliche Repertoire bestimmter Familienmitglieder in den Erzählungen relevant gesetzt werden, so sehr unterscheiden sich die thematischen Akzentuierungen und die erzählerischen Muster, mittels derer sie in die Biographien eingewoben werden. Im Folgenden werden in drei Unterkapiteln am Beispiel exemplarischer Fälle die zentralen Themenfelder herausgearbeitet:
7.1.1 Sprachliches Repertoire der Eltern als Ausgangspunkt für die eigene Sprachaneignung Günnur Duman erzählt ihre Geschichte entlang ihrer Bildungsbiographie, die über den formalen Bildungsverlauf hinaus auch informelle und institutionelle Lernprozesse im religiösen Kontext umfasst. Einen wesentlichen Aspekt bilden dabei ihr mehrere Jahre andauernder Entscheidungsprozess für das Tragen eines Kopftuchs, ihre Positionierung als ›Studentin mit Kopftuch‹ und die Beschäftigung mit dessen Bedeutung für ihren Berufswunsch ›Deutschlehrerin‹. Mit Ausnahme mehrerer Passagen, in denen sie auf die Bedeutung ihres ›Lieblingsfaches‹ Deutsch in der Schule und auf ihre Erfahrungen als Nachhilfelehrerin während der eigenen Schulzeit eingeht, spielt Sprache in der Haupterzählung eine eher untergeordnete Rolle. Im ersten Nachfrageteil, in dem das Thema Religion vertieft wird, taucht das Thema Sprache im Kontext einer Passage über den Ramadan auf, in der Günnur Duman erzählt, dass sie diese Zeit gern nutzen würde, um sich vom »alltäglichn Stress« (9/2)3 zu erholen. Einen wesentlichen Aspekt der erhofften Erholung bildet für die Erzählerin die Lektüre religiöser Bücher. In diesem Zusammenhang erzählt sie, fast ausschließlich deutsche Bücher zu haben und zu bedauern, dass die Lektüre religiöser Bücher auf Türkisch zwar möglich, aber »mühsam« (9/13) für sie sei und dass sie sich für den diesjährigen Ramadan die Lektüre eines türkischen Buches ›vorgenommen‹ habe. Im Anschluss an diese Passage fragt die Interviewerin, »wie das für dich war, in in einer 2 | Hintergrundkonstruktionen haben die Funktion, Auslassungen nachzuholen bzw. Leerstellen zu füllen, die im Erzählfluss entstanden sind, und/oder Aspekte, die als problematisch oder für Gesprächspartner*innen nicht plausibel nachvollziehbar antizipiert werden, durch die Angabe zusätzlicher Informationen zu erklären (vgl. Riemann 2004: 192f.; Schütze 1984: 101f.; Treichel 2004b: 61f.). 3 | Kürzere Zitate aus den Interviewtranskripten werden über doppelte Anführungszeichen, längere durch Kursivierung und Absetzung vom Fließtext markiert. Die in Klammer gesetzten Angaben beziehen sich auf die Seiten- und Zeilenzahlen des Transkripts.
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TEIL III — Falldarstellungen
mehrsprachign Umgebung oder mehrsprachig aufzuwachsen« (9/22-23).4 Die Erzählerin beginnt mit einer chronologischen Rekonstruktion ihres mehrsprachigen Aufwachsens: Gün: Ja, ahm (2) aso bei uns zu Hause ist es so mein Vater kann nicht so gut Deutsch, (1) er is auch erst mit 26 nach A-Stadt gekommen, und (1) er spricht schon. Aber man merkt sofort, dass es nicht seine Muttersprache ist, er kann sich nicht so differenziert ausdrückn, und es is halt sehr auf seinen Beruf bezogn auch, er is Fleischhauer und jetzt halt in seinem Betrieb tut er nur das Fleisch ausliefern, das heißt, er hat sicher ein besseres Vokabular was Fleischsorten betrifft als ich, aber (1) nicht so gut wie sein Türkisch. (9/24-30)
Den Anfang bildet eine Beschreibung des sprachlichen Repertoires ihres Vaters. Die Normreferenz, auf die Günnur Duman sich hier beruft, ist Deutsch. Die Kenntnisse ihres Vaters in dieser Sprache beschreibt sie als »nicht so gut« und fügt hinzu, dass man »sofort« merke, dass Deutsch nicht seine »Muttersprache« sei. Die selbstverständliche Bezugnahme auf die Kompetenzen in der dominanten Sprache und der Versuch einer Erklärung des zugeschriebenen Defizits könnten den aktuellen Diskurs um ›Integration durch Sprache‹ (kritisch: Ha 2009; Plutzar 2010) wiederspiegeln, der ›mangelnde‹ Deutschkenntnisse erklärungsbedürftig macht. Möglicherweise ist die Rekonstruktion der Deutschkenntnisse des Vaters auch Fragen nach der Sprachigkeit der Eltern geschuldet, mit denen Günnur Duman schon öfter konfrontiert wurde. Der biographische Hinweis, dass der Vater erst mit 26 Jahren nach A-Stadt gekommen ist, könnte vor diesem Hintergrund die Funktion haben, ihn in Bezug auf seine Deutschkenntnisse zu ›entlasten‹. Dass man sofort merke, dass Deutsch nicht die »Muttersprache« des Vaters sei, begründet Günnur Duman mit seiner »nicht so differenziert[en]« Ausdrucksweise. Dass sie seinen aktiven Sprachgebrauch ins Feld führt (»Er spricht schon«), verweist möglicherweise auf öffentliche Diskurse um ›Deutschverweigerung‹ (Gatt 2013; Ha 2009), die im Kontext der Nationalsprachenideologie geführt werden. Zudem geht sie auf sein fachspezifisches Vokabular im semantischen Feld »Fleischsorten« ein und setzt sich an dieser Stelle in Relation zu ihrem Vater. An der genauen Beobachtung seines sprachlichen Repertoires als auch an dessen Beschreibung in Termini, die auf eine (sprach-)wissenschaftliche Auseinandersetzung verweisen (»differenziert ausdrückn«, »auf seinen Beruf bezogn«, »Vokabular«), wird insgesamt deutlich, dass Günnur Duman sich als Expertin für Mehrsprachigkeit 4 | Die Interviewerin unterstellt mit dieser Frage, dass das Aufwachsen in einem mehrsprachigen Kontext etwas ›Besonderes‹ sei. Über die Einschränkung »für dich« nimmt sie daraufhin eine Eingrenzung auf die individuelle Erfahrung vor.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
bzw. Deutsch als Zweitsprache positioniert, die sowohl über gesellschaftlich relevantes als auch über wissenschaftliches Wissen verfügt. Auf die Rekonstruktion des sprachlichen Repertoires des Vaters folgt das der Mutter: Gün: Meine Mutter spricht sehr gut Deutsch, beziehungsweise A-Städtisch, richtign AStädter Dialekt, meine Mutter ist hier zur Schule gegangen, und sie hat einfach sehr schnell Deutsch gelernt, in der Hauptschule war sie auch im A-Zug, sie hat a_ sie erzählt sie - damals gab’s einen A und B-Zug, und (1) das is aso sie kann sehr gut Deutsch und ich denke mir, dass wir aso ich und meine Geschwister, sehr von den Deutschkenntnissen meiner Mutter profitiert habn. (9/31-36)
Die Erzählerin hebt die sehr guten Deutschkenntnisse der Mutter gleich zu Beginn hervor und konkretisiert, dass diese »richtign A-Städter Dialekt« spricht, wodurch ihre Zugehörigkeit zu A-Stadt verstärkt wird. Auch hier folgt eine biographische Erklärung für das sprachliche Repertoire, das bei der Mutter ganz anders gestaltet ist als beim Vater. Günnur Duman erzählt, dass ihre Mutter in A-Stadt zur Schule gegangen ist und »einfach sehr schnell Deutsch gelernt« hat. Aus der Rekonstruktion deren Schulzeit lässt sich ein ganz klar konstruierter Zusammenhang zwischen dem A-Zug5 und den Deutschkenntnissen der Mutter ablesen. Bilanzierend fügt die Erzählerin hinzu, dass sie und ihre Geschwister sehr von den Deutschkenntnissen der Mutter »profitiert« haben, die hier als ›Wegbereiterin‹ im Deutschlernen dargestellt wird. Interessant ist, dass die eigentliche Frage der Interviewerin auf eine sehr spezifische Weise, nämlich in Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Repertoire der Eltern, beantwortet wird. Die Referenz auf die Sprache Deutsch bei beiden Eltern könnte zum einen auf Günnur Dumans Wissen darüber verweisen, dass im dominant deutschsprachigen Raum häufig ›Deutschkenntnisse‹ gemeint sind, wenn über ›Sprachkenntnisse‹ gesprochen wird. Möglicherweise nimmt sie an, dass sich auch die Interviewerin eigentlich für Deutsch interessiert, obwohl sie nach der »Mehrsprachigkeit« gefragt hat. Zum anderen verweist der Bezug auf Deutsch möglicherweise auf den Legitimationsdruck, unter dem Günnur Duman als Studentin ›mit Migrationshintergrund‹ wegen 5 | Bis in die 1980er Jahre wurden Hauptschulen in Österreich in zwei Klassenzügen geführt: Der 1. Klassenzug, auf den sich die Erzählerin hier mit der Bezeichnung »AZug« beruft, war den als leistungsstärker eingestuften Schüler*innen vorbehalten, im 2. Klassenzug (»B-Zug«) wurden als weniger leistungsstark eingestufte Schüler*innen beschult. Ein Übertritt von der leistungsschwächeren in die leistungsstärkere Klasse war möglich. In den 1980er-Jahren wurde dieses Zwei-Klassen-System durch »Leistungsgruppen« in den als »Hauptgegenstände« bezeichneten Fächern (Deutsch, Englisch, Mathematik) ersetzt.
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TEIL III — Falldarstellungen
ihres Lehramtsstudiums Germanistik und ihres Berufswunsches ›Deutschlehrerin‹ steht (vgl. Kapitel 9.3). Die Rekonstruktion der sprachlichen Ausgangsbedingungen, die sie in ihrer Familie vorgefunden hat, und der Hinweis darauf, dass sie und ihre Geschwister sehr von den Deutschkenntnissen ihrer Mutter profitiert haben, verweisen auf den öffentlichen Diskurs um ›Integration durch Deutsch‹ (Gatt 2013: 164f.) und spiegeln Günnur Dumans akademische Beschäftigung mit Spracherwerb und Familiensprachen wieder. Darüber hinaus wird in diesen Passagen deutlich, welche Entwicklung in Hinblick auf sprachliche Repertoires und Zugehörigkeit die Familie im Laufe der letzten Jahrzehnte durchlaufen hat und wie die einzelnen sprachlichen Repertoires zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Günnur Duman fährt mit einem argumentativen Einschub fort: Gün: Weil (1) nur hier geborn zu sein is nicht unbedingt sehr hilfreich dafür um Deutsch lernen aso gut lernen zu können. Und ich sogar vorm Kindergarteneintritt hab ich schon die Bezüge zur deutschen Sprache gehabt, aber das Türkische war dominanter. (9/37-39)
Die Erzählerin argumentiert, dass die Geburt in einem dominant deutschsprachigen Land nicht ausreicht, um sich gute Deutschkompetenzen aneignen zu können. Um diese These zu belegen, nimmt sie sich selbst als Beispiel und berichtet, schon vor dem Kindergarteneintritt »Bezüge« zur deutschen Sprache gehabt zu haben. Aus dem in der Haupterzählung Gesagten geht hervor, dass diese vor allem über die Mutter vermittelt wurden, deren Bildungsaspiration in Hinblick auf die Tochter sich vor allem auf deren Leistungen im Schulfach Deutsch richtete (vgl. Kap. 8.1.2). Insgesamt verweisen die hier vorgestellten Passagen darauf, dass die Erzählerin das sprachliche Repertoire ihrer Eltern als wesentliches Element ihres eigenen Sprachaneignungsprozesses begreift und die Deutschkenntnisse ihrer Mutter in diesem Kontext als konstitutiv für ihre Deutschaneignung ansieht. Die biographischen Daten zu den Eltern erklären, wie es zu deren jeweiligem sprachlichen Repertoire kam und mit welchen sozialen und sprachlichen Ausgangsbedingungen Günnur Duman als Kind von Migrant*innen in Österreich ›gestartet‹ ist. Die Rekonstruktion der Deutschkenntnisse ihres Vaters und die Klassifizierung des eigenen sprachlichen Repertoires vor dem Kindergarteneintritt mit einer Dominanz im Türkischen verweisen auch darauf, dass Günnur Duman sich in ihrem Studium mit Theorien zum (bilingualen) Spracherwerb beschäftigt hat,6 und dass sie auch in der Interviewsituation als Expertin spricht und die erlernten Theorien auf ihre eigene Sprachaneignungsgeschichte anwendet.
6 | Zum Konzept der Sprachdominanz vgl. beispielsweise Müller et al. 2006: 59-88.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
Auf ganz andere Weise nimmt Katharina Peck in ihrer Erzählung Bezug auf Sprache in ihrer kindlichen Lebenswelt. Ihre Lebensgeschichte ist von Beginn der Erzählung an eine Sprachgeschichte. Vor dem Einstieg in ihre biographische Selbstpräsentation steht ihre Frage, ob es die Interviewerin störe, wenn sie im Interview »gschead« (1/2), also Dialekt, spricht. Da sich Katharina Peck schon in ihrem Mail bei der Kontaktaufnahme als Dialektsprecherin eingeführt hat und das gesamte Vorgespräch auf Dialekt stattfand, zeigt diese Frage eine Unsicherheit darüber an, ob der Dialekt auch für die formale Interviewsituation die passende Sprache ist. Aus der Frage spricht auch Katharina Pecks Erfahrung in Forschungsprojekten und mit der Transkription von Interviews, in denen die Transkription nicht standardisierter Sprachen schon Thema war. Nach der Bestätigung der Interviewerin, dass Katharina Peck so sprechen soll, wie es für sie angenehm ist, beginnt sie wie folgt: Kat: Na daun, faung i amol au. Also, jo i bin… aufgwochsn in an kluan Doaf, in, äh, im GBundeslaund, im Nord-G-Bundeslaund, in B-Dorf. Ahmm geborn bin i in A-Stadt, sog_ do vorne sogoa, in da F-Gossn [((lachen)) gaunz intressant], und… ähh… mei Papa is a Int: [((lachen))] Kat: aus aus B-Dorf, mei Mama is aus ana Nochba-Ortschoft und… wos mi – wos bei uns gaunz faszinierend is, dass do, in jeda Ortschoft a aundara Dialekt gred wiad, also wirklich de Oatschoft is jetz zehn Minutn weg, do redns gaunz aundascht, und des find i gaunz spannend, also, i sog imma i bin measprochig aufgwochsn duach zwoa vaschiedene Dialekte afoch, waö mei Mama red ebm total aundascht wia mei Papa, (1) a Beispü nenn i amoi: Mei Papa sogt »alafi« zu »elf«, mei Mama sogt »öfi«. Es is scho a – extrema Untaschied. Des is imma gaunz lustig wann i des iagendwo dazö. (1/15-27)
Die Erzählerin beginnt mit der Angabe, ›in einem kleinen Dorf‹ aufgewachsen zu sein. Vor dem Hintergrund ihrer Selbsteinführung als Dialektsprecherin liegt es nahe, dass sie dem Aufwachsen im ländlichen Raum Relevanz für ihre Sprachbiographie zuschreibt. Sie fährt fort, indem sie das Bundesland, die Region im Bundesland und den Namen des Dorfes angibt, in dem sie aufgewachsen ist, um dann lachend anzufügen, dass sie in A-Stadt, in der Nähe des Interviewortes, geboren ist. Somit ist zu Beginn des Interviews bereits ein Kontrast Stadt-Land angedeutet. Im Anschluss an diese Angaben zu Geburtsort und Ort des Aufwachsens, die keine zeitlichen Referenzpunkte enthalten, wird die Herkunft des Vaters »aus B-Dorf« und die der Mutter aus einer benachbarten Ortschaft angeführt, die nicht namentlich genannt wird. Katharina Peck wirft ein, dass es ›ganz faszinierend‹ sei, dass ›bei uns‹, womit sie sich als Teil einer Nord-G-bundesländischen, dörflichen, Dialekt sprechenden Gruppe konstruiert, in jeder Ortschaft ein anderer Dialekt gesprochen werde. Um diese Beschreibung für die Interviewerin zu plausibilisieren, argumentiert sie, dass die
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TEIL III — Falldarstellungen
Menschen in einer Ortschaft, die ›zehn Minuten entfernt‹ ist, ›ganz anders‹ sprechen, was sie ›sehr spannend‹ findet. Diese Beschreibung, die zunächst mit Begeisterung, aber aus einer Außenperspektive getroffen wurde, wird nun am Beispiel der eigenen Familie mit Inhalten gefüllt: Die Mutter der Erzählerin redet ›total anders‹ als ihr Vater. Um diese Differenz zu belegen, nennt Katharina Peck einen Unterschied im Bereich der Lexik, der zugleich als stellvertretendes Beispiel für die Unterschiedlichkeit zwischen den Dialekten insgesamt steht, und fasst evaluierend zusammen, dass es sich um einen ›extremen Unterschied‹ handle. In dieser Beschreibung deutet sich eine Vorstellung von Basisdialekt als Gegenpol zum Standard an, der von einer starken lokalen Gebundenheit in ländlichen Regionen mit einer wenig mobilen Bevölkerung sowie von geringer kommunikativer Reichweite gekennzeichnet ist (vgl. Wiesinger 1980: 188; kritisch: Niebaum/Macha 2014: 5). Die Konstruktion eines ›extremen‹ Unterschieds zwischen den beiden Dialekten auf der Basis eines lexikalischen Unterschieds könnte auf lokale Diskurse über diese Unterschiede, die möglicherweise als ›Erkennungsmarker‹ in den Dörfern gelten, hinweisen. Vielleicht ist damit auch ein Zugehörigkeitsgefühl oder die Überzeugung, zu einer besonderen oder besonders interessanten Sprachgruppe zu gehören, verbunden. Für diese Lesart spricht, dass die Erzählerin meint, anderen gegenüber immer anzugeben, dass sie ›mehrsprachig aufgewachsen‹ sei, womit sie die beiden Dialekte der Eltern implizit als zwei verschiedene (Einzel-)Sprachen konstruiert. Zudem liegt der Beschreibung die Konstruktion einer homogenen Sprecher*innenschaft in den beiden Dörfern zugrunde. Die beiden Dialekte werden implizit als diachronisch unverändert oder unveränderbar konstruiert, und es werden auch keine schichtspezifischen oder anderen Unterschiede zwischen einzelnen Sprecher*innen angedeutet. Mit dem Hinweis, dass es ›immer ganz lustig‹ sei, wenn sie das irgendwo erzählt, wird deutlich, dass Katharina Peck oft und gerne über ihre geographische und sprachliche Herkunft spricht, und dass offenbar auch andere sich dafür interessieren. In der biographischen Eingangserzählung von Katharina Peck spielen die Sprachen der Eltern insofern eine Rolle, als sie als ›extrem unterschiedlich‹ bezeichnet werden, was der Erzählerin die Möglichkeit eröffnet, ihr Aufwachsen als ›mehrsprachig‹ und damit als besonders interessant zu konstruieren. Die Dialekte der Eltern werden in klar umgrenzten lokalen Kontexten verortet, zwischen denen zwar keine Verstehensgrenze liegt, die sich aber hinsichtlich bestimmter Kriterien so stark voneinander unterscheiden, dass Personen, die auch in sehr geringer Distanz voneinander leben, aufgrund ihrer Sprache sofort einem bestimmten Dorf zugeordnet werden können. Die Kontraste DorfDorf und Stadt-Land, die sich in der Eingangserzählung mehr oder weniger explizit finden, werden im weiteren Verlauf des Interviews ausgeführt. Die Begeisterung der Erzählerin, die im Sprechen über die Dialekte deutlich wird (›sehr interessant‹, ›sehr spannend‹, ›sehr faszinierend‹), wächst mit dem Fort-
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
schreiten der Lebensgeschichte und findet Ausdruck in Katharina Pecks wissenschaftlicher Beschäftigung mit diesem Thema zum Interviewzeitpunkt. Im Vergleich der beiden Fälle wird deutlich, dass die Sprachen der Eltern nicht nur biographisch, sondern auch in der Reihenfolge der erzählten lebensgeschichtlichen Ereignisse gewissermaßen ›vor‹ der eigenen Sprache stehen, dass also sprachliches Repertoire und/oder Sprachaneignungsprozesse der Eltern die Voraussetzung für das Verständnis der eigenen Sprachbiographie bilden. In der Rekonstruktion ihrer soziolingualen Ausgangsbedingungen stuft Günnur Duman die sehr guten Deutschkenntnisse ihrer Mutter ganz explizit als förderliches ›Startkapital‹ für ihre eigene sprachliche Entwicklung ein. Die Passagen über das sprachliche Repertoire des Vaters machen implizit deutlich, dass auch unter Bedingungen, in denen ein Elternteil die dominante Sprache der Migrationsgesellschaft nicht besonders gut beherrscht, das Erreichen eines exzellenten Sprachniveaus und die Aufnahme eines Studiums der dominanten Sprache mit dem Ziel einer späteren beruflichen Tätigkeit in der Sprachvermittlung möglich sind. In Katharina Pecks Erzählung gestaltet sich der Hinweis auf die Sprachen der Eltern weniger detailliert: Da es – im Gegensatz zur Erzählung Günnur Dumans – keine transnationalen oder einzelsprachraumübergreifenden Migrationsbewegungen in ihrer Familie gab, ist die Rekonstruktion elterlicher sprachlicher Repertoires und Sprachaneignungsprozesse offenbar nicht erklärungsbedürftig. Der Akzent in ihrer Erzählung liegt auf der Konstruktion der beiden benachbarten Dialekte als ›extrem unterschiedlich‹, was es ihr erlaubt, ihre sprachliche Sozialisation als ›mehrsprachig‹ und damit nicht nur für den Interviewkontext spannend zu konstruieren.
7.1.2 Sprache als zentrales Moment für soziale Anerkennung und Aufstieg In einigen biographischen Erzählungen erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit sprachlichen Bedingungen und Hierarchien in unterschiedlichen nationalstaatlichen und regionalen Kontexten, mit denen die Biograph*innen, ihre Familien oder einzelne Familienmitglieder im Verlauf ihrer Migrationswege in Berührung kamen. In diesem Unterkapitel wird der Frage nachgegangen, welche Relevanz die Erzähler*innen Sprache im Kontext sozialer Anerkennung und sozialen Aufstiegs zuschreiben. Afërdita Bushaj erzählt ihre Geschichte entlang ihrer Bildungsbiographie, wobei immer wieder Referenzen auf die aktuelle gesellschaftspolitische Situation im Herkunftsland ihrer Familie sowie auf Migrationsgeschichten von Verwandten vorkommen. Im Nachfrageteil fragt die Interviewerin nach den Um-
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ständen der familialen Migration von Mazedonien nach Österreich (23/2-13), die die Erzählerin im Anschluss rekonstruiert: Die Migration des Großvaters nach Österreich in den 1960er Jahren wird mit der »nicht so toll[en]« (17/1718) Situation im ehemaligen Jugoslawien und dem wirtschaftlichen ›Boom‹ in Österreich kontextualisiert. Zunächst mit der Absicht, nur für kurze Zeit zu bleiben, kommen Afërdita Bushajs Vater und ihr Onkel in den 1970er Jahren nach. Nach einer Anekdote, in der Afërdita Bushaj ein Bild der Migration ihres Vaters und Onkels zeichnet, das von harmonischen Arbeitsbedingungen, ausgeprägten Kontakten zu Mehrheitsangehörigen und einer damit einhergehenden schnellen Deutschaneignung gekennzeichnet ist, geht sie auf die ursprüngliche Migrationsmotivation ihrer Vorfahren ein, nämlich, sich über Erwerbsarbeit »ein Polster« (18/5) für ein unbeschwertes Leben nach der geplanten Remigration nach Mazedonien anzusparen. Nun folgt eine ausführliche Hintergrundkonstruktion, in der Afërdita Bushaj die Lebensbedingungen für die albanische Minderheit in Mazedonien beschreibt: Afë: weil ahm – ja – es is nämlich auch so dass ahm – diee (1) also der albanische Teil in Mazedonien – da fühlen sich eben die Albaner noch immer sehr stark unterdrückt von den Mazedon_ also von dem slawischen – Regime, ((hustet)) (2) ((trinkt)) uund – und da war dann irgendwie so okay sobald halt Jugoslawien auseinanderfällt wird es bestimmt besser – und auch die Möglichkeiten für einen Albaner – auch besser und so weiter und so fort – uund ahm (1) war aber leider nicht so, und es war dann auch ja – bis in Österreich haben sie sich dann irgendwie – wohler gefühlt sie wurden eben akzeptiert so wie sie sind also nicht »Du bist Albaner du hast kein Recht auf dieses jenes un_ und so weiter und so fort« sondern »Du bist ein Mensch – und – m_ – das ist dein Leben – und du kannst machen damit was du willst.« Und diese Freiheit hatten eben meine Eltern also die Generation meiner Eltern und auch von meinem Opa – nicht in Mazedonien. (18/6-17)
Die Erzählerin spricht hier aus einer Außenperspektive von den in Mazedonien lebenden Albaner*innen und benennt eher vorsichtig ein ›Gefühl‹ von Unterdrückung. Zudem weist der Abbruch (»von den Mazedon_«) eine Unsicherheit hinsichtlich der für die Unterdrückung verantwortlichen Gruppe auf: Möglicherweise markiert die Reformulierung den Versuch, ›den Mazedonier*innen‹ als Kollektiv keine Schuld zuzuweisen und diese bei einem politischen Regime zu orten, das sie als ›slawisch‹ bezeichnet. Mit ›slawisch‹ ist gleichzeitig eine ethnolinguale Gruppe angedeutet, die über den nationalen Raum Mazedoniens hinausreicht. Deren potentielle Bedrohung für die albanische Minderheit wird durch den Hinweis auf die Hoffnung einer Verbesserung der Lage nach einem möglichen Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens noch deutlicher gemacht. Worin die Unterdrückung der albanischen Minderheit bestand, führt Afërdita Bushaj nicht explizit an, sie macht aber deutlich,
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
dass es um die Vorenthaltung verschiedener Rechte und die Einschränkung von Wahlfreiheiten hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens ging. Insgesamt zeichnet sie die Situation der albanischen Minderheit in Mazedonien als Gegenbild zu deren Situation in Österreich. Diese beschreibt sie als von Freiheit und der Möglichkeit geprägt, das eigene Leben nach je individuellen Vorstellungen und ohne Einschränkungen zu gestalten. Afë: Also in der Familie von meiner Mama war das ein bisschen anders weil der Opa Offizier war – und – die hatten auch ahm – keine Bildungseinschränkungen oder sonst irgendwas also sie – dadurch dass eben der Opa Offizier war hat meine Mama auch ganz normal ein Gymnasium besuchen können, was für die Familie von meinem Papa nicht so einfach war – weil warst du ein Albaner musstest du eben verdammt viel Geld zahlen damit du in einem guten Gymnasium kommst, oder – in ein_ in eine einfache Schule einfach dass du deine acht Jahre Grundschule hast und – lesen und schreiben kannst – und natürlich fand dann auch der Unterricht nicht auf Albanisch statt sondern nur auf Mazedonisch – es wurde auch keine historisch_ also – albanische Geschichte vermittelt sondern nur es ging nur rein um es war Kommunismus – das erklärt vielleicht Einiges. (18/18-27)
In dieser Passage weist die Erzählerin innerhalb der Situation der albanischen Minderheit auf soziale Unterschiede hin: Die Beschäftigung ihres Großvaters mütterlicherseits beim Militär führte zu besseren Bildungsmöglichkeiten für seine Familienmitglieder und dazu, dass Afërdita Bushajs Mutter »ganz normal ein Gymnasium besuchen« konnte. Diese freie Schulwahl und der Zugang zu höherer Bildung waren der Familie des Vaters verweigert. Afërdita Bushaj beschreibt den Zugang zu einer ›Minimalvariante‹ an Bildung (»dass du deine acht Jahre Grundschule hast und – lesen und schreiben kannst«) als von großen ökonomischen Hindernissen für die Mehrheit der Albaner*innen getragen. Innerhalb dieser ohnehin prekären Bedingungen weist sie auf die alleinige Unterrichtssprache Mazedonisch und das Fehlen von Alphabetisierungs- und Bildungsmöglichkeiten in Albanisch hin. Darüber hinaus kritisiert sie, dass keine »albanische Geschichte« vermittelt wurde. Ob sie damit die Geschichte des Nationalstaates Albanien oder die der albanischen Minderheit in Mazedonien meint, ist unklar. Jedenfalls umschreibt sie die problematische Gesamtsituation, die sie an der Bildungsungleichstellung festmacht, mit dem Begriff »Kommunismus« und überlässt es dem Wissen der Interviewerin, sich eine genauere Vorstellung davon zu machen (»das erklärt vielleicht Einiges«). Afë: und – aahm – Albaner mussten auch un_ un_ in der Zeit so schwarze – Hau_ Häubchen tragen, um sich einfach – äh zu kennzeichnen dass sie Albaner sind (1) was ja heutzutage wenn man si_ sich das überlegt und durchdenkt ja – bescheuert ist, weil – Albaner würden nie untereinander Mazedonisch reden – sie würden sowieso Albanisch
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TEIL III — Falldarstellungen reden – somit wär ein erstes – Erkennungszeichen so und so da, aber si_ man musste sie quasi von der Ferne auch erkennen – falls man sie nicht sprechen – hörte (1) und ja – das war für sie eben nach Österreich zu kommen eine eine große Freiheit – in=in jeder Hinsicht – in jeder Hinsicht uund – das war auch das was sie auch dann weiterhin hier aufgehalten hat. (18/28-36)
Die Erzählerin beschreibt ein für Albaner*innen7 in Mazedonien zur damaligen Zeit verpflichtendes Erkennungszeichen, das auf deren unzweifelhafte Identifizierung abzielte. In ihrer Kritik daran konstruiert sie die Sprache als primäres ›Erkennungsmerkmal‹ für die Mehrheitsgesellschaft, das aber nicht immer gesichert war (»falls man sie nicht sprechen – hörte«), weshalb die ›schwarzen Häubchen‹ als zusätzliches Erkennungszeichen eingeführt wurden. Die Erzählerin bezeichnet die Kleidungspflicht als »bescheuert« mit dem Hinweis darauf, dass Albaner*innen »nie untereinander Mazedonisch reden« würden. Auch wenn die Erzählerin hier keine explizite Parallele zu Zwangskennzeichnungen für jüdische Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus herstellt, so ist ihr die Assoziation, die mit dieser Erzählung im österreichischen Kontext verbunden ist, wahrscheinlich bewusst. Vor dem Hintergrund der skizzierten Situation der albanischen Minderheit in Mazedonien kommt Afërdita Bushaj nun zu ihrem ursprünglichen Erzählstrang zurück und beschreibt die »große Freiheit«, die ihre Vorfahren nach der Migration in Österreich erlebten, als absoluten Kontrast und argumentiert, dass diese Freiheit sie »dann weiterhin hier aufgehalten hat«. Der Begriff ›aufhalten‹ weist auf den zuvor explizierten Remigrationsplan hin, der vor dem Hintergrund der überraschend großen Freiheiten in Österreich offenbar erst sukzessive aufgegeben wurde. Im weiteren Verlauf spricht die Erzählerin über sehr starke Schuldgefühle des Großvaters, sein »Heimatland« zugunsten eines »supertoll[en]« und »schönen« Lebens in Österreich »verlassen« zu haben (18/39-41). Sie gibt seine Perspektive in direkter Rede wieder: Afë: »Wenn ich mir so die Österreicher anschaue warum kann das eben nicht in Mazedonien auch der Fall sein dass ich als Albaner dort in meinem Fleck – ah leben darf – wie jeder andere Mensch auch ohne ständig irgendwie – benachteiligt zu werden aufgrund – solcher – aufgrund dass man Albaner ist eine andere Sprache spricht und so weiter aufgrund solcher Ausgrenzungen – warum – hier bin ich ja quasi auch Ausländer und warum werde ich hier nicht dann ausgegrenzt? – warum werden mir hier so viele Möglichkeiten geboten – dass ich mich quasi – ja – hier einlebe integriere und so weiter warum kann 7 | Die Erzählerin verwendet hier die männliche Form. Da sie das auch an anderen Stellen tut, an denen sie offensichtlich nicht nur männliche Personen ›meint‹, ist unklar, für welche(s) Geschlecht(er) die verpflichtende Kopfbedeckung galt.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache das nicht dort auch so sein?« und – es=es war irg_ es war nie so und es wird auch es wird auch nie so sein in Mazedonien – und nicht nur speziell in Mazedonien, sondern generell im ganzen Balkan. Das is ein=ein=ein – ja ein balkanisches Phänomen kann man sagen. (18/42-19/2)
In der rekonstruierten Rede des Großvaters werden Bedauern und Unverständnis darüber deutlich, dass er als Albaner in Mazedonien nicht leben kann, ohne aufgrund seiner Sprache und anderer Aspekte benachteiligt zu werden. Er weist auf die »viele[n] Möglichkeiten« hin, die ihm in Österreich trotz seines Minderheitenstatus, den er nicht als benachteiligend beschreibt, »geboten« werden. Abschließend kommentiert die Erzählerin, dass sie die Lage für die albanische Minderheit in Mazedonien als statisch und unveränderbar einschätzt und bezeichnet diese – analog zu der Beschreibung des ›slawischen‹ Regimes vorher – als ein über den Nationalstaat Mazedonien hinausreichendes »balkanisches Phänomen«. In weiterer Folge berichtet sie von einem Onkel mütterlicherseits, der sich nach dem historisch bedeutsamen Jahr 2001 8 trotz großer ökonomischer Einbußen für eine Remigration von der Schweiz nach Mazedonien entschied, mit der zentralen Motivation, das von seinem Vater Erwirtschaftete »nicht einfach jetzt diesen Slawen [zu] überlassen und zugrunde vernichten lassen so dass dann (1) die Wurzeln wirklich komplett weg sind« (19/10-11). Der Onkel könne inzwischen, so die Erzählerin, »sehr gut« (19/14-17) von einer kleinen Firma leben, die er sich mit dem in der Schweiz erwirtschafteten »Vermögen« (19/15) aufgebaut habe. Allerdings wird im nächsten Abschnitt deutlich, dass die Situation für den Onkel als Angehörigen der albanischen Minderheit in Mazedonien nach wie vor nicht unproblematisch ist. Afë: Aber natürlich als Albaner dann wieder etwas –/(leise, zögernd) schwieriger/– etwas schwieriger. Das is nämlich das is nämlich so witzig, – wenn ein wenn ein Albaner Mazedonisch spricht – das fällt gar nicht auf dass äh dass er ein Albaner ist, weil er gar keinen Akzent hat (1) wir (haben) nämlich so viele Buchstaben in unserm/(lachend) Alphabet/ [((lacht laut))] dass wir fast jede Sprache wirklich so – [((lacht))] – so genau [((lacht))] [((lacht))] Int: Afë: aussprechen können ohne dass es auffällt, [dass] man eigentlich eine andere [((lacht))] Int:
8 | In der Folge bewaffneter Auseinandersetzungen wurde die albanische Minderheit im Rahmenabkommen von Ohrid 2001 formal als gleichberechtigte Gruppe anerkannt, was u.a. mit einem erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt und der Einführung von Albanisch als Amts- und Unterrichtssprache in Regionen mit einem Bevölkerungsanteil von mindestens 20 % verbunden war (vgl. Zakar 2011: 314).
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TEIL III — Falldarstellungen Afë: Muttersprache /(lachend) hat [((lacht ausgiebig)] und es is aber s_ es fällt dann eben [((lacht))] Int: Afë: an gewisse andere Sachen auf wie der Name und so weiter ein Samet kann niemals ein /(lachend) Mazedonier sein/ das is so absurd einfach aber - an so etwas fällt’s eben dann auf (1) uund ja und diese=diese Schwierigkeiten - gibt es leider leider leider noch immer - uund - es is auch leider gar keine Verbesserung irgendwie in Sicht man=man versucht viel aber - es scheitert jedesmal - es scheitert jedesmal. (19/17-32)
Zunächst weist Afërdita Bushaj auf die (als für Albaner*innen spezifisch konstruierte) Fähigkeit hin, »fast jede Sprache« u.a. auch Mazedonisch, aussprechen zu können, »ohne dass es auffällt, dass man eigentlich eine andere Muttersprache/(lachend) hat«, was sie mit der lautlichen Vielfalt des Albanischen begründet. Hier konstruiert sie die Albaner*innen als sprachlich ›überlegene‹ Gruppe, die ihr ›Albanischsein‹ bei Bedarf anderen gegenüber ›verschleiern‹ kann. Neben dem primären Erkennungsmarker Sprache nennt sie andere Zeichen, die Personen als ›Albaner*innen‹ kenntlich machen können, unter anderem Namen. Sie weist auf viele Verbesserungsversuche in Hinblick auf die problematische Situation in Mazedonien hin, ohne genauere Umstände oder konkrete Akteur*innen zu nennen, meint aber, dass diese »jedesmal« scheitern. Insgesamt lässt sich an den Berichten und Erzählungen über transnationale Migrationsbewegungen der erweiterten Familie erkennen, dass diese als Einzelteile einer ausführlichen Hintergrundkonstruktion die Funktion erfüllen zu plausibilisieren, warum die Familie nach der formalen Verbesserung der Lage für die albanische Minderheit in Mazedonien nicht remigrierte und immer noch in Österreich lebt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Afërdita Bushaj in einem sozialen Kontext aufwächst, den sie in erster Linie als von Minderheitenrechten und vom selbstverständlichen Zugang zu (höherer) Bildung gekennzeichnet beschreibt. Diesen schildert sie als Spiegel der Verhältnisse, in denen ihre in Mazedonien zurückgebliebenen und dorthin remigrierten Verwandten als Teil der albanischen Minderheit leben. Diese leiden trotz ökonomischer Sicherheit und der Verbesserung ihres rechtlich-formalen Status innerhalb der letzten Jahrzehnte nach wie vor unter starken sozialen Restriktionen. Die Abschnitte, in denen Afërdita Bushaj über transnationale (Re-)Migrationsbewegungen und -überlegungen ihrer Familienmitglieder spricht, machen deutlich, dass in ihrer Familie Rechte und Entrechtung der albanischen Minderheit in Mazedonien sowie die Frage der Verantwortung derjenigen Familienmitglieder, die in Länder mit ausgeprägteren Minderheitenrechten migriert sind, für die in Mazedonien Zurückgebliebenen eine zentrale Rolle spielen. Die Verantwortung changiert zwischen den »Schuldgefühle[n]« (18/40) des Großvaters wegen des Zurücklassens seines ›Heimatlandes‹ (18/40) und dem politischen Engage-
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ment des Onkels, der sich in einer diasporischen Organisation für albanische Minderheiten in Mazedonien und dem Kosovo engagierte und versuchte, »von außen [zu] helfen« (23/3) und zu ›kämpfen‹ (23/20). In diesem Zusammenhang wird an mehreren Stellen deutlich, dass Afërdita Bushaj ethno-natio-linguale Herkunft und/oder Zugehörigkeit als Größen sieht, die man »preisgeben« (21/10, 22/33, 22/38, 22/40) oder »verstecken« (22/40) kann/muss oder die Anlass dafür geben können, »Angst [zu] haben« (22/38, 22/40), Größen also, die je nach sozialen Verhältnissen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft prekär sind. Deutsch (in Form des R-Bundesländischen Dialektes) und Albanisch (ebenfalls in einer dialektalen Ausprägung, was an einer späteren Stelle expliziert wird) sind Sprachen, die Afërdita Bushaj von frühester Kindheit an selbstverständlich zur Verfügung stehen und die sie personen- und kontextabhängig verwendet. In ihrer Erzählung beschreibt sie die Sprache Albanisch als zentrales Merkmal einer Gruppenzugehörigkeit vor dem Hintergrund dessen, dass deren Sprecher*innen in Mazedonien sozial und hinsichtlich ihrer Bildungsmöglichkeiten stark marginalisiert sind. Albanischsprecher*innen konstruiert Afërdita Bushaj allerdings nicht nur als Opfer, sondern auch als sprachmächtige Gruppe, die ihre ethnolinguale Zugehörigkeit bei Bedarf ›verschleiern‹ kann. Die österreichische Mehrheitsgesellschaft wird Afërdita Bushaj in ihrer Kindheit von ihren verwandten Erwachsenen vor allem vor dem Hintergrund von Minderheitenrechten u.a. dem im Vergleich mit Mazedonien nicht selbstverständlichen Recht, »eine andere Sprache« (7/47-8/1) zu sprechen, präsentiert. An dieser Stelle wird die Erzählung von Özlem Karaca eingeführt. Am Anfang ihrer Lebensgeschichte steht der Hinweis auf die »etwas kompliziertere Vergangenheit« (1/10-11) ihrer Familie. Diese beginnt mit einem nicht näher bestimmten Krieg und der Desertation und Flucht des Urgroßvaters aus dem damaligen Staatsgebiet Aserbaidschans in ein Gebiet der heutigen Türkei, das im Verlauf der jüngeren Geschichte mehrfach unterschiedlichen Staaten zugeordnet wurde. Özlem Karacas Großvater kam in den 1970er Jahren als »Gastarbeiter« (1/12) nach Österreich. Seine Frau und seine Kinder folgten ihm nach, als Özlem Karacas Mutter zwölf Jahre alt war. Die Rekonstruktion dieser sehr komplexen Migrationsgeschichte, die Özlem Karaca nicht nach chronologischen Gesichtspunkten ordnet, endet mit der Geburt des Großvaters in der Türkei und mit ihrem Kommentar, dass die Familiengeschichte »jetzt ein bisschen –/(leicht lachend) durcheinander [war]« (2/4-5). Unmittelbar nach diesem Kommentar setzt die Erzählerin dazu an, über ihre Geburt in Österreich zu sprechen: »Jaa dann dann bin ich/– hier auf d_« (2/9), bricht den Satz aber ab und beginnt mit einer Hintergrundkonstruktion, in der noch Informationen
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gegeben werden, die für das bessere Verständnis der Umstände, in die die Biographin hineingeboren wurden, wesentlich sind: Özl: Jaa dann dann bin ich – hier auf d_ also meine Mutter war hier – ein oder zwei Jahre in der Schule, sie hat dann die Schule abgebrochen, also sie is – musste halt quer einsteigen in die Hauptschule (1) konnte natürlich kein Wort Deutsch als sie hierher gekommen is –/(langsamer) wie denn auch?/– Uund äähm, (2) es gab halt auch nicht irgendwie so einen Förderunterricht oder irgendsowas für sie, sondern sie hat halt einfach – mitlernen müssen, was in der Schule beigebracht wurde, sie wurde nur ein Jahr halt runtergesetzt in der Klasse (1) – uund hat dann aber nach ein zwei Jahren abgebrochen, weil sie sich gedacht hat, sie unterstützt lieber die Familie und – geht arbeiten. – Hat dann halt Deutsch (1) irgendwie (1) durch – Amtswege erledigen – uund – d=durch arbeiten und alles mögliche gelernt und spricht jetzt halt natürlich wirklich sehr gut Deutsch aber sie hats nicht in der Schule glernt, kann man nicht wirklich sagn. – Viel auch selber gemacht, was sie halt erzählt (2) uund – ja dann bin ich auf die Welt gekommen. ((lachen)) (2/9-24)
In dieser Hintergrundkonstruktion wird die Mutter als handelnde Person eingeführt, die sich im Alter von etwa vierzehn Jahren dafür entscheidet, die Schule abzubrechen und stattdessen eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Die Umstände des Schulbesuches werden insgesamt als schwierig charakterisiert; die fehlende institutionelle Sprachförderung erschwerte den Quereinstieg der Mutter in die Hauptschule. Özlem Karaca sieht die damaligen fehlenden Deutschkenntnisse der Mutter zwar als selbstverständlich an (»wie denn auch?«), allerdings individualisiert sie Förderbedürfnisse, die in sprachlich heterogenen Klassen entstehen können, indem sie berichtet, dass es keinen Förderunterricht »oder irgendsowas für sie« gegeben habe. Der machtvolle Charakter der Institution, in der der Schülerin kein angemessener Platz zuerkannt wurde, wird sprachlich auch an der Wahl der Modalität und am Passiv deutlich: die Mutter »musste halt quer einsteigen« und »hat […] mitlernen müssen«, »was […] beigebracht wurde«, »wurde […] runtergesetzt«. Die fehlende Unterstützung in der Schule und die darauffolgende Zurückstufung der Mutter in eine andere Klasse werden von der Erzählerin wie schicksalshaft geschildert: Sie benennt keine Akteur*innen und macht auch niemanden für die Umstände verantwortlich. Der Abbruch der Schule wird vielmehr mit dem Wunsch der Mutter, die Familie durch Erwerbsarbeit zu unterstützen, erklärt. Özlem Karaca führt die »sehr gut[en]« Deutschkenntnisse ihrer Mutter auf das Erledigen von Amtswegen und anderen Arbeiten für die Familie zurück. Sie betont, dass sie nicht in der Schule Deutsch gelernt hat und hebt ihre Eigeninitiative bei der Sprachaneignung hervor. Somit wird die Institution zwar nicht explizit kritisiert, es wird aber deutlich, dass Sprachaneignungsprozesse auch ohne institutionelle Rah-
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mung und Unterstützung möglich sind. Daneben wird die Mutter als aktiv Handelnde mit hoher Durchsetzungskraft und Motivation charakterisiert. Am Ende dieser Hintergrundkonstruktion nimmt Özlem Karaca den ursprünglichen Erzählfaden (2/4) wieder auf und berichtet von ihrer eigenen Geburt. Die Betonung des Personalpronomens (»dann bin ich auf die Welt gekommen«) könnte auf den vorläufigen Endpunkt der transnationalen Migrationsgeschichte der Familie hinweisen oder auf die Möglichkeit, nach der Einführung in die Familiengeschichte und in die Bildungs- und Deutschaneignungsgeschichte der Mutter nun zur ›eigentlichen‹ Geschichte zu kommen. Möglicherweise ist mit der Geburt der Biographin aber ein weiterer Faktor angedeutet, der die Bildungsmöglichkeiten der Mutter zusätzlich einschränkte.9 Die nicht ausgeschöpften bzw. verwehrten Bildungsmöglichkeiten der Mutter, eine Reihe anderer Bildungs- und Schulgeschichten von Geschwistern beider Eltern sowie Gespräche Özlem Karacas mit ihrer Mutter darüber sind zentrale Themen des Interviews. Sind die noch nicht vorhandenen Deutschkenntnisse der Mutter bei ihrer Einschulung relevant, so sind die fehlenden Deutschkenntnisse des Vaters, der vor seiner Migration ein Gymnasium in der Türkei absolvierte und daneben in einer Tischlerei arbeitete, bei seiner Berufsfindung in Österreich von Bedeutung. Die Migration des Vaters beschreibt Özlem Karaca wie folgt: Özl: und er ist dann hierher gekommen – kann natürlich auch kein Deutsch – uund – mein Opa hat damals auf einer Baustelle gearbeitet und er hat dann halt auch dort angfangen also er hat Tischler auch nicht ausüben können hier weil – wenn du kein Deutsch kannst, kannst du auch schwer Tischler werden – in Österreich (1) ja Int: mhm Özl: sein Deutsch ist jetzt auch nicht – nach fünfundzwanzig Jahren – perfekt – aber – er kann sich zurechtfinden Int: mhm Özl: also er versteht – mehr als er reden kann – abeer – er hat halt nicht das Interesse gehabt Int: mhm Özl: Deutsch zu lernen imm Gegensatz zu meiner Mutter. (20/47-21/9)
Trotz eines Gymnasialabschlusses und mehrjähriger Erfahrung als Tischler war der Vater gezwungen, einer Erwerbsarbeit mit geringem Sozialprestige und niedrigem Einkommen nachzugehen. Die Argumentation der Erzählerin, dass man ohne Deutschkenntnisse in Österreich »schwer Tischler werden« könne, klingt wie ein Glaubenssatz und zeigt, dass unter den damaligen ge9 | Eine Stelle im Nachfrageteil, an der die Erzählerin meint, ihre Mutter aktuell zu einem Schulabschluss zu motivieren (19/10-12), stützt diese Lesart.
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sellschaftlichen Rahmenbedingungen Weiterbildungsmöglichkeiten oder das Erlangen einer angemesseneren Erwerbsarbeit als Optionen für den Vater oder dessen Familie offenbar nicht denk- oder vorstellbar waren. Die damaligen Deutschkenntnisse des Vaters werden mit seinen heutigen verglichen, die Özlem Karaca als ausreichend für die alltägliche Kommunikation beschreibt. Das Verb »zurechtfinden« verweist in diesem Zusammenhang auf die Konstruktion von Sprache als Orientierungsmöglichkeit im Raum. Über das (zugeschriebene) damals fehlende Interesse des Vaters werden soziale Zugangsmöglichkeiten zur dominanten Sprache individualisiert, und es klingen an dieser Stelle Diskurse von Sprache und ›Integrations(un)willigkeit‹ (Ha 2009; Plutzar 2010) an. In weiterer Folge vergleicht die Erzählerin den Zugang zu Deutsch beider Elternteile und meint, dass die Mutter, anders als der Vater, Interesse daran gehabt habe, Deutsch zu lernen. Der folgende Absatz widerspricht dieser Argumentation allerdings: Özl: also meine Mutter – ob sie will oder nicht, sie musste Deutsch lernen/(lachend) weil mein Opa gsagt hat/»Ja – du musst das heut erledigen dort hingehn, da hingehn« Int: mhm Özl: weil wenn die Oma arbeitet und der Opa auch arbeitet, dann muss sie halt – also meine Mutter hat quasi meine Tanten und Onkel aufgezogen, is immer in die Schule, zum Elternabend, dorthin dahin und bei vier Kindern ist es sehr schwer, dann geht der eine dorthin und der andere dahin – also sie musste Deutsch lernen, ihr ist nichts anderes [übrig geblieben] und – natürlich ist sie sehr froh darüber also sie sagt auch wenn sie [mhm] Int: Özl: nicht in die Schule gegangen ist, zumindest kann sie Gott sei Dank Deutsch. (21/9-20)
Aus dieser Sequenz geht hervor, dass der Deutschaneignungsprozess der Mutter nicht nur von Interesse und Eigeninitiative, sondern auch von der Notwendigkeit getragen war, Behördenwege auf Deutsch zu erledigen. Die Deutschaneignung der Mutter wird hier als alternativlose Möglichkeit beschrieben, sich in diesem komplexen Alltag zurechtzufinden und alle ihr zugewiesenen Aufgaben zu erledigen. Zugleich wird das sprachliche Repertoire der Mutter als quasi natürlich mit deren vielfältigen Aufgabenbereichen wachsend beschrieben. Der Abschnitt wird mit einer Evaluation aus der heutigen Perspektive der Mutter beendet, in dem der fehlende Schulbesuch bedauert wird, aber die Deutschkenntnisse als wichtige Minimalbildungserrungenschaft hervorgehoben werden. Özl: weil – siee Int: ((husten)) mhm
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Özl: s=schaut sich halt die Leute an, die kein Deutsch können und si=sagt »ich könnte so nicht leben also ich könnte nicht dich andauernd um irgendwas bitten, da würd ich nicht wolln, dass du mir andauernd irgendwas übersetzt oder – weiß ich nicht« – erstens ist dann sehr anstrengend, das also wir müssten unser Leben ja andauernd aufeinander a=äh=anpassn – sie könnt halt alleine nie was machn und ich müsst halt immer schaun, dass ich da und dort – wenn sie sagt, sie is je=also=so vor allem dem Opa sehr dankbar, dass er ihr halt also/(leicht lachend) machen lassen/und quasi [dass sie das] eben [mhm] Int: Özl: dadurch gelernt hat. Int: mhm Özl: Es gibt in A-Stadt sicher keine Ecke, die sie nicht kennt. Also sie is – gut jetzt gibts Quando-App und alles Int: ((kurzes Lachen)) Özl: /(leicht lachend) aaber/– sie iss – so ein App in/(lachend) Person/ Int: ((lachen)) Özl: also/(lachend) sie kennt sich/– in A-Stadt sehr gut aus Int: mhm Özl: mit Öffis [mit] Auto – ja – also wir=ham=immer=so=ein – Walking-Allgemeinwissen[mhm] Int: Özl: /(lachend) und Stadtplan beides in einem/((lachen))/(lachend) ja./(3) (21/20-41)
Die Perspektive bzw. Argumentation der Mutter wird, zum Teil unter Verwendung direkter Zitate, fortgeführt, indem ihre Deutschkenntnisse mit denen anderer Personen verglichen werden und ihre Zufriedenheit darüber hervorgehoben wird, dass sie nicht auf Translationsleistungen ihrer Tochter angewiesen ist. An dieser Stelle meint die Erzählerin, dass ihre Mutter ihrem Großvater »sehr dankbar« sei, dass er sie die zuvor erwähnten Aufgaben hat »machen lassen«. Die zuvor als notwendig und unausweichlich beschriebenen Aufgaben werden hier als Möglichkeitsbausteine konstruiert, die zu einer erfolgreichen Deutschaneignung führten. In einer weiteren Passage werden auch die detaillierten Ortskenntnisse der Mutter in A-Stadt hervorgehoben, und die Mutter wird als »so ein App in Person« und »ein Walking-Allgemeinwissen und Stadtplan beides in einem« beschrieben. Auch wenn es im Interview eine Reihe von Belegen dafür gibt, dass die Mutter sehr unter den ihr verwehrten Bildungsmöglichkeiten leidet, wird hier das Bemühen deutlich, deren Bildungsweg als – den damaligen Rahmenbedingungen entsprechend – äußerst erfolgreichen darzustellen. Die Erwerbsarbeit und die vielen Aufgaben, die die Mutter für ihre Familie übernahm, führten nicht nur zu hervorragenden Deutschkompetenzen, sondern auch zu einer ›Eroberung‹ von A-Stadt. Die referierten Passagen verweisen auf Erfahrungen von Benachteiligung und Dequalifizierung, mit denen die Migration der Eltern Özlem Karacas nach Österreich verbunden war, und die in beiden Fällen an noch nicht vorhande-
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nen Deutschkenntnissen zum Zeitpunkt der Migration festgemacht werden. Die Mutter der Erzählerin wird als aktiv Handelnde konstruiert, die die Schule abbrach, neben ihrer Erwerbsarbeit vielfältige Unterstützungsleistungen für die Familie übernahm und sich eigenaktiv sehr gute Deutschkenntnisse aneignete. Diese Darstellung lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass auch innerhalb prekärer sozioökonomischer Bedingungen und außerhalb institutioneller Bildungskontexte selbstständiges und erfolgreiches Sprachenlernen möglich ist. Die Mutter erweist sich auch ihren Kindern gegenüber als treibende und für Bildung zuständige Kraft. Ihre Erfahrungen von Bildungsbenachteiligung, ihr Bedauern darüber und ihr daraus resultierender Bildungsauftrag an die Kinder sind häufiger Gegenstand familialer Gespräche. Der Bildungsweg Özlem Karacas ist einerseits gekennzeichnet von eigenen Unsicherheiten bezüglich der Studienwahl und späterer beruflicher Optionen, andererseits von den sehr hohen Bildungsaspirationen ihrer Eltern und dem alternativlosen Auftrag an die Tochter, ein Studium zu absolvieren und einen akademischen Beruf zu ergreifen. Özlem Karacas Auseinandersetzung mit Bildungsmöglichkeiten und beruflichen Optionen wird vor dem Hintergrund der Migrations- und Bildungswege ihrer Eltern und anderer Familienmitglieder und der häufigen Kommunikation in der Familie darüber verständlich, in denen Deutsch – wenn auch in unterschiedlichen Varianten – eine bedeutende Rolle spielt. Die Sprachen Türkisch und Aserbaidschanisch bzw. die »Mischsprache« (vgl. Kap. 7.3.1), die Özlem Karacas Eltern sprechen, kommen in diesen Passagen nicht vor. Dass ausschließlich Deutsch erwähnt wird, könnte daran liegen, dass nur dieser Sprache Relevanz für Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten in der österreichischen Migrationsgesellschaft zugeschrieben wird. Daneben könnten, ähnlich wie bei Günnur Duman, in Zusammenhang mit der Nationalsprachenideologie stehende Diskurse über die Relevanz von Deutsch als ›Integrationsindikator‹ und über die Auswirkungen von elterlichen Deutschkenntnissen auf die Sprachaneignung von Kindern ausschlaggebend sein. Als weiterer Fall wird die Erzählung Alime Alpaslans vorgestellt. Diese weist einige Parallelen hinsichtlich des familiären Hintergrundes und des bildungsbiographischen Verlaufs mit Özlem Karacas Erzählung auf. Im großen Unterschied zu dieser und zu den meisten anderen Erzählungen spielt Sprache in Alime Alpaslans Haupterzählung nur eine marginale Rolle. Am Beispiel einer Erzählsequenz aus der Haupterzählung wird im Folgenden herausgearbeitet, auf welche Weise Bedeutungen von Sprache dennoch in den Text eingewoben sind. Die Sequenz steht im Kontext der schwierigen Bedingungen, mit denen die Mutter nach ihrer Migration nach Österreich konfrontiert war: Nach einem Schulabbruch aufgrund eines Militärputsches
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in der Türkei folgte die Migration nach Österreich und eine von den Eltern arrangierte und möglicherweise nicht mit voller Überzeugung eingegangene Heirat, nach der die Mutter der Erzählerin für den Haushalt der Schwiegereltern mit insgesamt sieben Personen verantwortlich war und daneben als Reinigungskraft für öffentliche WC-Anlagen tätig war. Diese Situation empfand sie vor dem Hintergrund ihrer beinahe zu Ende geführten schulischen Ausbildung in der Türkei als besonders degradierend. In die damalige Zeit, die Alime Alpaslan mehrfach und ausführlich als Aneinanderreihung von ›Schicksalsschlägen‹ für die Mutter charakterisiert, fällt der völlig unerwartete Tod von Alime Alpaslans Großvater mütterlicherseits und das Sterben der Großmutter etwa ein halbes Jahr danach: Ali: und sechs Monate später is dann auch ihre Mutter… also is die Mutter auch dann ge[storben,] Int: [Mhm] Ali.: sie hatte Alzheimer, und, öh, sie is dann auf der Straße… sie is dann einmal rausgegangen von zu Hause, und, ähm, sie wollte dann zu meiner Mutter nach Hause, und unterwegs… wei sie hat sehr selten die öffentlichen Verkehrsmitteln benutzt, und sie wollte dann halt zu meiner Mutter nach Hause fahrn, und sie hat dann aber unterwegs (1) is die Demenz dann ge[kommen,] dieses Alzheimer, und sie hat dann ihren Weg Int: [Mhm] Ali.: verloren! Int: Mhm Ali.: Und da ham wir sie dann… wo das Alzheimer dann weg war, hat sie sich aber… sie kann die deutsche Sprache nicht, gar nicht, sie hat sich dann total verlaufen, und hat dann äh… is dann irgendwo, hat sie sich dann ((atmet tief ein)) auf eine Bank, äh, in einen Park gesetzt. Und sie wurde dann in der… drei Uhr oder vier Uhr morgens in der Früh gefunden, aber es war/(klatscht mit Hand auf Schenkel o.ä.) dann/schon zu spät, im Krankenhaus is sie dann gestorben, das war dann der zweite Schicksalschlag, schwieriger, für meine Mutter, wir warn dann schon auf der Welt, aiso wie mein Opa gestorben is, war ich 40 Tage alt, ((klopft auf Tisch)) und wie meine Oma dann gestorben is, war ich dann ungefähr sechs, sieben Monate alt. [Aiso das war] wirklich sehr schwierig [Mhm mhm] Int: Ali.: für meine Mutter, ähm, (1) genau. (5/41-6/18)
Das Sterben der Großmutter wird aus einer zunächst eher distanzierten Perspektive in deren Verwandtschaftsbeziehung zur Mutter (»ihre Mutter«) geschildert. Für den Tod werden drei Erklärungsansätze geliefert: die Demenz, die Unkenntnis der deutschen Sprache und die Unvertrautheit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in A-Stadt. Der eigentliche Grund für das Sterben wird allerdings nicht angeführt. Im Vordergrund steht die völlige Verlassenheit der kranken Großmutter in einer als für sie fremd charakterisierten Welt.
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Die Geschichte wird aus einer Kinderperspektive erzählt, was unter anderem an der Beschreibung der Krankheit der Großmutter deutlich wird (»unterwegs (1) is die Demenz dann gekommen«, »wo das Alzheimer dann weg war«). An einer Stelle bringt sich die Erzählerin sprachlich in ein damals betroffenes und handelndes, aber nicht näher bestimmtes Kollektiv ein (»Und da ham wir sie dann«). Am unmittelbaren Abbruch danach wird aber deutlich, dass die Geschichte keine selbst erinnerte ist, und dass der Versuch, sie aus der Perspektive der Mutter zu erzählen, nicht bruchlos gelingt. An der Erzählung zeigt sich insgesamt, dass es sich um nachträgliche Rekonstruktionsversuche von Familienmitgliedern handelt, und ihr Detailreichtum spricht dafür, dass sie fester Bestandteil von Gesprächen mit der Mutter oder anderen Familienmitgliedern ist. Auf einer allgemeineren Ebene wird an der Geschichte deutlich, was Migrationsprozesse bedeuten können und von welchen Bedingungen das Leben – in diesem extremen Fall sogar das Sterben – von Menschen in einer Migrationsgesellschaft beeinflusst und bedingt sein kann: Alter, Krankheit, Sprache. Die Erzählung ist in Vergangenheit erzählt. Lediglich im Satz, in dem darauf hingewiesen wird, dass die Großmutter die dominante Sprache ihrer Umgebung nicht »kann«, greift die Erzählerin aufs Präsens zurück. Durch den Zeitenwechsel wirkt die Erzählung gerade an dieser Stelle emotional sehr nah. Der Satz »sie kann die deutsche Sprache nicht, gar nicht« kann nicht nur als Einschub auf zeitlicher, sondern auch auf semantischer Ebene gedeutet werden. Die Unvertrautheit mit Deutsch steht als allgemeine, über die Geschichte hinausreichende Erklärung für Dinge, die nicht funktionieren oder funktionieren können. Daraus spricht zudem vollkommen selbstverständlich die Notwendigkeit, die Sprache der Mehrheitsgesellschaft, in diesem Fall Deutsch, zu beherrschen. Auf der Ebene der Sprache könnte die ›Moral‹ dieser Geschichte also sein: »Du musst Deutsch können, damit du in der Migrationsgesellschaft überleben kannst bzw. damit dir nichts Schlimmes geschieht.« Ob eine solche Form von ›Moral‹ Teil der Kommunikation innerhalb der Familie ist oder ob die Erzählerin sie im Nachhinein auf die Geschichte anwendet und als Erklärungsressource hinzufügt, ist unklar. In dieser Erzählung wird Sprache jedenfalls als eine von mehreren plausiblen Erklärungsressourcen angeführt, die das tragische Sterben der Großmutter deuten. Sprache fungiert somit als Paradigma für eine basale Verständigungsmöglichkeit, die in dieser Situation nicht gegeben war und deren Fehlen zum Tod führte.10 Die nächste Erzählsequenz steht im Kontext einer sukzessiven Verbesserung der sozioökonomischen Situation der Familie. Zu Beginn dieser Phase 10 | Zur Überlebensnotwendigkeit von dominanten Sprachen in Extremsituationen vgl. auch Piller/Takahashi 2010.
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steht der Auszug aus dem Haushalt der Schwiegereltern in eine Wohnung mit viel zu kleiner Fläche und ohne Wasserentnahmestelle, in der die Mutter ihre Handlungsspielräume allerdings erweitern und ein autonomes Leben führen konnte. Neben den Reinigungsarbeiten und der Kinderbetreuung war sie als ›Hausmeisterin‹ tätig, wodurch die Familie eine ihrer Größe besser entsprechende Wohnung zugeteilt bekam, die Alime Alpaslan aus der damaligen Perspektive der Mutter und Bekannter der Familie als »richtig große Wohnung« (10/37), als »Traum« (10/41, 11/4) und als »Palast« (11/3) bezeichnet. Der Umzug in die neue Wohnung steht für einen sozialen Aufstiegsprozess innerhalb der im sozialen Nahbereich der Familie Alpaslan lebenden und aus der Türkei migrierten Familien, für den die Mutter die treibende Kraft ist. Ihr schreibt Alime Alpaslan den Umzug in die Wohnung zu, die mit einer sozioökonomischen Verbesserung verbunden war, die bis heute andauert: Ali: und das war halt zu der damaligen Zeit auch… also wegen den Umständen, auch finanziell, und Bürokratie, und keine deutsche Sprache und so, war das natürlich viel, viel schwieriger [eine solchene] Wohnung zu bekommen, was natürlich mit einer harten [Mhm mhm] Int: Ali: Arbeit für meine Mutter verbunden war. (11/5-11)
Nach einer detaillierten Beschreibung der neuen Wohnung geht die Erzählerin darauf ein, dass es zur damaligen Zeit besonders schwierig war, »eine solchene« Wohnung zu bekommen, womit sie wahrscheinlich nicht nur die Größe und Raumaufteilung, sondern auch den verbesserten Standard und die soziale Förderung meint. Als erschwerte Umstände nennt sie die ökonomische Lage der Familie, die »Bürokratie« und »keine deutsche Sprache und so«. Es war also für die Mutter »viel schwieriger«, wohl im Vergleich mit mehrheitsangehörigen A-Städter*innen, eine solche Wohnung zu bekommen, und mit »harte[r] Arbeit« verbunden. Die Mutter überwand allerdings die bürokratischen Hürden und konnte sich auf Deutsch verständlich machen oder möglicherweise eine*n Dolmetscher*in organisieren, wodurch sie Ressourcen sicherstellen konnte, die nach wie vor andauern. Es ist unklar, ob die ›harte Arbeit‹ sich auf das Bewerbungsprozedere für die Wohnung bezieht oder auf die darauf folgende Arbeit als Hausmeisterin in der neuen Wohnanlage, in der die Mutter mit »sehr viele[n] rassistischen[n] Fälle[n]« (11/26) konfrontiert war und in der die Entfristung ihres Vertrags von den Unterschriften der Hausbewohner*innen abhängig gemacht wurde (11/20-25). Ähnlich wie in der Geschichte über das Sterben der Großmutter wird hier die dominante Sprache zwar nicht als notwendig für das unmittelbare Überleben, aber doch als für die Sicherung von sozioökonomischen Normalstandards unerlässliche Ressource beschrieben. Auch wenn die Erzählerin nicht ausführlich auf die Bedeutung von Deutsch beim Wohnungswechsel eingeht,
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so wird doch deutlich, dass eine eingeschränkte Kommunikation in der dominanten Sprache das Erlangen eines der Familie angemessenen Wohnraums erschwerte. Im Vergleich der Erzählungen wird deutlich, dass Sprache ein zentrales Moment für soziale Anerkennung in unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten darstellt, die sich unter Bedingungen von Migration erheblich ändern können, und dessen Bedeutung die Erzähler*innen unterschiedlich konstruieren. In Afërdita Bushajs Erzählung spielt die Unterdrückung der albanischen Minderheit in Mazedonien eine zentrale Rolle. Im Kontext der familialen Migrationsgeschichte beschreibt sie vor allem die marginalisierte Sprache als unterdrückungsrelevanten Differenzierungsmarker. Österreich wird in ihrer Erzählung als Gegenpol zu Mazedonien konstruiert, wo die Familie ein Umfeld erlebt, das als minderheitenfreundlich beschrieben wird und das Minderheitenangehörigen gesellschaftliche Teilhabe und vor allem auch Zugang zu (höherer) Bildung ermöglicht. Ganz anders wird die Bedeutung von Sprache in Özlem Karacas Erzählung konstruiert: Während sie auf die sprachliche Situation ihrer Vorfahren vor der Migration nach Österreich kaum eingeht, steht in ihrer Erzählung die Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch im Kontext von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten in der Migrationsgesellschaft im Vordergrund. Özlem Karaca geht sehr detailliert auf den Deutschaneignungsprozess ihrer Mutter ein und führt sowohl deren Bildungsbenachteiligung als auch die Dequalifizierung des Vaters explizit auf fehlende oder zu wenig ausgeprägte Deutschkenntnisse zurück. Während in Afërdita Bushajs Erzählung Österreich als offen für Personen und Gruppen (sprachlicher) Minderheiten konstruiert wird, werden in Özlem Karacas Erzählung vor allem Schwierigkeiten und Hürden deutlich. Allerdings macht Özlem Karacas Erzählung auch deutlich, dass Subjekte den gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen, innerhalb derer sie leben, nicht machtlos unterworfen sind: Die Bildungs- und Sprachaneignungsgeschichte ihrer Mutter lässt sich als Erfolgsgeschichte und als Beispiel dafür lesen, wie selbstständige Sprachaneignung auch innerhalb prekärer Bedingungen und ohne institutionelle Unterstützung möglich ist. In Alime Alpaslans Erzählung hingegen spielt Sprache nur eine marginale Rolle und wird erst im Nachfrageteil als Thema fokussiert. Trotzdem sind Bedeutungen von Sprache in ihre Haupterzählung, in der sie vor allem auf die Migrationsgeschichte ihrer Mutter und den in Zusammenhang damit stehenden erzwungenen Bildungsabbruch eingeht, eingewoben. In ihrer Erzählung wird die dominante Sprache Deutsch als zentrale Ressource in der Migration konstruiert, deren Beherrschen Zugang zu ökonomischen Ressourcen
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gewährt, unerlässlich für sozialen Aufstieg ist und unter besonders prekären Umständen auch das Überleben sichern kann. In den Erzählungen wird insgesamt deutlich, dass die Zugehörigkeit zu einer marginalisierten sprachlichen Minderheit mit einer hohen Vulnerabilität verbunden ist. Diese kann mit der expliziten Vorenthaltung von Rechten, mit Bildungsbenachteiligung und mit (der Furcht vor) einer marginalisierenden sozialen Positionierung in der Mehrheitsgesellschaft verknüpft sein. Die Erzählungen verweisen allerdings auch darauf, dass Bildung(saufstiege) und der Zugang zu sowie die Sicherung von ökonomischen und sozialen Standards auch innerhalb prekärer Bedingungen möglich ist.
7.1.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Ver wobenheit individueller und familialer Sprachgeschichten Im Vergleich der in den einzelnen Unterkapiteln vorgestellten Fälle wird deutlich, dass die Interviewpartner*innen individuelle und kollektive familiale Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n) sowie sprachliche Repertoires von signifikanten Verwandten als besonders relevant für das Verständnis ihrer individuellen Sprachbiographien betrachten. Die Rekonstruktion der sprachlichen Handlungsumfelder, in die die Interviewpartner*innen ›hineingeboren‹ sind, wird von ihnen auf unterschiedliche Weise gestaltet, wobei neben individuellen (bezogen auf bestimmte Familienmitglieder) und familialen SprachGeschichten auch kollektive Erfahrungen bestimmter Gruppen in unterschiedlichen nationalstaatlichen und regionalen Kontexten relevant sind. In Bezug auf elterliche sprachliche Repertoires wird deutlich, dass Sprachaneignungsgeschichten sowohl als wegen guter Kenntnisse der dominanten Sprache von älteren verwandten Bezugspersonen als auch als trotz fehlender Kenntnisse erfolgreich dargestellt werden. Dass die Interviewpartner*innen in der Rekonstruktion elterlicher Sprachkenntnisse vor allem auf Deutsch eingehen und die jeweils andere(n) Sprache(n) zum Teil nur am Rande oder gar nicht erwähnen, lässt sich zum einen mit gesellschaftlichen und akademischen Diskursen zur Relevanz von Deutschkenntnissen im dominant deutschsprachigen Raum, zum anderen mit Annahmen über das Interesse der Interviewerin an Sprachbiographien von Student*innen der Germanistik (nicht etwa einer anderen Philologie) erklären. Daneben zeigt sich, dass sprachliche Ausgangsbedingungen, die von mehr als einer Sprache und/oder Varietät geprägt sind, von den Erzähler*innen als in hohem Maße erzählenswert betrachtet werden, dass also mehrsprachiges Aufwachsen als Mehrwert empfunden und/oder als für die Forschung interessant betrachtet wird. Es wird außerdem deutlich, dass soziale Benachteiligung eine prägende Erfahrung mancher (Groß-)Elternteile darstellt, die zu einer intensiven Bildungsaspiration und expliziten Bildungs-
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aufträgen an Kinder führt, die sich vor allem am Erlernen der dominanten Sprache festmachen. In einigen Erzählungen steht die Rekonstruktion des sprachlichen Repertoires der Eltern in der Reihenfolge der erzählten biographischen Ereignisse ›vor‹ dem Beginn der eigenen Geschichte und bildet somit den Rahmen, in den die eigene Sprachaneignungsgeschichte eingebettet wird und vor dessen Hintergrund sie erst erzähl- und verstehbar wird. Neben individuellen sprachlichen Repertoires und Erfahrungen mit sprachbezogenen Ausgrenzungen im Zuge von Migrationsprozessen (etwa Bildungsbenachteiligung und Dequalifizierung) sind auch kollektive Erfahrungen von Familienmitgliedern als Angehörige bestimmter (sprachlicher) Gruppen in den jeweiligen Herkunftsländern relevant. Dabei wird die Bedeutung von Sprache als bedeutsame soziale Differenzierungskategorie deutlich, die Zugang zu Rechten, zu sozialem Prestige, zu Bildung sowie zum Arbeits- und Wohnungsmarkt mitstrukturiert.
7.2 (N icht) E rinnerte S pr achaneignung z wischen S elbstinitiative , F remdbestimmung und Z ufall Im vorangegangenen Kapitel wurde rekonstruiert, auf welche Weise familiale Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n) in den biographischen Erzählungen thematisiert werden und in welchem Verhältnis diese zu den individuellen Sprachbiographien der Erzähler*innen stehen. In diesem Kapitel werden die Anfänge der individuellen Sprachaneignungsgeschichten der Erzähler*innen thematisiert. Es wird herausgearbeitet, an welchen Stellen der biographischen Erzählungen und auf welche Weise frühe Begegnungen mit Sprache, der Beginn der eigenen Sprachaneignung und deren Fortschreiten in den kindlichen Lebenswelten thematisiert werden.
7.2.1 Beginnende Sprachaneignung als ›Leerstelle‹ in der Erinnerung In fast allen Interviews gibt es Passagen, in denen über den biographischen Anfangspunkt des Sprachaneignungsprozesses gesprochen wird. Bei aller Verschiedenheit hinsichtlich individueller und familialer Migrationsbewegungen und in Zusammenhang damit relevanter Sprachen wird in den Erzählungen eine Gemeinsamkeit deutlich, nämlich eine Leerstelle in der Erinnerung an den Anfang der eigenen Sprachaneignung, die auf ganz unterschiedliche Weisen thematisiert wird: Die Rekonstruktion der Sprachaneignung von Özlem Karaca folgt auf die Erzählung der Migrationsgeschichte ihrer Familie und die detaillierte Re-
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konstruktion der schwierigen Bedingungen, unter denen sich ihre Mutter in Österreich gute Deutschkenntnisse aneignete (vgl. Kap. 7.1.2). Özlem Karaca beschreibt die sprachlichen Ausgangsbedingungen, die sie in ihrer Familie vorfand, wie folgt: Özl: ja dann bin ich auf die Welt gekommen ((lacht)) – ich wurde (2) aahm – quasi dreisprachig aufgezogen, – also meine Eltern sprechen – beziehungsweise meine ganze Familie die hier=is, […] wir sprechen halt alle miteinander (2)/(ausatmend) äähm/– so eine Mischung aus Türkisch und Aserbaidschanisch, die sich halt im Laufe der Jahre in dieser Stadt wo meine Familie gelebt hat entwickelt hat. – Was nicht mehr wirklich Aserbaidschanisch is – aber auch nicht Türkisch (2) uund äähm – ich hab halt aber auch richtiges Türkisch gelernt durch Fernsehen oder durch Unterricht in der Schule, (1) also meine Eltern wollten unbedingt, dass ich alle drei – Sprachen lerne quasi also sie haben nie von Anfang an von mir – er_ also mit mir so pur Türkisch gesprochen, (2) aahm sondern halt schon – diese Mischung – aber auch in der Schule halt Türkisch gelernt – a=äh Deutsch hab ich – überraschenderweise sehr spät gelernt erst also ich bin mit – fünf in den Kindergarten gekommen – weil meine Mama nicht wollte, dass ich vorher in Kindergarten geh – und hab innerhalb eines Jahres halt Deutsch gelernt. (2/23-38)
Unmittelbar nach der Geburt der Erzählerin folgt ihre sprachliche Sozialisation, die sie mit »dreisprachig aufgezogen« beschreibt. Die zweimalige Betonung des »ich« ist im Kontext der vorangegangenen Geschichte der Mutter und deren Deutschaneignung (vgl. Kap. 7.1.2) zu verstehen: Formal könnte die Betonung darauf hinweisen, dass nach der Geschichte der Mutter nun die eigene beginnt, inhaltlich könnte sie darauf verweisen, dass die Geschichte Özlem Karacas einen starken Kontrast zu der eben erzählten Geschichte der Mutter bildet. Die Familiensprache bezeichnet die Erzählerin nach einer Pause und einem Ausatmen als »so eine Mischung aus Türkisch und Aserbaidschanisch«, die sie in den Kontext ihrer Entstehung in der türkischen Stadt stellt, aus der ihre Familie nach Österreich migrierte, und in der viele Migrant*innen aus Aserbaidschan leben. Die Charakterisierung »nicht mehr wirklich Aserbaidschanisch – aber auch nicht Türkisch« legt die Interpretation nahe, dass die Erzählerin von einer ›Ursprungssprache‹ Aserbaidschanisch ausgeht, die sich in der türkischen Migrationsgesellschaft veränderte, und die Elemente aus beiden Sprachen enthält. Daneben berichtet sie, auch »richtiges«, also normgerechtes bzw. normiertes Türkisch, gelernt zu haben. Ihr im Alter von fünf Jahren begonnenes und von ihr als ›sehr spät‹ eingestuftes Deutschlernen bezeichnet sie als ›überraschend[…]«. Möglicherweise widerspricht sie damit gesellschaftlich wirkmächtigen Vorstellungen von der Bedeutung einer sehr
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frühen Aneignung der dominanten Sprache11 oder von negativen Einflüssen mehrsprachiger Erziehung oder der Verwendung von ›Mischsprachen‹. Jedenfalls macht sie deutlich, dass die Aneignung der dominanten Sprache in der frühen Kindheit gelingen kann, auch wenn in der Familie nicht regelmäßig in dieser Sprache kommuniziert wird. Von den genannten Sprachen, mit denen Özlem Karaca aufgewachsen ist, geht sie nun auf Deutsch ein: Özl: (1) Aahm, (1) ich kann mich natürlich nicht so wirklich dran erinnern, wie ich überhaupt Deutsch gelernt hab – ich hab jetzt nicht soo (1) dieses – ich weiß nicht, dieses äh diese Erinnerung oder das Gefühl, dass ich irgendwie in den Kindergarten kommen bin und – nichts verstanden hab oder so. (3/3-6)
Die Erzählerin argumentiert, dass sie sich »natürlich« nicht an das Erlernen der deutschen Sprache erinnern kann. Die Thematisierung des Deutschlernens – im Gegensatz zu dem des Türkischen und Aserbaidschanischen bzw. der »Mischsprache«, über das die Biographin nichts sagt – ist an dieser Stelle also besonders relevant. Da die Aneignung aller Sprachen so weit in der Erinnerung zurückliegt, dass sich Özlem Karaca nicht daran erinnern kann, lässt sich diese Stelle vor dem Hintergrund gesellschaftlich wirkmächtiger Diskurse zur Deutschaneignung im Kindergartenalter (Becker et al. 2013; Biedinger 2010) lesen. Möglicherweise nimmt die Erzählerin auch an, dass die Interviewerin sich mehr für ihre Deutschaneignung als die ihrer anderen Sprachen interessiert, oder sie wurde als nicht dominant positionierte Deutschsprecherin bereits mehrfach mit Fragen zu ihrem Lernen der dominanten Sprache konfrontiert. Die gesellschaftliche Erwartung, über ihr Deutschlernen zu sprechen, nimmt die Erzählerin an dieser Stelle also an. Andererseits dekonstruiert sie mit dem Hinweis darauf, sich nicht an den Beginn ihres Deutschlernens erinnern zu können, das Bild des ›Zweitsprach‹-Lernprozesses als eines besonderen Prozesses. Die Stelle verdeutlicht, dass die Aneignung so ›natürlich‹ funktioniert hat, dass er nicht in der Erinnerung haften geblieben ist. Zudem weist die Erzählerin mögliche Vorstellungen von einschneidenden Erlebnissen des nicht-Verstehens – etwa am ersten Kindergartentag – zurück. Özl: Ich [denke], dass ich – zu Hause, was ich von meiner Mama oder von meinen Tanten Int: [mhm]
11 | Dass sich die Erzählerin damit auch gegen wissenschaftliche Theorien zu einer Critical Period (für einen Überblick vgl. Singleton/Lengyel 1995; Jedynak 2009) wendet, ist eher unwahrscheinlich, da Özlem Karaca erst am Beginn ihres Germanistikstudiums steht.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Özl: halt gehört hab vielleicht – doch schon irgendwie Deutsch (1) also in meinem Kopf war, (1) aber gesprochen halt erst wirklich im Kindergarten das eine Jahr. (3/6-11)
An dieser Stelle spielen nicht mehr beide Elternteile, sondern weibliche verwandte Identifikationsfiguren, nämlich die Mutter und die Tanten, eine Rolle. Es ist unklar, ob sich das »was« (»was ich […] gehört hab«) auf nachträgliche Erzählungen oder Berichte der Verwandten über Özlem Karacas Sprachaneignung bezieht oder auf das zum damaligen Zeitpunkt auf Deutsch von ihnen Gehörte. Jedenfalls zeichnet die Erzählerin mit dem Hinweis darauf, dass Deutsch schon vor dem Besuch des Kindergartens »in meinem Kopf war«, aber erst in der Institution zu einer produktiven Verwendung gelangte, das Bild einer durch sprachliche Stimuli in Deutsch entstandenen neurophysiologische Anlage, auf die bei Bedarf zurückgegriffen, und die dann mühelos in eine produktive Sprachverwendung überführt werden kann. Neben dem ausführlich beschriebenen familialen Kontext und den darin gesprochenen Sprachen verweist die Rekonstruktion ihrer frühkindlichen Aneignung mehrerer Sprachen auf gesellschaftliche Diskurse zu Sprachen und Sprachaneignung, innerhalb derer sie sich im Interview kritisch positioniert. Hinsichtlich des familialen sprachlichen Kapitals finden sich in der Erzählung von Afërdita Bushaj Ähnlichkeiten: Auch in ihrer Familie wurde nicht nur eine Sprache gesprochen: Nach einer sehr knappen Angabe zur Herkunft ihrer Eltern aus Mazedonien, ihrer Geburt in Österreich in R-Bundesland und ihrer Position in der Geschwisterreihenfolge (1/18-1/21) berichtet die Erzählerin Folgendes über ihre Kindheit: Afë: ja also meine Kindheit hab ich auf jeden Fall eben in R-Bundesland verbracht am Land – und ahm – ja (1) und was da vielleicht für mich äh besonders war: – es war irgendwie schon von klein auf das Sprachliche bei mir sehr sehr stark, weil ich ahm (1) ja dadurch, dass mein Opa mit mir Deutsch gesprochen hat, aber Dialekt und meine Eltern Mazedonisch-Albanisch, hat mich das irgendwie bis jetzt mein Leben lang geprägt [und] [Mhm] Int: Afë: bin auch irgendwie jetzt diesen diesen Weg eingegangen. (1/21-28)
Nachdem die Erzählerin ihre Kindheit noch einmal in einem Bundesland und »am Land« verortet, geht sie mit einem eigentheoretischen Kommentar auf das Thema ein, das sie als »besonders« für sich in Anspruch nimmt, nämlich die »sehr sehr stark[e]« Ausprägung des »Sprachliche[n]«. Mit dem Begriff ›das Sprachliche‹ benennt sie keine Einzelsprache und auch keine Beziehung zu einer Sprache. ›Das Sprachliche‹ ist zunächst abstrakt, wird aber im weiteren Verlauf konkretisiert, nämlich mit den Sprachen, in denen wichtige Personen zu ihr gesprochen haben, die sie mit »Deutsch […], aber Dialekt« von Seiten
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ihres Großvaters und »Mazedonisch-Albanisch« von Seiten ihrer Eltern konkretisiert. ›Das Sprachliche‹ wird nicht als wechselseitige Kommunikation dargestellt, sondern als Sprechen Anderer zu Afërdita Bushaj. Möglicherweise nimmt die Erzählerin damit Bezug auf alltagsweltliche und wissenschaftliche Vorstellungen über die Bedeutung der Einzelsprache, in der Bezugspersonen zu kleinen Kindern sprechen (sollen), um deren Sprachaneignung zu fördern (vgl. Leist-Villis 2016). Die Passage wird wieder mit einer Eigentheoretisierung beendet, nämlich, dass die mehrsprachige Kommunikation sie »bis jetzt mein Leben lang geprägt« habe. Afërdita Bushaj stellt somit biographische Kontinuität über die Sprachen her, macht aber auch deutlich, dass sie diese Kontinuität zusätzlich über eine eigene Entscheidung gefestigt hat, nämlich, indem sie »diesen Weg« beging. Damit könnte die geographische Bewegung von R-Bundesland nach A-Stadt oder auch der Bildungsweg hin zu einem Sprachenstudium gemeint sein. Im Nachfrageteil wird die sprachliche Kommunikation in der Familie der Erzählerin noch einmal von der Interviewerin angesteuert: Int: Mh (3) du hast – ahm – ziemlich am Anfang erzählt [ahm] (1) dass deine Eltern [Mhm] Afë: Int: Albanisch mit dir gesprochen haben [-] und dein Opa Dialekt [Genau] Afë: [Mhm Deutsch Dialekt] Int: [/(lachend) ja/((lacht))] Afë: -/(lachend) ja/Int: möchtest du – irgendwie noch=noch ein bisschen was dazu erzählen wie das so war in=in deiner Familie oder auch in deinem [Umfeld] – als du noch ein Kind [warst –] [Mhm mhm] [Ja gerne] Afë: ((lacht)) gerne. (27/21-29)
An dieser Sequenz lässt sich ablesen, dass die Erzählerin Wert darauf legt, dass der Interviewerin die in der Familie verwendeten Varietäten deutlich geworden sind: Sie betont, dass es nicht etwa ein albanischer, sondern ein deutscher Dialekt war, den der Großvater mit ihr gesprochen hat. Ihre Selbstkonstruktion als Dialektsprecherin wurde bereits im Vorgespräch deutlich, in dem sie über ihr selbstverständliches Code-Switching zwischen R-Bundesländischem Dialekt und deutschem Standard sprach. Referenzen auf den Dialekt kommen auch in mehreren anderen Passagen, etwa in der über die Einschulung (vgl. 8.1.1) vor. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Erzählerin sich als Dialektsprecherin ›von Anfang an‹, also als ›Muttersprachlerin des Dialekts‹ verstanden wissen will.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Afë: für mich ah – als Kind nimmt man das gar nicht so äh so bewusst wahr – dass der Opa mit einem Deutsch redet und die Eltern mit/(stotternd) einem/Albanisch, weil das nimmt man irgendwie von klein auf irgendwie so mit, man – das is automatisch irgendwie (1) wendet man sich zum Papa redet man auf einmal Albanisch kommt der Opa obwohl’s – in einem Raum/(lachend) [sind] redet man Deutsch/((lacht)) - uund (2) und das hab ich Int: [((lacht))] Afë: auch erst viel später – begriffen – aber (2) für mich war das irgendwie so gang und gäbe (1) und das is heutzutage noch immer so (1) m_ dass ich – wobei mitm Opa rede ich mittlerweile auch Albanisch (1) rede ich auch Albanisch mit meinen Eltern sowieso – Albanisch und dann kommt natürlich ein bissl Deutsch immer wieder mal zwischendurch – wenn mir das albanische Wort nicht einfällt. (27/30-41)
Die Sprachaneignung, die die Erzählerin über das unpersönliche »man« wie eine allgemeine Regel erklärt, wird als Prozess konstruiert, der weitgehend ohne bewusste Wahrnehmung geschieht und wie selbstverständlich mit den sprachlichen Angeboten signifikanter Erwachsener einhergeht. Die Kommunikation mit den jeweiligen Bezugspersonen wird als »automatisch« in der Sprache dargestellt, in der ein Kind von ihnen angesprochen wird. Zudem verweist diese Passage auf eine Veränderung der Sprachwahl in der Familie: Afërdita Bushaj spricht inzwischen mit ihrem Großvater Albanisch und bedient sich deutscher Wörter, wenn ihr »das albanische Wort nicht einfällt«. Dass der Großvater mit seiner Enkelin in ihrer Kindheit Deutsch sprach, inzwischen aber wieder auf Albanisch kommuniziert, spricht für eine damals bewusst getroffene Entscheidung, die der Enkelin die Aneignung der dominanten Sprache erleichtern sollte und verweist auf die dynamische Gestalt familialer Sprachwahlprozesse. Während in den beiden vorgestellten Fällen das als völlig selbstverständlich und ›problemlos‹ konstruierte mehrsprachige Aufwachsen innerhalb der Familie zentral war, kommt Majda Melić in ihrer Familie zunächst nur mit einer Sprache, nämlich Bosnisch, in Berührung. Ihre biographische Selbstpräsentation beginnt mit ihrer Geburt und frühesten Kindheit in M-Stadt in Bosnien, mit einer dramatischen Schilderung der Wohn- und Lebensverhältnisse ihrer Familie im Bosnien-Krieg und der Entscheidung ihrer Mutter, mit der damals zwei Jahre alten Tochter zu flüchten und sich damit auch auf unbestimmte Zeit räumlich vom Vater zu trennen. Nach der Ankunft in der Schweiz und einem kürzeren Aufenthalt in einer Unterkunft für geflüchtete Menschen ziehen Majda Melić und ihre Mutter in ein Altersheim in einem kleinen Dorf, wo sie sich mit der etwa gleichaltrigen Tochter einer benachbarten Bauernfamilie anfreundet. Nach der Beschreibung der mit der Flucht verbundenen Ortsveränderungen orientiert Majda Melić ihre Erzählung an den ersten Stationen des Bildungssystems. Die Relevanz der damaligen Beziehung zu den Nachbars-
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kindern wird besonders deutlich, als die Erzählerin vom »Schock« berichtet, den Majda Melić bekommt, als sie erfährt, dass sie im Kindergarten nicht in der gleichen Gruppe ist wie diese. Maj: ahmm – und dann – wars für mich im Kindergarten super, also ich kann mich nich erinnern wie ich die Sprache gelernt hab wie_ ob ich, wirklich, gesprochn hab, am Anfang, oder w_ wie das/(schmunzelnd) geschehn is/, wenn mich f_ Leute fragn »Wie_ wie hast du Deutsch gelernt?«.=/(leicht lachend) Keine, Ahnung!/=Also ich kann mich wirklich dran nich erinnern – ahmm – und, im Kindergarten fühlte ich mich super, (glaub i_), meine Mutter hat mir immer erzählt »Du ah, du=du hast die Lehrerin geliebt, sie war dir, sie war hm äh, teils,/(schmunzelnd) wichtiger als ich!« (3/18-25)
Der Kindergarten wird unter dem Aspekt der Deutschaneignung und der guten Beziehung zur Kindergartenpädagogin thematisiert: Majda Melićs Reflexion darüber, sich nicht an das Deutschlernen erinnern zu können, verweist auf eine sehr lange zurückliegende sprachliche Sozialisation mit dem Deutschen, durch die sie sich nicht von dominant positionierten Deutsch sprechenden Menschen unterscheidet. Diese frühe sprachliche Sozialisation wird auf der Ebene des Erzählten als unproblematisch und völlig selbstverständlich dargestellt. Allerdings thematisiert die Biographin das nicht-Erinnern. Zum einen wird das erklärbar durch die häufigen Fragen nach der Deutschaneignung, mit denen Majda Melić konfrontiert ist, zum anderen spielt möglicherweise die Interaktionssituation im Interview und das Wissen der Erzählerin um das Forschungsinteresse der Interviewerin eine Rolle. Dass die Erzählerin in der Gegenwart häufig danach gefragt wird, wie sie Deutsch gelernt hat, lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass sie von anderen nicht selbstverständlich als ›Erstsprachlerin‹ bzw. ›Muttersprachlerin‹ angesehen wird und dass Selbstund Fremdwahrnehmung in diesem Punkt deutlich voneinander abweichen. Auf ihren Bosnischerwerb geht die Erzählerin nicht ein. Dass sie sich an diesen ebenso wenig erinnern kann wie an die Deutschaneignung, aber nur die Aneignung des Deutschen thematisiert, macht deutlich, dass die Aneignung der Sprache, die von einer Außenperspektive offenbar wie selbstverständlich als ihre ›Zweitsprache‹ angesehen wird, gesellschaftlich erklärungsbedürftig ist. Die Erzählerin kommt noch einmal darauf zurück, sich im Kindergarten »super« gefühlt zu haben, wobei sie ein relativierendes »glaub i« hinzufügt, das deutlich macht, dass sie sich selbst nicht mehr an diese Zeit erinnern kann. Die oftmaligen Erzählungen der Mutter über das Verhältnis der Tochter zur Pädagogin,12 das in Konkurrenz zum Tochter-Mutter-Verhältnis gestellt 12 | Die Verwendung des Begriffes »Lehrerin« an dieser Stelle könnte darauf verweisen, dass der Pädagogin in der familialen Kommunikation ein hoher Stellenwert hinsichtlich des Deutschlernens zugeschrieben wird.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache
wird, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Biographin sich ganz selbstverständlich in den Kindergarten einfinden konnte. Die Erzählerin fährt mit der Beschreibung der Kindergartenzeit fort und betont, »gar nichts« davon gespürt zu haben, dass Kinder sie »anders, angesehn habm als, sich selber« (3/27). An dieser Stelle macht sie deutlich, dass ihre Deutschaneignung innerhalb eines ausgeprägten sozialen Netzwerks stattfand. Möglicherweise nimmt sie damit implizit eine Kontrastierung mit einer Situation vor, die sie später erlebt hat. Es könnte aber auch sein, dass sie – analog zum Anfangspunkt der Sprachaneignung – ›vorbeugend‹ potentiellen Zuschreibungen (etwa als ›Füchtling‹) widerspricht, die ihr aus früheren Interaktionserfahrungen möglicherweise vertraut sind. Hier zeigt sich eine Parallele zur Erzählung von Ece Erbay, die sich allerdings ausschließlich auf die Begegnung mit der dominanten Sprache im Kindergarten bezieht (vgl. Kap. 7.2.2), aber ebenfalls Vorstellungen einschneidender Erlebnisse von Kindern mit Migrationshintergrund beim ersten Kontakt mit Bildungsinstitutionen zumindest implizit zurückweist. In einem ähnlichen Alter wie Majda Melić migrierte Jonas Balta mit seinen Eltern von einer Stadt in Süddeutschland in ein Dorf in Österreich. Die Migration ordnet der Erzähler zeitlich »kurz vor [s]einem zweiten Geburtstag« ein. Er hebt hervor, dass er und sein Bruder in verschiedenen Ländern geboren wurden und lacht dann leise über diesen Kommentar (1/23-24). Dass der unterschiedliche nationale Kontext der Geburten hervorgehoben wird, könnte zum einen darauf verweisen, dass es sich hier um eine Geschichte handelt, die in der Familie öfter erzählt wurde, es könnte aber auch sein, dass der Erzähler hier seinen familialen Migrationshintergrund herausstellen und sich als »bunt genug«13 für das Forschungsvorhaben der Interviewerin präsentieren möchte. Die Migration nach Österreich, die in der Erzählung mit dem Beginn seiner Lebensgeschichte zusammenfällt, präsentiert Jonas Balta aus einer Außenperspektive:
13 | Der Kontakt mit Jonas Balta kam über die Vermittlung durch eine Kollegin zustande, die einen Flyer über mein Forschungsvorhaben an ihre Student*innen schickte. Einige Stunden später schrieb mir Jonas Balta ein Mail, in dem er sich als grundsätzlich interessiert zeigte, aber meinte, unsicher zu sein, ob sein Hintergrund »bunt genug« (E‑Mail von Jonas Balta vom 01.03.2014; Anführungszeichen im Original) sei. Er schrieb mir ganz knapp einige biographische Daten (Geburtsort, Migration und aktueller Wohnort, Auslandspraktikum), Sprachen, die er beherrscht (›Hochdeutsch mit deutschem und österreichischem Akzent‹, S-Bundesländischer Dialekt) und schloss damit, dass er sich freuen würde, wenn ein Interview zustande kommen würde.
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TEIL III — Falldarstellungen Jon: ahm, meine Eltern hom erzählt, bevor wir übersiedelt sind, hob i holt gesprochen wie holt a knapp zweijähriges Kind sprechen kann, nach der Übersiedlung hob i des oba donn für einige Monate fast wieder eingestellt. Aiso i hob donn fost a Jahr kaum etwas gesprochen, und meine Eltern vermuten schon, dass des a mit der sprachlichen/ (schmunzelnd) Umstellung irgendwie/zu tun hat! Weil, i mein, es woa doch a anderes Land, und zwoa schon die gleiche Sprache, aber halt doch nicht die Sprache, die i halt von Zuhause, von der Familie her gekannt habe! (1/26-2/2)
Die Sprachbiographie von Jonas Balta beginnt mit einer an Altersnormen orientierten sprachentwicklungstheoretischen Perspektive (vgl. Kauschke 2012). Als erstes wichtiges Geschehen seiner Sprachgeschichte konstruiert er sein plötzliches Ins-Schweigen-Treten im Zuge der Migration von einem deutschsprachigen Kontext in einen anderen. An die Erzählung schließt ein Kommentar an, in dem der Erzähler eine Vermutung seiner Eltern aus heutiger Perspektive wiedergibt, nämlich, dass das Schweigen auch auf die »sprachliche[…] Umstellung irgendwie« zurückzuführen sei.14 Zum einen weist das »a« (dialektal für ›auch‹) darauf hin, dass die Eltern die sprachliche Umstellung nicht als einzigen Grund für sein plötzliches nicht-Sprechen ansehen. Zum anderen macht er diese Vermutung durch das Argument stark, dass es »a anderes Land« war, und dass es sich zwar schon um »die gleiche Sprache, aber halt doch nicht die Sprache, die i halt von Zuhause, von der Familie her gekannt habe« gehandelt habe. Dieses Argument wirkt wenig plausibel, weil die Erzählung keinen Hinweis darauf enthält, dass sich mit dem neuen sprachlichen Kontext, in den sich die Familie begab, auch die unmittelbare sprachliche Umgebung des ›erzählten Ich‹ veränderte. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung gibt es keinen Hinweis darauf, dass Jonas Balta von anderen Personen als seinen Eltern betreut wurde oder regelmäßigen Kontakt mit österreichischen Dialekt sprechenden Personen hatte. Jon: Vor allm in dieser Zeit hom a meine Eltern dann auch Untermieter gehabt, bei sich, Int: Mhm Jon: der woa vom Land, aus S-Bundesland, hat an sehr ausgeprägten Dialekt gesprochen, Int: Mhm Jon: meine Eltern hom gsagt, nachdem der bei uns gwohnt hot, hots donn kaum jemals mehr/(schmunzelnd) Verständnisprobleme a für sie gegebm/, Int: Hm mhm [((lacht leise))] [/(lachend) nachdem sie den bei sich ghabt ham/, ((lacht))] ahm, jo. Und Jon: Int: Mhm 14 | Busch analysiert im Kontext einer Sprachbiographie Verstummen »nicht nur als ein Zum-Schweigen-gebracht-Werden, sondern manchmal auch als Versuch, trotzendes Schweigen als Gegenmacht zu etablieren« (Busch 2012a: 19-20).
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Jon: offenbar woa i so a sensibles Kind, dass i ebm diese Umstellung ned so ohne weiteres verkraftet hob, Int: Mhm Jon: am Anfang, Int: Mhm Jon: und erst… oiso kurz bevor donn mein Bruder auf die Welt gekommen is, oiso noch ebm etwa an Jahr in Österreich hob i donn wieder gesprochen, und donn a schon wieder altersentsprechend. Oiso schon (wie a) Dreijähriger Int: Mhm [mhm] [ebm] sprechen kann… (2/4-22) Jon:
Die einzige Person aus dem näheren Umfeld, die in der Erzählung erwähnt wird, wird als Untermieter der Eltern eingeführt. Die Formulierung, dass die Eltern diesen »bei sich« hatten, deutet eine enge Verbundenheit oder räumliche Nähe zu den Eltern an, weist aber nicht auf eine Nähe des ›erzählten Ich‹ zum Untermieter hin. Dieser wird jedenfalls als jemand »vom Land, aus S-Bundesland« beschrieben, der »an sehr ausgeprägten Dialekt gesprochen« hat. Von seinen Eltern erfuhr Jonas, dass das Zusammenleben mit dem Untermieter dazu führte, dass es »kaum jemals mehr Verständigungsprobleme a für sie« gab. Daran lässt sich ablesen, dass die Eltern nach der Migration Verständigungsprobleme hatten, die durch den engen räumlichen und sprachlichen Kontakt mit einem Dialektsprecher nahezu ausgeräumt wurden. Die Passage, in der die Wohnsituation erklärt wird, beendet der Erzähler evaluierend mit einer Selbsttheoretisierung, in der er sich als »offenbar […] so a sensibles Kind« bezeichnet, das diese Umstellung »ned so ohne weiteres verkraftet« hat »am Anfang«. Über das »offenbar« distanziert er sich ein Stück weit von dieser Theoretisierung, die ihm möglicherweise von seinen Eltern nahegelegt wurde. In der Charakterisierung als »sensibles Kind«, das die »Umstellung« nicht ohne weiteres »verkraftet« hat, wird die Art der Umstellung nicht näher beschrieben. Neben der sprachlichen könnte auch die räumliche Umstellung gemeint sein oder eine Umstellung, die innerfamiliäre Beziehungen, Verhältnisse oder Routinen betrifft, die sich durch den Umzug geändert haben könnten. Jedenfalls wird die Umstellung als eine charakterisiert, die nur über die Mobilisierung großer Kräfte bewältigt werden konnte. Der Zeitpunkt, an dem diese Phase bewältigt war und das ›erzählte Ich‹ wieder zu sprechen begann, wird mit der bevorstehenden Geburt des jüngeren Bruders und dem Verlauf von fast einem Jahr in Österreich kontextualisiert. Der Erzähler orientiert sich hier wieder an einer altersgemäßen Norm, indem er sein Sprechen als »und donn a schon wieder altersentsprechend. Oiso schon (wie a) Dreijähriger [ebm] sprechen kann« beschreibt. Im weiteren Verlauf der Erzählung spielen verschiedene Varietäten des Deutschen eine zentrale Rolle: ein sehr standardnahes Deutsch, das Jonas Balta
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nach wie vor mit seinen Eltern spricht, der S-Bundesländische Dialekt sowie – ab einem späteren biographischen Zeitpunkt – die Varietät, die in A-Stadt gesprochen wird. In der Eingangserzählung wird die Konfrontation mit dem SBundesländischen Dialekt als schwer überwindbare Sprachgrenze konstruiert, die zum nicht-Sprechen des Erzählers führt. Dabei handelt es sich nicht um eine eigene Erinnerung des Erzählers, sondern um Erzählungen der Eltern. Das Ins-Schweigen-Treten des ›erzählten Ich‹ wird neben der Migration mit einer Eigentheoretisierung als »sensibles Kind« plausibilisiert. Diese Theoretisierung steht zugleich am Anfang einer Reihe von entwicklungspsychologischen Tests, die der Erzähler als Kind über sich ergehen lassen musste, sowie mit vielfältigen Ausgrenzungserfahrungen in Bildungsinstitutionen (vgl. Kap. 8.2.2). Im Vergleich der Fälle lässt sich feststellen, dass der Anfang der Sprachaneignung in verschiedenen biographischen Erzählungen – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – thematisiert wird. Eine Gemeinsamkeit in den vorgestellten Passagen liegt darin, dass die verschiedenen Einzelsprachen nicht auf die gleiche Weise thematisiert werden, sondern dass ein Schwerpunkt auf der fehlenden Erinnerung an den Anfangspunkt der Aneignung der dominanten Sprache Deutsch – in zwei Fällen einer regionalen Varietät – liegt. Dass der Aneignung der dominanten Sprache, die den Erzähler*innen als ›Zweitoder Fremdsprache‹ zugeschrieben wird, auch ohne Nachfrage eine so zentrale Bedeutung zugemessen wird, lässt sich mit der Konstruktion des Samples und der Adressierung als »Student*innen, die eine (eigene oder familiale) Migrationsgeschichte haben und mehrsprachig sind« (vgl. Kap. 5.1) erklären. Die explizite Thematisierung dieser ›Leerstelle‹ in der Erinnerung verweist darauf, dass die Aneignung der dominanten Sprache von ›Migrant*innen‹, die nicht als ›muttersprachig‹ gelten, erklärungsbedürftig ist, was in der von Majda Melić erzählten Passage expliziert wird. Dass die Aneignung der jeweiligen dominanten Sprache von Seiten der ›erzählten Personen‹ zu einem Zeitpunkt begonnen hat, an den sich die Erzähler*innen selbst nicht mehr erinnern, und die sich somit nicht von der Aneignung anderer Familiensprachen unterscheidet, rückt sie in die Nähe ›monolingualer‹ Deutschaneignung Mehrheitsangehöriger. Ihre explizite Thematisierung macht aber deutlich, dass es eine starke gesellschaftliche Erwartung zu Erklärungen über die Aneignung der gesellschaftlich nicht als ›Muttersprache‹ angesehenen Mehrheitssprache gibt, und damit, dass mehrsprachige Sprachaneignung nicht als ›Normalfall‹ angesehen wird. Daneben könnte die Thematisierung der Deutschaneignung und die Dethematisierung der Aneignung anderer Sprachen auch auf Vorstellungen über das ›eigentliche‹ Interesse der Interviewerin hinweisen und somit der Anlage der Forschung geschuldet sein. Dass die Thematisierung der Sprachaneignung in vielen Interviews bereits an einer sehr frühen Stelle der Eingangserzählung steht und somit einen
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›prominenten‹ Platz in den Erzählungen einnimmt, deutet auf die Relevanz hin, die die Erzähler*innen den je spezifischen Rahmenbedingungen ihres Aufwachsens und ihrer Mehrsprachigkeit einräumen: So bezeichnet Afërdita Bushaj die Kontinuität des ›Sprachlichen‹ in ihrem Leben, und zwar schon vor dem Einsetzen ihrer Erinnerung, als Element, das zu ihrer ›Einzigartigkeit‹ beiträgt. Majda Melić und Özlem Karaca machen durch die explizit gemachte nicht-Erinnerung an ihre Deutschaneignung deutlich, dass sie sich hinsichtlich der ersten biographischen Erinnerung nicht von dominant positionierten Deutschsprecher*innen unterscheiden. Jonas Balta hingegen konstruiert sein frühkindliches Ins-Schweigen-Treten als Reaktion auf die migrationsbedingte Veränderung der sprachlichen Umgebung. Insgesamt lässt sich festhalten, dass dem Beginn der Aneignung der dominanten Sprache unabhängig von Migrationsbewegungen, familialen Konstellationen sowie Einzelsprachen und deren Prestige in Österreich, ein prominenter Platz in den sprachbiographischen Erzählungen eingeräumt wird.
7.2.2 Sprachliche Instruktion durch signifikante Andere In diesem Unterkapitel werden Auszüge aus den Erzählungen präsentiert, in denen die Beschäftigung mit Sprache und die Sprachaneignung als von signifikanten Anderen initiiert und/oder gesteuert beschrieben werden. Ece Erbay beginnt ihre Erzählung mit ihrer Geburt in Österreich und einer Selbstpositionierung als Angehörige der ›dritten Generation‹ (1/10). Nach einem kurzen Bericht über die Migration ihres Großvaters aus der Türkei zunächst nach Deutschland und dann nach A-Stadt orientiert sich die Erzählerin an den Bildungsstationen, die sie in Österreich durchlaufen hat. Dabei stehen das Tragen des Kopftuches und anti-muslimische Stereotype, mit denen sich das ›erzählte Ich‹ in der Schule konfrontiert sah, im Zentrum. Nach einer Passage über das Kennenlernen ihres Ehemannes und einem Abriss zu dessen Bildungsbiographie und der Geburt des gemeinsamen Sohnes, der zum Zeitpunkt des Interviews drei Jahre alt ist, fährt die Erzählerin wie folgt fort: Ece: Äh (1) Zur Sprache. (1) Mh Ich mh bin glaub ich mit zwei, zweieinhalb in den Kindergarten gekommen, im C-Stadtteil, da war in diesem Kindergarten war auch mein Bruder, meine Cousinen, a aso sehr sehr viele Bekannte von uns, bekannte Kinder, (atmet ein) aah, aber mein erster Kontakt mit der deutschen Sprache hatt ich, also ich kann mich jetzt zwar nicht ganz genau erinnern wann, aber ebn vor vor dem Kindergartn auf jedn Fall, äh, durch meine durch meine Nachbarin. Ähm, wir hatten sie Tante Gitti genannt. Sie war unsre Tante, sie hatte zwei Katzen, und, meine Mutter hat mich öfters bei ihr abgesetzt, weil sie ebn arbeiten gehn musste, sehr früh, zur Arbeit fahrn musste, und äh sie war quasi wie meine Tagesmutter (1) eine eine unbezahlte Tagesmutter, die das
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TEIL III — Falldarstellungen eigentlich freiwillig gemacht hat. (atmet ein) und, ahm, ja, das war der erste Kontakt zur Sprache, äh, sie hat mir auch sehr sehr gerne geholfen bei Hausübungen, oder bei, – bei keine Ahnung bei Elternsprechtagen is sie dann einfach freiwillig mitgekommen, obwohl meine Eltern sehr gut Deutsch sprechen, ahm, zwar nicht in Schrift, aber – äh, in der Sprache schon, (1) aah, Ja. (1) (3/14-28)
Die Erzählerin steuert mit der Ankündigung »Zur Sprache« einen neuen thematischen Abschnitt ihrer biographischen Erzählung an. Zunächst beginnt sie mit ihrem Alter beim Übergang in den Kindergarten, den sie als sozialen Raum charakterisiert, den sie mit einer Reihe verwandter und bekannter Kinder teilte. Mit der Satzverbindung »aber« wird ein sprachrelevanter Kontext eingeleitet, der noch vor dem Kindergarten steht: Dieser wird an der Nachbarin »Tante Gitti« festgemacht, die als soziale Tante und ›unbezahlte Tagesmutter‹ charakterisiert wird. Im evaluierenden Nachsatz, in dem die Erzählerin wiederholt, dass das Zusammensein mit der Nachbarin der »erste Kontakt« zur deutschen Sprache war, gibt sie zwei Beispiele für deren Unterstützung an, nämlich Hausaufgabenhilfe und Begleitung bei Elternsprechtagen. Gleichzeitig lässt sich die Betonung des Wortes »Kontakt« als Hinweis darauf lesen, dass es zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Begegnung mit Deutsch gab, die sich qualitativ von diesem ›Kontakt‹ unterschied und bei der es sich möglicherweise um eine Form des institutionalisierten oder in anderer Weise formalisierten Sprachenlernens handelte. Zum einen betont die Erzählerin, dass die Nachbarin sie und ihre Familie »freiwillig« und »sehr sehr gerne« unterstützte. Da Ece Erbay die Deutschkenntnisse der Eltern im mündlichen Bereich im Unterschied zum Schriftlichen mit »sehr gut« charakterisiert,15 ist zumindest auf sprachlicher Ebene nicht plausibel, warum die Nachbarin die Eltern zu Elternsprechtagen begleitete. Möglicherweise übernahm sie als jemand, die das österreichische Bildungssystem besser als die Eltern kannte, die Rolle einer ›Vertrauten‹. Für diese Lesart spricht die hohe Bildungsaspiration der Eltern, die es trotz großer Bedenken der Primarstufenlehrerin durchsetzten, dass ihre Tochter ein Gymnasium besuchen konnte (Kap. 8.1.2). Im Nachfrageteil fragt die Erzählerin:
15 | Interessant ist in der Charakterisierung des elterlichen sprachlichen Repertoires, dass Ece Erbay den schriftlichen (»in Schrift«) und mündlichen (»in der Sprache«) Bereich dergestalt trennt, dass der mündliche zwar in Kontrast zum schriftlichen gestellt wird, gleichzeitig aber metonymisch für die Sprache als Ganzes steht. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Eltern selten in Berührung mit (deutscher) Schriftsprache kamen und dass »Deutsch« für sie wie selbstverständlich im mündlichen Bereich angesiedelt ist.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Int: weil du vorher darüber gesprochen hast, ähm, wie du mit deinem Sohn sprichst Ece: Mhm Int: also in welcher Sprache und dass du dir eben darüber Gedanken machst und äh, wie, wie war das als du klein warst oder in deiner Familie Ece: Mhm Int: du hast gesagt, also mit deinem Bruder zum Beispiel sprichst du Deutsch Ece: Mhm Int: und mit deinen Eltern Türkisch Ece: Mhm Int: möchtest du, das vielleicht noch [erzählen] [Ja] äh, meine Eltern konnten zwar Deutsch, aber Ece: wir haben hauptsächlich auf Türkisch geredet und mit meiner Nachbarin, mit der ich sehr sehr gerne Zeit verbracht hab, eben dadurch, dass sie Katzen hatte und ich Katzen liebe und sie mich sehr mochte, mit ihr sehr sehr äh viel Zeit verbracht hab und mit_ also sie war wirklich ah, die Bezugsperson, die mir zur deutschen Sprache irgendwie die Brücke gebaut hat, also sie war die Brücke für mich zur deutschen Sprache. (15/14-30)
Ece Erbay geht in ihrer Antwort auf alle in der Interviewfrage angesprochenen Teilbereiche ein: Den Anfangspunkt bildet die Kommunikation auf Türkisch in ihrer Herkunftsfamilie. Vor dem Hintergrund der Nationalsprachenideologie und damit verbundener Erwartungen an ›richtige‹ sprachliche Kommunikation in Familien ›mit Migrationshintergrund‹ (vgl. Kap. 3) liest sich der Hinweis, dass die Eltern »zwar Deutsch konnten« wie eine Rechtfertigung oder eine Angabe von Umständen bzw. gesellschaftlich erwarteten ›Mindestanforderungen‹, unter denen familiale Kommunikation auf Türkisch in Österreich akzeptabel ist. Dass das ›erzählte Ich‹ viel Zeit mit der Nachbarin verbrachte, begründet die Erzählerin mit gegenseitiger Sympathie und der gemeinsamen Liebe für Katzen. Zunächst bezeichnet Ece Erbay die Nachbarin als Person, die ihr eine Brücke zur deutschen Sprache gebaut hat, um unmittelbar danach zu sagen, dass sie diese nicht nur baute, sondern »die Brücke für mich zur deutschen Sprache [war]«. Im Bild der Brücke ist eine Vorstellung von zwei getrennten sprachlichen Räumen angelegt, von denen die entfernte – hier mit Hilfe einer Mittelsperson – erreicht werden kann. In Günnur Dumans Lebensgeschichte spielt der Islam eine zentrale Rolle.16 Auch Sprache kommt als Thema vor, allerdings zumeist in enger Verwobenheit mit Religion. In der Haupterzählung berichtet Günnur Duman von gemeinsamen Moscheebesuchen mit ihrem Vater, von gemeinsamem Beten zu 16 | Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Günnur Duman von einer mir bekannten Lehrperson im Zusammenhang mit einer möglichen Teilnahme an der Studie als ›muslimische‹ Studentin adressiert wurde.
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TEIL III — Falldarstellungen
Hause und von der Unterrichtstätigkeit ihrer Mutter in einer benachbarten Moschee. Diesen Unterricht gestaltete die Mutter eigenmächtig und nicht den Vorstellungen der Institution entsprechend. Dass sie mit den Kindern religiöse Lieder einstudierte, ins Kino und in die Eisdiele ging, anstatt ihnen wie von der Institution erwartet »Koran bei[zu]bringen« (7/7-10), stieß auf heftigen Widerstand. Die Mutter machte allerdings unmissverständlich klar, dass es nicht in ihrem Interesse lag, mit den Kindern »Sachn herunter[zu]beten« (7/11-16), sondern dass sie den Unterricht kindergerecht gestalten wollte, und setzte ihre pädagogisch-didaktischen Vorstellungen gegenüber der Institution durch. Auch ihre Großmutter betrachtet Günnur Duman als wichtig für ihre religiöse Sozialisation: Gün: Und mit meinen Großeltern, also meine Mutter hat mir immer die versucht äh die Suren beizubringen, und ich kann mich immer wieder so erinnern dass meine Oma bei uns war, sie ist das immer wieder mit mir durchgegangen, und dass ich immer viel Lob bekommen hab, ah wenn ich das gut, also wenn ich das aufgesagt hab, oder ich hab halt in der Zeit gelernt wie man das Gebet zu verrichten hat, ich hab’s nicht immer verrichtet aber ich hab’s halt gelernt, und es hat ich sehr viel Aufmerksamkeit bekommen wenn ich diese Sachen vorgezeigt hab. (7/18-24)
Die Großmutter wird als Person beschrieben, die beim mütterlichen Versuch, der Tochter »die Suren beizubringen«, eine wichtige Rolle spielte, indem sie diese mit ihr wiederholte. Als relevant unterstreicht die Erzählerin, »immer viel Lob« für gute Rezitationen bekommen zu haben. Als weiteres Beispiel nennt sie das Erlernen des Gebetes, für dessen ›Vorzeigen‹ sie ebenfalls Aufmerksamkeit bekam. Über Lob und Aufmerksamkeit im religiösen Kontext spricht die Erzählerin auch an anderen Stellen, etwa, wenn sie von gemeinsamen Moscheebesuchen mit ihrem Vater erzählt (7/36-8/8). Gün: Und (1) ich kann mich erinnern dass meine Großeltern dann immer sehr stolz auf mich waren, auch meine Mutter – und mit fünf konnte ich dann den Koran lesen, also noch nicht verstehn, aber lesen, ah verstehn ja. (1) das ist eine schwierige Sache so es nur das Rezitieren, und das war schon so das hat das hat sicher geprägt. Denk ich mir. (7/25-28)
Die Erzählerin gibt an, im Alter von fünf Jahren bereits den Koran »lesen« gekonnt zu haben und betont dann den Unterschied zwischen »lesen« und »verstehen«, weist auf die Schwierigkeit des »Rezitierens« hin und meint, dass diese Phase sie sehr geprägt habe. Lernen steht in Günnur Dumans biographischer Selbstpräsentation in starkem Zusammenhang mit Religion. Beim Erlernen religiöser Praktiken spielte die positive Bestärkung von Seiten signifikanter Erwachsener eine große Rolle. Die Rolle der Mutter als Lehrerin in der
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Moschee und ihre selbstbewusst-widerständige Positionierung darin stehen im Mittelpunkt dieser Lebensphase. Auch wenn Sprache in diesen Passagen nicht explizit erwähnt wird, fanden das Erlernen der Suren und das Rezitieren des Korans im Medium Sprache statt. Die Erzählerin erwähnt nicht, in welcher Sprache ihre religiöse Sozialisation erfolgte, es ist aber davon auszugehen, dass die Kommunikation in der Moschee weitgehend auf Türkisch erfolgte. Unabhängig davon wird aus den referierten Passagen deutlich, dass die Unterweisung in und die Auseinandersetzung mit Sprache in Form von Rezitation und von Lesen eine zentrale Rolle in der Familie spielte. Während im Zuge der Vermittlung religiöser Inhalte von Seiten der Großmutter eine Lesesozialisation stattfand, die an der Weitergabe traditioneller Inhalte und Muster orientiert war, erfuhr Günnur Duman im Rahmen der Lehrtätigkeit ihrer Mutter in der Moschee, dass religiöse Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Haltungen betrachtet werden können (vgl. auch Schwendowius 2015: 419). Eine ganz andere Form der sprachlichen Unterweisung findet sich in der Erzählung von Simona Popescu, die folgendermaßen beginnt: Sim: ((atmet tief))/(seufzend) okay./Also ich heiße Simona Maria Popescu17, äh ich komme aus Rumänien, – ähm – jå ich bin eigentlich in Rumänien geboren, und jetzt studier ich halt in A-Stadt, ich mach den Master hier, () ich glaub ich soll jetzt mit dem A_ irgendwie/(lachend) mit dem Anfang anfangen./Ähm, ja. – Ähm. Ich hab als_ also als kleines Kind, ich komm aus Rumänien, [wie gesagt] aus einem kleinen Dorf, das ist so [Mh] Int: Sim: ne Gemeinde, wo früher Sachsen waren. Also die deutschsprachige – eine deutschsprachige Minderheit. (1/5-11)
Die biographische Selbstpräsentation von Simona Popescu beginnt mit einem Satz, der als Präambel18 für ihre biographische Erzählung gelesen werden kann. Nachdem sie einen Bogen von ihrer Geburt in Rumänien zum aktuellen Masterstudium in A-Stadt gespannt und sich gleichzeitig als geeignete Interviewpartnerin legitimiert hat, weist die Erzählerin mit einem Lachen auf die 17 | Die Erzählerin nennt an dieser Stelle auch ihren zweiten Vornamen, den sie in Alltagssituationen nicht verwendet. Das markiert ihr Bemühen, ihre Geschichte und dazugehörige Daten möglichst vollständig und genau wiederzugeben. Ich verwende im Interpretationstext nur den ersten Vornamen, mit dem sich mir die Interviewpartnerin bei unserem Vorgespräch vorgestellt hat. 18 | Erzählpräambeln, wie Fritz Schütze sie als Bestandteil für mündliche Stegreiferzählungen beschrieben hat, »explizieren den Aspekt, unter dem die Lebensgeschichte erzählt werden soll« (Schütze 1984: 102).
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ihrer Ansicht nach gegebene Notwendigkeit und/oder Erwartung an ein biographisches Interview hin, »mit dem Anfang« zu beginnen. Zunächst setzt sie zu einem Satz an, der eine Information über ihre frühe Kindheit ankündigt (»also als kleines Kind«), den sie allerdings zugunsten einer Hintergrundkonstruktion abbricht. Sie konkretisiert ihre zuvor gemachten Angaben zum »Anfang«, den sie nicht zeitlich, sondern räumlich verortet, indem sie noch einmal den nationalen Kontext nennt und dann ihre Herkunft »aus einem kleinen Dorf angibt«, einer Gemeinde, »wo früher Sachsen waren« und somit in die sozialen Rahmenbedingungen einführt, innerhalb derer sie aufwuchs. Mit der Einführung der »Sachsen« als relevanter Gruppe kommt ein Kontakt mit der deutschen Sprache zum Tragen, der Simona Popescu seit frühester Kindheit begleitet. Sie korrigiert sich aber und wählt eine andere Bezeichnung, möglicherweise in der Annahme, dass die genannte Gruppe von der Interviewerin so besser eingeordnet werden kann, nämlich »die deutschsprachige – eine deutschsprachige Minderheit«. Sim: Und unsere Nachbarin war auch so – äh gehörte auch zu der deutschen Minderheit, und äh bevor ich zur Schule – ging, wusste nicht meine Mutter ganz genau, in welche Schule sie mich schicken sollte. In die deutsche Abteilung oder in die rumänische Abteilung. Weil – in meiner Familie spricht keiner_= keine Person eine andere Sprache. Und sie hat sich dann so Gedanken gemacht »Oh mein Gott – wird sie das schaffen?« –/(lacht) äh/und dann ähm is sie dann zu dieser Nachbarin gegangen, hat sie dann gefragt, »Ja und kannst du mich so beraten irgendwie, glaubst du die Simona schafft das?« und so, und sie hat gesagt: »Ja ich kann dir keine genaue Antwort geben, nur wenn duu sie dann in die deutsche Abteilung schickst, mal sehen ob sie es schafft.« Aber sie hat dann gesagt und ich glaub ich war fünf, als siee – sich so Gedanken drüber gemacht hat, äh welche Schule ich besuchen soll, und dann hat die – äh Nachbarin dann gesagt: »Sie hat eh noch zwei Jahre.« Weil – in Rumänien geht man mit sieben [Jahren] in die Schule [mh] Int: Sim: nicht hier wie in Österreich mit sechs glaub ich. (1/13-26)
Nun wird die erste signifikante Person, nämlich die Nachbarin, eingeführt: Deren Beschreibung »war auch so -« bricht Simona Popescu ab und erklärt, dass diese auch zur deutschen Minderheit gehörte. Im weiteren Verlauf wird die Bedeutung der Nachbarin für Simona Popescus kindliche Lebenswelt klar: Die Erzählerin berichtet von Unsicherheiten ihrer Mutter bezüglich der sprachlichen »Abteilung« an der Schule, an der ihre Tochter eingeschult werden sollte. Die wörtlich referierte Frage der Mutter, ob ihre Tochter »das schaffen [wird]«, hängt mit dem sprachlichen Repertoire in der Familie zusammen, in der niemand »eine andere Sprache [spricht]«. In dieser Situation kommt der Nachbarin die Rolle einer Beraterin zu, die der Mutter eine Einschätzung dazu geben soll, ob ihre Tochter es »schaffen« kann, in eine deutschsprachige Schu-
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le aufgenommen zu werden bzw. diese zu absolvieren.19 Die Nachbarin weist die Expert*innenrolle ein Stück weit zurück (»kann dir keine genaue Antwort geben«). Sie verweist darauf, dass sich diese Frage zur gegebenen Zeit klären wird, und dass die Tochter »eh noch zwei Jahre« Zeit bis zur Einschulung hat. Sim: Dann hat sie gesagt: – ähm »Die Simona hat eh noch zwei Jahre bis sie in die Schule geht, sie kann bei mir kommn und ich mach so mit ihr Unterricht, sozusagen so Privatunterricht, also nicht wirklich Unterricht, son_ sondern ich ((stammelt)) ich red dann einfach mit ihr auf Deutsch oder ich sags ihr: »Das is eine Puppe«, und dann beschreib ich die Puppe, und so damit sie irgendwie – ähm – deutsche Wörter hört. Und ähm – ja. Das war halt gut, und das war auch ein Vorteil, weil meine Eltern, äh ham das Haus wo wir in Rumänien wohnen, von_ auch von deutschen_ also von_ von einer Familie Familie Guib heißt die, die waren auch_ äh die gehörten auch zu der deutschen – Sprach_ äh die_ zu der deutschen äh Minderheit, nur sie sind dann nach Deutschland umgewan_ also sie sind dann umgesiedelt – und sie wollten dann ihr Haus ähm verkaufen. Aber meine Eltern haben noch_ äh noch Kontakt mit den Leuten und auch früher, die_ die waren_ also jeden Sommer sind siee nach Rumänien gekommen, die haben uns besucht und so und die haben uns dann damals so – ich weiß nicht ganz genau wie das heißt ein Receiver? Damit man im Fernsehen auch deutsche Kanale – äh sich anschauen kann. (1/28-2/11)
Es folgt ein Angebot der Nachbarin, dass Simona Popescu in der bis zur Einschulung verbleibenden Zeit bei ihr Deutsch lernen kann. Die Definition der pädagogischen Situation scheint an dieser Stelle unklar: »Unterricht, sozusagen so Privatunterricht, also nicht wirklich Unterricht«, und das Definitionsproblem wird schließlich mit der Beschreibung dessen gelöst, was während der Treffen mit der Nachbarin passieren soll bzw. passierte, nämlich eine spielerische und vorwiegend rezeptive Begegnung des ›erzählten Ich‹ mit der deutschen Sprache. Aus der Rekonstruktion des damaligen Gespräches zwischen Nachbarin und Mutter wird nicht klar, ob die Erzählerin sich selbst daran erinnern kann oder ob ihr das Besprochene später von der Mutter oder der Nachbarin in einer Detailliertheit erzählt wurde, die es ermöglicht, den Dialog in wörtlicher Rede wiederzugeben. Vielleicht verschwimmen diese beiden Ebenen auch mit einer dritten, nämlich der Erinnerung der Biographin an die Treffen 19 | Wofür ein Besuch der deutschen Abteilung für die Mutter steht, ist an dieser Stelle noch nicht klar. Möglicherweise hat sie in der unsicheren gesellschaftspolitischen Situation nach dem Ende der Diktatur ein ganz unmittelbares wirtschaftliches Interesse, dass die Tochter Deutsch lernt, eine Sprache, die ein starkes Kapital in einer unsicheren Welt mit einer völlig offenen Zukunft darstellt. In der Erzählung wird jedenfalls deutlich, dass ihre Mutter die sozialen Kontakte im näheren Umfeld nützt, um ihrer Tochter den Weg in die deutschsprachige »Abteilung« zu ermöglichen.
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mit der Nachbarin. Jedenfalls erzählt Simona Popescu aus einer Perspektive, die zwischen derjenigen der Mutter und derjenigen der Nachbarin wechselt, und sie macht den geplanten Unterricht somit als von außen initiierten deutlich, auf dessen Planung oder Form sie als Kind keinerlei Einfluss hatte. Sie beendet den Abschnitt mit der aus heutiger Sicht getroffenen Evaluation, dass der Deutschunterricht bei der Nachbarin »gut« und »ein Vorteil« gewesen sei. Wie sie den Unterricht zur damaligen Zeit empfand oder welches Verhältnis sie zur Nachbarin hatte, ist an dieser Stelle noch nicht klar. Die Erzählerin führt nun an, dass ihre Eltern ihr Haus von einer deutschen Familie gekauft hatten. In der Formulierung der Gruppenzugehörigkeit dieser Familie wird deutlich, dass die Erzählerin nach einer passenden Bezeichnung sucht. Möglicherweise wird ihr erst im Sprechen bewusst, dass sie aus ihrer Kindheit eine Bezeichnung kennt, die in Österreich vielleicht nicht gesellschaftlich erwünscht ist. Vielleicht ist sie sich auch unsicher in der Formulierung, weil die Interviewerin ebenfalls einer deutschsprachigen Gruppe angehört und sie keine unpassende oder problematische Bezeichnung verwenden möchte. Jedenfalls wird deutlich, dass die Familie, von der ihre Eltern das Haus gekauft hatten, unter Bedingungen von Rumänien nach Deutschland migriert sind, die möglicherweise nicht ganz einfach waren oder über die Simona Popescu selbst zu wenig weiß. Die Erzählung über die Migration steht im Kontext der postkommunistischen Zeit der 1990er Jahre in Rumänien, während derer aufgrund der Aufhebung von Reisebeschränkungen nach dem Sturz Ceaușescus ein sehr großer Teil der deutschen Minderheit nach Deutschland migrierte (vgl. Klein/Göring 1995: 44). Die Familie brachte bei einem der jährlichen sommerlichen Besuche in Rumänien einen Receiver aus Deutschland mit, der es ermöglichte, auch deutsche Kanäle zu empfangen. Sim: Und – ja die haben_ die haben_ ich glaub ich war fünf w_ wie gesagt oder vielleicht auch jünger, vier oder so und die haben uns dies_ diese – äh – dieses Recei_ Receiver äh mitgebracht und ähm weil damals in Rumänien gabs so_ es gab nicht so viele Programme im Fernsehen. Und ich war nicht so wirklich der Typ der – ferngeschaut hat. Nur halt die haben uns diesen Receiver äh mitgebracht und dann gabs alle Kanäle, also alle Programme auf Deutsch – RTL2, Prosieben und so und dann hab ich mir mit fünf so Zeichentrickfilme angeschaut und – ich hab dann irgendwie so Deutsch gelernt, ohne mh_ ohne mir_ ohne_ also es war mir nicht bewusst, dass ich die Sprache irgendwie so kenne dass ich_ dass ich in Kontakt mit der deutschen Sprache komme. Int: Mh Sim: Und dann äh bin ich halt auch zu der Nachbarin gegangen, sie hat mir so – Wörter gesagt und irgendwie:/(staunend) »Aha«/Ich k_ ha_ also bin ich so zu_ – ich bin dazu gekommn, dass ich äh die Wörter doch schon von irgendwo – kenne. Und es war mir dann einfacher irgendwie – für mich Deutsch zu lernen. (2/13-26)
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Die Erzählerin betont die Bedeutung des Receivers mit medienbezogenen Hintergrundinformationen zum damaligen Rumänien und unterstreicht ihre Erinnerung durch die Nennung zweier deutscher Programme. Es ist unklar, warum sie einfügt, »nicht so wirklich der Typ« gewesen zu sein, »der – ferngeschaut hat«. Möglicherweise meint sie damit, dass sie zur damaligen Zeit lieber gespielt hätte, und dass das Fernsehen Teil des pädagogischen Programms ›Deutsch lernen‹ war, vielleicht vermutet sie aber auch, dass Fernsehen aus Sicht der Interviewerin keine ideale Freizeitbeschäftigung für ein Kind im Vorschulalter ist. Jedenfalls berichtet sie, dass sie über Zeichentrickfilme »dann irgendwie so Deutsch gelernt« habe, weswegen ihr die deutschen Wörter in den pädagogischen Treffen mit der Nachbarin nicht mehr völlig neu waren und ihr das Lernen leichter fiel. Gemeinsam ist dem Unterricht bei der Nachbarin (»und dann beschreib ich die Puppe, […] damit sie […] deutsche Wörter hört«) und dem Fernsehen, dass es sich bei beiden um eine vorwiegend rezeptive Beschäftigung mit mündlichem Deutsch handelt. In der Eingangserzählung von Simona Popescu wird eine hohe Bildungsaspiration ihrer Mutter erkennbar, die es sich zum Ziel gesetzt hat, dass die Tochter sich ausreichende Deutschkenntnisse aneignet, um in die deutsche Abteilung eingeschult werden zu können. Dies geschieht in einem stark pädagogisierten Kontext, der regelmäßige Treffen mit der Nachbarin zum Zweck des Deutschlernens beinhaltet. Im weiteren Verlauf entwickelt Simona Popescu ein eigenes Interesse an Deutsch und nimmt auch an Deutsch-Olympiaden teil. Aufgrund der weiten Entfernung einer weiterführenden Schule vom Wohnort der Familie und der damit verbundenen Notwendigkeit eines Internatsaufenthalts, gegen den sich die Mutter wendet (Kap. 8.1.2), muss sie das institutionell gestützte Deutschlernen für mehrere Jahre aufgeben, was sie aus heutiger Perspektive sehr bedauert. In weiterer Folge entwickelt das ›erzählte Ich‹ einen starken Wunsch, in der rumänischen Hauptstadt zu studieren. Bei der Verwirklichung dieses Wunsches und der Entwicklung einer eigenen Studienperspektive ist sie mit Hindernissen konfrontiert: Ihre Mutter schließt ein Studium in der Hauptstadt kategorisch aus, was sie zum einen mit den Gefahren einer Großstadt, zum anderen mit der ›Beeinflussbarkeit‹ (5/22) ihrer Tochter begründet.20 Nachdem das ›erzählte Ich‹ ihre Mutter trotz Mobilisierung enormer Kräfte und 20 | In der biographischen Erzählung nennt Simona Popescu eine Reihe von Fremdkategorisierungen als ›beeinflussbare‹ (5/22, 15/24) und ›sensible‹ (18/11-13) Person bzw. als Person, die etwas nicht ›schaffen‹ (42/10) kann oder die aufgrund ihrer familiären Position als ›Einzelkind‹ einer besonderen Behandlung bedarf (2/41, 8/11, 14/24, 17/14). Obwohl diese Bewertungen mit starken Einschränkungen (hinsichtlich möglicher Studienorte und -fächer sowie in der Freizeitgestaltung) verbunden sind, distanziert sie sich retrospektiv nicht von ihnen und bestärkt sie damit.
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Strategien nicht vom präferierten Studienort überzeugen kann, nimmt sie ein Studium in einer Kleinstadt in der Nähe des elterlichen Wohnortes auf. Über ein Erasmus-Programm gelingt es ihr, ein Semester in A-Stadt zu studieren, das sie sogar um ein weiteres verlängern kann. Nach dem Studienabschluss in Rumänien beginnt sie mit einem Master-Studium in A-Stadt, was ihr von der Mutter auch ›erlaubt‹ wird. Im Gesamtkontext der biographischen Erzählung lässt sich also sagen, dass Deutsch bei Simona Popescu ein Türöffner nicht nur ins Ausland, sondern auch in eine Art von Eigenständigkeit darstellt, die ihr die Realisierung eigener Perspektiven ermöglicht. Im Rückblick auf das Deutschlernen zeigt sich eine Ambivalenz, die einerseits geprägt ist von Erinnerungen an unangenehme Situationen, die als Verpflichtungen empfunden wurden, andererseits von der heutigen Sicht auf die Vorteile, die der von der Mutter initiierte Deutschunterricht brachte, der es Simona Popescu ermöglichte, die Deutschabteilung zu besuchen, was letztendlich den ersten Schritt zu ihrem Studium in Österreich darstellte, ein Weg, der von der Erzählerin sehr positiv evaluiert und als bedeutend empfunden wird. Fallübergreifend lässt sich festhalten, dass es eine Reihe signifikanter Anderer gab, denen die Erzähler*innen Bedeutung für ihren Spracherwerb zuschreiben. In der Erzählung von Ece Erbay wird eine Nachbarin als ›soziale Tante‹ und ›unbezahlte Tagesmutter‹ dargestellt, die den ersten relevanten Kontakt zur dominanten Sprache darstellte und retrospektiv als »Brücke« zu Deutsch charakterisiert wird. In der Erzählung von Günnur Duman spielen Eltern und Großeltern, v.a. die Mutter und Großmutter, eine tragende Rolle in der religiösen Sozialisation, innerhalb derer wichtige Stationen des Leseerwerbs und der ersten Auseinandersetzung mit literarischen Texten stattfinden. In Simona Popescus Erzählung wird die Mutter als treibende Kraft dargestellt, die soziale Kontakte mobilisiert, um ihrer Tochter den Besuch einer deutschsprachigen Schule zu ermöglichen. Über regelmäßige Besuche bei der Nachbarin findet in einem stark pädagogisierten Rahmen der erste Kontakt mit der Sprache statt, die an späterer Stelle der Biographie eine Migration nach Österreich ermöglicht.
7.2.3 Sprachaneignung zwischen Zufall und eigenem Projekt In den vorangegangenen Unterkapiteln wurde gezeigt, wie Anfänge eigener Sprachaneignungsprozesse in den Interviews thematisiert und in welcher Weise signifikante Andere als bedeutsam dafür konstruiert werden. In diesem Unterkapitel stehen Sprachaneignungsprozesse im Zentrum, die von den Erzähler*innen im Spannungsfeld zwischen Zufall und ›eigenem Projekt‹ beschrieben werden.
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Jelena Selmanović beginnt mit ihrer Sprachaneignungsgeschichte wie folgt: Jel: Okay! Ahm, dann fang ich mal an mit meiner Kindheit! ((lacht)) Ahm, (1) ((schluckt)) ja,/(schmunzelnd) soweit ich mich erinnern kann,/((lacht leise)) für mich fängt alles in G-Stadt an, obwohl ich in einer kleinen Stadt, B-Stadt geboren bin, in Bosnien, ahm, bin ich mit einem Jahr also nach G-Stadt gezogen, und, ahm, ja, habe dort (1) fast mein ganzes Leben lang verbracht. Also (1) das wären dann 20, also 22 Jahre fast. Ungefähr. (1/10-15)
Jelena Selmanović lässt ihre Erzählung in der Lebensphase der Kindheit beginnen und fügt einschränkend hinzu, dass sie nur das erzählen kann, woran sie sich selbst noch erinnern kann. Die Wendung »dann fang ich mal an mit« macht deutlich, dass der gewählte Anfang einer von mehreren möglichen ist, dass sich die Erzählerin also des Konstruktionscharakters der Erzählung bewusst ist. Nach der lebenszeitlichen Einordnung folgt eine räumliche, nämlich G-Stadt, wo für die Erzählerin »alles« anfängt: Jel: Ahm, ja. Als keines Kind ((schluckt)), ahm, mit einer Schwester und einer Mama, die immer zu Hause war, meine Mama ist Hausfrau, war’s immer ziemlich interessant, ahm, ((schluckt)) meine große Schwester und ich hatten als Kinder also eine gemeinsame Leidenschaft, das sind Zeichentrickfilme, und, ähm, ich muss ehrlich zugeben, ähm, ebm Zeichentrickfilme haben so ziemlich, ähm ((schluckt)), hatten ziemlich großen Einfluss auf mein gesamtes Leben. Also zu dem Zeitpunkt, also damals war ich mir dessen nicht bewusst, aber je mehr Zeit, so zum Beispiel jetzt bin ich mir wirklich bewusst, was für n großen Einfluss das auf mich ausgeübt hat, und wie sehr es mein Leben verändert hat. (1/15-23)
Im Rahmen der Einführung von zwei für ihre Kindheit relevanten Personen, nämlich ihrer Mutter und ihrer Schwester, bewertet die Erzählerin ihr damaliges Leben als »ziemlich interessant«. Das Interessante wird konkretisiert, nämlich mit der beiden Schwestern »gemeinsame[n] Leidenschaft«. Es folgt ein eigentheoretischer Kommentar, in dem die Erzählerin Zeichentrickfilmen »großen Einfluss« auf ihr »gesamtes Leben« zumisst und gleichzeitig deutlich macht, dass ihr dieser Einfluss erst zu einem biographisch späteren Zeitpunkt bewusst wurde. Jel: Ahm, ich war damals drei oder vier Jahre alt, ahm, der Krieg hatte erst begonnen, in Bosnien, aber meine Eltern hatten irgendwie sehr viele Kassetten mit aufgenommenen, aufgezeichneten Zeichentrickfilmen, und das Lustige war, dass manche von diesen Zeichentrickfilmen, ahm ((schluckt)), auf deutscher Sprache waren,/(schmunzelnd) ich weiß nicht, wie meine Eltern dazu gekommen sind/, aber ich hab halt schon so mit drei, vier Jahren das erste Mal die deutsche Sprache gehört, und ja. (1/23-29)
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Ihre erste Begegnung mit Deutsch kontextualisiert die Erzählerin mit der Anfangsphase des Krieges, in der sie häufig Videokassetten, die zum Teil deutschsprachig waren, ansah. Welche Verbindung Jelena Selmanovićs Eltern zu Deutsch hatten, ist an dieser Stelle des Interviews noch unklar, und woher sie die aufgenommenen Kassetten hatten, ebenfalls. Ob die Filme als Ablenkung von den kriegerischen Ereignissen gedacht waren, oder ob die Eltern bereits Migrationsüberlegungen in Richtung des dominant deutschsprachigen Raumes hatten, wird nicht erwähnt. Jedenfalls wird die Begegnung mit Zeichentrickfilmen und mit der deutschen Sprache hier als zufällige eingeführt. Jel: Ich dachte damals, ich versteh gar nichts, aber Zeichentrickfilme, Kindersprache, da versteht man schon viel mehr, als man denkt, und dann wirklich mitten im Krieg, wo wir in eine Wohnung umgezogen sind, weil erst waren wir in einem Haus, dann sind wir in eine Wohnung im Zentrum der Stadt gegangen, weil es dort etwas sicherer war, und, ähm, ein Nachbar von uns/(schmunzelnd) hatte so eine Satellitenschüssel/an, ähm, das Gebäude gehängt, und irgendwie hatten viele von den Hausbewohnern halt Programme! Unterschiedliche Programme. Und die Satellitenschüssel war so, also so gedreht, dass wir deutsche Programme hatten. Und ich kann mich erinnern, ich hatte, diesen Programm gibt’s nicht mehr, es hieß TM3, ich kann mich sehr gut erinnern, TM3, und da gab es immer samstags und sonntags in der Früh Zeichentrickfilme wie Grimms Märchen, und irgendwelche auch japanische Zeichentrickfilme, die synchronisiert wurden, ((schluckt)) und, ja, das war für mich himmlisch! (1/29-2/11)
Ihre damaligen rezeptiven Fertigkeiten in Deutsch, die die Erzählerin über ein unpersönliches »man« wie eine allgemeine Regel formuliert, bewertet sie aufgrund der Verwendung von ›Kindersprache‹ als »schon viel mehr, als man denkt«. Über diesen Kontakt hinaus kam das ›erzählte Ich‹ nach einem kriegsbedingten Umzug in Kontakt mit deutschsprachigen Fernsehsendern, die über Satellit empfangen wurden. Die Erzählerin bezieht sich bei der Beschreibung der Programme vor allem auf Zeichentrickfilme, an deren Sendetermine sie sich noch genau erinnert, und nennt als Beispiele Grimms Märchen und synchronisierte japanische Zeichentrickfilme. Insgesamt charakterisiert sie die damalige Auswahl an Programmen und Zeichentrickfilmen und die Möglichkeit, sich diese anzusehen, als »himmlisch«. Angesichts des gesellschaftspolitischen Kontextes und der kriegerischen Auseinandersetzungen, die damals besonders in G-Stadt, wo die Familie wohnte, sehr heftig waren, wirkt die Beschreibung dieser Zeit fast schon idealisierend.21 Vielleicht ist diese Art zu erzählen aber auch eine Möglichkeit, die damals erlebte ›Kinderwelt‹ darzu21 | An einer anderen Stelle erwähnt die Erzählerin, dass während intensiver Bombardements zu einem späteren Zeitpunkt die gesamte Großfamilie in einer Wohnung wohnte und dieses Zusammensein für die Kinder »natürlich super« war u.a. weil sie »alle zu-
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stellen, die mit der sozialen Welt der Erwachsenen und derjenigen außerhalb des Hauses nicht so viel zu tun hatte: Über die Artifizialität der Zeichentrickfiguren und die zunächst ›fremde‹ Sprache Deutsch wird in der Abgeschiedenheit beim Fernsehen in der Wohnung ein Gegenraum zum Krieg aufgebaut, der Kindsein ermöglichte. Jel: /(schmunzelnd) Ich als Kind, ich (hab) schon mit drei, vier Jahren dann angefangen auch zu zeichnen/, und die deutsche Sprache… ich hab zwar nicht Deutsch gesprochen, ich konnte es ja nicht, aber ich hatte keine Probleme, mir diese Zeichentrickfilme anzuschauen. Ich hab’s echt geliebt, und meine Mama war auch zufrieden, weil irgendwie ich und meine Schwester haben dann immer gespielt, wir waren nicht so Problemkinder irgendwie, dass wir immer so/(schmunzelnd) gejammert haben/(lachend) oder so/, sondern »Nein! Gibt uns Zeichentrickfilme, gib uns Papier, damit wir zeichnen können!«, und alles war schön und gut! ((lacht)) Und, ähm, ja. (2/11-19)
Parallel zur Beschäftigung mit Zeichentrickfilmen entwickelt Jelena Selmanović ein Interesse fürs Zeichnen. Die Erzählerin hebt ihre sehr enge Beziehung zum Zeichnen und zu deutschsprachigen Zeichentrickfilmen hervor und meint, dass ihre Mutter »zufrieden« mit der damaligen Beschäftigung ihrer Töchter war, die als relativ selbstständig und genügsam dargestellt werden. In der Annahme von Tochterrollen, die keine ›Probleme‹ verursachen, wird möglicherweise ein unbewusster Versuch der Kinder deutlich, ihre Eltern, die eine Reihe anderer Probleme hatten, nicht noch zusätzlich zu belasten. Auch wenn das Interesse für die deutschsprachigen Zeichentrickfilme und für das Zeichnen möglicherweise von der Mutter angestoßen wurde, weil die Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder inmitten bewaffneter Auseinandersetzungen eingeschränkt waren, wird es hier als Produkt von Zufällen konstruiert, das sich langsam zum ›eigenen Projekt‹ entwickelt – zum Teil der beiden Schwestern gemeinsam, zum Teil der Erzählerin alleine. Auch die zweite und intensivere Begegnung mit Deutsch im Rahmen eines Aufenthalts bei Verwandten in Deutschland nach Ende des Krieges erzählt Jelena Selmanović so, dass der Eindruck einer sehr starken und quasi selbstverständlichen Verbindung zwischen ihr und der Sprache Deutsch entsteht, während ihrer Mutter und Schwester der Zugang aufgrund unterschiedlicher Faktoren erschwert ist (4/4-6/3). An den oben referierten Stellen des Interviews ist jedenfalls bereits die Verbindung zu den drei Feldern Zeichentrickfilme, Zeichnen und Deutsch angedeutet, die im Leben von Jelena Selmanović zentral sind, und von denen sich das Zeichnen zunehmend zur »Leidenschaft« (10/2, 17/42, 19/2, 19/32) sammen« (2/30) waren und spielen konnten und ihnen die Tragweite der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht bewusst war.
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entwickelt. Deutsch erweist sich zu einem späteren biographischen Zeitpunkt für Jelena Selmanović als Türöffnerin für eine neue Art der Beschäftigung mit dieser Leidenschaft (vgl. 17/25-18/1). Insgesamt wird die Konstruktion einer ›heilen‹ Kindheit deutlich, in der Sprachenlernen außerhalb institutioneller oder didaktisierter Kontexte als beiläufige Erfahrung stattfand, die allerdings eine wichtige Grundvoraussetzung für die spätere Migration darstellt. In eine Zufallskette von Begegnungen mit der deutschen Sprache wird erzählerisch ein roter Faden hineingewoben, mittels dessen zum einen eine Normalisierung von Kindheit unter Bedingungen von Krieg stattfindet und zum anderen eine Beschäftigung mit Deutsch sichtbar wird, die von frühester Kindheit an Bestandteil des Lebens der Biographin war. Das völlige Fehlen von Bosnisch in dieser Phase der Kindheit und der starke Fokus auf Deutsch könnten auf eine im Feld begründete Legitimierungslogik hinweisen, der zufolge Jelena Selmanović als nicht dominant positionierte Germanistikstudentin sich in ihrer Erzählung als ›quasi muttersprachig‹ entwirft. Ganz anders als bei Jelena Selmanović gestalten sich die familialen und gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen bei Paola Pascucci. Trotzdem zeigt ihre biographische Erzählung hinsichtlich der Aneignungsweise von Deutsch eine starke Parallele zum eben beschriebenen Fall, wenn auch erzählerisch in ganz anderer Weise: Paola Pascucci erzählt zu Beginn der Eingangserzählung nur sehr wenig über ihre Familie. Das Thema Sprache taucht erstmals im Kontext Schule auf und wird entlang bildungsinstitutioneller Übergänge und damit verbundener Ortsveränderungen (u.a. Schüler*innenaustausch in Deutschland und Großbritannien, Erasmus-Aufenthalt in Österreich sowie Aufnahme eines Doktoratsstudiums in Österreich) weitergeführt. Mit der folgenden Nachfrage zielt die Interviewerin auf sprachliche Kommunikation in der Familie ab: Int: Du hast erzählt, dass du in der Schule verschiedene Sprachen [gelernt] hast – und [mhm] Pao: Int: ähm – ich wollte dich fragen, wie das in deiner Familie war, also [wie] ihr in der [mhm] Pao: Int: Familie gesprochen habt? (7/47-8/3)
Die Frage der Interviewerin lässt sich möglicherweise mit der Schilderung Paola Pascuccis ihrer in der Schule erlernten Sprachen erklären, die ein gymnasiales Verständnis von ›Fremdsprachen‹ und ein damit verbundenes Konzept gesellschaftlicher Normalität zeigt (1/19-29). In der Frage tritt der Begriff ›Lernen‹ nicht auf; vielmehr steht das ›Sprechen‹, also die Verwendung von Sprache in der mündlichen Interaktion, im Zentrum.
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Pao: Ne eigentlich ahm (2) wir haben nur Italienisch gesprochen, wir haben auch keine (1) äh (1) also ausländische Herkünfte, gar nichts. Int: mhm Pao: Und äh – meine Eltern waren auch nicht unbedingt – sprachinteressiert. Sie haben andere – Sachen gelernt in der Schule, also andere Richtungen – wir sind auch nicht verreist – und – wir waren nie auf Urlaub und deswegen, es ist auch nicht so, dass ich, weiß ich nicht, mit meinen Eltern in England oder in Spanien war und »och schön.« (8/4-9)
Die Erzählerin beginnt mit dem Argument, dass in der Familie »eigentlich […] nur Italienisch« gesprochen wurde. Das abschwächende »eigentlich« macht deutlich, dass es noch etwas Anderes geben könnte, das entweder nicht sagbar ist oder dessen sich Paola Pascucci nicht sicher ist. Das »nur« könnte auf ein Defizit oder eine Einschränkung hinweisen, nämlich dass in der Familie nicht noch weitere Sprachen gesprochen wurden, es könnte aber auch einen Unterschied zu einer biographisch späteren Zeit oder zu einem anderen Kontext als dem der Familie – etwa den der Schule – markieren. Darüber hinaus könnte das »nur« auch auf eine Vorstellung von Sprachreinheit verweisen in dem Sinne, dass in der Familie etwa keine Dialekte gesprochen wurden, sondern ausschließlich ›reines‹ Standarditalienisch (vgl. Veronesi 2008, 2010). Der von einer zweifachen kurzen Pause und einer Verzögerungsmarkierung eingeleitete Hinweis darauf, dass es in der Familie »keine […] ausländische[n] Herkünfte« gegeben habe, macht eine Sichtweise deutlich, in der Sprachen als Nationalsprachen konzeptionalisiert sind und sprachliche Heterogenität nur über das ›Ausland‹ denkbar ist. Im weiteren Verlauf wird einerseits erklärt, warum in der Familie keine anderen Sprachen als Italienisch gesprochen wurden: Dem Hinweis, dass die Eltern »nicht unbedingt – sprachinteressiert« waren, folgt die Feststellung, dass sie »andere – Sachen gelernt« hätten. Paola Pascucci macht hier deutlich, dass es sich bei ihrem Elternhaus nicht um einen in öffentlichen – und zum Teil auch in wissenschaftlichen – Diskursen häufig als ›bildungsfern‹ bezeichneten Haushalt handelte, sondern dass ihre Eltern durchaus Bildungskapital hatten, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt als Sprachen. Zudem wird erkennbar, dass die Familie in der Kindheit der Biographin nicht verreiste und »nie auf Urlaub« war. Als Beispiele für Urlaubsländer, in denen es möglich gewesen wäre, Sprachen zu lernen oder sprachliches Repertoire zu erweitern, gibt Paola Pascucci England und Spanien an, Länder, deren Nationalsprachen über hohes Kapital verfügen. Hier stellt Paola Pascucci also klar, dass ihr die Beschäftigung mit Sprachen nicht ›in die Wiege gelegt‹ wurde, bzw. dass das Interesse dafür nicht Teil der familialen Sozialisation war. Auch die weitere Rekonstruktion ihrer Begegnung mit Deutsch und in weiterer Folge mit österreichischer Literatur (1/23-2/10) verdeutlicht einen biographischen Blick, der den Deutschaneignungsprozess als weitgehend unabhän-
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gig von signifikanten Verwandten und somit als ›eigenes Projekt‹ konstruiert. Die Beschäftigung mit dem Schwerpunkt ›Literaturwissenschaft‹ im Studium führt Paola Pascucci zunächst als Erasmus-Studentin nach A-Stadt, wo sie bereits bei ihrem ersten Besuch »diese ganze Literatur gerochen und gesehen« (10/29) hat. In weiterer Folge beginnt sie dort mit einem Doktoratsstudium in Literaturwissenschaft. Auf die Frage, welche Bedeutung die beiden Sprachen Deutsch und Italienisch, über die die Erzählerin immer wieder spricht, für sie haben, meint sie, »Italienisch ist mein altes Leben, ist Familie, ist äh Italien meine Heimat« (12/38-39). Über Deutsch sagt sie, »Deutsch (2) ja – ist irgendwie das Weitergehen« (12/41) und »auf verschiedenen Ebenen Freiheit« (12/42). Dieses ›Weitergehen‹ lässt sich im gesamtbiographischen Kontext nicht nur als Bewegung im Raum von Italien nach Österreich, sondern auch als Bildungsaufstieg und als Möglichkeit der Beschäftigung mit einem Thema verstehen, das von sehr großem Interesse für die Biographin ist. Hinsichtlich der Konstruktion der Sprachaneignung als weitgehend selbstinitiiertem Prozess stellt die Erzählung von Milan Pavić eine Parallele zu der von Paola Pascucci dar. Im folgenden Ausschnitt steht die Aneignung von Schriftsprache im Vordergrund. Der Erzähler, dessen Großeltern in den 1970er und dessen Eltern in den 1980er Jahren aus Serbien nach Österreich migrierten, stellt zu Beginn des Interviews einen kontinuierlichen Bezug zu Österreich über seine Geburt, sein Aufwachsen und seine schulische Sozialisation her: »bin im Prinzip in, Österreich, immer aufgewachsen«, »war immer da«, »hier schon geboren«, »hier aufgewachsn«, »hier in die Schule gegangen von, der Volkschule, vom Kindergarten bis, zur, Matura=bis zum Studium halt jetzt« (1/8-10). Nach dieser starken biographischen Verortung in Österreich und einer Beschreibung Serbiens als Urlaubsland während der gesamten Kindheit – was seine ›Verwurzelung‹ in Österreich implizit verstärkt – geht der Erzähler auf seinen Weg ins Studium der Translationswissenschaft mit den Sprachen Serbisch, Französisch und Deutsch ein. In diesem Zusammenhang spricht er über seine Sprachkenntnisse zu Studienbeginn und geht dann auf eine viel frühere Phase der Sprachaneignung ein: Mil: geschriebm hab ichs [Serbisch, N.T.] nie ähm, ich konnte zwar Kyrillisch immer schon, (das hab ich mir) als kleines Kind, beigebracht – weil in=in/(leicht lachend) Serbien nämlich/(schluckt) alle ähm (1) ja (1) ausländischen sag ich mal, Filme – in der Originalsprache sind, nur, mit, Untertiteln, und die warn meistens in Kyrillisch, ja? Und=irgendwie, Englisch konnte ich halt ein bisschen, (schon, im), Kindergarten – ähmm – das war – also, durch (Cartoon Network das da früher mal) gegebm hat, (da hab ich_ hm), Zeichentrickfilme auf Englisch/(leicht lachend) gschaut/– und, Deutsch natürlich halt, äh (1) ja, hab ich dann mehr oder weniger (1) im Kindergarten halt gelernt – und, ja, die
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache Sprachen waren dann Deutsch, Englisch, die Filme zum Beispiel – (kyrillische) Untertitel, und, ja. –/(leicht lachend) Irgendwas/hab ich mir dann zusammengereimt. Bis ich dann irgendwann einmal () (irgendwelche alten) Schulbücher von der Mama – glesn hab und, sie irgendwie ganz verwundert warn alle, wie ich das lesn kann halt.=Wieso, ich auf einmal Kyrillisch kann=und, (lacht leise)/(lachend) habs ma halt/selber beigebracht, mehr oder weniger. – War ganz witzig (irgendwie).[– Die Ge]schichte hör ich immer wieder [(lacht leise)] Int: Mil: gern=weils, einfach so, abstrakt is.=(Ja man) lernt, Kyrillisch, im – Selbststudium als, hm Siebm-/(lachend)-jähriger/, [oder] Achtjähriger, keine Ahnung wie alt ich da [(lacht leise)] Int: Mil: genau war – äh_ Na Blödsinn. – Das muss spätergwesn sein. – Da (konnt ich schon zumindest schon) schreibm. Also hm (1) ja, zehn. (2/6-25)
Milan Pavić konstruiert hier seine Kyrillisch-Kenntnisse zunächst als solche ohne biographischen Anfangspunkt (»immer schon«), berichtet dann aber, sich Kyrillisch »als kleines Kind« selbst beigebracht zu haben. Da diese Behauptung wenig plausibel oder zumindest erklärungsbedürftig ist, holt er zu einer Detaillierung aus, um die näheren Umstände der eigenständigen Schriftaneignung zu erläutern. Dabei spielen, ähnlich wie bei Jelena Selmanović, Filme eine tragende Rolle: Milan Pavić geht zunächst auf Kyrillisch untertitelte Filme »in der Originalsprache« ein, ohne die Sprache(n) der Originalfassungen zu benennen. Mit der Rekonstruktion seiner ebenfalls über Zeichentrickfilme angeeigneten Englischkenntnisse und seiner »mehr oder weniger« im Kindergarten erworbenen Deutschkenntnisse wird deutlich, dass es sich um Filme in diesen beiden Sprachen mit kyrillischer Untertitelung – wahrscheinlich auf Serbisch – handelte. Mit der Angabe, sich »irgendwas […] zusammengereimt« zu haben, wird deutlich, dass sich der Erzähler nicht mehr selbst an die Schriftaneignung erinnert. Zugleich klingt in dieser Formulierung die Vorstellung einer zwar keinen vorgegebenen Regeln folgenden, dafür aber sehr kreativen beginnenden Schriftaneignung an. Diese dauerte an, bis sich das ›erzählte Ich‹ ohne Anleitung Anderer mithilfe alter Schulbücher der Mutter offensichtlich ausreichende Kenntnisse aneignete. Der Aneignungsprozess selber verschwindet hinter dessen Ergebnissen, nämlich den Kyrillischkenntnissen, die das ›erzählte Ich‹ »auf einmal« hatte. Diese zur Überraschung aller plötzlich vorhandenen Kenntnisse gibt der Erzähler aus der Perspektive Anderer an und macht diese somit zu ›Zeug*innen‹ seines eigenständigen Schrifterwerbs. Das abschwächende »mehr oder weniger« könnte sich auf Hilfestellungen anderer Personen beziehen, die Milan Pavić neben seiner Beschäftigung mit den Büchern hatte, oder es könnte sich auf die ganze Phase beziehen, die er nur aus Erzählungen kennt, und deren Wahrheitsgehalt und nähere Umstände er deshalb nur »mehr oder weniger« einschätzen kann. Evaluierend charakterisiert er diesen Prozess als »ganz witzig«. Darüber hinaus wird deutlich, dass die
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Geschichte der Kyrillischaneignung, die er »immer wieder gern« hört, fester Bestandteil der familialen Kommunikation über die Kindheit des Erzählers ist. Milan Pavić bezeichnet das Erlernen des kyrillischen Alphabets »im – Selbststudium« als »abstrakt«, womit er möglicherweise einen Prozess bezeichnen möchte, der so ›besonders‹ ist, dass er sich jeder konkreten Greif barkeit entzieht. Zunächst ordnet er seine Schriftaneignung zeitlich mit seinem siebten oder achten Lebensjahr ein, relativiert diese Einordnung dann aber, um sie in Folge als »Blödsinn« zu bezeichnen. Auf der Suche nach dem genauen Alter rekonstruiert er, dass er zu dem Zeitpunkt »zumindest schon schreibm« konnte, womit er sich wahrscheinlich auf die lateinische Schrift bezieht. Abschließend ordnet er die »Geschichte« dann in seinem zehnten Lebensjahr ein. Insgesamt wird deutlich, dass Milan Pavić sein ›erzähltes Ich‹ hier als ›sich selbst bildendes Kind‹ (Seyss-Inquart 2016: 158-160) rekonstruiert, das sich ohne Hilfestellungen und/oder Anleitungen Erwachsener oder anderer Kinder sowohl rezeptive Englisch- und Deutschkenntnisse als auch Kenntnisse des kyrillischen Alphabets aneignet. Eine wesentliche Rolle spielen dabei das Medium Film und alte Schulbücher seiner Mutter. Der Rekonstruktion dieser selbstinitiierten, frühen und äußerst erfolgreichen Sprachaneignung, die über den Begriff »Selbststudium« implizit einer akademischen Beschäftigung gleichgestellt wird, folgt im Interview eine Reihe anderer Passagen, die eine Selbstkonstruktion Milan Pavićs als ›sprachbegabten‹ Menschen zeigen, der sich Sprachen nicht nur ohne Mühe aneignet und diese perfektioniert, sondern seine Kenntnisse auch zu seinem Vorteil einzusetzen weiß, etwa indem er sich durch Französisch-Nachhilfe ›über Wasser hält‹ oder Deutschkurse gibt (2/44-47). Bei allen Unterschieden hinsichtlich der familialen Ausgangsbedingungen und der Sprachen bzw. Schriften, über die gesprochen wird, zeigt sich im Vergleich der Fälle, wie Sprachaneignung in den biographischen Erzählungen als weitgehend von Eltern oder anderen signifikanten Personen unabhängiger Prozess konstruiert wird, der unterschiedliche biographische Wirkmacht entfaltet. Paola Pascucci beschreibt ihre Eltern als nicht besonders ›sprachinteressiert‹ und verdeutlicht damit, dass sich das Interesse für Sprachen bei ihr weitgehend selbstständig und ohne familiale Unterstützung entwickelte. Die Darstellung ihres Weges zur deutschen Sprache als selbstinitiiertes Projekt, das sie weitgehend unabhängig von den Eltern gestaltet, ist sowohl mit einer geographischen Absetzbewegung vom dörflichen Herkunftskontext hin nach A-Stadt und einer damit verbundenen Ausweitung der Freiheitsspielräume verbunden als auch mit einem Bildungsaufstieg und der Möglichkeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem Thema, für das sie sich sehr begeistert.
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Bei Jelena Selmanović wird zwar das Medium, das den ersten Kontakt zu Deutsch bildet, in Form von Videokassetten von den Eltern zur Verfügung gestellt. Trotzdem konstruiert die Erzählerin ihre beginnende Sprachaneignung als ureigenes und mit der Leidenschaft für Zeichentrickfilme verbundenes Interesse, das sie mit ihrer Schwester teilt. Die Beschäftigung mit Deutsch stellt in Jelena Selmanovićs Kindheit einen von kriegerischen Handlungen in ihrem Wohnort weitgehend geschützten Raum dar, in dem das ›erzählte Ich‹ sich in filmische Geschichten hineinbewegen kann und über die Zeichentrickfiguren ein zeichnerisches Interesse entwickelt. Jelena Selmanović gelingt es zu einem späteren biographischen Zeitpunkt, eine größere Kontinuität ihrer Beschäftigung mit Deutsch herzustellen und über diese auch einen neuen Zugang zum Zeichnen zu finden (17/41-46). In der Erzählung von Milan Pavić ist die Beschäftigung mit Deutsch weniger mit einer Absetzbewegung von der Familie und hin zu einem anderen nationalstaatlichen Kontext verbunden. Vielmehr zeigt sich in der Erzählung über seinen Sprachaneignungsprozess der Anfang einer Selbstkonstruktion als außergewöhnlich sprachbegabte Person, die sich bereits in früher Kindheit über das Ansehen deutsch- und englischsprachiger Serien rezeptive Sprachkenntnisse aneignet und mit Hilfe von alten Schulbüchern der Mutter zum Erstaunen der Familie selber Kyrillisch lesen lernt. Diese Selbstkonstruktion als ›Sprachjongleur‹, der sich leichtfüßig zwischen verschiedenen Sprachen und Schriften hin- und her bewegt, verläuft analog zu einer Darstellung seiner selbst als ›Weltenbummler‹, der an viele Orte reist und auch für seine weitere Zukunft noch mehrere Ortswechsel vorgesehen hat.
7.2.4 Zusammenfassende Überlegungen: Erste Sprachaneignungsprozesse und die Bedeutung signifikanter Anderer Im Vergleich der Fälle wird deutlich, dass dem Beginn des individuellen Sprachaneignungsprozesses von fast allen Interviewpartner*innen ein zentraler Platz in ihrer Lebensgeschichte eingeräumt wird. Miecznikowski (2004) beschreibt die Angabe des Spracherwerbsbeginns als diskursive Figur und zeigt, dass die Thematisierung einer ›Zweitsprache‹ – in ihrem Korpus von Seiten der Interviewerin – von den Erzähler*innen »zur Festlegung des Erwerbsbeginns genutzt wird« (ebd.: 195), der somit eine Basisinformationen darstellt, die Sprecher*innen zu ihrer Sprachbiographie liefern (ebd.). In meinem Korpus erfolgte die Thematisierung entweder bereits in den Haupterzählungen von den Erzähler*innen selbst oder im Nachfrageteil. Mehrere Erzähler*innen gehen dabei auf die fehlende Erinnerung an den Beginn des Deutschaneignungsprozesses ein. Das rückt die Sprachaneignung in die Nähe derjenigen von dominant positionierten Deutschsprecher*innen, macht aber zugleich die
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Erklärungsbedürftigkeit der Deutschaneignung bei Personen, die als nicht ›muttersprachig‹ gelten, deutlich. Die biographischen Rekonstruktionen des beginnenden Sprachaneignungsprozesses, mittels derer sich die Biograph*innen als ›schon immer deutschsprachig‹ konstruieren, lassen sich auch mit dem Forschungsdesign und der Sample-Konstruktion (vgl. Kap. 5.1) erklären. Ein weiterer Punkt betrifft die Rekonstruktion von Sprachaneignungsprozessen zwischen Selbstinitiative und Fremdbestimmung: Es wird deutlich, dass alle signifikanten verwandten Bezugspersonen (in der Regel Eltern und Großeltern), die in den biographischen Erzählungen vorkommen, das Sprachenlernen ihrer (Enkel-)Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten und (sprachdidaktischen) Vorstellungen initiierten, unterstützten und/oder forcierten, oder, sofern das nicht möglich war, Unterstützung in ihren sozialen Netzwerken, etwa bei Nachbarinnen, suchten. Die Unterstützungsformen im Erwerb der jeweiligen Familiensprachen und des Deutschen sind äußerst vielfältig und bewegen sich zwischen der Unterweisung im Rezitieren des Korans, dem Bereitstellen deutschsprachiger Videokassetten sowie der Organisation von Deutschkursen und/oder deutschsprachiger Betreuung in der Nachbarschaft. Die Rolle verschiedener Medien spielt in den Sprachaneignungsgeschichten eine zentrale Rolle: Das Fernsehen kommt als Medium vor, mit dem sich die Kinder vor allem rezeptive Sprachkenntnisse des Deutschen und Englischen aneigneten und Interesse an den Sprachen und Schriften der Untertitelungen fanden. Daneben lässt sich aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit Büchern rekonstruieren. Neben den vielfältigen Rollen, die signifikante Erwachsene im Sprachaneignungsprozess einnahmen, wird deutlich, dass manche Erzähler*innen ihre Aneignung des Deutschen oder anderer Sprachen und/oder Schriften als selbstinitiiert und weitgehend unabhängig von der Unterstützung Erwachsener darstellen. Damit wird die Beziehung zur Sprache Deutsch, mit der sich die Interviewpartner*innen derzeit als Student*innen beschäftigen, als biographisch weit zurückliegende, ureigene und von persönlicher Motivation initiierte konstruiert. In einigen Fällen geschieht die erste Begegnung mit Deutsch bzw. mit einem deutschen Dialekt in Folge einer Migration in den dominant deutschsprachigen Raum oder in eine andere dominant deutschsprachige Region (Majda Melić und Jonas Balta), während in anderen Fällen die Beschäftigung mit Deutsch eine Migration erst ermöglicht oder diese erleichtert (Simona Popescu und Paola Pascucci), wobei mit dem Migrationsprozess neben einem Bildungsaufstieg auch eine befreiende Bewegung in Richtung eines selbstbestimmten und von familialer Einflussnahme weitgehend unabhängigen Lebens verbunden ist. In diesem Zusammenhang erklärt die hohe Relevanz, die das Beherrschen der deutschen Sprache nicht nur für Bildungsbiographien, sondern auch für darüber hinausgehende Lebensentwürfe und Möglichkeitsräume hat, den
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Detailliertheitsgrad, mit dem die frühkindliche Begegnung mit Sprache – vor allem mit Deutsch – in den biographischen Erzählungen rekonstruiert wird.
7.3 F amilienspr achen z wischen › natürlicher ‹ B edingung und A ushandlungsprozess In den vorangegangenen Kapiteln wurde rekonstruiert, welche Bedeutung sprachliche Ressourcen einzelner Familienmitglieder in den biographischen Erzählungen einnehmen, auf welche Weise sich die Erzähler*innen auf familiale Erfahrungen mit Sprache beziehen und wie sie ihre ersten Begegnungen mit Sprache bzw. ihre beginnenden Sprachaneignungsprozesse im Gesamtkonzept ihrer Sprachbiographie beschreiben. In diesem Kapitel steht die Frage im Mittelpunkt, wie individuelle, familiale und gruppenbezogene Erfahrungen mit Sprache in der innerfamiliären Kommunikation relevant (gemacht) werden und auf welche Weise diese von den Erzähler*innen biographisch verarbeitet werden.
7.3.1 Sprachwahl und die Herstellung sprachlicher Räume In einigen der Erzählungen zeigt sich, dass sich die Verwendung von Einzelsprachen und/oder Varietäten in unterschiedlichen Räumen ändert und dass über mehr oder weniger strategische Anpassung der Sprache an die Umgebung (sprachliche) Räume (re-)konstruiert und/oder perpetuiert werden. ›Raum‹ verstehe ich nicht als absolut, sondern als relational und von menschlichem Handeln geprägt (Harvey 2009: 13f.). Zudem gehe ich von einer gleichzeitigen Präsenz verschiedener Räume aus, die miteinander interagieren (Purkarthofer 2014: 17), und die von spezifischen Ordnungen strukturiert, von Differenz und Ungleichheit durchzogen und umkämpft (Neely/Samura 2011) sind. Mehrsprachigkeit ist erst durch Möglichkeiten, die Individuen in unterschiedlichen Räumen erhalten, realisierbar (Blommaert et al. 2005: 213). Gleichzeitig ist Sprache an der Konstruktion dieser Räume beteiligt (Pennycook 2010: 140). In diesem Unterkapitel liegt der Fokus auf der Frage, wie Räume als sprachliche Räume in den Erzählungen konstruiert werden und wie die Erzähler*innen sich selbst und andere in diesen Räumen positionieren. Aus Günnur Dumans Erzählung wurde in den vorangegangenen Kapiteln die Rekonstruktion ihrer Sprachaneignung vor dem Hintergrund der Sprachkenntnisse ihrer Eltern, v.a. den »richtign A-Städter Dialekt« ihrer Mutter, thematisiert (vgl. Kap. 7.1.1). Im Folgenden werden Passagen wiedergegeben, in denen Günnur Duman auf die Sprachwahl in ihrer Familie eingeht:
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TEIL III — Falldarstellungen Gün: Und ich sogar vorm Kindergarteneintritt hab ich schon die Bezüge zur deutschen Sprache gehabt, aber das Türkische war dominanter, aber ich weiß, dass immer, wenn wir rausgegangen sind, also in der Öffentlichkeit, in der Straßenbahn etcetera, daa hat meine Mutter immer Deutsch mit mir gesprochen. Und das is das weiß ich. Und (1) ich kann mich sogar erinnern, einmal hat sie gesagt, hat sie mein Papa erzählt: »Und die Günnur, die is so gscheit. Wenn wir draußen sind, redet sie immer auf Deutsch mit mir, und wenn wir wieder zu Hause sind, dann redet sie, aso oder wenn wir mi_ also unter Türkischsprachigen sind auf Türkisch.« (9/38-46)
Nach dem Argument, schon vor dem Kindergarteneintritt »Bezüge« zur deutschen Sprache bei einer Dominanz des Türkischen gehabt zu haben (vgl. auch Kap. 7.1.1), erzählt Günnur Duman eine selbst erinnerte Begebenheit als Beleg für ihr gesichertes Wissen („das weiß ich“) darüber, dass ihre Mutter in der Öffentlichkeit immer Deutsch mit ihr sprach: Das ›erzählte Ich‹ wird von ihrer Mutter als »so gscheit« bezeichnet, weil sie die vom Ort bzw. von den anwesenden Personen abhängige Sprachwahl der Mutter übernimmt und »draußen« Deutsch und »zu Hause« oder »unter Türkischsprachigen« Türkisch spricht. An dieser Passage lässt sich ablesen, dass die Mutter zwei sprachliche Räume herstellt: Dem öffentlichen Raum wird Deutsch zugeordnet, was eine Anpassung an die dominante Sprache in Österreich zeigt und den Migrationshintergrund der Familie ›unhörbar‹ macht. Die Intelligenz, also das »Gscheite« Günnur Dumans, besteht der Interpretation der Mutter zufolge darin, dass die Tochter diese Sprachwahl- bzw. -wechselpraxis übernimmt. Gün: Aso i anscheinend hab ich das von meiner Mutter übernommen dieses »O.K. jetzt sind wir draußen auf Deutsch«, wobei ich das jetzt ganz anders betrachte, und das auch versuche (1) abzulegen, weil ich das nicht in Ordnung finde, warum ich jetzt unbedingt, nur weil ich in der Öffentlichkeit bin, Deutsch redn muss, ich kann viele Sprachen und ich werde die Sprache sprechen, die ich sprechen möchte. (9/47-10/2)
Die Erzählerin argumentiert, dass sie diese Sprachwahl als Kind von ihrer Mutter »übernommen« hat und jetzt versucht, diese Gewohnheit »abzulegen«. Sie kritisiert die Praxis, in der Öffentlichkeit ausschließlich Deutsch zu sprechen und betont, »viele Sprachen« zu sprechen und sich selbst für die im jeweiligen Kontext präferierte entscheiden zu wollen. Die unausgesprochenen Konventionen darüber, welche Sprachen in der Öffentlichkeit (nicht) gesprochen werden (dürfen), verdeutlichen, wie eng hier der dominant deutschsprachige Nationalstaat und die Sprachverwendung der sich darin bewegenden Menschen verknüpft werden und wie sehr sich Sprecher*innen des Prestiges verschiedener Sprachen bewusst sind. Obwohl die Familie in einem Stadtteil lebt, in dem Türkisch sehr häufig gesprochen wird, ist Deutsch die für die Öffentlichkeit bestimmte Sprache, und Türkisch wird dem räumlichen Bereich des Privaten
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zugeteilt. Die Erzählerin meint, Sprachverwendung in unterschiedlichen Räumen »jetzt« ganz anders zu betrachten. Wann dieses »jetzt« begonnen hat, ist unklar, allerdings hat Günnur Duman sich in ihrem Studium mit hegemoniekritischen Theorien zu Sprache beschäftigt.22 Möglicherweise hat sich ihr Verhältnis zur Sprachverwendung über die akademische Auseinandersetzung mit einer machtkritischen Perspektive auf Sprache verändert. Die Passage endet jedenfalls mit ihrer Ankündigung, hinsichtlich ihrer Sprachwahl in Zukunft keine Rücksicht mehr auf Andere zu nehmen und sprachliche Räume selbstbestimmt gesalten zu wollen. Gün: aber (1) ich glaub, dass es bei meiner Mutter jetzt auch nicht etwas Bewusstes war, um die türkische Sprache zu verdrängen, sondern einfach ja, wir reden jetzt von den 90ern, (1) und sie is überhaupt hier aso meine Mutter ist 1969 auf die Welt gekommen und (dann) hier in die Schule gegangen, also in den 70ern in die Volksschule, 80er Hauptschule, das is halt wahrscheinlich ihre Art gewesn. Vielleicht hat sie das einfach so (2) ja (2) vermittelt bekommen, dass das einfach eine Sprache ist, die sie zu Hause zu sprechen hat. (10/3-9)
Die Erzählerin rechtfertigt an dieser Stelle die damalige Sprachpraxis ihrer Mutter, indem sie ins Feld führt, dass diese »nicht etwas Bewusstes« war, »um die türkische Sprache zu verdrängen«. Argumentativ verlagert sie die Praxis der Verwendung der dominanten Sprache im öffentlichen Raum in die 1990er Jahre, eine zeitliche Distanzierung, die impliziert, dass die Mutter ihre Sprachwahl zum heutigen Zeitpunkt möglicherweise anders gestalten würde bzw. dass heutige Sprachpraxen sich von damaligen unterscheiden. Die Angabe des Geburtsdatums und des Zeitraums, in dem die Mutter in der Schule war, verdeutlichen die genaue zeitliche Kontextualisierung noch stärker. Die Erzählerin individualisiert die Praxis der Mutter, indem sie betont, dass der Sprachwechsel »wahrscheinlich ihre Art gewesn« ist, also weitgehend unbeeinflusst von gesellschaftlichen Konventionen und der nationalen Sprachenordnung stattfand. Allerdings räumt sie die Möglichkeit ein, dass die Mutter die Beschränkung des Türkischen auf den familiären Raum »einfach so (2) ja (2) vermittelt bekommen« hat. In welchem Kontext diese ›Vermittlung‹ stattfand, wird nicht klar, aber Günnur Dumans Suche nach einer geeigneten Formulierung an dieser Stelle verdeutlicht, dass sie diese möglicherweise als nicht ganz unproblematisch ansieht. Nachdem dieser Zusatz unmittelbar nach der Sequenz folgt, in der die schulische Sozialisation angesprochen wurde, hat die Erzählerin möglicherweise die Schule als machtvollen Ort der Festlegung mehr oder weniger legitimer Sprachen im Blick. Dass sie die damalige 22 | Günnur Duman sprach nach dem Interview über ein Seminar, das sie ganz besonders interessant fand.
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sprachliche ›Anpassung‹ der Mutter an den öffentlichen Raum mit sprachlichen Hierarchien in Verbindung bringt, geht aus einer späteren Stelle des Interviews hervor, in der Günnur Duman auf ihre Überlegungen zu der Frage eingeht, welche Sprache(n) sie in der Kommunikation mit ihrem Sohn in der Öffentlichkeit verwendet (vgl. Kap. 9.4). An dieser Stelle, die als Parallele zur Sprachverwendung ihrer Mutter in ihrer eigenen Kindheit gelesen werden kann, distanziert sie sich ganz explizit davon, ihrem Sohn über ›automatisches‹ Deutschsprechen in der Öffentlichkeit »unbewusst und indirekt [zu] vermitteln […] die deutsche Sprache ist eine bessere oder eine hochwertigere, eine angesehenere« (13/27-29; vgl. Kap. 9.4). Auch Özlem Karacas Erzählung weist auf die Konstruktion sprachlicher Räume in der Familie hin, allerdings mit einer etwas anderen Akzentuierung. Im Rahmen der Rekonstruktion ihres mehrsprachigen Aufwachsens mit der ›Mischsprache‹ Aserbaidschanisch-Türkisch und mit Deutsch (vgl. Kap. 7.3.1) erzählt sie Folgendes: Özl: ich hab halt aber auch richtiges Türkisch gelernt durch Fernsehen oder durch Unterricht in der Schule, (1) also meine Eltern wollten unbedingt, dass ich alle drei – Sprachen lerne quasi also sie haben nie von Anfang an von mir – er_ also mit mir so pur Türkisch gesprochen, (2) aahm sondern halt schon – diese Mischung – aber auch in der Schule halt Türkisch gelernt. (2/31-35)
Aus dieser Passage geht hervor, dass die Eltern großen Wert darauf legen, dass ihre Tochter alle drei Sprachen lernt. Mit »richtige[m] Türkisch« bezeichnet Özlem Karaca die normierte Einzelsprache in Abgrenzung zur ›Mischsprache‹ Aserbaidschanisch-Türkisch. Das Ziel der Eltern einer Dreisprachigkeit ihrer Tochter äußert sich allerdings nicht in der Verwendung normierter und ›getrennter‹ Einzelsprachen in Gesprächen innerhalb der Familie. Vielmehr sprechen die Eltern zu Hause die von der Erzählerin zu Beginn eingeführte »Mischsprache« (2/28) und überlassen die Unterweisung im »pur[en] Türkisch« den Bildungsinstitutionen. Die Herstellung von Räumen über die Eltern zeigt sich in der Erzählung folgendermaßen: Özl: Aahm – ich durfte zu Hause nie Deutsch sprechen, – a=a=also halt im Kindergartenalter – weil meine Eltern wollten, dass ich – eben zu Hause und – draußen unterscheide, dass ich zu Hause eben – Türkisch [beziehungsweise] Aserbaidschanisch [spreche] und [mhm] [mhm, mhm] Int: Özl: im Kindergarten dann halt Deutsch. (2/40-3/1)
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Die Unterscheidung von ›zu Hause‹ und ›draußen‹, auf die auch die Eltern Özlem Karacas Wert legten, ist an den Gebrauch bestimmter Sprachen geknüpft. Die Trennung der beiden Bereiche wird von Özlem Karaca nicht als naturgegeben, sondern als von den Eltern konstruiert erzählt. Die Absolutheit, mit der die Erzählerin das Deutschverbot zu Hause zunächst einführt (»durfte zu Hause nie Deutsch sprechen«), relativiert sie unmittelbar danach und macht deutlich, dass sich das Verbot auf ihr »Kindergartenalter« bezieht und dass das ›draußen‹ zunächst durch die Institution Kindergarten repräsentiert wird und sich nicht, wie bei Günnur Duman, auf den gesamten öffentlichen Raum erstreckt. Im Kindergarten soll Özlem Karaca Deutsch sprechen, während die für ›zu Hause‹ vorgesehenen Sprachen »Türkisch beziehungsweise Aserbaidschanisch« sind. Interessanterweise kommt die von der Erzählerin zuvor eingeführte ›Mischsprache‹ Türkisch-Aserbaidschanisch an dieser Stelle nicht vor, sondern die Sprachen werden als Einzelsprachen, »Türkisch beziehungsweise Aserbaidschanisch«23 benannt. Möglicherweise liegt der Grund für diese Bezeichnung an dieser Stelle in der von den Eltern angestrebten Dreisprachigkeit, die es erfordert, alle drei Sprachen als getrennte Einzelsprachen zu benennen. Mit dem Ziel eines dreisprachigen Aufwachens ist das Wissen über die Bedeutung von Mehrsprachigkeit als Kapital verbunden. Im Unterschied zu anderen Interviews wird in diesem Interview eine ›Mischung‹ von Einzelsprachen von den Eltern offenbar nicht als Gefahr für die mehrsprachige Entwicklung gesehen, und die ›Mischsprache‹ wird von der Erzählerin an keiner Stelle als minderwertig oder nicht vollständig konstruiert. Allerdings wird in der räumlichen Unterscheidung von ›zu Hause‹ und ›draußen‹ als elterliche Strategie eine idealisierende Vorstellung sukzessiver Sprachaneignung deutlich: Während sich die Tochter die Sprachen Aserbaidschanisch und Türkisch bzw. die ›Mischsprache‹ zu Hause aneignet, soll sie Deutsch im Kindergarten sprechen. Möglicherweise spielt beim Entschluss der Eltern für die räumliche Trennung auch die Annahme mit, dass sie selbst als Vermittler*innen der Mehrheitssprache weniger gut geeignet sind als die Kindergartenpädagog*innen, oder dass Özlem Karaca in einer Umgebung mit anderen Deutsch sprechenden Kindern die Sprache leichter oder besser lernen kann. In der Doppelheit der ›Mischsprache‹ Aserbaidschanisch-Türkisch einerseits und der getrennt benannten Einzelsprachen Türkisch und Aserbaidschanisch andererseits zeigt sich möglicherweise auch eine Ambivalenz, die darauf verweist, 23 | Dafür, dass Özlem Karaca mit der Bezeichnung »Türkisch beziehungsweise Aserbaidschanisch« die beiden Einzelsprachen und nicht die ›Mischsprache‹ meint, spricht ein Vergleich mit Stellen, an denen sie die zu Beginn eingeführte ›Mischsprache‹ explizit als solche bezeichnet: »Mischung aus Türkisch und Aserbaidschanisch« (2/28-29), »diese Mischung« (2/35), »Misch-Aserbaidschanisch« (14/20), »dieses Aserbaidschanisch-Türkisch-/(leicht lachend) Gemisch« (17/15-16).
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dass sowohl die ›Mischsprache‹ als auch das Aufwachsen mit drei Einzelsprachen als ›besondere‹ sprachliche Ausgangsbedingungen gesehen werden, die Özlem Karaca im Rahmen des Interviews erzählen möchte. Fallvergleichend lässt sich Folgendes festhalten: In der Familie Günnur Dumans ist die Trennung sprachlicher Räume von einer Anpassung an die österreichische Mehrheitsgesellschaft motiviert. Diese wird über die Verwendung der dominanten Sprache im öffentlichen Raum deutlich, womit zudem die ›Unsichtbarmachung‹ des eigenen Migrationshintergrundes über das nichtVerwenden von Türkisch verbunden ist. In Ece Erbays Erzählung hingegen liegt der Schwerpunkt im Ziel einer Dreisprachigkeit, die bestmöglich erreicht werden kann, wenn die Sprachen an unterschiedlichen, jeweils ‚spezialisierten‘ Orten gelernt werden.
7.3.2 Die Hierarchisierung sprachlicher Varietäten Im vorangegangenen Kapitel wurde die Herstellung sprachlicher Räume von Seiten signifikanter Anderer rekonstruiert. Darin zeigen sich neben Vorstellungen über ideale Sprachaneignungsprozesse vor allem gesellschaftliche Hierarchien und Formen von sprachlichem Prestige. Diese werden in den biographischen Erzählungen auch an der Thematisierung der verschiedenen Familiensprachen und der (Re-)Konstruktion sozialer Gruppen deutlich. Ganz explizit thematisiert Alime Alpaslan eine solche Hierarchisierung im Rahmen der Rekonstruktion der Rolle, die ihre Mutter für ihre sprachliche Bildung spielte: Ali: ich bin beiden, wie gesagt, sehr mächtig, aiso sowohl der türkischen als auch der deutschen Sprache, wenn ich Türkisch spreche, akzentfrei, und es gibt auch ja auch im Türkischen diese Dialektformen, und aus dem Gebiet, wo meine Eltern zum Beispiel herkommen, da is schon ein Dialekt vorhanden, ein bestimmter, und den kann man auch raushörn, das is dann zum Beispiel bei meinem Vater so. Man kanns, wenn er Türkisch spricht, öhm, dann hört man sein Dialekt schon raus, und man kann das in der Türkei dann, hm… durch die Dialekte kann/(schmunzelnd) man den Menschen zu bestimmten Gebieten zuordnen! Man weiß dann »Aha, der kommt aus Mittelanatolien, der kommt aus Osten, Westen«,/und so weiter, aber bei meiner Mutter isses so, sie hat zum Beispiel dieses, hm, Hochtürkisch, wenn ich das so sagn darf! Aiso sie hat dann wirklich… wei sie in Y-Stadt geboren und aufgewachsen is, hat sie schon diesen… (1) ((schluckt)) so wie… also dialektfrei spricht sie. Aiso kein Dialekt. (49/9-23)
Die Erzählerin konkretisiert ihre ›Sprachmacht‹ mit der akzentfreien Beherrschung von Türkisch und Deutsch. In weiterer Folge beschreibt sie Dialekt als Herkunftsmarker. Ihr an der (R)Einheitsideologie angelehntes Argument,
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dass man diesen ›raushörn‹ kann, spricht für eine Vorstellung einer ›reinen‹ Sprache, hinter der die ›eigentliche‹ Sprache, nämlich der Dialekt, liegt (zu Reinheitskonzeptionen von Standardsprachen im Vergleich zu Dialekten vgl. Veronesi 2008: 266, 2010: 89; Maitz/Elspaß 2011). Als Beispiel für ein solches ›Raushören‹ bringt die Erzählerin ihren Vater. Danach kehrt sie wieder zu einer allgemeinen Ebene zurück, in der sie beschreibt, dass es Dialekte ermöglichen, Menschen »zu bestimmten Gebieten zu[zu]ordnen«, wobei sie als Beispiele Mittelanatolien sowie ›Osten‹ und ›Westen‹ anführt. Hier wird eine statische Vorstellung von Sprache deutlich, die mit der Herkunft festgelegt ist und sich mit einer Migration an einen anderen Ort nicht ändert oder ändern kann, sondern immer noch ›raushörbar‹ ist (vgl. Katharina Peck, Kap. 7.1.1). Als Gegenbeispiel bringt die Erzählerin nun ihre Mutter, deren Sprache sie – analog zur Bezeichnung ›Hochdeutsch‹ – mit »Hochtürkisch« klassifiziert. Der engen Verknüpfung von Sprachen und Orten fällt in dieser Beschreibung der Geburtsort der Mutter zum Opfer, den Alime Alpaslan im Interview mehrfach in einem Dorf in der Nähe einer Großstadt lokalisiert. Dass die Mutter, die genauso wie der Vater während der Kindheit vom Dorf in die Stadt migriert ist (2/13-23, 19/45-47), hier als »in Y-Stadt geboren und aufgewachsen« konstruiert wird, weist auf eine naturalisierende Verknüpfung von Geburtsort und Sprache hin. Möglicherweise wird diese enge Verknüpfung hier aber auch hergestellt, weil in familiären Gesprächen YStadt bzw. das Dorf in Zusammenhang mit jeweils dort lokalisierten sprachlichen Varietäten eine Rolle spielten. Die Differenzierung (Groß-)Stadt-Land, die hier aufgerufen wird, hängt auch mit Bildungsmöglichkeiten zusammen, von denen die Eltern auf unterschiedliche Weise profitieren konnten. Dass die dörfliche Herkunft der Mutter an dieser Stelle nicht erwähnt wird, unterstreicht die Konstruktion der ›Reinheit‹ ihres ›Hochtürkischen‹, die zweifach durch den Hinweis auf ›Dialektfreiheit‹ betont wird. Zur Konstruktion des Kontrasts zwischen den Sprachen der Eltern und der engen Verknüpfung zwischen (Geburts-)Ort und Sprache kommt in weiterer Folge eine ganz explizite Hierarchisierung zwischen den Varietäten ›Hochtürkisch‹ und Dialekt: Ali: und sie verbessert uns dann auch! Weil, mein, mein Vater spricht im Dialekt, und automatisch falsch, mir is das Dialekt einfach viel einfacher, weil es die Wörter verkürzt, und wenn ich dann zum Beispiel, ahm, zu meiner Schwester dann, hm, so ganz, ts, grob übersetzt jetzt, wenn ich dann zum Beispiel im Türkischen zu meiner Schwester sag »Hey, Gamze, öh, brings mir!«. (1) Sagt meine Mutter »Nein, Alime! ›Bitte, bringst du mir das?‹«/(schmunzelnd) Sie verbessert uns dann! Sofort!/((lacht)) (49/23-30)
Die Erzählerin bezeichnet das dialektale Sprechen des Vaters als »automatisch falsch«, womit sie die Verbesserungen der Mutter rechtfertigt. Hier kommt ein laienlinguistisches Konzept zum Tragen, auf dessen Werteskala Standard
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mit ›richtig‹ und Dialekt mit ›falsch‹ assoziiert wird, und das eng mit dem Bildungsaufstiegsplan der Mutter für ihre Töchter verbunden ist. Indem die Mutter ihre Töchter »verbessert«, sie also zu einer ›besseren‹ Sprache, nämlich Standard, anleitet, wird sie als Sprachverwendung reflektierende Person konstruiert. Der Vater hingegen wird als jemand dargestellt, der »automatisch«, also auf eine unreflektierte Weise, spricht und auch nur eine Varietät zur Verfügung hat, in der er sich artikulieren kann. Die Mutter verbessert ihre Töchter »sofort«, wenn diese den Dialekt verwenden, was darauf hinweist, dass sie die Verwendung des Dialektes nicht nur in bestimmten Gesprächskonstellationen oder Räumen, etwa in der Schule oder außerhalb der Familie, ablehnt, sondern dass sie seine Verwendung grundsätzlich nicht gutheißt oder erlaubt. Mit der Hierarchisierung der beiden Sprachen wird auch eine ebensolche zwischen den Elternteilen aufgebaut: Indem die Mutter ihre Töchter verbessert, wenn diese die Varietät des Vaters verwenden, diskreditiert sie im Grunde auch die Sprache ihres Mannes als ›falsch‹. Darüber hinaus wird deutlich, dass im mütterlichen Plan für den Bildungsaufstieg ihrer Töchter auch ein Plan für einen ›Aufstieg‹ von der ›falschen‹ zur ›richtigen‹ Sprache inkludiert ist, der in familialen Gesprächssituationen durch die oftmalige Korrektur immer wieder neu aufgerufen und von den Töchtern oder dem Vater offenbar auch nicht in Frage gestellt wird. Im Kommunikationsraum Familie, in dem der Vater Dialekt und die Mutter Standard spricht, bewegt sich Alime Alpaslan zwischen den Varietäten und meint, dass der Dialekt für sie »viel einfacher« sei. Das begründet sie damit, dass Wörter im Dialekt »verkürzt« werden. Ob sich diese Sicht auf den Dialekt auch auf ihre Kommunikation außerhalb der Familie auswirkt, wird aus der Passage nicht klar. In der innerfamilialen Kommunikation greift Alime Alpaslan aber offenbar oft auf den Dialekt zurück. Um der Interviewerin den Sprachwechsel und die Gründe dafür zu verdeutlichen, bringt sie zwei Beispiele, die sie ins Deutsche übersetzt: Das erste Beispiel (»Hey, Gamze, öh, bring’s mir!«) ist durch einen Anglizismus – möglicherweise als jugendsprachliches Element (»Hey«) – gekennzeichnet und enthält einen Imperativ mit klitischem Personalpronomen (»bring’s mir!«). Die von der Mutter eingeforderte »Verbesserung« enthält den Höflichkeitsmarker »Bitte«, ist nicht als Befehl, sondern als Frage realisiert, und enthält ein nicht klitisiertes Pronomen (»das«). An diesem Beispiel wird deutlich, dass es der Mutter nur vordergründig um den Dialekt geht. An den angeführten ›Verbesserungen‹, die den Bereich der Pragmatik und nicht den der Variation betreffen, lässt sich ablesen, dass das eigentliche Ziel höfliche Kommunikation ist. Ali: Und das hat sie dann von klein auf schon gemacht! Oder wenn man… im Türkischen is das dann auch so, dass man bei den Verben oder so diese Personalendungen oder so schluckt. (1) Ebm vor allm, das is im Dialekt vor allm so, zum Beispiel statt, ähm,
7. Kindliche Lebenswelt und Sprache »Kommst du, bitte?«, (das) () »Komm!« (1) Zum Beispiel so! Und meine Mutter verbessert uns da auch! »Bitte, das heißt nicht so, das heißt…«… wenn ich sage »Hey, Gamze, komm!«, »Nein. ›Gamze, kommst du bitte!‹, aiso so musst du s sagen!« so quasi, und da verbessert sie uns komplett, ahm, (1) das hat sie dann schon immer gemacht, deswegn isses auch so, dass das Türkische also akzentfrei is oder so. (49/30-40)
An einem weiteren Beispiel erklärt Alime Alpaslan der Interviewerin, dass man im Türkischen manchmal »Personalendungen oder so schluckt«. Auch hier stellt sie einem Fragesatz (»Kommst du, bitte?«) einen Imperativ (»Komm!«) gegenüber, und auch hier steht im Beispiel, das Alime Alpaslan als ihr gewohntes Sprechen mit der Schwester charakterisiert, ein »Hey!« und in der Verbesserung der Mutter ein »bitte«. Das Argument der Kürze, das bei türkischen Dialekten noch stärker zum Tragen kommt als in der türkischen Hochsprache, trifft zu. Allerdings argumentiert die Erzählerin auf der Ebene der Grammatikalität, bringt aber zur Veranschaulichung ihres Arguments Beispiele, in denen es um verbale Höflichkeit geht, was die beiden verbesserten Sätze der Mutter dokumentieren. Im Kontext des erzieherischen Handelns der Mutter und ihres Aufstiegsplans für die Töchter fungiert verbale Höflichkeit hier als Zeichen ›guter Erziehung‹ und als Zugehörigkeitsmarker zu einer sozialen Klasse, nämlich nicht der sozialen Klasse der Familie des Vaters. Der Bildungsaufstieg, der der Mutter selbst aufgrund der politischen Rahmenbedingungen in der Türkei und der Migration nach Österreich nicht gelang, und den sie sich für ihre Töchter so sehr wünscht, ist mit einem sozialen Aufstieg verbunden, den die Mutter ihrer Kernfamilie gewährleisten konnte, der aber noch weitergeführt werden kann und soll. Alime Alpaslan merkt an, dass die Mutter ihre Töchter »von klein auf schon« bzw. »schon immer« verbessert habe. Mit diesem Bild kontinuierlicher familialer Bildungsprozesse, im Rahmen derer die Mutter als für die (nicht nur sprachliche) Bildung zuständige Person und als die Konversation ihrer Töchter laufend kontrollierendes Korrektiv auftritt, inszeniert die Erzählerin ihre Kindheit und Jugend als beständige Erziehung zum Hochtürkischen, die bis zum Zeitpunkt des Interviews andauert. Möglicherweise ist diese Inszenierung den Diskursen über sog. ›Bildungsferne‹ (kritisch: zur Nieden/Karakayali 2015: 91-93) türkischer Familien in der Migration geschuldet, innerhalb derer Alime Alpaslan sich selbst und ihre Familie im Rahmen der Interviewsituation positionieren möchte. Jedenfalls distanziert sie sich nicht von den Korrekturen ihrer Mutter, sondern würdigt diese in der Erzählung auf eine liebevolle Weise mit Schmunzeln, und indem sie das ›akzentfreie‹ Türkisch, das sie jetzt spricht, als gelungenes Ergebnis dieser Erziehung präsentiert. Besonders relevant ist die Differenzierung Dialekt und Hochsprache auch im Interview mit Paola Pascucci, wenn auch erzählerisch ganz anders gestaltet.
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Die folgende Passage stammt aus dem Nachfrageteil: Nach einer ersten Frage zu Sprache in der Familie, in der Paola Pascucci deutlich machte, dass ihr die Beschäftigung mit Sprache nicht ›in die Wiege gelegt‹ wurde (vgl. Kap. 7.2.3), zielt die Interviewerin an dieser Stelle auf einen möglichen Dialekt in der Familie der Erzählerin ab: Int: Ähm, weil du ja gesagt hast, dass du eben in einem Dorf aufgewachsen [bist] ähm – [mhm] Pao: Int: hab ich mich gefragt, ob es auch einen Dialekt gab in deiner Familie? (9/23-25)
In der Frage der Interviewerin schwingt die laienlinguistische Vorstellung mit, dass es einen quasi natürlichen Zusammenhang zwischen Dorf und Dialekt gibt bzw. dass in einem dörflichen Kontext die ›richtigen‹ oder linguistisch am interessantesten Dialektsprecher*innen zu finden sind. Möglicherweise zielt die Frage auch darauf ab, herauszufinden, ob die Interviewpartnerin in ihrer Kindheit Standard und Dialekt in unterschiedlichen Domänen verwendete, etwa innerhalb der Familie und in der Schule, was vielleicht durch die starke Betonung des Aufwachsens in einem dörflichen Kontext zu Beginn des Interviews24 bei gleichzeitiger Entthematisierung der in der Familie verwendeten Sprache(n) sowie durch Differenzierungen Land-Stadt, die mehrfach im Interview vorkommen, motiviert ist. Pao: in der Toskana – hm (3) gibt es eigentlich kein Dialekt, wir wissen also so, dass die italienische Sprache eigentlich aus – äh – der alten Sprache der Toskana kommt, und das ist auch der Grund, warum in der Toskana, ich glaub d_ die Toskana ist wirklich die einzige Region, wo kein Dialekt gibt. Weil in Italien, in jeder Region gibt es ein Dialekt. (9/28-32)
Paola Pascucci antwortet mit der Feststellung, dass es in der Toskana »eigentlich kein Dialekt [gibt]«. Trotz des Vagheitsmarkers in der Formulierung weist die Erzählerin nicht nur die Annahme der Interviewerin zurück, dass in ihrer Familie Dialekt gesprochen wurde, sondern sie negiert die Existenz eines Dialekts auf regionaler Ebene, indem sie die gesamte Toskana als ›dialektfreien‹ Raum konstruiert. Möglicherweise ist die Zurückweisung mit dem Wissen verbunden, dass Dialekte vielfach nicht als vollwertige Kommunikationsmittel angesehen und im Vergleich zu Hochsprachen als defizitär wahrgenommen werden, oder anders gesagt, dass Varietäten auch auf eine räumlich-soziale Ordnung verweisen, innerhalb derer sich die Interviewpartnerin auf der Seite der Standardsprache verortet wissen möchte. In weiterer Folge positioniert sie 24 | Paola Pascucci sagt: »und bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen. (1) Ähm – eigentlich außerhalb vom, also nicht einmal im Dorf, sondern noch außerhalb« (1/7-9).
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sich als Expertin (»wir wissen also«): Sie legitimiert ihre zuvor gemachte Feststellung historisch, indem sie die aktuelle italienische Hochsprache als Fortsetzung der »alten Sprache der Toskana« und die Toskana als standardsprachlichen ›dialektfreien‹ Raum konstruiert, der zudem eine exklusive Position innerhalb Italiens innehat (»wirklich die einzige Region«).25 Pao: Natürlich wir haben (1) also, sobald ich was auf Italienisch sage, verstehen alle dass ich aus der Toskana komme. Das ist aber mehr so eine (2) eine, ein Akzent, oder hm (1) eine Betonung, wir sagen das c nicht zum Beispiel, und das, das ist unser äh da erkennen uns alle, aber hm (1) ich merke jetzt, dass ich, auch zum Beispiel hier in AStadt, auch italienische Freundinnen habe, die aus anderen Regionen kommen, dass ich manchmal ein Wort sage, das sie nicht verstehen. Aber (1) äh und ich weiß, dass das Gefühl, das die andere Italiener haben von uns, also von, von uns aus der Toskana, ist dass wir, wir eine alte Sprache, wir eine archaische Sprache sprechen, also nicht Sprache, aber manche Worte, und das klingt alles so, wie man auf der ›Göttlichen Komödie‹ liest, das ist nicht so. (9/32-41)
Paola Pascucci beschreibt ihr Italienisch, indem sie sprachlich ihre Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe deutlich macht: »wir haben«, »wir sagen« etc. Sie beginnt damit, dass »alle« ihre Sprache regional zuordnen können, sobald sie Italienisch spricht. Dies sei, so die Erzählerin, auf einen »Akzent« oder auf eine »Betonung« zurückzuführen. Als Beispiel führt sie an, dass in der Region das ›c‹ nicht ausgesprochen wird, und dass das als eindeutiger Marker für die sprachliche Herkunft aus der Toskana wahrgenommen wird. Nach diesem phonetischen Merkmal wendet sie sich der Lexik zu und berichtet, dass ihre italienischen Freundinnen in A-Stadt manche der Begriffe, die sie verwendet, nicht verstehen. Sie nimmt in weiterer Folge eine Außenperspektive ein, nämlich die der »andere[n] Italiener«, die, so Paola Pascucci, das »Gefühl« haben, dass in der Toskana »eine alte Sprache, […] eine archaische Sprache« gesprochen werde. Sogleich grenzt sie diese allgemeine Charakterisierung der Sprache auf »manche Worte« ein, die dazu führen, dass die Sprache so klingt, als lese man Dantes ›Göttliche Komödie‹. Die Erzählerin konstruiert die Toskana hier einerseits als Zentrum der italienischen Sprache und das Toskanische als unmarkierte Varietät, die auf die sprachlich-kulturellen Wurzeln der italienischen Standardsprache zurückgeht. In dieser Konstruktion wird eine Sichtweise des Toskanischen als ›Wiege‹ der italienischen Sprache und Kultur und eine starke Identifikation damit deutlich. Andererseits zeigt sich, dass Sprecher*innen des Toskanischen eindeutig als aus der Region stammend identifizierbar sind. In dieser doppelten Positio25 | Für einen Überblick über die dialektologische Forschung zum Toskanischen vgl. Calamai 2006.
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nierung ist das Toskanische unmarkierte Varietät einerseits und – zumindest implizit – höherwertige, weil auf die Sprache Dantes zurückgehende Varietät andererseits. In Paola Pascuccis Argumentation wird ein Bild von Sprache als zentralem Medium der Identitätskonstruktion deutlich, das als Teil einer nationalen Erzählung schichtübergreifend funktioniert und die Frage nach dem Dialekt in der Familie obsolet werden lässt. Nach dieser Passage wendet die Erzählerin sich der regionalen Ausdifferenzierung des Toskanischen zu: Pao: aber – wie gesagt, es gibt ähm – auch innerhalb von der Toskana, gibt es verschiedene ähm Betonungen, also ich kann erkennen ob jemand aus C-Stadt oder B-Stadt kommt. Oder I-Stadt, eben meine Stadt, und das kann man hören. Betonungen oder einfach kleine Worten, oder – eine Art, Sachen zu sagen, aber das ist kein Dialekt – und ähm – es gibt nur, manche Worte, so praktische Sachen, das kommt wahrscheinlich eh aus der Geschichte, die auch von Dorf zu Dorf anders gesagt werden. Okay, das ist eine Pflaume das wird Pflaume gena_ genannt, aber ähm manche Worte, oder ne Hauptsache Essenssachen, werden die gleiche Sachen, werden anders genannt, aber kein Dialekt. Int: mhm Pao: kein Dialekt ja. (9/41-10/4)
Die Erzählerin spricht von »Betonungen«, die Rückschlüsse darauf zulassen, aus welcher Stadt jemand kommt. An dieser Stelle fällt auf, dass sie I-Stadt als »meine Stadt« bezeichnet, damit eine Stadt als biographisch relevanten Ort für sich in Anspruch nimmt und sich dadurch implizit ein Stück weit von ihrer dörflichen Herkunft distanziert. Neben den Betonungen listet sie als weiteres Merkmal des Toskanischen noch »kleine Worten« auf, womit sie wiederholt den lexikalischen Bereich einbringt, sowie »eine Art, Sachen zu sagen«, womit sie phraseologische oder syntaktische Besonderheiten der Sprache meinen könnte. Nach dieser eher allgemeinen Beschreibung bringt sie ein Beispiel, das von einer Expertise aus einer Innenperspektive zeugt, nämlich lexikalische Unterschiede zwischen einzelnen Dörfern, vor allem innerhalb der Kategorie »Essenssachen«. Dabei argumentiert sie, dass das Wort für ›Pflaume‹ im Dialekt gleich sei wie in der Standardsprache, während andere Lebensmittel anders benannt werden als im Standard. An dieser Stelle fällt auf, dass sie in ihren Beispielen keine italienischen Begriffe verwendet, was sie an anderen Stellen des Interviews wie selbstverständlich tut (beispielsweise 3/43, 4/21, 8/12). Hier wäre es aber für die Interviewerin, von der Paola Pascucci weiß, dass sie Italienisch spricht und versteht, zum besseren Verständnis der Ausführungen tatsächlich hilfreich, ein Beispiel für die unterschiedlichen Bezeichnungen von »Essenssachen« zu erhalten. Das bleibt aber aus und unterstreicht auf performativer Ebene ihre Überzeugung, dass Dialekt in der Toskana ›nicht
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existiert‹. Diese ihre Überzeugung bringt die Erzählerin am Ende der Passage noch einmal auf den Punkt, in dem sie zwei Mal betont: »kein Dialekt«. In Paola Pascuccis Erzählung wird deutlich, dass Sprache eng mit der Frage sozialer Zuordnung, Wertung und Hierarchisierung verbunden ist. Die Erzählerin konstruiert sich als Person aus einem geographisch-regionalen sprachprivilegierten Kontext, in dem eine Varietät gesprochen wird, die auf eine Dichtung, die als besonders bedeutsames Werk italienischer Literatur gilt, zurückgeht. Die Frage nach dem familiären Kontext wird von Paola Pascucci mit einer Ausweichbewegung beantwortet. Sie geht weder auf das sprachliche Repertoire ihrer Eltern oder Geschwister noch auf andere Merkmale oder Besonderheiten, die die Kommunikation innerhalb der Familie ausmachten, ein. Sprache ist in dieser Erzählung das Medium, mittels dessen ein Bildungsaufstieg ermöglicht wird. Innerhalb der biographischen Erzählung zeichnet die Erzählerin verschiedene Ausweitungs- und Distanzierungsbewegungen nach, die sie vom dörflichen Kontext in der Toskana über ihr Studium in X-Stadt in Italien, diverse Auslandsaufenthalte und schließlich das Doktoratsstudium in A-Stadt vollzogen hat. Die Erzählung macht deutlich, dass ein Bildungsaufstieg auch ohne sprachliches Kapital der Eltern und sprachliche Förderung innerhalb der Familie möglich ist. Daneben zeigt sich in der Selbstkonstruktion einer Sprecherin einer ›reinen‹ Sprache, dass ihr die Relevanz sprachlicher Varietäten sehr bewusst ist. Zudem lässt sich an dieser Stelle ablesen, dass Paola Pascucci Strategien entwickelt hat, nicht als ›Andere‹ erkannt zu werden. Birgt ein italienischer Dialekt die Gefahr, als ›bildungsfern‹ eingestuft zu werden, so ist es während ihres Studiums im dominant deutschsprachigen Raum der italienische Akzent, der dazu führt, dass Paola Pascucci als ›Andere‹ identifiziert werden kann (vgl. Kap. 9.2 und 9.3). Im Vergleich der Fälle lässt sich festhalten, dass die Hierarchisierung von Sprachen, in beiden Fällen von Standard und Dialekt, ein zentrales Thema in der sprachbiographischen Selbstkonstruktion ist. Während allerdings Alime Alpaslan sehr detailliert und ausführlich auf das Verhandeln dieses Themas in ihrer Familie und die damit verbundenen Bildungsaspirationen ihrer Mutter eingeht, verschwindet die familiale Kommunikation bei Paola Pascucci hinter einem Antwortformat, in dem sie aus einer fachlichen Perspektive über das Sprachmilieu, dem sie angehört, spricht und dadurch mögliche Vorstellungen der Interviewerin zum Thema Dialekt als Familiensprache explizit zurückweist. In beiden Fällen hängt die Frage der Varietät eng mit der (Selbst-)Verortung und der anderer Personen in einem ländlichen oder städtischen Kontext zusammen. Auf sprachlicher Ebene ist interessant, dass die Dialekte, um die es geht, von beiden Interviewpartner*innen – jenseits deren Klassifizierung als ›Dialekt‹ – nicht benannt werden. Weder spricht Paola Pascucci beispielsweise von einem »toskanischen« oder einem kleinräumigeren Dialekt, noch
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tut das Alime Alpaslan. In beiden Fällen trägt dies performativ zu einem Unsichtbarmachen des Dialekts und damit zur Glaubwürdigkeit der Selbstkonstruktionen als Standardsprecher*innen bei.
7.3.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Konstruktion sprachlicher Räume in Familien in der Migrationsgesellschaft In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass familiale Kommunikation nicht auf beliebige Weise ›passiert‹ oder einer durch die von einzelnen Familienmitgliedern gesprochenen Sprachen vorgegebenen ›natürlichen‹ Logik folgt. Vielmehr sind mit Haltungen zu Sprachen, Sprachwahl, sowie mit Vorstellungen von Sprachaneignungsprozessen und von intergenerationaler Transmission von Sprache(n) Vorstellungen verbunden, die mit den Erfahrungen der Erwachsenen in verschiedenen natiolingualen Kontexten zusammenhängen und Einfluss auf Kommunikations- sowie auf sprachliche Bildungsprozesse in den Familien nehmen. Daneben steht hinter der Frage, welche Sprache(n) in der Familie oder außerhalb gesprochen werden soll/en, eine Reihe (laien-)sprach didaktischer und strategischer Überlegungen erwachsener Bezugspersonen, die zu Sprachwahl- und -wechselprozessen sowie expliziten Sprachge- und -verboten führen. Diese verweisen auf individuelle, familiale und gruppenspezifische Erfahrungen mit Sprache(n) in unterschiedlichen natio-ethno-lingualen Kontexten und Bildungsinstitutionen, die mit Hierarchisierungen sowie Ein- und Ausgrenzungen verknüpft sind. Sprachwahl und sprachliche Bildung innerhalb der Familien sind mit Überlegungen zu ›idealen‹ mehrsprachigen Sprachaneignungsprozessen sowie mit der Aneignung und Verwendung der jeweils gesellschaftlich anerkannten bzw. als höherwertig angesehenen Varietät verbunden. Ein interessantes Ergebnis ist hierbei, dass sich die sprachliche Hierarchisierung nicht nur auf die Einzelsprachen, etwa Deutsch und Türkisch, sondern auch auf Varietäten der Herkunftssprachen bezieht (etwa Hochitalienisch und toskanischer Dialekt vs. Hochtürkisch und einem nicht näher bezeichneten Dialekt). Hier zeigen sich Konzeptualisierungen der jeweiligen Standardsprachen als ›rein‹ und ›frei‹ von Dialekten (vgl. Maitz/Elspaß 2011; Veronesi 2008, 2010), während Dialekte mit niedrigem sozialen und kulturellen Kapital verbunden und deshalb als nachteilig für die Bildung der Kinder konstruiert werden. In einer Erzählung geht die Hierarchisierung der Varietäten so weit, dass der prestigeärmere Dialekt nicht nur für die Kommunikation in der eigenen Familie, sondern für einen ganzen geographischen Raum negiert wird. Vorstellungen von sprachlichem Prestige sind allerdings nicht nur mit familialer Kommunikation ›zu Hause‹ und außerhalb der Familie bzw. im öffentlichen Raum verbunden. Es wurde deutlich, dass in den Familien voneinander ge-
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trennte sprachliche Räume konstruiert werden, und dass das Sprechen der Mehrheitssprache in der Öffentlichkeit sehr eng verknüpft ist mit dem Wissen über sprachliches Prestige der jeweiligen Minderheitensprachen.
7.4 Z wischenfa zit : K indliche L ebenswelten in spr achbiogr aphischen E rz ählungen Im Zentrum dieses Kapitels standen Erzählungen über die Kontexte, in die die Biograph*innen hineingeboren wurden und in denen sie den ersten Kontakt mit Sprache(n) hatten. Die Präsentation der kindlichen Lebenswelten steht in allen Erzählungen am Beginn der Haupterzählung, wobei sich der Umfang der jeweiligen Thematisierungen sehr stark voneinander unterscheidet. Sehr ausführlichen Erzählungen, die familiale Migrationsgeschichten über mehrere Generationen umfassen, stehen kürzere Berichte gegenüber, die sich an den Eckpunkten zentraler Ereignisse orientieren. Den meisten Erzählungen ist gemeinsam, dass bereits zu Beginn sprachrelevante Themen eingeführt werden, die den Horizont andeuten, in den die weitere Geschichte eingespannt wird. Ein alle Erzählungen verbindendes Element ist die Thematisierung familialer Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache(n). Die thematisierten Erfahrungen werden in unterschiedlichen nationalstaatlichen und regionalen Kontexten verortet und sind geprägt von an Sprache geknüpfte soziale Hierarchisierungen. Die Positionen, die einzelne Familien(mitglieder) innerhalb dieser Hierarchien einnahmen und einnehmen, gestalten sich unterschiedlich, aber den jeweiligen Personen(gruppen) ist ein starkes Bewusstsein für Hierarchien, die entlang der Differenzierungslinie ›Sprache‹ verhandelt werden, gemeinsam. Diese Hierarchien verschieben sich mit der Migration: Wird in einem Fall der gesellschaftliche Umgang mit sprachlichen Minderheiten in Österreich als positives Gegenbeispiel zu einer von starker Unterdrückung gekennzeichneten Situation im Herkunftsland gedeutet, so wird in einem anderen Fall eine im Herkunftsland marginalisierte Sprache auch nach der Migration vermieden. Die rekonstruierten Haltungen zu Einzelsprachen oder deren Varietäten lassen sich nicht als individuell-subjektive Sichtweisen verstehen, sondern beziehen sich auf kollektive Deutungsstrukturen und Machtgefüge in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten. Ein weiteres Element ist die Thematisierung des sprachlichen Repertoires signifikanter Anderer, in der Regel von Eltern und Großeltern. Die Erzählungen zeigen, dass die eigene Sprachbiographie nur vor dem Hintergrund der sprachlichen ›Ausgangsbedingungen‹ erzählt werden kann, die die damaligen Kinder in ihrem näheren Umfeld vorfanden. Ein interessanter Befund in den Erzählungen derjenigen Interviewpartner*innen, die bereits in Österreich geboren wurden, ist die Rekonstruktion von Deutschkenntnissen der Eltern
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(und zum Teil der Großeltern). Diese lassen sich einerseits mit Fragen und Zuschreibungen in erinnerten Interaktionen, andererseits vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Diskurse zur Bedeutung von Familiensprachen und der Sprachwahl innerhalb familialer Kommunikation (vgl. Heimken 2015: 60-63) in Migrationsgesellschaften verstehen. Während die guten Deutschkenntnisse mindestens einer signifikanten Bezugsperson als Voraussetzung oder begünstigendes Element für die eigene Deutschaneignung gedeutet werden, verweisen Erzähler*innen in anderen Fällen darauf, dass Sprachaneignung auch unter höchst ungünstigen ›Ausgangsbedingungen‹ gelingen kann. Ein ebenfalls fallübergreifend relevantes Thema ist der Beginn des eigenen Sprachaneignungsprozesses, dem von fast allen Interviewpartner*innen ein zentraler Platz in ihrer Erzählung zugestanden wird. Dabei lässt sich die Figur des nicht-Erinnerns rekonstruieren, mittels derer die Erzähler*innen ihren Deutscherwerbsprozess in die Nähe zu dem von Mehrheitsangehörigen rücken und sich selbst somit als ›immer schon deutschsprachig‹ konstruieren. Neben der Einzelsprache Deutsch konnte eine Variante dieser Figur auch für lokale Dialekte rekonstruiert werden. Diese Figur ermöglicht es Erzähler*innen, sich auch entgegen gesellschaftlicher Vorannahmen und Erwartungen als ›muttersprachige*n Dialektsprecher*in‹ zu konstruieren. In Zusammenhang mit den eingangs thematisierten familialen Erfahrungen mit Sprache und sozialen Hierarchien in unterschiedlichen Kontexten lässt sich in den Erzählungen ein erzieherisches Handeln mit dem Ziel identifizieren, Kindern die bestmöglichen (sprachlichen) Voraussetzungen für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe in der Migrationsgesellschaft Österreich zu ermöglichen. Dieses ist mit der Konstruktion unterschiedlicher sprachlicher Räume verbunden, die von Sprachge- und -verboten gekennzeichnet sind. Die so konstruierten Räume verweisen auf Erfahrungen mit und Wissen über das Prestige einzelner Sprachen und Varietäten sowie der Sprecher*innen der jeweiligen Sprachen. Die Art und Weise, in der die Interviewpartner*innen als Kinder in Berührung mit Sprache(n) kamen, wird in den biographischen Erzählungen aus deren heutiger Perspektive sehr unterschiedlich rekonstruiert und bewertet: Neben einer weitgehenden Übernahme elterlicher Perspektiven und damit verbundener Argumentationsmuster finden sich explizite Distanzierungen von diesen. Das Bewusstsein über Sprachhierarchien und damit verbundene Hierarchisierungen der Personen, die Sprache(n) verwenden, zeigt sich in einem Antwortformat in der weitgehenden Entthematisierung familialer Sprache zugunsten einer Rekonstruktion eines geographischen Raumes als ›dialektfrei‹. Die Erzählung einer Studentin ›ohne Migrationshintergrund‹ wurde als Kontrastfall eingeführt, um »das Spektrum möglicher Varianten« (vgl. Schwendowius 2015: 281) im Hinblick auf die Bedeutung von Sprache(n) in
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kindlichen Lebenswelten weiter auszuloten. Neben einer Reihe von Parallelen zu den anderen Fällen konnte die Konstruktion eines weitgehend machtfreien Raums in der kindlichen Lebenswelt rekonstruiert werden, in dem beide von den Eltern gesprochenen Varietäten des Deutschen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Wie sich die Bedeutung der Sprachen und Varietäten, die in den kindlichen Lebenswelten relevant waren, im weiteren Verlauf der jeweiligen Lebensgeschichten verändert, wird Thema der folgenden Kapitel sein.
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8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
Die Schule ist Ort institutionalisierten Sprachenlernens und mehrsprachiger Kommunikation. Darüber hinaus ist Sprache ein Mittel, mit dem in der Schule auch Diskurse über Migration und/oder Sprache(n) (re-)produziert, verhandelt und/oder transformiert werden. Trotz der Mehrsprachigkeit von Gesellschaften sind Schulen nach wie vor einem monolingualen Habitus entsprechend organisiert und strukturiert (Gogolin (2008 [1994]), und die Aneignung der deutschen Bildungssprache (vgl. Gogolin/Lange 2011; Mecheril/Quehl 2015) führt nicht selbstverständlich zu einer gleichberechtigten beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Teilhabe, sondern ist mit einer Reihe komplexer Wechselbeziehungen zu anderen Differenzierungskategorien verbunden.1 In diesem Kapitel wird die biographische Phase der Schulzeit in den Mittelpunkt gestellt. Zum einen verlagert sich in dieser Phase ein Teil der gelebten Zeit der Kinder in die Institution Schule, zum anderen ist die Zeit außerhalb der Schule von Kommunikation über Schule und von schulbezogenen Aufgaben geprägt. In dieser neuen Handlungsumwelt bekommen Schüler*innen über die in der Familie erfahrenen Deutungsorientierungen und -vorgaben hinaus alternative Deutungsangebote, die für ihre Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen bedeutsam sind und ihrerseits wieder in den familialen Raum hineingetragen und dort verhandelt werden. Neben der Funktion der Vermittlung von Bildungsinhalten und Kulturtechniken kommt der Schule darüber hinaus eine zentrale Bedeutung als Instanz von Statuszuweisung und -reproduktion zu (Bourdieu 1982). In der Doppelfunktion von Sozialisation und Selektion (Parsons 1968 [1959]), die modernen Bildungssystemen zukommt, lässt sich die Schule als widersprüchlicher ›Mechanismus‹ begreifen, »der gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, zugleich aber auch erschwert oder verhindert und Ausgrenzungen erzeugt« (Dausien et al. 2016: 25). Vor diesem 1 | Zu einer Kritik an der Dichotomisierung von Alltags- und Bildungssprache vgl. Panagiotopoulou 2016.
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Hintergrund ist die Bedeutung von Sprache(n) in biographischen Erzählungen über die Schulzeit besonders bedeutsam: die biographische Perspektive sieht Subjekte »nicht als Objekte von Platzierungs- und Ausgrenzungsprozessen bzw. von pädagogischen Bemühungen« (ebd.: 60), sondern begreift sie als biographische Subjekte, die innerhalb ihrer Handlungsspielräume ihre soziale Wirklichkeit konstruieren (ebd.). Wie die soziale Wirklichkeit Schule in der Interviewsituation konstruiert wird und wie Sprache(n) in diese Konstruktion eingebettet ist/sind, ist Thema des vorliegenden Kapitels. In den Erzählungen wurde der biographischen Phase der Schulzeit unterschiedlich viel Raum beigemessen. Während sich einige Erzähler*innen auf formale Angaben zu besuchten Schultypen und der jeweiligen Dauer des Schulbesuchs beschränken, finden sich in anderen Erzählungen narrativ ausgestaltete Passagen, die vielschichtige Einblicke in damalige Handlungsumwelten und in Prozesse des Handelns und Erleidens (vgl. Schütze 1987) ermöglichen. In Bezug auf Sprache konnten in den Erzählungen einige Themen identifiziert werden, die quer über die einzelnen Biographien hinweg von Bedeutung sind und die Struktur dieses Kapitels bilden. Im ersten Unterkapitel (Kap. 8.1) werden schulische Übergänge als sprachbiographisch relevantes Thema betrachtet. In diesem Zusammenhang werden sowohl der Eintritt in die Primarstufe (Kap. 8.1.1) als auch der Übergang ins Gymnasium (Kap. 8.1.2) thematisiert. Im zweiten Unterkapitel (Kap. 8.2) werden die Phasen nach den jeweiligen Übergängen betrachtet. Dabei stehen schulische Erfahrungen von Inklusion, Exklusion und Ermächtigung in Zusammenhang mit Sprachen im Zentrum. Diese zeigen sich zum einen an besondernden Adressierungen (Kap. 8.2.1) als auch in Form von Hierarchisierungen von Sprachen im Raum Schule (Kap. 8.2.2).
8.1 S chulische Ü bergänge als spr achbiogr aphisch relevantes Thema In diesem Kapitel steht die Frage im Zentrum, auf welche Weise die Biograph*innen ihren Übergang in die Primarstufe in ihren biographischen Erzählungen thematisieren und welchen Stellenwert sie dabei Sprache(n) zumessen. Da der Übergang in die Schule in manchen Erzählungen unmittelbar nach Erzählungen oder Berichten über die Zeit des Kindergartens oder über Erfahrungen mit Sprache(n) in anderen sozialen Kontexten (etwa der Familie) folgt, wird die Interpretation der entsprechenden Passagen in die Darstellung miteinbezogen, wenn diese für eine Kontextualisierung der schulbiographischen Erfahrungen notwendig ist.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
8.1.1 Die Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch für den Eintritt in die Primarstufe Die Erzählung von Majda Melić beginnt mit einer sehr positiven Rekonstruktion ihrer Kindergartenzeit nach der Flucht aus Bosnien in die Schweiz und einer Beschreibung der sozialen Beziehungen, die sie dort einging (vgl. Kap. 7.2.1). Darauf folgt eine Beschreibung ihrer Einschulung: Maj: und, ähmm (1,5) dann – wurdn wir halt eingeschult (1) und, ähm (1) ich kam dann in, hm n Förderku_ -kurs für Deutsch, ähm, ich und noch… i_ und die, Freundin, die eine, aus der Familie Hana hei_ hieß sie (1,5) öh, was für mich, glaub ich/(schmunzelnd) n bisschen/, äh, komisch war (1) weil, ich dann, also, sechs Jahre alt war glaub ich und, Deutsch eigntlich, in, drei Jahren ganz… also, gut, gesprochn… also, hm, gelernt hatte – ähmm (1) ja./(lachend) Und dann warn wir halt/, ähm, die zwei die hm – also – nich so gut Deutsch könnn und, hn, halt, hnn ähm – Förderkurs machn müssn, und das war für mich, immer sehr… Ich habs, halt nich sehr gemocht!/(lachend) Und dann kam ich immer zu spät, weil (die s_ einfach)/, ich wollts (…) irgendwie ich wollt, halt, einfach nich! (lacht auf) Ähmm, ja. Aber (die Lehrerinn) warn zufriedn mit mir sie hattn zu meiner Mutter immer gesagt dass ich zwar, nich viel sprechn, wollte, aber wenn ich dann sprach wirklich korrekt das machn wollte, und öhm, das auch gemacht habe,/(lachend) und/, wobei, Hana dann, auf… einfach auf sich/(schmunzelnd) los gesprochn hat/, und dann viele Fehler gemacht hat, und so, aber… ja. (3/30-44)
Majda Melić konstruiert die Einschulung als Ereignis, das ihr gemeinsam mit der ›Schicksalsgenossin‹ Hana widerfuhr: »dann – wurdn wir halt eingeschult«. Thematisch werden in diesem Abschnitt Besonderung und Leistung relevant gesetzt: Ihre Erinnerung macht die Erzählerin am Förderkurs für Deutsch fest, an dem sie und ihre ebenfalls aus Bosnien geflüchtete Freundin Hana teilnehmen mussten. Die überraschende Zuweisung in den Förderkurs bezeichnet sie als »n bisschen/, äh, komisch«, und begründet das mit ihren guten Deutschkenntnissen nach drei Jahren Kindergarten. Die für die Institution offenbar selbstverständliche Zuweisung einer aus Bosnien migrierten Schülerin zum Förderunterricht steht nicht im Einklang mit deren sprachlicher Selbstwahrnehmung, und der dahinter stehende institutionelle Mechanismus wird von der Erzählerin implizit kritisiert. Ob das ›erzählte Ich‹ die Inhalte, Strukturen und/oder Lehrpersonen des Förderkurses oder vielmehr die Tatsache des institutionell auferlegten regelmäßigen Kursbesuchs selbst als problematisch empfand, geht aus der Stelle nicht hervor. Deutlich wird lediglich, dass Majda Melić den Kurs nicht mochte, weshalb ihr regelmäßiges Zuspätkommen als widerständiges Handeln interpretiert werden kann.
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Ihre Kommunikation auf Deutsch war von einer Vermeidungsstrategie gekennzeichnet: Die Lehrerinnen sagten ihrer Mutter, dass Majda Melić nicht viel sprechen »wollte«, und dass es für sie von Bedeutung war, »korrekt« zu sprechen. Das verweist auf eine starke Selbstkontrolle des ›erzählten Ich‹ und auf das Bewusstsein, dass nur ›korrektes Sprechen‹ von den Lehrer*innen wertgeschätzt wird. Zudem lässt sich aus dem Vergleich mit der Freundin ein Bewusstsein für Kompetitivität und ein implizites Ranking entlang der Fähigkeit, normativ korrektes Deutsch zu sprechen, ablesen. Trotzdem wurde der verpflichtende Deutschkurs nicht zu einer traumatisierenden Erfahrung für sie, sondern hatte auch eine ermächtigende Komponente: Ihre Verspätungen blieben offensichtlich ohne Sanktionen, und ihre sprachlichen Leistungen wurden positiv bewertet. Der Förderkurs wurde somit zum Kontext, in dem die sechsjährige Schülerin aufgrund ihrer sprachlichen Ressourcen und ihres Bewusstseins über die Bedeutung sprachlicher Normen im schulischen Kontext eine Position erhielt, die auch Regelüberschreitungen zuließ. Diese Position konstruiert die Erzählerin retrospektiv als so gesichert, dass das Zuspätkommen weder die Lernleistungen der Schülerin beeinträchtigte noch die Bewertung von Leistungen durch die Lehrer*innen. Der Vergleich mit anderen war für das ›erzählte Ich‹ offenbar auch beim Einschulungstest relevant, auf den die Erzählerin unmittelbar nachher eingeht: Maj: Und, bei der Einschulung wars so wir musstn ja n Einschulungstest machn, und, ahmm, da gabs Sprachliches und hm, Mathe glaub ich auch und, ich weiß dass ich, mich noch ähmm_ – Also ich war sehr stolz, weil ich mit sechs Jahren und die, andren Kinder warn… (hn ka_ warn,) n bisschen älter, ich war halt 89 und sie warn, 88 und das war für mich super,/(schmunzelnd) weil ich war so,/»Ja ich bin jetz auch in der Schule! Ich bin jünger als ihr! Ich bin klug! ((lacht)) Ich kann auch die… Also ich kann auch gut Deutsch!“=Also, das war alles irgndwie hm miteinander gekoppelt und ich war wirklich so froh_ fr_ irgendwie stolz drauf dass ich so, früh halt in die Schule ka_ Also »früh«. Was heißt »früh«? Aber… Ja. Für mich wars damals,/(lachend) früh!/(lacht) (3/44-4/8)
Der Einschulungstest wird ebenfalls als eine gemeinschaftlich zu bestehende Etappe konstruiert (»wir musstn«). Auch wenn Mathematik als einschulungsrelevantes Fach erwähnt wird, schreibt die Erzählerin hier nur »Sprachliche[m]« wirkliche Bedeutung als Zugangsvoraussetzung zu. Zudem konstruiert sie Sprache als ›Intelligenzindikator‹, der zur Distinktion beiträgt. Sie vergleicht das ›erzählte Ich‹ an dieser Stelle erneut mit anderen Kindern: Dem ausführlichen Hinweis auf die Abweichung im Alter, die sehr stark betont wird, folgt die Feststellung »Ich bin klug!«, die dann hinsichtlich der Deutschkenntnisse konkretisiert wird: »Ich kann auch die_ Also ich kann auch gut Deutsch!« Die starke Kontrastierung mit den anderen Kindern bei gleichzeitiger Betonung
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
der sehr guten Deutschkompetenzen macht jedenfalls deutlich, dass sich das ›erzählte Ich‹ als jüngstes Kind erlebte und trotz eines sprachlichen Startnachteils sehr erfolgreich beim Einschulungstest war. Auf diese Passage folgt die Rekonstruktion der ersten Zeit in der Schule: Maj: Und dann in der Schule – gabs anfänglich glaub ich auch, keine Probleme ähm, also hm mit der Sprache.=Ich hab immer sehr gerne Geschichten geschriebm auf=auf, auf Deutsch, weil mir (ma_) meine Mutter halt immer, äh irgndwie die Liebe dazu ähmm,/ (schmunzelnd) eingeprägt hat/weil sie hat immer auch von der Familie in Bosnien erzählt und, und, was sie mit_ () ihren Schwestern gemacht hatte nur damit ich halt, ein_ also, n, Bewusstsein krieg dass ich auch ne Familie, also außerhalb, der Schweiz hab und dass sie wirklich groß is und damit ich sie nich vergesse – ahmm, und wir habm auch immer, ähm Videokassetten bekommn von ihnn, und sie hattn äh, immer irgendwie alle ge_ gegrüßt und alle… (hier…) (…) Hmm meine Mutter hats halt and_ anders aufgefasst als ich für mich wars voll spannend und ich hätte… ich hab mich, immer, ähm, super gefühlt bei den, Kassetten.=Aber für öh sie wars, schmerzhaft weil sie wusste wie die… Also, sie habm halt, auf der Kassette, super fröhlich getan und was weiß ich aber äh, es war halt Krieg dort! – Ja. – Und, öhhmm, wie gesagt ich bin, ganz anders mit der Situation umgegangn, als meine Mutter. (4/11-24)
Mit ihrer Formulierung, dass es in der Schule anfänglich »keine Probleme äh, also hm mit der Sprache« gab, reagiert die Erzählerin möglicherweise auf Diskurse über Bildungsbenachteiligung oder zugeschriebene ›Sprachdefizite‹ von migrantisch positionierten Schüler*innen. Sie kann aber auch als zusätzlicher Beleg dafür gelesen werden, dass die Zuweisung zum Förderkurs ihrer Ansicht nach nicht auf einer sprachstandsdiagnostisch nachvollziehbaren Grundlage stattfand. Die Erinnerung an die Beschäftigung mit Sprache in der Schule wird an dieser Stelle, wo es nicht mehr um eine Besonderung oder um Förderkurse geht, nicht mit sprachlicher Korrektheit verknüpft, sondern mit der Liebe zum Schreiben auf Deutsch: »Ich hab immer sehr gerne Geschichten geschriebm auf=auf, auf Deutsch«. Hier macht die Erzählerin auf eine weitere Kompetenz aufmerksam: Das Deutsch der Protagonistin war nicht nur sprachlich korrekt, so wie es im Rahmen der Erzählung über den Förderkurs deutlich wurde, sondern sie konnte auch schon sehr früh Geschichten auf Deutsch schreiben. An dieser Stelle wird die Schülerin Majda als mit besonderen Schreibfertigkeiten ausgestattet konstruiert. Wie es zu den Geschichten kam, erzählt Majda Melić mit einer Hintergrundgeschichte: Ihre Mutter erzählte ihr Geschichten aus Bosnien mit dem Ziel, ihr »äh irgndwie die Liebe dazu« ›einzuprägen‹, und sie bekam Videos von Verwandten zugeschickt, die »voll spannend« für sie waren, und bei deren Anschauen sie sich »super« fühlte. Interessant an dieser Stelle ist die Sprache der frühen literalen Tätigkeiten des ›erzählten Ich‹: Diese
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TEIL III — Falldarstellungen
fanden nicht in der Sprache statt, in der Majda Melić Anregungen im familiären Kontext erhielt, sondern in derjenigen, die im institutionellen Kontext erlernt wurde. Dies scheint umso überraschender, als es sich auch inhaltlich um Anregungen handelte, die für sie eine Verbindung zu Bosnien und den dortigen Verwandten ermöglichen sollten. Retrospektiv sind der Erzählerin die unterschiedlichen Sichtweisen des ›erzählten Ich‹ und der Mutter auf die Familie und die Gesamtsituation in Bosnien klar: Während Majda Melić nur die Geschichten der Familie kannte, die sich auf den Videokassetten »super fröhlich« gab, waren die Nachrichten aus Bosnien möglicherweise schmerzhaft für die Mutter. Jedenfalls sollte Majda Melić erfahren, dass ihre Familie außerhalb der Schweiz »wirklich groß« war. Der Versuch der Mutter, ihrer Tochter die Liebe zu Bosnien ›einzuprägen‹, könnte darauf verweisen, dass ihr sehr daran gelegen war, eine Verbindung ihrer Tochter zum Herkunftsland, die nicht dort entstehen konnte, über den Kontakt zu Verwandten aufzubauen. Mit Ausnahme weniger Kontakte zu anderen Geflüchteten aus Bosnien waren diese Videokassetten darüber hinaus auch eine Möglichkeit der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Bosnisch. Diese wird aber zugunsten einer Auseinandersetzung mit der dominanten Sprache Deutsch nicht thematisiert. Gesellschaftlich und institutionell wirkmächtige Vorstellungen von Kindern ›mit Migrationshintergrund‹ und deren sprachlichen Fähigkeiten sowie damit verbundenem Förderbedarf sind auch in der Erzählung von Günnur Duman relevant. Allerdings äußern sich diese nicht in der erzählten Zeit, sondern in der Art und Weise der retrospektiven Thematisierung. Unmittelbar vor dem Eintritt in die Schule steht in Günnur Dumans Erzählung eine Sequenz, in der sie über den Kindergarten spricht. Diese wird hier angeführt, da die Erzählung über den Schuleintritt erst vor deren Hintergrund verständlich wird: Gün: Aber ja, und im Kindergarten, also Eintritt, ich konnte zwar Deutsch, ich konnte die (2) damals noch Tante jetzt heißt sie ((lacht)) ähh verstehn, aber ich konnte noch nicht so natürlich nicht so gut so redn wie die (1) de (1) Muttersprachler also Kinder mit deutscher Muttersprache, (1) und ich hab auch viele ah aso viele nicht, ein zwei drei tü_ türkischsprachige Kinder waren noch mit mir in der Gruppe, und die konnten gar kein Deutsch. (10/10-15)
Die Erzählerin orientiert sich hier an einer mehrheitssprachlichen Norm, indem sie nur über die Deutschkenntnisse des ›erzählten Ich‹ und der anderen Kinder spricht. Die Rekonstruktion der damaligen Sprachkenntnisse ist verbunden mit einer Differenzierung der Kinder entlang ihrer ›Muttersprachen‹, wobei in der
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
vorsichtigen Formulierung nach der alltagstheoretischen Bezeichnung »Muttersprachler« die Suche nach einer differenzierteren Bezeichnung für die Kinder deutlich wird, die damals bessere Deutschkenntnisse als Günnur Duman hatten. Die Erzählerin positioniert das ›erzählte Ich‹ rückblickend zwischen zwei für sie damals relevanten Gruppen von Kindern, die dichotomisierend als ›deutschsprachig‹ und ›türkischsprachig‹ konstruiert werden. Gün: Und ich hab immer für sie m quasi übersetzt. Und die Anliegn. »Ja, Tante, sie möchte das und das«. Oder »Sie mö_« und sie hat dann immer zu mir gesagt »Ja aber Günnur, sie müssen das selber sagen. Hör au_« aso das äh m das war halt immer auch so schwierig für mich, die haben mich gebeten, und ich musste immer sagen »Ja, aber sie schimpft dann mit mir. Sie sagt, ihr sollts es selber sagen.« (10/16-20)
Die Pädagogin war mit den regelmäßigen Translationen Günnur Dumans für Kinder, die noch nicht Deutsch konnten, nicht einverstanden. In der generalisierenden Redewiedergabe wird neben dem monolingualen Selbstverständnis der Pädagogin und ihrem imperativen Aufspannen von Kommunikationsregeln deutlich, dass sie versuchte, Günnur Duman ihrer Verantwortung für das Dolmetschen zu entheben und damit gleichzeitig Einfluss auf die Sprachverwendung der anderen Kinder zu nehmen. Die komplizierte Rolle, die Günnur Duman in dieser Konstruktion zukommt, wird in der generalisierenden Redewiedergabe der damaligen Antwort auf die Bitten der anderen Kinder deutlich: Das ›erzählte Ich‹ wurde für die Dolmetschleistungen, die in der Institution die einzige Verständigungsmöglichkeit zwischen den Kindern und der Pädagogin darstellte, ›geschimpft‹ und musste mit den Worten der Pädagogin die Sprachgebote der Institution an die anderen Kinder weitergeben. An dieser Geschichte lässt sich festhalten, dass Günnur Duman wie selbstverständlich die Rolle der Translatorin übernahm, was sie in Bezug auf die Peergroup in eine privilegierte Position brachte. Ihr Gespür für die Verwendung von Sprachen in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichen Menschen, das sie schon vor Kindergarteneintritt mit ihrer Mutter ›eingeübt‹ hatte (vgl. Kap. 7.3.1), wurde im Kindergarten zu einer Ressource, um Kommunikation zwischen verschiedenen Akteur*innen zu ermöglichen. Daneben wird an dieser Stelle deutlich, dass im Kindergarten nicht ein bereits erreichtes oder noch zu erreichendes Sprachniveau in den Sprachen Deutsch oder Türkisch relevant war, sondern dass die hier dargestellte Protagonistin mit dem Übergang in die Institution die Regeln, denen die sprachliche Kommunikation in einem spezifischen bildungsinstitutionellen Kontext unterworfen war, lernte. Zu diesen Regeln gehörte die Unerwünschtheit der Kommunikationsunterstützung durch Dolmetsch. Unmittelbar im Anschluss an diese Passage steht die nächste Bildungsinstitution, nämlich die Primarstufe:
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TEIL III — Falldarstellungen Gün: Aber (2) in der Volksschule, (1) kann ich mich eigntlich gar nicht erinnern, dass es soo für mich ein (1) Verständ_ eine Verständigungsschwierigkeit gab. (1) (10/21-22)
Dass die Erzählerin am Übergang vom Kindergarten in die Primarstufe eine potentielle »Verständigungsschwierigkeit«2 ins Feld führt, verwundert an dieser Stelle, weil die Interviewerin nicht danach gefragt hat und weil Günnur Duman auch vor der Primarstufe keine solchen Schwierigkeiten hatte – viel eher kam ihr die Rolle zu, vorhandene Schwierigkeiten in der Kommunikation anderer zu bearbeiten oder aufzulösen. Das Zurückweisen potentiell unterstellter Verständigungsschwierigkeiten ist wahrscheinlich auf Diskurse zurückzuführen, in denen als Migrationsandere positionierten Schüler*innen derartige Schwierigkeiten in der dominanten Sprache zugeschrieben werden. Vielleicht wurde Günnur Duman in der Vergangenheit auch schon auf potentielle Schwierigkeiten in ihrer Einschulungsphase angesprochen, oder sie kam im Rahmen ihres Studiums in Kontakt mit wissenschaftlichen Befunden zur Einschulung von Kindern ›mit Migrationshintergrund‹, in denen ›Verständigungsschwierigkeiten‹ thematisiert wurden.3 Ähnlich wie bei Günnur Duman orientiert sich auch die Erzählung von Özlem Karaca an den in ihrer Kindheit durchlaufenen Bildungsinstitutionen, und auch bei ihr folgt auf eine Passage über den Kindergarten eine über die Schule. Das verbindende Element in den beiden Erzählungen sind die Kompetenzen in der dominanten Sprache Deutsch sowie das Zurückweisen potentieller Schwierigkeiten: Özl: […] dann in die Schule gekommen, (1) in der Schule hab ich nie Probleme mit Deutsch gehabt. – Also (1)/(ausatmend) äähm/– ich kann mich wirklich nicht erinnern, dass ich – irgendwie je – Probleme gehabt hätte mit Deutsch, auch in der ersten Klasse, ich wurde – neben ein türkischsprachiges Mädchen gesetzt – beziehungsweise sie zu mir, damit ich für sie/(verhalten) übersetzen kann/. (3/11-16) 2 | Die Pause und der Abbruch in der Formulierung machen deutlich, dass die Erzählerin sich nicht ganz sicher ist, wie genau sie das, was sie gerne sagen möchte, so auf den Punkt bringen kann, dass die Interviewerin es versteht. 3 | Eine weitere Lesart wird durch die adversative Konjunktion ›aber‹ zu Beginn der Passage nahegelegt, die auf einen Gegensatz zur zuvor geschilderten Phase im Kindergarten verweist. Eine solche Lesart würde dafür sprechen, dass es im Kindergarten eine Verständigungsschwierigkeit gab, die allerdings nicht sprachlicher Natur war, sondern in der Verständigung über sprachliche Kommunikation, genauer: über Sprachge- und -verbote, lag. Da Günnur Duman im weiteren Verlauf aber über das Erlernen von Deutsch und Türkisch und nicht mehr über Sprachgebote spricht, lässt sich diese Lesart nicht weiter stützen.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
Analog zu der Stelle, an der die Erzählerin die Erinnerung an ihren Deutscherwerb und mögliche damit verbundene Situationen des nicht-Verstehens im Kindergarten zurückweist (Kap. 1.2.1), bezieht sie an dieser Stelle Position im Diskurs um schulische ›Deutschprobleme‹ von als ›mit Migrationshintergrund‹ geltenden Kindern, die sie ebenfalls zurückweist. In Özlem Karacas Formulierung werden potentielle Probleme und eventuelle Einwände darauf kategorisch zurückgewiesen: »wirklich nicht«, »irgendwie je«, »auch in der ersten Klasse«, und es wird deutlich, dass die Biographin sich ihrer Erinnerung sicher ist. Nachdem zuvor deutlich wurde, dass Özlem Karaca zu Hause nicht Deutsch sprechen durfte (vgl. Kap. 7.3.1), bringt die Erzählerin hier implizit auch den Diskurs um die ›richtige‹ Familiensprache ins Spiel, indem sie deutlich macht, dass das Verwenden anderer Sprachen als Deutsch in der Familie nicht notwendigerweise zu ›Deutschproblemen‹ in der Schule führt. Ganz im Gegenteil wurde Özlem Karaca in der Primarstufe nicht nur die Rolle einer Schülerin zuteil, sondern auch die einer Dolmetscherin für ein anderes Mädchen. Mit der Bezeichnung »türkischsprachiges Mädchen« konstruiert die Erzählerin ein Gegenbild zu dem Mädchen, das sie selbst damals war, und das bereits über mehr als eine Sprache verfügte. Der Hinweis auf ihre Rolle als Translatorin ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Biographin nicht nur »keine Probleme« hatte, sondern dass sie sogar in der Lage war, das Unterrichtsgeschehen oder relevante Ausschnitte davon für ihre Kollegin zu dolmetschen – auch wenn die passiven Formulierungen »wurde gesetzt« und »wurde konfrontiert« (nächster Abschnitt) deutlich machen, dass sie sich diese Rolle nicht eigeninitiativ aneignete. Im Vergleich der beiden Erzählungen ist interessant, dass die Rolle der Dolmetscherin bei Günnur Duman selbst gewählt ist und sanktioniert wird, während die Translation bei Özlem Karaca institutionell unterstützt wird. Özl: (1) also ich wurde schon/(leicht lachend) mit dem Übersetzen ziemlich früh konfrontiert/[((lachen))] Int: [/(lachend) mhm/] Özl: /(leicht lachend) musste in der ersten Klasse Volksschule/schon – sehr gut zuhören, -übersetzen und so davon war meine Mutter nicht so begeistert, (1) damals hab ich mir gedacht – »ich finds nicht so schlimm« (1) aber jetzt geb ich ihr schon recht weil – mit siebenn oder sechs Jahren – man muss selber n=mitdenkn und das (1) sich überhaupt mal an die Schule gewöhnen, das ist ja was ganz Neues alles, – und – mitkommen was erzählt wird dann=auch=n übersetzen – und aahm – hat sie dann halt mit der Lehrerin gesprochen und hat gesagt, dass sie das nicht möchte, (2) dann wurde das Mädchen glaub ich – einn Jahr nochmal drunter gsetzt damit sie halt Deutsch lernen kann oder in die Vorschule geschickt ich weiß es nicht mehr, (1) jaa. – Was ich jetzt im Nachhinein natürlich – wo ich meiner Mutter recht gebe, weil (1) sie war halt nicht im Kindergarten (1) weil ihre Mutter –/(leicht lachend) hat/meiner Mutter auch erzählt, dass sie kein Geld
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TEIL III — Falldarstellungen für Kindergarten ausgeben wollte – uund meine Mutter hat=nur gsagt »ja – wieso soll mein Kind fü=ür den Fehler von ihren Eltern quasi – bezahlen oder was halt=st (bestn) machn.« (2) Aahm, (1) ja. (3/18-34)
An dieser Stelle lässt sich die Veränderung der Position Özlem Karacas von damals bis heute rekonstruieren: Fand die Biographin das Übersetzen während der Schulzeit – im Gegensatz zu ihrer Mutter – »nicht so schlimm«, unterstützt sie aus ihrer heutigen Perspektive die damalige Haltung der Mutter und gibt deren Argumente gegen die Übersetzungsaufgaben der Tochter wieder, indem sie die vielfältigen Aufgaben auflistet, die sie in der Schule erfüllen musste: »sehr gut zuhören, übersetzen, […] selbst n=mitdenken, […] mitkommen was erzählt wird«. Alle diese Aufgaben werden vor dem Hintergrund einer herausfordernden Eingewöhnungsphase in die Schule, die als »was ganz Neues« beschrieben wird, angeführt. Das Zuhören, das Mitdenken und das Mitverfolgen des Unterrichtsgeschehens sind Schüler*innenaktivitäten, die unabhängig von Sprachigkeit für alle Schüler*innen eine Herausforderung darstellen können. Die zusätzliche Aufgabe für Özlem Karaca bestand im Übersetzen. Dass ihre Mutter in einem Gespräch mit der Lehrerin durchsetzte, dass ihre Tochter dieser Aufgabe entledigt wurde, hatte zur Folge, dass ihre Kollegin zurückgestuft wurde. In der Rekonstruktion dieser nicht unproblematischen Situation, zu der sich die Erzählerin im Interview positioniert, gibt sie die damalige Argumentation der Mutter wieder, die sie rückblickend unterstützt: Die unterschiedlichen Deutschkenntnisse der beiden Mädchen werden am (fehlenden) Kindergartenbesuch der Kollegin festgemacht, und die Verantwortung dafür, dass das andere Mädchen schulisch heruntergestuft wurde, wird deren Mutter gegeben, die »kein Geld für Kindergarten ausgeben wollte«. Inwieweit eine derartige Investition für die Eltern des Mädchens überhaupt möglich gewesen wäre, wird in diesem Ausschnitt nicht deutlich. Ebenso wenig erfährt man, ob die finanzielle Lage der Eltern des ›erzählten Ich‹ einen Kindergartenbesuch selbstverständlich ermöglichten, oder ob dieser eine Belastung für die Familie darstellte. An der rhetorischen Frage der Mutter, warum ihre Tochter für einen »Fehler« anderer Eltern »bezahlen« müsse, lässt sich ein Standpunkt identifizieren, der sich an der Ökonomie sprachlicher Ressourcen von Kindern orientiert, die diese über eine (ebenfalls ökonomische) Investition in den Kindergarten erhalten. Die Haltung des ›erzählten Ich‹ der Schulkollegin gegenüber kann als Entsolidarisierung einer bildungs- und spracherfolgreichen Person gegenüber einer bildungsbenachteiligten Person gelesen werden. Die Erzählerin schreibt dem Kindergarten in dieser Argumentation eine zentrale Rolle hinsichtlich der Kompensation einer sprachlichen Ausgangslage zu. Das sprachliche ›Problem‹ wird als individuelles konstruiert, für das nicht die Schule, sondern die Eltern die Verantwortung tragen. In Verbindung damit wird
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
an dieser Stelle eine normative Setzung ›guten Elternhandelns‹ deutlich (vgl. Seyss-Inquart 2016: 150-156), nämlich die Verantwortung für den Kindergartenbesuch im Allgemeinen und – in Zusammenhang damit – für das Erlernen der dominanten Sprache vor dem Schuleintritt. Im Unterschied zu Günnur Duman und Özlem Karaca konstruiert Afërdita Bushaj ihren Übergang in die Schule als herausfordernd in Hinblick auf ihren Erwerb der Bildungssprache Deutsch: Die folgende Passage über ihren Schuleinstieg steht im Kontext der Rekonstruktion ihrer familialen sprachlichen Ausgangsbedingungen, von deren Bedeutung für ihren weiteren ›Weg‹ die Erzählerin überzeugt ist (vgl. Kap. 1.2.1). Nachdem Afërdita Bushaj noch einmal auf die Kommunikationssprachen in ihrer Familie eingeht und berichtet, dass ihre Eltern Albanisch, ihr Großvater »Deutsch […] aber Dialekt« mit ihr sprachen, geht die Erzählerin nun auf ihren Übergang in die Schule ein: Afë: für mich wars dann irgendwie in der Schule total komisch – ich war – ich hatte bis/ (lachend) zu dem Zeitpunkt/eben nie Standarddeutsch/(lachend) gehört [-] außer [((lacht))] Int: Afë: ZiB-Nachrichten [-] und die hab ich/(lachend) eh nie verstanden/[((lacht))] und [((lacht))] [((lacht))] Int: Afë: dann kam eben die Volksschule – und hab ich mir so schwer getan, im Kindergarten gings ja noch aber im Kindergarten – ja da hab ich ja nicht Lesen und Schreiben gelernt und=und=und so weiter da – ja wies eben so im Kindergarten ist – hab ich natürlich meinen Dialekt ganz normal stolz [-] mit auch mit den Kindergarten_- Pädagoginnen [((lacht))] Int: Afë: auch so geredet – und dann kam eben die=die Schule. (27/41-28/8)
Um zu plausibilisieren, warum die Situation in der Schule für das ›erzählte Ich‹ »total komisch« war, geht die Erzählerin in die Zeit vor die Schule zurück: Damit wird deutlich, dass der einzige vorschulische Kontakt mit Standarddeutsch die ›ZiB-Nachrichten‹4 waren, die das ›erzählte Ich‹ nicht verstand, was neben der Varietät wohl auch am Genre lag. Daneben berichtet die Erzählerin, dass die Kommunikation im Kindergarten keine Überforderung darstellte (»gings ja noch«). Als eine Begründung dafür wird das Fehlen von Schriftlichkeit angeführt. Bezogen auf die mündliche Sprache betont die Biographin, im Kindergarten ganz selbstverständlich und »ganz normal stolz« ihren Dialekt verwendet zu haben. Aus dieser Passage lassen sich eine starke affektive 4 | Zeit im Bild (ZiB) sind Fernsehnachrichtensendungen des Österreichischen Rundfunks.
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und identitätsrelevante Verbindung mit dem Dialekt und eine Selbstkonstruktion als kompetente Dialektsprecherin herauslesen. Nachdem die Erzählerin nun deutlich gemacht hat, dass die Kontaktsituationen mit Standarddeutsch vor der Schule eher marginal waren, führt sie die begonnene Erzählung fort: Afë: und dann musste man ah – Geschichten schreiben – und – und Schreiben lernen (1) und da waren eben Begriffe dabei, wie: (1) Kartoffeln – und ich dachte/(geflüstert) »Was ist das?«/[-] [((lacht))] Int: Afë: und ich hab ich hab irgendwie nie getraut zu fragen weil ich mir immer dachte »Naja alle wissens nur ich nicht« [1] [Mhm] Int: Afë: und das war dann irgendwie bis ich das einmal gelernt habe dass ich fragen soll jederzeit wenn ich was nicht weiß hat auch lange gedauert, [((lacht))] – und ich hab dann [((lacht))] Int: Afë: immer meine Hausübungen mit ah meiner Nachbarin – ah gemacht- weil ah – meine Eltern konnten zu der Zeit ja nicht Deutsch und – ah also Deutsch lesen und schreiben – sondern eben nur d_ übers Mündliche ge_ äh gelernt und der Opa sowieso (1) und mit=mit ihr hab ich dann immer die Hausübungen gemacht, – und – natürlich ich hab dann Mittag gegessen bin dann äh – gleich Hausübungen machen gegangen und dann hab ich dann die Nachbarin gefragt sag ich »Ich hab heut eben in der Schule ein Wort gehört, das is so/(lachend) Spanisch/« [((lacht))] und sie »Was hastn dann gehört, dass [((lacht))] Int: Afë: es so/(lachend) Spanisch is/« ((lacht)) und ich »Naja Ka_ Kartoffeln ah was=was ist das?« und sie »Ja das sind Erdäpfeln« sog i »Ja warum sogt donn kana/(lachend) Erd eipfln/? [((lacht))] Seitdem weiß ich dass Erdäpfeln und Kartoffeln [((lacht))] Int: Afë: /(lachend) dasselbe sind/[((lacht))] – aber Int: [Mhm ((lacht))] Afë: das waren wirklich immer wieder solche Kleinigkeiten die mich dann immer wieder so – »Ha das weiß ich nicht und warum ((Glas wird am Tisch abgestellt)) kann mir das irgendwie keiner erklären?« un_ und so weiter aber (1) mit der Zeit war das dann eh (1) also (3) ich hab das dann schon irgendwie genossen. (28/8-38)
Die neuen Herausforderungen in der Schule bezeichnet die Erzählerin mit ›Schreiben Lernen‹ und ›Schreiben von Geschichten‹. In diesem Kontext führt sie als besondere Schwierigkeit unbekannte Begriffe ein und nennt als Beispiel das Wort ›Kartoffeln‹. Inwieweit dieser Begriff eine Schwierigkeit beim Schreiben – nicht etwa beim Lesen – darstellte, wird nicht genauer ersichtlich. Dass die Rekonstruktion der damaligen Angst vor klärenden Fragen an einem Begriff festgemacht wird, der anderen Kindern alltagsweltlich wahrscheinlich genauso fremd war wie Afërdita Bushaj, könnte so gedeutet werden, dass sich
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
die Erzählerin an dieser Stelle der Interviewerin gegenüber als ›wirkliche‹ Dialektsprecherin konstruieren möchte. Als wichtigen Lernprozess in der ersten Schulzeit charakterisiert sie in der nachträglichen Reflexion das Fragen nach Unbekanntem oder nicht Vertrautem. In weiterer Folge berichtet Afërdita Bushaj, dass sie ihre Hausübungen damals immer mit einer Nachbarin machte, was sie damit begründet, dass ihre Eltern und ihr Großvater im Deutschen nicht alphabetisiert waren. In einer rekonstruierenden Redewiedergabe eines Gesprächs mit der Nachbarin macht die Erzählerin an einem Beispiel deutlich, worin ihre hauptsächliche Schwierigkeit nach der Einschulung bestand: Afërdita Bushaj fragte nach einem unbekannten Wort aus dem Unterricht. Als sie erfuhr, dass es sich beim Wort ›Kartoffeln‹ um die ihr vertrauten ›Erdäpfel‹ handelte, fragte sie im Dialekt, warum denn dann niemand »Erdeipfln« sage. In der reinszenierten Frage und deren Einleitung (»sog i«) benutzt die Erzählerin den R-Bundesländischen Dialekt, der die (damalige) sprachliche Zugehörigkeit des ›erzählten Ich‹ zum Bundesland zum Ausdruck bringt. Über den Codewechsel werden die unterschiedlichen Sprachwelten, in denen Afërdita Bushaj sich damals bewegte, charakterisiert, und die Varietät, in der die Frage realisiert ist, markiert die damals erlebten Verständigungsschwierigkeiten und macht sie unmittelbar nachvollziehbar. Nachträglich werden die Schwierigkeiten mit »immer wieder solche Kleinigkeiten« bezeichnet, und in weiterer Folge berichtet die Erzählerin, dass sie das mit der Zeit »dann schon irgendwie genossen« habe. Worin der Genuss bestand, wird in einer nachfolgenden Passage deutlich, in der Afërdita Bushaj erwähnt, dass sie in der Schule auch Englisch lernte und diese Sprache in der Familie als ›Geheimsprache‹ mit ihren Geschwistern verwendete (28/38-41). Das Lernen von Standarddeutsch rekonstruiert die Erzählerin als Schwierigkeit, die sie allerdings nicht, wie im Kontext der österreichischen Migrationsgesellschaft häufig vermutet, auf die Familiensprache Albanisch und das Fehlen von Kenntnissen des Deutschen zurückführt, sondern auf ihren R-Bundesländischen Dialekt. Damit übernimmt sie wahrscheinlich eine Deutung, die ihr aus dem dörflichen Kontext vertraut ist und ›normalisiert‹ ihre Schwierigkeiten beim Übergang in die Schule ein Stück weit. Zudem weist sie möglicherweise erfahrene Zuschreibungen als ›migrationssprachlich‹ zurück und konstruiert das ›erzählte Ich‹ als dialektsprachig.
8.1.2 Die Bedeutung von Sprache(n) für den Übergang ins Gymnasium Nachdem im vorigen Kapitel der Bedeutung von Sprache für den Übergang in die Primarstufe nachgegangen wurde, wird hier deren Bedeutung für den Übergang in weiterführende Schulen in den Blick genommen.
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Die Student*innen besuchten vor ihrem Studium unterschiedliche Schulformen, es geht allerdings aus den Erzählungen hervor, dass in ihrem damaligen sozialen Umfeld weitgehender Konsens darüber bestand, dass das Gymnasium die studienvorbereitende Schulform schlechthin ist und dass ein Übergang an diese Schulform mit Blick auf einen angestrebten Bildungsaufstieg5 alternativlos ist. Dies ist vor dem Hintergrund der bereits herausgearbeiteten Bildungsaspirationen der Eltern und zum Teil auch der Kinder nicht weiter überraschend. Da Bildungswege »in den seltensten Fällen das Produkt kognitiver Entscheidungen zwischen klar trennbaren Alternativen« (Dausien 2014: 47) sind, wird in diesem Kapitel das komplexe Zusammenspiel verschiedener sozialer Akteur*innen mit jeweils unterschiedlichen Handlungsspielräumen innerhalb migrationsgesellschaftlicher Machtgefüge rekonstruiert. Alime Alpaslans Erzählung über die Primarstufe ist von der Betonung ihres frühen Alters im Vergleich zu ihrer um etwa ein Jahr älteren Schwester und zu ihren Schulkolleg*innen zum Zeitpunkt der Einschulung geprägt. Über das Ende der Primarstufe sagt sie Folgendes: Ali: Vier Jahre später hab ich dann, äh, hm… hatt ich dann eigentlich in der vierten Volkschule, hatt ich dann schon gute Noten! Aiso meine Noten ham eigentlich gereicht für ein Gymnasium fürs Gymnasium, ((schluckt)) aber mein Lehrer hat dann damals gemeint, weil ich war so eher… so ein/(lässt Hände auf Tisch plumpsen) Traummännlein,/aiso ich hab mehr/(klopft betonend) geträumt,/und und ich war dann auch sehr/(klopft betonend) langsam/und nicht so schnell, und auch mein… die Auffassungsgabe und so war bei mir auch nicht sehr… hm, pfh, sehr gut, ich war auch nicht so eine der Fleißigen, und auch sehr langsam und so, und deswegn hat der Lehrer halt dann gemeint »Gymnasium würde sie nicht schaffen, aiso schicken wir sie doch in eine Hauptschule.« (13/9-19)
Die Thematisierung des Übergangs in die nächste Schulstufe wird zunächst an den Noten in der vierten Klasse festgemacht, und die Erzählerin kommt zum Schluss, dass diese für ein Gymnasium »gereicht« hätten. Allerdings sprach der Lehrer keine Gymnasialempfehlung aus, sondern beschloss, Alime Alpaslan in eine Hauptschule zu »schicken«. Als Begründung gibt die Erzählerin an, dass sie als Kind verträumt, langsam und nicht besonders fleißig war sowie keine besonders hohe »Auffassungsgabe« besaß, was den Lehrer zur Annahme brachte, dass die Schülerin ein Gymnasium »nicht schaffen« würde. Offenbar orientierte der Lehrer sich nicht an Noten als Indikatoren schulischer 5 | Nicht alle Erzählungen verweisen auf Bildungsaufstiege, allerdings wird dem Übergang ins Gymnasium in denjenigen Erzählungen, in denen Bildungsaufstiege rekonstruiert werden können, eine besondere Bedeutung zugeschrieben.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
Leistung, sondern an Eigenschaften, die er offenbar als nicht veränderbar und maßgeblich für die weitere Schullauf bahn betrachtete. Alime Alpaslan übernimmt in der Erzählung die Deutung des Lehrers, die biographisch sehr nachhaltig zu wirken scheint. Ali.: Bei meiner Schwester war das genauso, und bei meiner Schwester hat das (der)… Weil sie hat nur ein Jahr den Kindergarten besucht, und bei meiner älteren Schwester war das dann so, weil sie aufgrund der deutschen Sprache, (1) weil sie die halt damals, beim Abschluss der Volkschule nicht so gut beherrscht hat, Int: Mhm [mhm] [hat] dann ((klopft auf Tisch)) der Lehrer von ihr dann gemeint, ((klopft auf Ali.: Tisch)) aiso kein Gymnasium, Hauptschule is viel besser. ((schluckt)) (13/19-28)
Die Erzählerin erwähnt zunächst, dass der Übergang bei ihrer Schwester »genauso« verlief, kommt dann aber auf einen relevanten Unterschied zu sprechen: Die Schwester beherrschte zum Ende der Primarstufe »nicht so gut« Deutsch, was Alime Alpaslan auf deren kurze Kindergartenzeit zurückführt. Auch im Fall der Schwester lässt sie die Deutungen des Lehrers retrospektiv unwidersprochen. Während also bei der Schwester ein Defizit in der Mehrheits- und Unterrichtssprache als Begründung für einen Hauptschulbesuch verwendet wurde, waren es bei Alime Alpaslan andere Eigenschaften, von denen angenommen wurde, dass sie den weiteren Schulerfolg beeinträchtigen könnten. In beiden Fällen wurde die Entscheidung vom Lehrer getroffen, und es gibt in der Erzählung keinen Hinweis darauf, dass die Schülerinnen oder die Eltern nach ihrer Meinung oder ihren Wünschen zum weiteren Bildungsverlauf gefragt wurden. Das ist auch insofern interessant, als es in Österreich – im Unterschied etwa zu Deutschland – keine formalisierten Schullauf bahnempfehlungen von Lehrpersonen gibt6 und der Lehrer somit auf formaler Ebene keinen Einfluss geltend machen konnte. Das Schlucken am Ende der Passage könnte auf das heutige Bewusstsein darüber hinweisen, welche weitreichenden Folgen solche Entscheidungen mit sich bringen können oder gebracht haben. In der folgenden Passage werden die Eltern eingeführt, die neben dem Lehrer wichtige Akteur*innen im Kontext des schulischen Übergangs waren: Ali: Und (1,5) natürlich warn beide Seiten, also sowohl mein Vater also auch meine Mutter, die beherrschen natürlich nicht sehr gut die deutsche Sprache, und bei uns in der 6 | Die Aufnahme in eine AHS setzt voraus, dass »in den Fächern Deutsch, Lesen, Schreiben und Mathematik gute oder sehr gute Leistungen erzielt wurden, oder dass – bei Beurteilung mit ›Befriedigend‹ – eine Empfehlung der Schulkonferenz der Primarstufe für den Besuch der AHS vorliegt« (BMB 2015). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, können Schüler*innen eine Aufnahmeprüfung an einer AHS ablegen (ebd.).
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TEIL III — Falldarstellungen türkischen Kultur isses dann so, dass der Lehrer wirklich, ähm… Wie soi ich sagn? (1) Ihm vertraut man vollkommen, er hat einen sehr ehrenvollen Platz, und der wird einfach s_ (1) auch sein sein Beruf und so wird als sehr wert_ also gilt als sehr wertvoll, und das is noch immer so! Und dem gebührt man extra Respekt zu und so, und ((schluckt)) deswegn war das für meine Eltern »Ja, okay, wenn das der Lehrer gesagt hat, okay, gut, der wirds schon besser wissen!« und so, und ham sie uns dann in die Hauptschule geschickt. (13/28-37)
Die Erzählerin führt in einem Einschub die »nicht sehr gut[en]« Sprachkenntnisse ihrer Eltern im Deutschen an. In welchem Zusammenhang diese mit deren Haltung zur Übergangsempfehlung stehen, expliziert sie nicht. Möglicherweise waren die Eltern nicht in der Lage, alles zu verstehen, was der Lehrer ihnen erklärte, oder sie verfügten nicht über die sprachliche Kompetenz, kritische Fragen oder Widerspruch zu artikulieren. Vor dem Hintergrund der hohen Bildungsaspiration von Alime Alpaslans Mutter, die im Erzählverlauf mehrfach deutlich wird, ist der erfolgte Übergang in eine Hauptschule trotz Empfehlung des Lehrers an dieser Stelle begründungsbedürftig. Die Erzählerin führt eine ›Haltung‹ gegenüber Lehrer*innen »bei uns in der türkischen Kultur« ein. Diese charakterisiert sie durch »vollkommen[es] Vertrauen«, »extra Respekt« und hohe Wertschätzung für den Lehrberuf, was mit sich bringt, dass von Lehrer*innen Gesagtes nicht in Frage gestellt wird. Jedenfalls verweist der Hinweis darauf, dass es der Lehrer »besser wissen [wird]«, darauf, dass die Eltern ebenfalls ein »Wissen« darüber hatten, wie die schulische Laufbahn ihrer Töchter aussehen könnte oder sollte, und dass sich dieses Wissen von dem des Lehrers unterschied. Der als typisch für die »türkische Kultur« konstruierte Respekt vor Lehrpersonen fungiert hier als Erkärungsressource für die Unterordnung unter fremdbestimmte Schullauf bahnentscheidungen. Daneben weist die Erzählerin der Interviewerin gegenüber potentielle Vorstellungen von ›bildungsfernen‹ oder ›nicht durchsetzungsfähigen‹ Eltern zurück und entlastet ihre Eltern implizit auch von der Verantwortung für den späteren Verlauf ihrer schulischen Bildung. Im Unterschied zu Alime Alpaslan geht Günnur Duman in ihrer Erzählung nicht explizit auf den Übergang ins Gymnasium ein, sondern stellt die auf den Kindergarten folgenden Bildungsinstitutionen in ihrer Eingangserzählung zunächst als selbstverständliche Abfolge dar. Die familiale Beschäftigung mit dem Übergang nach der Primarstufe wird in einer späteren Passage deutlich, in der Günnur Duman über die Bildungsaspirationen ihrer Mutter spricht. Die Erzählerin setzt zunächst dazu an, etwas über ihre Gymnasialzeit zu berichten, bricht den geplanten Satz aber ab und setzt zu einer Hintergrundkonstruktion an, in der sie sich zeitlich in die Primarstufe zurückbegibt:
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit Gün: ahh ja und im Gymnasium, i_ also ich kann mich erinnern, so was Deutsch betrifft, ich (1) ich denk ma auch dass ich das jetzt so erzähle, weil ich mich in letzter Zeit auch viel mit dem Thema beschäftigt habe. Und ich hab halt einfach erkannt, dass es immer so war: »O Gott. Deutsch. Deutschschularbeit. Und Deutschaufsätze«, und und meine Mutter hat so viel mit mir geübt. Wirklich so viel mit mir zu Hause geübt. Und die erste Deutschschularbeit hab ich ein Sehr gut bekommen, und, in der Volksschule, und nicht sogar da war meine Mutter noch nicht entspannt. Ja die auf die erste Deutschschularbeit o.k. da war sie noch a_ »Das war die erste, aber die zweite…«. Und einmal hab ich ein Gut bekommen, und da is meine Mutter war so traurig, und sie wa_ hat versucht, mir das nicht anzu_ (1) merken zu lassen, und ich kann mich sehr gut erinnern, ich hab gsagt »Was is, Mama? Ein Gut is auch ein Gut. Das heißt Gut. Aso warum warum bist du nicht zufriedn damit?« Und sie hatte halt so wahnsinnige Angst, dass Angst dass ich es nicht schaffe, ins Gymnasium zu kommen. Das war meiner Mutter sehr wichtig. Sie wollte unbedingt, dass ich ins Gymasium komm, und (1) ich bin dann auch ins Gymnasium gekommen, ich hab auch nicht so eine exzellente Bildung gebraucht, ich hab einen Zweier in M_ Deutsch ghabt oder in Mathe, und ahm (1) es war im Gymnasium dann auch so. (10/43-11/11)
Aus einer Meta-Perspektive reflektiert die Erzählerin über Inhalt und Auf bau ihrer Erzählung und führt diese auf ihre (akademische oder private) Beschäftigung mit dem Thema zurück. Mit dem Gymnasium verbindet sie jedenfalls Erinnerungen an das Fach Deutsch, die sie mit »O Gott«, einem starken Indikator für damals Gedachtes oder Geschehenes, einleitet und mit »Deutsch« als Schulfach sowie geforderten Prüfungsleistungen (»Deutschschularbeit« und »Deutschaufsätze«) verknüpft. Die Erinnerung an das Fach Deutsch vor und während der gymnasialen Zeit ist somit mit Prüfungs- und Testsituationen sowie mit vorbereitenden Übungen gemeinsam mit der Mutter assoziiert, die offenbar sehr viel Raum einnahmen und möglicherweise auch mit Mühen und Druck verbunden waren. Die Erinnerung an die erste Deutschschularbeit in der Primarstufe ist mit der sehr guten Bewertung verknüpft, was aber für ihre Mutter noch keine ›Entspannung‹ darstellte. Offenbar waren die Prüfungsleistungen der Schülerin Günnur immer sehr gut, denn ein einmaliges »Gut« führte bereits dazu, dass die Mutter »traurig« wurde. Die Erzählerin gibt die Reaktion des ›erzählten Ich‹ auf den Gemütszustand der Mutter in direkter Rede wieder, die das damalige Unverständnis in der Interviewsituation plastisch werden lässt. Retrospektiv schiebt sie die Erklärung ein, dass die Mutter »halt so wahnsinnige Angst« hatte, dass ihrer Tochter der Übertritt ins Gymnasium verwehrt bleiben könnte, was ihr aus heutiger Sicht offenbar immer noch plausibel scheint. Die Bedeutung des Bildungsaufstiegs für die Mutter wird in der Erzählung nicht zuletzt an der Betonung der Intensifikatoren (»sehr«, »unbedingt«, »wahnsinnig[…]«) sichtbar. Hier lässt sich somit ein doppeltes meritokrati-
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sches System – das schulische und das familiäre – identifizieren. Der Übergang ins Gymnasium wird in der Erzählung allerdings als nicht mit etwaigen Hürden verbunden, sondern ziemlich selbstverständlich dargestellt: »ich bin dann auch ins Gymnasium gekommen«. Interessant ist hier, dass Günnur Duman angibt, »nicht so eine exzellente Bildung« gebraucht zu haben, und dies dann mit »einen Zweier in M_ Deutsch […] oder in Mathe« erläutert. Damit verknüpft sie Bildung ganz deutlich mit schulischen Leistungsbewertungen. Zudem deutet diese Formulierung auch auf ein Wissen über gesellschaftliche Diskurse zu Migration und Bildung hin, in denen der Begriff ›Bildung‹ und verwandte Komposita häufig vorkommen (wie etwa ›Bildungsaffinität‹, ›Bildungsaufstieg‹, ›Bildungsbe(nach)teiligung‹, ›Bildungshintergrund‹).7 Gün: Aso der erste Aufsatz und (1) der war natürlich voll rot, aber nicht nur wegn mir, bei allen, weil unsere Lehrerin viel dazugeschriebn hat, und meine Mutter hat das gesehn und glaub sie hat sich (gleich hinsetzn müssn) und (1) aber… ich hab dann auf die erste Schularbeit im Gymnasium ein Gut bekommen, und ich glaub da war der Moment wo meine Mutter dann ein bisschen lockerer gewordn is. Sie hat gemerkt »O.k., sie wird das schon irgndwie hinkriegn« aber ich glaub auch, dass sie das (1) vielleicht hab ich mich s deshalb so in Deutsch auch bemüht, weil ich immer das Gefühl ghabt hab ich muss mich bemühn, damit ich’s schaffen kann. Ich weiß es nicht, ich versuch, ich denk selber oft darüber nach. (11/12-20)
Dass der erste Aufsatz »natürlich voll rot« war, erklärt die Erzählerin retrospektiv damit, dass nicht etwa so viele Korrekturen an einem sprachlich nicht den Erwartungen entsprechenden Aufsatz gemacht wurden, sondern dass die Lehrerin Kommentare in den Text schrieb – eine Form der Kommunikation über schriftliche Texte, die Günnur Duman und ihrer Mutter offenbar aus der Primarstufe nicht vertraut war.8 Zunächst führte das viele Rot zu einer Verunsicherung der Mutter in Hinblick auf die Bewältigung der schulischen Anforderungen der Tochter, allerdings beruhigte sich diese nach der ersten Schularbeit, die mit einem ›Gut‹ bewertet wurde. Diese Bewertung an einer Schulform mit den höchsten Anforderungen, die als geeignet für die leistungsstärksten Schüler*innen angesehen wird, konstruiert die Erzählerin als zentralen »Moment«, der zu einer Beruhigung der Sorgen der Mutter führ7 | Auch der defizitäre Begriff ›bildungsfern‹ (kritisch: zur Nieden/Karakayali 2015), dem ein wenig flexibler Bildungsbegriff zugrunde liegt und der den Blick zudem von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ablenkt, könnte in diese Liste aufgenommen werden. 8 | Auch hier setzt die Erzählerin zu einer Normalisierung an, indem sie deutlich macht, dass die Kommentare »bei allen« gemacht wurden und dem ›erzählten Ich‹ somit eine gleiche Behandlung durch die Lehrerin wie alle anderen Kinder bescheinigt.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
te. In der Redewiedergabe, in der die Erzählerin die damalige Perspektive der Mutter einnimmt, indem sie über sich selbst in der 3. Person spricht, wird deren neues Vertrauen in die Fähigkeiten der Tochter und einen möglichen Bildungsaufstieg sichtbar. Durch die starke Markierung dieses Moments werden zum einen noch einmal die hohen Erwartungen der Mutter deutlich, die die Beziehung zu ihrer Tochter prägten. Gleichzeitig fungiert die Hervorhebung des ›Moments‹ als Indikator für den Beginn einer Entspannung, die erzählerisch allerdings erst viel später entfaltet wird. Die Erzählerin setzt zu einer Erklärung über das damalige Verhalten der Mutter an (»aber ich glaub auch, dass sie das«), rekonzeptualisiert ihre Äußerung dann aber und erklärt ihre damaligen Anstrengungen im Fach Deutsch mit dem ständigen Gefühl, sich ›bemühen‹ zu müssen, um bildungserfolgreich zu sein. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Sorgen um die Bildungslaufbahn nicht mit dem formalen Übergang ins Gymnasium zerstreut waren, sondern dass die Übergangsphase so lange andauerte, bis die Mutter anhand schulischer Bewertungen Sicherheit darüber erlangte, dass die Leistungen ihrer Tochter am Gymnasium anerkannt und auf der Ebene der Notengebung ›abgesichert‹ waren. Obwohl eine gute Bewertung der ersten Schularbeit keine Garantie für einen positiven Abschluss der Schulform darstellt, war die Wirkung der in der Note sichtbar gewordenen positiven Einschätzung der Lehrerin auf die Mutter offensichtlich sehr umfassend. Dies könnte auf deren Bewusstsein über die strukturelle Benachteiligung von nicht dominant positionierten Kindern an österreichischen Schulen und auf ihr Wissen um die Bedeutung von Bildungsabschlüssen für Möglichkeiten im späteren Berufsleben verweisen. Gün: Aber ich hab auch wirklich super Deutschlehrerinnen gehabt, wobei die im Gymnasium wirklich sehr streng war, und ich hab (1) aber, wir habm viele Sachn gemacht, von denen ich später sehr profitiert hab. Ich fand jetzt so im Rückblick den Unterricht wirklich qualitativ super. (11/21-24)
Neben ihrem Bemühen führt die Erzählerin auch die »super Deutschlehrerinnen« an, von denen sie eine als »sehr streng« bezeichnet, und mit denen sie »viele Sachn« machte. Insgesamt betrachtet sie den Deutschunterricht retrospektiv als »qualitativ super«, was ihre Perspektive als Studentin des Lehramts Deutsch verdeutlicht. Darüber hinaus schreibt sie das erfolgreiche Bewältigen der Anforderungen nicht nur sich selbst, sondern auch den Lehrer*innen zu. Insgesamt zeigt sich, dass Bildungserfolg und Bildungsaufstieg von der Mutter damals vor allem am Fach Deutsch festgemacht wurden. Das kann auf die durchaus berechtigten Sorgen der Mutter zurückgeführt werden, dass ihre Tochter wegen nicht ausreichend eingestufter Deutschkenntnisse für eine weniger gut qualifizierende Schule ›empfohlen‹ werden könnte.
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Neben dem Deutschunterricht berichtet die Erzählerin an zwei Stellen des Interviews auch über Türkischunterricht. Die erste diesbezügliche Passage findet sich unmittelbar hinter der Stelle, an der Günnur Duman ›Verständigungsschwierigkeiten‹ beim Eintritt in die Schule zurückweist (vgl. Kap. 2.1.1). Gün: wir hattn einmal in der Woche Türkischunterricht, wobei ich den jetzt natürlich auch ganz anders bewerte, je mehr ich mich mit dem Thema DaF also DaZ beschäftige, unser Türkischlehrer hat uns einfach einmal in der Woche, wann’s halt gelegen war, uns ausm Unterricht rausgenommen, wir habn dann den regulären Unterricht verpasst. (10/23-26)
An dieser Stelle positioniert sich Günnur Duman als Expertin für Deutsch als Zweitsprache. Zum einen wird das an ihrer Bemerkung deutlich, dass Sie den Türkischunterricht »jetzt natürlich auch ganz anders« (Hervorh. N.T.) bewerten würde, zum anderen geht aus der Reformulierung »DaF also DaZ« hervor, dass sie zwischen den beiden Begriffen differenziert und die Situation, über die sie gerade spricht, als DaZ-Kontext identifiziert. Da es im Lehramtsstudium, an dessen Ende Günnur Duman zum Interviewzeitpunkt steht, nicht um ›muttersprachlichen Unterricht‹ und nur am Rande um Mehrsprachigkeit geht, könnte es sein, dass sie sich hier auf ihr Wissen über mehrsprachigen Spracherwerb bezieht, das sie sich im Studium angeeignet hat, und vor dessen Hintergrund sie den Türkischunterricht aus der heutigen Perspektive anders als damals bewertet. Möglicherweise bezieht sie sich aber auch auf positive Bewertungen ›muttersprachlichen Unterrichts‹, die ihr aus dem Studium vertraut sind und positioniert sich differentiell dazu: Wenn sie im Studium Theorien kennengelernt hat, denen zufolge Mehrsprachigkeit erstrebenswert und ›muttersprachlicher Unterricht‹ förderlich für eine mehrsprachige Entwicklung ist, so wäre es im Interviewkontext möglicherweise schwierig, sich als theoretisch informierte Studentin der Germanistik und kompetente zukünftige Deutschlehrerin zu positionieren und solche theoretischen Positionen gleichzeitig in Frage zu stellen. Sie beschreibt den Türkischunterricht als Kontext, durch den sie aus dem ›regulären‹ Unterricht und damit auch aus der ›Wir‹-Gruppe der mehrheitsangehörigen Schüler*innen herausgerissen wurde. Die Art und den jeweiligen Zeitpunkt des Herausgerissenwerden kritisiert sie als beliebig (»wann’s halt gelegen war«), wobei offen bleibt, an welcher Stelle der Schulorganisation diese Beliebigkeit ihren Ausgangspunkt nahm. Die organisatorische Praxis, in die der Türkisch-Unterricht Günnur Dumans eingebunden war, wird von der Erzählerin als stark verbesserungsbedürftig dargestellt. Zudem unterschied sich der Stellenwert, der dem Türkischunterricht von der Schulorganisation beigemessen wurde, stark von dem anderer Sprachen und Unterrichtsfächer, die einen festen Platz im Curriculum
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hatten, und entsprach damit dem marginalisierten gesellschaftlichen Status von Migrant*innen mit einem biographischen Bezug zu Türkisch.9 Günnur Duman stellt die institutionellen Rahmenbedingungen aber nicht explizit in Frage, sondern konstruiert allein den Türkischlehrer als Handelnden, den sie dafür verantwortlich macht, dass sie und die anderen Schüler*innen den »regulären Unterricht« verpassten. Gün: Meine Mutter hat sich immer tierisch aufgeregt, weil einmal hat er hat er mich genau da mitgenommen, als wir mit dem Dividiern angefangen haben, dann komm ich zurück, dividiern alle. Und ich versteh gar nix. Hat meine Mutter sich so aufgeregt ghabt. Aber ich war dort (vier), aso in der Volksschule, (1) viel gebracht hat’s mir nicht, wie viel kann das einem bringen einmal in der Woche was was soll auch der Lehrer machn. Er hat mit uns auch viel Landeskultur gemacht und Geographie und hat halt versucht, etwas mitzugebn. (10/27-34)
Als dramatisierenden Beleg für ihre Beschreibung dieser schulischen Praxis flicht Günnur Duman eine Erzählung ein, in der deutlich wird, dass sie in der Primarstufe aus dem ›regulären‹ Unterricht in einen ›besonderen‹ Unterricht ›mitgenommen‹ wurde. Indem sie davon berichtet, dass die Mutter sich über diese Situation »tierisch« aufregte, betont sie nochmals deren Sorge darum, dass die Tochter den schulischen Anforderungen nicht gerecht werden könnte und dass ihr so der Zugang zum Gymnasium verwehrt bleiben könnte. An dieser Stelle wird deutlich, welch hohe Bedeutung die Mehrheits- und Schulsprache Deutsch, in der der sogenannte ›Regelunterricht‹ stattfand, im Vergleich zur Familiensprache Türkisch, die außerhalb des ›normalen‹ Curriculums unterrichtet wurde, für die Mutter hatte. Neben der schulischen Position des Türkischen steht dessen bildungsbiographische Bedeutung aus der Sicht der Mutter. Es wird deutlich, wie sehr die Mutter schulische und gesellschaftliche Machtverhältnisse reflektierte, und dass sie einen Bildungsplan für ihre Tochter hatte, in dem strukturelle Benachteiligung durch persönliche/s Engagement und Intervention ausgeglichen werden muss.10 Interessant an der retrospektiven Deutung der Erzählerin ist, dass von ihr nicht der Türkischunterricht an sich, sondern dessen Frequenz und die mangelnde Professionalität des Lehrers in Frage gestellt werden (die gleichzeitig mit Blick auf die schlechte Organisation wieder ein Stück weit entschuldigt wird). Das steht im Einklang mit ihrem an
9 | Zu den politischen Rahmenbedingungen, die den sog. ›Herkunftssprachenunterricht‹ strukturier(t)en, vgl. Reich 1998. 10 | Diese Orientierung der Mutter wurde bereits in der Erzählung über sprachliche Räume sichtbar (Kap. 7.3.1) und stellt offenbar eine Konstante in Günnur Dumans Bildungsbiographie dar.
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anderer Stelle geäußerten Bedauern darüber, im Türkischen keine so hohen Kompetenzen erworben zu haben (Kap. 7.1.1). Insgesamt positioniert sich Günnur Duman hier gegen romantisierende Mehrsprachigkeitsdiskurse, indem sie deutlich macht, dass der ›muttersprachliche Unterricht‹ nicht nur als Kontext gesehen werden kann, in dem Schüler*innen eine Sprache lernen, sondern dass dessen Organisation und die damit verbundene Teilung der Schüler*innen in Mehrheit und Minderheit(en) ganz reale Konsequenzen für ihren schulischen Alltag hatte, die sie nicht positiv bewerten kann. Ganz anders gestaltet sich der Übergang ins Gymnasium in der Erzählung von Ece Erbay. Dieser steht an einer markanten Stelle zu Beginn der biographischen Erzählung. Ece Erbay lässt die Erzählung mit der Migration des Großvaters nach Österreich beginnen und fährt mit der Heirat ihrer Eltern und ihrer eigenen Geburt sowie ihrer Position in der Geschwisterfolge fort. Daran schließt unmittelbar die folgende Passage an: Ece: Also am Ende der vierten Klasse warn meine Eltern fest davon überzeugt, dass ich ins Gymnasium kommen werde, aber meine Volksschullehrerin hatte da so ihre Bedenken, hat gemeint, Ja, wir sollens uns noch mal überlegen, weeil ich ja nicht so gut Deutsch kann, uund ähm meine Eltern waren einfach stur und sie haben gesagt, sie werden mich schon unterstützen, haben mich ins Gymnasium geschickt, in, in aso ebn nach der Volksschule, (1) ähm, sie habm mich auch wirklich sehr unterstützt. (1/24-30)
Die Zeit der Primarstufe wird nicht näher ausgeführt. Die einzige für die Biographin relevante Information an dieser Stelle ist die Frage des Übergangs. Hinsichtlich dessen stehen der Überzeugung der Eltern, dass ihre Tochter ein Gymnasium besuchen wird, Bedenken bezüglich ihrer Deutschkenntnisse gegenüber, die von der Primarstufenlehrerin angemeldet werden. Offenbar ist für die Lehrerin nicht die Bewertung im Zeugnis ausschlaggebend, die ein formales Kriterium für den Übertritt ins Gymnasium darstellt, sondern ein Sprachvermögen jenseits dessen, das aber unerklärt bleibt. Auf den Aushandlungsprozess zwischen Eltern und Lehrerin wird nicht näher eingegangen, es lässt sich aber rekonstruieren, dass die Eltern sehr klare Vorstellungen von möglichen Bildungsoptionen hatten und auch in der Lage waren, diese durchzusetzen. Allerdings zeigt sich im weiteren Verlauf der Erzählung, dass der geleistete Übergang keinen längerfristigen Erfolg mit sich brachte: Ece: ah, ich bin gekommen bis zur dritten Klasse, (1) und äähm, ja, da hatt ich aber auch schon die ersten großen Probleme, sei es – mit den Lehrern, oder auch, aso vom vom Schwierigkeitsgrad her, ((atmet ein)) und irgndwann hat’s dann halt nicht mehr gepasst,
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit und ich hab gesagt: »Ich möcht eigentlich eh nicht mehr in der Oberstufe im Gymnasium sein. Ich möchte in die Handelsakademie, deswegn möchte ich jetzt in eine normale Hauptschule umwechsln und die vierte Klasse dort abschließn, ohne irgendwelche Probleme zu haben.« Int: Mhm Ece: ((atmet tief ein)) dann bin ah ein Jahr also in der vierten Klasse war ich in der Hauptschule, (1) ahm, hatte nur Einser, Int: ((lacht)) Ece: Also deswegn kann ich den Vergleich zwischen Hauptschule und Gymnasium sehr gut ähm nachvollziehen und den Vergleich auch herstelln, ((atmet ein)) es sind zwei unterschiedliche Welten. (1/30-2/14)
»[D]ie ersten großen Probleme« im Gymnasium ortet Ece Erbay zum einen bei den Lehrer*innen, zum anderen beim »Schwierigkeitsgrad«, den sie als allgemeines Charakteristikum des Gymnasiums darstellt. Das Fach Deutsch erwähnt die Erzählerin nicht und weist damit implizit zurück, dass diesbezügliche Bedenken ihrer Lehrerin gerechtfertigt waren. Die sprachliche Verbindung von ›normal‹ und ›Hauptschule‹ in der Rekonstruktion des Schulwechsels macht deutlich, dass die Schülerin Ece sich in einem sozialen Umfeld bewegte, in dem der Übergang in ein Gymnasium als Ausnahme gesehen wurde. Daneben wird im angestrebten Ziel des Besuchs einer Handelsakademie eine Orientierung deutlich, die nicht notwendigerweise ein Studium zum Ziel hatte, aber die Möglichkeit dazu einschloss. Darauf, dass der Wechsel in die Hauptschule möglicherweise doch nicht so selbstverständlich und unproblematisch war, könnte das tiefe Einatmen deutlich machen, von dem der Wechsel eingeleitet wird. Die neue Schulform macht die Erzählerin vor allem an nicht mehr vorhandenen ›Problemen‹ und an den deutlich verbesserten schulischen Bewertungen fest. Zudem positioniert Ece Erbay sich hier aufgrund ihrer schulbiographischen Erfahrungen als ›Expertin‹ für die beiden Schulformen, die sie als »zwei unterschiedliche Welten« bezeichnet. Eine zusätzliche Dimension der Sprache Deutsch wird in der biographischen Rekonstruktion des Übergangs von Afërdita Bushaj deutlich: In ihrer Erzählung ist Deutsch nicht nur als Einzelsprache neben einer anderen Familiensprache bedeutsam, sondern es spielen zwei Varietäten des Deutschen eine Rolle (vgl. Kap. 7.1.2). Nach einem knappen Überblick über die Herkunft ihrer Familie aus Mazedonien und die Betonung ihrer ›Einzigartigkeit‹ aufgrund ihrer sprachlichkulturellen Mehrfachzugehörigkeit (Kap. 7.2.1) rekonstruiert Afërdita Bushaj ihre Schulbiographie:
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Die Erzählerin skizziert die ersten Stationen ihrer »Schullauf bahn« mit deren zeitlichen Eckpunkten und den Bezeichnungen der Institutionen. Der Erklärungsbedürftigkeit des zunächst unvollständigen schulischen Weges begegnet sie mit einem argumentativen Einschub, in dem sie auf den ursprünglichen Plan ihrer Eltern, sie in ein Gymnasium zu »schicken«, eingeht. Afërdita Bushaj war mit diesen Plänen nicht einverstanden und hielt dem Wissen um die eigenen sehr guten schulischen Leistungen eine Gruppe von Gymnasiast*innen entgegen, der gegenüber sie sich im Nachteil in Bezug auf ›Intelligenz‹ und Deutschkenntnisse empfand. Dass sie zum damaligen Zeitpunkt aus eigener Sicht weniger gute Deutschkenntnisse hatte als die homogen dargestellten »Leute dort« im Gymnasium, ist aufgrund des Altersunterschiedes und der Position in der schulischen Lauf bahn nicht überraschend; allerdings betraf dieser Unterschied nicht nur Afërdita Bushaj, sondern auch ihre gleichaltrigen Schulkolleg*innen. Trotzdem empfand sie den Mangel offenbar nur bei sich selbst: Obwohl Afërdita Bushaj »lauter Einser« im Zeugnis hatte, also auch in Deutsch sehr gute Leistungen erzielte, war sie davon überzeugt, die Sprache »nicht so gut« zu beherrschen wie andere Schüler*innen. Ihre Wortwahl »kann nicht so gut Deutsch« spricht dafür, dass es bei dieser Selbsteinschätzung nicht um die Leistungsbewertung im Schulfach geht, sondern um eine sprachliche Fähigkeit, die unabhängig von schulischen Bewertungen existiert. In der Passage über ihre Einschulung in die Primarstufe wurde deutlich, dass Afërdita Bushaj zu Beginn Schwierigkeiten mit der deutschen Bildungssprache hatte (Kap. 8.1.1). Diese führt sie im Interview auf ihren R-Bundesländischen Dialekt zurück, der eine Gemeinsamkeit zu anderen Kindern im Dorf darstellte. Warum sie trotzdem so starke Zweifel an ihren Kompetenzen in Deutsch hatte und davon überzeugt war, dass andere Kinder weniger Schwierigkeiten hatten, wird aus dieser Passage nicht deutlich. Vielleicht lassen sich ihre damaligen Zweifel mit Besonderungen als ›Ausländerin‹ erklären, denen Afërdita Bushaj während der Primarstufe mehrfach ausgesetzt war (vgl. Kap. 8.2.1). Das Vertrauen in die (durch schulische Noten ›zertifizierten‹) eigenen Fähigkeiten und in die übereinstimmenden Ratschläge und bestärkenden Hinweise erwachsener Bezugspersonen war offenbar geringer als stereotypisierende Vorstellungen und Herabsetzungen von Seiten Mehrheitsangehöriger, denen Afërdita Bushaj begegnete. In der Erzählung zeigt sich hinsichtlich eigener Zukunftsvorstellungen jedenfalls eine klare Positionierung und
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widerständige Haltung den Eltern gegenüber. Die wie auch immer selbst eingeschätzten Deutschkenntnisse, die aus der Sicht des ›erzählten Ich‹ so gut sein mussten, dass nicht einmal eine Bewertung mit der Note 1 durch die Lehrer*innen ausreichte, fungieren in dieser Argumentation als Barometer für den weiteren Bildungsverlauf. Das Argument, warum eine Hauptschule »besser« für sie sei, waren die voraussichtlich sehr guten Leistungen, von denen sie annahm, sie auch in der ersten Leistungsgruppe erzielen zu können. Offenbar konnte sich Afërdita Bushaj also besser als ›gute‹ Hauptschülerin denn als möglicherweise nur ›mittelmäßige‹ Gymnasiastin vorstellen. Dass sie allerdings die notwendige Leistung erbrachte, spricht dafür, dass nicht mangelnde Leistungen, sondern eher ein Fehlen an Zugehörigkeitsgefühl für ihre Entscheidung ausschlaggebend war. Afë: Und meine Eltern haben dann irgendwie gemeint »Okay gut, das ist immerhin deine Entscheidung, aber sag niemals, wir hätten Dir nicht diese Möglichkeit geboten« und meine Volksschullehrerin war auch »Geh lieber ins Gymnasium, du hast das Potential« und ich war die Einzige irgendwie dagegen »Nein, ich bleib lieber in der Hauptschule und dort bin ich irgendwie besser aufgehoben.« (2/16-20)
Die Reaktion ihrer Eltern gibt die Erzählerin hier in direkter Rede wieder. Darin wird neben deren Aufstiegsorientierung und dem Respekt gegenüber den Vorstellungen der Tochter auch ein Wissen über Möglichkeitsräume, die über verschiedene Schulabschlüsse geschaffen oder verhindert werden, sichtbar. Der Interviewerin gegenüber werden implizit auch Vorstellungen ›bildungsferner‹ oder uninteressierter Eltern ›mit Migrationshintergrund‹ oder auch von Eltern, die (zu) starken Druck auf ihre Kinder ausüben, zurückgewiesen. Daneben löst die Erzählerin in der Interviewinteraktion die damals geäußerte Erwartung der Eltern, niemals zu erzählen, dass ihr die Möglichkeit für einen Bildungsaufstieg nicht geboten worden wäre, ein. In der wiedergegebenen Äußerung der Lehrerin ist von »Potential« die Rede, ein Begriff, der eine Erwartung für einen größeren zeitlichen Horizont und damit mehr beinhaltet als aktuell bewertete schulische Leistungen, wovon sich das ›erzählte Ich‹ allerdings auch nicht beeindrucken ließ. Afërdita Bushaj schließt das erste Jahr in der Hauptschule mit großem Erfolg ab. Im zweiten Schuljahr raten ihr die Lehrer*innen auf ein Gymnasium zu wechseln, weil sie in diesem Schultyp »gefördert und gefordert« werden könne, was nach einem individuellen Zuschnitt des schulischen Angebots klingt. Erst nach längeren Gesprächen kann die Schülerin davon überzeugt werden, dass es sich beim Ratschlag nicht um einen ›Rauswurf‹ aus der Schule handelt: Sie entscheidet sich nach dem Besuch eines ›Tages der offenen Tür‹ für einen Wechsel ans Gymnasium (2/45-3/18). Diesen begründet sie in der folgenden Passage retrospektiv folgendermaßen:
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TEIL III — Falldarstellungen Afë: Vor allem das Angebot, dass man da viel mehr Mathematik machen kann und die Naturwissenschaften das war das was mich immer sehr interessiert hat als Kind (noch). Int: Mhm Afë: Uund ja ich hab dann eben die zweite Hauptschule beendet – und die dritte Klasse dann hab ich dann im Gymnasium fortgesetzt und hab dann die Unterstufe fertig gemacht und war eben von diesen Naturwissenschaften so begeistert – und dass man da immer da nachgrübeln kann und dass es immer was Neues gibt. (3/4-10)
In ihrer Begründung zeigen sich eine Faszination für Wissenschaft, ein Fokus auf wissenschaftsorientierte Fächer und damit Bilder, die stark mit der Schulform Gymnasium verknüpft sind. Afërdita Bushaj entdeckt ihre Neugierde und ein eigenes Interesse an Schulfächern, und es zeigt sich an dieser Stelle zum ersten Mal eine emotionale Verbindung mit der Schule. Das Fach Deutsch wird nicht mehr erwähnt, was dafür spricht, dass die Leistungen jedenfalls so gut waren, dass sie auch beim ersten Übergang eigentlich nicht in Frage standen. Insgesamt wird deutlich, dass das ›erzählte Ich‹ trotz sehr guter Bewertungen in der Primarstufe und trotz Bestärkung von Seiten der Eltern nicht überzeugt von den eigenen zukünftigen schulischen Leistungen war. Möglicherweise spielten ihre Ausgrenzungserfahrungen als ›Ausländerin‹ in der Primarstufe eine Rolle, möglicherweise fehlten trotz elterlicher Bestärkungen die habituellen Dispositionen, die einen gymnasialen Schulweg in das Selbstkonzept des ›erzählten Ich‹ hätten integrieren können. Vielleicht verfügte die Schülerin auch schon über ein Wissen darüber, dass das Gymnasium eine stark selektive Schulform ist, an der schulischer Erfolg von migrantisch positionierten Schüler*innen eher als Ausnahme gilt. Im Unterschied zu den bisher in diesem Kapitel interpretierten Erzählungen war Deutsch für Simona Popescu und Paola Pascucci kein selbstverständlicher Bestandteil des schulischen Curriculums, da sie ihre Schullauf bahn in Ländern außerhalb des dominant deutschsprachigen Raumes durchliefen. Jenseits dieser ›formalen‹ Gemeinsamkeit lassen sich in ihren biographischen Erzählungen eine Reihe von Unterschieden in der Rekonstruktion der Bedeutung von Deutsch rekonstruieren, denen im Folgenden nachgegangen wird. Nach der Primarstufe in Rumänien, wo sie eine deutschsprachige Schule besuchte, stellt sich die Frage nach der (Schul-)Sprache beim Übergang für Simona Popescu noch einmal: Sim: Und es gab die Möglichkeit für mich irgndw_ irgendwie die deutsche Schule weiterzumachen nur es war weit weg, ungefähr hundert Kilometer entfernt und ich musste dann – sozusagen m_ mit zwölf ausziehen dann im Internat wohnen, meine Mutter, weil ich bin ein Einzelkind, war nicht einverstanden, weil sie hat gesagt, sie hat sich dann so
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit gedacht: »Wenn sie wirklich was mit der deutschen Sprache machen will, dann kann sie auch – nebenbei arbeiten, nebenbei – also was machen, sie muss nicht unbedingt weg von [zu Hause].« Int: [Mh] Sim: Und da bin ich halt in… in… zu Hause geblieben, und dann hab ich leider –, das war irgendwie so diese acht Jahre sozusagen haben mich verhindert sozusagen Fortschritte zu machen. (2/38-3/1)
Simona Popescu berichtet, dass sie die Möglichkeit gehabt hätte, in ein Internat zu ziehen, an dem Deutsch unterrichtet wurde. Für ihre Mutter kam diese Option allerdings nicht in Frage, weil das den Auszug ihrer Tochter im Alter von zwölf Jahren bedeutet hätte. Die Erzählerin plausibilisiert die damaligen Vorbehalte der Mutter zum einen mit ihrer Position eines ›Einzelkindes‹11, zum anderen mit der Möglichkeit, »nebenbei« an der weiteren Deutschaneignung zu arbeiten. In der voranstehenden Passage wird die Mutter in einem anderen Licht präsentiert, und es wird deutlich, dass es in deren Aufstiegsorientierung, die untrennbar mit Deutsch verknüpft ist (vgl. Kap. 7.2.2) und den damit verbundenen schulbezogenen Entscheidungen auch Grenzen gab. Sim: weil in der ersten vier vier in der ersten vier Klasse hab ich mich wirklich so intensiv mit der deutschen Sprache ähm äh – beschäftigt, Int: Mh Sim: ((lacht)) äh und da gabs so acht Jahre sozusagen Pause, weil ab der fünften Klasse gabs wieder sozusagen Wiederholung –, (…) äh wir mussten halt irgendwie so von Anfang an irgendwie alles machen, damit alle Kinder aus dieser Klasse, – damit wir so auf ein gleichn Niveau kommn. Int: Mh Sim: Ich war natürlich bevorzugt, weil ich die deutsche Abteilung besucht habe, aber für mich war das sozusagen schlimm, weil ich hab dann sstagniert oder – ich hab da keine Fortschritte gemacht. (3/1-14)
Die Zeit »zu Hause«, die dann folgt, wird von der Erzählerin unter dem Aspekt der Verunmöglichung von Fortschritten in Deutsch thematisiert. Sie fasst diese Zeit als »acht Jahre sozusagen Pause« zusammen und erklärt das damit, dass ab der fünften Klasse für sie nur noch eine »Wiederholung« des bereits Gelernten stattfand. Die Erzählerin spricht über ihre ehemaligen Schulkolleg*innen in einer relativ distanzierten Weise (»alle Kinder aus dieser Klasse«). 11 | Im Rahmen retrospektiver Deutungen greift Simona Popescu an mehreren Stellen des Interviews auf die Kategorie ›Einzelkind‹ zurück, mithilfe derer sie sowohl Entscheidungen anderer als auch eigene Erfahrungen, Gedanken und Gefühle erklärt (vgl. Kapitel 7, Fußnote 20).
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Die eigene Privilegierung hinsichtlich der Deutschkenntnisse ist ihr im Erzählen bewusst, aber die unterschiedlichen Sprachkompetenzen der Kinder, auf die pädagogisch nicht eingegangen wurde, beschreibt sie als »schlimm« für das ›erzählte Ich‹ und erklärt, dass es zu einer ›Stagnation‹ und einer Unterbrechung von Lernfortschritten kam. Sim: Und dann halt ähm die Oberstufe hab ich – in dem – mh – der Nachbarstadt gemacht, weil – meine Mutter hat gemeint die Schule ist dort besser und es bereitet mich für die Uni vor und so und da – mh meine Professorin hat gesehen, dass die also ne Lehrerin, und die hat gesehen, dass ich doch irgendwie gut bin in Deutsch, – also also ich bin dann, ich kann doch richtig gut Deutsch im Vergleich zu den anderen Schülern, dann hat sie mich gefragt woher ich so gut Deutsch ka_ also – so/(lachend) so gut Deutsch kann/– äh und ich hab gesagt: »Ja ich hab die deutsche Abteilung besucht.« Und dann hat sie gesagt: »Ja ok« – und dann hat sie sich – irgendwie so extra um mich gekümmert, sie=sie hat mit mir so Übungen und Vorbereitungen äh für die – DaF-Olympiade gemacht, deutsche Fremdspracholympiade, weil sie hat gesagt, das ist quasi das – »du kannst das machen, wieso nicht.« Int: Mh Sim: Und dann hab ich halt mit ihr Übungen und so gemacht, und es hat mir irgendwie geholfen, – nur – halt es war so eine komplizierte Person. – Sie war so – sie war glaub ich auch eine deutsche Minderheit ((lacht leise)), sie war eher so irgendwie kalt und sie hatte von mir so große Erwartungen irgendwie, – und äh – ich weiß nicht ganz genau. – Es war nicht so eine tolle/(lachend) Beziehung zwischen uns/also. Weil es gibt so – Lehrer mit denen du dich sehr gut verstehst, ich hab mich mit ihr gut verstanden, nur es war ja so keine Ahnung kompliziert – ich weiß nicht ganz genau. Aber sie hat mir sie mir sozusagen doch weitergeholfen weil es war eine Erfahrung für mich vier Jahre lang in der Oberstufe ann – Olympiaden teilzu_ teilzunehmn. Int: Mh Sim: Einmal hab ich geschafft, bei der Landesphase zu kommn. [((lacht))]/(lachend) ja/ [Wow ((lacht))] Int: (3/16-39)
Der Übergang in die Oberstufe wird unter dem Aspekt des Ortswechsels und der Möglichkeit einer Vorbereitung auf ein Studium thematisiert. Die Schulform lässt sich aus dem Bericht nicht identifizieren, allerdings ist wieder die Mutter diejenige, die die Übergangsentscheidung trifft. Die Erzählerin führt nun eine Lehrerin ein, der die Deutschkenntnisse Simona Popescus auffielen und die sie förderte, indem sie sie auf eine Teilnahme an der DaF-Olympiade vorbereitete. Die Beziehung zur Lehrerin beschreibt Simona Popescu als schwierig. Sie charakterisiert sie als »komplizierte Person« und »eher so irgendwie kalt«, was sie mit einer Andeutung auf deren Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Minderheit in Rumänien zurückführt. Jedenfalls kann Si-
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
mona Popescu durch die Förderung der Lehrerin vier Jahre lang an der DaFOlympiade teilnehmen und wird einmal sogar zur Landesausscheidung zugelassen. Sprache ist in den Erzählungen über schulische Übergänge bei Simona Popescu insofern relevant, als sie die Schulen danach unterscheidet, ob an ihnen eine intensive Beschäftigung mit Deutsch möglich war oder nicht. Die Möglichkeit des Erlernens von Deutsch ist sowohl mit der Entfernung von ihrem Wohnort als auch mit dem Radius elterlicher Einflussnahme verbunden. Wie das ›erzählte Ich‹ damals zu den Entscheidungen der Mutter stand, geht aus der Erzählung nicht hervor, aber in der retrospektiven Deutung wird die Zeit, in der kein Deutschunterricht auf hohem Niveau möglich war, als Unterbrechung in der biographischen Kontinuität der Geschichte mit Deutsch bezeichnet. Dieser Entscheidung schreibt sie im Kontext ihrer Erzählung über das Germanistikstudium weitreichende Folgen zu (Kap. 9.4.1). Insgesamt fällt auf, dass die gesamte Schulbiographie Simona Popescus vor dem Hintergrund ihrer starken und biographisch tief verankerten Beziehung zu Deutsch rekonstruiert wird. In der Rekonstruktion der biographischen Kontinuität dieser Beziehung werden auch Brüche thematisiert. Möglicherweise hat die Rekonstruktion der damaligen ›Pausen‹ die Funktion zu legitimieren, warum Simona Popescu aus eigener Sicht noch nicht das Niveau in Deutsch erreicht hat, das sie sich wünscht. Die biographische Rekonstruktion des Übergangs von Paola Pascucci kann vor allem hinsichtlich der Rolle der Eltern als Kontrastfall zu dem von Simona Popescu gesehen werden: Die Passage, in der sie über ihren Übergang ins Gymnasium spricht, stammt aus dem Nachfrageteil und ist Teil der Antwort auf die Frage der Interviewerin, »wie das in deiner Familie war, also [wie] ihr in der Familie gesprochen habt?« (Interviewtranskript P.P. 8/1-3). Paola Pascucci betont zunächst ganz kurz, dass in der Familie »nur Italienisch« gesprochen wurde und dass Ihre Eltern keine besondere Affinität zu Sprachen hatten (Kap. 7.2.3). Danach macht sie deutlich, dass ihre Begegnungen mit Sprachen in außerfamiliären Kontexten stattfanden: Pao: das war so, dass ich in äh – in der mittleren Schule – eine sehr gute Englisch-Lehrerin hatte, eine sehr sehr gute und, ähm – das hat mich – fasziniert. Und dann, als ich diee – das Gymnasium wählen sollte, also welche Richtung, das war eigentlich ganz neu, dieses liceo linguistico, uund äh – »Okay, ich probier das« und, ähm – man konnte entscheiden – im ersten Jahr, Englisch war Pflicht, die zweite Sprache, zwischen Französisch und Deutsch. Und äh, damals, also es war 2000 ja – gab es ganz viele, das war, es gab ganz viele Deutsche, die in der Toskana alte Häuser gekauft haben und renoviert haben, oder einfach als Touristen es war wirklich da ein Boom – (atmet ein) und äh – (atmet
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TEIL III — Falldarstellungen ein) und die, die rationale Entscheidung () nicht von mir, war, »Ja« und damals – kannten ganz ganz wenige Leuten Deutsch, weil in der Schule gab es eigentlich noch nicht und deswegen – war’s wirklich sch_ also nicht – äh nicht so verbreitet – und eigentlich – ich vom Gefühl her – äh spürte »Ja, ich=ich will diese Deutsch – lernen«. Keine Ahnung wieso, keine Anregungen von außen. (8/9-22)
Als ersten bedeutenden Kontext führt die Erzählerin die Schule ein: In der »mittleren Schule«12 entstand über die Lehrerin, die Paola Pascucci als »sehr sehr gut« bezeichnet, ein Interesse für Englisch. Dieses führt in der Rekonstruktion des eigenen Bildungswegs wie selbstverständlich zu einer Entscheidung für die damals neue Schulform liceo linguistico13, ein Gymnasium mit sogenannter ›neusprachlicher‹ Ausrichtung, in dem Deutsch ein wählbares Unterrichtsfach war. Der zweite Kontext ist ein außerschulischer. Paola Pascuccis Kontakt zu anderen Sprachen als Italienisch erfolgte in ihrer Alltagswelt, und zwar über eine (Sprach-)Gruppe, die in der Toskana zunehmend gesellschaftlich relevant wurde. Die Erzählerin meint, dass zur damaligen Zeit »ganz ganz wenige Leuten« Deutsch konnten und dass die Sprache auch als Schulfach noch nicht etabliert war. In dieser Zeit entwickelte sie ein »Gefühl« und »spürte«, Deutsch lernen zu wollen. Die Erzählerin betont, dass es für dieses Interesse »keine Anregungen von außen« gegeben habe und meint damit wohl den in der Interviewfrage angesteuerten familiären Kontext. In dieser Passage wird die Annäherung an Deutsch als eigene und von elterlicher Förderung weitgehend unabhängige Leistung innerhalb der Bildungsgeschichte konstruiert: Zwar bildete die Familie keinen sprachfördernden und -interessierten Rahmen, aber es gab außerhalb der Familie eine soziale Gruppe, die auf Paola Pascuccis Interesse stieß – möglicherweise in einer Phase des Aufwachsens, in der die Biographin ohnehin interessiert an sozialen Welten war, die sich von derjenigen zu Hause unterschieden. Die Erzählerin konstruiert sich hier also als Pionierin, die auf eine sich gesellschaftlich verändernde Umwelt reagiert, indem sie sich eine gesellschaftlich hoch relevante Sprache aneignet. Hinsichtlich der Bedeutung von Deutsch für den Übergang ins Gymnasium unterscheiden sich die Erzählungen von Simona Popescu und Paola Pascucci deutlich voneinander: Während Simona Popescu die Übergänge als von der Mutter initiierte beschreibt, auf die sie selbst keinerlei Einfluss hatte, hebt Pao12 | Die »mittlere Schule«, auf Italienisch »scuola media«, ist die dreijährige Gesamtschule, die in Italien auf die fünfjährige Primarstufe folgt. 13 | Die Verwendung der italienischen Bezeichnung lässt sich mit dem Wissen der Erzählerin darüber erklären, dass die Interviewerin sehr gut mit dem italienischen Schulsystem vertraut ist.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
la Pascucci ihre eigene Entscheidungskraft hervor. Parallel dazu ist Deutsch Teil des Bildungsprogramms von Simona Popescus Mutter, während Paola Pascucci die Sprache selbst für sich entdeckt. Dem elterlichen Bildungsplan steht somit die Konstruktion eines ›eigenen Projekts‹ gegenüber, das mit dem Sprachenlernen verbunden ist.
8.1.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch im Kontext bildungsinstitutioneller Übergänge Fallübergreifend wurde die Bedeutung sozialer Kategorisierungen für bildungsinstitutionelle Übergänge deutlich. Als maßgebliche Kategorie wurden (zugeschriebene) Kenntnisse in der Sprache Deutsch herausgearbeitet. Der Übergang in die Primarstufe wird fallübergreifend so dargestellt, dass er möglichen Erwartungen an migrationsspezifische ›Probleme‹ nicht entspricht. Während etwa Majda Melić die damaligen Fördermaßnahmen als überflüssig konstruiert, weisen Günnur Duman und Özlem Karaca potentielle Probleme mit Deutsch, die Kindern ›mit Migrationshintergrund‹ häufig zugeschrieben werden, explizit zurück. Diese Form der Entproblematisierung lässt sich als Hinweis auf »erinnerte Fremdpositionierungen aus früheren Interaktionserfahrungen« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a: 180) und damit in Verbindung stehende vermutete Erwartungen von Seiten der Interviewerin interpretieren. In dieser Hinsicht zeigt sich hier eine deutliche Parallele zu Kapitel 7 und der ersten Erinnerung an Sprache als einer ›Leerstelle‹ (Kap. 7.2.1). Afërdita Bushaj hingegen erzählt ausführlich von einem Problem mit Deutsch. Dieses ist allerdings ebenfalls kein migrationsspezifisches, sondern eines, das auch Dialekt sprechende Kinder betrifft. Somit rekonstruiert sie ihren Schulanfang wie auch die anderen beiden Erzählerinnen als einen, den sie mit anderen Mehrheitsangehörigen teilt. Die Erzählerinnen wenden also mit unterschiedlichen Akzentuierungen und erzählerischen Ausgestaltungen ihres eigenen Schuleinstiegs Normalisierungsstrategien an. In Hinblick auf den Übergang in eine weiterführende Schule, vor allem ins Gymnasium, wurde deutlich, dass die Interviewpartner*innen ausschließlich die Bedeutung der schulischen Leistungen im Fach Deutsch als relevant konstruieren. Das österreichische Bildungssystem sieht vor, dass Schüler*innen für einen Übergang ins Gymnasium im Jahreszeugnis »in Deutsch, Lesen und Mathematik keine schlechtere Note als ›Gut‹« und in allen anderen »Pflichtgegenständen« eine positive Leistung erbringen müssen (BMB 2015). Dass in keiner der Erzählungen andere Fächer als Deutsch als übergangsrelevant thematisiert werden, kann zum einen mit der Position des Faches Deutsch als ›Eintrittskarte‹ ins Gymnasium in der ›erzählten Zeit‹ erklärt werden: Sprachliche Leistungen in der Mehrheits- und Schulsprache wurden sowohl von Leh-
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rer*innen als auch von Eltern besonders betont. Dass allerdings auch bei Vorliegen ausreichender schulischer Leistungen im Allgemeinen sowie im Fach Deutsch im Besonderen nicht notwendigerweise eine Gymnasialempfehlung folgte, wird von den Erzähler*innen auf Negativerwartungen in Zusammenhang mit ihrer (damaligen) Positionierung als Migrationsandere zurückgeführt. Entsprechend antizipierte Erwartungen werden auch in der Interviewinteraktion zurückgewiesen, etwa, wenn für das Sprechen über schwierige Übergänge Erklärungsressourcen herangezogen werden, die nicht im Kontext ›Migration‹ oder ›Sprache‹ stehen. An den Erzählungen zeigen sich neben den migrations- und sprachbezogenen Haltungen und Vorannahmen der Lehrer*innen auch sehr hohe Bildungsaspirationen und damit verbundene Leistungsanforderungen der Eltern, denen die Bedeutung der Mehrheits- und Schulsprache als ›Eintrittskarte‹ ins Gymnasium und für damit verbundene Studien- und Berufsmöglichkeiten bewusst war. In diesem Kontext wurde deutlich, dass die Interviewpartner*innen mögliche Vorstellungen über häufig als ›bildungsfern‹ konstruierte Eltern im Kontext von Migration zurückweisen. Alime Alpaslan bedient sich sogar einer kulturalisierenden Deutung, nämlich der Konstruktion von Respekt vor Lehrpersonen als typisch für die ›türkische Kultur‹, um eine Bildungsentscheidung ihrer Eltern retrospektiv zu legitimieren.
8.2 S chulische E rfahrungen von I nklusion , E xklusion und E rmächtigung Nachdem im ersten Teil des Kapitels schulische Übergänge als sprachbiographisch relevant thematisiert wurden, geht es in diesem Teil um Erfahrungen von Inklusion, Exklusion und Ermächtigung in Zusammenhang mit Sprache. Erfahrungen dieser Art wurden bereits in den vorherigen Unterkapiteln thematisiert, sofern sie für Übergänge relevant waren. In diesen beiden Unterkapiteln werden Erzählungen über solche Erfahrungen gebündelt, weil sie sich als wesentliches Element schulischer Erfahrungen rekonstruieren lassen. Zum einen erzählen und berichten die Interviewpartner*innen von vielfältigen Adressierungen, die mit Zuschreibungen von sprachlichem Förderbedarf verbunden waren (Kap. 8.2.1), zum anderen wird deutlich, inwiefern Sprache im hierarchisierten Raum Schule bedeutsam (gemacht) wird (Kap. 8.2.2).
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
8.2.1 Adressierungen als ›Andere‹ und Zuschreibungen von sprachlichem Förderbedarf In ihrer Haupterzählung spricht Günnur Duman kurz über ihre Studienwahl und erwähnt in diesem Kontext Besonderungserfahrungen während ihrer Schulzeit: Gün: und (ja) Deutsch war immer schon mein Lieblingsfach, das Fach, in dem ich immer gut war, und das war immer so etwas Besonderes weil die Lehrer auch immer gesagt haben »Ja du als, ja, quasi, Schülerin mit Migrationshintergrund, du solltest gar nicht so gut sein und du bist die beste also äh in der Klasse besser als wie Schüler und Schülerinnen mit Deutsch als Erstsprache« und ich hab immer so eine gute Beziehung zu meinen Deutschlehrerinnen gehabt also im Gymnasium auch in der Handelsakademie, sie warn immer von mir, begeistert dass ich eben das so gut kann und mitmach. (2/10-17)
Die guten Leistungen in ihrem »Lieblingsfach« Deutsch bezeichnet die Erzählerin als »immer so etwas Besonderes« und führt die Begründung dafür aus der Sicht der damaligen Lehrer*innen in einer generalisierenden Redewiedergabe an. Die Verzögerungspartikel »ja« und die Vagheitsmarkierung »quasi« in der Formulierung »du als, ja, quasi, Schülerin mit Migrationshintergrund« könnten darauf hinweisen, dass sie sich entweder nicht mehr genau an die Bezeichnung für den Status erinnert, den ihr die Lehrer*innen damals zuwiesen, oder aber, dass sie nach einer Bezeichnung sucht, die ihr aus heutiger Perspektive geeigneter scheint als die damals verwendete. Möglicherweise wird ihr die Relevanz einer solchen Anrufung erst in der Erzählung bewusst. Wann bzw. in welcher Schulform oder -stufe die Besonderung als ›Schülerin mit Migrationshintergrund‹ begann, wird aus der Passage nicht klar, aber die zweifache Verwendung des Wortes »immer« deutet darauf hin, dass es eine sehr häufige Erfahrung über einen längeren Zeitraum war. Mit der Ansprache »du als Schülerin mit Migrationshintergrund« nahmen die Lehrer*innen zum einen eine Festlegung Günnur Dumans auf eine bestimmte soziale Gruppe vor. Zudem wurde sie aus einer Negativerwartung heraus gelobt, an der sich starke Vorannahmen zum Zusammenhang von ›Migrationshintergrund‹ und Leistungen in der dominanten Sprache ablesen lassen. Durch die Festlegung auf die Gruppe ›mit Migrationshintergrund‹ führt die Negativerwartung »du solltest gar nicht so gut sein« zu einer Hierarchisierung von Schüler*innen ohne und Schüler*innen mit Migrationshintergrund, von denen die einen hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen im Fach Deutsch als »gut« und die anderen als »nicht gut« konstruiert werden. Es erfolgte eine doppelte Besonderung, in der Günnur Duman zum einen der Gruppe ›ohne Migrationshintergrund‹ untergeordnet, zum anderen aber über ihre sprachlichen Kompetenzen und/oder Leistungen von der Gruppe der Schüler*innen ›mit Migrationshintergrund‹
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herausgehoben wurde, indem sie von den Lehrer*innen als »die beste« Schülerin im Fach Deutsch bezeichnet und hinsichtlich der schulischen Leistungen mit den Schüler*innen »mit Deutsch als Erstsprache« verglichen wurde. Die Erzählerin bezeichnet ihre Beziehung zu ihren Deutschlehrer*innen im Gymnasium und in der Handelsakademie als »immer so […] gut[…]«. Diese waren begeistert, dass Günnur Duman »das«, womit wohl ›Deutsch‹ gemeint ist, so gut konnte, und dass sie sich am Unterricht beteiligte. Neben den als ›besonders‹ gewichteten Deutschkompetenzen der Schülerin war eine andere Komponente ausschlaggebend für die Begeisterung der Lehrer*innen, nämlich, dass die Schülerin »mitmach[te]«. Möglicherweise stellt diese Form der Begeisterung eine Parallele dar in der Hinsicht, dass auch das ›Mitmachen‹ im Fall einer Schülerin ›mit Migrationshintergrund‹ als besonders außergewöhnlich konstruiert wurde und somit zur Begeisterung der Lehrpersonen beitrug. Vergleichbare Erfahrungen machte Özlem Karaca. In ihrer Haupterzählung geht sie nur kurz auf ihre Schulzeit ein und wendet sich dann anderen für sie besonders bedeutsamen Themen zu. Nach dem Ende der Haupterzählung fragt die Interviewerin: »hast du sonst noch Erinnerungen an Schule also jetzt gar nicht mit Sprache also einfach – w=wie warst w=wie war das so in der Schule?« (22/3) Mit der Frage ist zum einen der Kontext Schule angesteuert, zum anderen wird deutlich gemacht, dass es der Interviewerin nicht nur um das bereits zuvor angesprochene Thema Sprache geht, sondern um alle Inhalte, die für die Biographin relevant sind. Özlem Karaca beginnt mit einer evaluierenden Bewertung der Primarstufe als »super« (22/4) und begründet das mit den Lehrer*innen, die sie hatte. Danach berichtet sie folgendes: Özl: »sonst Schulerinnerungen – äh die meisten Lehrer warn immer überrascht, dass ich so gut Deutsch kann – wir hattn – ähm – ich war in einer Schule, da gabs kein Zeugnis, wir hattn nur so ein Studienbuch hat das gheißn und wir ham nur in der Viertn ein Zeugnis bekommen und ich hab letztens jetzt das Studienbuch halt mal so durch gschaut und da steht immer dabei »kann sehr gut Deutsch, kann sehr gut Deutsch« also [/(leicht lachend) das is wohl irgendwie] nicht so selbstverständlich das hams Int: [((lachen))] Özl: [extra noch – immer angeführt –] aahm – die Deutschle_ also die österreichischen Int: [mhm – mhm – mhm – mhm ((lachen))] Özl: Klassenlehrer warn halt begeistert weil ich Deutsch kann. (22/12-21)
Ähnlich wie bei Günnur Duman entspringt die Begeisterung der Lehrer*innen einer Negativerwartung. Vielleicht, um ihre Erinnerung daran mit ›Fak-
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
ten‹ zu belegen, spricht die Erzählerin über ihr damaliges ›Studienbuch‹.14 Sie meint, dieses »letztens […] halt mal so durchgschaut« zu haben. Möglicherweise war das Durchschauen des Studienbuchs Teil ihrer Vorbereitung aufs Interview und diente zur Auffrischung von und Auseinandersetzung mit eigenen Erinnerungen an die Primarstufe. Jedenfalls betont sie, dass im Studienbuch ein starker Fokus auf ihre guten Deutschkenntnisse gelegt wurde, was sie darauf zurückführt, dass diese aus Sicht der Lehrer*innen »wohl irgendwie nicht so selbstverständlich« waren, weil sie »extra noch – immer angeführt« geworden seien. Mit dem »extra noch« verdeutlicht Özlem Karaca, dass das Anführen der sehr guten Leistungen ihrer Ansicht nach über die im Rahmen einer ›normalen‹ Beurteilung notwendigen Leistungsbeschreibungen hinausging.15 Die Markierung der Mehrheitszugehörigkeit der Lehrerin über das Attribut ›österreichisch‹ legt zunächst eine Lesart nahe, der zufolge aus der Sicht der Biographin andere Lehrpersonen, möglicherweise solche ›mit Migrationshintergrund‹16, ihre Beurteilungen vielleicht anders gestaltet hätten oder nicht überrascht oder begeistert von ihren Deutschkenntnissen gewesen wären. Diese Lesart lässt sich aber nicht weiterverfolgen, da offenbar auch die Türkischlehrer*innen die beschriebene Haltung teilten. In weiterer Folge werden der Ratschlag eines Türkischlehrers, dass Özlem Karaca »unbedingt in die Politik [muss]« (22/27-28), wenn sie erwachsen ist und seine Überzeugung, dass aus ihr »einmal was Großes [wird]«, wörtlich wiedergegeben und ausgeführt. Insgesamt wird deutlich, dass Özlem Karaca aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse in der Primarstufe als außergewöhnliche Schülerin betrachtet wurde. Mit diesem Status des Distinktiven war eine Reihe von Erwartungen von Seiten verschiedener Lehrer*innen verbunden. Diese passten gut zu den Aufstiegsplänen der Eltern, die ein Studium und die damit verbundene Möglichkeit einer späteren Einmündung in einen sozial angesehenen Beruf für ihre Tochter als alternativlos ansahen. Als ›außergewöhnliche‹ Schülerin wurde auch Afërdita Bushaj in der Primarstufe betrachtet, allerdings auf eine ganz andere Weise. Die Erzählerin berichtet von Ausgrenzungserfahrungen in der Primarstufe, die sie mit einer Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdpositionierung einleitet: »obwohl ich mich nie als Ausländerin gefühlt habe aber – gut ich 14 | Sogenannte ›Studienbücher‹ stellen in der Primarstufe in Österreich eine Alternative zur traditionellen Beurteilung mit Ziffern dar (vgl. Schulentwicklung o.J.). 15 | Die Reformulierung »die Deutschle_ also die österreichischen Klassenlehrer« lässt sich damit erklären, dass Lehrer*innen in der Primarstufe nicht nur für ein Fach zuständig sind und üblicherweise als ›Klassenlehrer*innen‹ bezeichnet werden. 16 | Zu Lehrer*innen ›mit Migrationshintergrund‹ vgl. Akbaba 2015, 2017; Bräu et al. 2013; Fereidooni 2012.
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wurde eben so bezeichnet« (8/9-10). Nach einem Beispiel aus dem Turnunterricht, in dem das ›erzählte Ich‹ trotz sehr guter sportlicher Leistungen17 immer als letzte in die Mannschaft gewählt wurde, was die Erzählerin auf den Status als ›Ausländerin‹ zurückführt, erzählt Afërdita Bushaj von einer Situation, in der deutlich wird, welche Bedeutung Sprache in ihrer Schulzeit spielte: Afë: und einmal kann ich mich erinnern, da ha_ hatten wir einen Aufsatz zu schreiben, ich glaub eine Personenbeschreibung, und eine Klassenkollegin von mir – die hatte ein also sie hat m_ ahm – wir hatten das auf so einen Zettel schreiben müssen weil wir das dann in der Klasse aufgehängt haben – uund ich hab mir ihren Aufsatz eben durchgelesen ohne mir irgendwas dabei zu denken und ich glaub sie hatte ihre=ihre Mutter oder ihren Vater beschrieben und ich hab halt ein paar Rechtschreib-/(lachend) -fehler gefunden/((lacht)) und ich hab das wirklich nett gemeint (und) ich/(lachend) hatte gemeint so: »Da fehlt eben bei/(lachen) Jogging ein – Ge/« ((lacht)) – und da – da war dann so eine Wow-Diskussion, dass eine Ausländerin ah eine – Muttersprachlerin quasi ah ausbessert und das sollte doch gar nicht so der Fall sein un_ und so weiter und so fort und und solche Geschichten eben (1) und – das war für mich irgendwie so dieses – mit solchen Sachen konfrontiert zu werden als Kind ich hab wie gesagt nur ich habs eben gut gemeint und – in dem Moment hab ich mich aber so weggestoßen gefühlt von=von der einen Klassenkollegin, dass das irgendwie ja – dass das ein Horror ist, dass ich sowas ausbessere und so weiter und was mich überhaupt d_ ah die Personenbeschreibung von ihren Eltern interessiert und so weiter. (8/25-41)
In der erzählten Situation aus ihrer Primarstufe wird die (Re-)Konstruktion einer Hierarchie auf der Basis von Nationalität und Sprache deutlich: Afërdita Bushaj machte eine Klassenkollegin, die als »Muttersprachlerin« beschrieben wird, auf einige Rechtschreibfehler in deren Aufsatz aufmerksam. Die Erzählerin betont ihre damals »nett gemeint[e]« Absicht, die sie durch den wörtlich rekonstruierten Hinweis an die Kollegin untermauert, der keine Degradierung der schreibenden Person, sondern eine Beschreibung des Fehlers enthält. Es folgte in der Klasse eine »Wow-Diskussion«, die die Aufrechterhaltung der erwähnten Hierarchie zum Inhalt hatte: dass eine »Ausländerin« die Fehler einer »Muttersprachlerin« korrigiert, wird als außerhalb der bestehenden oder gewünschten Ordnung stehende Möglichkeit beschrieben. Interessant ist an dieser Stelle die Vermischung der nationalen und sprachlichen Markierung der Schüler*innen: die auf Sprache bezogene Markierung »Muttersprachlerin« ist positiv konnotiert, während die auf Nation bezogene Markierung »Ausländerin« eine negative Konnotation enthält und Afërdita Bushaj auf ihren Platz 17 | Die Erzählerin berichtet ausführlich (7/28-10/5) von ihrer Mitgliedschaft in einem Fußballverein, mit dem sie intensiv trainierte und den sie in einem Zeitraum, den sie als »Pubertät« bezeichnet, verlässt.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
außerhalb der Nation und – symbolisch – außerhalb der Gruppe derjenigen verweist, die das Recht auf sprachliche Korrektur anderer haben, vor allem, wenn diese als ›Muttersprachler*innen‹ positioniert sind. Aus der Wendung »und so weiter und so fort und und solche Geschichten eben« geht hervor, dass die eben erzählte »Geschichte« nicht die einzige dieser Art war, und gleichzeitig wird auf eine Meta-Perspektive übergeleitet, in der die Erzählerin über ihre damalige Erfahrung mit einem als gewaltvoll erlebten Akt (»weggestoßen gefühlt«) spricht. Der gut gemeinte Ratschlag des ›erzählten Ich‹ wird als »Horror« bezeichnet, und die formale Korrektur wird als Eingriff in die Privatsphäre der Mitschülerin, deren Text ›korrigiert‹ wurde, interpretiert: »was mich überhaupt d_ ah die Personenbeschreibung von ihren Eltern interessiert«. Dass der Vorfall nicht ohne Folgen blieb, wird im weiteren Verlauf deutlich: Am nächsten Tag kam die Mutter der Kollegin in die Schule und warf Afërdita Bushaj vor, ihre Tochter zu ›belästigen‹. Eine Lehrerin forderte eine Erklärung von der Mutter, die aber ihrerseits darauf bestand, dass der ›Vorfall‹ gemeldet wurde, woraufhin Afërdita Bushajs Eltern in die Schule eingeladen wurden und die Direktorin informiert wurde. Die Lehrerin und die Direktorin standen gemeinsam hinter Afërdita Bushaj und wiesen sowohl die Vorwürfe der Mutter als auch ein in Umlauf gebrachtes Gerücht, wonach sie »handgreiflich« geworden wäre, als unbegründet zurück. Die Situation in Afërdita Bushajs Schulklasse wurde über einen längeren Zeitraum von der Lehrerin ›beobachtet‹, und nachdem nichts Auffälliges festgestellt wurde, beruhigte sich die Lage (8/42-9/14). Die hohe Relevanz dieser Geschichte für ihren weiteren Lebensweg beschreibt die Erzählerin wie folgt: Afë: das war irgendwie so – auch ausschlaggebend für meinee – weiteree Laufbahn – weil ich auf das dann immer mehr geschaut habe – diese Ausgrenzungen in der Klasse egal – ob es jetzt um die Sprache geht, ob es jetzt um die Herkunft geht, oder ob es um irgendwelche anderen Aspekte geht warum Leute in der Klasse dann ausgegrenzt werden. (9/28-32)
Die Erzählerin weist dieser Schlüsselerfahrung hohe biographische Wirksamkeit zu: Sie meint, dass sie seither immer »Ausgrenzungen« jeglicher Art und unabhängig von Diskriminierungsfaktoren im Blick behielt, wobei sie ›Sprache‹ als erste Kategorie nennt. Es ist unklar, ob die Erzählerin mit »Lauf bahn« ihre weitere Zeit als Schülerin meint, oder ob sie sich auf ihre Erfahrungen als Lehrerin bezieht. Jedenfalls schreibt sie der damals erlebten Situation eine besondere und langanhaltende Bedeutung für ihre Aufmerksamkeit in Richtung sozialer Ausgrenzung zu. Hinsichtlich der retrospektiven Haltung zu Geschehnissen während der Schulzeit finden sich in der Rekonstruktion von Milan Pavić Parallelen zu der
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von Afërdita Bushaj: Im Nachfrageteil bittet die Interviewerin den Erzähler, noch einmal auf seine Deutschaneignung im Kindergarten, die er bereits in seiner Haupterzählung kurz thematisiert hatte, einzugehen. Im Rahmen einer ausführlichen Kritik an aktuellen sprach- und bildungspolitischen Diskursen, denen der Erzähler widerspricht, indem er seine eigene Deutschaneignung zum Beispiel nimmt, erzählt er ganz kurz, dass er zu Beginn der Primarstufe von einem Mitschüler als »Ausländer« abgewertet wurde (13/11-17). Weit ausführlicher erzählt er im Anschluss von Erfahrungen seines Bruders: Mil: Also (1) vor allm – mein Bruder, hat ja auch eine tolle Geschichte, ähm, also das is die beste Geschichte die ich in meiner äh, Laufbahn erlebt habe, von einem Schüler, (in einer…) Das war nämlich so, dass er – in der Hauptschule war und, es kam jemand hinein und, hat gesagt »Ja, nach der sechsten Stunde gibt es… oder nach der fünften Stunde gibt es noch – Zusatzunterricht Deutsch, für Ausländer!« (1) Okay passt mein Bruder geht nach der fünften Stunde nach Hause – die Lehrerin ruft ganz panisch an bei uns zu Hause »Ja, da Bojan ist nicht in der Schule!« und die Mama, »Ja der is ja daheim! Die hatten ja nur fünf Stunden heute.« – Und, ähm – dann sagt die »Ja, na is noch, Ausländerunterricht quasi also ff_ Unterricht für die, für die Ausländer!«, und, meine Mutter »Ja,« es tut – tut ihr leid, er kommt halt das nächste Mal oder wie auch immer – und mein Bruder (sagt so), »Aber warum? Ich bin doch kein Ausländer!« (1) Ja? Na, also – Ja. Int: Mhm Mil: Da merkt man irgendwie (1) dass das, ja, er sich nicht mehr als, als, sag ich mal – Ausländer sieht, ja? Oder, warum sollte er (einfach), ja? (Mein er is_) – er ist, einfach ein (1) Österreicher, (nm?) – (Der lebt hier fühlt sich hier zu Hause). (1) Aber das – Hm diese Geschichte erzähl ich, total gerne weil ich einfach… – (da=da) da sieht man einfach, was in so einem Kind vorgeht!=(Ich mein da war der) (1) elf – schätz ich, und, (naja er,) sieht sich halt nicht als Auslän_ Ausländer! (Das war…) Er war nicht damit gemeint! (1) Und er hats offensichtlich verstanden. Also er, kann ja Deutsch (lacht leise) und, hat das nicht… Erstens ha_ – »Ausländer«, hat er, wahrscheinlich gleich abgeschaltet und, nicht mehr zugehört, und, »Förderunterricht in Deutsch« (1,5) wozu, ja? Also (2) ja. (3) S eine_ s is eine, tolle Geschichte die hm… Dafür lieb ich ihn, ja? [(lacht)] für diese [(lacht leise)] Int: Mil: Geschich_ Allein für… dafür, ja?=Das war ein, toller Beitrag/(lachend) irgendwie!/(lacht) Int: (lacht leise) Mil: Ja. (4,5) Ja. (Okay. – Ds war) (1) ganz intressant. (19/43-20/18)
In der Einleitung zur Geschichte baut Milan eine hohe Erwartungshaltung bei der Interviewerin auf: »eine tolle Geschichte […] die beste Geschichte die ich […] erlebt habe«. Auffallend ist die Wendung »in meiner äh, Lauf bahn […]«: An Milan Pavićs Erzählung fällt an mehreren Stellen das Bemühen auf, sich auf eine elaborierte Weise auszudrücken. Auch wenn das manchmal dazu führt, dass er Begriffe verwendet, die nicht ganz passend sind, zeigt sich darin sei-
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
ne Selbstkonstruktion als ›sprachbegabte‹ Person auch performativ. Obwohl der Begriff ›Lauf bahn‹ an dieser Stelle eher unpassend ist, wird darin, in Verbindung mit der Wendung »von einem Schüler«, möglicherweise der professionelle Blick eines angehenden Lehrers auf diese Geschichte sichtbar. Nun folgen relativ unpräzise Hintergrundinformationen bezüglich des zeitlichen und räumlichen Kontexts, in dem sich die Geschichte zugetragen hat, in den die Interviewerin eingeführt wird (»Hauptschule«, »jemand«, »hinein«). Diese Kontextualisierung verdeutlicht, dass für das Verständnis der Pointe nicht die beteiligten Personen oder der Ort, sondern das nun Folgende relevant ist, nämlich eine in direkter Rede wiedergegebene Ankündigung, dass nach Schulende noch »Zusatzunterricht Deutsch für Ausländer« stattfinden würde. Die fehlenden Informationen zum Kontext führen dazu, dass der ›Zusatzunterricht‹ wie eine beliebige, mitten im Schuljahr spontan getroffene Entscheidung und wenig durchdachte Maßnahme präsentiert wird, von der nicht klar ist, von wem sie ausging, wer sie ankündigte (»jemand«) und wie sie im Curriculum verankert war. Der Ausrufesatz macht jedenfalls den institutionellen Zugriff auf diejenigen Schüler*innen deutlich, die von der Maßnahme betroffen und somit gezwungen waren, nach Schulende für weitere Unterrichtseinheiten in der Schule zu bleiben. Die für den Deutschkurs anvisierte Zielgruppe »Ausländer« verweist auf die institutionelle Annahme oder Überzeugung eines Zusammenhangs zwischen der (zugeschriebenen) Nationalität der Schüler*innen und ihren (als defizitär angenommenen) Deutschkenntnissen sowie damit verbundenen Förderbedarfen. Der Anruf der Lehrerin bei Milan Pavićs Familie zeigt zudem, dass es offenbar eine schulinterne Klassifikation mit eindeutigen Differenzierungen gab und dass eine Selbstzuordnung von Schüler*innen oder eine Zuordnung von Seiten deren Familien nicht erwartet oder erwünscht wurde. Zudem zeigt sich, dass die Anwesenheit im ›Zusatzunterricht‹ auch kontrolliert wurde. Ob der Begriff »Ausländer« zur erzählerischen Stilisierung gehört oder in der damaligen Schule des Bruders eine gebräuchliche Bezeichnung war, ist unklar. Jedenfalls trägt die Verwendung des Begriffes in der Interviewsituation nicht dazu bei, die damals beteiligten Pädagog*innen, insbesondere die telephonierende Lehrerin, als in sprachlichen Fragen professionell agierende Expert*innen darzustellen. Zudem fällt an der inszenierten Erklärung der damaligen Lehrerin auf, dass der Deutschunterricht gar nicht mehr vorkommt und dass nur noch der Begriff »Ausländer« – zwei Mal stark betont – im Zentrum steht, und somit der Inhalt hinter die Kategorie zurücktritt. Von Seiten der Mutter folgen in der Interaktionssituation mit der Lehrerin weder eine Rechtfertigung noch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kategorie: sie wahrt die Höflichkeit und vertröstet die Lehrerin auf das nächste Mal. Für den jüngeren Bruder hingegen ist klar, dass er die Kategorisierung ablehnt. Als Beleggeschichte im Rahmen von Milan Pavićs Ausführungen zu
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seinen Erfahrungen mit Sprache in der Schule trägt die Geschichte dazu bei, eine Überforderung der Institution mit migrationsbezogenen Fragen zu verdeutlichen und deren als unzureichend eingestufte Auseinandersetzung mit Begriffen in diesem Kontext zu kritisieren. Auf die Frage der Interviewerin nach den Erfahrungen des Interviewpartners folgt nun schon zum zweiten Mal ein Beispiel, das seinen Bruder betrifft. Milan Pavić selbst machte die Erfahrung, in seiner Schulklasse als »Ausländer« bezeichnet zu werden. Die Verwendung dieses Begriffs von Seiten Professioneller in Kombination mit sprachbezogenen Zuschreibungen und den verpflichtenden ›Förderungen‹ decken – jenseits vom Linguizismus einzelner Lehrer*innen – auf, wie falsch und uneindeutig die von der Institution selbstverständlich verwendeten Zuschreibungen für die Schüler*innen waren, und dass es die Subjekte, für die die Institution Deutschkurse organisierte, gar nicht gab bzw. dass diese sich nicht angesprochen fühlten. Wenngleich die Erzählung deutlich macht, wie sehr Fremd- und Selbstzuschreibung aufeinanderprallten, steht bei dieser Geschichte nicht die Skandalisierung der Institution im Vordergrund, sondern die Souveränität des Bruders im Umgang mit der Unangemessenheit der Adressierung: Diese wird nicht mit einem ›objektiven‹ Faktum zurückgewiesen – etwa mit dem Verweis auf den österreichischen Pass des Bruders –, sondern mit dem Hinweis auf dessen Gefühl (»fühlt sich hier zu Hause«) und darauf, dass er das Differenzierungssystem der Schule schon als Zehnjähriger durchschaute. Dass Milan Pavić meint, seinen Bruder allein wegen dieser Geschichte zu lieben, zeigt möglicherweise über die Sympathie hinaus auch die Freude über diese Geschichte, die er immer erzählen kann, wenn es darum geht, besondernde Zuschreibungen zu ›entlarven‹. Wofür oder für wen genau die Geschichte aus Milan Pavićs Perspektive ein ›toller Beitrag‹ war, ist nicht ganz eindeutig. Möglicherweise ist ein Beitrag für die Familiengeschichte gemeint, möglicherweise auch ein Beitrag mit einer politischen Dimension, den der Erzähler für die Ausbildung von Lehrer*innen relevant und deshalb auch für den Kontext des Interviews interessant findet. Wie an anderen Stellen des Interviews (13/11-15/10) wird hier deutlich, dass Geschichten eine Form sind, in der Milan Pavić seine Kritik an gesellschaftlichen Phänomenen besonders gut zum Ausdruck bringen kann. Daneben zeigt sich, dass er – mit Ausnahme der ›Ausländer‹-Geschichte zu Beginn – keine Geschichten erzählt, in denen er selbst Opfer von Rassismus oder von defizitorientierten Zuschreibungen wird. Möglicherweise ist der Fokus auf andere Personen auch eine Möglichkeit der Distanzierung zu eigenen Rassismuserfahrungen. An der mehrfachen Verwendung und Betonung des Begriffs ›Ausländer‹ in der Passage, in der er auf eine Frage der Interviewerin nach dem Deutscherwerb antwortete, wird deutlich, dass diese Kategorie offenbar häufig im Zusammenhang mit Sprache verwendet wurde und nicht nur in der
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
Bildungsbiographie von Milans Bruder, sondern auch in seiner eigenen, eine Rolle spielt(e).
8.2.2 Hierarchisierungen von Sprachen im Raum Schule In diesem Kapitel geht es um die Bedeutung von Sprache im hierarchisierten Raum Schule: In mehreren Erzählungen wird deutlich, dass die Schule als ein von Sprachge- und -verboten durchzogener Raum beschrieben wird, in dem unterschiedliche Ein- und Ausschlüsse sowie Hierarchisierungen entlang der Differenzlinie ›Sprache‹ stattfanden. Dabei werden sowohl Einzelsprachen und deren Varietäten als auch Bildungssprachen thematisiert. In der folgenden Passage, die der Rekonstruktion ihrer Schulzeit entstammt, spricht Afërdita Bushaj über Sprachverwendung in der Oberstufe: Afë: aahm – in – in der Oberstufe wars dann auch so, (1) dass dann auf einmal geheißen hat – ich weiß das hört sich absurd an aber es war wirklich so auf [einmal] bis zu [((lacht leise))] Int: Afë:/(lachend) dem Zeitpunkt/haben wir eben immer im Dialekt geredet untereinander mit den Klassenkolleginnen und auch mit den Lehrkräften immer im Dialekt – und dann so zwei drei Jahre vor der Matura kam so: »Ja jetzt müssen wir/(lachend) lernen/ [((lacht))]/(lachend) ordentlich zu reden/« [((lacht))] und/(lachend) ich denk mir »Was [((lacht))] Int: [((lacht))] Afë: is jetzt ordentlich zu reden/« ((lacht)) (30/35-43)
Die Erzählerin identifiziert einen Zeitpunkt, ab dem von den damaligen Schüler*innen erwartet wurde, dass sie »ordentlich« reden. Sie hebt die Abruptheit der damaligen Ankündigung hervor, indem sie zweifach darauf hinweist, dass die Anforderung einen unerwarteten und unvorbereiteten Einschnitt in eine gewohnte Sprachpraxis darstellte. Dass die Erzählerin die plötzlichen Anweisungen auch aus heutiger Perspektive noch »absurd« findet und davon ausgeht, dass das auch die Interviewerin tut,18 erklärt sie damit, dass bis dahin alle »immer«, was sie zweifach betont, im Dialekt miteinander gesprochen hatten und konkretisiert, dass der Dialekt nicht nur die Kommunikationssprache unter den Schüler*innen, sondern auch die zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen war. Den Zeitpunkt, an dem plötzlich eine andere Sprache gefordert wurde, grenzt sie mit »so zwei drei Jahre vor der Matura« ein, womit implizit deutlich wird, dass die Sprachregelung in Zusammenhang mit sprachbezogenen Erwartungen bei der Maturaprüfung stand. Die Lehrer*innen erwarteten 18 | Das wird daran deutlich, dass sie darauf hinweist zu wissen, dass sich das von ihr Erzählte »absurd« anhört.
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also »auf einmal« von den Schüler*innen zu lernen, »ordentlich zu reden«. Die damals erwartete Sprache, die jedenfalls nicht Dialekt sein durfte, wurde nicht als ›Standard‹, ›Hochsprache‹ oder ›Hochdeutsch‹ bezeichnet, sondern als »ordentlich reden«, womit Sprachgebrauch auf mündliche Produktion eingeschränkt und der Dialekt darüber hinaus implizit als ›unordentliche‹ Sprache degradiert wurde. An dieser Stelle lacht die Erzählerin, möglicherweise wegen der Absurdität der damaligen Situation und/oder der Bezeichnung für die geforderte Sprache. Das Lachen während der Formulierung der damaligen Perspektive einer ›Wir‹-Gruppe (»Ja jetzt müssen wir lernen ordentlich zu reden«) könnte auch deutlich machen, dass es aus dieser Perspektive verwunderlich war, dass den Schüler*innen implizit mitgeteilt wurde, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die Lehrer*innen bis zu diesem Zeitpunkt nicht »ordentlich« geredet hatten. Zudem weist die Erzählerin abschließend durch ihre rhetorischen Fragen kritisch auf den Konstruktionscharakter des ›ordentlich Redens‹ hin. Afë: [/(lachend) ja und] da haben wir dann oft so mündliche Prüfungen – aahm – machen Int: [((lacht))] Afë: können – in Geschichte und in Geographie um einfach – ahm – die Ar_ Artikulation dann auch zu üben und nicht so im tiefsten Dialekt ((Glas wird vom Tisch aufgenommen)) vor jemanden zu treten sondern – man hat immerhin eine Maturaprüfung wenn man mündlich ((Glas wird auf dem Tisch abgestellt)) antretet so – dass man da ordentlich [spricht]/(lachend) [eben]/uund für mich da_ das war eine=eine große [Mhm mhm ((lacht))] [Mhm] Int: Afë: Herausforderung – es war wirklich eine große Herausforderung weil Standarddeutsch kannte ich ausm Fernsehen – im Kopf währendm Lesen – aber so dass ich’s anwende wars dann eben nur durch diese Prüfungen in der Schule aber sonst in meinem Alltag kam das niemals vor – uund – ja das hab dann wirklich üben müssen. ((lacht)) (30/45-31/12)
Die Erzählerin spricht über die Möglichkeit, in zwei Fächern »so mündliche Prüfungen« machen zu können, um die »Artikulation« zu üben. Als Ziel gibt sie an, nach dem Üben nicht mehr »im tiefsten Dialekt vor jemanden zu treten«. Diese Formulierung verweist auf die Vorbereitung auf eine formale Situation, wahrscheinlich konkret die Situation während der mündlichen Maturaprüfung. Die Wendung »tiefster Dialekt« illegitimiert Dialekt in Prüfungssituationen und konstruiert darüber hinaus eine Hierarchisierung, in welcher der Dialekt im Vergleich zum Standard eine niedrigere Position einnimmt. Zudem lässt sich eine Hierarchisierung mehrerer Formen des Dialekts identifizieren, von denen »tiefster Dialekt« am wenigsten gewünscht und für eine Prüfungssituation am wenigsten geeignet ist. Interessant ist auch, dass das »ordentlich sprechen« an der Artikulation festgemacht wird, was auf
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
eine laienlinguistische Sicht auf den Unterschied zwischen Standard und Dialekt verweist. In weiterer Folge wird die zu übende mündliche Prüfungssituation bei der Matura konkret benannt, und die Erzählerin betont noch einmal, dass es im Kontext der Prüfung wichtig sei, dass man ordentlich »spricht«. Die Betonung der Fertigkeit könnte darauf hinweisen, dass auch andere Elemente bei der Prüfung ›ordentlich‹ sein mussten, und dass das Sprechen nur eines davon war. Möglicherweise betont die Erzählerin das Sprechen auch als Gegensatz zum Schreiben, das offenbar schon den Anforderungen entsprach, da es schon lange praktiziert wurde und nicht mehr gesondert geübt werden musste. Retrospektiv erklärt sie, dass diese Form des Sprechens, die sie an dieser Stelle als »Standarddeutsch« bezeichnet, damals »eine große Herausforderung« für sie war. Diese begründet sie damit, dass sie Standarddeutsch nur aus der rezeptiven Beschäftigung kannte. Dass die Lehrer*innen Standard forderten, ihn aber im schulischen Alltag offenbar selbst nicht verwendeten, verwundert an dieser Stelle und macht deutlich, dass die mündlichen Maturagespräche Situationen waren, in denen auch die Lehrer*innen eine ihnen eher unvertraute Sprache von den Schüler*innen erwarteten. Dass der Terminus »Standard« erst in der Reflexion des ›erzählenden Ich‹ vorkommt, spricht dafür, dass die im schulischen Kontext geforderte Sprache von den damaligen Lehrer*innen tatsächlich nicht mit einem fachlichen Terminus, sondern mit »ordentlich sprechen« benannt wurde. Diese Form des Sprechens hat die Erzählerin offenbar so stark verinnerlicht, dass sie nicht nur als Anforderung der Lehrkraft, sondern als solche der Situation präsentiert wird. Insgesamt zeigt sich an der Stelle, dass in der Schule eine Hierarchisierung von Sprachen wirksam war, die aber erst mit Blick auf die Vorbereitungen zur mündlichen Matura relevant wurde. Die Benennung der von den Lehrer*innen »auf einmal« geforderten Sprache als »ordentlich sprechen« weist darauf hin, dass diese nur eingeschränkt über linguistisches Wissen verfügten und Sprachverwendung nur im begrenzten Horizont einer bald anstehenden mündlichen Prüfung betrachteten, deren Anforderungen auch ihren eigenen sprachlichen Gewohnheiten im Kontext Schule nicht entsprachen. Möglicherweise erklärt das auch ihren Umgang mit Sprache und die für die Schülerin als ›plötzlich‹ und zunächst nicht nachvollziehbar empfundene Forderung nach einer Sprache, die vielleicht auch in der Lebenswelt der Lehrer*innen keine Rolle spielte. Afërdita Bushaj jedenfalls betont an dieser Stelle ihre Schwierigkeit mit der Standardsprache und führt mögliche Schwierigkeiten damit auf ihren österreichischen Dialekt und nicht auf Albanisch zurück. Das stellt inhaltlich eine starke Parallele zur Passage über ihre Einschulung dar (Kap. 8.1.1). Damit positioniert die Erzählerin sich noch einmal ganz klar als ›muttersprachige‹ Dialektsprecherin und weist migrationsgesellschaftliche Zuschreibungen und defizitorientierte Sicht-
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weisen auf Lerner*innen des deutschen Standards mit anderen ›Muttersprachen‹ als Deutsch zurück. Eine ganz andere Rolle spielt der Dialekt in der Schulzeit von Jonas Balta: Nach der Rekonstruktion seines Umzugs von Deutschland nach Österreich und seines ›Verstummens‹ (Kap. 7.2.1) fährt Jonas Balta mit einer Reflexion seiner Erfahrungen an den ersten Bildungsinstitutionen fort: Jon: (3,5) Jo. (I mein), Kindergarten und Volksschule donn woan donn für mi jetz, jo, ned unbedingt a besonders leichte Zeit, oiso wenn Leute gerne… wenn die des so gerne reden von der unbeschwerten Kindheit, muss i sagn, des hab i jetz nur zum Teil gekannt. Oiso i woa, sicher nicht nur, oba auch, wegen meiner Herkunft, die ma mir ebm ois Kind noch überdeutlich angehört hot, und die holt in S-Bundesland, vor allem damals, oba zum Teil a bis heute, (holt) etwas Ungewöhnliches war, Int: Mhm Jon: hot ma mi holt im Kindergarten und in der Volkschule, hm, ned besonders freundlich behandelt, sog i amol so. (2/24-32)
Nach einer kurzen Pause bewertet der Erzähler die Phase, in der er in den ersten beiden Bildungsinstitutionen in Österreich war, pauschal als »ned unbedingt a besonders leichte Zeit«. Die Einschätzung seiner frühen Erfahrungen in diesen Bildungsinstitutionen kontrastiert er mit Einschätzungen anderer, die von einer »unbeschwerten Kindheit« erzählen, wozu er meint, das »nur zum Teil« gekannt zu haben. Er erzählt, dass »ma« ihn im Kindergarten und in der Primarstufe »ned besonders freundlich behandelt« habe. Das »ma« enthält einerseits keine Hinweise auf konkrete Akteur*innen und weist andererseits auf eine allgemeine Behandlung hin, die sich auf Kolleg*innen und Lehrer*innen beziehen könnte. Als eine mögliche Ursache für die nicht so freundliche Behandlung nennt der Erzähler seine »Herkunft«, von der er meint, man habe sie ihm damals »überdeutlich angehört«. Das Erkennen dieser nicht näher definierten ›Herkunft‹, die im Kontext des bereits Erzählten als ›Herkunft aus Deutschland‹ verstanden werden muss, beschreibt er als zur damaligen Zeit in S-Bundesland ungewöhnlich. Jon: ebm… (1) Oiso wos i mi hoit so erinnern kann, obwohls nur noch schwach is, natürlich, die Erinnerung, woa ebm, dass ma sich oft ebm über mei Sprache lustig gemacht hat und so… (1,5) I mein, des war sicher ned der einzige Grund, warum i s schwierig gehabt hab, i woa sicher ois Kind (1) ned/(schmunzelnd) unbedingt der einfachste Mensch, denk i/, es hot sicher/(schmunzelnd) noch andere Gründe gegebm, warum/ es ebm so war, wie es war, aber holt ebm die… (a fremde) Herkunft trogt sicher… hot sicher was dazu beigetragen, hm, des konn i a vergleichen zum Beispiel mit mein Bruder! Der woa donn später, im Kindergoarten und a in der Volkschule, in/(schmunzelnd) für
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit S-Bundesländische Verhältnisse relativ internationalen Klassen,/oiso do hots immer nebm ihm no drei, vier weitere gegebm, (1,5) wo jetz ebm… die jetz ned in S-Bundesland verwurzelt warn, sog i amol so, Int: Mhm mhm mhm Jon: i woa aber, zumindest a zeitlang, wirklich (1) tatsächlich des/(schmunzelnd) einzige Kind mit (1) nicht-österreichischen Eltern,/des ebm woanders geboren worden ist, das seine Wurzeln woanders hot ois jetz in S-Bundesland. (2/36-3/4)
Die euphemisierend als »ned besonders freundlich« beschriebene Behandlung wird in der Folge konkretisiert: Jonas Balta gibt seine Erinnerung daran wieder, dass »ma« sich oft über seine Sprache lustig machte. Wieder bleiben die Akteur*innen im Dunkeln. In der Folge führt er seine Überzeugung an, dass seine Sprache »sicher ned der einzige Grund« für die Behandlung anderer war. Als weiteren möglichen Grund führt er an, als Kind »ned/(schmunzelnd) unbedingt der einfachste Mensch« gewesen zu sein, was zunächst nicht konkretisiert wird. Als weitere Facette, die in Zusammenhang mit seiner Sprache steht, geht er noch einmal auf seine »fremde Herkunft« ein. Interessanterweise distanziert sich Jonas Balta nicht von einer essentialistischen Betrachtung von »Herkunft«: Allerdings problematisiert er die mit den Mehrheitsverhältnissen verbundenen Normalitätskonstruktionen und seine schwierige Position darin und übt in sehr abgeschwächter Form auch Kritik an den Umgangsweisen der Mehrheit. Als Vergleich mit seiner Situation in der damaligen Klasse wird die Situation seines Bruders angeführt, von dem der Erzähler meint, er sei in »für S-Bundesländische Verhältnisse relativ internationalen Klassen« gewesen und habe aus diesem Grund auch nicht-österreichische Peers gehabt. In der nächsten Passage wird deutlich, woran Jonas Balta das Verwurzeltsein zusätzlich festmacht: Als Kriterium neben dem Geburtsort werden die Eltern – es bleibt unklar, ob hier deren Nationalität oder Migrationsgeschichte oder beides gemeint ist – eingeführt. Jedenfalls verweist die Bezeichnung ›nicht-österreichisch‹ darauf, dass nicht die Zugehörigkeit der Eltern zu einem anderen nationalen Kontext, sondern deren nicht-Zugehörigkeit zu Österreich relevant gesetzt wird. In der Schilderung von Jonas Balta kommt durch oftmaliges Schmunzeln und mitunter Lachen auch eine gewisse Ironie zum Ausdruck: Die verstärkenden Adverbien »wirklich« und – nach einer kurzen Pause – »tatsächlich« etwa, könnten ein Hinweis darauf sein, dass er die von ihm selbst eingebrachten Kategorisierungen durchaus auch mit einer ironischen Distanz sieht. Neben den Kategorien, die zu seiner Besonderung als Schüler geführt haben, führt er als starken Referenzpunkt S-Bundesland ein, nicht einen dörflichen oder nationalstaatlichen Kontext.
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TEIL III — Falldarstellungen Jon: Und ebm, des woa bei meinem Bruder anders, (2,5) und woahrscheinlich oba weil i ebm doch a relativ/(schmunzelnd) schüchternes Kind war,/und mi ned so leicht domois auf ondare Menschen einlassn hob können, hots donn doch ziemlich lang gebraucht, bis i donn (1) ebm den S-Bundesländer Dialekt, und a für mi selber, ongenommen hob. Oiso des hot bis weit in die Volkschule hot des gedauert, bis dahin hob i noch, oiso,/(leichte Stakkato-Sprechweise) gesprochen wie es a Kind in Deutschland tut!/ Int: Mhm [mhm] [Gewöh]nlich, nam? (3/6-14) Jon:
Jonas Balta betont noch einmal den Unterschied zu seinem Bruder. Als weiteren Grund für seine Besonderungserfahrungen gibt er an, ein »relativ schüchternes Kind« gewesen zu sein, das sich »ned so leicht domois auf ondare Menschen einlassn« konnte. Das Schmunzeln zeigt eine leichte Distanzierung vom Gesagten an. Zugleich schränkt Jonas Balta die Etikettierung ›schüchternes Kind‹ ein, indem er sie qualitativ (»ned so leicht«) und zeitlich (»domois«) eingrenzt. Wie lange das »domois« andauerte, bleibt unklar, jedenfalls gibt der Erzähler an, dass der Prozess der Aneignung des S-Bundesländischen Dialekts »ziemlich lang« gedauert habe und grenzt den Zeitraum dann etwas genauer ein: »bis weit in die Volkschule«. Eine inhaltliche Parallele zum zuvor Erzählten zeigt sich dahingehend, dass Jonas Balta die Schüchternheit hier als ›natürliche‹ Charaktereigenschaft konstruiert und damit die Exklusion des Schülers auf ihn selbst zurückgeführt wird. Möglicherweise ist diese Erklärung auf Erfahrungen zurückzuführen, die er in seiner Kindheit mit der Entwicklungspsychologie machte. In einer Hintergrundkonstruktion, die sein um ein Jahr von der anzustrebenden Norm abweichendes Alter bei der Matura erklären soll, berichtet er, ein Jahr ›verspätet‹ eingeschult worden zu sein und begründet das mit »Entwicklungsrückstände[n]« (3/41) und – an einer späteren Stelle – mit ›Entwicklungsproblemen‹ (9/32-33), Begriffe, von denen er sich in seiner Erzählung allerdings distanziert. Als einen Grund für die damalige Rückstellung nennt er seine Mühe, mit anderen Kindern »in Interaktion (1) zu treten« (9/35) und argumentiert, dass er »ned wirklich (1) gesellschaftsfähig« (9/35) war. Über mehrfaches Lachen und Schmunzeln sowie sprachliche Markierungen wird Jonas Baltas retrospektive Infragestellung der damaligen Diagnosen mangelnder ›Interaktions‹- bzw. ›Gesellschaftsfähigkeit‹ und eine nachträgliche Distanzierung vom damaligen defizitorientierten Blick auf das ›erzählte Ich‹ deutlich.19 Zudem wird in der Rekonstruktion der elterlichen Beratung durch einen »Entwicklungspsychologen oder so« (9/38) retrospektiv Verwunderung über die damalige Konsultation deutlich. Grundsätzlich ist die 19 | Interessant ist an dieser Stelle, dass es offenbar nicht um die Feststellung der ›Schulfähigkeit‹ ging, sondern dass die Fähigkeit von Jonas Balta, sich in sozialen Kontexten zu bewegen, grundsätzlich in Frage gestellt wurde.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
Schulzeit Jonas Baltas von einer doppelten Marginalisierung geprägt, einerseits wegen seiner sprachlichen Varietät, andererseits wegen seiner Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu anderen Kindern einzugehen. Vor der Aneignung des Dialekts sprach das ›erzählte Ich‹ jedenfalls, »wie es a Kind in Deutschland tut«, womit er eine Übereinstimmung von Sprechweisen mit Orten nahelegt. Formal auffallend an der Passage ist eine leichte Stakkato-Sprechweise, die im Laufe des Interviews öfter auftaucht, wenn es inhaltlich um Deutschland geht. Es wird deutlich, dass der Erzähler hier Deutschland als einheitlichen sprachlichen Raum präsentiert, in dem auch Kinder auf eine einheitliche Weise sprechen, was er über den Zusatz »gewöhnlich, nam?« aber wieder einschränkt. Jon: Ahm, (2) und ebm bis i donn Dialektreden begonnen hob, des hot donn ebm bis weit in die Volkschule gedauert, woa… ob dann woars donn (1) völlig normal, donn woa i holt, (1) jo, (sozusogn oba ebm) zweisprachig! Oiso Int: Mhm Jon: zu Hause hob i immer noch so geredet, und tu i a bis heute, mit meinen Eltern, wie Int: Mhm Jon: (1,5) ich es von ihnen gelern_ gekannt habe, Int: Mhm mhm Jon: oiso (1) i red bis heute ned S-Bundesländisch mit ihnen, oder maximal doss a poa Ausdrücke dazwischen rauskommen holt, aber (1,5) grundsätzlich red ma Hochdeutsch oder bundesdeutschen Standard Int: Mhm mhm Jon: zu Hause, Int: [Mhm] Jon: [oba halt] ebm ab der späteren Volkschule (und donn) in der Gymnasiumszeit woa donn holt (1) S-Bundesländisch ebm die (1) Umgangssprache ebm für Freunde, Schulkollegen, Bekonnte. (3/16-32)
Den Zeitpunkt, an dem das ›erzählte Ich‹ mit dem Dialektsprechen begann, markiert der Erzähler als Zeitpunkt, ab dem er »(sozusogn oba ebm) zweisprachig« war. Diese Zweisprachigkeit konkretisiert er: Im sozialen Raum Familie bzw. mit den Eltern sprach Jonas Balta »wie (1,5) ich es von ihnen gelern_ gekannt habe« und bezeichnet diese Sprache als »Hochdeutsch oder bundesdeutschen Standard«, womit er deutlich macht, dass er den Fachdiskurs über Varietäten des Deutschen kennt. Daneben sagt er, dass er »bis heute ned SBundesländisch« mit den Eltern spricht, räumt damit also implizit die Option einer Veränderung der familialen Sprachpraxis im Laufe der Zeit ein sowie sein Bewusstsein darüber, es nicht als selbstverständlich zu betrachten, dass die von den Eltern weitergegebene und von den Kindern erworbene Sprache die Familiensprache bleiben muss.
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TEIL III — Falldarstellungen
Den S-Bundesländischen Dialekt kontextualisiert Jonas Balta noch einmal räumlich und zeitlich mit den Bildungsinstitutionen, in denen er ihn kennengelernt und ›angenommen‹ hat, nämlich »ab der späteren Volkschule (und donn) in der Gymnasiumszeit«. Er bezeichnet ihn als »Umgangssprache ebm für Freunde, Schulkollegen, Bekonnte«. Mit Blick auf die doppelte Marginalisierungserfahrung lassen sich die sozialen Schwierigkeiten, die das ›erzählte Ich‹ hatte, mit seiner sprachbezogenen Ausgrenzung erklären – jedenfalls könnten diese Schwierigkeiten in irgendeiner Weise mit sprachlichen Fragen zu tun haben. Deutlich wird aus der biographischen Erzählung über die Schulzeit jedenfalls, dass Jonas Baltas Aneignung des S-Bundesländischen Dialekts und seine ›Zweisprachigkeit‹ die Voraussetzung für ein Minimum an sozialer Integration an der Schule waren, dass er die Sprache der Mehrheit gewissermaßen in sein Sprechen integrierte. Die Ausgrenzungen, denen er ausgesetzt war, wurden im Laufe der Zeit »weniger schlimm« (11/30), und aus den Situationen, unter denen das ›erzählte Ich‹ in der Primarstufe sehr litt, wurde in der Oberstufe »mehr schon (1) Spaß« (11/31). Der Erzähler resümiert an einer späteren Stelle: »Oiso in der Oberstufe woa i schon voll (1,5) dazugehörig« (11/31-32). Hinsichtlich der Erfahrungen mit Dialekt in der Schule kann das Beispiel von Katharina Peck als Kontrastfall zu Jonas Balta gelten: Kat: Ahmm (1) genau i bin im B-Dorf in die Vuiksschui gaungan und, in da Vuiksschui woas so dass … jo… wia hom, do homa ned so wiaklich an Dialekt redn deafn, so a bissl formal woa do des gaunze, owa hod si eigentlich e nie wirklich wer draun ghoidn. I bin eigentlich imma recht gern in di Schui gaungan, des hod mir imma gaunz guat gfoin, also grod so, Sprochn, aiso/((schmunzelnd)) Deitsch hod ma sowieso imma guad gfoin/. Englisch homa daun a ghobt, in da drittn und in da viertn, owa des woa imma nua so=so bissl augrotzt 20, ahmm, des hod ma a imma sea guad gfoin, wos i goa ned megn hob woa Mathe, also ois wos iagendwia naturwissnschoftlich woa do hob i glei ogschoitn, Int: ((schmunzelt)) Kat: am liabstn hob i imma iagndwos gred im Unterricht. ((lacht)) (1/30-2/10)
Mit der Primarstufe beginnt Katharina Peck über sich selbst als Teil eines ›Wir‹ zu sprechen. Dieses ›Wir‹ war einem Dialektverbot ausgesetzt, von dem unklar bleibt, wer es in welcher Form aussprach oder aufschrieb und an welche schulischen Akteur*innen es gerichtet war. Offenbar wurde es aber von niemandem, möglicherweise auch nicht von den Lehrer*innen, besonders ernst genommen oder eingehalten. In der Passage geht es im Unterschied zur Ein20 | Das Adjektiv »augrotzt« kann mit ›angekratzt‹ oder ›angeschnitten‹ im Sinne einer nicht vertiefenden und vertieften Beschäftigung übersetzt werden.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
gangspassage (Kap. 7.1.1) nicht um einen bestimmten Dialekt, sondern um die Frage der Legitimität der Varietät Dialekt im Raum Schule, für den das formale Register des Standards vorgesehen war. Der damals entstandene oder zumindest angestrebte Kommunikationsraum wird von der Biographin als »so a bissl formal« bezeichnet. Nach dieser allgemeinen Charakterisierung der sprachlichen Situation in der Schule stellt die Erzählerin einen positiven Bezug zur Schule, zu Sprachen im Allgemeinen und zu Deutsch im Besonderen her21 und berichtet, im Unterricht immer gern gesprochen zu haben. Ob sie damals im Dialekt sprach und ob die Verwendung des Dialekts auch während des Unterrichts erlaubt war, wird aus dieser Stelle nicht deutlich. Jedenfalls konnte das ›erzählte Ich‹ ein positives und selbstbewusstes Verhältnis zu Deutsch und zum eigenen Sprechen entwickeln. Damit sind auch mögliche defizitorientierte Zuschreibungen in Richtung von Dialektsprecher*innen zurückgewiesen. Daneben stellt die Erzählerin eine biographische Kontinuität der Beschäftigung mit Deutsch her und legitimiert darüber auch ihre Eignung für ein sprachbiographisches Interview, das an den Kontext ›Germanistik‹ angebunden ist. Nach einer erneuten Kontrastierung zwischen Stadt und Land, diesmal am Beispiel der Konstruktion einer am Land selbstverständlich ›behüteten Kindheit‹ (2/13), folgt der erste schulische Übergang: Kat: ((atmet hörbar ein)) ahmm, daun bin i – ins Gymnasium keima… in da nexdgresan Stodt, aiso in in H-Stodt woa des, des woa daun ebn schau di Stodt, aiso do homs daun ole scho a bissl schena gred. Bei mia woas gaunz intressant, i bin … i bin jo in ana, in ana Spuatklass gweisn, und (1) do hods zwoa Klassn geim, aöso a A-Klass und a BKlass vo die Spuatklassn, und waö in da A-Klass kua Plotz mea woa, bin i in die B-Klass keima/(stockend) mit die gaunzn Leid de nid aus meina ääh Umgebung sozusogn/woan, aöso de woan ole entweder aus H-Stodt oda weida ouman, aöso daun schau mea richtung A-Bundeslond, und do woa daun imma sou/(schmunzelnd) die die Sprachbarriere/ Int: ((schmunzelt)) Kat: aöso mi homs daun imma gfrogt: »Hö, wo bistn du hea?“((lacht)), obwui des jetza a hoiwi Stund oda so weg woa, oiso H-Stadt und-und B-Dorf wo i hea bin, zwuanzg Minutn, maximal a hoiwi Stund, aöso des is gaunz intressant wie wie sehr si des untascheidet uund ähm jaa ma wiad daun a a bissl aufzougn mit=mit a poa Sochn so auf di Oat wia jo »die Bauan redn olli sou«/(lächelnd) dabei bin i nidamoi a Baua Int: ((lacht)) Kat: also, ((lacht))/(lachend) wia san do gaunz normale Orbeitafamülie sog i amoi sou/ uund jo… (2/16-33) 21 | Mit der Kontrastierung sprachbezogener Fächer und Mathematik als Beispiel für naturwissenschaftliche Fächer deutet die Erzählerin darüber hinaus eine häufig als ›weiblich‹ typisierte schulische Sozialisierung an.
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TEIL III — Falldarstellungen
Der Übergang ins Gymnasium (und in eine Sportklasse), der insgesamt als selbstverständlich präsentiert wird, wird von der Erzählerin mit einem hörbaren Einatmen eingeleitet und zunächst von einer Pause unterbrochen. Daraufhin wird der Übertritt mit dem Ort in der »nexdgresan Stodt« kontextualisiert und mit der Sprache der dort lebenden Menschen, die – möglicherweise in ironischer Absicht – als »a bissl schena« bezeichnet wird. Mit der Differenzierung »schen« versus »gschead« kommt eine Wertekategorie zum Tragen, in der die Standardsprache implizit als ›schön‹, der Dialekt als ›unschön‹ charakterisiert wird. Das »bissl« macht zudem deutlich, dass es eine Skala im »schön reden« gibt, die mit der Größe von Orten in Zusammenhang gestellt wird. Aus den Ausführungen geht hervor, dass die Zuteilung der Schüler*innen in Klassen sich nach deren Herkunft richtete, dass aber Katharina Peck aus Platzgründen nicht in die für sie vorgesehene Klasse gehen konnte. Die damals neuen Klassenkolleg*innen kategorisiert die Erzählerin deren geographischer Herkunft folgend und geht dabei schmunzelnd auf ein Phänomen ein, das sie als »Sprachbarriere« bezeichnet. Dass sie diesen Begriff auf Standard formuliert, könnte darauf hinweisen, dass sie ihn erst nach dieser Zeit, möglicherweise im akademischen Kontext, kennengelernt hat und ihn retrospektiv zur Deutung der damaligen Situation anwendet. Die angesprochene ›Barriere‹ ergab sich allerdings nicht aus Verständigungsschwierigkeiten zwischen den unterschiedlichen Dialekten: Vielmehr wurde Katharina Pecks Dialekt als Differenzierungsmarker für ihre nicht-Zugehörigkeit zur unmittelbaren Umgebung gesehen und somit erst zur Barriere gemacht. Möglicherweise verweist ihr Lachen nach der generalisierenden Redewiedergabe darauf, wie absurd sie die ›Fragen‹22 damaliger Kolleg*innen fand. Aus der Perspektive einer an Dialektforschung interessierten Studentin bezeichnet sie die trotz geringer geographischer Entfernung verhältnismäßig großen Unterschiede zwischen den einzelnen Dialekten als »gaunz intressant«. Trotzdem lässt sich rekonstruieren, dass die Bemerkungen ihrer Kolleg*innen über ihre Sprache nicht ›neutral‹ waren: In der Bemerkung »die Bauan redn olli sou« wird deutlich, dass der Begriff ›Bauer‹ von seiner eigentlichen Bedeutung abgelöst ist und eine stark pejorative Konnotation enthält. ›Bauer‹ ist eine Kategorie, die von den Schüler*innen als am weitesten entfernt vom Sozialraum Schule und dessen Anforderungen konstruiert und verwendet wird, um Personen und/oder Gruppen entlang ihrer Sprachen zu hierarchisieren. Mit der abschwächenden Gradierung »a bissl« und dem Begriff »aufzougn« entdramatisiert sie die erfahrene Abwertung und konstruiert sie über das unpersönliche ›man‹ zudem als allgemeine Regel. Darüber hinaus über22 | Das von der Erzählerin zitierte »Hö, wo bist du hea?« ist pragmatisch keine Frage, sondern ein Verweis auf einen Ort außerhalb der Normalität (vgl. Battaglia 2000).
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
nimmt sie die damals getroffene Differenzierung und Abwertung der sozialen Gruppe ›Bauern‹, indem sie sich selbst von dieser abgrenzt. Mit dem Hinweis auf ihre Zugehörigkeit zu einer ›ganz normalen Arbeiterfamilie‹ konstatiert sie Normalität für eine Gruppe, die sie hier als ihre eigene konstruiert, zu der sie de facto als Studentin aber nicht (mehr) gehört. In der nächsten Passage (2/41-3/11) spricht Katharina Peck über ihre damaligen Überlegungen zu möglichen Schulformen nach der Unterstufe des Gymnasiums und ihre Entscheidung für eine HLW (Höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe), die sie im Interview scherzhaft-abwertend »Kneidlakademie« nennt. Kat: Und daun bin i – do woas no schlimma wia im Gymnasium – daun bin i in a Klass keima wo i wiaklich die uazichi – W-Bundesländarin woa. Und oli aundan woan aus ABundeslond, oda aus hoid so Z-Stadt Umgeibung, A-Stadt Umgeibung oda glaub oda zwoa W-Bundeslända homa ghobt oda drei, dei woan owa ausn mittlan W-Bundeslaund, aöso de hom a wieda gaunz/(schmunzelnd) gaunz gaunz gaunz aundasch greid wia i, deis woan a no Burgnlaundkrowodn, dei hom üwahaupt gaunz aundasch greid/ Int: ((schmunzelt)) Kat: und do woas daun a so… (1) aiso des woa imma recht recht intressant so vo di vo di sprochlichn Untaschiede her soch i moi. (3/15-24)
Die Erzählerin bleibt bei ihrer Orientierung an institutionellen Übergängen und beschreibt die HLW mit »no schlimma wia im Gymnasium«. Das ›Schlimme‹ an der Situation macht sie daran fest, dass sie die einzige W-Bundesländerin war, und sie zählt wie an anderen Stellen auch Gruppen ehemaliger Kolleg*innen entlang deren geographischer Herkunft auf. Eine besondere Position kommt dabei den »Burgnlaundkrowodn« zu, die »gaunz gaunz gaunz gaunz aundasch« redeten. Die Konstruktion einer absoluten Andersartigkeit der Burgenlandkroat*innen zeigt, wie wirkmächtig die Hierarchien entlang von Sprache in den Bildungsinstitutionen waren. Über ihre eigenen Ausgrenzungserfahrungen an der HLW muss die Erzählerin an dieser Stelle nicht explizit sprechen: der Verweis auf sprachliche Andersartigkeit reicht als Chiffre aus, um der Interviewerin zu verstehen zu geben, was das ›Schlimme‹ an der Schule war. Kat: Owa mia woa deis imma scho wichtig – also i wuit mi nie anpassn, i wuit mi nie, iagendwie i wuits kuan recht mocha, sondan nua mia söwa, und desweign hob i mein Dialekt eigentlich bis heut no so bewoat. Waö mia des total wichtig is, waö des is uafoch so, woaß i nid, i… (2) mua woascheinlich ff_ woas kuana wo i hea bin owa füa mi is es wichig dass i füa mi söwa hea souzusogn, wou i hea bin. (3/24-29)
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Auf den in der letzten Passage dialektologisch interessierten Blick folgt ein reflexiver und stark argumentativer Teil, in dem die Erzählerin auf ihr Verhältnis zum Dialekt eingeht und betont, dass ihr dessen ›Bewahrung‹ immer schon wichtig war. Indem Katharina Peck erzählt, dass sie sich nie ›anpassen‹ oder es jemandem außer sich selbst ›recht machen‹ wollte, kommt eine widerständige Haltung der jeweiligen sprachlichen Mehrheit gegenüber zum Ausdruck. Andererseits stellte sich die Frage der Anpassung nur bedingt: nachdem ihre Kolleg*innen unterschiedlichste Dialekte sprachen, wäre nicht klar gewesen, an welchen sie sich hätte ›anpassen‹ sollen, und zudem steht in Frage, ob eine solche ›Anpassung‹ von der Mehrheit überhaupt akzeptiert worden wäre. Die Bewahrung ihres Dialektes steht also im Zentrum, wobei mit »mein Dialekt« der in Kap. 7.1.1 beschriebene Dialekt ihres Herkunftsdorfes gemeint ist. Dafür, dass der Dialekt bis heute ›bewahrt‹ werden konnte, spricht, dass Katharina Peck während ihrer Schulzeit auch außerhalb der Schule oder der Familie Personen hatte, mit denen sie in ›ihrem‹ Dialekt sprach, und unter denen dieser nicht in Frage stand. Zugleich wirft die Absolutheit des Widerstands (»nie anpassn«) die Frage auf, inwieweit sich ihr Sprechen im Interview auch als widerständige Praxis gegen akademische Diskurse lesen lässt, in denen normalerweise die Verwendung von Standard erwartet wird. Nach dieser Abgrenzung nach außen und einem kurzen Zögern folgt eine Innenperspektive, in der Katharina Peck einwirft, dass ihr Dialekt wahrscheinlich für niemanden lokalisierbar ist. Daneben sagt sie, dass es für sie selbst wichtig ist zu ›hören‹, woher sie kommt. Das Hören des eigenen Sprechens wird somit zur Versicherung über die eigene Herkunft, und der Zusammenhang von Sprache und Herkunft wird positiv gedeutet. Zugleich wird deutlich, dass ›die anderen‹ zwar nicht wissen, woher Katharina Peck kommt, dass sie aber sehr wohl hören und wissen, dass sie nicht vom jeweils relevanten Ort außerhalb ihres Herkunftsortes kommt. Nach einer kurzen Passage, in der die Erzählerin über eine mögliche Weitergabe ihres Dialekts an eigene Kinder spricht (3/29-35), evaluiert sie die Zeit der Sekundarstufe und die damals erlebten Erfahrungen mit Sprache noch einmal abschließend: Kat: des woa ma ebn imma scho sea wichtig und do woas ma eigentlich egal, waö grod Kinda, Kinda san jo grausam wanns um souwos geht, wann do wea aundascht reid oda so… waö mia woa deis eigentlich (1) ziemlich-ziemlich wuascht, also i homi do nid iagendwi vastöüt oda so, ((einatmen)) und… (1) jo also easchtns moi kuan keinnt in da neichn Schui oda in dea neichn Klass, waö dei poa di, sogoa aus meina Oatschoft woan, aus da gleichn, dei ebn mit mia in die Vuiksschui gaunga san und so, dei san in da Parallelklass gweisn owa wäöl duat ka Plotz mea woa hiaz bin i praktisch in die/(lachend) Ausweichklass keima/… und… Int: ((lacht mit)) mhm
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit Kat: owa i muas sogn i hob absolut nid, aöso i hob i hob nua davo profitiert, i hob wahnsinnich liawe Leid kenna glernt, wahnsinnich liawe Leid… ähh… guate Freinde ä a gfundn mit dena i mi heit no triff, also deis is… (1) hod scho wos Guads ghobt. (3/35-46)
Die Erzählerin thematisiert hier die biographische Kontinuität ihres engen Bezugs zum Dialekt. Dem Bild einer Ausgrenzung durch ›grausame‹ Kinder setzt sie ihr sprachliches Selbstvertrauen entgegen und betont, dass ihr die Ausgrenzungen damals »eigentlich (1) ziemlich-ziemlich wuascht« waren und sie sich nicht ›verstellte‹. Die Zeit in der Sekundarstufe, in der sie diese Erfahrungen machte, deutet sie retrospektiv als ›Profit‹, den sie vor allem auf das Kennenlernen ›lieber Leute‹ und das Knüpfen bis heute andauernder Freundschaften bezieht. Die positive Evaluation ermöglicht es Katharina Peck, sich von einer Opferposition abzugrenzen und nicht das erfahrene Leid, sondern die Kontinuität im Umgang mit schwierigen Situationen und die Fähigkeit, Herabsetzungen an sich ›abprallen‹ zu lassen, in den Mittelpunkt zu stellen. Katharina Pecks Rekonstruktion ihrer Schulzeit ist geprägt von einer starken Bezugnahme auf sprachliche Varietäten, die von unterschiedlichen in den einzelnen Schulen anwesenden Personen und Gruppen gesprochen wurden. Diese bringt sie jeweils mit exakten geographischen Angaben über die Herkunft der jeweiligen Sprecher*innen in Verbindung. Neben schulischen Sprachver- und -geboten spricht die Erzählerin mehrfach von Hierarchisierungen von Sprachen und durch Sprache. Die Übergänge zwischen einzelnen Schultypen werden jeweils als neue Sprachräume konstruiert, in denen unterschiedliche Varietäten und Sprachen hörbar waren, und in denen Katharina Peck aufgrund ihrer Sprache auf unterschiedliche Weise – aber jedenfalls nicht positiv – besondert wurde. Die Erzählung ist geprägt von der Gleichzeitigkeit erfahrener Ausgrenzung und eigener Abgrenzung gegenüber Personen oder Gruppen, die anders als das ›erzählte Ich‹ sprachen. Zudem gibt es eine Reihe analytischer Einschübe, in denen die Erzählerin einen dialektologisch interessierten Blick auf die damals gesprochenen Sprachen wirft. Auch wenn ihr hauptsächliches Interesse der Struktur der Sprache gilt, lässt sich auch die Rolle, die unterschiedliche Sprechweisen für soziale Distinktion und Ausgrenzung spielen, rekonstruieren. Der Schulwechsel in Verbindung mit einem Wechsel der Umgebungssprache ist auch ein wesentlicher Inhalt der Erzählung von Majda Melić, nur dass es sich in ihrem Fall nicht um unterschiedliche Varietäten, sondern um unterschiedliche Einzelsprachen handelt: Nach der Flucht aus Bosnien und einem sechsjährigen Aufenthalt in der Schweiz, zunächst gemeinsam mit der Mutter, danach mit dem Vater und dem dort geborenen jüngeren Bruder, remigriert Majda Melić im Alter von acht Jahren gemeinsam mit ihrer Familie nach Bosnien. Im ersten sozialen Kontext,
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über den die Biographin spricht – den der Verwandtschaft – wird sie aufgrund ihrer Deutschkenntnisse zunächst zum »Hit der Familie« (8/26) und kann diese »stolz präsentier[en]« (8/29). Der nächste soziale Kontext, den die Erzählerin aufspannt, ist der schulische: Maj: Ähm, ja und, ähmm, und dann kam ich aber in die Schule in Bosnien, und das war halt so ähmm – dass ich (1,5) irgendwie, n bisschen gemobbt wurde, weil ich halt (1) irgendwie während des Kriegs nich da war und – und, so, n bisschen als, unter Anführungszeichen Verräterin da stand, also wobei ich nich die einzige war die, halt… aber keine Ahnung.=Und dann habm sie, ähmm… Ich hab halt Freunde gefundn, aber es war schon so dass ich n bisschen, am Anfang a_ Außenseiterin war weil ich halt irgendwie, unter Anführungszeichen noch ne – Sprache konnte und – hn hm, nich besonders_ Ich will mich jetz nich als besonders darstellen aber halt für sie, wars… Ich bin… »Sie kann jetz noch ne Sprache! Und, und, sie war halt, ähm, im Ausland! Und – sie is jetz_ sie, sie denkt sie is was Besondres!«.=Und, es war halt schon, n bisschen Ausgrenzung. - (8/29-39)
Den Status des Distinktiven, den Majda Melić in ihrer Familie genießt, kann sie nicht in allen Kontexten zu ihrem Vorteil nutzen: Die Schule ist nur bedingt offen für ihre Erfahrungen und Sprachkenntnisse, und sie berichtet »n bisschen gemobbt«23 worden zu sein. Dafür gibt sie zwei Gründe an: ihre Abwesenheit während des Krieges und die moralische Etikettierung als »Verräterin«: von dieser distanziert sie sich über eine Apostrophierung (»unter Anführungszeichen Verräterin«), und sie ist ihr retrospektiv auch nur bedingt plausibel, weil auch andere Kinder während des Krieges im Ausland waren, die offenbar nicht von Mobbing betroffen waren. Die zweite Ursache, die der Erzählerin aus heutiger Sicht plausibler scheint, sind ihre damaligen Sprachkenntnisse und ihre Auslandserfahrung. Sie führt zwei ganz unterschiedliche Sichtweisen auf ihre damaligen Deutschkenntnisse ins Feld, nämlich ihre heutige (»Ich will mich jetz nich als besonders darstellen«) und diejenige ihrer Kolleg*innen damals (»aber halt für sie, wars […]«). Welche Haltung das ›erzählte Ich‹ zum Zeitpunkt der Einschulung zu den eigenen Deutschkenntnissen hatte, erfahren wir nicht, aber es ist vorstellbar, dass sich Majda Melić durch die Erfahrungen im familialen Umfeld dazu ermutigt fühlte, ihre Deutschkenntnisse auch im schulischen Rahmen ›zur Schau zu stellen‹. Dafür sprechen die generalisierenden Redewiedergaben der damaligen Schulkolleg*innen: »Sie kann jetz noch ne Sprache! Und, und, sie 23 | An dieser Stelle fällt auf, dass die Erzählerin, möglicherweise im Wissen um die Schwere eines Vorwurfs von ›Mobbing‹, nach einer geeigneten Bezeichnung für das sucht, was ihr damals passiert ist: Nach einer Häsitation, einer Pause und der Vagheitsmarkierung »irgendwie« schwächt sie das »gemobbt« über »n bisschen« ab.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
war halt, ähm, im Ausland! Und – sie is jetz – sie, sie denkt sie is was Besondres!« Möglicherweise kamen die Kolleg*innen auch über Kommentare und Einschätzungen anderer, etwa Eltern oder Lehrer*innen, zu diesen Aussagen. Relevant ist jedenfalls, dass Majda Melić im schulischen Umfeld der Status des Besonderen zugeschrieben wurde. Die Rolle der sprachmächtigen Person, die Majda Melić im familiären Umfeld zum »Hit« macht, und mit der sie sich gut identifizieren kann, führt in der Schule zu Ausgrenzung. Während Majda Melić Besonderungserfahrungen in der Schweizer Schule eher als Ausnahmen in einem ansonsten sehr intakten sozialen Umfeld darstellt, mit denen sie gut umgehen konnte und die zum Teil sogar ermächtigend wirkten (vgl. Kap. 8.1.1), werden die Ausgrenzungserfahrungen in der bosnischen Schule explizit als Problem konstruiert. Die Deutschkompetenzen, auf die das ›erzählte Ich‹ so stolz ist und mit denen so viele positive Erfahrungen aus der Zeit in der Schweiz verbunden sind, werden im neuen institutionellen Kontext plötzlich nicht nur nicht mehr wertgeschätzt, sondern sogar abgewertet. Maj: Und da hatt ich auch das Gefühl dass, ähhmm… Ich, ich hatte halt in, in der Schweiz auch Kontakt zu bosnischen Kindern hab, pf also mit ihnn auch auf Bosnisch gesp_ also, gespielt und gesprochn und alles, und ich hab_ ich habs nie verstandn was das eigentlich ist, bis letztens, und ich hab dann in der Schule in Bosnien angefangn zu stottern – also, wenn ich, äh irgendwie mit, anderen Kindern sprechen musste oder mitm Lehrer das war für mich irgendwie –/(leicht lachend) traumatisches Erlebnis!/(Zwe_) äh weiß auch nich warum, ähmm, weil ich ebm, wie gesagt mit mein Eltern ganz normal auf Bosnisch gesprochn hab in der Schweiz und alles, und dann, ich glaub das war schon… Alles hat, irgendwie, (jetz nich), direkt auf mich Einfluss gehabt also der Umzug in ein neues Umfeld, und=und, einfach, das Hinterlassen der=der Freunde in der Schweiz und, irgendwie sondern, das hat sich glaub ich so irgendwie, ähm, ausgeübt auf mich hm durch das Stottern irgendwie, glaub ich dass es da_ hn_ Ich glaub dass es zum Stottern kam weil ich ebm_ – ja, mein kleiner/(leicht lachend) Kulturschock war/auf die_ auf BOSNIEN (jetz) und (nich) auf die Schweiz – war ja noch zu jung um irgendwas (lacht leise) ähm, in der Schweiz, irgendwie so mit,zubekommn. (8/39-9/9)
Das verlaufskurvenförmige24 Potential, das durch die Abwertung der Deutschkenntnisse in der Schule angelegt ist, wird durch eine weitere Komponente verschärft, die zugleich Ausdruck der schwierigen Situation ist, in der sich die Schülerin befindet: Majda Melić beginnt in der Schule auf Bosnisch zu stot24 | Verlaufskurven sind die am ausführlichsten von Schütze (1984) beschriebenen biographischen Prozessstrukturen. Sie stellen Erfahrungshaltungen dar, in denen sich Biograph*innen heteronomen Bedingungen unterworfen sehen und sich nicht (mehr) als handlungsfähig erfahren können.
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tern. An der Darstellung sprachlicher Interaktionssituationen fällt die Modalität auf (»sprechen musste«), die einen Kontrast zum als lustvoll dargestellten Sprechen in der Schweiz und im Familienkontext darstellt. Die Bildungslauf bahn in der Schweiz war für Majda Melić sehr erfolgreich, und sie hatte dort vielfältige soziale Kontakte und Freundschaften in und außerhalb der Schule. Die Darstellung sprachlicher Kontakte an der Schule in Bosnien wirkt wie ein sehr großer Kontrast, den die Erzählerin als »traumatisches Erlebnis« konstruiert. Über ihre damaligen Schulkolleg*innen spricht sie nicht als ›Freund*innen‹ oder ›Kolleg*innen‹, sondern eher distanziert als »andere[…] Kinder[…]«. Durch die Betonung »Kulturschock […] auf die_ auf BOSNIEN [jetz] und [nich] auf die Schweiz« macht sie deutlich, dass mit der Remigration in einen anderen nationalen und damit schulkulturellen Kontext ein Bruch einherging, und dass es ihr schwerfiel, an den sozialen Kontext, der für die Eltern bekannt und gewohnt war, anzuschließen. Die Passage »ich habs nie verstandn was das eigentlich ist, bis letztens« macht deutlich, dass Majda Melić seither häufig über das Stottern oder seine Ursachen nachgedacht hat. Was zu ihrer Klarheit »letztens« geführt hat, expliziert sie nicht. Die Erzählerin evaluiert das Erzählte mit einem biographischen Blick zurück, indem sie die beiden Wohnortwechsel miteinander vergleicht: Die Flucht aus Bosnien, die in der Eingangserzählung sehr ausführlich und dramatisch als Herausgerissenwerden aus einer ›heilen Welt‹ geschildert wurde, führte, so ihre Argumentation, nicht zu einem Kulturschock, weil sie »noch zu jung« war, »irgendwie so mit,zubekommn«. Auch die Remigration nach Bosnien ist – wenn diese auch weitaus weniger dramatisch geschildert wird – nicht aus einer Entscheidung der Biographin heraus entstanden: Sie beschreibt die Migration als Entwurzelung auf räumlicher und sozialer Ebene: »der Umzug in ein neues Umfeld, und=und, einfach, das Hinterlassen der=der Freunde in der Schweiz« (9/1-3). Das Stottern deutet sie mit dem Etikett »Kulturschock« nachträglich als sprachliche Reaktion auf diese Entwurzelung, allerdings stellt sie ihn durch das Adjektiv »klein« (»mein kleiner Kulturschock«) als etwas durchaus Überwindbares dar. Der Hinweis darauf, dass das Stottern nur beim Bosnisch-Sprechen relevant war, weist darauf hin, dass ihr Deutsch von diesem Problem unberührt blieb. Maj: und, aber dann, hatt ich ne super Bosnisch-Lehrerin, und, sie hat mich, teils, gezwungen, irgendwie, ähm, vor der Klasse zu sp_ sprechn, und hat mir halt… steckte mich ins Debattier_ – Debatte-Team oder so? Keine Ahnung wie… wie mans, hm hm… – Also zum, Debattier-/(lachend)-kurs/(lacht) Debattier-Kurs wo man halt, äh (Af_) also, Gruppe A und… also Pro und, Contra hatte und dann… und dann auf einander irgendwie au_/(schmunzelnd) einredete/(schmunzelt) ähmm, und dann, hattn wir halt verschiedene Themen und wir musstn uns, halt Argumente überlegn warum wir das gut findn oder warum wir das schlecht findn, und ich hatte immer was irgendwie zu sagn aber halt
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit i_ hm halt/(schmunzelnd) immer gestottert und bis ich was rausbekommn hab/(lacht kurz) verging ne Ewigkeit, und dann steckte hm sie mich halt, in diesen Kurs, und dann auch, in, ne – Drama- – Gruppe… oder, äh Theater(gruppe), wo ich auch, irgendwie, voll, aufgeblüht bin, hn äh v_ von der Sprache her, dann hab ich auch, hm mit der Zeit a_ aufgehört zu stottern, und hn, äh, ging… hab, Aufführungen gemacht und äh…/(schmunzelnd) also für mich wars, äh voll/ähh also=also, voll (spannend). (9/9-27)
Das »aber dann« deutet einen Ausweg aus der verlaufskurvenförmigen Phase an: Eine Bosnisch-Lehrerin, die die Erzählerin als »super« bezeichnet, stellt unterschiedliche Sprechanlässe für Majda Melić her, was nicht immer ganz freiwillig geschieht. Die Schüler*innen müssen sich im Debattierkurs zu verschiedenen Themen Argumente und Positionen überlegen. Majda Melić macht die Erfahrung, trotz sprachlicher Schwierigkeiten und Verzögerungen Argumente zu finden und sich inhaltlich einbringen zu können. Das führt dazu, dass das Stottern aufhört. Durch die verpflichtenden Maßnahmen der »super« Lehrerin werden Majda Melić neue Möglichkeitsräume eröffnet: Der Debattierkurs und die Theatergruppe sind als ›Therapie‹ gegen das Stottern gedacht bzw. werden von Majda Melić als solche geschildert. Darüber hinaus kann sie aber in den Kursen »auf blühen […] von der Sprache her« und das Theater als neue Möglichkeit nutzen, sprachlich aktiv zu sein. So wird, ähnlich wie im Deutschförderkurs in der Schweiz, ein Kurs, den Majda Melić aufgrund sprachlicher Besonderheiten nicht oder nicht gänzlich freiwillig besucht, zu einem Möglichkeitsraum, sich als sprachlich begabt, erfolgreich und kreativ zu erfahren. Über soziale Kontakte in den erwähnten Gruppen erzählt Majda Melić nichts. Die Verwendung der Personalpronomina im Plural deutet allerdings an, dass sie sich in irgendeiner Weise als Teil der Gruppe gefühlt haben muss.
8.2.3 Zusammenfassende Überlegungen: Sprache als relationale soziale Kategorie im hierarchisierten Raum Schule Neben der zentralen Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch für bildungsinstitutionelle Übergänge (vgl. Kap. 8.1.3) erweist sich diese nach den jeweils erfolgten Übergängen als Gradmesser für schulischen Erfolg und für soziale Anerkennung. Fallübergreifend zeigt sich, dass die nicht dominant positionierten Schüler*innen mit einer Reihe defizitorientierter Erwartungen von Seiten Professioneller konfrontiert waren. Diesen wurde auf institutioneller Ebene mit einer pauschalen Diagnose von Förderbedarf und der Organisation von ›Zusatzkursen‹ begegnet, auf individueller Ebene mit positiver Überraschung und Begeisterung über ›gute Deutschkenntnisse‹. Daneben fällt auf, dass andere Schulfächer, mit Ausnahme des Faches Türkisch, in den Erzählungen kaum erwähnt werden.
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Neben der Bedeutung von Deutsch als Gradmesser für schulischen Erfolg und soziale Anerkennung wurde die Schule in allen Erzählungen als Raum konstruiert, der von vielfachen Hierarchisierungen von Sprachen und deren Sprecher*innen gekennzeichnet ist. Allerdings gibt es keineswegs eine einheitliche Form der hierarchisierenden Anordnung; vielmehr erweist sich Sprache als relationale soziale Kategorie: In der Erzählung von Jonas Balta etwa bildet der Dialekt die ›normale‹ Umgangssprache in einem sozialen Umfeld, in dem er als Standardsprecher vielfältige Erfahrungen von Ausgrenzung macht. Erst seine Aneignung des Dialektes und seine ›Zweisprachigkeit‹ ermöglichen zu einem späteren Zeitpunkt Erfahrungen von Zugehörigkeit. Ganz anders verhält sich die Bedeutung von Varietäten in der Erzählung von Katharina Peck. Sie macht mehrfache Ausgrenzungserfahrungen wegen ihres Dialektes: Zum einen wird dieser als ›rangtiefer‹ als andere Dialekte angesehen, zum anderen ist der Dialekt insgesamt einem Sprachverbot an der Schule unterworfen. Auch wenn dieses von niemandem besonders ernst genommen wird, war es offenbar so wirkmächtig, dass die Biographin es in ihrer Erzählung zum Thema macht. Dass der Dialekt als ›unordentliche‹ Sprache aus der schulischen Sprachenordnung ausgeschlossen wird, zeigt sich auch in Afërdita Bushajs Erzählung. An den Erzählungen von Majda Melić und Afërdita Bushaj lässt sich darüber hinaus verdeutlichen, dass auch das Beherrschen einer (normierten) Sprache keineswegs immer zu Anerkennung führt: Sie werden gerade wegen ihrer Sprachkenntnisse, die über diejenigen ihrer Schulkolleg*innen hinausgehen, ausgegrenzt. Das macht deutlich, dass in der Institution nicht nur Hierarchisierungen von Sprachen, sondern auch solche von Sprecher*innen stattfinden. Gemeinsam ist diesen Hierarchisierungen, dass auch über die Sprache hinausgehende soziale Differenzierungen markiert werden. So wird der Dialekt von Katharina Peck als ›Bauernsprache‹ abgewertet, während Majda Melić aufgrund der Flucht aus Bosnien während ihres sehr frühen Alters als ›Verräterin‹ stigmatisiert wird. Auch Jonas Balta betont, dass seine Ausgrenzungserfahrungen nicht nur mit seiner Sprache, sondern auch mit sozialen Aspekten zu tun hatten, die damals als ›Entwicklungsrückstand‹ bezeichnet wurden. Abwertungen von Migrationssprachen kommen in den Erzählungen interessanterweise nicht vor. Dies könnte daran liegen, dass die Schüler*innen im Raum Schule selbstverständlich die dominante Sprache verwendeten und/ oder verwenden mussten und aus diesem Grund von dominant positionierten Anderen nicht als sprachlich abweichend wahrgenommen wurden. Es könnte sich aber auch hier um eine Normalisierungsstrategie im Kontext der Interviewinteraktion handeln: Wird nicht eine Migrationssprache, sondern ein österreichischer Dialekt als Abweichung konstruiert, so wie etwa in Afërdita Bushajs Erzählung, ist das eine Möglichkeit, sich als ›Dialektsprecherin‹ und damit als ›wirkliche Österreicherin‹ zu konstruieren.
8. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit
Neben diesen Hierarchisierungen zeigt sich auch, dass die Erzähler*innen sich nicht unbedingt als Opfer diskriminierender Strukturen konstruieren: So bezeichnet Afërdita Bushaj den während der Vorbereitungen auf die Matura für die Schüler*innen plötzlichen und aus der Perspektive des ›erzählten Ich‹ völlig unverständlichen Wechsel in eine Varietät, die weder den Schüler*innen noch den Lehrer*innen nahe war, retrospektiv und lachend als ›absurd‹. Bei Majda Melić führte das Stottern im Bosnischen, das sie im Kontext ihres ›Kulturschocks‹ nach der Remigration interpretiert, nicht zu einer längerfristigen Ausgrenzung: Vielmehr ermöglichte ihr die Teilnahme an verschiedenen sprachbezogenen Aktivitäten auf die Initiative einer Lehrerin hin die Möglichkeit, sich als sprachlich versiert zu erleben und ›aufzublühen‹. Katharina Peck konstruiert sich als ›immer schon‹ widerständig sprachlichen Hierarchisierungen gegenüber, und ihre Verbundenheit zum Dialekt wird sich zu einem späteren Zeitpunkt zu einer beruflich nutzbaren Ressource entfalten.25 Daneben lässt sich ein Changieren zwischen Erklärungsweisen und Betrachtungen verschiedener Akteur*innen (Lehrer*innen, Eltern, Schüler*innen) in der erzählten Zeit und der heutigen Perspektive der Student*innen auf ihre schulischen Erfahrungen rekonstruieren: So wenden die Erzähler*innen zum Teil essentialisierende Schemata im Themenfeld von Sprache und natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit an, die sich u.a. in einer affirmativen Verwendung von Begriffen wie etwa ›ordentlich reden‹ oder ›tiefster Dialekt‹ zeigt. Andererseits werden in den Rekonstruktionen auch kritische Perspektiven deutlich, an denen sich zum Teil auch eine akademische Auseinandersetzung mit Sprache ablesen lässt. So fällt an der Erzählung von Katharina Peck ein durchwegs dialektologisch interessierter Blick auf, während die Erzählungen von Jonas Balta eine Auseinandersetzung verdeutlichen, die im weitesten Sinn im Themenfeld Varietätenlinguistik angesiedelt ist, was etwa der Begriff ›bundesdeutscher Standard‹ zeigt, mit dem der stärker alltagssprachliche Begriff ›Hochdeutsch‹ ersetzt wird. Milan Pavić spricht an mehreren Stellen über migrationspädagogische Perspektiven auf Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache, die er im Studium kennengelernt hat. Somit wird deutlich, dass die Student*innen innerhalb desselben Studienfaches eine Reihe unterschiedlicher fachlicher Perspektiven kennenlern(t)en, die ihnen in je spezifischer Weise ein Anknüpfen an biographische Erfahrungen ermöglichen.
25 | Katharina Peck arbeitet während des Erhebungszeitraum in einem Forschungsprojekt zu Dialekt.
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8.3 Z wischenfa zit : S pr ache in biogr aphischen E rz ählungen über die S chulzeit Es bleibt festzuhalten, dass Sprache in biographischen Erzählungen über die Schulzeit auf sehr komplexe Weise thematisiert wird. Fallübergreifend erweist sich Sprache als äußerst bedeutsam für bildungsinstitutionelle Übergänge, konkret vom Kindergarten oder aus der familialen Betreuung in die Primarstufe und von der Primar- in die Sekundarstufe. Übergänge zwischen Bildungsinstitutionen strukturieren schon sehr früh biographische Erfahrungen (vgl. Dausien et al. 2016: 43). Daneben sind sie bildungsbiographisch bedeutsame Schaltstellen mit hohem Exklusionsrisiko, die weiterführende Bildungsverläufe und damit verbundene berufliche und soziale Möglichkeiten mitstrukturieren. Bildungsinstitutionen geben sprachliche Normen vor, die mit dem Zugang zu bestimmten Schultypen oder -stufen, und innerhalb dieser mit dem Zugang zu ›Regelklassen‹ oder der Zuweisung zu gesonderten Klassen verbunden sind. Dabei spielen nicht nur über sprachstandsdiagnostische Verfahren oder Tests ermittelte sprachliche Kompetenzen eine Rolle, sondern ebenso außersprachliche Parameter und Zuschreibungen, die über Othering-Prozesse (vgl. Riegel 2016) erklärt werden können. An den Schnittstellen zwischen Familien und Schulen, an denen bildungsinstitutionelle Übergänge verhandelt werden, agiert eine Reihe signifikanter Anderer, die Bildungswege entwerfen, fördern, begleiten oder behindern. Auf der Seite der Familie werden vor allem die Mütter als Akteurinnen gezeichnet, die bemüht sind, ihren Kindern den Weg zu höherer Bildung zu ermöglichen. Daneben werden Lehrer*innen als mächtige Akteur*innen konstruiert, die Möglichkeiten der Subjekte über Notengebung, Klassenzuweisung, Empfehlungen und/oder unterstützende Maßnahmen erweitern oder begrenzen. Die Beziehungen zu diesen Anderen gestalten sich in den Erzählungen unterschiedlich und zum Teil auch widersprüchlich. Fallübergreifend lässt sich zum einen festhalten, dass Eltern ein hohes Bewusstsein für die zentrale Bedeutung von Sprache für Erfolg im Übergangssystem haben, was unter anderem damit verbunden ist, dass der Förderung der in Österreich dominanten Sprache Deutsch eindeutiger Vorzug vor derjenigen (anderer) Familiensprachen gegeben wird. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass Lehrer*innen eine Reihe außersprachlicher Elemente (wie etwa ›Auffassungsgabe‹, ›Lerngeschwindigkeit‹ und ›Fleiß‹) berücksichtigen, wenn sie die jeweils notwendigen (sprachlichen) Voraussetzungen für die nächsthöhere Bildungsinstitution einschätzen, und damit Möglichkeitsräume für die Schüler*innen begrenzen. Für den sozialen Raum Schule erweist sich Sprache auch nach den jeweils erfolgten Übergängen als hochsignifikant: In den Erzählungen wird vor allem über die Mehrheits- und Bildungssprache Deutsch gesprochen, die einen Gradmesser für schulischen Erfolg und soziale Anerkennung darstellt. Allerdings
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konnte gezeigt werden, dass nicht alle Sprecher*innen der dominanten Sprache Anerkennung erfahren: Eine marginalisierte soziale Position kann in Verbindung mit hoher Sprachbeherrschung auch ein Exklusionsrisiko darstellen, was auf die Bedeutung von Sprache als relationale soziale Kategorie verweist. Die Relationalität dieser Kategorie birgt auf der einen Seite ein beständiges Exklusions- und Verletzungspotential, andererseits ermöglicht ihre Dynamik auch (unerwartete) Anerkennungserfahrungen. So zeigen die Erzählungen nicht nur, dass es Zusammenhänge zwischen (zugeschriebenen) Sprachkompetenzen und der Positionierung im bildungsinstitutionellen Raum gibt, sie belegen ebenfalls, dass Bildungsaufstiege auch bei weniger idealen Ausgangslagen und/oder fehlender Unterstützung des Bildungssystems möglich sind. In diesem Zusammenhang positionieren sich die Interviewpartner*innen in den Erzählungen nicht nur als Objekte, sondern auch als aktive Gestalter*innen bildungsinstitutioneller Entscheidungen.
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9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
In diesem Kapitel stehen die Rekonstruktionen der biographischen Phase des Studiums und der Lebensphase danach im Mittelpunkt. Diese Phase beginnt nicht mit der formalen Aufnahme eines Studiums oder mit eventuellen Voraussetzungsprüfungen: Die biographischen Erzählungen zeigen, dass das Aufwachsen in manchen Familien von starken Bildungs- und Aufstiegsimperativen gerahmt war, innerhalb derer ein Hochschulstudium als alternativlos angesehen wurde. In anderen Fällen kann die Aufnahme eines Studiums als Fortsetzung akademischer Bildung in der Elterngeneration gelesen werden, während das Studium in einem Fall die Alternative zu einer nicht ermöglichten Ausbildung war. Insgesamt wird in den Erzählungen deutlich, dass Übergänge ins Studium weder linear verlaufen, noch als ›Entscheidungen‹ souveräner Subjekte (vgl. Dausien 2014: 43) gedeutet werden können. Vielmehr spielen eine Reihe sozialer und institutioneller Rahmenbedingungen sowie Zufallsstrukturen eine Rolle (vgl. Schwendowius 2014), innerhalb derer sich die Subjekte unterschiedlich positionieren und positioniert werden. Ein verbindendes Merkmal einiger Erzählungen ist eine sehr ausgeprägte Bildungsaspiration, die vor allem am Beispiel der jeweiligen Mütter erzählt wird (Alime Alpaslan, Günnur Duman, Özlem Karaca, Simona Popescu). Im Rahmen der in diesem Kontext erzählten Bildungsaufstiegsgeschichten stehen neben allgemeinen ›Bildungsaufträgen‹ der Familien, die ein Studium als Zielvorgabe haben (etwa in der Erzählung von Alime Alpaslan), auch ganz spezifische Berufsvorstellungen für eigene Töchter und Söhne. So kommen in der Erzählung von Özlem Karaca als anvisierte Berufe diejenigen der Ärztin, Psychologin oder Architektin vor, während der Lehrberuf als vergleichsweise gute Kombinationsmöglichkeit von Familie und Beruf (Alime Alpaslan) konstruiert wird. Manche Studienrichtungen, etwa die der Kunst, werden aufgrund erwarteter Berufseinmündungsunsicherheit (Jelena Selmanović), andere, etwa Medizin, aufgrund zugeschriebener ›Persönlichkeitsmerkmale‹, die nicht mit dem Berufsbild vereinbar sind (Simona Popescu), von den
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Eltern entweder nicht ›erlaubt‹, oder es wird den Maturant*innen davon abgeraten. Neben Familienangehörigen, die in der Entscheidungsfindungsphase als einschränkend, behindernd, ermutigend und anregend, fürsorglich und/ oder entgegenkommend beschrieben werden, spielen auch andere Personen eine zentrale Rolle, vor allem pädagogische Professionelle, die berufliche Optionen ins Feld führen, Schüler*innen in ihren Fähigkeiten bestärken oder diese in Zweifel ziehen. Während das Studium in einigen Geschichten als Ermöglichung sozialen Aufstiegs erzählt wird, erscheint es in anderen Fällen als ›zweite Wahl‹, etwa als Alternative zu einer Berufsausbildung, für die die Aufnahmebedingungen nicht erfüllt wurden (Katharina Peck) oder zu einem anderen Studium, für das die formalen Voraussetzungen nicht gegeben waren (Jelena Selmanović). Die Entscheidung für ein Lehramtsstudium begründen die Student*innen nachträglich mit eigenen Erfahrungen, etwa in der Nachhilfe, während der Schulzeit (Günnur Duman), oder sie verweisen auf ehemalige Lehrer*innen, die entweder als Vorbilder dienen oder von denen sie sich in ihrer zukünftigen pädagogischen Praxis möglichst unterscheiden möchten (Ece Erbay, Majda Melić). Neben einer ›Berufung‹ für den Lehrberuf, die von manchen Interviewpartner*innen stark gemacht wird, spielen auch eine als risikolos antizipierte Berufseinmündung und ökonomische Sicherheit eine Rolle (Alime Alpaslan, Milan Pavić). In zwei Fällen (Milan Pavić, Katharina Peck) sahen die Student*innen das Studium zu Beginn als Möglichkeit für einen vergleichsweise schnell und einfach zu erreichenden Abschluss, wurden aber von ihrem großen Interesse an den Inhalten ›überrascht‹ und beschäftigten sich viel intensiver mit dem Studium als geplant. Bedingung für die Aufnahme ins Sample waren ein ›Migrationshintergrund‹ bzw. die Selbstpositionierung als ›Dialektsprecherin‹ sowie ein Studium der Germanistik (vgl. Kap. 5.1). Je nach Studiengang (Lehramt Deutsch, Master Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Doktoratsstudium Germanistik) sind damit auch Erfahrungen in anderen Studienrichtungen verbunden, die in den Erzählungen reflektiert werden; dazu zählen zuvor absolvierte BAStudien oder abgebrochene Studiengänge sowie Kombinationen mit anderen Fächern. Zum Teil machten die Student*innen diese Erfahrungen an anderen Universitäten (und mehrere von ihnen in anderen nationalstaatlichen Kontexten). Im Zentrum dieses Kapitels steht zum einen die Bedeutung der Differenzierungslinie ›Sprache‹, zum anderen die Bedeutung, die ein Sprachstudium, insbesondere das Studium der Germanistik, im lebensgeschichtlichen Kontext einnimmt. Auch wenn die sozio-kulturellen Ressourcen und die migrationsgeschichtlichen Konstellationen in manchen Fällen vergleichbar sind, gestalten sich die Erfahrungen mit und die Haltungen zu dieser Differenzierungslinie in den Erzählungen äußerst verschieden.
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Die Differenzierungslinie ›Sprache‹ ist nicht nur für den institutionellen Studienkontext relevant, sondern reicht in den studentischen Alltag und in Arbeitskontexte hinein und entfaltet auch in die Zukunft gerichtete biographische Relevanzen. Da die Phase des Studiums bei zwei Student*innen mit einer Familiengründung zusammenfällt und eine zukünftige Elternschaft von anderen geplant ist, spielen in den Erzählungen nicht nur die eigenen Positionierungen in der Migrationsgesellschaft eine Rolle, sondern auch diejenigen eigener Kinder. Die Relevanz von Studieninhalten für die Herausbildung und Veränderung von Haltungen zu Migration und Sprache gestalten sich ebenfalls sehr unterschiedlich: Zum einen zeichnet sich in den Erzählungen die Wahrnehmung unterschiedlicher Studienkulturen ab, zum anderen erweisen sich innerhalb derselben Studienrichtung unterschiedliche Rahmenbedingungen und Prozesse als relevant für Anknüpfungsmöglichkeiten an eigene Erfahrungen und mitgebrachte Deutungen. Neben theoretischen Angeboten sind das auch Erfahrungen mit Lehrenden und Kolleg*innen.
9.1 A dressierungen als (spr achlich) A ndere Die Student*innen berichten im Kontext von Universität häufig von Erfahrungen, als Andere adressiert zu werden. Adressierungsverfahren involvieren nicht nurKörperorientierung (Blicke, Gesten, Berührungen) und sprachliche Formen (etwa Namen und Titel): Auch in der Gestaltung von Äußerungen werden die Voraussetzungen von Rezipient*innen berücksichtigt (vgl. Hartung 2001), genauer: die von den Adressierenden angenommenen Voraussetzungen. In diesem Kapitel wird der Blick auf Adressierungsverfahren gelenkt, anhand derer mit Sprache(n) verbundene gesellschaftliche Vorannahmen und Haltungen sowie soziale Positionierungen der Akteur*innen rekonstruiert werden können. Günnur Duman und Ece Erbay berichten über ganz spezifische Formen der Adressierung, die sie in den Kontext von Vorannahmen und Haltungen zu ihrem Kopftuch stellen.1 Die folgende Stelle steht am Ende einer längeren Passage, in der Günnur Duman ausführlich über ihren mehrere Jahre lang andauernden Entscheidungsprozess für das Tragen eines Kopftuchs (vgl. 2/24-3/26) und die damit verbundenen Bedenken wegen möglicher Diskriminierungen bei der Arbeitssuche spricht:
1 | Zu Günnur Dumans Erfahrungen mit Besonderungen aufgrund von Vorannahmen zum Kopftuch an der Universität vgl. Schwendowius/Thoma 2016 und Dausien et al. 2015.
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TEIL III — Falldarstellungen Gün: ich hab das Gefühl ich muss mich öfter mehr ins Zeug legen oder auf die Leute zugehen, damit sie amal sehen, dass ich ebn vielleicht jetzt nicht dem entspreche was sie sich vorgestell habn also auch so auf der Uni in Seminaren also denk hab ich oft das Gefühl, wenn ich in einer Gruppe bin, wenn wir eine Gruppenarbeit machen ich muss da schon mich ein bisschen ins Zeug legen und gesprächig werden und und um ein bisschen zu zeigen, »Ich bin also ich bin da, ich bin jetzt nicht so wie ihr’s vielleicht von mir erwartet.« (3/26-32)
Die Komparative »öfter« und »mehr« legen einen Vergleich mit Anderen nahe, die sich weniger häufig und aktiv bemühen müssen, um fraglos anerkannt zu werden. Mit ihrer aktiven Haltung in Kommunikationssituationen verbindet Günnur Duman das Ziel, zugeschriebenen Erwartungen Anderer entgegenzuwirken. Welche Vorstellung sie von diesen hat, kann nur ex negativo verstanden werden: Die Art, in der Günnur Duman den Erwartungen entgegenarbeiten möchte, spricht dafür, dass die »Leute« ihrer Ansicht oder Erfahrung nach ein Bild von einer Frau mit Kopftuch haben, die sich nicht ins Zeug legt und die nicht »auf die Leute zugeht«, also zurückhaltend, unkommunikativ, passiv, schüchtern oder ablehnend ist. Nach dieser relativ abstrakten Beschreibung wird die Erzählung konkreter und bewegt sich in den Kontext von Universitätsseminaren. Das »gesprächig werden«, das die Erzählerin als Anforderung für diesen Kontext beschreibt, kann als eine Facette von »sich ins Zeug legen« gelesen werden. Günnur Duman muss also einen bestimmten mit Sprache verbundenen Habitus an den Tag legen, um in ihrer Existenz wahrgenommen zu werden, um zu zeigen, dass sie »da« ist. Erst im Anschluss konkretisiert sie das, was sie glaubt, zeigen zu müssen: »ich bin jetzt nicht so wie ihr’s vielleicht von mir erwartet«. Auch hier bezieht sich die Erzählerin in der Negation auf die angenommene Erwartungshaltung ihrer Studienkolleg*innen: Es wird nicht expliziert, wie genau sie meint von den Anderen imaginiert zu werden. Sie wird jedenfalls als eine imaginiert, die nicht gesprächig ist. Etwas besser sichtbar werden diese exnegativo-Vorstellungen in ›Komplimenten‹, die Günnur Duman oft bekommt, und in denen sie als »so anders […] so offen für alles« (3/34) und kritikfähig (3/35) beschrieben wird. Auf ähnliche Weise entfaltet die Erzählerin dieses Problem noch einmal im Nachfrageteil, in dem sie berichtet, dass auch Studienkolleg*innen ihr positiv konnotierte Eigenschaften zuschreiben, die nur vor dem Hintergrund anti-muslimischer Stereotype erklärbar sind, und die sie als »so bestimmte Phrasen« beschreibt, in denen sie als »modern« (22/43) und »aufgeschlossen« (22/43) bezeichnet wird und in denen ihre guten Deutschkenntnisse hervorgehoben werden (22/43-44). Zudem wird sie mit Fragen nach den Gründen für ihre Studienwahl konfrontiert (22/44), was diese legitimierungsbedürftig erscheinen lässt. Die Erzählerin bezeichnet diese Aussagen und Fragen evalu-
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
ierend als »oberflächliche Dinge einfach« (22/45). Dadurch distanziert sie sich von den sprachlichen Äußerungen, verdeckt aber deren anti-muslimischen Charakter und stellt sie als lediglich nicht besonders gut durchdacht dar. Möglicherweise nimmt sie über diese Verharmlosung auch Rücksicht auf die Interviewerin, die ein Mitglied der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft ist, oder es gelingt ihr dadurch besser, sich als handlungsfähig zu konstruieren. Auch in Ece Erbays Erzählung nehmen mit dem Kopftuch verbundene Adressierungen viel Raum ein, und in der Haupterzählung stehen Erfahrungen mit anti-muslimischem Rassismus im Zentrum. Nach einer Passage, in der Ece Erbay über solche Erfahrungen im öffentlichen Raum und an Schulen spricht, steuert die Interviewerin den sozialen Raum ›Universität‹ an: Int: Mhm. Und ähm welche Erfahrungen hast du an der Uni gemacht? Ece: Ähm an der Uni eher nicht so oft negative Erfahrungen. Also ich werde oft daraufhin angesprochen, dass, dass sie’s super finden, dass ich so gut Deutsch sprechen kann. Dass von mir eigentlich ständig erwartet wird, dass ich nicht so gut Deutsch sprechen sollte. Das is auch ein Punkt, das mich (1) mh – stört, aber ich nehm’s den Leuten nicht mehr so übel, weil, was sollen sie sonst denken. Es gibt jetzt so viele Studenten, die aus dem Ausland herkommen, aus unterschiedlichen Gründen, ahm, und die einfach nicht so gut Deutsch können, das ist, das ist mir schon klar, ahm ich seh’s aber auch als ein – ah positives Feedback, weil (1) auch wenn man hier geboren und hier aufgewachsen ist, heißt das noch lange nicht, dass man perfekt Deutsch sprechen könnte oder sollte, müsste, mhh. (6/36-46)
Mit der Frage ist nicht nur der Raum ›Universität‹ angesteuert, sondern implizit auch ein thematischer Schwerpunkt vorgegeben: Im Kontext des eben Erzählten wirkt die Frage als Aufforderung, über mit dem Kopftuch verbundene Erfahrungen an der Universität zu sprechen. Die Erzählerin steigt mit einer evaluierenden Wertung ein, die einerseits über die Negation »nicht« eine grundlegende Veränderung im Vergleich mit anderen Räumen markiert, andererseits mehrere Unsicherheits- und Vagheitsmarkierungen enthält: »Ähm«, »eher«, »nicht so oft«. Die Erfahrungen, die sie nun beschreibt, beziehen sich auf Anrufungen als sprachlich Andere, an denen sich die Überraschung Mehrheitsangehöriger ablesen lässt, dass Ece Erbay »so gut Deutsch« spricht. Die Adverbien »oft« und »ständig« sprechen dafür, dass es sich um eine wiederkehrende Alltagserfahrung handelt. Am Beispiel dieser Passage lässt sich ein Dominanzverhältnis beschreiben, in dem »sie« eine Position haben, aus der heraus sie die Deutschkenntnisse Ece Erbays beurteilen können und dürfen. Die Formulierung »so gut Deutsch sprechen kann« lässt die Lesart zu, dass Ece Erbay nicht als Studentin wahrgenommen wird, die ›deutschsprachig‹ ist, sondern als eine, die
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TEIL III — Falldarstellungen
Deutsch nach einem längeren Prozess des Lernens nun sprechen ›kann‹ und somit als Teil einer typisierten Gruppe, deren zugeschriebene sprachliche Performanz nicht den Normalitätserwartungen der geschilderten Personen entspricht. Ein weiterer Hinweis auf die irritierten Erwartungen derjenigen, die Ece Erbays Deutsch bewerten, liegt in der Modalität »Deutsch sprechen sollte (Hervorh. N.T.)«. In der Art und Weise, in der sie über die Gruppe derer spricht, die von ihren Deutschkenntnissen überrascht sind und diese beurteilen, definiert sie die Gruppe nicht und klagt diese auch nicht an. Nach der Rekonstruktion der starken Irritationsmomente, die die Kombination von Kopftuch und sehr guten Deutschkenntnissen in Ece Erbays akademischem Umfeld auslöst und die wieder auf sie zurückgeworfen werden, expliziert sie, dass sie sich nicht beschweren möchte. Vielmehr behauptet sie, es »den Leuten« nicht mehr »so übel« zu nehmen. In der Formulierung »nicht mehr« wird angedeutet, dass es eine Zeit gab, in der Ece Erbay die Anrufungen durchaus ›übelnahm‹, und aus dem »so übel« lässt sich eine Abmilderung des Grades des ›Übelnehmens‹ ablesen. Insgesamt fällt auf, dass Ece Erbay an dieser Stelle keine explizite Kritik ausspricht und das Problem, mit dem sie konfrontiert ist, sehr vorsichtig umschreibt. Das unterscheidet diese Stelle sehr deutlich von einer Stelle, an der sie mehrfach ganz explizit über »Rassismus« (3/33, 4/9, 4/14) und über »Alltagsrassismus« (3/30) spricht. Auch gegen Ende des Interviews gibt es eine Stelle, an der Ece Erbay die Themen ›Sprache‹ und ›Rassismus‹ noch einmal als die beiden wesentlichen Inhalte ihrer Erzählung miteinander verschränkt: »Ähm (2) mir fällt eigentlich auch nicht wirklich was ein, weil ich hab jetzt sehr viel von mir erzählt (1) und viel über die Sprache, viel über Rassismus, was, was mir tagtäglich im Leben zukommt und äh, ja. (18/29-31)«. Dass Ece Erbay im Sprechen über den akademischen Kontext den Begriff ›Rassismus‹ nicht verwendet, kann verschiedene Gründe haben: Dass sie der Interviewerin soweit vertraut, dass sie Rassismus ihr gegenüber thematisieren und als solchen benennen kann, geht aus den oben zitierten Stellen hervor. Auch, dass die Erzählerin nach einer Unterbrechung innerhalb einer Erzählung über Rassismuserfahrungen, in der sie weinen musste, weitererzählte (vgl. Kap. 3/28-48), lässt sich als ein Hinweis darauf interpretieren. Möglicherweise findet Ece Erbay es sozial problematisch, Universitätsangehörige und/ oder Student*innen und deren Aussagen als rassistisch zu bezeichnen, weil durch eine solche Anklage der Kontext, dem sie und die Interviewerin angehören und in dem sie sich noch bis zum Ende ihres Studiums zurechtfinden muss, beschädigt würde. Vielleicht nimmt die Erzählerin auch Rücksicht darauf, dass die Interviewerin als Lehrende an einer Universität möglicherweise Personen, mit denen Ece Erbay im Rahmen ihres Studiums negative Erfahrungen gemacht hat, persönlich kennt, und möchte über diese Personen oder über die Berufsgruppe im Allgemeinen nicht in einer anklagenden Weise sprechen.
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Eine weitere Lesart ist die, dass sie das positive Othering, das ihr an der Universität widerfährt, anders bewertet als die explizit anti-muslimischen Angriffe, die sie aus anderen sozialen Räumen kennt. Sie fährt fort, indem sie das Denken der Gruppe, von der sie als sprachlich Andere angerufen wird, als alternativlos deutet: »was sollen sie sonst denken«. Gleichzeitig legitimiert sie dieses mit einer großen Anzahl von Studierenden, die »aus dem Ausland herkommen« und »nicht so gut Deutsch können« und formuliert damit zugleich eine Normalitätsvorstellung von natio-ethno-religio-kultureller Zugehörigkeit, Bildung und Sprache, innerhalb derer die Anrufungen als sprachlich Andere nicht überraschend sind und somit als »positives Feedback« (6/44) gedeutet werden können. Einerseits macht ihre über das »man« (6/44, 6/45) formulierte allgemeine Regel deutlich, dass kausale Verbindungen zwischen Geburtsort und Sprachkenntnissen zu kurz greifen, andererseits hebt sie sich über diese Argumentation implizit innerhalb der Gruppe der Migrant*innen, die bereits in Österreich geboren wurden, bzw. derer, die an der Universität als ›Bildungsinländer*innen‹ gelten, positiv hervor. An der Suche nach der passenden Modalität (»Deutsch sprechen könnte oder sollte, müsste«) werden gleichzeitig gesellschaftliche sprachbezogene Erwartungshaltungen deutlich. Ece: es gibt aber auch wiederum Lehrer, die (atmet aus) irgendetwas vorne vortragen und mir dann in die Augen schauen und sagen »Haben Sie eh alles verstanden?« Ah, ja, manchmal find ich’s lustig (lacht) manchmal denk ich mir, ja ok vielleicht hat halt der oder die andere Erfahrungen gemacht und es wird dann halt vielleicht die Zeit sein, wo ich der Person zeigen kann – es is nicht immer so, es muss nicht immer so sein (2) ah, ja, (1) aber meistens eben, mehr positiv als wie negativ an der Uni. (6/46-7/2)
Nun folgt die Rekonstruktion von ›typischen‹ Erlebnissen: Sowohl die Berufsbezeichnung, mit der die Erzählerin hier Universitätsdozent*innen zu »Lehrer[n]« ›degradiert‹, als auch die Bezeichnung für deren Tätigkeit und das jeweilige pädagogische Setting (»irgendetwas vorne vortragen«) zeigt eine eher abwertende Perspektive. Das »in die Augen schauen« verweist darauf, dass sich Ece Erbay in Situationen, über die sie hier zusammenfassend spricht, direkt adressiert sieht und dass in der Wahrnehmung dieser Adressierung auch eine leibliche Dimension angesprochen ist: Unter allen potentiellen Rezipient*innen wird sie aus der Anonymität der Gruppe hervorgehoben und damit gleichzeitig einer typisierten Gruppe zugerechnet, deren Fähigkeit, deutschsprachigen akademischen Ausführungen zu folgen, als eingeschränkt konstruiert wird. Nun bewertet Ece Erbay solche Situationen in relativierender Weise als »manchmal […] lustig«. Diese Bewertung und das Lachen darüber können als Form der Distanzierung und/oder des (Wieder-)Findens der eigenen Souve-
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TEIL III — Falldarstellungen
ränität, vielleicht in der Zukunft, gedeutet werden. Eine andere Form Ece Erbays Auseinandersetzung besteht in Überlegungen zu möglichen Ursachen, die sie in »andere[n] Erfahrungen« der Lehrenden sucht und in ihrem Vorhaben, deren Verallgemeinerungen am Beispiel der eigenen Person als solche zu ›entlarven‹. Die »Person«, über die die Erzählerin hier spricht, wird nicht mit Eigenschaften ausgestattet oder erzählerisch in eine bestimmte Begebenheit eingewoben, sondern fungiert als Platzhalter für eine Vielzahl an Einzelpersonen aus dem universitären Alltag. Evaluierend schließt die Erzählerin diese Passage mit einer uneindeutigen Bewertung ab. Das kann damit erklärt werden, dass die erzählten Erfahrungen für Ece Erbay zwar unangenehm, aber weniger verletzend als explizit anti-muslimische Zuschreibungen und sprachliche Übergriffe in anderen Kontexten waren. Darüber hinaus gelingt es der Erzählerin dadurch, einen Opfer-Status zurückzuweisen und in der Entlarvung der Zuschreibungen handlungsmächtig zu bleiben. Insgesamt lässt sich aus den angeführten Passagen die Hypothese ableiten, dass an der Universität eine migrationsgesellschaftliche Ordnung wirksam ist, innerhalb derer Ece Erbay hierarchisierend als sprachlich Andere adressiert wird. Wie diese Ordnung funktioniert und welche Akteur*innen in welcher Weise an ihrer Aufrechterhaltung beteiligt sind, wird nicht explizit angesprochen: vielmehr bilden diese ein Kollektiv, über das die Erzählerin verallgemeinernd mit »sie« spricht oder das in passiven Formulierungen nicht als Agens auftritt. Dass Ece Erbay sich der Ordnung, damit verbundener Homogenisierungsmechanismen und ihrer eigenen prekären Zugehörigkeit allerdings durchaus bewusst ist, zeigt sich an ihrer Aussage »das ist mir schon klar«. Ihr Sprechen über besondernde Adressierungen an der Universität ist keineswegs skandalisierend; die sprachlichen Relativierungen werden vor allem im Kontext der gesamten biographischen Erzählung, innerhalb derer anti-muslimischer Rassismus im Zentrum steht, besser verständlich: Diese wiegen im Vergleich zu den Erfahrungen, die sie an der Universität macht, viel schwerer. Dass Manches an der Beschreibung nicht explizit benannt und angesprochen wird, könnte auch darauf verweisen, dass Ece Erbay in Interaktionen mit Anderen an der Universität oft die Erfahrung von Tabuisierungen und von NichtAusgesprochenem macht, die sich in ihrer Erzählung performativ wiederholen. An der Erzählung von Paola Pascucci an der Universität lässt sich eine andere Facette von Adressierungen rekonstruieren. Die Erzählerin problematisiert den Umstand, »immer diese Etikette zu haben – okay du bist Ausländerin« (15/28-29), wofür sie einige Beispiele aus ihrem Alltagsleben und ihren Arbeitserfahrungen bringt. Daraufhin fragt die Interviewerin, ob es auch im sozialen Kontext ›Universität‹ vergleichbare Erfahrungen gab:
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Int: hast du solche Erfahrungen an der Uni auch gemacht, wie dus grad erzählt hast? (2) Pao: Ja, eine – und hier ist alles anonym, aber mit meinem Betreuerin eben (2) ja sie hat mir deutlich gesagt ins Gesicht, unnetterweise, dass ich, »Es muss ihnen eh klar sein, dass sie hier nur eine Ausländerin sind«, hat sie mir gesagt. – Da bin ich mit vollen Tränen ausgegangen, natürlich nicht vor ihr, aber mhm. (16/13-18)
Mit der Frage der Interviewerin ist zum einen der soziale Raum ›Universität‹ angesteuert, zum anderen bezieht sie sich explizit auf exkludierende Erfahrungen und legt mögliche positive Erfahrungen nicht nahe. Paola Pascucci geht nach einer kurzen Pause auf den sozialen Kontext des Interviews und die vereinbarten Rahmenbedingungen zur Anonymisierung ein, was darauf hindeutet, dass sie im Begriff ist, etwas zu erzählen, von dem sie nicht möchte, dass es später auf ihre Person zurückgeführt werden kann. In weiterer Folge wird auch der Grund dafür verständlich: Die Dissertationsbetreuerin verwies ihre Doktorandin auf den inferioren Platz einer ›Ausländerin‹, den sie als unveränderbar und notwendigerweise zu akzeptieren konstruierte. Wie emotional belastend diese Inferiorisierung war, lässt sich daran ablesen, dass die Protagonistin das Büro der Betreuerin »mit vollen Tränen« verließ. Pao: eigentlich hätte ein fachliches Gespräch sein sollen, (2) aber meine Betreuerin hat mich am Anfang super geschätzt, also mir war’s richtig peinlich manchmal, – weil sie hat so begeistert von meinem Referat, oder von mein ah ich war – ich, mir war’s peinlich () nein () so, und ähm hat mich voll motiviert und ich war super zufrieden auch, und ich hab gesagt »ja ich hab die richtige Person gefunden«. Sie hat auch eine – ähnliche Erfahrung gehabt, weil sie in Italien äh an der Uni D-Stadt (1) äh ge_ gearbeitet hat, so als Assistentin, und ähm – sie kann auch sehr gut Italienisch, ist auch, glaub ich, sehr=sehr oft in Italien, auf jeden Fall, man kann sich auch identifizieren, na. (16/22-29)
Auf die Angabe der eigentlich geplanten Rahmung des Gesprächs als ›fachlich‹ folgt ein Einschub, in dem die Erzählerin auf die Geschichte des Betreuungsverhältnisses eingeht. Dieses charakterisiert sie als ausgesprochen positiv, vertrauensvoll und von vergleichbaren Erfahrungen im akademischen Feld geprägt. Die Situationen der öffentlichen Belobigung im Kontext von Lehrveranstaltungen enthalten allerdings eine pädagogische Hierarchisierung, die der Studentin »richtig peinlich manchmal« war. In deren Schilderung kommt das Wissen um den eigenen prekären Status zum Ausdruck. Der Hinweis auf die Vergleichbarkeit der Erfahrungen verweist möglicherweise auf die Hoffnung, Verständnis von der Betreuerin zu erfahren. Erzählerisch erfüllt diese Hintergrundkonstruktion die Funktion, die Degradierung während der Sprechstunde als noch wesentlich erklärungsbedürftiger erscheinen zu lassen.
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TEIL III — Falldarstellungen Pao: und ähm (2) also es war schon klar, dass ich von Anfang an eine Ausländerin war – ähm (1) und dann plötzlich, äh ähm – seit eigentlich, ja so zehn Monaten – war sie ganz anders, hat – sie hat – natürlich man muss immer bedenkt, dass die Professoren oder die Leuten auch ihre eigenen Frustrationen haben ja, (1) und sie hat angefangen, ich hab mich immer beworben für Stipendien, sobald etwas gab. Ich hab nichts bekommen, okay, ich hab nichts bekommen und das ist alleine für mich schon schwierig – und ähm (1) sie hat mir bei () also eigentlich die letzte Sprechstunden von den letzten zehn Monaten, laufen immer so, ich geh rein, und sie fängt an einfach zu reden, also, als ob sie blind wäre. (16/33-41)
Die Erzählerin argumentiert, dass ihr Status als ›Ausländerin‹ »von Anfang an« klar war, wodurch sie die »plötzlich« veränderte Einschätzung der Betreuerin zu ihrer beruflichen Zukunft als besonders begründungsbedürftig darstellt. In einem Einschub verweist sie auf mögliche eigene »Frustrationen« von Professor*innen und anderen »Leuten«, wodurch sie das damalige Verhalten der Betreuerin ein Stück weit legitimiert. Dann beginnt die Rekonstruktion des sich sukzessive verschlechternden Verhältnisses, das damit beginnt, dass diverse Stipendienanträge, die Paola Pascucci schrieb, nicht erfolgreich waren, was die Erzählerin an sich schon als »schwierig« bezeichnet. Die Sprechstunden in dem angegebenen Zeitraum charakterisiert sie als sehr uniform: Aus dem wertschätzenden Verhältnis wurde eines, in dem die Doktorandin nicht mehr ›gehört‹ wurde, sondern die Professorin »einfach zu reden [begann, …] als ob sie blind wäre«. Diese Formulierung legt nahe, dass das ›erzählte Ich‹ sich mit aktuellen Fragen und Belastungen von der Betreuerin nicht ernstgenommen und ›gesehen‹ fühlte. Die Erzählerin berichtet weiter, dass die Professorin ihr in diesen Sprechstunden laufend von erfolgreichen Stipendienanträgen einiger Kolleg*innen erzählte, was sie als sehr unangenehme »indirekte äh Konfrontation mit anderen, die ich nicht will« (16/42-43), bezeichnet. Pao: und das hat eskaliert ah, immer, das war immer mehr, immer mehr, immer mehr, »sie müssen zurück nach Italien«, sie hat mir ständig »sie müssen zurück nach Italien, sie müssen«, was will ich in Italien machen. Also was will ich in Italien machen jetzt. Nein, also ich=ich, ich hab hier ein großer Glück, dass ich hier ein Doktorat machen darf, und wenn ichs schaffe, wenn ich nicht schaffe, ist meine Sache. (16/44-17/1)
Sie rekonstruiert, wie es zur »Eskalation« (17/17) kam. Die mehrfache Verwendung und Wiederholung der Steigerungsindikatoren und Temporaladverbien vor und während der inszenierten Rede sowie die Wiederholung und Modalität des professoralen ›Ratschlages‹ verweisen auf dessen als übermächtig empfundene Qualität. Interessant ist der Umgang der Betreuerin mit den abgelehnten Stipendienanträgen: Anstatt die Doktorandin in ihrer Arbeit zu
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bestärken und/oder ihr die Funktionsweise von Begutachtungsverfahren zu erklären, deren Ergebnisse sich nicht notwendigerweise auf die Qualität der Arbeit zurückführen lassen, erklärt sie das Scheitern mit der Nationalität der Studentin und rät ihr, nach Italien zurückzukehren. Paola Pascucci weist die Vorstellung, dass sie in Italien erfolgreicher wäre, zurück und bezeichnet es als »großer Glück«, ein Doktorat in Österreich machen zu ›dürfen‹, dessen Erfolg oder Scheitern sie ausschließlich bei sich selbst verortet. Dadurch übernimmt sie die Verantwortung für den Promotionsprozess und positioniert sich auch als ›erwachsen‹ und in gewisser Weise unabhängig von der Betreuerin. Zudem weist sie deren Vorstellung, dass mehrheitsgesellschaftliche Haltungen zu ihrer Nationalität den Erfolg des Studienprojekts und spätere Arbeitsmöglichkeiten beeinflussen könnten, zurück. In einem Gespräch, in dem Paola Pascucci mit ihrer Betreuerin über die Publikation eines wichtigen Artikels sprechen wollte, ging es ebenfalls nicht um dessen Inhalt, sondern um ihre Nationalität (17/3-43). In einer Hintergrundkonstruktion beschreibt die Erzählerin, dass die Professorin vor Beginn der Eskalation Paola Pascuccis sprachliche Fähigkeiten im Deutschen immer sehr positiv hervorgehoben hatte (17/10-12). Vor dem Hintergrund dieser Information wirkt der nachfolgend wiedergegebene Gesprächsausschnitt jedenfalls überraschend: Pao: und plötzlich, »Ja ich hab eine Kollegin die auch Italienerin ist, und wenn sie vorträgt, oder wenn sie spricht, spricht sie in so einem korrektem Deutsch man hört überhaupt kein Akzent und sie macht keinerlei Fehler« also okay, indirekt heißt das, dass ich eine starken Akzent habe und, dass ich viele Fehler mache und das war für mich schon voll erniedrigend ah demütigend, weil=weil ich war wirklich fertig und dann – sagt sie mm die Eskalation war so äh »ja sie können von Österreich nichts bekommen, wie ich nichts von Italien bekommen habe.« (17/12-19)
Die professorale Bewertung des Deutschen einer italienischen Kollegin bezeichnet Paola Pascucci vor dem Hintergrund des früheren Lobes ihrer Sprache als »plötzlich«. Dass über die positive Beurteilung des »korrekte[n] Deutsch« und des fehlenden Akzents dieser Kollegin implizit ihr eigenes Deutsch als ›nicht korrekt‹, ›fehlerhaft‹ und ›mit starkem Akzent‹ abgewertet wird, ist Paola Pascucci klar. Als wirkliche ›Eskalation‹ sieht sie allerdings die Einschätzung der Professorin, dass sie »von Österreich nichts bekommen« könne, was diese mit ihrer eigenen Erfahrung in Italien vergleicht und begründet. Innerhalb der Ambivalenz der persönlichen Beziehung zwischen Betreuerin und Doktorandin erhalten die Verweise auf Paola Pascuccis Nationalität und auf die Normabweichungen in ihrem Deutsch die Funktion, eine Begründung für abgelehnte Stipendienanträge zu finden, die außerhalb des Betreuungsverhältnisses und somit auch der Verantwortung der Betreuerin liegen.
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Im weiteren Verlauf legitimiert die Erzählerin diese Haltung der Professorin ein Stück weit über deren schwierige Erfahrungen in Italien und ihre nicht ganz einfache Position an der Universität A-Stadt (17/19-22), kommt dann aber in einer rekonstruierenden Redewiedergabe noch einmal auf die Situation der Eskalation zurück: Pao: »[…] Sie werden mit ihrem Doktortitel nichts bekommen« hat sie mir direkt gesagt, ich hab gesagt »Naja okay, schaun ma mal, vielleicht doch nicht, aber dann werd ich Klo putzen mit meinem Doktortitel, is auch egal.« (17/23-26)
Bei der hier rekonstruierten Zukunftsvision der Betreuerin handelt es sich um eine weitere Variante der bereits mehrfach geäußerten Überzeugung von einer bevorstehenden Exklusion Paola Pascuccis, die sich hier konkret auf die Entwertung ihres angestrebten Titels bezieht. Ob oder wie sehr der Betreuerin bewusst ist, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht nur Abschlüsse relevant sind, sondern auch soziale Merkmale derer, die über Abschlüsse verfügen, geht aus der Passage nicht hervor. Jedenfalls wiederholt sie derartige Exklusionsmechanismen in ihrem Sprechen über potentielle Arbeitsmöglichkeiten für ihre Doktorandin und deklariert eine Anerkennung von Paola Pascuccis Doktortitel als ausgeschlossen. In der die wiedergegebene Rede ausleitenden Formel »hat sie mir direkt gesagt« macht die Erzählerin deutlich, dass über den Inhalt des Gesagten hinaus auch dessen unmissverständliche Direktheit zur ›Eskalation‹ beitrug. Das ›erzählte Ich‹ reagiert mit großem Zynismus und stellt dem angestrebten Bildungsabschluss eine der gesellschaftlich am meisten abgewerteten Formen von Erwerbsarbeit entgegen, womit sie ein Extrembeispiel für rassistische Strukturen des Arbeitsmarktes in den Raum stellt, mit denen sie als ›ausländische‹ Absolventin später konfrontiert sein wird. Pao: und dann »Weil es muss Ihnen klar sein, dass Sie hier nur eine Ausländerin sind« und ich hab gesagt »Ja – also es ist mir sehr klar. Das ist eigentlich ein zentrales Thema, und ich versuche damit umzugehen seit drei Jahren, und ich habs irgendwie geschafft, damit klar zu kommen«, aber das war für mich eine große Beleidigung, muss ich sagen, weil ich hätt es von ihr, von einem akademischen ähm (1) Niveau, von ihr normal nicht erwartet und ich – ja, ich bin dann ausgegangen und ich hatte, das war richtig hart, also ich war zuerst voll demotiviert, dann war ich voll wütend, da war ich voll beleidigt, und dann hab ich gesagt »du des, ich mach weiter und ich, wenn du siehst, was ich machen kann, gut, sonst nicht« aber – aber das war eigentlich ein Schlag muss ich sagen. (17/26-35)
In weiterer Folge gibt die Erzählerin eine andere Variante des damals von der Betreuerin Gesagten wieder, nämlich, dass das ›erzählte Ich‹ »hier nur eine Ausländerin« sei. Paola Pascucci bezeichnet ihre soziale Positionierung
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als »zentrales Thema« und weist auf ihren bereits länger andauernden ›Versuch‹ hin, »damit klarzukommen«. Sowohl die herausgestellte Bedeutung des Themas als auch der Hinweis auf den längerdauernden und noch nicht abgeschlossenen Prozess einer Positionierung darin lassen den Schluss zu, dass ihr die gesellschaftlichen und akademischen Machtverhältnisse, in die sie eingebunden ist, sehr wohl bewusst sind. Insgesamt bezeichnet sie die Aussagen der Professorin als »große Beleidigung« und weist auf den Kontext hin, in dem diese getätigt wurden, nämlich von einer Person mit akademischem »Niveau«. Damit konstruiert Paola Pascucci die Universität als Raum, der idealerweise frei von rassistischen Strukturen sein sollte oder in dem diese zumindest als solche angesprochen und reflektiert werden sollten. Die Erzählerin rekonstruiert ihre damaligen Gefühle mit einer Abfolge von Demotivation, Wut und Beleidigung, an deren Endpunkt die Entscheidung stand, trotz der Demütigungen ›weiterzumachen‹, die sie in einer imaginierten Rede der Professorin gegenüber wiedergibt. Darin wird die Betreuerin über ein ›du‹ gewissermaßen ›herabgestuft‹ und auf die gleiche Ebene wie das ›erzählte Ich‹ gestellt. Zudem stellt Paola Pascucci fest, dass sie die Entscheidungshoheit über ihren weiteren akademischen Weg bei sich selbst sieht. In ihrer inszenierten Rede stehen nicht ihre Leistungen auf dem Prüfstand, sondern die Frage, ob die Betreuerin diese ›sieht‹ und somit anerkennt. Am Ende der Passage evaluiert die Erzählerin das damalige Gespräch als »ein[en] Schlag«, eine Formulierung, die im Sinne eines ›Rückschlags‹ gedeutet werden kann und jedenfalls ihre Verletzbarkeit deutlich macht. Sie meint weiter, dass die Professorin die von ihr getätigte Abwertung »gar nicht gecheckt« habe oder dass sie ihr »gar nicht bewusst« war und begründet das mit einer Situation, die eine Woche nach dem Gespräch stattfand, in der Paola Pascucci in einem Seminar ein Referat hielt, nach dem sie von der Professorin wieder auf eine wie eingangs angedeutete Weise gelobt wurde, die sehr überzogen und dem ›erzählten Ich‹ in der Situation möglicherweise, wie schon an anderer Stelle erwähnt, ›peinlich‹ war (16/23, 16/25), und in der diese Paola Pascuccis Weg zu einer Professur als unausweichlich darstellte (17/49-51). Wie sehr diese Adressierung als außerordentlich erfolgreiche Jungwissenschaftlerin in Widerspruch zu der Abwertung in der Sprechstunde steht, ist so offensichtlich, dass es der Interviewerin gegenüber nicht expliziert werden muss. Abschließend stellt die Erzählerin »wahrscheinlich eine=eine besondere Phase bei ihr« (18/2) als mögliche Erklärung für die erlebte Abwertung in den Raum, stellt dem aber noch ein moralisches Urteil entgegen: »wenn man so etwas nicht denkt, sagt mans einfach nicht« (18/3-4), das zugleich über der gesamten Passage steht. Zum Schluss evaluiert die Erzählerin ihre Erlebnisse wie folgt: Pao: das hat, das ist mir passiert, ja und das war eigentlich das=das einzige. (18/6)
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Damit nimmt die Erzählerin implizit noch einmal auf die Frage der Interviewerin Bezug, indem sie betont, dass das eben Erzählte »eigentlich« das einzige vergleichbare Erlebnis an der Universität gewesen sei. Das lässt sich als Bemühen lesen, das Bild der Universität als diskriminierungsfreien Raum aufrechtzuerhalten. Dass sie jedoch trotz ihrer Bedenken wegen einer möglichen ›Identifizierbarkeit‹ ihrer Person so ausführlich von den Erlebnissen mit ihrer Betreuerin erzählt, ist ein Hinweis auf das Gewicht der abwertenden Erfahrungen und lässt sich gleichzeitig als Ausdruck des Bewusstseins über das Abhängigkeitsverhältnis und die Relevanz der Betreuerin als Gate-Keeperin für den weiteren akademischen Weg lesen.
Zusammenfassende Überlegungen: Kategoriale Adressierung versus Adressierung in pädagogischen Beziehungen An den Fällen wurden exemplarische Varianten von Adressierungen als sprachlich Andere rekonstruiert. Als Gemeinsamkeit erweist sich, dass solche Adressierungen Bestandteil der Alltagswelt der Student*innen sind, dass diese aber an der Universität einen besonderen Stellenwert einnehmen, weil mit ihnen die Frage der Legitimität als Deutschstudent*in und/oder als Doktorand*in des Faches Germanistik in Österreich verbunden ist. Im Vergleich lassen sich zwei verschiedene Formen von Adressierung identifizieren: Die Form, die in den von Günnur Duman und Ece Erbay erzählten Situationen überwiegt, lässt sich als kategoriale Adressierung beschreiben. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die Studentinnen in den beschriebenen Situationen nicht als Individuen, sondern als Typen im Sinne von Schütz (1972) adressiert werden, also als austauschbare Vertreterinnen einer vermeintlich homogenen Gruppe (vgl. ebd.: 217f.). Diese Adressierungen sind mit einer kategorialen Abwertung verbunden: Die Studentinnen werden über die Hervorhebung positiver Eigenschaften (etwa gute Deutschkenntnisse, Offenheit und Kritikfähigkeit) als Ausnahmen vom Kollektiv, das sie aus der Perspektive ihrer Interaktionspartner*innen typisieren, konstruiert. Da aus den als ›Komplimente‹ erscheinenden Zuschreibungen das Relevanzsystem des gemeinsamen Feldes und die diesem eingeschriebenen Hierarchisierungsprozesse allerdings ex negativo abgeleitet werden können, misslingen die ›Komplimente‹ bzw. bleiben in der Deutung der Studentinnen jedenfalls ambivalent. Im Gegensatz dazu lässt sich die Form, die Paola Pascucci in ihrer Erzählung beschreibt, als Adressierung in einer pädagogischen Beziehung, die durch die besondere Struktur des akademischen Feldes nach dem Muster von Familienbeziehungen (›Doktormutter‹ und ›Doktorvater‹) persönlich aufgeladen ist, beschreiben. Im Unterschied zu den anonymen Interaktionsrahmen, in denen Günnur Dumans und Ece Erbays Erzählungen angesiedelt sind, enthält derjenige, den Paola Pascucci beschreibt, seine Verletzbarkeit aufgrund dieser Beziehung. Die Adressierungen, mit denen sie konfrontiert ist, finden inner-
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halb eines bereits länger andauernden und von wechselseitiger Identifikation getragenen Betreuungs- und Vertrauensverhältnisses statt, innerhalb dessen die wissenschaftliche Arbeitsweise der Doktorandin im halböffentlichen Rahmen von Lehrveranstaltungen bereits mehrfach hervorgehoben wurden. Allerdings sind die Typisierungsschemata des gemeinsamen Feldes so stark, dass sie völlig unerwartet in die Beziehung hineinwirken. Der vergleichsweise späte Zeitpunkt der Abwertungen von Seiten der Betreuerin zeigt, dass sprachliche Zugehörigkeit kein Status ist, der in allen Situationen und ›ein für alle Mal‹ erreichbar ist, sondern dass eine einmal erlebte Zugehörigkeit mit der Veränderung der Rahmenbedingungen – auch unter der Voraussetzung gleichbleibender Akteur*innen – brüchig werden kann, und dass die Gefahr von Diskreditierbarkeit für nicht dominant positionierte Student*innen grundsätzlich bestehen bleibt. Wie stark die sprachbezogenen Erfahrungen der Student*innen von den sozialen Räumen abhängen, in denen sie sich jeweils bewegen, zeigt auch ihre Darstellung des Raumes ›Universität‹: Die in diesem Kapitel zu Wort gekommenen, aber auch die anderen Student*innen sind in ihren Erzählungen bemüht, das (Ideal-)Bild eines weitgehend diskriminierungsfreien Sozialraums ›Universität‹ aufrechtzuerhalten, an dem ihnen im Unterschied zu anderen Orten, an denen sie sich bewegen, kein offener Rassismus begegnet, was sie zum Teil explizit betonen. Zudem wird dieses Bemühen an sprachlichen Relativierungen erkennbar, an den Beteuerungen, dass es sich bei den erzählten Erfahrungen um Einzelfälle handelt, sowie am Versuch, die Positionen der Adressierenden zu legitimieren oder sie für die Interviewerin verständlich zu machen. Möglicherweise hängt die Vorsicht, die diskriminierende Wirkmacht der Adressierungen als Bestandteil des Sozialraums Universität zu deuten, mit der Interaktionssituation und mit Vorstellungen oder Annahmen zusammen, die die Involviertheit der Interviewerin darin betreffen.
9.2 B edeutung eigener S pr achen und P ositionierungen zu spr achbezogenen D ifferenzierungen In einem engen Zusammenhang mit den im letzten Kapitel thematisierten Adressierungen stehen sprachbezogene Differenzierungskategorien, die für die Erzähler*innen in Studium, Alltag und Beruf relevant sind, und zu denen sie sich unterschiedlich ins Verhältnis setzen. Diese alltagstheoretischen und wissenschaftlichen Kategorien werden in allen Interviews thematisiert und haben hohe Relevanz für die Frage sozialer und akademischer Zugehörigkeit. In diesem Kapitel wird ein Fokus auf lebensgeschichtliche Veränderungen dieser Kategorisierungen und deren Bedeutung für die Selbstpositionierung in unterschiedlichen sozialen Kontexten gelegt.
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9.2.1 Subjektive Ordnungen von Sprachen In den Interviews waren durchwegs Versuche erkennbar, die eigenen Sprachen in eine ›Ordnung‹ zu bringen. Im Folgenden werden einige beispielhafte Varianten solcher Ordnungssysteme vorgestellt. Milan Pavić setzt sich sehr intensiv mit sprachlichen Kategorisierungspraxen auseinander, die er auch in seiner Masterarbeit behandeln möchte. Möglicherweise ist das ein Versuch, wissenschaftlich ›in den Griff zu bekommen‹, was alltagspraktisch ein Problem darstellt. In der folgenden Passage spricht er über die Schwierigkeiten eindeutiger Einordnungen entlang der Kategorisierungen ›Muttersprache‹, ›Erstsprache‹ und ›Zweitsprache‹: Mil: Es is halt irgendwie, total schwierig das irgendwie zu=zu_ festzumachen finde ich!=Ich würd einfach sagen »meine… – meine Sprachen sind« – vielleicht, ja, Int: Mhm Mil: ähmm – »Deutsch, Eng_(also so) Serbi_« hm, alphabethisch geordnet, ja, (schmunzelt) [»Deutsch, Englisch,] Französisch, Serbisch«, ja? [(schmunzelt)] – Ja. – Also ich ich [Mhm] Int: [(lacht)] Mil: würd das nicht werten. (10/18-24)
Milan Pavić löst das angedeutete ›Problem‹ zunächst damit, dass er alle Sprachen als »meine… – meine Sprachen« bezeichnet. Über diese Betonung treten die Determinantia (›Mutter‹- oder ›Erst‹-)in den Hintergrund, und das Possessivpronomen lenkt die Perspektive auf sein Verfügen über mehrere Sprachen. Allerdings ›entkommt‹ Milan Pavić den gängigen Kategorisierungen nicht und schlägt schmunzelnd eine alphabetischen Ordnung der Sprachen vor, der er hinzufügt, dass er die Reihung nicht werten möchte. Dass auch diese Ordnung noch nicht alle Facetten dessen, was er mit den Sprachen verbindet, ausdrücken kann, macht er im folgenden Abschnitt deutlich: Mil: Hm wenn ich jetz eine=eine, wertende Skala von der, Stärke, also wie gut ich etwas kann, dann würd ich wahrscheinlich sagen, »Deutsch, Serbisch, Englisch, Französisch«. Int: Mhm Mil: Ähmm (2) ja. – (Aber man soll ja nicht werten!) [(lacht)] Also hm – ja. Aber, auf jedn [Mhm] Int: Mil: Fall Deutsch is meine ausdrucksstärkste Sprache würd ich sagn. Int: Mhm Mil: Ja. – Definitiv. (1) Aber es gibt dann, hm einfach Sachen die man (2) auf Serbisch vielleicht besser_ äh also (die ich auf) Serbisch vielleicht besser ausdrücken kann. – Ähm, ich würd jetz nicht sagen Gefühle, ich_ Gefühle bin ich mehr äh, also – ich sag mal Trauer oder sowas, vielleicht eher auf=auf Deutsch – oder=oder – hm, Glückseligkeit/
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums (leicht lachend) sag ich mal/auf Deutsch aber, so sch_ richtig gut schimpfen kann man aber auf Serbisch, ja? [Also] (lacht) [(lacht leise)] Mhm Int: Mil: so richtig (über sich etwas ü_ über) etwas aufregen – kann ich richtig gut auf Serbisch würd ich sagn. (lacht leise) (10/28-46)
Milan Pavić führt eine »wertende Skala« ein, in der er sich an gängigen Kategorisierungen entlang der Differenzierung ›schwächere‹ und ›stärkere‹ Sprache (vgl. Müller et al. 2006; Patuto 2012) orientiert und reiht seine Sprachen nach deren »Stärke«. Nach der nochmaligen Problematisierung von Wertungen bezeichnet er Deutsch als seine »ausdrucksstärkste Sprache«, wobei er die Stärke auf die produktive Seite der Sprache eingrenzt und einige ›ausdrucksstärkere‹ Bereiche nennt, nämlich Gefühle der Trauer oder Glückseligkeit. Schimpfen und ›sich über etwas aufregen‹ hingegen weist er der Sprache Serbisch zu. Wie sehr Milan Pavić ›seine‹ Sprachen verschiedenen Vergleichen unterzieht, wird unter anderem an der starken Frequenz von Komparativen und Superlativen sowie Begriffen des Vergleichs deutlich (»eher«, »besser«, »ausdrucksstärkste«, »Skala« etc.). In ähnlicher Weise versucht auch Jelena Selmanović in der Rekonstruktion ihres Verhältnisses zu Sprachen, diejenigen Sprachen, mit denen sie bisher näheren Kontakt hatte, in ein wissenschaftlich übliches und gesellschaftlich anerkanntes System zu überführen: Jel: aber wenn ich jetz irgendwie so Nummern setzen würde, würd ich sagen »Okay, Bosnisch eins, Deutsch zwei, und Englisch drei.« ((lacht)) Obwohl Englisch, (1) theoretisch gesehen, so schulisch gesehen, Englisch war ja meine erste Fremdsprache! Und ich hatte es auch in der Schule als Fach länger als Deutsch oder so./(leiser) Trotzdem, also, hm, kann ich nicht sagen…/Mittlerweile empfinde ich auch Englisch nicht irgendwie als »Fremd-Fremdsprache«! ((schluckt)) Is zwar schulisch gelernt und so, aber ich fühl mich auch ziemlich wohl! Ich verbinde halt… bei mir ist die Sache die, dass ich vieles mit dem Gefühl verbinde. Ahm, wenn ich Deutsch spreche, fühl ich mich einfach, ähm, entspannt! (1) Ich denke nicht darüber nach, dass ich Deutsch spreche! ((lacht leise)) Ich spreche es/(lachend) halt einfach! [((lacht))] Und mittlerweile ist es auch mit dem [((lacht))] Int: Jel: Englischen so! Weil in den letzten paar Jahren, ((schluckt)) als ich hierher gekommen bin, in dem Studentenheim, wo ich lebe, viele Studenten sprechen halt nicht Deutsch, sie lernen es erst, und dann bin ich auf Englisch angewiesen, und mittlerweile ist es auch mit Englisch so! Ich spreche es einfach! Ich denk jetzt nicht so viel drüber nach. (25/5-21)
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Am Beispiel des Englischen verdeutlicht die Erzählerin, dass eine Vergabe von Nummern entlang der Aneignungsreihenfolge und der Dauer des Erlernens nicht ohne weiteres auf ihre Sprachbiographie anwendbar ist: In der Einschränkung »theoretisch gesehen« könnte ein alltagssprachlicher Theoriebegriff liegen, der auf eine fehlende Passung zwischen etwas gesellschaftlich Erwartbarem und biographisch Relevantem verweist. Sie könnte aber auch andeuten, dass Jelena Selmanovićs Sprachbiographie nicht ganz passend ist zu Theorien, die ihr aus der Zweit- und Fremdsprachenforschung vertraut sind, bzw. dass es eine für sie relevante Komponente gibt, die nicht in den Bereich des ›Theoretischen‹ fällt. Die Einschränkung »schulisch gesehen« weist darauf hin, dass die Beziehung zu ihren Sprachen auch in außerschulischen Kommunikationssituationen relevant sind. Jelena Selmanovićs Sprechen über Englisch »als Fach« lässt den Schluss zu, dass es eine relevante Beschäftigung mit der Sprache jenseits des Schulfaches gab. Zudem wirft sie ihr ›Gefühl‹ als Bezugspunkt ein, was einer Kategorisierung entlang von Nummern eigentlich widerspricht. Zuletzt verweist auch ihr Argument, sich beim Sprechen von Deutsch »entspannt« zu fühlen und »einfach« zu sprechen, ohne ›nachzudenken‹, auf eine selbstverständliche Vertrautheit mit der Sprache, die alltagstheoretischen Vorstellungen vom Sprechen in einer ›Muttersprache‹ gleichkommt und als Verhältnisbeschreibung neben der zu Beginn der Passage eingeführten Kategorisierung steht. Fallübergreifend lässt sich herausarbeiten, dass die Student*innen in den Beschreibungen und Argumentationen, mit denen sie sich selbst in ein Verhältnis zu ihren Sprachen setzen, auf gesellschaftlich und wissenschaftlich anerkannte und übliche Kategorisierungsmuster, vor allem jenes der Quantifizierung und Reihung (Dorostkar 2014: 77), zurückgreifen. Gleichzeitig wird an der Rekonstruktion dieser Verhältnissetzungen deutlich, dass die Ordnungssysteme, die ihnen zur Verfügung stehen, der Komplexität ihrer Beziehungen zu Sprachen nicht gerecht werden. Dies lässt sich an ihren Versuchen ablesen, sich an verschiedenen Ordnungssystemen ›abzuarbeiten‹, und daran, dass neben den Ordnungssystemen emotionale Verhältnisse stehen, die sich nicht in Ordnungssysteme einpassen lassen.
9.2.2 Die ›Muttersprache‹ und die Sprache(n) der Eltern: zwischen Dekonstruktion und moralischer Verpflichtung ›Muttersprache‹ und die Sprache(n) der Eltern lassen sich in fast allen Interviews als bedeutsame Kategorien herausarbeiten. Wie sich die Student*innen zu diesen positionieren, ist Gegenstand dieses Kapitels.
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Im Nachfrageteil ihres Interviews rekonstruiert Günnur Duman sprachbezogene Elemente ihrer eigenen Kindheit. In diesem Kontext geht sie auf die Bedeutung von Sprachen in Bildungsinstitutionen ein und spricht im Anschluss über die sprachliche Erziehung ihres Sohnes. Diese betrachtet sie zunehmend vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Hierarchisierungen und führt wie folgt die Bedeutung sprachlicher Kategorisierungen darin an: Gün: es ärgert mich auch immer, wenn ich so Formulare ausfülln muss, jetzt für den Kindergarten zum Beispiel, »Muttersprache«. (2) Ja, die Leute erwarten sich jetzt, dass ich eine Sprache hinschreib beziehungsweise kann man oft nur eine Sprache hinschreiben. Und ich will das aber nicht. Weil ich denk mir, ich find, mein Kind hat zwei Muttersprachen. Deutsch und Türkisch. Ich spreche mit ihm seit seiner Geburt konsequent Deutsch und Türkisch. Warum (1) wird das so mit (1) also unglaubwürdig empfunden, wenn ich Deutsch hinschreib, nur weil er einen türkischen Namen hat, Religion Islam und die Mutter sieht aus wie eine Türkin oder der Vater (1) warum? Ich aba da (1) ich (1) das (1) wie wird denn Erstsprache definiert? (14/2-11)
An der Argumentation Günnur Dumans wird ihre Kritik an den im Formular materialisierten Vorstellungen der Institution von sprachlichen Ressourcen der Kinder deutlich. Darüber hinaus kritisiert sie den Umgang der pädagogisch Professionellen damit, deren Professionalität sie über den Ausdruck »die Leute« implizit abwertet. Ihre ablehnende Haltung den Formularen gegenüber begründet die Erzählerin mit ihrer Überzeugung, dass ihr Sohn zwei Muttersprachen hat. Über die Betonung des Possessivpronomens und des Numerale im Satz wird zum einen der Unterschied zu anderen Kindern, an deren zugeschriebenem sprachlichen Repertoire das Formular ausgerichtet ist, deutlich. Zum anderen nimmt Günnur Duman die Interpretationshoheit darüber, welche Muttersprache(n) ihr Kind hat, für sich in Anspruch. Über die Betonungen im folgenden Satz macht sie zudem deutlich, dass sie mit ihrem Sohn seit seiner Geburt in beiden Sprachen spricht, und dass die Wahl der Sprachen nicht zufällig war, sondern begründeten Überlegungen folgte. Über Formulare dieser Art reflektiert die Erzählerin in Form von Fragen, aus denen Erfahrungen hervorgehen, dass von den Pädagog*innen Rückschlüsse über die ›Muttersprache‹ von Kindern gezogen werden, die sich am Namen, an der Religion und an (vermeintlich) phänotypischen Merkmalen der Eltern orientieren. Zudem kritisiert sie, dass von diesen Vorstellungen abweichende Angaben als unglaubwürdig gesehen werden. Im letzten Satz, der von einigen Abbrüchen gekennzeichnet ist, bringt die Erzählerin ihr Unverständnis über Definitionsweisen von ›Erstsprache‹ zum Ausdruck. Der Wechsel des Linguonyms an dieser Stelle könnte deutlich machen, dass ihr dieser Begriff in Formularen ebenfalls schon begegnet ist. Es lässt sich aber auch die Lesart anschließen, dass sie hier aus der Perspektive einer Germanistikstudentin einen Begriff verwendet,
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mit dem sie sich von dem wissenschaftlich kaum mehr verwendeten Begriff ›Muttersprache‹ distanziert und damit verdeutlicht, dass sie eine informiertere Perspektive auf Sprachen hat als diejenigen in der pädagogischen Praxis Beschäftigten, die das Formular erstellten. Eine ebenfalls kritische Auseinandersetzung mit der Kategorie ›Muttersprache‹ erfolgt in Milan Pavićs Bericht über das Bachelor-Studium Translationswissenschaft, dessen Beginn er als »ziemliche Katastrophe« (2/28-29) evaluiert, die er mit seinen damaligen Kompetenzen in Serbisch erklärt: Mil: Serbisch, war, wirklich eine äh=sehr, starke, Schwäche, irgendwie (lacht leise) äh=ja? – Hm also vor allem das Schreibm und das, grammatikalische=äh, richtig_ (1) also das richtige Sprechen – mit den, Fällen und so weiter – war irgendwie doch – ganz schwierig=ja?=Also – Die Muttersprache ist halt vielleicht doch nicht immer so leicht wie – äh das viele behaupten halt, na? – Ähmm – ja. Hab mich dann irgendwie… – irgendwie hab ich mich dann durchgerungen (1) hab das dann geschafft=Französisch war – okay, das hab ich in der Schule gelernt (1) ähmm – hat gereicht,/(leicht lachend) (formulier ichs)/mal so (1,5) und, ja, Deutsch war… (1) also Deutsch is immer noch meine, äh, stärkste Sprache – dann – gings dann irgendwie_ – da gings sowieso ganz gut – und – hab dann, 2011 ebm abgeschlossen (2) das Bachelor-Studium. (2/29-38)
Serbisch bezeichnet er mit dem Oxymoron »sehr, starke Schwäche, irgendwie« und konkretisiert das damit, dass sowohl das Schreiben als auch das normgerechte Sprechen, für das er als Beispiel die Kasus bringt, »ganz schwierig« war. Der Erzähler nimmt seine biographischen Erfahrungen hier zum Beispiel, um vermeintliche alltagstheoretische und wissenschaftliche Gewissheiten über die Aneignung von Bildungssprache(n) zu widerlegen. Die Kompetenzen des ›erzählten Ich‹ in Serbisch vergleicht er mit den beiden anderen Sprachen, die er studierte: diejenigen in Französisch begründet er mit dem in der Schule Erlernten, und Deutsch bezeichnet er als »immer noch meine, äh, stärkste Sprache«, womit er zugleich verdeutlicht, dass sich daran seit seinem Studienbeginn nichts geändert hat. Dieser Abschnitt lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass der Erzähler den Bericht über sein BA-Studium auf mögliche Erwartungen der Interviewerin hin ›zuschneidet‹, indem er sich ausschließlich auf sprachrelevante Fragen bezieht, und dass er das Interview zum Anlass nimmt, sich gesellschaftlich und akademisch wirkmächtigen Fragen gegenüber zu positionieren und mit seiner Geschichte gängigen Theorien zu ›widersprechen‹. Im Nachfrageteil wird die Frage der sprachlichen Kategorisierungen am Beispiel der Inskriptionsmodalitäten ins Translationsstudium noch einmal relevant. Milan Pavić erklärt, dass es zum Zeitpunkt seines Studienbeginns unter drei zu wählenden Sprachen zwei als ›Fremdsprache‹ bezeichnete Spra-
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chen gab sowie eine Sprache, die damals ›Muttersprache‹ hieß und während der Zeit seines BA-Studiums durch den Begriff ›Bildungssprache‹ ersetzt wurde. Milan Pavić fügt hinzu, dass er Deutsch als ›Muttersprache‹ und Serbisch und Französisch als ›Fremdsprachen‹ wählte und kritisiert im Folgenden die damaligen Inskriptionsmodalitäten: Mil: Witzig is dabei, dass viele die, Serbisch als Muttersprache, oder Bosnisch Kroatisch als Muttersprache hatten, Deutsch gewählt ham (1) um erstens, die Deutschübungen zu umgehn (1) weils quasi bisschen leichter war, und zweitens weil sie… manche dann, der Meinung warn sie können, Deutsch, doch, besser als Serbisch. (2) Witzig, ja? Also man, kann das System leicht umgehn indem ma einfach die schlechteste Sprache als »Muttersprache« nimmt_ äh, Blödsinn!=Die – stärkere Sprache als, »Fremdsprache« angibt, die Deutsch halt umgeht, weil mas, nicht so gut kann (1) und, ja. Das war (ein… bei…) einfach diese Methode. Ma muss einfach, eine »Muttersprache«, Schrägstrich »Bildungssprache« wählen, und zwei »Fremdsprachen«. (2) Und, dann, gibts, je nach dem – (Übung) () (absolviern müssn). (22/41-51)
Der Erzähler erklärt eine unter Student*innen gängige Praxis, die er als »witzig« ankündigt, nämlich, dass viele, die er als ›muttersprachig‹ Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch bezeichnet, Deutsch als ›Muttersprache‹ wählen. Neben der Strategie, eine (vermeintlich) leichter studierbare Studienvariante zu wählen, die er hier beschreibt, steht die Überzeugung, besser Deutsch zu können als die Sprache, die als ›Muttersprache‹ gilt. Er distanziert sich von dieser Art der Einbindung von Sprachen in den Studienplan mit der Begründung, dass als schwieriger geltende Sprachübungen auf diese Weise einfach zu ›umgehen‹ sind. In weiterer Folge erklärt er, dass die Anzahl der Sprachübungen in der ›Mutter‹- bzw. ›Bildungssprache‹ im Studium geringer ist als die in den ›Fremdsprachen‹, weil das Üben in der ›Mutter‹ bzw. ›Bildungssprache‹ »quasi nicht notwendig sein sollte«. Die Betonung der Modalität legt nahe, dass er an der Gültigkeit dieser Norm zweifelt. In diesem Abschnitt verdeutlicht der Erzähler, dass er die Kategorisierungen ›Mutter‹-, ›Bildungs‹- und ›Fremdsprache‹ im Studienplan mehrfach problematisch findet: Zum einen werden diese und die sich selbstverständlich daran anschließenden Studienschwerpunkte nicht der empfundenen Kompetenz der Student*innen gerecht. Darüber hinaus unterlaufen die Student*innen dieses System auf subversive Weise, indem sie es zu ihrem Vorteil und zur besseren Studierbarkeit nutzen. Zum einen lässt sich an diesem Beispiel des selbstverständlichen Umgangs mit einer vereindeutigenden Kategorie das fehlende Bewusstsein der Institution über sprachliche Ausgangslagen von Studienanfänger*innen und Student*innen in Migrationsgesellschaften verdeutlichen. Es lässt sich aber auch rekonstruieren, dass die Student*innen das
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System mit einer ebensolchen Selbstverständlichkeit umgehen und die getroffenen Kategorisierungen damit in Frage stellen. Am Beispiel von Majda Melićs Erzählung lässt sich verdeutlichen, dass die Sprache der Eltern nicht notwendigerweise als ›Muttersprache‹ konstruiert werden muss. Im Nachfrageteil rekonstruiert die Erzählerin, welche Bedeutung ihre Sprachen für sie haben: Maj: Also, das Deutsche war halt immer so – speziell, und das Bosnische war halt, für mich in der Schweiz immer, Nummer zwei, ich hab zwar mit meinn Eltern (dr_ ge_ hn,) auf Bosnisch gesprochn und alles aber, halt, Deutsch war, meine Umgangssprache und, ähm, ja. Bosnisch, hm war halt immer, irgendwie so (2) hmm… (lacht leise)/(leicht lachend) [Keine Ahnung!/] Int: [(lacht leise)] Maj: Halt, äh zweite Sprache für mich. Int: M[hm] Maj: [Zwei]te Sprache für mich in dem Sinne dass ich, mich halt, wie gesagt, viel besser, auf Deutsch irgendwie – fin_ hm – also ausdrücken konnte. (15/8-17)
Die Bedeutung von Bosnisch rekonstruiert Majda Melić im Vergleich mit Deutsch als »Nummer zwei« und geht damit in den biographisch sehr frühen Zeitraum während des Exils in der Schweiz (vgl. Kap. 7) zurück. Es fällt in dieser Passage allerdings auf, dass die Bezugnahme auf die Form der Sprachigkeit sich im Verlauf der Erzählung veränderte: Spricht die Erzählerin in der Haupterzählung von Deutsch als »zweite[r] Muttersprache« (6/46-47), eine Definition, die dem ›erzählten Ich‹ von ihrer Mutter während des Exils in der Schweiz nahegelegt wurde, so erhält an dieser Stelle Bosnisch den Status als »Nummer Zwei«. Die Erzählerin stellt hier somit eine engere und unmittelbarere Verbindung zu Deutsch als zu Bosnisch her. Im weiteren Verlauf der Beschreibung geht Majda Melić auf Deutsch und Bosnisch als Schulsprachen ein und argumentiert, dass nach ihrer Remigration aus der Schweiz ihre schriftlichen Texte auf Deutsch viel besser als auf Bosnisch waren (25/19-20). Sie spricht mit einem diagnostischen Blick und von einer Außenperspektive von einem damals vorhandenen »Defizit« (25/32), das sie im Bereich der Orthographie und des diskriminierenden Hörens ortet. Dieses führt sie auf ihre zu kurze Grundschulbildung im Bosnischen zurück und leitet daraus die Konsequenz ab, dass sie nach wie vor nicht so gern auf Bosnisch schreibt (25/26-33). Als weiteren relevanten Aspekt führt sie den Klang der einzelnen Sprachen ein. Den des Bosnischen bezeichnet sie als »hart« (25/38-39) und unterstreicht ihre Abneigung über die abwertende Interjektion »Wäh!« (25/40). Als weitere Ebene führt sie die Differenziertheit der Sprachen ein und kommt zum
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Schluss, dass Deutsch und Englisch nuancierter seien als Bosnisch, und dass es ihr auf Deutsch und Englisch leichter fällt, sich auszudrücken (25/42-46). Interessanterweise führt sie ihr Vermögen, sich in den einzelnen Sprachen mehr oder weniger differenziert auszudrücken, nicht auf ihre schulische und/ oder universitäre Bildung zurück, sondern bezeichnet die Differenziertheit als etwas den Sprachen Immanentes, wodurch sie Bosnisch implizit abwertet. Die zugeschriebene stärkere Nuanciertheit der deutschen Sprache verbindet sie mit Offenheit und Freiheit. Daraufhin konstatiert sie, dass sie Bosnisch mag bzw. liebt, weil es ihre »Muttersprache« ist, und weil es ein »Teil von mir« ist, dass sie aber die anderen Sprachen bevorzugt. Die Bezeichnung »Muttersprache« erhält an dieser Stelle die Funktion eines eingeübten Platzhalters: Bosnisch ist in essentialistisch anmutender Weise ein »Teil von [ihr]«, aber die persönliche Beziehung gestaltet sich viel enger zu Deutsch und Englisch. Die Passage »um ehrlich zu sein« spricht für die Lesart, dass es für Majda Melić möglicherweise nicht in allen Kontexten legitim ist, diese Beziehung zu den Sprachen offen auszusprechen, dass sie also meint, es werde eine Form der Sprachloyalität von ihr erwartet, die sie nicht ›erfüllen‹ kann. Maj: Also ich hab schon n Bezug dazu und ich würds meinn Eltern nie, sagn dass ich jetz_ Aber ich glaub sie merkn (das) so n bisschen (1) ja. – Weil ich mich auch n bisschen verändere wenn ich auf, Bosnisch oder auf… wenn ich auf Bosnisch sprech und wenn=wenn ich auf Deutsch oder Englisch sprech! (1) (Für mich) zum Beispiel ich glaub ich bin n bisschen offener und, ja. Int: Mhm mhm Maj: Besonders auf Englisch! Ich glaub, auch, wegen der… zum Beispiel wenn man Filme anschaut oder Serien, man bekommt halt viel, viel mehr so, ähm, Small-Talk mit und, und, wenn man dann hn äh im Ausland ist oder so dann, dann, hat man das alles irgendwie, im Hinterkopf und man… – ja. Int: Mhm, [mhm] [So.] Maj: Int: Mhm, mhm Maj: Aber ich glaub schon dass, ja, Bosnisch so eher (1) (lacht leise) (1) vernachlässigt, bei mir wird. Also, obwohl ich es, aktiv im, Studentenheim spreche weil, meine Mitbewohnerinnn sind, aus Bosnien also – und alles, meine Freundinnen um mich auch aus Bosnien_ (1,5) aber, ja. (1,5) (lacht leise) (26/4-22)
Majda Melić argumentiert weiter, dass sie ihren Eltern etwas »nie« sagen würde, was in einem abgebrochenen Satz unausgesprochen bleibt und damit auch auf performativer Ebene auf ein Tabu verweist. Die Formulierung »ich hab schon n Bezug dazu« kann als Beschreibung eines nicht besonders engen Verhältnisses zu Bosnisch gelesen werden. Obwohl Majda Melić dies ihren Eltern
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gegenüber nicht so explizit sagen würde, hat sie sehr wohl das Gefühl, dass diese »das so n bisschen [merkn]«. Ähnlich wie in der Passage vorher das ›es‹, bleibt auch hier das ›das‹ implizit und verweist möglicherweise auf nicht einlösbare Loyalitäten einer Sprache oder einer natio-ethno-kulturellen Gruppe gegenüber. Danach führt die Erzählerin einen weiteren Aspekt ein, nämlich, dass sie sich selbst »verändert«, wenn sie die einzelnen Sprachen spricht. Sie konstruiert Sprachen also nicht nur als Mittel zur Kommunikation, sondern als Größen, über die sich ihre Verwender*innen verändern können, und die in ihrem Fall zu mehr Offenheit führen, wenn sie Deutsch und Englisch spricht. Insgesamt fällt auf, dass die Erzählerin in diesen Passagen das Linguonym ›Muttersprache‹ nicht verwendet, was auch als Distanzierung vom Begriff und damit zusammenhängenden Verhältnisbestimmungen interpretiert werden kann. Fallübergreifend lassen sich an den vorgestellten Passagen ambivalente Haltungen zum Begriff ›Muttersprache‹ herausarbeiten. Einerseits wird die Verhältnisbeschreibung, die mit dem Linguonym angedeutet ist, über die (sprachliche) Kommunikation und Beziehung mit Eltern begründet, andererseits distanzieren sich die Student*innen ganz explizit von naturalisierenden Vorstellungen einer (einzigen) Muttersprache. Die Passage, in der Majda Melić die zwischen ihren Eltern und ihr stehende Tabuisierung in Bezug auf ihr Verhältnis zu Bosnisch thematisiert, lässt den Schluss zu, dass eine Gewichtung von Sprachloyalitäten zu Ungunsten der Sprache der Eltern schwierig sein kann. Eine Stelle aus dem Interview mit Milan Pavić im folgenden Kapitel vermag diese Lesart weiter zu stützen.
9.2.3 Thematisierungen von Fremdzuschreibungen Eine Form, die sich in mehreren Interviews rekonstruieren lässt, ist das Zurückweisen von Linguonymen, deren Charakteristika Dorostkar mit dem Begriff »explizite Dissimilationen« (Dorostkar 2014: 77) fasst, in welche er unter anderem den Begriff »Fremdsprache« einreiht (ebd.). Die folgende Stelle stammt aus dem zweiten Nachfrageteil des Interviews mit Jelena Selmanović, in dem sie von der Interviewerin nach der Bedeutung ihrer Sprachen gefragt wird. Jel: Ahm, (2,5) ich, ahm… (2) ich habe (2) auch früher, und jetzt, glaub ich, ist es auch so, ich habe (1) Deutsch zum Beispiel nie (1,5) irgendwie als Fremdsprache empfunden! Weil wenn ich das… also wenn ich den Begriff »Fremd-Sprache« irgendwie mir also richtig analysiere oder so, »Fremd« und »Sprache«, ähm,/(schmunzelnd) nein!/ [Also das]… das für mich in Verbindung mit Deutsch also geht irgendwie nicht! Weil Int: [((schmunzelt))]
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Jel: erstens, als Kind, weil ich halt irgendwie vielleicht auch in Deutschland ein Jahr war, und… (1) oder so als kleines Kind, noch vor Deutschland, öhm, Deutsch gehört hab und so, (1) war das alles andere als fremd für mich! ((lacht)) [/(lachend) Ich weiß] [((lacht leise))] Int: Jel: [nicht,] ergibt das Sinn?/[((lacht)) Und das] war halt alles andere als fremd für mich! [Ja! (Jaja!) ((lacht))] (24/30-41) Int: [((lacht leise))]
Jelena Selmanović beginnt ihre Argumentation mit der Rekonstruktion der Bedeutung ›ihrer‹ Sprachen, indem sie betont, Deutsch »nie (1,5) irgendwie als Fremdsprache empfunden« zu haben. Die biographische Kontinuität dieses Verhältnisses wird durch die Angabe der beiden Zeiträume »früher« und »jetzt« sowie durch die Betonung des »nie« unterstrichen. In einer mit »weil« eingeleiteten Begründung nimmt sie einen wissenschaftlichen Blick auf den Begriff ›Fremdsprache‹ ein, der sich auch im Verb ›analysieren‹ bemerkbar macht: Mit dem Zerlegen des Kompositums in seine Bestandteile argumentiert die Erzählerin, dass ›fremd‹ als Attribut nicht zu ›ihrer‹ Sprache Deutsch passt und eine unmögliche Verbindung darstellt, was sie mehrfach begründet: Sowohl den Aufenthalt in einem dominant deutschsprachigen Nationalstaat als auch die weit in die Kindheit zurückreichende Zeit, in der sie mit der deutschen Sprache vertraut wurde, führten laut Jelena Selmanović dazu, dass die Sprache »alles andere als fremd« für sie war, was sie nach einer kurzen lachenden Rückfrage an die Interviewerin (»ergibt das Sinn?«) und deren Bestärkung (»Ja! Jaja!«), wiederholt. Jel: Und weil ich es eben schon ab sechsten Jahr so spreche! Also auch fließend dann spr… hm, also Deutsch gesprochen habe, (1) und mich mit and_ also anderen Menschen kennengelernt habe durch Deutsch, und Freundschaften geschlossen habe, und… (3,5) kann ich einfach nicht sagen, dass ich Deutsch als Fremdsprache empfinde! ((schluckt)) Es ist einfach (2) meine Spr…/(lachend) »meine Sprache«!/[((lacht))] [((lacht))] Int: Jel: Meine… es is… es geht jetz eher in die Richtung so meine zweite Sprache, aber, hm, vielleicht, vielleicht würde das eher passen, ahm, als »Fremdsprache«. Weil ich empfinde es einfach so! Vielleicht bin ich nicht (in dem)… vielleicht kann ich nicht sagen »Deutsch ist meine Muttersprache«, weil eben Bosnisch meine Muttersprache ist. (24/42-25/5)
Als zusätzliche Begründung (»Und weil«) gibt die Erzählerin die biographische Kontinuität ihrer produktiven Fertigkeiten im Deutschen seit dem sechsten Lebensjahr an, die sie mit »fließend« präzisiert. Es folgen die Kontaktaufnahme und das Knüpfen von Freundschaften im Medium Deutsch. Ihre Begründungskette schließt sie mit der evaluierenden Feststellung »kann ich einfach nicht sagen, dass ich Deutsch als Fremdsprache empfinde«, mit der
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sie an eine möglicherweise bereits erlebte oder in der Interviewsituation antizipierte Erwartung anknüpft. Nach der expliziten Distanzierung von diesem Begriff kommt sie zum vorläufigen Schluss, dass Deutsch »einfach (2) meine Spr…/(lachend) ›meine Sprache‹« sei. Damit weist sie Kategorisierungen, die eine Nähe oder Distanz zu einer Sprache angeben (vgl. Dorostkar 2014: 77), zurück und verdeutlicht durch die Verwendung des Personalpronomens (»meine« Sprache) zugleich eine nahe Verbindung zu bzw. einen ›Besitz‹ der Sprache. Beim Versuch einer Präzisierung sucht sie nach einem genaueren, vielleicht auch: gesellschaftlich oder wissenschaftlich ›akzeptableren‹ Begriff. Die vorsichtige Annäherung an die Bezeichnung »zweite Sprache« lässt die Lesart zu, dass diese im Vergleich zu ›Fremdsprache‹ passender ist, allerdings auch nicht das Verhältnis beschreibt, das Jelena Selmanović zu Deutsch hat. Nach den Begründungen, in denen sie biographische Entwicklungen und Kontinuitäten rekonstruiert hat, argumentiert sie nun mit ihrem Gefühl: »Weil ich empfinde es einfach so!« Mit der Betonung des Personalpronomens unterstreicht die Erzählerin, dass sie Fremdzuschreibungen, die ihr Verhältnis zu Sprachen betreffen, ablehnt. Nachdem sich die Erzählerin an den Linguonymen ›Fremd‹- und ›Zweitsprache‹ abgearbeitet hat, nähert sie sich dem der ›Muttersprache‹, von dem sie allerdings meint, ihn »vielleicht« nicht verwenden zu können, da Bosnisch ihre Muttersprache sei. Mit dieser Abschwächung ist angedeutet, dass die Verwendung dieses Begriffs unter bestimmten Umständen möglich wäre. Gleichzeitig lässt sich rekonstruieren, dass die Inanspruchnahme zweier ›Muttersprachen‹, nämlich Bosnisch und Deutsch, für sie ausgeschlossen ist. Dass neben der Kategorie ›Fremdsprache‹ auch die der ›Zweitsprache‹ problematisch sein kann, lässt sich an einer Passage rekonstruieren, in der Milan Pavić über Bewerbungen spricht: Mil: Ähmm (1) ich würde nie, in einem Bewerbungsschreiben, oder in einem Lebenslauf schreibm dass, ahm, Serbisch meine Erstsprache ist – ähh einfach, hm weil ich, Angst hätte, dass jemand, mit »Zweitsprache«, ähh () »zweit, beste Sprache«, »schlechtere Sprache« (oder sowas) verbindet, deswegn schreib ich immer, wenn ich irgendsowas, verfassen muss, »Erstsprachen«. (1,5) (10/3-8)
Seine Befürchtung, dass aus seinen Angaben geschlossen werden könnte, dass Deutsch seine »schlechtere Sprache« sein könnte, verweist auf seine Überzeugung, dass ›Zweitsprache‹ keine neutrale Kategorisierung ist, die sich nur auf die Erwerbsreihenfolge bezieht, sondern dass sie in manchen Kontexten auch mit der Vorstellung eines sprachlichen Mangels behaftet ist (vgl. Miladinović 2016). Milan Pavić begegnet diesem Problem damit, dass er beide Sprachen als ›Erstsprachen‹ bezeichnet. Damit vermeidet er pejorisierende Implikatio-
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
nen und konstruiert sich als zweifach ›erstsprachig‹. Nach einem kurzen Abschnitt, in dem er auf die Unterschiede in den Begriffen ›Erstsprache‹ und ›Muttersprache‹ eingeht (10/8-13), meint er: Mil: Also ich würd, ich würd Serbisch, nie verleugnen! – Ähmm – natürlich will ma aber bei einem Bewerbungsgespräch jetz nicht (1) dass es jemand glaubt dass Deutsch, nicht eine=eine…, also d_ dass, Deutsch meine schw_ schwächere Sprache is oder so, ahmm, deswegen würd ichs auch nicht als Zweitsprache angebm. (10/13-17)
Seine Bekräftigung, dass er Serbisch »nie verleugnen« würde, lässt sich als Hinweis auf sein Bewusstsein für die Tabuisierung gesellschaftlich marginalisierter Sprachen und seine persönliche Verbundenheit mit einer solchen Sprache lesen (vgl. 9.2.2). Die Abbrüche und Reformulierungen im folgenden Satz können als Schwierigkeit des Erzählers gelesen werden, im Interview die ›passenden‹ Begriffe für das, was er sagen möchte, zu finden. Aus den unterschiedlichen Differenzierungen ›Zweitsprache‹, ›zweitbeste Sprache‹, ›schwächere Sprache‹ etc. gehen einerseits eine fachliche Perspektive auf die Komplexität des Themas, andererseits auch die Schwierigkeiten in Milan Pavićs Auseinandersetzung damit hervor. Zusammenfassend lassen sich die angeführten Passagen als zusätzlicher Beleg für empirische und theoretische Befunde lesen, denen zufolge Bezeichnungen für Sprachen nicht ›neutral‹ sind, und die nahelegen, dass mit Linguonymen auch wertende Aussagen über Individuen oder Gruppen von Personen getroffen werden (Dorostkar 2014: 80-81; Miladinović 2016). Zusätzlich wird an den angeführten Passagen deutlich, dass die von den Student*innen getroffenen Zurückweisungen mit biographischen Argumentationen gestützt werden, dass hier also biographisches ›Erfahrungswissen‹ auf das möglicherweise auch in akademischen Kontexten erlernte ›Fachwissen‹ trifft.
9.2.4 Die biographische Suche nach eindeutiger Zuordnung Neben der Inanspruchnahme mehrerer Sprachen lässt sich in manchen Interviews eine Suche nach Eindeutigkeit rekonstruieren, was hier an einem Beispiel thematisiert wird. Eine Auseinandersetzung mit ihrem Verhältnis zu verschiedenen Sprachen findet sich im Interview mit Özlem Karaca gegen Ende der Haupterzählung. Die Passage beginnt mit der Rekonstruktion ihres Weges in das BA-Studium der Slawistik:
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TEIL III — Falldarstellungen Özl: das is halt so eine Sache, (1) warum ich angefangen hab Russisch zu studiern, – damit ich mich eben mit Aserbaidschanern verständigen kann wenn sie – in einem Satz drei – russische und zwei aserbaidschanische Wörter v=verwendn, (1) isses halt schwer – zu verstehn was s=sie – sagn wolln, (1) aaber ich versuch halt doch, mit ihnen mehr Aserbaidschanisch zu sprechen als Russisch. (11/30-34)
Die Einleitung des Segments deutet darauf hin, dass nun eine längere Auseinandersetzung mit einem komplexen Sachverhalt erfolgt. Die Erzählerin begründet ihre Studienwahl mit dem Wunsch und/oder Ziel, sich mit Aserbaidschaner*innen besser verständigen zu können. Den Grund der bis dahin schwierigen Verständigung ortet sie in einem der Gruppe der Aserbaidschaner*innen zugeschriebenen spezifischen Code-Switching, das sie mit »in einem Satz drei – russische und zwei aserbaidschanische Wörter« spezifiziert, womit sie die Sprache als wenig regelgeleitet darstellt und eine Dominanz des Russischen andeutet. Mit ihrem Hinweis, dass es »schwer« sei zu verstehen, was sie »sagn wolln«, konstruiert sie diese Schwierigkeit als allgemeine ›Regel‹, und das Sprechen der Aserbaidschaner*innen als nicht immer oder vollständig gelingenden ›Versuch‹, etwas sagen zu ›wollen‹. Gleichzeitig beschreibt sie ihre eigene Kommunikationspraxis mit dieser Gruppe als ›Versuch‹, »mehr Aserbaidschanisch zu sprechen als Russisch«, der wohl nicht immer gelingt. Wie stark die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und sprachpolitischen Situation in Aserbaidschan während ihres Studiums wurde, kommt in der folgenden Passage zum Ausdruck: Özl: Es gibt Leute, die sagn »ja (1) nur weil ich jetzt die ganze=Zeit Russisch spreche, – heißt das nicht, dass ich meine/(singend) Sprache weniger liebe/odeer – sonst irgendwas« (1) aber ich bin halt der Meinung, dass (1) gut früher wars verboten ok, – hat man halt nicht sprechen dürfen aber (1) ääähm anscheinend ist die Sprache ja doch irgendwie weitergegeben wordn. (1) Zu Hause kannst du ja sprechen was du möchtest kann dich ja keiner davon abhalten (1) aahm ((tiefes Ausatmen)) – ich finde aber schon, dass das was mit Liebe zu seiner Sprache oder zum Land zu tun hat welche Sprache man spricht (1) weeil – w=wenn ichh – meine Sprache – mag, dann sprech ich doch in meiner Sprache und nicht äh auf Russisch. (11/34-42)
Hier lässt die Erzählerin in einer generalisierenden Redewiedergabe eine Gruppe von Aserbaidschaner*innen zu Wort kommen, die einen Zusammenhang zwischen der Frequenz des Sprechens auf Russisch und der Liebe zu Aserbaidschanisch, die mit »meine Sprache« bezeichnet wird, negieren. Es folgen ein »aber« und ein markant betontes und fokussiertes »ich«, wodurch ein
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
starker Widerspruch eingeleitet wird. Im ersten Teil eines disclaimers2 weist die Erzählerin nun auf die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und ein früheres Sprachverbot in der Sowjetunion hin. Dem stellt sie im zweiten Teil die Tatsache der trotz widriger Umstände erfolgten transgenerationalen Weitergabe von Aserbaidschanisch entgegen. Das erklärt sie mit einer ›Regel‹, dass es »zu Hause« eine freie Sprachwahl gibt, von der niemand abgehalten werden kann. Auf dieser Grundlage expliziert sie ihre Gegenposition zu der eben zitierten Gruppe und stellt einen Zusammenhang zwischen der Sprachverwendung und der Liebe »zu seiner Sprache oder zum Land« her, womit sie einen engen Zusammenhang zwischen Sprache und Nationalstaat konstruiert, der allerdings vor dem Hintergrund der Unterdrückungsgeschichte verstanden werden muss. In weiterer Folge geht die Erzählerin detailliert auf die sprachenpolitische Situation in Aserbaidschan ein und erwähnt auch, dass vor allem »gebildet[e]« Personen und »Akademikerfamilien […] lieber Russisch« sprechen als Aserbaidschanisch (12/7-8). Einerseits spricht aus dieser Passage ein Bewusstsein für gesellschaftliche Hierarchien, andererseits bleibt die Kritik am Russischsprechen ungebrochen. Interessant ist, dass Özlem Karaca sich selbst hier implizit nicht der von ihr kritisierten Gruppe mit akademischer Bildung zurechnet, was neben ihrer vergleichsweise kurzen Studienerfahrung zum Zeitpunkt des Interviews vielleicht damit erklärt werden kann, dass sie nicht aus einer ›Akademikerfamilie‹ kommt. Daraufhin rekonstruiert die Erzählerin typische Dialoge, die sie mit Aserbaidschaner*innen in Österreich führt: Özl: Ahm – dann fragen sie mich halt, warum ich Deutsch rede? Sag ich »naja für mich is es (1) äh was anderes (1) als für euch weil – ich bin in einem deutschsprachigen Land ich bin mit der deutschen Sprache vierundzwanzig Stunden konfrontiert wenn ich auf die Straße geh, wenn ich den Fernsehr einschalte, wenn ich die Zeitung aufschlage oder sonst irgendwas. – Deswegen is es logisch dass ich besser Deutsch spreche als jede andere Sprache die ich lerne. – Aber wenn ihr in einem aserbaidschanischsprachigen Land lebt (1) und eure eigene Sprache nicht sprecht – und sie nicht könnt, dann ist das eure Schuld – und nicht –/(melodisch) jaaa irgendeine Ausrede/oder sonst irgendwas« (1) aahm (2) beziehungsweise – find ich ja am besten die Aserbaidschaner, die auf Rus-
2 | Disclaimer sind durch zwei Äußerungsteile gekennzeichnet, wobei der erste Teil eine sozial positiv bewertete Proposition vorbringt, deren Funktion darin besteht, die »eigentliche, wenngleich sozial unerwünschte, Botschaft gegen Kritik [abzusichern]« (Wodak & Köhler 2010: 45). Typisch für diesen Typ von Äußerungen ist folgendes Beispiel: »Ich habe ja nichts gegen Ausländer/Juden/Homosexuelle, aber …«. Nach dem »aber« folgt eine Aussage, die der ersten inhaltlich widerspricht (vgl. ebd.).
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TEIL III — Falldarstellungen sisch sich darüber aufregen, dass im Iran kein Aserbaidschanisch gesprochen werden darf. (1) (12/9-19)
Özlem Karacas Verwendung des Deutschen, das für ihre Gesprächspartner*innen offenbar ebenfalls begründungsbedürftig ist, weil es nicht als ihre ›Muttersprache‹ gesehen und mit dem Russischen in Aserbaidschan parallelisiert wird, begründet die Erzählerin mit ihrem Aufwachsen »in einem deutschsprachigen Land« und der ›Konfrontation‹ mit Deutsch rund um die Uhr und in relevanten Alltagssituationen. Ihre daraus resultierende bessere Sprachkompetenz im Deutschen stellt die Erzählerin als »logisch« dar und vergleicht Deutsch mit anderen Sprachen, die sie »lern[t]«. Implizit weist sie damit ihren anderen Familiensprachen den Status von Sprachen zu, die sie im Gegensatz zum Deutschen nicht erworben hat oder erwirbt, sondern »lernen« muss(te).3 Ein weiteres Argument folgt nach einem »aber« und einem fokussierten »ihr«, was darauf verweist, dass sie die Situation der ›Ihr‹-Gruppe als grundlegend anders einschätzt als die eigene. Dieser Argumentation liegt eine nationalstaatliche Sicht auf Sprache zugrunde: Aserbaidschan wird homogenisierend als ›aserbaidschanischsprachig‹ bezeichnet, wodurch neben Russisch als Amts- und Kommunikationssprache auch Minderheitensprachen ausgeblendet werden. Zudem wird die dem Nationalstaat zugeordnete Sprache selbstverständlich als »eure eigene Sprache« charakterisiert. Fehlende Sprachkompetenzen werden von der Erzählerin als »eure Schuld« ausgewiesen. Mögliche andere Argumente werden als »irgendeine Ausrede« und somit als ungültig herabstuft, womit die Frage der Sprachwahl mit einer stark moralischen Komponente versehen, individualisiert und von gesellschaftspolitischen Machtverhältnissen ›abgekoppelt‹ wird. Wie unverständlich Özlem Karaca die Sprachwahl von Aserbaidschaner*innen findet, wird an ihrer Darstellung derer deutlich, die sich auf Russisch über das Aserbaidschanisch-Verbot im Iran beschweren, ein Beispiel, von dem sie sich ironisch distanziert. Die Haltung der Erzählerin zu Sprachge- und -verboten und zu Sprechweisen von mit bestimmten Sprachen in Verbindung gebrachten Gruppen ist widersprüchlich: Ihre im Kontext von Aserbaidschan durchaus als machtkritisch in Erscheinung getretene Haltung ›bricht‹ dort, wo es um die Sprachverwendung in Österreich geht, in die sie selbst aktiv involviert ist. In weiterer Folge geht die Erzählerin ausführlich auf die Situation der aserbaidschanischen Gruppe im Iran ein und legitimiert das Verbot aserbaidschanischsprachiger Medien oder der Schulsprache Aserbaidschanisch mit 3 | Diese Darstellung steht in Widerspruch zu jener, in der sie ihre Sprachaneignung in der frühen Kindheit rekonstruiert (vgl. Kap. 7.3.1). Das macht deutlich, wie stark die jeweiligen Passagen in einen spezifischen Argumentationszusammenhang eingebunden sind, innerhalb dessen sie einen bestimmten Zweck erfüllen.
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Verweis auf die nationalstaatliche Ordnung des Iran (12/19-30). Daraufhin kommt sie zur Situation in Aserbaidschan zurück und beschreibt die dortige (sprachen-)politische Situation damit, dass sowohl »die Regierung« als auch »das Volk« aserbaidschanisch seien (12/30-32), womit nicht wie am Beispiel des Iran die zahlenmäßige Verteilung von Bevölkerungsgruppen, sondern auch deren politische Vertretung angesprochen ist. Die übertrieben skandalisierende Beschreibung, dass in Aserbaidschan »keiner« (12/32) Aserbaidschanisch spreche, wird nun noch einmal ironisch auf die Spitze getrieben, nämlich mit der Darstellung, dass diejenigen, die nicht von ihrem Recht auf die Verwendung von Aserbaidschanisch Gebrauch machen, sich auf Russisch darüber beschweren, dass Aserbaidschanisch in einem anderen Land nicht verwendet werden darf. Das Unverständnis Özlem Karacas für diese Situation bildet den Rahmen für Gespräche mit Aserbaidschaner*innen in A-Stadt, in denen sie den Gründen hierfür auf die Spur kommen möchte (»wieso/(melodisch) ist das so und wieso ist das so/«,) (12/36-37). Nach einer Passage, in der Özlem Karaca über verschiedene Bekannte, die in Aserbaidschan oder dem Iran aufgewachsen sind, und deren Sprachpraxen spricht, lenkt sie den Blick auf ihre eigene Sprache: Özl: es ist jetzt nicht so ich kann von mir auch nicht sagen, dass ich –/(betroffen) um Gottes Willen/jeden Moment äh suche – an dem ich mal nicht Deutsch sprechen muss. (1) Natürlich sprech ich gerne Deutsch ich liebe Deutsch für mich ist Deutsch die wichtigste Sprache in meinem Leben, ich spreche Deutsch am besten von allen Sprachen – und – verwende sie auch am meisten (1) aaber (1) wenn ich jetzt – die Möglichkeit hab, Aserbaidschanisch zu sprechen, – tu ich halt das, – weil es für mich auch eine Übung is – äh=es ist besser zu sprechen weil ich eben richtiges unter Anführungszeichen Aserbaidschanisch – erst vor fünf sechs Jahren durch Fernsehn, Musik, – Büche=er, Internet, Zeitung oder Sonstiges gelernt hab weil – die Sprache, die mir meine Eltern beigebracht haben doch – ziemlich unterschiedlich ist als das=s – Aserbaidschanisch das heute in Aserbaidschan gesprochen wird (2) uund (2) warum hab ich das jetzt gesagt? ((lacht)) – Ja also es is halt – für mich is es – wirklich interessant zu verstehn, warum die Leute (1) s=sich=h (1) vielleicht ihrer Sprache auch schämen ja. (13/27-40)
Mit dem starken Signal »um Gottes Willen« weist Özlem Karaca die mögliche Vorstellung zurück, dass sie bewusst Momente sucht, an denen sie nicht Deutsch sprechen muss, und begründet dies mit dem starken emotionalen Bezug zu Deutsch und der hohen Sprachkompetenz darin sowie mit der häufigen Verwendung der Sprache. Dass sie Möglichkeiten zum Sprechen von Aserbaidschanisch so oft wie möglich wahrnimmt, begründet sie damit, dass sie Sprech- als Übungssituationen zur Verbesserung dessen sieht, was sie als »richtiges unter Anführungszeichen Aserbaidschanisch« bezeichnet. Dieses
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›richtige‹ Aserbaidschanisch stellt sie in einen Gegensatz zur Sprache, die sie von ihren Eltern gelernt hat, und dem Aserbaidschanisch, »das heute in Aserbaidschan gesprochen wird«. Mit dem Fokus auf die Sprache der Eltern könnte neben Aserbaidschanisch auch die »Mischsprache« gemeint sein, die Özlem Karaca im Interview mehrfach anspricht und beschreibt (2/28, 2/35, 14/20, 17/15-16). Der Unterschied zu der derzeit in Aserbaidschan verwendeten Sprache könnte auf die unterschiedlichen Entwicklungen verweisen, die das Aserbaidschanische in Aserbaidschan und dasjenige der Gruppen, die Aserbaidschan vor Generationen verlassen haben, genommen haben.4 In einem Meta-Kommentar, mit dem Özlem Karaca zeigt, dass sie kurzzeitig ›den Faden verloren‹ hat, kommt sie noch einmal auf die Frage zurück, gern verstehen zu wollen, warum sich Menschen »vielleicht ihrer Sprache auch schämen«. Özl: ((lacht)) Ich komm jetzt glaub ich eh zum Abschluss (2) äh – äh es is=s – für mich=h ja (2) schwierig – ich weiß noch immer nicht ich kann noch immer nicht sagen woohin ich gehör – und och welche Sprache=äh=oiso ich würd – als Muttersprache würd ich schon Aserbaidschanisch sagen weil – das was meine Mutter mit mir gesprochen hat is=s ja auch wenns dieses Misch=Aserbaidschanisch is – is es nicht Türkisch – und auch nicht Deutsch – also meine ersten Worte warn – ääh nicht Deutsch oder auch nicht Türkisch deswegen Muttersprache oder beziehungsweise Erstsprache sagen wir so – würd ich schon sagen, dass Aserbaidschanisch ist. (2) (14/16-23)
Nachdem die Erzählerin das unmittelbar bevorstehende Ende der Haupterzählung ankündigt, resümiert sie, dass für sie die Frage »woohin ich gehör« und die Fragen der Sprache(n) unmittelbar zusammenhängen, aber noch nicht geklärt sind. An dieser Stelle wendet sie den Begriff ›Muttersprache‹ zum ersten Mal auf sich selbst an, allerdings mit großer Vorsicht (»würd ich schon […] sagen«). Das begründet sie in einer naturalisierenden Weise mit der Sprache, die ihre Mutter mit ihr gesprochen hat, die sie hier aber nicht explizit ›Aserbaidschanisch‹ nennt, sondern über die Negation »nicht Türkisch – und auch nicht Deutsch« im Prinzip unausgesprochen lässt. Auch ihre ersten Worte bezeichnet sie zunächst wieder über die Negation als »nicht Deutsch oder auch nicht Türkisch« und begründet mit dieser Abwesenheit von eindeutigen Alternativen: »deswegen Muttersprache oder beziehungsweise Erstsprache sagen wir so – würd ich schon sagen, dass Aserbaidschanisch ist (2)«. An dieser Passage kann gezeigt werden, dass »das Ideal einer greif baren, fest umrissenen, konsistenten Sprache« (Spitzmüller 2005: 238) mit klar festgelegten Grenzen (vgl. ebd. 238-249) eine eindeutige ›muttersprachliche‹ Verortung erschweren kann. Die eigene Verortung, die somit prekär bleibt, steht bei
4 | Zur Veränderung von Türkisch in der Migration vgl. Dirim 2009.
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Özlem Karaca in Kontrast zur gleichzeitigen Einforderung der Identifikation mit Aserbaidschanisch. Özl: ahm (1) aber wenn man mich fragt, welche Sprache ich am meisten verwende, dann is natürlich wieder das Deutsche – ah ich glaube aber auch nicht, dass sich das ändert, wenn ich irgendwoanders hinziehn würde – also auch wenn ich weniger Deutsch spreche dann sagen wir ich ziehe nach Aserbaidschan oder nach Russland – wird für mich Deutsch trotzdem die Sprache bleiben, die ich am besten spreche und ich die ich auch am=m – liebsten spreche oiso ich kann mich auf Deutsch einfach am besten ausdrücken (2) Int: Mhm. Özl:: Uund (1) ja – also ich werd trotzdem weiterhin ein bisschen versuchen – ääh herauszufinden woher/(leicht lachend) ich komme/– und ä=äh ich weiß wo die=f wo=o meine Familie gelebt hat bevor sie in die Türkei gezogen sind diese Stadt gibt es noch – im Iran jetzt – ich würd dort gern mal hinfahrn. (1) (14/23-34)
Der Kategorisierung entlang von primären Bezugspersonen und der Aneignungsreihenfolge stellt die Erzählerin nun die Frequenz der Sprachverwendung gegenüber, die sie eindeutig beim Deutschen am höchsten einstuft. Sie stellt diesen Zustand auch als sehr wahrscheinlich dauerhaften dar und meint, dass er auch eine Migration nach Aserbaidschan oder Russland und somit in einen Raum, in dem Deutsch als Kommunikationssprache nur sehr marginal Anwendung finden könnte, überdauern würde. Neben der Sprachkompetenz, die sie im Deutschen zwei Mal – einmal hinsichtlich ihrer Ausdrucksfähigkeit – am höchsten einstuft, betont sie die emotionale Komponente (»am=m – liebsten spreche«). Die zunächst nur sehr vorsichtig und als nicht besonders wahrscheinlich eingeführte Option einer Migration nach Aserbaidschan oder Russland kommt in weiterer Folge in einem biographischen Ausblick in etwas veränderter Form, nämlich als einmalige ›Fahrt‹, noch einmal vor, in dem die Erzählerin die Weiterführung ihrer bisherigen Bemühungen ankündigt, herauszufinden »woher/(leicht lachend) ich komme/«. Den Ort, an dem sie die Antwort auf diese Frage zu finden hofft, ortet sie im heutigen Iran, wo ihr Urgroßvater vor seiner Flucht (14/45-15/46) lebte. Mit der auf diese Weise endenden Haupterzählung ist der Kreis geschlossen, den die Erzählerin mit der Migration ihres Urgroßvaters aus Aserbaidschan in die Türkei aufgespannt hat. Ihre Suche nach dem Ort, »woher ich komme«, ist untrennbar mit der Frage nach der »Muttersprache« bzw. »Erstsprache« verbunden. Allerdings sind damit nicht nur individuelle Fragen, sondern komplexe gesellschaftspolitische Themen angesprochen, die mehrere Nationalstaaten und verschiedene darin lebende Gruppen betreffen. Dass Özlem Karacas Suche nach ihren Wurzeln nicht mit einer einfachen Formel der Art ›Muttersprache‹ = ›Ausgangsnationalstaat der Migration‹ zu fassen ist, zeigt die Tatsache, dass sie
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Russisch als Studienfach wählte, um damit diejenige Gruppe, die heute im Herkunftsland ihres Urgroßvaters lebt, besser zu verstehen.
9.2.5 Zusammenfassende Überlegungen – Sprachliche Kategorisierungen in biographischer Perspektive Es bleibt festzuhalten, dass sich die Student*innen in den Beschreibungen des eigenen Verhältnisses zu Sprachen subjektiver Ordnungen bedienen, innerhalb derer sie auf wissenschaftlich und gesellschaftlich übliche Kategorisierungen – etwa das der Quantifizierung und der Reihung (vgl. Dorostkar 2014: 77) – rekurrieren, sich aber kritisch zu diesen ins Verhältnis setzen. Von den hier zu Wort gekommenen und den anderen Erzähler*innen werden die Linguonyme ›Muttersprache‹, ›Zweitsprache‹ und ›Fremdsprache‹ zum Teil sehr differenziert thematisiert. Diese alltagsgebräuchlichen und zum Teil auch in der Wissenschaft, etwa in Mehrsprachigkeits- und Spracherwerbsmodellen, verwendeten Termini bieten den Student*innen eine Möglichkeit der Systematisierung eines komplexen Themenfelds und können als eingeübtes ›Format‹ gelesen werden, um sich ins Verhältnis zu Sprachen zu setzen. Alltagsweltliche Vorstellungen und manche wissenschaftlichen Modelle scheinen dabei allerdings so wirkmächtig zu sein, dass sie Selbstpositionierungsmöglichkeiten auch einschränken: In einem Fall ist die Inanspruchnahme zweier Sprachen als ›Muttersprachen‹ nicht möglich, in einem anderen erweist sich die schwierige Suche nach einer eindeutigen ›Muttersprache‹ als biographisch zentral, was performativ an der Schwierigkeit, die Sprache zu benennen, deutlich wird. Diese Schwierigkeit lässt sich auf Vorstellungen von fest umrissenen Sprachen in Form abgeschlossener Systeme mit festen Grenzen (vgl. Spitzmüller 2005: 238-249) zurückführen, in welche eine nicht als ›Substanz‹ oder ›Container‹ (vgl. ebd.)5 fassbare Sprache nicht passt, weshalb Positivbestimmungen erschwert werden und die Frage nach der eigenen ›Muttersprache‹ vor allem in Form einer Negation anderer Sprachen als ›Muttersprachen‹ bearbeitet wird. Darüber hinaus setzen sich die Erzähler*innen durchaus auch widerständig mit Kategorisierungen auseinander und stellen die Selbstverständlichkeit und Naturalisierung einer (einzigen) ›Muttersprache‹ und/oder die Annahme einer qua Natur ›perfekten‹ Sprachkompetenz in der als ›Muttersprache‹ klassifizierten Sprache in Frage und/oder lehnen diese ab. In den Argumentationen kommen auch Verhältnisbeschreibungen mit der Funktion vor, die Fremdpositionierung als Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache5 | Die Sprache, um die es geht, wird an verschiedenen Stellen des Interviews folgendermaßen bezeichnet: »Mischmasch«, »Mischung«, »Mischung aus Türkisch und Aserbaidschanisch«, »Aserbaidschanisch-Türkisch-Gemisch«, »Misch=Aserbaidschanisch« (vgl. 7.3.1).
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Sprecher*in zurückzuweisen und dadurch implizit den Status einer legitimen Deutschsprecherin in Anspruch zu nehmen. Als Begründungsstrategien werden Eloquenz, normative Korrektheit der Äußerungen, das Gefühl von Spontaneität, ›Entspanntheit‹ und ›Natürlichkeit‹ in der Sprachproduktion, die Häufigkeit der Verwendung der Sprache sowie ein Denken auf Deutsch ins Feld geführt. In den durchwegs argumentativen Passagen wird darüber hinaus auf biographische Kontinuitäten verwiesen, die eine möglichst weit in die Kindheit zurückreichende Vertrautheit mit Deutsch und einen biographischen Zuwachs belegen, der manchmal mit einem Abnehmen der Vertrautheit mit der/ den von den Eltern gesprochenen Sprache(n) einhergeht. Die Verhältnisbeschreibungen der Biograph*innen und ihrer Sprachen sind also keineswegs als Konstanten zu verstehen: Vielmehr verändern sie sich in der Lebenszeit und in unterschiedlichen sozialen Räumen. Von solchen Veränderungen sind auch Sprachloyalitäten bestimmt: In Anlehnung an Spitzmüller6 lassen sich Sprachloyalitäten aus biographietheoretischer Perspektive als über soziale Zuschreibungsprozesse biographisch geformte und wandelbare Spracheinstellungen beschreiben. Die Erzähler*innen verbindet ein ausgeprägtes Bewusstsein darüber, dass die mit sprachbezogenen Kategorisierungen verbundenen Hierarchisierungen keine individuellen ›Probleme‹ sind, sondern dass diese in unterschiedlichen sozialen (und nationalstaatlichen) Kontexten Relevanz für ganze Gruppen entfalten. In den betreffenden Passagen wird zum Teil auch eine akademische Beschäftigung der Student*innen mit sprach- und migrationswissenschaftlichen Fragen deutlich. Neben der Verwendung fachlicher Termini steht eine Reflexion von Inhalten des Studiums (u.a. Fragen zu sprachlichem Prestige, zu sprachlichen Kategorisierungen etc.), die in Bezug zur eigenen Biographie gesetzt werden. Darüber hinaus wird die Universität als Raum sichtbar, der Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit biographisch relevanten Sprachen und der eigenen (Sprach-)Biographie bietet. Diese Auseinandersetzung erfolgt nicht nur in Form von Wissensaneignung, sondern auch mittels kritischer Distanzierungen von sprachbezogenen Kategorisierungen sowie institutionellen Praktiken und Abläufen. Das biographische Interview wird somit auch dafür genutzt, um die eigene Geschichte als Argument gegen gesellschaftlich und akademisch wirkmächtige Positionen und Vorstellungen zu sprachlichen Kategorisierungen zu erzählen.
6 | Für Spitzmüller sind Sprachloyalitäten als »Teil von Identitäten das Resultat historisch gewachsener und soziokulturell verankerter Zuschreibungsprozesse« (Spitzmüller 2005: 339).
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9.3 A uf dem W eg zur legitimen D eutschsprecher*in In den letzten Kapiteln wurde herausgearbeitet, dass Student*innen unterschiedlichen Formen von Adressierung begegnen, in denen sie als ›Andere‹ konstruiert werden. Zudem wurden sprachliche Kategorisierungen und damit verbundene Hierarchisierungen und deren Bedeutung für die Selbstkonstruktionen herausgearbeitet. In diesem Kapitel steht die Bedeutung der Sprache Deutsch und ihrer Varietäten im Kontext des Studiums im Zentrum. Am Beispiel ausgewählter Fälle wird thematisiert, in welcher Weise sich die Student*innen zu den einzelnen Varietäten und damit verbundenen Hierarchisierungen in Beziehung setzen.
9.3.1 Kontinuierliche Selbstdisziplinierung auf dem Weg zum ›perfekten‹ Deutsch Simona Popescu nutzt ihre Haupterzählung vor allem, um ihren Weg von einem Dorf in Rumänien hin zu einem Studium in A-Stadt nachzuzeichnen. Dabei setzt sie sich mit verschiedenen migrationsbezogenen Fragen auseinander und betont unter anderem die Bedeutung der transgenerationalen Weitergabe von Migrationssprachen. Nach einer längeren argumentativen Passage, in der sie am Beispiel der Familie ihres Freundes auf dieses Thema eingeht, stellt ihr die Interviewerin die Frage, was ihre Sprachen für sie bedeuten (33/38). Die Erzählerin beginnt mit der Beschreibung von Sprachenportraits (vgl. Kap. 2.4), die sie im Rahmen verschiedener Lehrveranstaltungen gezeichnet hat. An diesem Beispiel erläutert sie, dass sie in ihren ersten Zeichnungen Rumänisch »in der Nähe des Herzens« (33/43) und Deutsch »irgendwie im Kopf« (34/1) gezeichnet habe, inzwischen aber Deutsch »auch irgendwie in der Nähe vom Herzen« verorte (34/1-2). Auf der Suche nach einer Begründung für diesen leiblichen ›Ortswechsel‹ greift sie auf eine biographische Argumentation zurück: Sim: Weil es hat so von Anfang an so gepasst, – dass ich irgendwie es hat so [es musste irgendwie] so sein dass ich irgendwie zu dieser zum zum Deutsch komme. Als kleines Kind. Int: [((hustet))] Sim: Wieso hab ich da diese Receiver mit Deutschprogramme bekommen. Wieso nur ich halt. Irgendwie. Das ist halt die Frage. [Und] Deutsch ist halt – ist sehr wichtig für mich. [Mh] Int: Sim: Und ich tu mich schwer noch ein bissi mit der deutschen Sprache weil ich glaub es is halt so mit den acht Jahren Pause eigentlich. Acht Jahre Pause ist eigentlich viel um nicht mehr Fortschritte zu machen dann gleich auf die Uni zu gehen und auf Deutsch zu studieren, und äh ich hab da sozusagen die Lücken, manchmal bei Präpositionen, manchmal fällt mir Wörter nicht ein, manchmal tu ich im Kopf schnell schnell ausm Rumänischen übersetzen, das ist halt nicht gut, weil man muss gleich in der deutschen
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Sprache denken. Und äh manchmal bei Endungen mit Dativ Genitiv und so, und das sind halt sozusagen Kleinigkeiten, diee ich noch [schleifen kann, damit es dann] besser geht. [Mh, mh] Int: Sim: Und ich tu mich dann ein bisschen noch schwer, aber ich mach dann ständig Übungen, oder so mit meinem Freund wenn wir dann auch fast manchmal nur Deutsch, manchmal nur auf Rumänisch, weil ich würds dann irgendwie sehr sehr gut beherrschen [die Sprache]. Weil es ist ich weiß nicht es ist einfach wichtig für mich. Schon als Kind [Mh] Int: Sim: unbewusst wars wichtig für mich. (34/6-26)
Unmittelbar nach der Beschreibung des Sprachenportraits, dessen körperorientierte Form offenbar nicht ausreichend für die Erzählerin ist, um ihr Verhältnis zu den Sprachen zu erklären, folgt die Begründung der Verortung von Deutsch in der Nähe des Herzens, nämlich eine Passung »von Anfang an«, die mit rhetorischen Fragen zu Simona Popescus frühen Begegnungen mit Deutsch untermauert wird. So stellt die Erzählerin biographische Kontinuität in ihrem Verhältnis zu Deutsch her, wodurch die Sprache in die Nähe einer ›Muttersprache‹ rückt. Im weiteren Verlauf zeigt sich allerdings, dass das Verhältnis trotzdem kein unproblematisches ist: Obwohl Deutsch »sehr wichtig« für die Erzählerin ist, meint sie, sich noch ein wenig ›schwer zu tun‹ mit der Sprache, eine Schwierigkeit, die sie mit der achtjährigen ›Pause‹ nach ihrer Grundschulzeit in Rumänien begründet (2/38-3/14). Diese Pause wird einerseits wie ein durch Anstrengung und Üben zu überwindender Nachteil im Streben um ›perfektes‹ Deutsch konstruiert, andererseits könnte er in der Interviewinteraktion auch als Legitimierung sprachlicher Normabweichungen gelesen werden. Die rhetorische Steigerung ›Fortschritte machen‹, ›auf die Uni gehen‹, ›auf Deutsch studieren‹ verweist auf den Bildungsaufstieg, den Simona Popescu durchlaufen hat und hebt die Sprache, in der sie studiert, als besonders bedeutsam hervor. Die eigenen ›Lücken‹ im Deutschen verortet sie in einem speziellen Bereich der Grammatik und im Bereich des Vokabulars. Allerdings kritisiert sie die ihr selbstverständlich zur Verfügung stehende Strategie des »im Kopf schnell schnell ausm Rumänischen [Ü]bersetzen[s]« und stellt ihr die Norm des »in der deutschen Sprache [D]enken[s]« gegenüber. Das schnelle Übersetzen wird somit nicht als besondere Kompetenz, sondern als ›Vorstufe‹ zum Denken auf Deutsch konstruiert. Diese Beschreibung widerspricht der zuvor beschriebenen Zeichnung und der Verortung der deutschen Sprache im Kopf und weist darauf hin, dass die Denkarbeit offenbar hauptsächlich auf Rumänisch stattfindet und dass die Verortung von Deutsch »im Kopf« eher eine Zielvorstellung als eine – wie in der ›Übung‹ suggeriert – Verortung im Körper ist. Die Erzählerin schätzt den Abstand zur normgerechten Idealvorstellung der ›perfekten‹ Sprache als nicht besonders groß ein, meint allerdings, dass
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noch sehr viel Aufwand notwendig ist, um den Abstand zu verringern bzw. die Lücke zu schließen. Die »Kleinigkeiten«, die noch nicht passend sind, kann Simona Popescu »schleifen«. Schleifen stellt eine handwerkliche Tätigkeit dar, bei der unter hohem Kraftaufwand ein hartes Material über das Abtragen mehrerer Ebenen zur Glättung der Oberfläche, Formgebung oder Dekoration bearbeitet wird. Jedenfalls geht es beim Schleifen eher um den äußeren Eindruck des Gegenstandes als um den Gegenstand selbst. Die Ebenen, die abgetragen werden müssen, sind die von Simona Popescu beschriebenen »Kleinigkeiten«, die zwischen ihrer aktuellen Sprachkompetenz und der anvisierten Zielvorstellung liegen. Sie berichtet, »ständig Übungen« zu machen, was auf eine unablässige Form der Selbstdisziplinierung verweist, die sich schon in den Körper eingeschrieben hat. Zugleich wird in der Beschreibung des gemeinsamen Übens mit ihrem Freund deutlich, dass Simona Popescus Deutschkompetenz zum Gegenstand einer laufenden Selbst- und Fremdbeobachtung geworden ist, der unter extremem Norm(alis)ierungsdruck steht. Diese Stelle verweist auf spracherwerbstheoretische Annahmen, dass alternierender Sprachgebrauch nicht förderlich für das Erlernen oder Perfektionieren zweier Sprachen ist. Das ideale Ergebnis ihrer kontinuierlichen Arbeit an sprachlichen Details bezeichnet die Erzählerin – im Konjunktiv – als »sehr gut[es] [B]eherrschen« der Sprache. Auch wenn der Begriff »beherrschen« im Kontext von Sprachenlernen alltäglich und durchaus üblich ist, bekommt er in Zusammenhang mit dem kontinuierlichen Schleifen als Selbsttechnik noch eine weitere Nuance, nämlich die disziplinierende ›Umerziehung‹ des Sprachkörpers zu einem, der auf Deutsch denkt und ununterscheidbar vom mehrheitsdeutschsprachigen Körper wird.
9.3.2 Deutsch als ›Grenze‹ Die Erzählung von Paola Pascucci weist einige Ähnlichkeiten in Hinblick auf biographische Stationen auf. Auch sie kam zunächst im Rahmen eines Erasmus-Aufenthalts nach A-Stadt und inskribierte nach ihrer Rückkehr nach Italien ein Studium in Österreich. Auch Paola Pascucci beschreibt eine Lücke zwischen aktueller und angestrebter Sprachkompetenz im Deutschen, allerdings geht sie im Interview auf andere Facetten dieses Problems ein. Nach ihren Ausführungen zu Erfahrungen mit Deutsch an der Universität in Italien fragt die Interviewerin, welche Erfahrungen sie an der Universität in A-Stadt gemacht hat, woraufhin die Erzählerin meint, dass das »ein=ein zentrales Thema« (11/22) ist, dann aber zunächst auf ihre Erfahrungen mit Sprache im Alltagsleben eingeht, die sie als ausreichend einstuft (11/23-27). Als Kontrast dazu führt sie nun die Universität ein:
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Pao: Wenn ich aber hier bin, also an der Uni – ist es anders, und ähm das ist für mich eine (2) ja ähm (1) ein schwieriger Punkt, weil ich mich immer – und das kommt eben nur durch die Sprache, ich mich immer, ich fühle mich immer, ein Stückchen zurück, oder ein Stückchen drunter, sei denn bei den Seminaren (1) oder – wenn ich mit meine Professoren reden muss, oder (1) alles äh weil ja – ich weiß, oder ich spüre, dass mein Deutsch nicht genug ist, weil (1) ich weiß, – dass, ich würde mich – auch ähm – in Italien so fühlen, ich wäre auch in Italien nicht so super äh sicher, äh von meiner Sprache, – ähm weil es einfach ein sehr hohes Niveau ist. (11/27-34)
Da das Interview an der Universität stattfand, nimmt Paola Pascucci zunächst mit »hier« auf den Raum der Interaktion Bezug und spezifiziert den Kontext, über den sie nun sprechen möchte, dann mit »also an der Uni«. Diese Reformulierung könnte bedeuten, dass Paola Pascucci die Interviewsituation von den Situationen, die sie zu beschreiben im Begriff ist, ausnimmt. Jedenfalls erklärt sie, sich immer »ein Stückchen zurück, oder ein Stückchen drunter« zu fühlen, was sie zunächst ausschließlich auf »die Sprache« zurückführt. Damit ist eine Hierarchie angesprochen, innerhalb derer die Beteiligten vor- oder hinter- bzw. über- oder untereinander positioniert sind. Als Beispiele für die unter »immer« subsummierten Situationen, in die sie ihre Erfahrung einreiht, gibt die Erzählerin Seminare und Gespräche mit Professor*innen an. Sie begründet ihr Gefühl der inferioren Positionierung damit zu wissen oder zu spüren, dass ihr Deutsch nicht näher spezifizierten Anforderungen nicht entspricht. Allerdings hängt ihre Unsicherheit nicht nur mit Deutsch zusammen: Dass sie argumentiert, sich im universitären Kontext in Italien sprachlich ebenfalls »nicht so super äh sicher« zu fühlen, begründet sie mit dem sehr hohen einzelsprachunabhängigen akademischen Niveau. Pao: Auch in Italien, auch Italienisch, auf einem akademischen Niveau, also alleine, als ich meine Abschlussarbeit geschrieben habe, in Italienisch, waren riesige Probleme mit meinem Professor, da waren es natürlich überstreng, aber hat einfach mein Italienisch korrigiert – und ähm stilistisch einfach, oder Feinheiten, oder »das sagt man nicht« oder so ah – und äh – eben weil ich weiß, dass ich meine, natürlich nicht grammatikalische Fehler auf Italienisch gemacht habe, aber einfach so, ah stilistisch kann es immer besser sein, oder kann besser klingen, oder kann man das schöner schreiben. (11/34-41)
Ihre Erfahrungen an der italienischen Universität gibt die Erzählerin am Beispiel des Schreibprozesses an ihrer Abschlussarbeit wieder, im Rahmen dessen sie »riesige Probleme« mit ihrem Professor hatte, den sie als »überstreng« beschreibt. In der Beschreibung der damaligen als hierarchisch und einseitig empfundenen Kommunikation über den Text macht sie deutlich, dass das defizitorientierte Feedback des Professors vom ›erzählten Ich‹ als unangemessener Eingriff in den eigenen Schreibprozess und in das über den sprachlichen
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Ausdruck hinausgehende Verhältnis zur Sprache (»mein Italienisch«) gewertet wurde. Die Erzählerin räumt ihr Bewusstsein über die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Schreibprozessen und das Streben nach Perfektion ein, was aber den Eingriff des Professors in ihren individuellen Schreibprozess und ihren Text nicht rechtfertigt. Pao: Allein auf Italienisch war’s manchmal nicht einfach. Natürlich, wie kann’s auf Deutsch sein – und ähm deswegen spüre ich einfach dieses Thema von der Sprache, die deutsche Sprache, als eine Grenze von mir was – was ich, jeden Tag, also womit ich mich jeden Tag beschäftige und kont_ konfrontieren. Manchmal ist eine sta_ sehr starke Frustration, manchmal geht’s, also an anderen Tagen geht’s, ich sage »Okay«, also versu_ ich versuche, nicht so daran zu denken, aber das ist eigentlich auch meine große Zweifel, schaff ich dieses Doktorat zu machen, schaff ich eine Dissertation zu schreiben, wird es wirklich meine Dissertation sein, weil ich werde es natürlich – mir korrigieren lassen, ich muss es und ähm – oder kann es genug, also ich hab – meine Angst ist ähm, – dass ich – dass es – irgendwie nicht meine Arbeit sein wird, weil ichs – eine, einerseits eine Art Distanz spüre, zu dieser Sprache, andererseits ähm (1) natürlich schreibe ich das, aber das wird immer – immer korrigiert, oder das wird immer formul_ natürlich nicht, wenn ich nicht will. Also das ist keine Gewalt aber – ähm ja also (3) wie gesag_ also, es ist nicht einfach. (11/41-12/7)
Im Vergleich mit den Erfahrungen mit Italienisch an der Universität bezeichnet die Erzählerin es als »[n]atürlich«, dass die universitäre Kommunikation auf Deutsch »nicht einfach« ist. Dabei beschreibt sie Deutsch als »Grenze«, die einerseits als etwas ihr Immanentes (»Grenze von mir«), andererseits als implizit bearbeit- und somit verschiebbar konstruiert wird. Interessant an der Metapher der Grenze ist, dass hier nicht die Sprache an sich metaphorisiert wird (vgl. etwa Spitzmüller 2005: 191-258; Veronesi 2008), sondern das eigene Verhältnis zu dieser. Im weiteren Verlauf füllt sie die abstrakte Idee der ›Grenze‹ mit Inhalten: Sie drückt große Zweifel in Hinblick auf das Gelingen des Doktoratsstudiums aus, das sie eng an das Verfassen der Dissertation knüpft. Zudem beschreibt sie eine allgemeine »Distanz« zu Deutsch: konkret beziehen sich ihre Zweifel darauf, ob der noch in Arbeit befindliche Text irgendwann wirklich »[ihre] Dissertation« sein wird, was sie damit begründet, dass sie den Text »immer korrigier[en]« lassen wird. Der Gefahr einer schrittweisen Entfremdung von ihrem eigenen Text über die Korrekturen und Reformulierungsvorschläge Anderer stellt sie die Sicherheit über ihre Autor*innenschaft gegenüber (»natürlich schreibe ich das«). Sie räumt ein, dass die angesprochene Form der Korrekturen, die auf ihren eigenen Wunsch erfolgen, »keine Gewalt« darstellt, womit sie sie von denen ihres Professors in Italien unterscheidet. Insgesamt zeigt sich an dieser Passage, dass in Fächern, in denen Sprache als Forschungsgegenstand
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Bedeutung zukommt, Sprachmächtigkeit im Sinne von ›Perfektion‹ ein Distinktionskriterium darstellt. Anschließend spricht die Erzählerin über eigene Referate, die zu Beginn ihres Studiums in Österreich sehr angstbesetzt waren.7 Ihre Befürchtungen bezogen sich zum einen auf die Art ihres Sprechens (z.B. Angst vor Stottern), zum anderen darauf, Fragen im Anschluss an das Referat nicht zu verstehen oder nicht darauf antworten zu können. Trotz mehrfacher positiver Erfahrungen mit Referaten und allgemeiner ›Begeisterung‹ im Seminarkontext blieb die Unsicherheit bestehen (12/10-27). Diese konkretisiert sie wie folgt: Pao: also, ich hab das Gefühl, dass in dem Moment, wo ich mein Mund aufmache, wo ich etwas sage, auf Deutsch, ähm – denken die Leuten – »naja sie ist« also ich hab, also meine Angst ist, dass sie – denken, dass ich ja blö_ nicht blöd bin, aber, – ich kann die Sachen nicht so gut, also ich geh direkt zum Punkt und äh diese ganze Rhetorik hab ich nicht in der deutschen Sprache. Ich hab die Rhetorik nicht und deswegen hab ich Angst, dass die Leuten denken »naja sie ist eh nicht gut« also, dass ich nicht genug bin, oder dass ich nicht genug gut bin oder, dass ich nicht ähm (1) ja an diesem Niveau bin. Und, ja, das ist – ganz grundsätzlich. (12/15-22)
Paola Pascucci beschreibt ein allgemeines Gefühl, dass »die Leute«, sobald sie auf Deutsch zu sprechen beginnt, etwas denken, was zunächst hinter mehrfachen Abbrüchen verborgen bleibt. Interessant ist der Moment, an dem die Befürchtungen Paola Pascuccis ansetzen, nämlich der, »wo ich mein Mund aufmache«. Sie befürchtet also, dass eventuelle Abweichungen ihres Deutsch von einer nicht näher bestimmten Norm an der Universität sofort von anderen gehört werden. Paola Pascucci impliziert hier die Befürchtung eines konstruierten Zusammenhangs zwischen ihrer Sprache und zugeschriebenen kognitiven Fähigkeiten bzw. einem mangelhaften wissenschaftlichen ›Niveau‹. Insgesamt lassen sich in den vorgestellten Passagen die sozialräumliche Selbstpositionierung über »ein Stückchen zurück, oder ein Stückchen drunter« und den zuletzt thematisierten Zuschreibungen in Verbindung mit der Metapher der Grenze als Form der Thematisierung und Bearbeitung prekärer Zugehörigkeit und Positionierung im sozialen Raum lesen.
7 | An einer anderen Stelle (3/32-36) geht sie explizit auf die Lehrveranstaltungsgestaltung in Österreich im Vergleich mit Italien ein und beschreibt ihre in A-Stadt erstmalig gemachte Erfahrung mit dem Halten eines Referates, das von der Professorin besonders positiv bewertet wurde.
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9.3.3 Dialekt und die Zuschreibung mangelnden Intellekts In Hinblick auf die wahrgenommene Zuschreibung mangelnder kognitiver Fähigkeiten weist Katharina Pecks Erzählung eine starke Parallele zu der von Paola Pascucci auf. In ihrer Haupterzählung spricht Katharina Peck über ihre Erfahrung, nach ihrem Umzug nach A-Stadt zum ersten Mal von Menschen umgeben gewesen zu sein, die ihren Dialekt nicht verstanden, sowie über ihre sukzessive Aneignung des Standards als weitere Kommunikationssprache in Alltagssituationen. Vor allem den Kontext Universität beschreibt sie als herausfordernd, wobei sie betont, von Lehrenden selten ›schief angeschaut‹ worden zu sein, was bei Studienkolleg*innen aber anders sei. Die Erfahrungen beschreibt sie damit, dass es im Allgemeinen ›nicht so gut ankommt‹, wenn man an einer Universität ›gschead‹ oder Dialekt spricht (16/4-9). Kat: Ma wird äh ma wird daun irgendwie sou a bissl belächelt, so auf die Oat wia jo hm, also es is hoid leida so dass an Dialakt wenig Prestige haftet und (1) dass ma iagendwia davo ausgeht dass de daun weniger gebildet san oda söichi Gschichtn und des find i eigentlich relativ schod. (16/11-14)
Die Erfahrung, ›so ein bisschen belächelt‹ zu werden, führt sie auf das geringe Prestige des Dialekts in A-Stadt zurück, das mit der Vermutung und/oder Überzeugung einer geringeren (formalen) Bildung von Dialektsprecher*innen einhergeht, über die sie hier aus der Perspektive der Mehrheit spricht (»dass de daun«). Sowohl das Belächelt-Werden als auch die Haltung Dialektsprecher*innen gegenüber konstruiert Katharina Peck hier aus einer objektiv anmutenden ›man‹-Perspektive wie eine gesellschaftlich gültige ›Regel‹, bewertet die Zuschreibung aber als ›relativ schade‹. Kat: Aiso des, vielleicht is des fü mei Dialekt so bliem waöl i waöl i des füa mi iagendwie (1) so i wü des a so a bissl zoagn dass des nüd so is. Aöso waö i glaub ned dass i/ (lachend) ungebildet bin/aiso hm [((lächelt))] kaun i ma ned voastöhn waö sunst wad i [((lacht))] Int: Kat: glaubi nid so weit keima jetzt mittlaweile im Studium und (2) how i eigentlich imma sehr schod gfundn. Aiso maunche sogn äh »es head si liab au« owa ma wiad belächlt. Also ma is daun so es kluane es kluane Dummal so sozusogn owa hm. (16/14-22)
Die Erzählerin meint, dass »das« bei Ihrem Dialekt so geblieben sei, womit sie möglicherweise meint, dass sie ihre Sprache nicht an die Mehrheit angepasst hat. Sie begründet das mit ihrem Wunsch zu zeigen, dass die Zuschreibung der geringeren Bildung nicht stimmt, und meint dann lachend, sich selbst nicht für ›ungebildet‹ zu halten, was sie mit ihren bisherigen Erfolgen begrün-
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
det. Eine weitere Form der Haltung zu Dialektsprecher*innen beschreibt sie damit, dass manche sagen, ihr Dialekt klinge ›lieb‹, sie selbst aber gleichzeitig belächeln und als »es kluane Dummal so sozusogn« ansehen. Sie beschreibt hier also eine Sicht auf Dialektsprecher*innen, die mit Zuschreibungen mangelnden Intellekts und Infantilisierung sowie einer Kombination aus beidem verbunden ist. Die Passage beendet sie, indem sie noch einmal auf ihre anfänglichen Schwierigkeiten eingeht, die Varietät ›umzustellen‹ und ihren Versuch betont, »des« (16/23-24) trotzdem zu bewahren. Ob mit »des« der Dialekt gemeint ist oder sein bewusster Einsatz auch in Kontexten, in denen er nicht erwünscht oder erwartet wird, lässt sich an dieser Passage nicht ablesen. Im Nachfrageteil spricht Katharina Peck noch einmal über die Wahl der Varietäten und ihr Code-Switching in Alltagssituationen. Die Interviewerin fragt, wie das an der Universität war oder ist. Die Erzählerin argumentiert zunächst, dass die meisten Professor*innen ›akzeptieren‹, wenn in Lehrveranstaltungen Dialekt gesprochen wird (20/18-21). Das kontrastiert sie mit Kolleg*innen, die sie als »zeitweis echt gemein« (20/24) beschreibt. Diese Charakterisierung erläutert sie damit, dass einige Studienkolleg*innen eine Zusammenarbeit in Gruppen- oder Partnerarbeiten mit ihr ablehnen, was sie unter anderem damit begründen, dass Katharina Peck immer Dialekt spreche, wenn sie nervös sei (20/25-31). Dies lässt sich als Indiz dafür identifizieren, wie wirkmächtig die Hierarchisierung Dialekt-Standard an der Universität ist und dass auch Student*innen ihr soziales Handeln vor dem Hintergrund bevorstehender Bewertungen ihrer Leistungen danach ausrichten und sich an der Delegitimierung von Dialekt beteiligen. Der beschriebenen distinktiven Praxis stellt Katharina Peck eine eigene Strategie entgegen: Kat: i hob ma daun i bin eigentlich imma scho so gweisn dass i ma daun meini Leid gsuacht hob mit dena i Dialekt reidn hob kinna. Also ned nua deswegn owa uanfoch, des woan so die Leidensgenossn. Waö mit denan wuitat kuana Gruppenoawat mochn oda a Partneroabat, na mochn hoid mia ane. Und do hods funkioniert obwuis untaschiedliche Dialekte woan. (…) Mia is des allgemein wuascht weil i mua vastei duar i jo ois ((lacht)) vastaundn howi jo imma schau ois. Reidn howis nid imma kinna, owa vastaundn howi imma ois. (1) Und des woa nid nid ned gaunz leicht. (20/44-21/2)
Die zuvor beschriebenen Situationen und Zuschreibungen, die sie mit »Ausgrenzung« (20/44) konkretisiert, führten Katharina Peck zu einer Suche nach ›Dialektsprecher*innen‹. Neben der gemeinsamen Varietät begründet sie das damit, dass jene »Leidensgenossn« seien, da sie dieselben Exklusionserfahrungen bei Gruppen- oder Partnerarbeiten gemacht hätten. Sie betont die gute Kommunikation in diesen Gruppen trotz unterschiedlicher Dialekte und hebt hervor, dass rezeptive Sprachkenntnisse alleine eine Kommunikation sehr
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wohl ermöglichen. Evaluierend hebt die Erzählerin hervor, dass Situationen wie die beschriebenen »ned gaunz leicht« für sie waren. Trotz der Illegitimation des Dialekts im Kontext Germanistikstudium und der Zuschreibung mangelnden Dialekts und Infantilisierung von Dialektsprecher*innen lässt sich an Katharina Pecks Beispiel rekonstruieren, dass es möglich ist, Wege zu finden, die hierarchischen Verhältnisse in bestimmten Situationen außer Kraft zu setzen und handlungsfähig zu bleiben.8
9.3.4 Ambivalente Positionierungen im Kontext sprachlicher Hierarchien Das Interview mit Milan Pavić zeigt im Hinblick auf Erfahrungen mit und Haltungen zu normgerechtem Deutsch eine zusätzliche Facette. Der folgende Ausschnitt stammt aus einer Interviewpassage, in der der Erzähler Kritik äußert an universitären Beurteilungskriterien, die von manchen Lehrenden ganz explizit entlang der Achse ›muttersprachig‹ – ›nicht-muttersprachig‹ vorgenommen werden, seiner Interpretation nach wohl mit dem gutgemeinten Ziel, als nicht-muttersprachig positionierte Student*innen nicht zu benachteiligen (26/21-30). In diesem Kontext meint der Interviewpartner, dass »Akzente […] etwas Bestimmtes hervorrufen«. Auf die Frage der Interviewerin hin, ob er sich an eine bestimmte Situation erinnern kann, in der das so war, antwortet er: Mil: »Ma ertappt sich, immer selbst find ich!« (21/14)
Das Eingeständnis, sich selbst immer wieder zu »ertappen«, kommt einer Präambel gleich für das, was noch folgen wird. Milan Pavić führt sich selbst gleichermaßen als ›Schuldigen‹ ein, der sich dessen bewusst ist, dass etwas an seinem Verhalten moralisch nicht ganz vertretbar oder gesellschaftlich nicht anerkannt ist. Das ›sich Ertappen‹ passt darüber hinaus zu dem Reiz-Reaktions-Modell, das hinter der Vorstellung steht, Akzente würden etwas ›hervorrufen‹. Es wird dadurch nahelegt, dass das, was hervorgerufen wird, im Bereich des Unbewussten liegt und sich somit jenseits der eigenen Kontrolle befindet. Zugleich verweist die depersonalisierte Formulierung mit ›man‹ auf eine Distanzierung, und Milan Pavić wird nicht als Subjekt hinter der Gesetzesmäßigkeit oder Regelhaftigkeit des sich-Ertappens sichtbar, die er beschreibt. Mit der Präambel wird zugleich ein reflexives Sprechen angekündigt, und es wird der Interviewerin nahegelegt, dass Milan Pavić sich mit dem, was er zu sagen im Begriff ist, nicht vollständig identifiziert. 8 | Eine vergleichbare Form der Solidarisierung zwischen Student*innen, die Bosnisch bzw. Serbisch sprechen, findet sich im Interview mit Milan Pavić (25/23-27).
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Mil: Also wenn jemand, mit einem Akzent spricht, also hm, ich nehm jetz einfach mal, weil ich, jetz grad an einen konkreten Fall denke den ungarischen Akzent – ahm – spricht, fließend Deutsch, super Deutsch – eins_ also, man kann nichts sagen, aber hat einen Un_ Ungarischen Akzent, und man hat dann immer so »Na, fast! Fast! Fast würd es reichen«, ja? (lacht) (28/14-19)
Milan Pavić setzt nun dazu an, ein Argument auszuführen, indem er einen Bestandteil einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit konstruiert: »Also wenn jemand, mit einem Akzent spricht«. Als illustrierendes Beispiel wählt er den ›ungarischen Akzent‹ aus, mit der expliziten Begründung, dass er diesbezüglich gerade an einen »konkreten Fall« denke. Die Perspektive, die er in dieser Passage einnimmt, ist eine doppelte: einerseits die eines »von außen« beschreibenden Wissenden bzw. »Experten«, und gleichzeitig eine ganz »allgemeine«, depersonalisierte, quasi objektivistische »man«-Perspektive (»man« kann nichts sagen, »man« hat dann immer so). Diese Distanzierungsstrategie ermöglicht es ihm zu argumentieren, ohne seine persönliche Involviertheit zu thematisieren. Es folgt eine Einschätzung und Beurteilung der Deutschkompetenz der fiktiven Person: »spricht, fließend Deutsch, super Deutsch – eins_ also, man kann nichts sagen«. Milan Pavić beurteilt die Deutschkompetenz der fiktiven Person aus einer Lehrer*innenperspektive und stuft sie als sehr hoch ein. Sein Urteil erinnert an einen Bewertungsbogen, auf dem sprachliche Fertigkeiten ›abgehakt‹ werden und nichts Negatives festgestellt werden kann (»man kann nichts sagen«). Auf die sehr hohe Einschätzung der sprachlichen Kompetenz folgt nun ein markant betontes und fokussiertes »aber«. Die positiven Beurteilungen lassen sich als Teil eines disclaimers identifizieren. Es ist Milan Pavić also bewusst, dass seine Einschätzung des Deutschen mit ungarischem Akzent gesellschaftlich und sprachwissenschaftlich problematisch ist, was dazu führt, dass er den positiven Charakter mehrfach hervorhebt (»fließend«, »super«, »man kann nichts sagen«). Im zweiten Teil des disclaimers (»aber hat einen Ungarischen Akzent«) wird die positive Beurteilung des ersten Teils in einem spezifischen Punkt aufgehoben und das Deutsch der fiktiven Person herunter- bzw. als nicht vollkommen anerkennenswert eingestuft. Mit der direkten Redewiedergabe am Ende dieser Stelle »Na, fast! Fast! Fast würd es reichen« konstruiert er eine »allgemeine« man-Perspektive bzw. ein »allgemeines« man-Urteil: »und man hat dann immer so…«. Das Verb ›reichen‹, das ansonsten für Minimalanforderungen steht, wird hier für die Beurteilung einer besonders elaborierten Form der Sprachbeherrschung verwendet. Wofür die Sprachbeherrschung »fast […] reichen« würde, führt Milan Pavić nicht aus. Nachdem die Sprache, abgesehen vom Akzent, als ›perfekt‹ beurteilt wird, liegt es nahe, dass sich das »fast reichen« auf die Frage bezieht, ob die Person wegen ihres ungarischen Akzents, der als ganz spezifischer Mangel konstruiert wird, als ›Andere‹ – genauer: defizitäre Andere – identifiziert werden kann.
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Der ungarische Akzent kann also dazu führen, aufzufallen, ›erkannt‹ zu werden. Es geht auf der Ebene der Sprachbeherrschung, die Milan Pavić im Blick hat, um sehr feine Nuancen, die Personen verletzbar machen, weil sie als nicht fraglos zugehörig markiert werden. Das »reichen« bezieht sich somit auf einen Status, nämlich den Status eines/einer fraglos zugehörigen Native Speaker. Der Kontext, der den Rahmen für die (nicht-)Anerkennung setzt, ist das Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Aus Milan Pavićs Sicht stellt ein ungarischer Akzent in diesem Rahmen ein Problem dar. Gleichzeitig positioniert er sich als Person, die das alles von einer objektiven man-Perspektive her beurteilen kann, als vermeintlich ›neutrale‹ Person, die der Gefahr, über einen Akzent ›entlarvt‹ zu werden, enthoben ist. Er schreibt sich somit das Privileg zu, sprachliche Bewertungen seiner Kolleg*innen aus einer Außenperspektive vorzunehmen, was als implizite Selbstkonstruktion als Native Speaker gelesen werden kann. Daneben kann die Stelle als (selbst-)ironische Entlarvung von Normerwartungen gedeutet werden, für die auch Milan Pavićs Lachen am Ende der Passage spricht, sofern dieses nicht als Verlegenheit gedeutet wird. Möglicherweise wird ihm erst im Sprechen bewusst, dass er eine Normierung vorgenommen hat, für die ihm die letztendliche Begründung nicht vollkommen zugänglich ist, bzw. dass er im Sprechen aufgedeckt hat, dass er sich auf der Skala der Sprachbeherrschung höher einstuft als Andere, und dass diese Einstufung moralisch problematisch ist, weil sie die Realität des Native Speakerism deutlich macht. Mil: Und, man=man, behaftet das dann ein bisschen (1) n_ negativ quasi. Man=man zieht sich dann irgendwie (1) also äh jetz muss ichs wirklich selber leider zugebm dass man sich – am Anfang einfach s_ so sieht als ob man drüberstehn würde, ja? Also man, sieht sich dann einfach in der, Rangliste höher. (28/19-22)
Obwohl Milan Pavić sich hier vom Native Speakerism immer noch über das »man« distanziert, baut er eine Skalierung der produktiven Fertigkeiten im Deutschen auf, in die er sich selber einreiht. Über das »jetz muss ichs wirklich selber leider zugebm« expliziert er, wie problematisch er diese Haltung eigentlich findet, aber in seinen Bewertungen, über die er im Interview spricht, reproduziert er sie dennoch. Es geht hier nicht um eine Beurteilung produktiver Sprachfertigkeiten im Deutschen, die sehr eingeschränkt sind, sondern es geht um die Frage, welche Form der phonetischen Realisation einer in allen sprachlichen Bereichen sehr elaborierten Sprache ›ranghöher‹ ist und seine*n Specher*in selbst damit in eine ranghöhere Position bringt. Es geht also nicht nur um die Frage, welche Akzente prestigeträchtiger sind als andere, sondern auch darum, dass mit dem Sprechen eines mehr oder weniger legitimen Akzents auch eine gesellschaftliche Ordnung verbunden ist. Es wird hier unter-
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schieden zwischen denen, die fähig sind, ohne Akzent (oder mit einem als legitim anerkannten Akzent) zu sprechen und denen, die das nicht können. In diesem Abschnitt wird zudem deutlich, dass Milan Pavić, auch wenn er diese gesellschaftliche Ordnung zum Teil durchschaut, doch in ihre Reproduktion verstrickt ist. Mil: Total – irrsinnig und total, ähh rassistisch/(leicht lachend) eigntlich/aber, ahm – es is halt dieses erste Ding »Ah okay, Ungarn, okay, kann nicht so gut, (kann n_ jetz kann nicht_) kann nicht akzentfrei sprechen.« (2) Ja. – Kommt halt nicht so_ Also ein Akzent kommt, leider nicht so gut an! Ja? Weil Akzente sind halt so eine, so eine Sache. Sind irrsinnig schön find ich – ähmm (1) aber, sie kommen glaub ich allgemein nicht gut an. (2,5) Ja. (28/22-29)
Mit der Bewertung dieses eigenen Gefühls der Höherwertigkeit als »total – irrsinnig und total, ähh rassistisch« und dem leichten Lachen distanziert Milan Pavić sich noch einmal von dem eben Besprochenen. Auch hier zeigt sich die Ambivalenz wieder in einem disclaimer, dessen erster Teil mit der Vagheitsmarkierung »eigntlich« abgeschlossen und dessen zweiter Teil von einem »aber« eingeleitet wird und sich wieder auf dieses offensichtlich nicht explizierbare »erste Ding« beim Hören des Akzents bezieht. An dieser Stelle kommt auch die Vorstellung von einer nationalstaatlichen Verortung der Sprache »Ungarn, okay, kann nicht […] akzentfrei sprechen« zum Vorschein, und die Sprachkompetenz im Deutschen wird metonymisch auf die allgemeine Sprachkompetenz »kann nicht […] akzentfrei sprechen« ausgedehnt. Dieser Befund wird mit der zusammenfassenden Aussage »Also ein Akzent kommt, leider nicht so gut an!« beendet. Die Bewertung von Akzenten erfolgt entlang einer Achse, mit der einerseits eine Exotisierung »Sind irrsinnig schön find ich« und andererseits eine Abwertung »kommen glaub ich allgemein nicht gut an« einhergeht. In der Abwertung wird allerdings nicht ausgedrückt, bei wem und in welchen Kontexten Akzente nicht gut »ankommen«, und es bleibt unklar, welche Erfahrungen hinter diesem Argument verborgen sind. Zudem werden aus dem »so eine, so eine Sache« die Komplexität des Themas und die Schwierigkeit des Darüber-Sprechens deutlich. Mil: (Dann… Also das is…) M_ Man bil_ man macht sich halt ein Bild. Jemand, also jemand der einen Akzent hat – kann halt nicht, perfekt, Deutsch. Int: Mhm Mil: Wobei das, natürlich (1) ein Blödsinn ist. Int: Mhm Mil: Weil was ist, »perfektes Deutsch«? (28/32-37)
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Milan Pavić kommt nun wieder auf das von ihm im Interview bereits erwähnte »Bild« zurück, das »man« sich macht und verdeutlicht, dass ihm die soziale Konstruktion einer Hierarchie von Sprachkompetenzen entlang verschiedener Akzente bewusst ist, und dass er weiß, dass das ›Bild‹, das ›man‹ sich macht, mit subjektiven und gesellschaftlich geteilten Wahrnehmungen, Wertungen und Relevanzsetzungen verbunden ist. Die allgemeingültige Aussage »Man […] macht sich halt ein Bild« wird nun relativiert und mit der Bezeichnung »Blödsinn« abgewertet. Abgeschlossen wird die Passage mit der rhetorischen Frage »Weil was ist ›perfektes Deutsch‹«?, die darauf verweist, dass Milan Pavić sich dessen bewusst ist, dass es sich um die Konstruktion eines Ideals handelt, das in der Praxis nicht vorkommt. Die vorgestellten Alltagsargumente, die an linguizistischen Figuren ansetzen und Sprache mit nationalstaatlichen Vorstellungen verknüpfen, werden mit sehr viel Vorsicht vorgebracht. Zum einen lässt sich das an den vielen Abbrüchen, Reformulierungen, Vagheitsmarkierungen und Relativierungen ablesen. Zum anderen zeigt es sich an der »man«-Perspektivierung und dem späteren Perspektivwechsel »Ich muss es leider zugebn«. Neben der eingeübten Form des Bewertens wird eine stärker professionelle, bewusst kritische und nicht abwertende Perspektive deutlich, die Milan Pavić an der Universität im Rahmen von Lehrveranstaltungen zum Themenfeld Sprache und Migration kennengelernt hat. Diese ist in seiner abschließenden rhetorischen Frage zusammengefasst, die kenntlich macht, dass »perfektes Deutsch« aus wissenschaftlicher Sicht keine haltbare Kategorie ist. Hier wird eine große Ambivalenz zwischen biographisch angeeigneten sprachlichen Bewertungsmustern und einer linguistisch informierten und kritischen Perspektive deutlich, mit der es im Rahmen des Studiums schon eine wissenschaftliche Auseinandersetzung gab. Das Sprechen über die Situation, die Milan Pavić vor Augen hat, hat den Charakter eines Geständnisses, an dem sich Erkenntnis- und Selbstdisziplinierungsprozesse identifizieren lassen, die er in der Interviewsituation vollzieht und für die er von der Interviewerin Verständnis und Anerkennung erwarten kann. Das explizite Benennen eines hierarchisierend-abwertenden Blicks auf Akzente als »rassistisch« lässt sich darüber hinaus als Aspekt des Professionalisierungsprozesses als zukünftiger Deutschlehrer lesen, der von vielen Ambivalenzen durchdrungen ist, und der auf den schwierigen Versuch verweist, das als ›rassistisch‹ Erkannte von der eigenen Person loszulösen oder ›loszubekommen‹.
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9.3.5 Zusammenfassende Überlegungen: Sprachliche Hierarchisierungen an der Universität Bei der Frage, ob Personen als legitime Deutschsprecher*innen anerkannt werden, werden von unterschiedlichen Normen geprägte Skalen mit sehr feinen Abstufungen relevant gesetzt, auf die Studierende im Alltag und in der universitären Praxis eingeordnet werden, und die sie selbst anwenden, wenn es um die Bewertung der eigenen Sprache oder derjenigen Anderer geht. Diese Abstufungen gestalten sich im Einzelfall sehr unterschiedlich: Während es bei Simona Popescu um grammatikalische Phänomene wie die normgerechte Verwendung von Präpositionen, Kasus und Endungen sowie Vokabular geht, betreffen die Fragen, die Paola Pascucci beschäftigen, vor allem Wissenschaftssprache und -kommunikation. Katharina Peck thematisiert die Hierarchisierung von legitimem Standard und meist als illegitim betrachtetem Dialekt und problematisiert damit verbundene Exklusionserfahrungen im Kontext von Seminaren. Milan Pavić diskutiert am Beispiel des ungarischen Akzents die Frage nach ›perfektem‹ Deutsch. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die angesprochenen Abstufungen umso feiner werden, je ›näher‹ jemand an normgerechtes oder ›perfektes‹ Deutsch herankommt, und damit eine Position einnehmen könnte, die sie/ihn ›hundertprozentig‹ mit den ›natives‹ gleichstellen, d.h. auch zur Gemeinschaft der native speakers zugehörig machen würde. Am Beispiel von Milan Pavićs Erzählung erweist sich als bedeutsam, dass die von ihm beschriebenen Akzentsprecher*innen Deutsch auf fast allen Ebenen (Grammatikalität, Verständlichkeit, Register-/Varietätenkompetenz usw.) »perfekt« beherrschen: Das, was aus seiner Sicht nicht ganz »reicht«, ist eine spezifische Art der phonetischen Realisation, die genügend saliente Merkmale hat, um als »nicht-muttersprachlich« bzw. von einer bestimmten anderen Sprache her kommend »erkannt« zu werden. Es geht beim Akzent und letztendlich den Akzentsprecher*innen, um eine aus funktionaler Perspektive sehr marginale Ebene spezifischer Identitätsmarkierung, die allerdings ausreicht, um aus der privilegierten Gruppe der ›Muttersprachler*innen‹ ausgeschlossen zu werden. Die Begriffe und Wendungen, mit denen sich die Student*innen selbst im Vergleich zu anderen beschreiben (»ranghöher«, »in der, Rangliste höher«, »ein Stückchen zurück«, »eine Stufe darunter«) lassen sich als Hinweise darauf lesen, wie sehr ihnen die sprachliche Hierarchie, innerhalb derer sie sich bewegen und studieren, bewusst ist. Dass es bei Haltungen zu Sprache nicht nur um Einschätzungen der sprachlichen Fertigkeiten anderer geht, sondern auch um außersprachliche Merkmale, wird ebenfalls deutlich: Sowohl Paola Pascucci als auch Katharina Peck nehmen eine Verschränkung von sprachlichen Spezifika mit kognitiven Fähigkeiten wahr. Während sich die (befürchteten) Zuschreibungen bei Paola Pascucci auf die Ebene individueller kognitiver Kompetenz beziehen, geht es bei Katha-
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rina Peck um soziale Differenzierungen zwischen städtischer und bäuerlicher Bevölkerung, Moderne und Tradition, um den in A-Stadt hergestellten Zusammenhang von Standardsprache, Bildung und Kultur im Gegensatz zu Dialekt als Sprache der ländlichen Bevölkerung, der ein Bildungsdefizit zugesprochen wird. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die auch im universitären Kontext wirkmächtige sprachliche Norm eine ›muttersprachige‹ Deutschkompetenz zu sein scheint, die neben sprachlichen Merkmalen (z.B. dem Akzent) auch außersprachliche Merkmale enthält, und von der bestimmte Studierende ausgeschlossen sind. Darüber hinaus zeigen die Erzählungen aber auch, dass sich die Student*innen sprachlicher Hierarchisierungen bewusst sind und sich unterschiedlich zu ihnen positionieren.
9.4 D ie B edeutung von S pr ache für berufliche E rfahrungen und P erspektiven Sprachbezogene Erfahrungen während der Studienzeit sind nicht auf den sozialen Raum Universität beschränkt: Die Student*innen machen auch außerhalb der Universität vielfältige Erfahrungen mit (ihren) Sprachen. Neben vereinzelten Erwähnungen privater Kontexte stehen Erfahrungen im Kontext von Praktika und Erwerbsarbeit im Vordergrund der Erzählungen. Zudem wird die Auseinandersetzung mit beruflichen Perspektiven mit fortschreitender Studiendauer zu einem relevanten Thema.
9.4.1 Sprache und berufliche Erfahrungen Unter den von den Student*innen thematisierten beruflichen Erfahrungen während des Studiums finden sich Teilzeiterwerbstätigkeit neben dem Studium, Praktika als Teil von Studiengängen oder auf Eigeninitiative, Mitarbeit in wissenschaftlichen Projekten sowie Gelegenheitsjobs. Im Folgenden werden exemplarisch Dimensionen der Bedeutung von Sprache in Arbeitszusammenhängen beleuchtet: Gegen Ende ihres Studiums an einer bosnischen Universität machte Majda Melić ihre erste Arbeitserfahrung im Rahmen eines Praktikums bei einer Zeitung in Deutschland, für das sie sich mit dem Gewinn eines Wettbewerbs qualifizierte. Dies führt sie als positiven Wendepunkt ein, der ihr einen selbstbewussten Blick auf die eigenen Schreibfertigkeiten eröffnete, und im Rahmen dessen ihr bewusst wurde, dass ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit in Deutsch ausgeprägter war als in Bosnisch. Deutsch konstruiert die Erzählerin in dieser Passage als Sprache, die ihr näher steht als Bosnisch (25/8-14).
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Im Nachfrageteil bittet die Interviewerin Majda Melić, auszuführen »[w]ie das so war, im Praktikum« und was sie dort erlebt hat. Die Erzählerin berichtet: Maj: Ähmm, anfangs, wars halt so dass äh wir_ (2) Ich war_ ich bin halt, nich Muttersprachlerin. Und, ich kam halt aus Bos_ ne Studentin aus Bosnien »Okay, welche Aufgabe gebm wir ihr jetzt?« – und, es war_ (lacht leise) und, »Okay sie hat n Artikel geschriebm der zwar gut ist aber, ähmm, vielleicht hat (ihr) jemand geholfm oder so« hm, man wu_ man weiß es ja nie!=Und ich verstehs auch! Und, äh zu dem Zeitpunkt war ich halt – äh sehr – recht, selbst,bewusst im, Deutschn, und, da dacht ich mir »Okay, wenn ich jetz nich nachfrage dann, hm dann werd ich, den ganzn Monat irgendwie Polizeiberichte, zusammn_ also, äh k_ kürzen müssn, und, hm lern da e_ dabei irgendwie gar nichts!«, und dann hab ich wirklich – zwei drei Tage lang, wirklich so Polizeiberichte gemacht oder irgendwie solche – kleinn hnn Auflistungen oder äh=irgendwie so n/(lachend) Blödsinn/der, der halt nur (Teil)_ ähh nur ähm, raum-, ähm, -sparend is also äh, und, ähmm, dann ging ich halt zum, ähm, Redakteur und dann, hab ich einfach wirklich, offen gesagt »Okay ich, fühl mich n bisschen ()_« ähmm_ (1) Oh! Das Wort is mir jetz, ganz entflogn! (1) Ähh – »Unterfordert«! [Ja.] Int: [Mhm] Maj: »Unterfordert«. (20/23-40)
Die Erzählerin setzt zunächst zu einer chronologischen Rekonstruktion an, die sie zugunsten einer kurzen Hintergrundkonstruktion abbricht: Mit der Charakterisierung des ›erzählten Ich‹ aus der vermuteten Perspektive ihrer damaligen Arbeitgeber*innen nimmt sie auf ihre Sprachigkeit, ihre Herkunft und ihren Status als Studentin Bezug. Die in Zusammenhang damit gebrachte (zugeschriebene) Unsicherheit auf der Seite der Redaktionsmitglieder, die sich auf mögliche Arbeitsbereiche für die Praktikantin beziehen und ihre Autor*innenschaft am prämierten Text implizit in Frage stellten, rechtfertigt die Erzählerin: »man wu_ man weiß es ja nie!=Und ich verstehs auch!« Das ›erzählte Ich‹ gab sich mit den Aufgaben, die für die Praktikantin vorgesehen waren, nicht zufrieden, sondern steuerte selbstbewusst ein Gespräch mit dem zuständigen Redakteur an. Motiviert war dieses unter anderem von dem Gefühl, beim Kürzen von Berichten nichts lernen zu können und »unterfordert« zu sein. Die Erzählerin führt die nicht unübliche Praxis, Praktikant*innen mit den weniger interessanten und anspruchsvollen Tätigkeiten zu betrauen, nicht auf die Hierarchien innerhalb des Betriebes, sondern auf ihre Sprachigkeit und ihre Herkunft zurück. Obwohl damit ein potentieller Unterschied zu mehrheitsangehörigen Praktikant*innen angedeutet ist, ließ sich das ›erzählte Ich‹ nicht entmutigen und entschloss sich zu einem Gespräch mit dem Redakteur. Majda Melić erhielt nach dem Gespräch sukzessive neue Aufgabenfelder, mit denen sie so erfolgreich war, dass sie bald auch die Möglichkeit bekam,
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Theaterkritiken zu schreiben, die sie mit großer Begeisterung wahrnahm. Die Erzählerin konstruiert den Einsatz der Protagonistin als Theaterkritikerin in einer wirtschaftlich anmutenden Weise als »Plus-Plus-Situation« (21/26). Die Thematisierung des anfänglichen Misstrauens wegen Herkunft und Sprachigkeit erweist sich erzähltechnisch als zusätzliche Möglichkeit, die Qualität ihrer Texte und ihren Erfolg als »nicht-Muttersprachlerin« (21/28) bei der Zeitung besonders zu betonen. Die Erzählerin beschreibt daraufhin die Qualität von Artikeln und den Aufwand, der mit eventuellen Überarbeitungen verbunden ist, aus der Perspektive der Redaktion und meint, dass »anfangs« (21/37) viel an den Artikeln verändert wurde, womit bereits eine Veränderung angekündigt ist (21/48-22/7). Maj: Brigitte, ähm, sie war halt auch, öhmm (1) öhmm_ (schnippt zweimal mit Finger) Wie heißt das nochmal? (2) Journalistin, aber freie Journalistin. Sie [hat halt] im L_ für [Mhm] Int: Maj: den »L-Kurier« (gearbeitet aber für ah) auch, diverse irgendwie Zeitungn auch für die DPA hat sie vieles_ also, is dort beantragt_ also – beauftragt, und sie hat ge_ halt gesagt (anfangs) »Du musst dir keine, Gedankn machn!=Auch meine Artikel werdn teils manchmal, umgeändert! Also nich oft aber, es, tut_ Du mu_ hn nimm das nich persönlich oder so das is halt einfach so im Zeitungwesen«. Da dacht ich mir »Okay ja! Kein Problem!« aber dann, wie die Zeit verging, hab ich halt zum Beispiel, Theater- äh -kritiken geschriebm also Theater- äh -stücke, und so, äh f_ Kritiken/(leicht lachend) für Theater[stücke/,] und da wurds auch, viel weniger, zum Beispiel! Also, die, Umänderungen Int: [(schmunzelt)] Maj: und so. – Und das fand ich halt spannend auch, zu [sehn,] wie, wie=wie sie dann, [Mhm] Int: Maj: auch offener also_ also mehr, Vertraun in=in=in=in das Int: Mhm Maj: alles hattn. (21/39-22/7)
Besonders bedeutsam für die Einordnung der eigenen Arbeit waren Gespräche mit einer Journalistin, bei der Majda Melić während ihres Praktikums wohnte, und die sie als dominant deutschsprachig charakterisiert. Diese arbeitete ebenfalls für die ›L-Zeitung‹, diverse andere Zeitungen und die DPA und erklärte Majda Melić, dass auch ihre Artikel redigiert werden, und dass Majda Melić Änderungen nicht auf ihre Schreibfertigkeiten beziehen solle. Dass ihre Texte den gleichen Bewertungsmodalitäten unterzogen wurden wie die einer dominant deutschsprachigen und erfolgreichen Journalistin, bewertet Majda Melić als großen Erfolg. Dass sie auf der anderen Seite davon spricht, im dominant deutschsprachigen Raum »nicht Muttersprachlerin« (19/11) zu sein, steht dazu nicht unbedingt im Kontrast. Vielmehr macht es deutlich, dass Sprache eine sehr persön-
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
liche Dimension hat, die sich unter unterschiedlichen sozialen Bedingungen ändern kann. Auch Alime Alpaslan arbeitet bei einer Zeitung. Allerdings stehen ihre Erfahrungen in mehreren Punkten im Kontrast zu denen Majda Melićs: Zum Zeitpunkt des Interviews war Alime Alpaslan bereits seit sechs Jahren Redakteurin bei einer zweisprachigen Zeitung in A-Stadt, der sie eine ganz zentrale Bedeutung für ihr Leben zumisst, die weit über die Relevanz als Erwerbsmöglichkeit hinausgeht.9 Zum einen macht sie das an einer ehemaligen Kollegin fest, von der sie viel lernte und mit der gemeinsam sie auch außerhalb der Arbeitszeit viel unternahm (26/44-27/49). Zum anderen begründet sie die Bedeutung ihrer Arbeit bei der Zeitung mehrfach damit, dass sie sich in diesem Kontext zum ersten Mal »aus meinem Lebm […] aus meiner Schale, […] aus meinem engen Umkreis« (27/31-33) gewagt habe, womit ein Bild des ›erzählten Ich‹ vor der Arbeit bei der Zeitung gezeichnet wird, das von einer für Entfaltungsmöglichkeiten hinderlichen, aber auch Sicherheit gewährenden Schutzschicht umgeben war, die als eingeschränkt und einschränkend charakterisiert wird. Die plötzliche und nachhaltige Erweiterung ihrer Perspektiven macht sie vor allem daran fest, im Rahmen ihrer journalistischen Tätigkeit viele »Persönlichkeiten« (27/34) aus unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten kennengelernt zu haben. Dies löste sowohl in ihrem Umfeld als auch bei ihr selbst Überraschung aus, wie an der folgenden generalisierenden Redewiedergabe und ihrer Kommentierung erkennbar wird: »Oh mein Gott, Alime?! Du machst das?! Nein! Was?!«, und so, aiso da warn wirklich sehr, sehr viele schockiert, ahm, und ich selber natürlich auch über mich!« (27/36-42). Daneben beschreibt die Erzählerin die Zeitung auch als Ort, der Lernen ermöglicht(e): Das konkretisiert sie zum einen mit dem Schreiben über Themen, die sie grob den Bereichen der Migration sowie Bildungs- und Integrationspolitik in Österreich zuordnet, zum anderen mit der Übersetzung von Texten aus Fachbereichen wie Pädagogik, Psychologie, Kultur und Geschichte. Insgesamt lässt sich die Zeitung als Raum rekonstruieren, in dem Lernen und Bildung ermöglicht werden, und den die Erzählerin als bedeutsam für ihre persönliche Entwicklung und ihr ›Allgemeinwissen‹ beschreibt. In weiterer Folge betont sie die Abwechslung in der Arbeit als besonders bereichernd und argumentiert, dass sie von ihren Freund*innen in Fragen, die Familie, Kindererziehung und Partnerschaft betreffen, konsultiert und mit dem Spitznamen »Tipps-und-Tricks-Alime« 9 | Das wurde bereits beim Vorgespräch deutlich, als Alime Alpaslan trotz meiner Erklärungen zur Offenheit des Interviews dezidiert nachfragte, ob ich nur an Sprache oder auch an anderen Themen interessiert sei, weil sie mir auf jeden Fall gern von ihrer Arbeit bei der Zeitung erzählen würde. Auch die Auswahl des Intervieworts in der Redaktion macht die Bedeutung der Zeitung zusätzlich deutlich.
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(42/25) bedacht wird. Zudem wird ihre Meinung zu politischen Fragen, die Österreich und die Türkei betreffen, geschätzt. An einer anderen Stelle des Interviews spricht die Erzählerin im Zuge der Rekonstruktion ihres zweisprachigen Aufwachsens und des ›Bildungsprogramms‹ ihrer Mutter für die Töchter über die Zeitung als sprachrelevanten Ort: Ali: Ahm, ein weiterer (Beitrag) (1,5) bei der Sprache is auch die Zeitung, (1) das is dann nämlich so, dass ich es dann hier dann wirklich, die zwei Sprachen intensiv anwenden konnte! Das war wirklich so ein Bereich, wo ich wirklich zwei… mit den beiden Sprachen gearbeitet habe! Weil ich hab mit den Kollegen zum Beispiel, unterhalten wir uns in Mehrheit auf Türkisch, wei sehr viele kommen aus der Türkei, und beherrschen auch nicht allzu gut die deutsche Sprache, und da sprechen wir zum Beispiel auch meistens (ja) nur Türkisch. Und, äh hm, wie ich gsagt hab vorher, zum Beispiel diese Übersetzungstexte, wo ich dann zum Beispiel vom Türkischen ins Deutsche übersetzt hab: Da hat sich (dann zum Beispiel) schon die türkische Grammatik und so weiter eventuell sehr, sehr verbessert, der Wortschatz vor allm extrem verbessert (…) Ali: (Aiso) da bin ich wirklich froh, und weil wir auch eine Tageszeitung auf Englisch habm, die nur in englischer Sprache erscheint, (»Austria) ()«, da gibt es dann zum Beispiel auch Texte, die ich dann auch von Englischen ins Deutsche dann von der Zeitung übersetzt habe! Int: Mhm mhm mhm Ali: Und das is dann auch, also das hat mir dann auch, hm äh, sehr viel beigetragen, dass ich dann das Englische so quasi erweitert habe und so. Das war dann auch ein sehr [großer] Vorteil, sag ma so. Int: [Mhm] (49/50-51/4)
Alime Alpaslan erwähnt an einer anderen Stelle, dass ihre Sprachkompetenzen im Türkischen viel geringer sind als im Deutschen, was sie sehr bedauert (vgl. 51/7-14). An dieser Stelle beschreibt sie ihren Arbeitsplatz als Ort mit viel Anregungspotential, an dem die Anwendung und Weiterentwicklung beider Sprachen und des Englischen möglich ist. Neben den verschiedenen Arbeitssprachen hebt sie ihre Übersetzungsarbeit mit unterschiedlichen Ausgangsund Zielsprachen hervor und bezieht sich auf einzelne sprachliche Teilbereiche, die sie im Kontext ihrer Arbeit verbessern konnte. Die Redaktion lässt sich somit als Ort beschreiben, der Alime Alpaslan die Beschäftigung mit Inhalten ermöglicht(e), die sie als sinnvoll und anregend und als bedeutsam für ihr gesamtes Leben einstuft. Neben der Beschäftigung mit gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Inhalten, die erheblich zur Erhöhung ihres sozialen Prestiges in ihrem Umfeld beitrug, ermöglichte die Arbeit in der Redaktion auch intensive Spracharbeit.
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Die sehr ausführlichen und mit vielen Details ausgestalteten Passagen zur Redaktion sind insofern interessant, als sie einen starken Kontrast zu den Passagen darstellen, in denen die Erzählerin über das Studium spricht. Es gibt in ihrer Rekonstruktion der Studienzeit keinen Hinweis darauf, dass Alime Alpaslan Inhalte, mit denen sie sich an der Universität auseinandersetzte, als besonders bedeutsam empfunden hätte. Sie beschreibt im Zuge ihres Fachwechsels von Französisch zu Geschichte zwar das neue Fach als »auch viel, viel intressanter als wie jetz Französisch« (19/40-41), füllt diese Bewertung aber nicht mit Inhalten. Die Rekonstruktion ihrer Studienzeit ist insgesamt geprägt von der Frage der ›Erfüllung‹ curricularer Anforderungen in einer möglichst kurzen Zeit und mit möglichst wenig Lernaufwand. Zum einen sind die straffe Organisation des Studiums (»ich wusste immer, wo is die leichteste Prüfung, wo gibt es Gratis-ECTS!«, »Ich war da absolut organisiert«, 63/30-33) und das Ziel eines möglichst zeitnahen Abschlusses mit der Frage der Vereinbarkeit von Studium und Erwerbsarbeit verbunden. Andererseits könnte sie auch mit der gesellschaftlichen Anforderung, zeitnah eine Familie zu gründen, zu tun haben, über die Alime Alpaslan an mehreren Stellen des Interviews sehr ausführlich spricht. Das Studium rekonstruiert Alime Alpaslan jedenfalls auch in sprachlicher Hinsicht nicht als bereichernd oder spannend. Die Erwerbsarbeit lässt sich hier also als Kontext beschreiben, in dem sich Bildung in ihrer Ausformung als sprachliche Bildung und als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen zeigt, die in zeitlicher Parallelität zum Studium stattfindet. Afërdita Bushaj machte ihre erste Erwerbsarbeitserfahrung in einer Gesundheitsinstitution, von der sie als Dolmetscherin für eine albanischsprachige Patientin angefragt wurde. Diese charakterisiert sie über ihre Herkunft »aus Mazedonien – aus V-Stadt« (13/22), geht kurz auf den dort üblichen Dialekt ein und fährt dann mit der Beschreibung der Dolmetschsituation fort. Zunächst übertrug Afërdita Bushaj aus dem Deutschen ins Standardalbanische, was dazu führte, dass die Patientin »gar nicht verstanden [hat] was ich eigentlich von ihr will« (13/23-24). Hier lässt sich die Lesart anschließen, dass nicht die Standardsprache das Verständigungsproblem darstellte, sondern dass deren Verwendung in einer Situation, in der die Patientin unter starken Schmerzen litt, als unangemessen empfunden wurde. Afërdita Bushaj bot der Patientin daraufhin an, das Gesagte in ihren eigenen Dialekt zu dolmetschen, was diese dankbar annahm. Trotz einer als sehr stark empfundenen »Spannung« während der gesamten Situation war Afërdita Bushaj mit der als gelungen und hilfreich erlebten Dolmetschleistung und der Kommunikation insgesamt zufrieden. Beim Warten auf den nächsten Patienten begegnete sie der Patientin noch einmal:
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TEIL III — Falldarstellungen Afë: uund da war dann nämlich so dass dann die Dame zu mir gekommen is ich bin eben im Vorraum gesessn und hab dann gelesn – und dann kommt sie nochmal zu mir und gibt mir so d_ beide Hände und sagt »Ich leb« – weiß ich nicht wie lange »in Österreich und zum ersten Mal hab ich mich so gefühlt als würd mich wirklich jemand verstehn und auch es dementsprechend weiter vermitteln ohne dass ich ständig so diesen Gedanken habe ›Naja so ganz wohl hab ich mich jetzt nicht dabei gefühlt (vielleicht) hat sie doch was anderes erzählt als was ich eigentlich wirklich sagen will‹«. (14/8-15)
Über die Darstellung der körperlichen Begegnung wird die während der Translation entstandene Nähe zwischen Afërdita Bushaj und der Patientin erzählerisch nachempfunden. Die rekonstruierende Redewiedergabe hebt hervor, wie wichtig die Dolmetscharbeit für die Patientin war, die von der Erzählerin hier zur Zeugin dafür gemacht wird, dass die Translation nicht nur als technischer und von der Patientin weitgehend ›abgekoppelter‹ Transfer von einem Sprachsystem in ein anderes empfunden worden war, sondern als erstmalige Erfahrung von Sicherheit darüber, dass die gesamte Person (»als würd mich wirklich jemand verstehn«, Hervorh. N.T.) uneingeschränkt verstanden und das Verstandene auch weitervermittelt wurde. Afë: und sie hat dann auch gemeint »Ja es is heute Freitag« und sie war Muslimin – und meinte »Ja dieser heilige Tag heute – das ist doch sowas Besonderes« und zum ersten Mal fühlt sie sich wirklich gut in diesen Händen der Ärzte weil – jedesmal hat sie bis jetzt immer alleine kommen müssen sie kann nicht so gut Deutsch auch wenn sie schon so lange hier lebt aber – zu ihrer Zeit war das einfach ganz anders so nach zwanzig Jahren Deutsch zu lernen is jetzt auch nicht – ja da hat sie einfach irgendwie begonnen zu redn ich hab dann gesagt »Ja – gar keine Sorge es passt auf jeden Fall alles, und wenn nicht dann – wir – wir melden uns immer wieder/(lachend) (auch) wenn uns irgendwas nicht passt/. ((lacht)) (14/19-27)
Die Bedeutung der Translation für die Patientin wird erzählerisch noch weiter ausgestaltet, indem diese in direkter Rede eine religiöse Dimension ins Spiel bringt und auf die besondere Bedeutung des Erlebnisses an einem ›heiligen Tag‹ eingeht, das dadurch charakterisiert wird, dass sich die Patientin erst durch die Anwesenheit der Dolmetscherin und deren Vermittlung »gut in diesen Händen der Ärzte« fühlte. Dieses Erlebnis vergleicht sie mit bisherigen Situationen, in denen sie allein zu den Untersuchungen gegangen war und aufgrund ihrer »nicht so gut[en]« Deutschkenntnisse, die u.a. mit den Verhältnissen zur Zeit ihrer Migration nach Österreich begründet werden, Verständigungsschwierigkeiten hatte. Neben ihrer Dankbarkeit wird an dieser Stelle auch ein Rechtfertigungsdruck wegen der eigenen Deutschkenntnisse der Dolmetscherin gegenüber deutlich. Afërdita Bushaj beruhigte die Patientin und stellte ein vertrautes ›Wir‹ der Institution gegenüber her, das auch den
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Ausblick auf eine weitere Zusammenarbeit und eine eindeutige Parteinahme enthält: »wir melden uns immer wieder […] wenn uns irgendwas nicht passt«. Die Erzählerin gibt die Gedanken des ›erzählten Ich‹ im Anschluss an das Gespräch mit der Patientin wieder (14/30-47): Afërdita Bushaj erkennt, dass unnötige durch Sprache entstandene Barrieren über ihre Sprachkompetenzen abgebaut werden können und bezeichnet das eigene Aufwachsen »mit drei Sprachen« in diesem Kontext als »praktisch«, weil es eine Form von Nähe zu »wildfremden« und bis dato unbekannten Personen ermöglicht (14/34-36). Sie räumt ein, dass neben Dolmetsch auch andere Tätigkeiten für sie vorstellbar waren und begründet so auch ihren Entschluss, ein Praktikum beim F-Verein zu machen, einem Verein, der unter anderem Deutschkurse für Menschen mit Fluchterfahrungen anbietet (14/37-39). Bei der Erzählung über diese Arbeit spricht sie vor allem über die Bedeutung des Austauschs »mit den Mitmenschen« (14/46), unabhängig von deren Herkunft, über die Vorteile von ›Vielfältigkeit‹ und die Möglichkeiten gegenseitigen Lernens voneinander. Mit dem Beginn des Praktikums bekam Afërdita Bushaj Sicherheit darüber, dass diese Art von Arbeit »wirklich meins« ist, und sie spricht über ihren Entschluss, »da« zu bleiben und/oder »immer wieder zurück[zukommen]« (14/40-41). Wahrscheinlich ist mit »da« nicht der F-Verein, sondern die Arbeit im Migrationskontext bzw. mit gesellschaftlich marginalisierten Personen oder Gruppen gemeint. In weiterer Folge hebt die Erzählerin die gelingende Kommunikation jenseits von unterschiedlichen sprachlichen und natio-ethno-religio-kulturellen Zugehörigkeiten beim F-Verein hervor. Die große Bedeutung des Austausches mit Menschen betont und begründet sie an einer Stelle zu Ende ihrer Haupterzählung: Afë: und das is wieder sowas, wo ich dann mein, dieses Miteinander austauschen und – voneinander lernen – egal wo_ woher man kommt was man spricht, welche Ausbildung man hat das_ (1) das is für mich – das is für mich nicht soo – das macht für mich keinen Menschen aus – sondern einfach wie der Mensch an sich ist und (1) und so wie er ist so nehm ich den auch – ja (1) [((lacht))] ja – das is – das is glaub ich auch ein schöner Ab[((lacht))] Int: Afë: schluss für – für meine für meine Lebensgeschichte. (16/20-26)
Der Austausch unabhängig von Herkunft und Sprache steht für Afërdita Bushaj im Zentrum. Die Akzeptanz von Menschen »an sich« unabhängig von bestimmten Eigenschaften ist für sie so zentral, dass sie meint, dass dieses Statement ein »schöner Abschluss« für ihre Lebensgeschichte sei. Neben dem Bewusstsein der Erzählerin für den Konstruktionscharakter einer ›Lebensgeschichte‹ wird hier auch die Bedeutung der ästhetischen Gestaltung der Erzählung erkennbar.
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9.4.2 Die Bedeutung von Sprache für berufliche Perspektiven Neben den zuvor thematisierten Erfahrungen finden sich in den Erzählungen auch Auseinandersetzungen mit der Bedeutung von Sprache für eine zukünftige Berufstätigkeit. In Günnur Dumans Erzählung steht die Auseinandersetzung mit dem Kopftuch im Kontext ihrer Bildungsbiographie im Vordergrund. Wenig überraschend spielt dieses auch für ihre Zukunftsperspektiven eine zentrale Rolle. Im Nachfrageteil des Interviews fragt die Interviewerin nach Zukunftsperspektiven: Gün: Ah (räuspert sich) Meine Zukunft. Ah. N=nächstes Jahr werd ich hoffentlich mit dem Studium fertig, und dann denk ich mir, ich bin einfach nur gespannt. Ich kann mir noch kein Bild ausmalen, es is, ich weiß nicht, es wird wahrscheinlich ganz drauf ankommen, in welcher Schule ich sein werde, wie wie mich die Schüler, Eltern, ich (1) wünsche mir, dass es einfach kein Thema sein wird. Kopftuch oder »woher kommen Sie«. Dass man einfach: »Ja, eine neue Deutschlehrerin Pra_« oder »Unterrichtspraktikantin«, aber ich glaub nicht, dass es so sein wird. (2) Ich bin gespannt. Ich kann jetzt mir nichts Konkretes darunter vorstellen. (3) Ich möchte mich jetzt zum Beispiel ich denk mir, äh ja, natürlich denk ich darüber nach, was werd ich machen, wo wird (1) äh ich will auch nicht in einem Umfeld arbeiten, wo ich mir da (2) wo’s so viele Probleme gab um mein Kopftuch, und wo ich, ich weiß nicht, also das worst-case-Szenario dass mich die im Kollegium nicht äh ah=akzeptieren oder dass es von Seiten der Eltern oder so was gibt, dann möcht ich ja auch nicht arbeiten, ich möcht ja auch nicht, jeden Tag an einem Ort sein, wo ich mich immer wieder immer wieder beweisen muss. (24/14-28)
Die Erzählerin bezieht die Frage nach der Zukunft nach einem kurzen Räuspern und Zögern klar auf ihren Beruf und beschreibt ihr zukünftiges Tätigkeitsfeld vor dem Hintergrund potentieller Reaktionen auf ihr Kopftuch. In dieser Passage wird ihr ausgeprägtes Bewusstsein für am Kopftuch festgemachte anti-muslimische Zuschreibungen deutlich, in denen Kopftuch tragende Lehrerinnen als ›Bedrohungsfiguren‹ für die Schule (vgl. Karakaşoğlu/ Wojciechowicz 2016) konstruiert werden. Die Erzählerin spricht den Wunsch aus, auf der Basis ihrer Qualifizierung und nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Religion wahrgenommen zu werden. An ihren Ausführungen lässt sich allerdings ablesen, dass sie sich von (dominant positionierten) Anderen und deren Handlungen abhängig sieht. Der Behauptung, sich nichts ›Konkretes‹ vorstellen zu können, steht ihre detaillierte Beschreibung möglicher antimuslimischer Szenarien entgegen, unter denen sie als »worst-case-Szenario« die fehlende Akzeptanz von Eltern oder »denen im Kollegium« angibt. Mit dieser Bezeichnung konstruiert sie potentielle zukünftige Kolleg*innen als ein ihr entgegenstehendes Kollektiv, in das sie nicht inkludiert ist. Die Wieder-
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holungen und die starke Betonung, sich nicht »immer wieder immer wieder beweisen« müssen zu wollen, verweisen auf Erfahrungen der Erzählerin mit diesem Erfordernis. Gün: Und, aber, ich möcht mich jetzt auch nicht also zum Beispiel aufs islamische Gymnasium abdrängen lassen, das ist nicht, weil ich das do_, ich könnt mir schon vorstellen, dort zu unterrichten zum Beispiel, aber ich möchte nicht dort unterrichten, weil ich an einer anderen Schule nicht, aufgrund des Kopftuchs nicht, willkommen, bin. Weil, es ist ja was Anderes, wenn ich mich aus freien Stücken, aber ich würd lieber, aso mein Traum wär an einer ganz normalen Schule in A-Stadt zu arbeiten und einfach auch einmal zu zeigen (2) dass, dass (1) dieses Multikulturelle im Klassenraum kann ruhig auch im Lehrerzimmer sein. Und ich hoffe, dass ich eine Schule finde, wo (1) ja ich, akzeptiert werde (lacht) aber (1) ich werd, ich werd’s sch(). Ich kann mir noch nichts Genaueres drunter vorstellen. (24/29-38)
Die Erzählerin betont, dass sie sich nicht vom unmarkierten Feld einer »normalen«, (also in der christlichen Tradition stehenden und sich als konfessionsfrei verstehenden) Schule auf das markierte Feld des islamischen Gymnasiums »abdrängen lassen« möchte. Aus dieser Passage spricht ihr Bewusstsein darüber, dass mit unterschiedlichen Formen von Gymnasien nicht nur verschiedene Schulkulturen, schulische Akteur*innen und Lehrpläne verbunden sind, sondern dass der Zugang zu einer in Hinblick auf Religion unmarkierten Schule ganz wesentlich an den Status religiöser Unmarkiertheit potentieller Lehrer*innen gebunden ist. Mit dem Traum einer Beschäftigung an einer »ganz normalen« Schule in A-Stadt verbindet Günnur Duman den Wunsch, zur Sichtbarkeit gesellschaftlicher Heterogenität auch im Lehrer*innenzimmer beizutragen. Einerseits zeigt sich in dieser Passage ihr Bewusstsein über die Fremdpositionierung außerhalb des ›Normalen‹ und als Lehramtskandidatin, die von der Akzeptanz der Mehrheitsangehörigen im schulischen Kontext abhängig ist, andererseits nimmt sie die Zugehörigkeit zu einer ›normalen‹ Schule für sich in Anspruch und positioniert sich damit als legitimes Mitglied der österreichischen Gesellschaft und Bildungslandschaft. Diese Passage verweist darauf, dass eine Arbeit am islamischen Gymnasium mit Günnur Dumans bisheriger biographischer Entwicklungslinie nicht vereinbar wäre, nämlich mit dem Hinarbeiten auf eine fraglose Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft. Gün: Aber zur Not (1) meld ich mich beim islamischen Gymnasium (lacht), arbeitslos will ich auch nicht sein. Aber, äh, das wär (1) das wär ein Rück ein Rückschlag für mich. Man ve_ man identifiziert sich mit einer Stadt, mit einer mit ei_ mit Österreich, und dann (1) sowas. Also wenn das wär, dann, mit was soll man sich identifizieren? Mit der Türkei? Ich bin dort nicht aufgewachsen, ich kann mich nicht mit der Türkei identifizieren. Ich
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TEIL III — Falldarstellungen ich sag nicht, dass es nicht ein Teil von mir is, aber nicht i=ich mein dort könnt ich ja auch nicht mit Kopftuch unterrichten, is ja no_ is ja noch ärger (beide lachen). Also deswegen. Es wär schon ein Rückschlag. (24/41-25/1)
Noch einmal stellt sie als Ausweichmöglichkeit eine Bewerbung beim islamischen Gymnasium in den Raum. Alternative berufliche Optionen zieht sie trotz ihrer Bedenken in Bezug auf das zukünftige schulische Umfeld offenbar nicht in Betracht, worauf die angedeutete Befürchtung einer drohenden Erwerbsarbeitslosigkeit hinweist. Die Möglichkeit, an das islamische Gymnasium abgedrängt zu werden, bezeichnet die Erzählerin zu Beginn und zu Ende der Passage als »Rückschlag«, womit sie den aggressiven Charakter des Abdrängens betont. Sie erklärt, dass ihr damit nicht nur eine berufliche Tätigkeit verunmöglicht würde, sondern ihre selbstverständliche Identifikation mit AStadt und mit Österreich grundsätzlich in Frage gestellt wäre. Dass die Türkei für sie kein mögliches Identifikationsfeld ist, begründet sie unter anderem damit, dass sie dort ebenfalls nicht mit Kopftuch unterrichten könnte und spricht über den dortigen Kontext als »noch ärger«, womit sie wahrscheinlich auf das langjährige Kopftuchverbot Bezug nimmt, von dem Studentinnen und Angestellte im öffentlichen Dienst betroffen waren (Barras 2014; Kulaçatan 2013: 249ff.), und das während der Entstehung dieser Arbeit sukzessive aufgehoben wurde (Kauffmann Bossart 2016; Smith 2013). Der Begriff »Rückschlag« impliziert vielleicht auch, auf etwas rückverwiesen zu werden, möglicherweise die Migrationserfahrung der ersten Generation, die sehr viel eingeschränktere Möglichkeiten zu einer gesellschaftlichen Partizipation hatte. Die Frage der Berufstätigkeit wird im Interview mit Ece Erbay im Nachfrageteil zum Thema. Nach einer mit vielen Argumentationen durchdrungenen Erzählung über anti-muslimische Angriffe im öffentlichen Raum fragt die Interviewerin nach Ece Erbays Zukunftswünschen. Die Erzählerin meint, dass sie gern Kinder »mit äh türkischem Migrationshintergrund« (11/47) unterrichten möchte, weil sie davon überzeugt ist, dafür besonders geeignet zu sein (11/4648). Hinter dieser selbstverständlichen Gewissheit, die sie nicht näher begründet, steht möglicherweise die Vorstellung einer besonderen Eignung aufgrund natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit bzw. geteilten Sprachen und/oder Erfahrungen, die sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und bildungsinstitutioneller Diskurse erklären ließe, in denen Pädagog*innen ›mit Migrationshintergrund‹ zur »Projektionsfläche vielfältiger Erwartungen« (Schwendowius 2015: 14) in Hinblick auf ihre Funktion als Mittler*innen zwischen Schulen und Familien, als Protagonist*innen ›interkultureller Öffnung‹ und Organisationsentwicklung sowie als Integrationsvorbilder gemacht werden (vgl. ebd.; Lengyel/Rosen 2012). Allerdings hat auch sie Bedenken hinsichtlich der Rahmenbedingungen, die eine Unterrichtstätigkeit mit sich bringen könnte:
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Ece: (atmet ein) ahm (1) aber das Einzige was mich beängstigt ist, eben, dass – mir – ständig unterstellt wird »Deutsch ist doch nicht meine Muttersprache« und »Wie soll ich denn Kindern unterrichten« oder f_, dass ständig mein, mein Wissen quasi, hinterfragt wird – ah (1) oder dass ich im Lehrerzimmer (1) ausgeschlossen werde, was ich eher weniger glaub, aber es gibt sicher, Leute, die nicht normal ticken und die sich jetzt, was anderes auch amal erlauben. (2) ahm ja – es schreckt mich schon ein bisschen ab, der Kontakt zu den Eltern, (1) diee Kollegen im Lehrerzimmer, das Wenigste, was mich abschreckt, sind die Kinder (lacht) – also (1) aber, ich glaub schon dass – dass eine sehr sehr schöne Zeit noch auf mich zukommen wird – als Lehrerin. Int: Mhm. Ece: Ich denk schon. (11/48-12/11)
Die Erzählerin kündigt an, über »das Einzige«, was ihr Angst bereitet, zu sprechen. Es wird allerdings gleich im Anschluss klar, dass es sich nicht um eine ›einzige‹ Sorge handelt, sondern um eine ganze Reihe: Die erste bezieht sich auf ›Unterstellungen‹, dass Deutsch nicht ihre ›Muttersprache‹ sei. Der Begriff »unterstellt« impliziert zum einen, dass Ece Erbay Deutsch sehr wohl als ihre ›Muttersprache‹ ansieht, zum anderen trägt die Unterstellung einer falschen Behauptung bezüglich der eigenen ›Muttersprache‹ von Seiten anderer die Konnotation, dass sie sich einen (beruflichen) Vorteil ›erschleichen‹ möchte, der ihr nicht zusteht. In einen untrennbaren Zusammenhang mit der Frage der ›Muttersprache‹ wird diejenige nach ihrer Eignung für den Beruf einer Deutschlehrerin gebracht, die ihr in der Formulierung implizit abgesprochen wird. Als weitere Sorge nennt die Erzählerin das mögliche Hinterfragen ihres Wissens. Um welche Art von Wissen es sich dabei handelt, expliziert sie nicht. In Zusammenhang mit der Frage nach der ›Muttersprache‹ liegt es nahe, dass es sich um sprachliches Wissen handelt. Es könnte allerdings auch eine Form des Wissens sein, das ihr aufgrund ihres Migrationshintergrundes abgesprochen wird (vgl. Dausien et al. 2015). Als letzte Sorge bezeichnet sie die, im Lehrerzimmer ausgeschlossen zu werden. Was mit den angedeuteten Grenzüberschreitungen (»nicht normal ticken« und sich »was anderes auch amal erlauben«) genau gemeint ist, wird nicht expliziert, aber es liegt nahe, dass damit abwertende Äußerungen oder Handlungen gegenüber Personen mit Migrationshintergrund, konkret: gegenüber einer Lehrerin, die ein Kopftuch trägt, verbunden sind. Die Erzählerin gibt an, »ein bisschen« abgeschreckt zu sein und spezifiziert das mit dem Kontakt zu den Eltern und den Kolleg*innen im Lehrerzimmer. Dass sie Kinder als am wenigsten ›abschreckend‹ bezeichnet, impliziert zum einen, dass sie davon ausgeht, dass ihre Zugehörigkeit für Kinder keine relevante Kategorie darstellt, zum anderen konstruiert sie die Gruppe, mit der sie als Lehrerin in Zukunft am meisten Zeit verbringen würde, als am wenigsten ›problematisch‹ und sich selbst damit als geeignet für den Lehrberuf.
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Evaluierend kommt die Erzählerin zum Schluss, zu glauben, dass »eine sehr sehr schöne Zeit« als Lehrerin auf sie zukommen wird. Auch hier wird die Zukunft wieder als im Grunde von ihr unbeeinflussbare Größe konstruiert, die von außen auf sie »zukommt«. Nach der ausführlichen Darstellung der Sorgen wegen Ausgrenzung und Diskriminierung erscheint diese evaluative Darstellung am Ende allerdings eher wie ein Glaubenssatz als eine realistische Zukunftserwartung. Auf eine ganz andere Art und Weise wird die Bedeutung von Sprache für berufliche Perspektiven im Interview von Katharina Peck thematisiert. Im Zuge ihrer Erzählung über Erfahrungen mit Dialekt im Studium der Sprachwissenschaft berichtet sie von Diskriminierungen und Ausschlusserfahrungen von Seiten mehrheitsangehöriger Student*innen, betont aber, dass Lehrende immer sehr offen für Dialekte waren (vgl. Kap. 9.4.2). In weiterer Folge vergleicht die Erzählerin den Umgang mit Dialekt im Studium der Sprachwissenschaft, den sie als »nid so schlimm« evaluiert, mit dem auf der Germanistik, den sie als problematisch andeutet. In der Einleitung zu einer Belegerzählung führt sie als Protagonistin eine Studentin ein, die sie aufgrund der Ähnlichkeit ihres Dialekts mit ihrem eigenen als aus F-Bundesland kommend charakterisiert und die sie als in der erzählten Situation sehr nervös beschreibt: Kat: Uund – de hod daun a vui zum gschead redn augfaunga, und die Professorin, deis wo_ de woa aus aus Deitschlaund, aiso s_ de hod sicha vastaundn wos gsogt hod owa, des is daun a wieda diese Hierarchie a bissl so »wir redn a schenas Deitsch wia ia«, de hod daun gsogt zu ia, – »Sie wollen…« iagendwie so, ob sie, ob sie untarrichtn gei wü amoa, und, daun muaß sa si owa den Dialekt ogweinan. Also echt schlimme Sochn. (21/11-16)
Der Komplikationsteil der Geschichte beginnt damit, dass die Kollegin »vui zum gschead redn« anfing, was im Kontext des bisher Erzählten als plausible Reaktion auf die Nervosität gedeutet werden kann. Das »a« (»auch«) zu Beginn stellt eine Nähe zu Katharina Peck her, die an anderer Stelle explizierte, dass sie in vergleichbaren Situationen ebenfalls aus Nervosität »gschead« redet. Nun wird als zweite Protagonistin die Professorin eingeführt, die ebenfalls entlang ihrer Herkunft charakterisiert wird, nämlich »aus Deutschland«, womit auch eine bestimmte Varietät des Deutschen angedeutet ist. Die Erzählerin betont, dass die Professorin »sicher verstand«, was die Kollegin sagte. Der folgenden Komplikation stellt sie eine Erklärung voran, die verdeutlicht, dass die Situation nur vor dem Hintergrund einer »Hierarchie« verständlich ist, die sie in generalisierender Redewiedergabe aus der Perspektive von Bundesdeutschen wiedergibt, die davon überzeugt seien, ein »schöneres Deutsch« zu sprechen als Österreicher*innen. Daran lässt sich neben einer starken Wir-Sie-Differenz
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
die Konstruktion zweier einheitlicher Varietäten des Deutschen ablesen. Die Aussage der Professorin, dass das ›Abgewöhnen‹ des Dialekts die Voraussetzung für eine pädagogische Tätigkeit in der Deutschvermittlung sei, muss also vor dem Hintergrund dieser Hierarchie interpretiert werden. Mit ›abgewöhnen‹ wird ein Begriff verwendet, der das Aufgeben einer (schlechten) Gewohnheit, wie etwa Rauchen, übermäßiger Konsum von Alkohol oder Süßigkeiten oder Ähnliches, impliziert. Dem Dialekt wird somit der Status einer legitimen Sprache abgesprochen, was an der fehlenden Unterscheidung verschiedener Sprachgebrauchsdomänen von Seiten der Professorin deutlich wird, die den Dialekt grundsätzlich als für Lehrer*innen nicht legitime Sprache charakterisiert. Insgesamt werden in diesem Abschnitt zwei Kategorisierungsformen angesprochen: die hierarchisierende Anordnung von bundesdeutschem und österreichischem Standard und die von Standard und Dialekt. Die Erzählerin bewertet die eben erzählte Geschichte als eine von oder als Beispiel für »echt schlimme Sachen«, die sie am Institut für Germanistik erlebt hat. Kat: Grod in so an, i sog imma/(schmunzelnd) »sprach_ sprachsensiblen Master«/, dir wird des gelernt dass du auf sowos ned so reagierst oiso (2) dir wird des eingetrichtert, dass dass du sensibl auf… ah… »Interkulturalität« i sogs jetzt amol obwul i des Wort ned mog wal i find jo es/(lacht) gibt ned so/vü also ma suit des ned so Ernst nehman so Untaschiede. Ahm, und ebm (2) ma muaß, also es wird da eingetrichtert dassd mit Mehrsprachigkeit umgeh muaßt, dass scheißegal is wo de Leid jetzt hea san und wias redn und wöchan Akzent das hom oda wöche sprachliche äh Ausprägung wos hom, und daun kemma owa sölche Mödungen, so auf die Oat wie »wennst an Dialekt redst, kaunst nid untarrichtn, oda wannst an Akzent host deafst ned untarrichtn« und des is hoid daun scho… hm. Mua es is, san Einzlfälle owa es kummt vor und i finds schlimm eigentlich dass dass so is (2) jo. (21/29-39)
Nun expliziert die Erzählerin, dass der Kontext, in dem sich das Erzählte zugetragen hat, dieses eigentlich in besonderer Weise verbieten müsste: Mit »sprach_ sprachsensiblen Master« ist nicht der Inhalt des Studienganges, sondern der Umgang mit Sprachen darin angedeutet. Diesen fasst die Erzählerin mit einer Sensibilität für »Interkulturalität« zusammen, die den Student*innen ›eingetrichtert‹ werde. Zum einen fällt hier eine über die zweite Person formulierte, aber allgemein und unpersönlich gehaltene Charakterisierung auf, zum anderen der zweifach verwendete Begriff ›eingetrichtert‹, der an ein ›Einflößen‹ von Lerninhalten ohne Beteiligung der Lernenden erinnert, deren aktive Auseinandersetzung auch nicht gefordert ist. Zudem impliziert der Begriff eine sehr starke Festlegung des Studienganges auf das Thema »Interkulturalität«, ein Begriff, den die Erzählerin kritisiert. Aus der Begrün-
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dung ihrer Kritik lassen sich sowohl ein Statement zu Kulturalität als auch zu wissenschaftlicher Terminologie und/oder Umgangsweisen damit ablesen. Noch einmal verwendet die Erzählerin in ihrer Charakterisierung vermittelter Studieninhalte, die sich als Forderung nach Gleichbehandlung von Personen und/oder Gruppen unabhängig von deren Herkunft, Akzent oder sprachlichen ›Ausprägungen‹ beschreiben lassen, den Begriff ›eingetrichtert‹. In dem so beschriebenen Kontext verortet sie die oben erwähnten »Meldungen« der Professorin und gibt diese noch einmal generalisierend als Aberkennen der Eignung für den Lehrberuf aufgrund eines Dialekts oder Akzents wieder. Sie bezeichnet solche Vorfälle als ›Einzelfälle‹, die aber dennoch vorkommen, und beendet ihre Argumentation noch einmal mit deren Bewertung als ›schlimm‹. Interessant ist an dieser Passage, dass Dialekt und Standard im Unterschied zu Migrationssprachen nicht vor dem Hintergrund unterschiedlicher ›Kulturen‹ gedeutet werden, womit Österreich implizit als kulturell homogene Nation konstruiert wird. Vor dem Hintergrund der sozialen Markierungen verschiedener Dialekte in der Erzählung Katharina Pecks über die Schulzeit (vgl. 8.2.2) liegt die Interpretation nahe, dass sie die Abwertung des Dialekts möglicherweis auch als soziale, nicht nur als eine innerhalb der Hierarchie nationalstaatlicher Varietäten wahrnimmt.
9.4.3 Zusammenfassende Überlegungen: Die Bedeutung von Sprachen im Kontext beruflicher Erfahrungen und Pläne Fallübergreifend lassen sich verschiedene Dimensionen der Bedeutung von Sprache ausmachen. Bezogen auf bereits erfolgte berufliche Erfahrungen lässt sich festhalten, dass die Bedeutung von Migrationssprachen in unterschiedlichen Feldern des sozialen Raums variiert:10 Die Zeitung, bei der Alime Alpaslan tätig ist, ist ein transnationales Unternehmen, für das die Beschäftigung mit unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten und Sprachen konstitutiv ist. Mehrsprachigkeit ist in diesem Kontext selbstverständlicher und notwendiger Bestandteil der Berufsausübung und die dominante Kommunikationsform innerhalb des Unternehmens. Im Unterschied dazu ist das Krankenhaus, in dem Afërdita Bushaj dolmetscht, grundsätzlich monolingual organisiert. Allerdings werden in Situationen, in denen das Personal und die Patient*innen über keine gemeinsame Sprache verfügen, zeitlich begrenzte Legitimitätsräume für Migrationssprachen geschaffen. Keinen Hinweis auf solche Räume zeigt die Erzählung über die Zeitung, bei der Majda Melić ihr Praktikum absolvierte: Die einsprachige und auf einen nationalstaatlichen Kontext fokussierte Zeitung bietet zwar Praktika 10 | Zur Bedeutung von Sprache im Beruf vgl. Duchêne/Moyer/Roberts 2013; Fürstenau 2004; Henkelmann 2010.
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für ausländische Student*innen an, dies ist aber weder mit einer sprachlichen noch – sofern dies aus den erzählten Ausschnitten ableitbar ist – mit einer inhaltlichen Grenzüberschreitung verbunden. Der bosnische Teil ihres sprachlichen Repertoires ist somit für Majda Melić bei dieser Zeitung nicht kapitalisierbar. Inwieweit die Rekrutierungsformen der einzelnen Unternehmen mit deren (trans-)nationaler Verortung in Verbindung stehen, lässt sich aus dem Material nicht erschließen. Allerdings fällt auf, dass der Zugang zum Unternehmen, das am wenigsten offen für Migrationssprachen ist, mit der höchsten Investition – nämlich der erfolgreichen Teilnahme an einem Wettbewerb – auf Seiten der Studentin verbunden ist, während die anderen beiden Studentinnen über informelle Netzwerke und ›zufällig‹ Zugang zu den Unternehmen erhielten. Im Kontext der einzelnen Biographien nehmen die beruflichen Erfahrungen unterschiedliche Bedeutungen an: Majda Melić setzt die Kategorie ›Muttersprache‹ innerhalb der Sprachbiographie flexibel ein: Während sie Deutsch für den relativ frühen biographischen Zeitraum während des Exils in der Schweiz als ›zweite Muttersprache‹ (6/47) und als ›Muttersprache genauso wie Bosnisch‹ konstruiert (6/48), bezeichnet sie sich im Kontext des Praktikums in Deutschland als ›nicht-Muttersprachlerin‹. Vermutlich trägt diese Selbstkonstruktion dazu bei, sich im Deutschen – unter von Mehrheitsangehörigen verschiedenen Voraussetzungen – als besonders sprachkompetent und handlungsfähig zu erfahren, was ein Anknüpfen an andere Momente in ihrer Biographie darstellt, an denen sie einen distinktiven Status für sich beanspruchte (vgl. Kap. 8.2.2). Als Teil der Erzählung über mögliche Vorbehalte von Seiten der Redaktionsmitglieder in Bezug auf ihre sprachlichen Kompetenzen erfüllt diese Selbstbezeichnung erzähltechnisch darüber hinaus die Funktion, den Erfolg des Praktikums noch größer erscheinen zu lassen. Im Unterschied zu Majda Melić werden Afërdita Bushaj und Alime Alpaslan aufgrund ihrer Kenntnisse nicht-dominanter Sprachen für die jeweiligen Tätigkeiten11 als besonders qualifiziert eingeschätzt. Beide Interviewpartnerinnen schreiben ihrer Arbeit eine biographisch bedeutsame Rolle zu, die über deren Funktion als Erwerbsarbeit hinausgeht: Ihre (sprachliche) Sozialisation in einer aus der Türkei migrierten Familie und ihre Bildungsgeschichte in Österreich ermöglichen es Alime Alpaslan im Unterschied zu österreichischen Mehrheitsangehörigen und zu kürzlich aus der Türkei migrierten Personen, sich völlig selbstverständlich im transnational mehrsprachigen Kontext der Zeitung zu bewegen. Damit verbunden ist nicht nur eine Erhöhung des Vertrauens in die eigene Arbeit und eine Verbesserung ihres sozialen Prestiges, sondern auch die erfolgreiche Bearbeitung eines biographisch erworbenen ›Mankos‹, nämlich einer als man11 | Bei Afërdita Bushaj betrifft das ihre Übersetzungsarbeit, aber nicht die Unterrichtstätigkeit, für die ihre Albanischkenntnisse nicht notwendig sind.
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gelhaft erfahrenen Kompetenz in Türkisch. Während dieser Zusammenhang in der Erzählung Alime Alpaslans implizit bleibt und erst über eine Einbettung der Passage in die gesamtbiographische Erzählung zugänglich wird, schreibt Afërdita Bushaj ihrem ›dreisprachigen‹ Aufwachsen ganz explizit eine konstitutive Bedeutung für ihr Ziel zu, auch beruflich Barrieren und Grenzen zu überwinden und an der Verwirklichung einer von der Idee der Gleichheit und Gleichberechtigung getragenen Gesellschaft zu arbeiten. Neben bereits erfahrener Bedeutungen von Sprache in beruflichen Feldern zeigen die Erzählungen auch Dimensionen deren Bedeutung für eine Berufseinmündung und die spätere Berufstätigkeit: Die Erzählung von Katharina Peck zeigt eine ganz explizite Abwertung einer sprachlichen Varietät innerhalb einer Lehrveranstaltung. Diese verweist auf Vorstellungen sprachlicher Eignung für den Lehrberuf. Dafür stellt ein Dialekt offenbar ein Ausschlusskriterium dar, für dessen Begründung es in der Erzählung allerdings keine Hinweise gibt. Weder wurde auf die Frage verschiedener Varietäten des Deutschen und deren Legitimität in unterschiedlichen Kommunikationssituationen an Schulen eingegangen, die innerhalb konzeptionell deutschsprachiger Regionen durchaus kontrovers diskutiert wird (vgl. Maitz/Elspaß 2011), noch wurden sprachliche Normen innerhalb universitärer Lehrveranstaltungen thematisiert, was im Kontext eines germanistischen Studiengangs ebenfalls naheliegen würde. In der Perspektive der Professorin wird Dialekt nicht als Teil eines sprachlichen Repertoires, das in unterschiedlichen Kontexten variabel eingesetzt werden kann, sondern als ein der Person anhaftender Mangel konstruiert, dessen ›Ablegen‹ konstitutiver Bestandteil der Professionalisierung als Lehrerin ist. Im Vergleich dazu lässt sich an den Erzählungen von Günnur Duman und Ece Erbay herausarbeiten, dass bei Einschätzungen der Bedeutung von Sprache im Horizont beruflicher Möglichkeiten in der Zukunft auch extralinguistische Merkmale, hier das Tragen eines Kopftuchs, relevant werden. Beide Student*innen haben ein hohes Bewusstsein für Zuschreibungsprozesse, konkret darüber, dass sie im schulischen Raum möglicherweise nicht als fachlich kompetente Lehrerinnen, sondern als grundsätzliche Bedrohung für die herrschenden Machtverhältnisse an Schulen wahrgenommen werden könnten. Dass diese Befürchtungen durchaus realen Bedingungen entsprechen, wurde bereits mehrfach belegt (Fereidooni 2016; Karakaşoğlu/Wojciechowicz 2016). Die in Österreich immer wieder auftauchenden Diskussionen um ein Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen (Leitner 2015; Mittelstaedt 2017) könnten auch ganz konkrete rechtliche Folgen für die Student*innen haben. Die Zuschreibungslogiken, die von den Interviewpartner*innen auf der Basis ihrer Erfahrungen in Bildungsinstitutionen als mögliche Zukunftsszenarien entworfen werden, folgen jedenfalls einer naturalisierenden Verschränkung der Differenzierungskategorien Religion, Gender, Sprache und natio-ethno-kulturelle
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Zugehörigkeit. Diese geht mit der Zuschreibung mangelnder pädagogischer Kompetenz einher. Während die Erzählungen von Günnur Duman und Ece Erbay sich vor allem auf Berufseinmündungsmöglichkeiten richten, scheint sich Katharina Peck in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen. Sie nutzt diesen Teil des Interviews, um auf diskriminierende Praktiken an der Universität aufmerksam zu machen und um die Bewertungslogiken von Lehrenden, denen sie implizit weitreichenderes linguistisches Wissen und pädagogische Kompetenzen abspricht, in Frage zu stellen.
9.5 S pr ache (n) und die › nächste G ener ation ‹ In Kapitel 7.1 wurde gezeigt, dass die Student*innen ihre Sprachbiographien auf der Basis familialer Sprachgeschichten erzählen, in denen sowohl auf Migrationswege als auch auf individuelle und familiale sprachliche Repertoires sowie auf Erfahrungen mit Sprache auf Seiten älterer Verwandter Bezug genommen wird. In diesem Kapitel steht gewissermaßen die ›andere‹ Seite familialer Sprachbiographien im Mittelpunkt, nämlich die Auseinandersetzung mit Sprache(n) der nächsten Generation, die zumeist am Beispiel der Kommunikation mit den eigenen Kindern oder (Erziehungs-)Plänen und Vorstellungen für zukünftige Kinder bearbeitet wird. Dass diese Fragen in der Phase des Studiums relevant werden, mag zum einen an der Altersstruktur der Interviewpartner*innen liegen, zum anderen aber auch an der akademischen Auseinandersetzung mit Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitstheorien, in denen kindliche Sprachaneignungsprozesse im Mittelpunkt stehen. Zwei der Interviewpartner*innen hatten zum Zeitpunkt des Interviews bereits eigene Kinder und konnten deswegen auf zahlreiche eigene Erfahrungen zurückblicken, mit denen sie sich auch im Interview intensiv auseinandersetzten. Günnur Duman, die zum Zeitpunkt des Interviews einen zweijährigen Sohn hat, setzt sich in ihrer Erzählung ausführlich mit der eigenen sprachlichen Erziehung und mit den Bemühungen ihrer Mutter auseinander, ihr einen möglichst guten Zugang zu Bildung zu ermöglichen (vgl. 10/46-12/30). In diesem Kontext spricht sie über ihr Bedauern, Türkisch nicht auf einem so hohen Niveau zu beherrschen wie Deutsch (12/34-39) und schlägt dann einen Bogen zur Kommunikation mit ihrem Sohn: Gün: Und vor allem jetzt seitdem ich ein Sohn hab, hab ich jetzt angfangen über mein eigenes Verhalten ein bisschen nachzudenken und zu reflektieren, und mir is aufgefallen, dass ich das eben mache, dass ich, wenn ich mit ihm draußen bin, und es sind einfach so auch (3) es, ich denke mir, es hat mit den Medienberichten zu tun, wie wie dieses
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TEIL III — Falldarstellungen Wort Deutsch als Zweitsprache konnotiert ist, was für ein Prestige die türkische Sprache hat, und zwar gar keinen, ah wie (1) wie man überhaupt angschaut wird, wenn man ein Kopftuch trägt. Nicht von jedem, nicht immer, aber von bestimmten Leuten. Und noch dazu, wenn man ein Kind hat und mit dem Kinderwagen versucht man in den Kinder_ in die Straßenbahn einzusteigen. Im N-Stadtteil. Die paar Leute, die vielleicht jetzt hier im N-Stadtteil keinen Migrationshintergrund haben, wie die einen anschauen. Da hab ich anscheinend (2) mir gedacht, ich muss da jetzt bewusst Deutsch reden und zeigen, äh (1) »Ich kann (1) ich kann’s«, ja? Und (1) ich hab dann aber ds ds ich hab das irgendwie selber dann ah ah gemerkt. I_ so (1) »Warum machst du das eigentlich?« (12/42-13/7)
Günnur Duman beschreibt einen Reflexionsprozess über ihre gesellschaftliche Positionierung und ihre in Zusammenhang damit stehende sprachliche Praxis, der mit der Geburt ihres Sohnes begann. Die ausschließliche Verwendung von Deutsch im öffentlichen Raum war eine Praxis, die sie in ihrer Kindheit gelernt hatte (vgl. Kap. 7.3.1) und zunächst ganz selbstverständlich in der Kommunikation mit ihrem Sohn weiterführte. Der Verweis auf die Konnotation des Begriffes »Deutsch als Zweitsprache« und auf das Prestige des Türkischen verweisen auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Dominanzkultur, innerhalb derer ihr ein marginalisierter Status zukommt. Diesen beschreibt sie in einer rhetorischen Steigerung am Beispiel eines ›Blickregimes‹ (Buchner 2016: 190), dem sie als Frau, die ein Kopftuch trägt, als Mutter und als Bewohnerin des N-Stadtteils ausgesetzt ist. Dass sie betont, »[n]icht von jedem, nicht immer« angeschaut zu werden, deutet darauf hin, dass das Angeschautwerden eine alltägliche und sehr häufige Erfahrung ist und kann gleichzeitig als Versuch gelesen werden, der Mehrheitsgesellschaft und möglicherweise auch der Interviewerin gegenüber nicht anklagend zu wirken. Zudem wird eine Verbindung zwischen Haltungen der Mehrheitsgesellschaft dem Kopftuch und der Sprache Türkisch gegenüber angedeutet, die allerdings nicht ausgeführt wird. Mit der Verwendung der unpersönlichen Form »man« generalisiert die Erzählerin das Problem, von dem potentiell alle Mädchen und Frauen, die ein Kopftuch tragen, betroffen sind. Gleichzeitig geht sie offenbar davon aus, dass auch die Interviewerin das angesprochene Blickregime kennt, da sie dieses nicht näher beschreibt. Die Erzählerin präsentiert die ausschließliche Verwendung der Mehrheitssprache von Seiten des ›erzählten Ich‹ im öffentlichen Raum als Versuch, anderen zu »zeigen«, dass sie Deutsch ›konnte‹ und damit defizitäre Erwartungen zu widerlegen. Ihre retrospektive Bewertung der damaligen Sprachverwendung kann an der rhetorischen Frage zu Ende der Passage abgelesen werden. Gün: Oder wenn ich ich geh m_ zum Beispiel mit meinem Sohn in die Musikstu_ äh aso eine Musikkrabbelgruppe, und da bin ich die einzige Mut_ aso ich bin die einzige Mutter, die auch Türkisch spricht. Und ich hab immer dort mit ihm konsequent Deutsch gespro-
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums chen und (3) dann war’n dort zwei, das war, das war ausschlaggebend genau, zwei Mütter, die haben immer Spanisch mit ihren Kindern gesprochen. Aso die sitzen da in der Gruppe, und wir machen halt viel Musik also musizieren gemeinsam mit Rasseleiern und (1) Klangstöcken, und wenn die Kinder, und sie haben immer ihren Kindern die Dinge auf Spanisch gesagt, und ich hab mir gedacht, und dann so in Verbindung mit den Themen, die wir auf der Uni besprechen, eben, Prestigesprachen, Deutsch als Zweitsprache, hab ich mir gedacht, »Du du vermittelst dieses Gefühl deinem Kind weiter!« (13/8-19)
Die Erzählerin führt nun ein Schlüsselerlebnis ein: In der »Musikkrabbelgruppe« ist Günnur Duman die einzige Mutter, die »auch« Türkisch spricht, womit die Erzählerin Bezug auf die Referenzsprache Deutsch nimmt und sich implizit als nicht ›nur‹ oder nicht ›muttersprachlich‹ türkischsprachig konstruiert. Ihre Sprachwahl in der Kommunikation mit dem Sohn in der Krabbelgruppe über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit hinweg beschreibt sie mit »immer […] konsequent Deutsch (Hervorh. N.T.)«, womit ein Aufwand angedeutet wird, der entweder für das ›erzählte Ich‹ oder den Sohn oder für beide entstand. Nachdem diese Erzählung unmittelbar auf diejenige über die Szenen in der Straßenbahn folgt, liegt die Vermutung nahe, dass die damalige Sprachwahl mit Vorstellungen davon bzw. einem Wissen darüber zu tun hat, welche Sprachen in welchen Kontexten als (il-)legitim gelten. Mit der Verwendung des Perfekts (»ich hab immer […] Deutsch gesprochen«) wird jedenfalls ein Bruch in dieser selbstverständlichen Sprachverwendung angedeutet. In der Beschreibung einer für die Veränderung »ausschlaggebend[en]« Situation führt die Erzählerin zwei Mütter als Protagonistinnen ein, die »immer Spanisch mit ihren Kindern gesprochen [haben]«. Die Rekonstruktion ihres Reflexionsprozesses über die unterschiedlichen Sprachpraxen in der Eltern-Kind-Kommunikation verdeutlicht, dass das Studium ihr ein theoretisches Angebot zur Verfügung stellte, mit dem sie ihre eigene Erfahrung aus einer neuen Perspektive deuten konnte. Der wiederholte Verweis auf an der Universität besprochene Themen, die mit den Begriffen »Prestigesprachen« und »Deutsch als Zweitsprache« angedeutet werden, verweist auf das Bewusstsein über gesellschaftliche Dominanzverhältnisse, in die Günnur Duman eingebunden ist und von denen auch die Kommunikation mit ihrem Sohn geprägt ist. Im inszenierten Selbstgespräch zu Ende der Passage wird – vor allem an der Wiederholung und Betonung des Pronomens »du« – ihr Bewusstsein über ihre eigene aktive Rolle in der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse besonders deutlich. Gün: »Deine Sprache wird nur zu Hause gesprochen, wieso traun sich die Mütter, die Spanisch sprechen, da ganz locker und easy mit denen in – das hat auch nichts mit ›traun‹ zu tun, wieso hast du jetzt diesen, diese Art und Weise?« Und ich hab lang darüber nachgedacht, und dann hab ich gmerkt, dass ich mich da qua_ eigentlich selber
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TEIL III — Falldarstellungen reguliere. Und das mach ich jetzt nicht. Es ist mir egal, wo ich bin. Ich red so wie ich reden will und ich mische dann auch Türkisch und Deutsch und ich sag das so, wie ich das sagen will, weil (1) ich da jetzt nicht (1) meinem Sohn das eben unbewusst und indirekt vermitteln möchte die deutsche Sprache ist eine bessere oder eine hochwertigere, eine angesehenere. (13/20-29)
Im weiteren Verlauf des Selbstgesprächs, in dem das ›erzählte Ich‹ über die eigene Sprachpraxis und diejenige der ›spanischen Mütter‹ reflektiert, wird Türkisch – im Gegensatz zu Spanisch – als Sprache nicht benannt und damit auch performativ unsichtbar gemacht, wenn auch über das Possessivpronomen »[d]eine Sprache« eine enge persönliche Verbindung angedeutet ist. Darüber hinaus formuliert die Erzählerin bei der Beschreibung ihrer eigenen Sprachpraxis im Passiv, wodurch sie sich selbst als Akteurin, die Entscheidungen über Sprachverwendung trifft, zunächst unsichtbar macht. Die Beschreibung des Sprechens der anderen Mütter lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass die Frage der Sprachverwendung und/oder die Verwendung von Türkisch für Günnur Duman überhaupt nicht »locker und easy« ist. Vielmehr zeigt der Begriff »sich traun«, dass die Entscheidung, eine marginalisierte Sprache zu sprechen, mit Mut verbunden ist. Die Erzählerin korrigiert sich an dieser Stelle selber, indem sie darauf hinweist, dass die Sprachverwendung »nichts mit ›traun‹ zu tun [hat]«. Möglicherweise deutet sie damit an, dass Sprachwahl idealerweise nicht an die Frage von Mut gebunden sein sollte. In der Argumentation, nach langem Nachdenken eine Praktik der Selbstregulierung in der eigenen Sprachwahl identifiziert zu haben, verdeutlicht Günnur Duman über die aktive Form des Verbs »reguliere« ihre Position als Handelnde, die gesellschaftlichen Konventionen unterworfen ist, innerhalb derer sie allerdings auch einen Entscheidungsspielraum hat. Sie betont jedenfalls, ihre Sprachwahl inzwischen verändert zu haben und unabhängig vom sozialen Kontext sowohl beide Einzelsprachen als auch Formen von Code-Switching zu verwenden. Diese selbstbewusste Form der Sprachverwendung begründet sie damit, keine Sprachhierarchie, in der Deutsch höher eingestuft wird als Türkisch, vermitteln zu wollen. Die Betonung der negativen Vorsilben weist möglicherweise darauf hin, dass sie solchen unbewussten und indirekten Vermittlungsprozessen große Bedeutung zumisst oder dass ihr diese über einen längeren Zeitraum hinweg selbst nicht bewusst waren. Gün: Und ich hab mar das auch wirklich üb_ überlegt also ich möchte schaun, dass wir vielleicht ein zwei Mütter, die da vielleicht Interesse dran haben, dass wir uns jemanden finden, der gut Türkisch kann, muss jetzt nicht ein Türkischlehrer oder eine Lehrerin sein aber sich mit Grammatik, Satzbau und so weiter auskennt, dass wir das vielleicht privat organisieren, dass die Kinder äh am Wochenende vielleicht ein paar Stunden gemeinsam (1) (eh) vielleicht auch im Spielerischen äh Türkisch lernen. (1) Ich denke mir, das
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums das bin ich ihm zumindest schuldig das sollt ich machen, es gibt nämlich keine gscheiten Angebote. Also wenn’s gehn würd, ich würd selber was machen, aber (2) ja. Ich m_ (1) das möcht i_ aso (1) weil ich kann jetzt nicht nur Türkisch mit ihm sprechen. Ich ich kann ich kann nicht. Es geht durch. Und (1) das möcht ich auch gar nicht. (13/39-14/1)
Dass Günnur Duman gemeinsam mit »ein zwei Mütter[n]« eine Person finden möchte, die mit den Kindern »im Spielerischen« Türkisch lernt, erinnert an die beiden selbstbewussten ›spanischen Mütter‹, die sie in der Krabbelstunde kennengelernt hat. Vor dem Hintergrund der zuvor geschilderten gesellschaftlichen Dominanzverhältnisse und des theoretischen Hintergrundes, den sie im Studium kennengelernt hat, können ihre Überlegungen als Gegenstrategie zur Exklusion marginalisierter Sprachen gelesen werden. Allerdings bedürfen diese noch einiger Konkretisierung und weiterer Aushandlungsprozesse mit anderen Eltern. Die aus ihrer Sicht erforderlichen Fähigkeiten der gesuchten Person sind an formalen Dimensionen von Sprache (»Grammatik, Satzbau und so weiter«) und damit an Parametern orientiert, die einerseits schulsprachlich relevant sind und die andererseits in Günnur Dumans sprachlicher Sozialisation vernachlässigt wurden bzw. von denen sie nach wie vor den Eindruck hat, sie nicht ausreichend zu beherrschen. Die Organisation einer türkischsprachigen Betreuung für ihren Sohn betrachtet Günnur Duman als ihre Pflicht, als etwas, das sie ihm »schuldig« ist. Das »zumindest« verweist auf eine Minimalanforderung an die Herstellung des Zugangs zu sprachlicher Bildung, für die sie sich als Mutter verantwortlich sieht. Dabei geht es weniger um eine pädagogisierte Idee früher Sprachförderung oder frühen Sprachtrainings, sondern um spielerisches Lernen. Insgesamt wird eine Vorstellung von Sprachloyalität deutlich, nach der die Weitergabe einer in der Familie gesprochenen Sprache als moralische Verpflichtung angesehen wird, die im Kontext der marginalisierten Stellung in der Migrationsgesellschaft ein Anknüpfen an die ›Herkunftskultur‹ ermöglicht. Die Erzählerin problematisiert fehlende institutionelle Angebote, verlegt aber die Verantwortung, diesen Mangel zu beheben, in den Bereich des Privaten und entlastet somit das Bildungssystem von sprachlicher (Früh-)Förderung. Gegen Ende der Passage betont Günnur Duman noch einmal die Bedeutung des Türkischunterrichts für ihren Sohn und begründet diese damit, dass sie »jetzt nicht nur Türkisch mit ihm sprechen« kann. Daraus geht hervor, dass sie die Möglichkeit nicht in Betracht zieht, dass ihr Sohn gut Türkisch lernen könnte, wenn sie beide Sprachen, Deutsch und Türkisch, mit ihm spricht. Dazu passend bezeichnet sie ihre eigene Praxis des alternierenden Sprachgebrauchs mit der Bezeichnung »es geht durch«, was an ein wildes Pferd erinnert, oder auf jeden Fall auf eine nicht plan- oder steuerbare Praxis verweist. Das »es« wird nicht näher benannt. Sprache wird hier also als etwas darge-
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stellt, das »passiert« oder unbewusst stattfindet. Zudem meint die Erzählerin, dass sie, unabhängig von dem, was im Bereich des Möglichen liegt, auch gar nicht ausschließlich Türkisch mit ihrem Sohn sprechen möchte. Auch die Interviewpartner*innen, die selbst noch keine Kinder haben, setzen sich zum Teil intensiv mit der Frage der Weitergabe von Sprache(n) auseinander. Als erstes Beispiel wird die Erzählung von Simona Popescu eingeführt, die sich in einer stark argumentativen Weise mit der Bedeutung transgenerationaler Weitergabe von Sprache beschäftigt. Die Stelle stammt aus dem Nachfrageteil, in dem die Interviewerin Simona Popescu bittet, ihr zu sagen, welche Bedeutung Sprachen für sie haben. Die Erzählerin rekonstruiert die biographische Herausbildung und Veränderung dieser Bedeutung und beginnt in ihrer Kindheit: Sim: Mh – Also ähm als kleines Kind hab ich das nicht wahrgenommen. Was was ein Sprache halt für eine Person ist, ich habs einfach gelernt, ich hab ich hab irgendwie die Schule geliebt, also sie hat mir es hat mir Spaß gehabt, es es hat mir Spaß gemacht in die Schule zu gehen und neue Sachen zu erfahren, weil es war, ich hab mich immer von Jahr zu Jahr oder von einer Lektion zu einer Lektion irgendwie soo gebildet [gefühlt irgendwie. Weil] es es ist es war wichtig für mich. (31/41-32/5) Int: [Mh, mh, mh]
Simona Popescu nimmt hier zwei Erzählpositionen ein: zum einen eine theoretische Position aus der Erzählzeit heraus mit dem Anspruch, etwas Allgemeingültiges über Sprache zu sagen, zum anderen die Position des Kindes Simona in der erzählten Zeit, deren biographische Erfahrungen beispielhaft für das Allgemeine stehen. Die Erzählerin konstruiert das ›erzählte Ich‹ als wissbegierig und die Schule als ermächtigenden Raum und geeigneten Ort, um zu Wissen zu gelangen und dieses kontinuierlich zu erweitern. In der Passage wird eine sehr affektive Haltung zum Lernen und dieses als natürlicher und müheloser Prozess dargestellt, in den das ›erzählte Ich‹ sukzessive hineinwuchs. Sprache steht nicht im Zentrum, stellt aber ein Element von mehreren dar, die in der Schule gelernt werden. Sim: Aber jetzt in diesem Studium wo ich mehr über Sprachen lerne, und so, über Interkulturalität, über Leute die zum Beispiel äh aus andern Länder vielleicht aus dem Ostblock, – äh nach A-Stadt oder nach Österreich äh – gekommen sind und die jetzt äh die also nach Jahren so beherrschen gut die deutsche Sprache und die Kinder sind halt in Österreich geboren, und die Kinder lernen sehr gut Deutsch, sie auch sagen »Jaa das Kind braucht die Muttersprache halt nicht«. Und das find ich echt traurig, nicht nur im
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums Sinne dass die Kinder dann, weil es ist traurig, erstens weil man eine Sprache verloren [geht], und auch zweitens äh – die Kinder können dann vielleicht keine Ahnung Int: [Mh] Sim: vielleicht so Identitätsprobleme bekommen ich weiß nicht ganz genau. (32/7-16)
Zu Beginn dieser Passage wird ein Bruch mit dem selbstverständlichen Umgang mit Sprache angekündigt, dessen Rahmen in der nachfolgenden Argumentation mit dem Studium gebildet wird, dessen Inhalte die Erzählerin sehr unspezifisch mit »Sprachen, […] Interkulturalität, [Wissen] über Leute die zum Beispiel äh aus andern Länder […] gekommen sind« angibt. Trotz der sehr alltagsnahen Darstellung von Studieninhalten wird deutlich, dass Simona Popescu sich hier als Germanistikstudentin und somit als ›Expertin‹ für sprachbezogene Fragen im Kontext von Migration betrachtet. Allerdings werden die »Leute […] aus andern Länder« als Andere konstruiert, von denen sie sich selbst abgrenzt. Die Verwendung der Alltagskategorie ›Ostblock‹, die keinen sprachlich homogenen Raum bezeichnet, legt nahe, dass die Erzählerin hier auf eine Gruppe anspielt, die sie aus ihrem persönlichen Umfeld kennt. Die generalisierende Redewiedergabe von ihr bekannten Eltern stärkt die Lesart, dass die Erzählerin sich nicht auf Studieninhalte, etwa Spracherwerbstheorien, bezieht, sondern auf ihren persönlichen Erfahrungshintergrund. Auch die Bezeichnung »die Muttersprache« als allgemeine Kategorie jenseits von Einzelsprachen zeigt, dass sie sich auf einer allgemeineren Ebene im Diskurs um die Bedeutung von Familien- versus Mehrheitssprachen positionieren möchte. Die Anpassung an die Mehrheitssprache, an Erwartungen mancher Gruppen der Mehrheitsgesellschaft und/oder bildungspolitische und wissenschaftliche Positionen wird hier als individuelle Entscheidung von Eltern konstruiert, die von Simona Popescu bedauert wird. Die emotional formulierte Klage über den Verlust der Sprache bzw. der ›Muttersprache‹ der Kinder zeigt zudem, dass die Erzählerin hier einen Zustand und keine dynamische Entwicklung beschreibt. Mit der Frage der Sprache verwebt sie aufs engste diejenige von ›Identität‹. Allerdings besteht der Satz bis auf die Begriffe »Kinder« und »Identitätsprobleme« ausschließlich aus Unsicherheits- und Vagheitsmarkierern, woran sich ablesen lässt, dass die Erzählerin sich hier auf eine abstrakte Debatte bezieht, innerhalb derer sie sich zwar ihrer eigenen Position, aber noch nicht ihrer Argumente sicher ist. Sim: Wenn sie zum Beispiel Besuch in ihrem Heimatland gehen und [sie] die die ihre [Mh] Int: Sim: Muttersprache so [nicht] wirklich [beherrschen. Also diese] Leute glaub ich diee [Mh] [Mh. Mh] Int: Sim: denken nicht wirklich nach [was] für einen Einfluss eine Sprache haben könnte. [Mh] Int:
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TEIL III — Falldarstellungen Sim: Weil eine Sprache ist nicht nur wirklich Kommunikation sprechen. Weil [ich glaub] Int: [Mh] Sim: Sprache ist auch Kultur, Identität [ähm] also hinter diese Begriff glaub ich [Mh] Int: Sim: verstecken sich mehrere ähm Sachen und ich weiß nicht wie es in meiner Zukunft wird also wie meine Zukunft ausschauen wird, äh aber wenn ich in Österreich bleiben werd und ich vielleicht Kinder haben werde, meine Kinder werden – natürlich Rumänisch lernen. [Das] sehr gut schon als kleines Kind. Int: [Mh] (32/16-29)
In weiterer Folge konkretisiert die Erzählerin die angesprochenen ›Identitätsprobleme‹, indem sie auf Besuche von Migrant*innen in deren jeweiligem »Heimatland« verweist. Dieser Begriff wird in ähnlich essentialistischer Weise verwendet wie derjenige der ›Muttersprache‹. Die Gruppe, die zuvor als ›Eltern‹ bezeichnet wurde, wird eher abwertend ›diese Leute‹ genannt, von denen sich Simona Popescu klar abgrenzt. Sie konstruiert sich als Person, die im Unterschied zu ›den Leuten‹ über den ›Einfluss‹ von Sprache nachgedacht hat und in der Lage ist, diesen zu reflektieren. Neben Kommunikation, die sie hier in ihrer mündlichen Ausformung versteht, besteht, so das Argument, Sprache auch aus »Kultur, Identität« und anderen »Sachen«. Die Erzählerin arbeitet sich hier inhaltlich an stark diskursiv geprägten Begriffen ab, hat aber ihre Position noch nicht argumentativ gefüllt. Unmittelbar an das Hauptargument, dass das Beherrschen der ›Muttersprache‹ eine Voraussetzung für eine als eindeutig oder unproblematisch erlebte ›Identität‹ sei, schließt nun eine biographische Perspektive an, an der erkennbar wird, dass die Zukunft, die vor der Biographin liegt, noch offen ist, insbesondere in Hinblick auf den oder die späteren Wohnort/e. Das Bleiben in Österreich wird als mögliche oder wahrscheinliche Option eingeführt, die untrennbar mit der Frage verknüpft ist, welche Sprachen ihre Kinder später lernen werden. Die Überzeugung, dass sie Rumänisch lernen werden und dass ihr Niveau bereits in einem frühen Alter »sehr gut« sein wird, steht für die Erzählerin so sehr fest, dass es nicht begründungsbedürftig ist. Über ihre einführenden Hinweise auf ihre Expertise aus dem Studium hat sich die Erzählerin in dieser Passage zum einen als Expertin für Sprache bzw. Spracherwerb positioniert, zum anderen als ›Muttersprachlerin‹, die ihre Sprache nicht nur sehr gut beherrscht, sondern der im Gegensatz zu einer vorerst unbestimmten Gruppe aus dem ›Ostblock‹ auch deren Weitergabe ein großes Anliegen ist. Die Passage zeigt also eine sprachideologische Haltung, nach der es nicht nur eine ›richtige‹ Muttersprache gibt, sondern auch eine ›richtige‹ Haltung zu dieser.
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
Einen ganz anderen Aspekt von Sprache in Hinblick auf Kinder spricht Milan Pavić an. In seinem Interview gibt es mehrere Stellen, in denen Namen als bedeutsame Marker von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit vorkommen. Zu Beginn des Interviews markiert der Erzähler eine starke Zugehörigkeit zu Österreich und konstruiert Serbien als ›Urlaubsland‹ für die gesamte Familie. In diesem Kontext nennt er einige Elemente, die seine Familie noch mit Serbien verbinden: Mil: Das einzige was uns_ – Also äh, es gibt halt irgendwelche religiöse F_ hm religiösen Feste, und Feiern, die uns damit noch verbinden=und, die Sprache halt, und die=die Namen vor allem also ich mein – »Milan« oder/(lachend) »Milena« wie meine Mama heißt, ja, ganz, ironischer Weise/ Int: (schmunzelt) Mil: und ähh – mein Bruder heißt Bojan, also das sind – Die Namen sind eigentlich das was uns irgendwie noch am, meisten würd ich sagn mit Serbien verbinden.=Und die Sprache. Kultur natürlich, ja? (8/25-36)
Mit der Einleitung »[d]as einzige was uns [noch mit Serbien verbindet]« minimiert Milan Pavić die Bedeutung des Herkunftslandes seiner Eltern für die gesamte Familie. Allerdings nennt er dann eine Reihe von verbindenden Elementen, unter denen er die Namen als besonders bedeutsam hervorhebt und detailliert beschreibt.12 Die Relevanz von Namen kommt auch im Nachfrageteil vor, und zwar an einer Stelle, an der die Interviewerin fragt, ob Milan Pavić sich noch an seinen Deutscherwerb im Kindergarten erinnern kann. Nach dessen Rekonstruktion steht am Ende die evaluierende Zusammenfassung, dass er wegen seines Namens oder wegen seiner Herkunft keine negativen Erfahrungen gemacht habe (13/27-29). Der Bezug auf den Namen wirkt in diesem Kontext überraschend, weil die Interviewerin nicht danach gefragt hat und weil es auch in der Rekonstruktion der Sprachaneignung nicht um Namen ging. Die Negierung negativer Erfahrungen wegen des Namens könnte darauf hindeuten, dass Milan Pavić in anderen Kontexten sehr wohl solche Erfahrungen machte. An mehreren Stellen des Interviews zeigen sich sein Name oder Namen anderer als Differenzierungsmarker. So spricht der Erzähler an mehreren Stellen über ›typische‹ »Dialogform[en]«, die er dadurch kennzeichnet, dass er in der Regel von Personen, die er kennenlernt, zunächst für einen »Österreicher« gehalten wird: Mil: und, (sobald irgendwer) meinen Namen weiß – isses dann irgendwie so ein »Ah, okay der is ja gar nicht, hm, wirklich Österreicher, sondern – hat halt eine andere Ab12 | Aus Anonymisierungsgründen musste beim Namen des Bruders auf diese Detaillierung verzichtet werden.
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TEIL III — Falldarstellungen stammung«. (1) Ja. Ich würd sagn, i_ ich, würd, sagn, ob das nicht typisch österreichisch is, eine_ – einen Migrationshintergrund zu habm! Aber, das sei dahingestellt. (15/6-10) Mil: Aber (1) also ich=ich=ich glaub dass es_ also, das is auf jeden Fall ein_ (ein Pro_ ein) Problem das man nicht lösen kann. – Weil, also meiner Meinung nach, Namen (1) zu viel preisgebm! (1) (34/29-31)
In der generalisierenden Redewiedergabe expliziert Milan Pavić, dass ihm, nachdem seine Gesprächspartner*innen seinen Namen erfahren, der legitime Status eines ›wirklichen‹ Österreichers aberkannt wird, der offenbar dadurch gekennzeichnet ist, dass keine ›andere Abstammung‹ im Spiel sein darf. Neben dieser Aberkennung kritisiert der Erzähler auch die Tatsache der Ausblendung der Migrationstatsache aus Konzeptionen nationalstaatlicher Zugehörigkeit und definiert Migration als konstitutiv für Österreich. In weiterer Folge argumentiert er, dass »Namen (1) zu viel preisgebm«, womit er wahrscheinlich Migrationsgeschichten von Personen oder ihrer Vorfahren meint. In einer folgenden Passage behandelt der Erzähler die Relevanz von Namen auf dem Lebenslauf als Nachteile auf dem Arbeitsmarkt (vgl. auch 9.2.3) und spricht über anonymisierte Lebensläufe in Bewerbungsverfahren, die verhindern können, dass Personen aufgrund eines ›falschen‹ Geburtsortes oder Nachnamens, Formulierungen, die er in leicht zynischer Weise vorbringt, auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden (34/35-42). Unmittelbar im Anschluss daran kommt Milan Pavić auf die Bedeutung von Namen für Kinder zu sprechen: Mil: Eigntlich sollte man Namen (1) also das is eigentlich_ was eigentlich total – idiotisch is, bewusst wähln! Also jetz, nicht bewusst wähln hm, nach Gefallen sondern – »Was möcht ich meinem Kind antun, in Zukunft?« Und das is eigntlich schlimm! (1) Find ich. (2,5) Also, (d_ d_) find ich total problematisch irgendwie diese=diese/(schmunzelnd) Namensgebungen/, ja?=Weil – weil, in Wirklichkeit, sind die, westlichen Namen, okay, und die o_ die, sag ich mal, Ostblock oder=oder – arabischen, oder wie auch immer Namen, nicht okay. (1) Wenn jemand, (Jérôme) heißt oder, Justin – oder,/(englisch ausgesprochen) David/,/(deutsch ausgesprochen) David/, wie auch immer (1) isses okay. (2) A propos/(englisch ausgesprochen) David/, da fallt mir ein,/(englisch ausgesprochen) David Alaba. (34/42-51)
Der Erzähler fährt mit einer normativen Setzung fort, die er zugleich als Lösung des eben geschilderten Problems präsentiert, nämlich dass man Namen »bewusst wähln« sollte. Der Einschub in diesem Satz als »eigentlich total – idiotisch« verdeutlicht, dass er sich der Problematik einer auf diese Weise (re-) produzierten Abwertung bestimmter Namen und der Ambivalenz seiner Forderung durchaus bewusst ist. Er spezifiziert, dass er mit der Bewusstheit keine
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
individuell-ästhetischen Kriterien meint, sondern die Frage, was man seinem eigenen Kind »antun [möchte], in Zukunft«. Die Forderung, dass Eltern im Prozess der Namensgebung eine potentielle Schadenszufügung reflektieren müssen, bezeichnet er als »eigntlich schlimm«, womit er migrationsgesellschaftliche Hierarchisierungen zwar einerseits kritisiert, sie aber selbst reproduziert. Er unterscheidet Namen nach deren Herkunft in ›westliche‹ Namen, Namen aus dem ›Ostblock‹ sowie ›arabische‹ und andere Namen, von denen nur die westlichen »okay«, die anderen aber »nicht okay« seien und bringt dann Beispiele für Namen mit verschiedener Herkunft und Aussprache, von denen ihn der eine dann zu einem sehr breit ausgeführten anderen Thema, nämlich dem aktuellen Integrationsdiskurs in Österreich am Beispiel des Fußballers David Alaba, führt. Es wurde herausgearbeitet, dass Milan Pavić mehrfach die Erfahrung der Relevanz von Namen als Differenzierungsmarkern machte, aufgrund derer Zugehörigkeit verhandelt und zugesprochen oder verwehrt wird. Da bei ihm der Migrationshintergrund im Unterschied zu anderen weder ›auf den ersten Blick‹ noch sprachlich erkennbar ist, wird er im Normalfall erst zu dem Zeitpunkt als Anderer identifiziert, an dem jemand seinen Namen erfährt, weshalb der starke Bezug auf Namen in seinem Interview nicht überraschend ist. Seine Reflexionen führen ihn zur Bedeutung des potentiellen Schadens, den Kinder über bestimmte Namen erleiden können, die auf einen Migrationshintergrund schließen lassen. Eltern spricht er die Verantwortung zu, zur Lösung des Diskriminierungsproblems mit der Vermeidung nicht österreichisch klingender Namen beizutragen. Wie problematisch er die vorgeschlagene Praxis selbst findet, wird an seinen Bewertungen »total – idiotisch«, »eigntlich schlimm« und »total problematisch irgendwie« deutlich.
9.5.1 Zusammenfassende Überlegungen – Verantwortung von Eltern im Kontext sprachlicher Hierarchisierungen in Migrationsgesellschaften Fallübergreifend wird der Weitergabe von Sprache eine hohe Relevanz zugesprochen. Dabei spielen Erfahrungen in der eigenen Kindheit und aktuelle Positionierungen dazu eine zentrale Rolle: Günnur Duman reflektiert die Kommunikation mit ihrem Sohn vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen in ihrer Kindheit und einer retrospektiven kritischen Distanz zu diesen und arbeitet an einer Veränderung ihrer Sprachpraxis zugunsten einer Gleichstellung der Sprachen Türkisch und Deutsch in der österreichischen Migrationsgesellschaft. Milan Pavić spricht auf einer sehr viel allgemeineren und abstrakteren Ebene über die Relevanz von Sprache für die nächste Generation, allerdings finden sich Hinweise darauf, dass seine Argumentation zu Namensgebung in Migrationsgesellschaften von einer Vielzahl eigener Erfahrungen geprägt ist. Simona Po-
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TEIL III — Falldarstellungen
pescu rekonstruiert ihren Sprachaneignungsprozess als mühelos und lustvoll und ist von einer schnellen und ›problemlosen‹ Sprachaneignung bei ihren eigenen Kindern überzeugt. Mögliche Prozesse, in denen eine Sprache nicht ihren Normvorstellungen entsprechend angeeignet wird, verortet sie bei einer Gruppe, die sie als ›aus dem Ostblock‹ kommend besondert. Ein verbindendes Element in den Erzählungen und Argumentationen ist die weitgehende Vernachlässigung der Frage, wie eine möglichst kompetente Sprachverwendung in mehreren Sprachen erreicht werden kann. Vielmehr steht das Bewusstsein über gesellschaftliche Hierarchisierungen von Sprachen im Zentrum, zu denen sich die Erzählenden ins Verhältnis setzen. Bei allen Unterschieden zeigt sich als gemeinsames Merkmal die Zuschreibung von Verantwortung an Eltern. Bei Simona Popescu und Günnur Duman ist diese mit der Konstruktion von Sprachweitergabe als moralischer Verantwortung verknüpft, bei Milan Pavić mit der Verantwortung für die Reduktion potentieller Schadenszufügungen im Kontext von Namen, die auf einen ›Migrationshintergrund‹ verweisen. Die Erzähler*innen positionieren sich in ihren Argumentationen auf unterschiedliche Weise als Student*innen der Germanistik: Simona Popescu verweist auf die Inhalte, mit denen sie sich im Studium auseinandergesetzt hat, bewegt sich aber in ihrer Argumentation auf einer sehr alltagsnahen Ebene. Milan Pavićs Interpretation verweist auf eine Auseinandersetzung mit migrationspädagogischen Theorien, indem er etwa statische und an nationalstaatlichen Konzeptionen ansetzende Identitätskonzepte kritisiert. In Günnur Dumans Rekonstruktion wird ganz explizit die Bedeutung ihrer Auseinandersetzung mit Studieninhalten und dem darin enthaltenen Handlungs- und Veränderungspotential deutlich.
9.6 Z wischenfa zit : S pr ache in der biogr aphischen P hase des S tudiums Es bleibt festzuhalten, dass Sprache in der biographischen Phase des Studiums eine zentrale Rolle spielt, und zwar sowohl auf der Ebene von Alltagserfahrungen als auch im sozialen Raum ›Universität‹. An den Erzählungen konnte gezeigt werden, dass Student*innen in der österreichischen Migrationsgesellschaft in ihrem Alltag mit unterschiedlichen sozialen Ordnungen konfrontiert sind, in denen sie von anderen positioniert werden und sich selbst positionieren. Die Frage von Anerkennung ist in diesem Kontext zentral mit der Konstruktion von ›perfektem‹ Deutsch verbunden. Dabei werden von unterschiedlichen, zum Teil impliziten Normen geprägte Skalen mit sehr feinen Abstufungen relevant gesetzt, die umso differenzierter werden, je näher jemand an ›perfektes‹ Deutsch herankommt und damit eine Position
9. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums
einnehmen könnte, die sie/ihn der Gemeinschaft der ›Muttersprachler*innen‹ zugehörig machen würde. Von besonderer Relevanz sind diese Normen im Kontext des Studiums Germanistik, weil mit ihnen die Frage der Legitimität als Student*in der National- und Mehrheitssprache sowie als zukünftige*r Deutschlehrer*in in Österreich verbunden ist. Die Student*innen haben ein ausgeprägtes Bewusstsein für sprachbezogene Hierarchisierungsprozesse, zu denen sie sich unterschiedlich ins Verhältnis setzen. Besonders deutlich wird das an Thematisierungen ihres Verhältnisses zu verschiedenen Sprachen, in denen sie sich vielfältiger subjektiver Ordnungssysteme bedienen, die von objektivierten Kategorisierungen geprägt sind. Allerdings wird an den Beschreibungen und Argumenten, mit denen die Student*innen sich an Linguonymen (›Muttersprache‹, ›Zweitsprache‹ etc.) abarbeiten, deutlich, dass diese als Versatzstücke alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Orientierungsrahmen gebraucht werden, die ihren komplexen sozialen und biographischen Realitäten nicht gerecht zu werden vermögen. Das führt dazu, dass in den Erzählungen unterschiedliche sprachbezogene Wissensordnungen in unterschiedlicher Weise aufeinandertreffen. So werden objektivierte (sprachwissenschaftliche) Wissensbestände – die im Material zum Teil nur als Spuren rekonstruierbar sind – verwendet, um (sprach-)biographisches Wissen zu stärken und zu begründen. Es wird aber auch umgekehrt sprachbiographisches Wissen verwendet, um objektivierte Wissensbestände in Frage zu stellen. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass Zugehörigkeit auch unabhängig von der sprachlichen Performanz der Einzelnen verhandelt wird, und dass im Kontext von Sprache eine Reihe außersprachlicher Phänomene und Merkmale bedeutsam sind, die Zugehörigkeit erschweren können oder ein besonderes Exklusionsrisiko darstellen. Hier kommen so unterschiedliche Heterogenitätsdimensionen wie Gender, Religion und natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit zum Tragen. Werden tatsächliche oder zugeschriebene soziale Merkmale von Mehrheitsangehörigen als unvereinbar mit ›perfektem Deutsch‹ gedacht, so kommt es zu kategorialen Adressierungen, mit denen Subjekte hinter typisierten Gruppen unsichtbar gemacht werden. Aber auch in Beziehungen, in denen Student*innen als Individuen wahrgenommen werden, kann erreichte Zugehörigkeit unter veränderten Rahmenbedingungen und bei gleich bleibenden Akteur*innen brüchig werden, und Student*innen sind somit mit einer ständigen Gefahr von Diskreditierbarkeit konfrontiert. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der soziale Raum als Interaktionsfeld beschrieben werden könnte, in dem Einzelne als Täter*innen agieren oder als Opfer regiert werden. Vielmehr sind die Akteur*innen über vielfältige Netze in hierarchisierende Ordnungen verstrickt, deren relationale Form laufende Aktualisierungen von Fremd- und Selbstpositionierungen erfordert, die prinzipiell unabschließbar sind. Ein Bereich, in dem Erfahrungen mit und Haltungen zu Sprache ebenfalls besonders relevant werden, ist die Frage der idealen Weitergabe von Spra-
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TEIL III — Falldarstellungen
che(n) an Kinder. Auch in diesem Kontext treffen biographische Erfahrungen und deren retrospektive Bewertungen sowie an der Universität angeeignete sprachwissenschaftliche Wissensbestände in sich ergänzender und widersprechender Weise aufeinander. In diesem Kontext wird besonders deutlich, dass Sprachloyalitäten über komplexe biographische Erfahrungsaufschichtungen mitgeformt sind, die lebensgeschichtlichen Veränderungen unterliegen. Ein interessanter Befund ist, dass die Eingangserzählungen der Student*innen mehrheitlich von der Rekonstruktion sprachlicher Voraussetzungen gerahmt war, die sie in ihren Herkunftsfamilien vorfanden. Die Frage der Weitergabe von Sprachen an die eigenen Kinder wird an Stellen relevant, an denen die Zukunft thematisiert wird. Somit lässt sich in manchen Erzählungen der Kreis transgenerationaler Weitergabe von Sprachen schließen.
TEIL IV Theoretische Reflexion
10. Schlussbetrachtung
Den Ausgangspunkt für die vorliegende Studie bildeten aktuelle bildungspolitische sowie sprach- und bildungswissenschaftliche Diskussionen zu sprachlicher Heterogenität und zur Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch an Bildungsinstitutionen in der Migrationsgesellschaft. Für die Bearbeitung des Themas waren zwei Forschungsperspektiven leitend: ein soziolinguistischer Zugang zum Thema sprachlicher Heterogenität und ein biographietheoretischer Zugang, der die Bedeutung von Sprache(n) und Sprachigkeit im biographischen Kontext analysiert. Mit dem zweiten Ansatz ist eine Analyseperspektive verbunden, die Erfahrungen und den Umgang mit sowie Haltungen zu Sprache(n) konsequent aus der Binnenperspektive der Subjekte heraus rekonstruiert. Innerhalb soziolinguistischer Ansätze, die sprachliche Heterogenität aus sozialkonstruktivistischer, poststrukturalistischer und/oder praxeologischer Perspektive untersuchen, erwiesen sich ideologietheoretische Ansätze (MarMolinero/Stevenson 2006) als sensibilisierendes Konzept besonders hilfreich, da Sprachideologien als soziale Konstruktionen an der (Re-)Produktion und/ oder Transformation von Dominanzverhältnissen beteiligt sind (Kap. 3.2). Als besonders bedeutsam wurden die (R)Einheitsideologie, die Muttersprachenideologie, die Standardsprachenideologie sowie die Nationalsprachenideologie herausgearbeitet (Kap. 3.2.1). Allen Ideologien gemeinsam ist die Konstruktion sprachlich hierarchisierter (unter anderem nationaler und bildungsinstitutioneller) Räume. In diesen Räumen werden ausgewählten Personen und Gruppen, nämlich solchen, die als ›Muttersprachler*innen‹ gelten, die also die Nationalsprache in einer (vermeintlich) ›reinen‹ Form – der Standardvarietät – sprechen, besondere Privilegien zugesprochen. Biographietheoretischen Konzeptionen zufolge ›haben‹ Subjekte nicht einfach eine Biographie: Vielmehr sind Biographien »selektive Vergegenwärtigungen« (Hahn 2000: 101), in denen (auch sprachbezogene) Erfahrungen, Handlungen und Haltungen in einem bestimmten interaktionalen Setting und diskursiv geprägten Raum in eine Ordnung gebracht und mit Sinn versehen werden. Als solche bieten sie auch Zugang zu Wissensordnungen, mit denen
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TEIL IV — Theoretische Reflexion
Subjekte im Laufe ihres Lebens in Berührung kamen und zu denen sie sich ins Verhältnis setzen. Welche Rolle (unter anderem sprachideologische) Wissensordnungen in den biographischen Rekonstruktionen spielen, und wie diese im biographischen Format »aufgegriffen, reproduziert, variiert und transformiert werden« (Dausien 2006: 37), war dabei von besonderem Interesse. Gegenstand der Untersuchung waren die Sprachbiographien von Germanistikstudent*innen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte, die zum Zeitpunkt der Erhebung an einer österreichischen Universität studierten. Die Entscheidung für diesen Gegenstand war mit der Vorannahme verbunden, dass die genannten Student*innen mit zweifach prekären Positionierungen konfrontiert sind: Zum einen handeln sie als Student*innen des Faches Germanistik in einem Raum, in dem die National- und Standardsprache nicht nur Kommunikations- und Bildungssprache, sondern auch Gegenstand akademischer Beschäftigung ist und als solche auf besondere Weise gehütet wird. Darüber hinaus werden sie als zukünftige Deutschlehrer*innen und/oder als Expert*innen für Deutsch in anderen beruflichen Segmenten zu Vertreter*innen von mit Sprache verknüpften sozialen Ordnungen. In ihrer Rolle als zukünftige pädagogische Vermittler*innen der Sprache Deutsch werden sie gleichsam zu Repräsentant*innen der Sprache, womit wiederum Erwartungen und Ansprüche an ›Perfektion‹ und ›Reinheit‹ (vgl. Kap. 9.3, 7.2.3, 7.3.2) verbunden sind, die ihnen in der Position als Migrationsandere zugleich abgesprochen werden. Damit stehen sie gewissermaßen unter Beweisdruck, der sich auch in den Erzählungen gezeigt hat. In dieser prekären Konstellation sind sie in besonderer Weise gefordert, ihre biographischen Erfahrungen mit dem systematisierten und objektivierten Wissen, das an Bildungsinstitutionen gelehrt wird, zu verbinden und biographischen Sinn daraus zu ziehen. Diese biographischen Sinnkonstruktionen haben sowohl die reflexive Funktion, sich in diesen widersprüchlichen Zuschreibungen und Anforderungen als legitimes und handlungsfähiges Subjekt zu erzählen und biographische Kontinuität und Kohärenz herzustellen, als auch sozial anerkennungsfähig zu sein und gegenüber signifikanten Anderen und den institutionellen Kontexten der Universität und des zukünftigen Berufsfeldes zu ›überzeugen‹. Dieser Perspektive folgend wurden die biographischen Erzählungen als »zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzungen« (Schwendowius 2015: 511) der Subjekte zu migrationsgesellschaftlich formierten sprach- und bildungsrelevanten Kontexten verstanden, die in der biographischen Konstruktion zu einer sinnhaften Gestalt verwoben werden. Methodologisch folgte ich einer abduktiven Forschungslogik, die mit einer Verschränkung der Grounded Theory Methodologie (Glaser/Strauss (2010 [1967]) und der biographieanalytischen Methode (Schütze 1983, 1984, 1987; Dausien 2003) umgesetzt wurde (Dausien 1996). Das offene Interviewverfahren biographisch-narrativer Interviews (Schütze 1983, 1987) gibt den Interview-
10. Schlussbetrachtung
ten den größtmöglichen Raum für die eigenen Relevanzsetzungen und ist aus diesem Grund besonders gut geeignet, bisher unbekannte, neue und auch für die Forscherin überraschende Zusammenhänge zu entdecken. Zudem ermöglicht es diese Methode, die Interaktion zwischen den Gesprächspartner*innen nicht als ›Störung‹ zu begreifen, sondern systematisch in die Analyse einzubeziehen (Rosenthal 2014: 140f.). Viele Erkenntnisse, die vor dem Hintergrund der oben genannten theoretischen Konzepte aus dem empirischen Material herausgearbeitet wurden, sind bereits in den Falldarstellungen (Kap. 7-9) ausformuliert worden. In diesem abschließenden Kapitel werden einige übergeordnete Erkenntnisse diskutiert: Zunächst folgt eine Darstellung des theoretisch-methodologischen Ansatzes der Studie, in dem reflektiert wird, welche Perspektiven die Konzeptionalisierung von Sprachbiographien als zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzungen auf sprachliche Bildungsprozesse bietet (Kap. 10.1). Im Anschluss werden transnationale und transgenerationale Dimensionen von Sprachbiographien in Migrationsgesellschaften dargestellt (Kap. 10.2). Danach werden die Bedeutung des (Sprach-)Studiums sowie Professionalisierungsprozesse in den sprachbiographischen Konstruktionen noch einmal reflektiert (Kap. 10.3), und zuletzt wird dargestellt, welche biographisierenden Wirkungen sprachideologische Diskurse an Bildungsinstitutionen in Migrationsgesellschaften entfalten können (Kap. 10.4).
10.1 R efle xion des theoretisch - methodologischen A nsatzes der S tudie und der damit verbundenen K onzep tionalisierung von ›S pr achbiogr aphie ‹ 10.1.1 Sprachbiographien als zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzungen Wie im ersten Teil der Arbeit ausführlich diskutiert, werden unter Bezugnahme auf ›Sprachbiographie‹ unterschiedliche Forschungsansätze verfolgt. Während spracherwerbstheoretische Zugänge die Veränderungen sprachlicher Ressourcen im Verlauf einer festgelegten, zumeist kürzeren Lebensphase und vorwiegend aus einer Außenperspektive betrachten, stellen subjektorientierte Ansätze die Perspektiven der sprachlich Handelnden in den Vordergrund. Innerhalb dieser Ansätze konzentrieren sich sprachbiographische Zugänge auf so unterschiedliche Aspekte wie Spracherleben, Sprachaneignung, sprachliches Repertoire sowie Identitäts- und Zugehörigkeitskonstruktionen (vgl. Kap. 2). Manche linguistisch orientierten Arbeiten verwenden dabei ein eher alltagstheoretisches Konzept von Biographie als quasi-natürlichem Phänomen, das jeder Mensch ›hat‹, und schreiben ›Biographie‹ damit implizit einen onto-
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TEIL IV — Theoretische Reflexion
logischen Status zu. Deshalb ist in entsprechenden Analysen eine Tendenz zur Verdinglichung von ›Sprachbiographien‹ auszumachen, die – so die zugrunde liegende Annahme – mittels eines Aneinanderreihens von Stationen innerhalb der Sprachentwicklung dargestellt werden können. Andere Zugänge reflektieren dagegen durchaus die Konstruktionsbedingungen von Texten und anderer im Forschungssetting produzierter Materialien. In diesen Ansätzen werden weniger die Zeitdimension, sondern eher aktuelle sprachbezogene Positionen der Subjekte, räumliche Dimensionen von Sprache sowie interaktionale Aspekte in den Vordergrund gestellt. Die Analyse der Zeitdimension folgt – auch wenn mit biographisch-narrativen Interviews nach Schütze gearbeitet wird – häufig keiner im engeren Sinne biographietheoretischen Logik.1 All diese in Kap. 2 diskutierten Ansätze haben zu einer beachtlichen inhaltlichen und theoretisch-methodologischen Diversifizierung des Forschungsfeldes ›Sprachbiographie‹ und zu einem regen wissenschaftlichen Austausch beigetragen. Die vorliegende Arbeit verortet sich grundsätzlich innerhalb dieses zuletztgenannten Feldes, zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie Biographien als soziale Konstruktionen begreift und die Bedeutung sprachideologisch strukturierter Bildungsinstitutionen in der Migrationsgesellschaft in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Grundlegend für die soziale Konstruktion von Biographien ist die biographische Erfahrungsaufschichtung als eine »von Subjekten konstruierte Prozeßstruktur im sozialen Raum« (Dausien 1996: 563, Hervorh. N.T.). In dieser Perspektive ›existieren‹ Sprachbiographien nicht losgelöst vom Forschungssetting und von den Handlungsumwelten, mit denen die Subjekte in ihrem bisherigen Leben in Berührung kamen und zu denen sie sich in ein Verhältnis setzen. Sie können auch nicht lediglich als Summation von ›Spracherwerbssequenzen‹ oder von isolierbaren sprachbezogenen Erfahrungen und Haltungen verstanden werden, die mit der eigenen Geburt, mit der ›frühkindlichen‹ Rezeption von Sprache(n) in der sozialen Welt, mit den ersten gesprochenen Worten oder – in biologistischer Engführung – ›im Mutterleib‹ beginnen. Vielmehr handelt es sich bei Sprachbiographien um soziale Konstruktionen, die auch weit über die eigene Lebenszeit hinausreichende Ereignisse (Hahn 2000: 101) sowie das ›ungelebte Leben‹ (Alheit 1995, 2008) mit seinen nicht realisierten oder realisierbaren (sprachlichen) Möglichkeiten einschließen. Dieser theoretischen Perspektive folgend wurden Sprachbiographien als zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzungen (Schwendowius 2015) analysiert. Damit war die Rekonstruktion der Bedeutung von Sprache in den Lebensgeschichten verbunden, die auch als Geschichten wechselnder sozialer Handlungsumwelten verstanden wurden.
1 | Einige Ausnahmen bilden Treichel 2004a, 2004b und Ohm 2004, 2012.
10. Schlussbetrachtung
Nicht in den Blick geraten sind dabei etwa der ›Sprachstand‹ oder aus einer Außenperspektive beobachtbare Besonderheiten der Sprachaneignung während einer bestimmten Lebensphase in der erzählten Zeit. Vielmehr wurde der Blick auf die Frage gelenkt, wie die Subjekte Sprache in ihre Lebensgeschichten einweben und welche Bedeutung sie sprachbezogenen Phänomenen und Prozessen darin zuweisen. Die Rekonstruktion von auf diese Weise konzeptionalisierten (Sprach-)Biographien setzt am Vorhandensein lebensgeschichtlicher Erfahrung an, die einer doppelten Struktur folgt: einerseits der biographischen Perspektive der Subjekte, »in der neue Erfahrungen zu biographisch vertrauten Erfahrungen werden« (Alheit/Hoerning 1989: 15), andererseits den Rahmenbedingungen, die ›im Rücken‹ und manchmal außerhalb der Sichtweite der Binnenperspektive der Subjekte wirksam sind und bestimmte Erfahrungshorizonte konstituieren (ebd.), manchmal aber auch der Reflexion zugänglich sind und zu einem wichtigen Moment der biographischen Sinnkonstruktion und Selbstpositionierung der Subjekte werden können. Die Aufschichtung dieser Erfahrungen führt zu biographischem Wissen, dessen Ordnungsstruktur der Wirksamkeit vielfältiger historischer und sozialer Prozesse folgt (ebd.: 13). Biographisches Wissen steht darüber hinaus in einem laufenden Wechselverhältnis zu »kollektiven sozialen Wissensformen«, wie sie Alheit (1989) beschrieben hat. Für die Rekonstruktion von Sprachbiographien bedeutet dies die theoretische Grundlegung sprachlich interagierender Subjekte, deren sprachliche Erfahrungen und Wissensbestände sich im Lebenslauf aufschichten und die in der sprachlichen Interaktion, konkret: im biographischen Interview, zu einer sinnhaften Ordnung verwoben werden. Aus diesem Grund wurde auch rekonstruiert, wie sich die Interviewpartner*innen in einem Forschungssetting, in dem Interesse an Lebensgeschichten von Germanistik-Student*innen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte geäußert wurde, positionieren. Von besonderer Bedeutung für die Rekonstruktion biographischen Wissens ist die zeitliche Dimension: Biographisch aufgeschichtete Erfahrungs- und Wissensbestände beinhalten sowohl Vergangenes als auch in die Zukunft Gerichtetes. Die temporale Konstruktion individueller Sprachigkeit lässt sich aber nicht auf eine ›Ereignisabfolge‹, etwa die Aneinanderreihung von Sprachlernund -verlernprozessen, den Zuwachs des sprachlichen Repertoires oder die Veränderung von Spracheinstellungen reduzieren. Vielmehr überlagern sich sprachbezogene Erfahrungen, hinterlassen unterschiedlich deutlich ›sichtbare‹ Spuren und werden, von Deutungen zu verschiedenen Zeitpunkten überlagert, aufgeschichtet. Es liegt nahe, dass so entstandene und sich laufend weiter entwickelnde Erfahrungsaufschichtungen (Schütze 1984) über Faktorenmo-
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TEIL IV — Theoretische Reflexion
delle nicht zugänglich gemacht werden können.2 Vielmehr bilden sie das Material, »aus dem die autobiographischen Subjekte (in Interaktion mit anderen) […] ihren eigenen ›biographischen Sinn‹ konstruieren« (Dausien 2017: 101). Der gewählte sozialwissenschaftliche Zugriff macht deutlich, dass ›Sprachbiographien‹ nicht losgelöst von sozialen Konstruktionen von Sprachigkeit zu verstehen sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass es Biographien gibt, die ›typisch‹ für bestimmte Gruppen, etwa ›Österreicher*innen‹, ›nicht-Muttersprachler*innen‹ oder ›Personen, die Türkisch und Deutsch sprechen‹ sind, und die mit diesen Differenzierungen verbundene spezifische Merkmale tragen. Vielmehr sind die Biographien typisch für sozialräumlich auf eine bestimmte Art und Weise positionierte Subjekte. Sprachaneignung erweist sich in dieser Perspektive als vielschichtiger Prozess, der zum Teil von widersprüchlichen Erfahrungen gekennzeichnet ist, und im Laufe dessen sich die Subjekte von unterschiedlichen Sprachideologien geprägte Handlungsumwelten aneignen und sich zu diesen positionieren. Individuen werden in dem von mir verfolgten Konzept also nicht als ›Träger*innen‹ von Mehrsprachigkeit und auch nicht als Repräsentant*innen von sprachlicher Heterogenität betrachtet: Vielmehr wurde in den Erzählungen deutlich, dass sprachliche Vielfalt ein konstitutiver Bestandteil ihrer Lebenswelt(en) ist, den sie mit biographischem Eigensinn versehen. Die Differenzerfahrungen, über die die Subjekte im Zusammenhang mit Sprache berichten, geben Aufschluss über verschiedene Handlungsumwelten, in denen sie sich bisher bewegt haben, und machen Zusammenhänge sichtbar, die in einer auf Sprachstruktur oder andere ›Faktoren‹ gerichteten Perspektive verborgen bleiben würden. Bei der Konstruktion ihrer Biographien orientieren sich die Subjekte an den diese Handlungsumwelten konstituierenden sprachbezogenen sozialen Ordnungen. So verweisen die biographischen Erzählungen auf alltagsweltlich geforderte Eindeutigkeit hinsichtlich der eigenen Sprachigkeit. Konkretisiert wird diese mit Erfahrungen der ›Einsortierung‹ individueller Sprachigkeit in festgelegte und voneinander abgrenzbare Einzelsprachen und mit deren Festschreibung in- oder außerhalb der Grenze zwischen ›muttersprachig‹ und ›nicht-muttersprachig‹. Daneben wurde die Relevanz außersprachlicher sozialer Markierungen deutlich, die in 2 | In der Spracherwerbsforschung sind einige der in diesem Zusammenhang häufig ins Feld geführten Faktoren Alter, Nationalität, ›Erstsprache(n)‹ (häufig im Singular) und sozioökonomischer Status der Eltern, Erwerbszeitpunkt und -dauer, ›Motivation‹, Art des sprachlichen Inputs sowie Art und Dauer des Besuchs von Bildungsinstitutionen. Psychologische Modelle der Textproduktion interessieren sich neben ›internen‹ Faktoren für soziale Beziehungen zu anderen Personen, sozial-fachliche Kontexte, soziale und kulturelle ›Normen‹. Die hier formulierte biographietheoretische Kritik stellt keine grundlegende Ablehnung solcher Forschungszugänge dar, sondern wird als »Anregung zu einer Reflexion des Untersuchungsgegenstandes« (König 2014: 355) verstanden.
10. Schlussbetrachtung
Zusammenhang zur Sprachigkeit gestellt werden, etwa Namen, sichtbare Zeichen einer nicht-christlichen Religion am Körper oder (zugeschriebene) physiognomische Merkmale. Allerdings sind die Subjekte nicht ›Gefangene‹ dieser Ordnungen, sondern stellen diese in Frage und ›stören‹ auf der Basis ihres biographischen Wissens gewohnte Möglichkeiten der Klassifizierung und ›Sortierung‹ von Sprachen und Sprecher*innen. So wurde etwa deutlich, dass Sprachigkeit von den Interviewpartner*innen als flexible Kategorie konstruiert wird. Beispielsweise lässt sich die in-Verhältnis-Setzung von einer Sprache als ›Muttersprache‹ zu einer anderen zum einen auf Veränderungen im Lebenslauf zurückführen, zum anderen aber auch auf spezifische narrative Einbettungen und Argumentationszusammenhänge in der Interviewinteraktion.
10.1.2 Biographien als Zugang zu sprachlichen Bildungsprozessen Eine dieser Arbeit zugrunde liegende forschungsleitende Frage war die Bedeutung von sprachlicher Heterogenität an Bildungsinstitutionen in biographischer Perspektive. Werden Sprachbiographien, wie in Kap. 10.1.1 dargestellt, nicht als ontologische Kategorie, sondern als zeitlich geschichtete VerhältnisSetzungen verstanden, so ermöglichen sie ein Verständnis sprachlicher Lernprozesse in ihrer zeitlichen Logik: Fokussiert man die Überlegungen Schulzes (vgl. 1993: 219; vgl. Kap. 3.1.2) zu curricularem und lebensgeschichtlichem Lernen auf das Lernfeld Sprache, zeigt sich, dass Lernergebnisse in Form von Sprachzertifikaten oder abgeschlossenen Schulstufen und Kursen, die sich an normierten Vorgaben ausrichten und hohe Relevanz für bildungsinstitutionelle Übergänge und die spätere Einmündung in bestimmte berufliche Felder haben, wenig über die Sprachaneignungsprozesse aussagen, die sich hinter diesen Ergebnissen verbergen. In diesem Sinn lassen sich die Positionen der Student*innen sowie ihr sprachliches Repertoire zum Zeitpunkt der biographischen Interviews als Endpunkte »extrem verschiedener Vergangenheiten« (Hahn 2000: 107) lesen. Bezogen auf die von Schulze getroffene Unterscheidung zwischen curricularem und lebensgeschichtlichem Lernen wurde in den Erzählungen deutlich, dass diese nur zum Teil ›getrennt‹ voneinander stattfinden: Je weiter die Biograph*innen in ihrem Gang durch die Bildungsinstitutionen voranschreiten, desto enger werden curriculares mit lebensgeschichtlichem Lernen verwoben. In diesem Sinne lässt sich sprachliches Lernen nicht lediglich als Zuwachs des sprachlichen Repertoires verstehen. Darüber hinaus erlangen die Subjekte zum einen Wissen über Sprachideologien und damit in Verbindung stehende Hierarchisierungen von Individuen und Gruppen in verschiedenen sprachlichen Räumen, unter anderem in Bildungsinstitutionen. Zum anderen erwerben sie umfangreiches Erfahrungswissen über ihre eigene Sprachigkeit und ihren Umgang mit Sprache in diversen Situationen und Kontexten. Diese kom-
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plexen und zum Teil widersprüchlichen ›Lerninhalte‹, zu denen sich die Subjekte auf verschiedene Weise positionieren, erfordern eine laufende Reflexion ihrer eigenen Sprachbiographie und ihrer Involviertheit in die sich in den verschiedenen sprachlichen Räumen ändernden sprachlichen Hierarchien. Ihre Biographizität (Alheit 1995, 2008) ermöglicht es den Subjekten, sowohl Vergangenes als auch in die Zukunft gerichtete Wünsche und Überlegungen zur Gestaltbarkeit eigener Lebensentwürfe immer wieder neu auszulegen (ebd.). So werden sprachbezogene Wissensbestände, die an den Institutionen gelehrt werden, laufend mit biographischen Erfahrungen verknüpft und zu immer neuen sinnhaften Gestalten verwoben. Besonders an den Stellen, an denen das sprachbezogene Wissen der Institutionen schmerzhaft mit den eigenen Erfahrungen und/oder Vorstellungen ›zusammenprallt‹, erweist sich Biographizität als Möglichkeit, das institutionelle Ablaufprogramm sinnhaft mit den eigenen Erfahrungen und Haltungen zu verknüpfen. So gesehen können sprachliche Bildungsprozesse auch als ›Synchronisationsversuche‹ (Alheit 1995: 293) zwischen institutionellen Norm(ierung)en und der Binnensicht der Subjekte begriffen werden. In den erhobenen biographischen Erzählungen wurde eine »Differenz zwischen biographischer Logik und institutioneller Logik« (Dausien et al. 2016: 50) besonders deutlich: Die sprachbezogenen institutionellen Norm(erwartung)en und Normierungen sind in ihrer zeitlichen Logik an bestimmte Lebensphasen und curricular normierte Übergangsstufen geknüpft, die in einem Spannungsfeld zur Entwicklung des sprachlichen Repertoires der Individuen stehen: Die zentralen bildungsinstitutionellen Erwartungen richten sich auf Kompetenzen in der dominanten Bildungssprache Deutsch, die zu bestimmten Lebensaltern und damit an bestimmten bildungsinstitutionellen Übergängen gewährleistet sein müssen und hohe Relevanz für die spätere Einmündung in bestimmte Berufsfelder entfalten. In den erhobenen Daten zeigte sich nicht nur, dass die bildungsinstitutionell vorgezeichneten Sprachaneignungsverläufe häufig von den tatsächlichen Aneignungsprozessen der Individuen abweichen.3 Es wurde ebenso deutlich, dass auch die Erwartungen pädagogisch Professioneller nicht notwendigerweise mit den sprachlichen Kompetenzen der Lernenden übereinstimmen. Subjekte, die als Migrationsandere positioniert sind, machen aus diesem Grund Ausgrenzungs- und Besonderungserfahrungen, die weniger mit ihrem sprachlichen Repertoire als mit dominanten Vorstellungen über Lernende ›mit Migrationshintergrund‹ und über deren sprachliche Erfahrungen und Voraussetzungen in Verbindung stehen. In Bezug auf solche Vorstellungen macht ein biographietheoretischer Blick deutlich, dass Sparsamkeit bei 3 | Dies betrifft natürlich nicht nur die dominante Sprache Deutsch, sondern auch andere biographisch relevante Sprachen der Subjekte, die allerdings in den sprachbiographischen Konstruktionen eine untergeordnete Rolle spielen.
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der Konstruktion von Kausalitäten anzuraten ist: Weder die (zugeschriebene) Sprachigkeit der Subjekte noch bestimmte schulische Wege (etwa der Besuch einer wenig prestigereichen Schulform oder auch Bildungswege in nationalen Kontexten, in denen in Österreich wenig prestigereiche Sprachen gelehrt werden), wirkt sich notwendigerweise negativ auf bildungsinstitutionelle Erfolge aus. Zwar enthalten Erfahrungen von Exklusion und fehlender Anerkennung der eigenen Sprachigkeit erhebliches Verletzungspotential. Allerdings sind die Subjekte nicht Opfer marginalisierender Strukturen, sondern können auch unter erschwerten Bedingungen bildungsinstitutionelle Zugehörigkeit herstellen4 sowie hierarchisierende Verhältnisse in bestimmten Situationen und Konstellationen außer Kraft setzen, um handlungsfähig zu bleiben. In den Bildungsinstitutionen finden parallel zu Exklusionsprozessen häufig Erfahrungen sprachlicher Wirkmächtigkeit statt, die das formale Weiterkommen sichern. Auch sprachbezogene Erfahrungen außerhalb von Bildungsinstitutionen wirken auf vielfältige Weise in die Institution hinein: So können Erfahrungen sprachlicher Handlungsfähigkeit in Handlungsfeldern außerhalb der Bildungsinstitutionen (während des Studiums etwa als Redakteur*in oder Dolmetscher*in) in hohem Maß zur Überzeugung von Selbstwirksamkeit beitragen und wieder in die Bildungsinstitution hineingetragen werden. Allerdings können außerhalb der Institution erfahrene Ausgrenzungen und institutionelle Formen der Abwertung auch zu einer Aufschichtung von Verletzungen führen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass das biographische Interview von einigen Interviewpartner*innen auch dafür genutzt wurde, um sprachbezogene gesellschaftspolitische und/oder bildungsinstitutionelle ›Missstände‹ aufzuzeigen und über Interventions- und Transformationsmöglichkeiten nachzudenken. Neben biographisch-selbsttheoretischen Reflexionen, mittels derer sich die Erzähler*innen in ein Verhältnis zu gesellschafts- und bildungspolitischen Themen setzen, stehen wissenschaftliche Analysen und damit verbundene Positionierungen zu bestimmten theoretischen Zugängen, die sie im Studium kennengelernt haben. Daneben finden sich politische Positionierungen, die sowohl gesellschaftspolitische Themen in Österreich als auch in anderen biographisch bedeutsamen Nationalstaaten betreffen.
4 | Dieser Befund soll allerdings nicht zu einer individualistisch verkürzten Interpretation sozialer Ausgrenzungsprozesse führen.
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10.2 S pr achbiogr aphien als tr ansnational und tr ansgener ational strukturierte K onstruktionen Die Analyse der biographischen Erzählungen hat ergeben, dass es sich bei den Sprachbiographien der Student*innen, die als Migrationsandere positioniert sind, um Konstruktionen handelt, denen eine transnationale und eine transgenerationale Dimension innewohnt, die eng miteinander verschränkt sind. Dieser Befund wird in den folgenden Unterkapiteln zusammenfassend erläutert.
10.2.1 Die transnationale Dimension von Sprachbiographien Linguistische Studien zu Sprachbiographien zeigen, dass Individuen sich in ihren Konstruktionen auf verschiedene nationalstaatliche und regionale sprachliche Räume beziehen (Betten et al. 2000; Busch 2012a; Fix/Barth 2000). König beschreibt neben einer vertikal-hierarchischen eine horizontalzeitliche Strukturierung von Sprachräumen (König 2014: 351), mittels derer ihre Interviewpartner*innen »auch zeitliche Veränderungen bei ihren Spracheinstellungen rekonstruieren« (ebd.). In Anlehnung an Siouti, die Transmigration als »biographischen Entwicklungs- und Transformationsprozess« (Siouti 2013: 210) versteht, der mit der Entstehung transnationaler Biographien einhergeht (ebd.), können die in dieser Arbeit entdeckten Phänomene als transnationale Sprachbiographien beschrieben werden. Dabei handelt es sich um Konstruktionen, die aus im Laufe des Lebens und in unterschiedlichen nationalen und regionalen Kontexten erworbenen sprachlichen Ressourcen, aus sprachbezogenen Erfahrungen und aus dem Wissen über Sprachenordnungen bestehen. Dieses Wissen speist sich aus eigenen Erfahrungen und/oder wird von signifikanten Anderen u.a. auch bildunstinstitutionell, vermittelt. Die biographisch angeeigneten Erfahrungs- und Wissensbestände bilden das transnationale sprachliche Wissen, mittels dessen die Subjekte ihre Biographien konstruieren. Diese Konstruktionen gestalten sich im Einzelfall sehr unterschiedlich: Die sprachenpolitische und -rechtliche Situation in Nationalstaaten oder Regionen, durch die familiale Migrationswege führten,5 sowie die Positionierungen verschiedener natio-ethno-lingualer Gruppen darin spielen in den Familien5 | Während die Migration in einigen Fällen in eine Richtung – nämlich nach Österreich – verlief, sind andere Fälle von komplexen transnationalen Bewegungen Einzelner, ganzer Familien oder von Teilen von Familien gekennzeichnet. In den meisten Geschichten wird auf Eltern, Groß- und -urgroßeltern Bezug genommen. Neben Österreich, anderen dominant deutschsprachigen Regionen sowie den Herkunftsländern oder -regionen verschiedener ›Vorfahren‹ sind auch Nationalstaaten relevant, in denen die Biograph*innen während ihres Studiums für einige Zeit lebten, etwa während eines Auslandspraktikums.
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sprachgeschichten eine zentrale Rolle, vor allem dann, wenn Familien(-mitglieder) von sozialer Marginalisierung betroffen waren und/oder sind.6 Individuelle und kollektive Erlebnisse in diesen gesellschaftspolitischen Strukturen und deren Thematisierung in den Familien entfalten zum Teil erhebliche biographische Wirkung, auch wenn die Erzähler*innen die jeweiligen Länder nur aus Erzählungen kennen. Die transnationalen sprachlichen Räume, in denen die biographische Aneignung und Konstruktion von Sprachigkeit geschieht, sind von Sprachenordnungen strukturiert, die neben der jeweiligen Nationalsprache und den ›Minderheitensprachen‹ auch die jeweilige Standardsprache und Dialekte betreffen. Sprache fungiert in jedem Fall als bedeutsame soziale Differenzierungskategorie, die Zugang zu Rechten, zu sozialem Prestige, zu Bildung sowie zum Arbeits- und Wohnungsmarkt mitstrukturiert. In der familialen Kommunikation und/oder auf dem Weg durch (zum Teil unterschiedliche nationale) Bildungssysteme eigneten sich die Subjekte sprachliche Ressourcen an, die auf unterschiedliche Weise kapitalisiert werden können. Im Anschluss an Bourdieu lässt sich hier von einem transnationalen sprachlichen Kapital sprechen, das in den verschiedenen sprachlichen Räumen unterschiedlich anschlussfähig und kapitalisierbar ist: Während Bestandteile dieses Kapitals in einigen Fällen als Ressourcen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden können, können sie – durchaus auch parallel dazu – Wirkmacht als Differenzierungsmarker entfalten, die das Weiterkommen erschweren. Neben sprachlichen Ressourcen erweisen sich auch Haltungen zu Sprachen als relevant: Aus dem empirischen Material wurden unterschiedliche Varianten von Positionierungen in transnationalen sprachlichen Räumen herausgearbeitet: Neben einer weitgehenden Übernahme dominanter sprachideologischer Positionen aus familienbiographisch bedeutsamen Räumen sowie in Opposition zu diesen stehenden oder diese in Frage stellenden Positionen fanden sich auch ambivalente Positionierungen. Bezüglich der Bedeutung von Migrationswegen für die transnationalen Sprachbiographien konnte gezeigt werden, dass diese mit einer Befreiungsbewegung von natio-ethno-lingualen Einschränkungen verbunden sein können und dass Österreich in dieser Logik als ›offene‹ Gesellschaft konstruiert wird. Die Migration kann aber auch zu Exklusionserfahrungen oder zu einer Aufschichtung bereits erfahrener individueller und/oder kollektiver Exklusionsprozesse führen. Auch in die Zukunft gerichtete Überlegungen zur Mobilität in und zwischen verschiedenen sprachlichen Räumen sind stark an die sprach6 | Dass entsprechende Sprachenordnungen eher von denjenigen thematisiert werden, deren Familien in den Herkunftsländern einer sprachlichen Minderheit angehör(t)en, aber weniger von denjenigen, deren Familien dominant positioniert waren/sind, lässt sich damit erklären, dass die eigene Privilegierung häufig ›unsichtbar‹ bleibt (vgl. Walgenbach/Reher 2016).
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ideologische Strukturierung der jeweiligen Räume und Positionierungsmöglichkeiten darin geknüpft. Zusammenfassend lassen sich Sprachbiographien von in der österreichischen Migrationsgesellschaft lebenden Subjekten nicht als ›abgetrennt‹ von anderen biographisch relevanten sprachlichen Räumen verstehen, sondern sind ihrem Wesen nach transnational. Das Nebeneinander der von zum Teil sehr verschiedenen Ordnungen und Normierungen strukturierten sprachlichen Räume beinhaltet neben Kontinuitäten – etwa der Abwertung von nonStandard-Varietäten über verschiedene Räume hinweg – auch Brüche und Verschiebungen, etwa die Abwertung dominanter Standardvarietäten nach der Migration. Vor dem Hintergrund transnationaler Bewegungen durch von verschiedenen Sprachideologien geprägte sprachliche Räume sind die Positionierungen der Subjekte auf komplexe Weise biographisch geschichtet. Aus diesem Grund können pauschale, an bestimmten Sprachen und/oder (zugeschriebenen) Sprachigkeiten orientierte Typisierungen von Student*innen und Sprachenlernenden der Komplexität der jeweiligen Konstellationen und Bedeutungen nicht gerecht werden. Diese können nur am Einzelfall rekonstruiert werden.7
10.2.2 Die transgenerationale Dimension von Sprachbiographien Sprachbiographien sind nicht nur transnational, sondern auch transgenerational. Dies zeigt sich im Material darin, dass die biographischen Erzählungen in zwei Richtungen über die eigene Lebenszeit hinausweisen: Eine Richtung bilden individuelle und kollektive familiale Erfahrungen, zum Teil vor der eigenen Geburt: Wie in Kap. 7 ausführlich dargestellt wurde, konstruieren die Interviewpartner*innen ihre Sprachbiographien vor dem Hintergrund individueller und kollektiver (sprachbezogener) Erfahrungen innerhalb ihrer Familien, die bis in die vierte Generation zurückreichen, und weisen diesen zum Teil zentrale Bedeutung für ihre bisherigen Sprachaneignungsprozesse und ihre Sprachigkeit zu. Eine besonders bedeutsame Rolle spielen dabei das sprachliche Repertoire der Eltern und weiterer signifikanter Anderer in der Phase der frühen Kindheit: Diese werden in manchen Erzählungen ›vor‹ den Beginn der eigenen Lebensgeschichte gestellt und bilden somit den Rahmen, in den die eigene Biographie eingespannt und vor deren Hintergrund sie erst erzähl- und vermittelbar wird. Hinter familialen Sprachge- und -verboten sowie transgenerationalen Sprachwahl- und -wechselprozessen, die in den Erzählungen rekonstruiert werden konnten, stehen (laien-)sprachdidaktische und strategische Überlegungen er7 | Dies gilt nicht nur forschungsmethodologisch, sondern hat auch Relevanz für die pädagogische Praxis.
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wachsener Bezugspersonen, die auf sprachbezogene Erfahrungen in unterschiedlichen sprachlichen Räumen und Bildungsinstitutionen verweisen. Mit familialen Konstruktionen ›idealer‹ Sprachaneignungsprozesse, die in den biographischen Erzählungen rekonstruiert werden, sind – vor dem Hintergrund familialer Erfahrungen und Wissen zu dominanzkulturellen Sprachenordnungen – vor allem die Aneignung und Verwendung der jeweils gesellschaftlich anerkannten bzw. als höherwertig angesehenen Varietät verbunden. Mit Sprache verbundene biographische Erfahrungen – sowohl eigene als auch diejenigen signifikanter Anderer – in verschiedenen sprachlichen Räumen und das daraus entstandene biographische Wissen lassen sich nicht nur als ›Ablagerung‹ des Erfahrenen verstehen, sondern als dessen »fortlaufende Überarbeitung« (Hoerning 2000: 4), die auch in der Interviewinteraktion geschieht. Somit sind hier transnationale und transgenerationale sprachliche Räume aufs Engste miteinander verschränkt. In eine andere Richtung verweisen Überlegungen zur Weitergabe von Sprache(n) sowie sprachliche Kommunikation mit eigenen Kindern: Wie in Kap. 9.5 gezeigt wurde, setzen sich mehrere Interviewpartner*innen zentral mit Fragen der Weitergabe von Sprachen an eigene Kinder in der österreichischen Migrationsgesellschaft auseinander. Die Frage, welche Sprachen weitergegeben werden sollen, folgt allerdings weder einer ›natürlichen‹ Logik, in der die von den Eltern oder anderen relevanten Bezugspersonen gesprochenen Sprachen wie ›von selbst‹ weitergegeben werden, noch utilitaristisch-rationalen Beweggründen, die sich etwa an einer gesellschaftlichen Verwertbarkeit besonders prestigereicher Sprachen orientieren und in Verbindung damit weniger prestigereiche Sprachen ›aufgeben‹. Vielmehr sind die Überlegungen von Aufschichtungen biographischer Erfahrungen und biographisch angeeigneten Haltungen durchdrungen und eng an Vorstellungen einer ›idealen‹ Gesellschaft geknüpft. Die Erzählungen derjenigen Interviewpartner*innen, die bereits eigene Kinder haben, belegen, dass familiale Sprachpraktiken sich in Auseinandersetzung mit Erfahrungen in der eigenen Kindheit und mit gesellschaftlichen und institutionellen Hierarchisierungen von Sprachen und Sprecher*innen in unterschiedlichen Räumen laufend neu gestalten und weiterentwickeln. Aber auch Interviewpartner*innen, die (noch) keine eigenen Kinder haben, berichten zum Teil ausführlich über in die Zukunft gerichtete Überlegungen für die Weitergabe von Sprachen und die Gestaltung familialer Kommunikation. Natürlich transformieren sich diese Überlegungen, Überzeugungen und Pläne nicht notwendigerweise in reale Handlungspraxen. Allerdings werden in ihnen utopische Momente sichtbar, die sich zum einen auf die individuelle Aneignung mehrerer Sprachen auf Seiten zukünftiger Kinder richten, zum anderen auf eine hinsichtlich sprachlicher Heterogenität ›bessere Gesellschaft‹. Die Imagination eigener Kinder, die mehr als eine Sprache wie selbstverständlich
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auf einem sehr hohen Niveau sprechen, ist allerdings nicht – in psychologisierender Engführung – als intergenerationale Behebung eines ›Makels‹ zu verstehen, der hinsichtlich der eigenen, möglicherweise als defizitär erlebten Sprachigkeit empfunden wird. Vielmehr sind damit gesellschaftspolitische Überlegungen zum Erhalt von in der Migrationsgesellschaft marginalisierten Sprachen verbunden. Diese stellen biographische Distanzierungsbewegungen von der selbst erlebten Marginalisierung nicht-dominanter Sprachen in der Herkunftsfamilie dar und sind mit einer kritischen Perspektive auf gesellschaftliche Hierarchisierungsprozesse verbunden. Ein weiterer relevanter Aspekt, der in den Erzählungen über Sprachweitergabe beobachtet werden kann, betrifft die Dimension Gender. In den Erzählungen werden hauptsächlich weibliche Figuren als für Sprachaneignungsverläufe bedeutsam charakterisiert. Konkret sind es zumeist Mutterfiguren, die als sprachliche Vorbilder genannt werden: Die Vorbildwirkung betrifft sowohl deren sprachliches Repertoire als auch deren erfolgreiche und vorbildhafte Sprachaneignungsverläufe. Ganz explizit werden in zwei Erzählungen Väter als sprachlich ›Unterlegene‹ charakterisiert, und zwar einmal in Bezug auf die in der Migrationsgesellschaft und einmal in Bezug auf die in der Herkunftsgesellschaft dominante Sprache. Neben den sprachlichen Repertoires der Eltern werden Mütter – mit allen damit verbundenen Ambivalenzen – als treibende Kräfte für Bildungsaufstiege vor und in der Migration charakterisiert, die jeweils untrennbar mit dem Erlernen der dominanten Sprache verknüpft sind. Neben Müttern werden andere Frauen aus dem sozialen Nahbereich, etwa Nachbarinnen, genannt, die Sprachaneignungsverläufe der Biograph*innen mitbestimmten. Die Konstruktion einer auf Sprache spezialisierten Mutterfigur setzt sich auch im Sprechen über die Weitergabe von Sprache(n) an eigene Kinder fort. Auch wenn sich grundsätzlich alle im Sample vertretenen Interviewpartner*innen Gedanken über dieses Thema machen, verweisen die Erzählungen derjenigen Studentinnen, die bereits eigene Kinder haben, darauf, dass die Rolle der für Sprache Verantwortlichen in vergeschlechtlichter Form generational weitergegeben wird. Die in den Erzählungen präsentierten Bilder von Eltern und anderen Erwachsenen entsprechen so in idealtypischer Weise sprachbezogenen Geschlechtertypisierungen (vgl. kritisch: Schmenk 2002), mit denen die Interviewpartner*innen in ihrer Alltagswelt und möglicherweise auch an der Universität in Berührung kamen.
10. Schlussbetrachtung
10.3 S pr achbiogr aphische K onstruktionen nicht - dominant positionierter G ermanistikstudent *innen und zukünftiger P rofessioneller im K onte x t G ermanistik Zu den Fragen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, gehören die sprachbiographischen Konstruktionen nicht-dominant positionierter Germanistikstudent*innen in der Migrationsgesellschaft und in der Interviewinteraktion sowie die Bedeutung des Studiums Germanistik in der sprachbiographischen Konstruktion (vgl. Kap. 1 und Kap. 6). Das Feld, in dem das empirische Material erhoben wurde, ist somit von für die Konstruktion von Sprachbiographien spezifischen Bedingungen gerahmt. Auf die sich daraus ergebenden Spezifika der erhobenen Erzählungen wird in den folgenden Unterkapiteln eingegangen.
10.3.1 Zur Bedeutung des (Sprach-)Studiums in den sprachbiographischen Konstruktionen Es wurde deutlich, dass die Aufnahme eines (Sprach-)Studiums auf unterschiedliche, sehr individuelle Weise mit biographischen Erfahrungen und biographischem Wissen über Sprachen verknüpft sein kann: Bei einigen der Student*innen lässt sich Germanistik als Studium rekonstruieren, das eine engere biographische ›Passung‹ mit einer Sprache, die ihnen zumeist als ›Zweitsprache‹ zugeschrieben wird, herzustellen vermag und im Laufe dessen die eigene Positionierung innerhalb vorgefertigter Kategorisierungen wie etwa ›Muttersprache‹ und ›Zweitsprache‹ zunehmend brüchig wird (9.2.2). Mehr als der Studiengegenstand kann der Studienort relevant sein: so wurde in zwei Erzählungen deutlich, dass die Aufnahme eines Studiums in Österreich mit einer Ablösungs- und Befreiungsbewegung von einem als beengend empfundenen familialen und regionalen Kontext verbunden war (vgl. Kap. 7.2.4 und 7.3.2). In einem anderen Fall wurden die Kenntnisse in der ›Herkunftssprache‹ von den Eltern als Kapital für ein Translationsstudium ins Feld geführt; diese erwiesen sich allerdings als weniger anschlussfähig als angenommen, da die bildungssprachlichen Anforderungen im Studium überraschend hoch waren (9.2.2). Ein sehr komplexes Bild zeigte sich in einem Fall, in dem eine für die Biographin sprachenpolitisch unbefriedigende Situation im Herkunftsland ihres Urgroßvaters als Begründung für ein Sprachstudium angeführt wurde. Dies war mit dem Ziel verbunden, sich mit Menschen aus dem entsprechenden Land, in dem aktuell Russisch die dominante Sprache ist, besser verständigen zu können. Auch wenn niemand aus der Familie jemals Russisch sprach, erweist sich diese Sprache aufgrund der komplexen Migrationsgeschichte, die von der Biographin bis in die vierte Generation zurück rekonstruiert wird, und der eigenen Positionierung darin als biographisch hoch relevant (vgl.
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Kap. 9.3.4). In einem Fall führten die Kenntnisse in der dominanten Sprache Deutsch zu einem Fachwechsel von Französisch zu Germanistik. Das Germanistikstudium wird von der betreffenden Student*in als leichter studierbare Variante konstruiert; die ihr zugeschriebene ›Zweitsprache‹ zeigt sich somit als Kapital (9.5.1). Bezogen auf die Inhalte der jeweiligen Studiengänge wurde deutlich, dass manche Studieninhalte als Ressourcen genutzt werden, um sich mit biographisch relevanten Fragen auseinanderzusetzen und um die eigene Sprachgeschichte besser zu verstehen und biographisch zu bearbeiten. Dies scheint vor allem innerhalb bestimmter Lehrveranstaltungen im Fach Germanistik, in denen sprachliche Heterogenität in Migrationsgesellschaften thematisiert wird, der Fall zu sein. Manche dieser Inhalte erwiesen sich als äußerst anschlussfähig an biographische Erfahrungs- und Wissensbestände der Student*innen. Dies kann dazu führen, dass sich die Student*innen in den Lehrveranstaltungen als besonders kompetent wahrgenommen bzw. adressiert fühl(t)en, kann aber auch andere Effekte haben. Die Erzählungen lassen die These zu, dass kritische Zugänge zu sprachlicher Heterogenität in Migrationsgesellschaften Ressourcen darstellen können, um Marginalisierungserfahrungen und die eigene Positionierung in der Migrationsgesellschaft theoretisch zu reflektieren. Damit entstehen zugleich Möglichkeitsräume, um eine Transformation gesellschaftlicher Hierarchisierungen auszuloten. Umgekehrt wird aber auch sprachliches und biographisches Wissen in das Studium hineingetragen, das sich als unterschiedlich anschlussfähig an wissenschaftliche Theorien erweist und mit dem Theoriebestände auch in Frage gestellt werden können. Mit Blick auf das Forschungssetting, in das die Interviewinteraktion eingebunden ist, lässt sich als ein Befund hervorheben, dass das biographische Interview von den Student*innen auch genutzt wird, um die eigene (Sprach-)Geschichte als Argument gegen gesellschaftlich und akademisch wirkmächtige Positionen zu erzählen, in denen die Sprachigkeit von migrantisch positionierten Individuen und Gruppen häufig als prinzipiell defizitär beschrieben und deren Eignung für bestimmte berufliche Handlungsfelder in Frage gestellt wird. Darüber hinaus wurde deutlich, dass trotz der Herausforderungen, mit denen die Biograph*innen im Germanistikstudium konfrontiert sind, das Studium als weniger stark hierarchisiertes Feld beschrieben wird als die Schulen, die die Subjekte zuvor durchliefen. Vergleichbare Befunde in ihrer Studie erklärt Schwendowius damit, dass Lernende »in der Universität anders adressiert und positioniert werden, […] nämlich als selbstverantwortliche Individuen« (Schwendowius 2015: 516). Ihre These, »dass sich Ausgrenzungsprozesse und -erfahrungen im universitären Kontext subtiler und ›weicher‹ gestalten, sofern die formalen Zugangshürden zum Studium einmal überwunden sind« (ebd.), lässt sich mit der vorliegenden Studie bestätigen.
10. Schlussbetrachtung
10.3.2 Professionalisierungsprozesse in den sprachbiographischen Konstruktionen Eine der Vorannahmen dieser Studie war, dass die Student*innen, deren Lebensgeschichten erhoben wurden, nicht nur aufgrund ihres Status als Migrationsandere prekär positioniert sind, sondern auch, weil sie mit ihrem Studium die Berechtigung für eine professionelle Lehrtätigkeit im Kontext der Nationalsprache Deutsch erwerben und somit zu Vertreter*innen der nationalen Sprachenordnung werden. Die Interviews haben deutlich gemacht, dass ihnen diese Legitimation häufig abgesprochen wird. In Zusammenhang damit kommen implizite Exklusionsmechanismen zum Tragen, die den beruflichen Horizont als Deutschlehrer*in betreffen, etwa häufig geäußerte Überraschung über ›gute Deutschkenntnisse‹ oder Fragen nach der Motivation für ein Deutschstudium. Daneben werden ganz explizit sprachbezogene Ausschlussgründe ins Spiel gebracht, von denen nicht nur als Migrationsandere positionierte Student*innen betroffen sind, sondern auch Dialektsprecher*innen. Die Erzählungen machen deutlich, dass die Student*innen trotz und neben diesen Ausgrenzungserfahrungen auch Erfahrungen sprachlicher Wirksamkeit machen, mit deren Hilfe es ihnen möglich wird, biographischen Sinn aus ihrem Studium zu ziehen. Im Unterschied zu anderen Studien, die neben den angesprochenen Exklusionsmechanismen auch die Erfahrung von Zuschreibungen einer besonderen Eignung für eine professionelle Tätigkeit an Schulen in Migrationsgesellschaften hervorheben (Akbaba et al. 2013; Akbaba 2017; Schwendowius 2015), waren solche Erfahrungen in der vorliegenden Studie nur sehr vereinzelt und am Rande aufzufinden und bezogen sich nicht auf zugeschriebene sprachbezogene Eignungen.8 Dies könnte sich als Hinweis auf die besondere Wirkmacht sprachideologischer Rahmungen von Professionalisierungsdiskursen lesen lassen, innerhalb derer besondere Eignungen aufgrund (vermeintlicher) natio-ethno-kultureller Erfahrungen und ›Passungen‹ zugeschrieben werden, die aber eine Vereinbarkeit migrationsbedingter Sprachigkeit mit der Nationalsprache nicht zulassen. Obwohl diesbezügliche Zuschreibungen und Erwartungen signifikanter Anderer in den Interviews nicht direkt rekonstruiert werden konnten, fanden sich zahlreiche Hinweise auf Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Student*innen in Hinblick auf eine zukünftige pädago8 | In der Erzählung von Günnur Duman (16/41-17/16) findet sich beispielsweise eine Passage, in der sie schildert, wie sie im Rahmen einer Hospitation während eines Unterrichtspraktikums vom betreuenden Lehrer völlig unvorbereitet als ›Expertin‹ adressiert wurde, die den Schüler*innen ad hoc erklären soll, warum viele muslimische Frauen ein Kopftuch tragen. Die damalige Situation wird von der Erzählerin retrospektiv sehr ambivalent bewertet.
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gische Tätigkeit im Kontext sprachlicher Heterogenität. Diese beziehen sich allerdings weniger auf eine besondere sprachliche Performanz in der dominanten Sprache als auf einen reflektierten Umgang mit sprachbezogenen Zuschreibungen in Migrationsgesellschaften.9 Daneben wurde in den biographischen Erzählungen deutlich, dass die institutionalisierten und objektivierten Wissensbestände, die für die Professionalisierung als Deutschlehrer*innen relevant sind, auf vielschichtige Weise mit biographischen Erfahrungen verknüpft werden. Die unterschiedlichen Perspektiven, die in den biographischen Erzählungen eingenommen werden, nämlich diejenige des ›erzählten Ich‹ in der erzählten Zeit und diejenige des ›erzählenden Ich‹ in der Erzählzeit machen besonders eindrucksvoll deutlich, wie Erfahrungen in der erzählten Zeit laufend umgedeutet und umgeformt werden. Dabei wurde einerseits deutlich, dass selbst erfahrene oder am Beispiel Anderer erlebte Ausgrenzungen nicht selbstverständlich zu einer differenzsensiblen und linguizismuskritischen Haltung führen, und dass eigener Bildungserfolg auch zu Entsolidarisierung und einer Verstärkung abwertender Haltungen gegenüber als ›bildungsfern‹ konstruierten Individuen oder Gruppen führen kann.10 Andererseits zeigte sich aber auch, dass schulische Exklusionserfahrungen, die aus der Perspektive des ›erzählten Ich‹ als besonders erniedrigend erlebt wurden, in der Erzählzeit und aus der Perspektive einer zukünftigen Lehrer*in als Sinnquellen und Ressourcen interpretiert werden, die den Blick für Exklusionsmechanismen schärften und dazu beitragen, das Vermeiden von Ungleichstellungen und Ausgrenzungen als wesentlichen Bestandteil in das zukünftige pädagogische Handeln zu integrieren. Neben der Weitergabe von Sprachen an eigene Kinder wird auch die zukünftige Weitergabe von Sprache(n) im Kontext von Bildungsinstitutionen thematisiert. Dabei zeigt sich eine besondere Relevanz biographischer Erfahrungen im Umgang mit Mehrsprachigkeit und mit sprachlicher Heterogenität in Institutionen. Diese werden in den Erzählungen nicht einfach ›aneinandergereiht‹, 9 | Milan Pavić etwa schreibt sich aufgrund seiner Fremdwahrnehmung als ›Migrant‹ von Seiten seiner DaZ-Schüler*innen eine Vorbildwirkung hinsichtlich seiner guten Deutschkenntnisse zu (Interviewtranskript M.P. 17/23-36). Ece Erbay hingegen ist aufgrund ihrer Erfahrungen an verschiedenen Schultypen (Hauptschule und Gymnasium) davon überzeugt, später an einer Schule mit einem hohen Anteil an Schüler*innen ›mit Migrationshintergrund‹ (Interviewtranskript E.E. 12/25) neben der Wissensvermittlung auch eine beratende Funktion hinsichtlich möglicher Bildungswege im hierarchisch gegliederten Schulsystem wahrnehmen zu können und der Diskriminierung von Schüler*innen ›mit Migrationshintergrund‹, denen aufgrund ihrer (zugeschriebenen) Sprachigkeit manche Bildungswege verschlossen werden, entgegenzuwirken (ebd.: 12/1513/30). 10 | Für vergleichbare Befunde vgl. Schwendowius 2015: 527f.
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sondern auf komplexe Weise mit institutionalisierten Wissensbeständen verknüpft und aufgeschichtet. Dabei lassen sich in den Erzählungen utopische Momente hinsichtlich einer gerechteren Bildungslandschaft finden. Diese zeigen sich zum einen im Bestreben, einer Hierarchisierung von Schüler*innen entlang sprachlicher und natio-ethno-religio-kultureller Differenzierungslinien entgegenzuwirken, die ›am eigenen Leib‹ erfahren oder am Beispiel anderer miterlebt wurde und die in sozialen Kontexten außerhalb der Schule nach wie vor wirksam ist. Eine (zukünftige) Tätigkeit als Deutschlehrerin wird innerhalb dieser migrationsgesellschaftlichen Rahmung als Möglichkeit sichtbar, über sprachliche, natio-ethno-religio-kulturelle und/oder individuelle Grenzen hinweg kommunikative Räume zu schaffen, die neue Begegnungen und Sichtweisen auf Gesellschaft und das eigene Involviertsein darin ermöglichen.
10.4 B iogr aphisierung im K onte x t spr achideologischer D iskurse an B ildungsinstitutionen in M igr ationsgesellschaften Um die Positionierungen der Student*innen in germanistischen Studiengängen der Migrationsgesellschaft zu verstehen, müssen diese Studiengänge als von Sprachideologien mitstrukturierte und an der Legitimierung und Perpetuierung machtförmiger Beziehungen zwischen sozialen Gruppen beteiligte Räume (Kap. 3.2.3) verstanden werden. Auch wenn der tertiäre Bildungssektor in den letzten Jahren eine beträchtliche Heterogenisierung erfuhr, gehen mit der ›Öffnung‹ von Hochschulen für zuvor exkludierte Gruppen von Student*innen neue soziale Grenzziehungen einher (Dirim 2013; Gutiérrez Rodríguez et al. 2016; Pfaff-Czarnecka 2017). In diesem Kontext wird betont, dass eine »Zurschaustellung von Vielfalt« (Pfaff-Czarnecka 2017: 14), wie sie häufig in der Außendarstellung von Hochschulen zu finden ist (Gutiérrez Rodríguez et al. 2016: 168), Ungleichstellungen von Student*innengruppen eher unsichtbar macht als zu deren Verminderung beizutragen. Neben verschiedenen anderen Heterogenitätsdimensionen (etwa natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Gender, Klasse und Behinderung), die im Zentrum diesbezüglicher Überlegungen stehen, erweist sich auch Sprache als bedeutendes Differenzierungsmerkmal. Student*innen, die nicht-dominanten Sprachgruppen angehören oder von denen dies angenommen wird, stehen aus diesem Grund besonders in der Gefahr, von Exklusionsmechanismen und Diskriminierung betroffen zu sein. Die erhobenen biographischen Erzählungen machen deutlich, dass im Fall der betroffenen Student*innen weniger deren faktische transnationale sprachliche Ressourcenlagen zu einer fehlenden Passung mit institutionellen Erwar-
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tungen führen. Vielmehr sind es sprachbezogene Zuschreibungen, in denen Phantasien zum sprachlichen Repertoire und zu den sprachlichen Bildungswegen der Student*innen deutlich werden, die manchmal in erheblichem Widerspruch zu deren Erfahrungen und Selbsteinschätzungen stehen. Diese Phantasien sind vor dem Hintergrund sprachideologischer Konzepte (vgl. Kap. 3.2.1) erklärbar, denen zufolge nur Individuen und Gruppen, die über bestimmte soziale Merkmale verfügen, als ›muttersprachig‹ anerkannt werden. Bei der Konzeption dieser Arbeit wurde aus diesen Gründen davon ausgegangen, dass die Student*innen, deren Sprachbiographien erhoben wurden, im Germanistikstudium besonders viel biographische Arbeit investieren müssen, da sie zum einen als Migrationsandere positioniert sind, und zum anderen als so positionierte Student*innen mit dem Abschluss eines entsprechenden Studiengangs die Berechtigung erwerben, die Sprache weiterzuvermitteln oder in anderen beruflichen Feldern als Expert*innen für Deutsch tätig zu werden. Die Analysen des empirischen Materials haben ergeben, dass in diesen sprachlichen Räumen ›Perfektion‹ in Deutsch als Distinktionskriterium gilt, und dass die Student*innen darin laufend um eine ›gleichberechtigte‹ Positionierung kämpfen und/oder ein ›Erkanntwerden‹ der eigenen oder familialen Migrationsgeschichte(n) befürchten müssen (vgl. Kap. 9). Die Frage von Anerkennung ist im Feld Germanistik jedenfalls zentral mit der Konstruktion von ›perfektem‹ Deutsch verbunden. Die von diesbezüglichen Normen geprägten Skalen und Abstufungen werden umso differenzierter, je näher jemand an ›perfektes‹ Deutsch herankommt und damit eine Position einnehmen könnte, die sie/ihn der Gemeinschaft der ›Muttersprachler*innen‹ zugehörig machen würde (vgl. Kap. 9.5). Neben gesellschaftspolitisch und bildungsinstitutionell wirkmächtigen Sprachideologien, innerhalb derer die Student*innen handeln, wurde auch der interaktive Kontext des Interviews in die Analyse miteinbezogen: Da neben den Interviewpartner*innen auch die Interviewer*in in die besprochenen sozialen Welten involviert ist, müssen die Erzählungen vor dem Hintergrund der Beziehungsgeschichte und des interaktionalen Settings betrachtet werden (vgl. Kap. 4 und 5). Dabei wurde deutlich, dass sich die Biograph*innen nicht nur an einem »bei der Interviewerin antizipierten Wissen« (König 2014: 347) über sprachliche Heterogenität oder über bestimmte Sprachen orientieren. Darüber hinaus verweisen ihre Beiträge darauf, dass es die beschriebenen sprachlichen Ordnungen und die Positionierungen der Biograph*innen und der Interviewerin darin auf besondere Weise erfordern, den »Sprung zwischen Herkunft und späterem Lebensschicksal« (Hahn 2000: 111), konkret: den Sprung zwischen der Herkunft aus einer Familie mit Migrationsgeschichte und der aktuellen Position als Germanistikstudent*in und zukünftige Expert*in für Deutsch, zu erläutern:
10. Schlussbetrachtung
Insgesamt entfaltet das Germanistikstudium eine starke biographisierende Wirkung: Die soziale Wirksamkeit sprachideologischer Normen hält die betroffenen Subjekte kontinuierlich auf Distanz und stellt ihre legitime Position als Sprecher*innen und als zukünftige Sprachmittler*innen laufend in Frage, was eine kontinuierliche biographische Bearbeitung der eigenen Positionierung am Rand der Norm erfordert. Diese spezifischen Anforderungen an die eigene Selbstthematisierung führen zu einer Legitimierungslogik, der zufolge sich die Subjekte im Studium und auch in der Interviewinteraktion als ›muttersprachig‹ oder ›nahezu muttersprachig‹ entwerfen (müssen). Die Sprachideologien werden also biographisch bearbeitet, indem die eigene Lebensgeschichte ins Verhältnis zur dominanten Sprache gesetzt wird. In den biographischen Interviews zeigt sich dies daran, dass nicht-dominant positionierte Student*innen ihr eigenes Deutsch und dessen Gewordenheit auf eine spezifische Art und Weise thematisieren, nämlich in einer möglichst engen Verzahnung und als eine bis an den Anfang der eigenen Lebensgeschichte zurückreichende Verbindung mit dieser Sprache (vgl. auch Kap. 7.2.1). Die Verbindung mit der dominanten Sprache wurde in drei biographisch relevanten Phasen (vgl. Kap. 7-9) auf unterschiedliche Weise sichtbar: Die (sprachlichen) Verhältnisse, von denen die kindlichen Lebenswelten (Kap. 7) strukturiert waren, wurden in manchen Erzählungen sehr detailreich geschildert. Dies lässt sich vor dem Hintergrund der hohen Relevanz erklären, die der Sprachigkeit der Subjekte in ihrem aktuellen und zukünftigen Handlungsumfeld zukommt. Hinsichtlich der eigenen Deutschaneignungsgeschichte lassen sich verschiedene Formen legitimatorischer Erzählungen identifizieren: Zum einen werden ›Lücken‹ in der eigenen Geschichte mit Deutsch, die aufgrund von Migrationsbewegungen (oder, in einer späteren Phase, von Schulwechseln) entstanden, als Legitimation für subjektiv empfundene ›Mängel‹ im sprachlichen Repertoire ins Spiel gebracht, zum anderen werden besonders ›leichte‹ und problemlose Deutschaneignungsweisen in der frühen Kindheit betont. Darüber hinaus können Geschichten, in denen eine bis weit vor den Beginn der eigenen Erinnerung zurückreichende Verbindung mit Deutsch erzählt wird, ebenfalls als legitimatorische Erzählungen gelesen werden, da sie eine ›lückenlose‹ Verbindung mit Deutsch und somit eine als ›muttersprachig‹ typisierten Individuen und Gruppen gegenüber ebenbürtige Positionierung ermöglicht, mit der eine zukünftige Tätigkeit als Deutschlehrerin begründet werden kann. In den Erzählungen über die biographische Phase der Schulzeit (Kap. 8) setzt sich diese In-Verhältnis-Setzung zur Sprache Deutsch fort: Mittels Normalisierungsstrategien weisen die Erzähler*innen potentielle Vorannahmen der Interviewerin zu migrationsspezifischen sprachlichen ›Problemen‹ im Kontext Schule zurück, etwa, indem sie bildungsinstitutionelle Übergänge als mit dominant positionierten Kolleg*innen geteilte Erfahrungen konstru-
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TEIL IV — Theoretische Reflexion
ieren, potentielle Vorannahmen der Interviewerin zu damaligen ›Problemen mit Deutsch‹ zurückweisen und auf entsprechenden Annahmen beruhende pädagogische Handlungsweisen damaliger Lehrer*innen in Frage stellen oder kritisieren. Daneben werden auch mögliche Vorstellungen zu häufig als ›bildungsfern‹ konstruierten Eltern zurückgewiesen. Erzählungen über sprachbezogene Probleme relevanter Anderer, etwa von Geschwistern oder Kolleg*innen, während der Schulzeit, ermöglichten es, diese implizit in Kontrast zur eigenen sprachbezogenen ›Passung‹ zur Schule zu stellen und gleichzeitig Kritik an institutionell wirksamen Sprachenordnungen zu artikulieren. In den Rekonstruktionen der Bedeutung von Sprache im sozialen Raum Schule konnte mehrfach ein (sprach-)wissenschaftlich interessierter Blick auf Vergangenes identifiziert werden, der auf das Studium der Germanistik als bedeutsamen Kontext verweist. Wissenschaftliche Theorien oder Theoriefragmente werden einerseits als Erklärungsressourcen für die eigene Sprach- und Bildungsgeschichte verwendet, biographische Erzählungen werden allerdings auch verwendet, um wissenschaftliche Befunde in Frage zu stellen. Auf diese Weise sind in den Erzählungen Vergangenheits- und Gegenwartsperspektiven vielschichtig miteinander verwoben, und in den retrospektiven Kommentierungen damaliger Geschehnisse werden (selbst-)reflexive Haltungen der Subjekte zu ihren (Bildungs- und Sprach-)Geschichten einerseits und zur Interviewinteraktion andererseits deutlich. In der biographischen Phase der Studienzeit (Kap. 9) wird das Verhältnis zur dominanten Sprache doppelt prekär, da nicht nur die legitime Position als Germanistikstudent*in, sondern auch diejenige als zukünftige Deutschlehrer*in und/oder Expert*in für Deutsch beständig in Frage gestellt wird. Die erhobenen Daten machen deutlich, dass institutionalisiertes und objektiviertes Wissen zu Sprache(n) und sprachlicher Heterogenität manchmal in einem starken Spannungsverhältnis zu biographischem Wissen steht. In diesem Kontext zeigte sich das systematisierte schulische und akademische Wissen zu sprachlichen Normen, zu Sprachaneignungsprozessen sowie zu migrationsbedingter sprachlicher Heterogenität als äußerst relevant.11 Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen und zum Teil in Widerspruch zueinander stehenden Wissensordnungen in auf unterschiedliche Weise sprachlich hierarchisierten und von Sprachideologien durchdrungenen Kontexten machte deutlich, dass es auch die Bereitschaft gibt, bereits angeeignetes sprachbezogenes Wissen in Frage zu stellen, zu verwerfen oder zu überarbeiten. Dies wird etwa dort deutlich, wo Student*innen im Verlauf ihres Studiums Distanzierungsbewegungen zu sprachideologischen Konzepten vollziehen, etwa, indem sie naturalistische Konstruktionen von ›Muttersprache‹ oder ›Standardsprache‹ explizit in Frage stel11 | Das schulische und das akademische Wissen bauen nicht notwendigerweise aufeinander auf, sondern stehen auch in Widerspruch zueinander.
10. Schlussbetrachtung
len oder kritisieren. In diesem Sinne lässt sich studentisches Handeln nicht nur als ›Erlernen‹ von in Lehrveranstaltungen präsentierten Inhalten oder durch die Übernahme und Ausführung curricular und pädagogisch gesetzter Normen, Regeln und Handlungsrichtlinien erklären, denen immer auch eine sprachliche Dimension zugrunde liegt. Studentisches Handeln ist vielmehr von einem durch biographische Eigenlogik geprägten Umgang mit verschiedenen, zum Teil auch widersprüchlichen (sprachbezogenen) Wissensordnungen, sozialen Erwartungen und in die Zukunft gerichteten Hoffnungen und Überlegungen geprägt. Die Subjekte investieren auf ihren von konkurrierenden sprachbezogenen Wissensordnungen strukturierten Bildungswegen biographische Arbeit. Als »gestaltende Haltung« (Schütze 2014: 124) gegenüber Problemen und Entfaltungspotentialen ermöglicht es ihnen diese, am Studienfach teilzuhaben und sich im akademischen Umfeld und als angehende (Deutsch-)Lehrer*innen positionieren zu können. Auch wenn Positionierungsmöglichkeiten in diesem Kontext prekär bleiben, sind die Subjekte heteronomen Bedingungen nicht ausgeliefert. Die Erfahrungen mit und das Wissen über in Zusammenhang mit Sprache(n) wirkmächtigen Exklusionsmechanismen an Bildungsinstitutionen in der Migrationsgesellschaft wirken nicht nur begrenzend. Sie eröffnen auch Möglichkeiten, Sprachaneignungs- und Bildungsprozesse mit Eigensinn zu versehen und bildungsinstitutionell wirkmächtige sprachbezogene Normen in Frage zu stellen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die akademische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen theoretischen Bezügen aus der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung, der Sprachdidaktik und der Migrationspädagogik: Diese ermöglicht eine laufende Reflexion von in der Kindheit erlebten Umgangsweisen mit Sprache(n), von gesellschaftlich und politisch wirkmächtigen Fragen zu Sprache(n) in Migrationsgesellschaften sowie von in der Interaktion mit eigenen Kindern bereits angeeigneten sprachlichen Mustern. Das Studium lässt sich somit auch als laufende Bearbeitung sozialräumlicher Positionierung verstehen, die auch mit Blick auf eine spätere Berufseinmündung relevant ist. Gerade die immer wieder auftauchenden gesellschaftspolitischen Diskussionen um ein Kopftuchverbot an österreichischen Schulen (Leitner 2015; Mittelstaedt 2017) zeigen, wie real die Befürchtungen derjenigen Studentinnen sind, deren Status als Deutschlehrerinnen am meisten in Frage steht.
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Anhang
Kurzbiographien
Die Kurzbiographien dienen dem Überblick über die zwölf biographischen Erzählungen. Sie stellen eine Kurzdarstellung zentraler lebensgeschichtlicher Ereignisse dar. Den unterschiedlichen Darstellungsweisen und inhaltlichen Gewichtungen der Erzählungen entsprechend, werden auch in den Kurzbiographien unterschiedliche Daten angeführt. Auch die unterschiedliche Länge und Dichte der Interviews ist in den Kurzbiographien abgebildet. Auf eine Interpretation wird – bei gleichzeitiger Betonung, dass keine Form von ›Objektivität‹ angestrebt wird bzw. erreicht werden kann – verzichtet.1 Die Kurzbiographien sind anonymisiert und alphabetisch geordnet. Alime Alpaslan Alime Alpaslan wird 1985 in A-Stadt geboren. Zum Interviewzeitpunkt ist sie 28 Jahre alt und lebt in einer gemeinsamen Wohnung mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern, von denen eine etwa ein Jahr älter und eine zehn Jahre jünger ist. Alime Alpaslan studiert Germanistik und Geschichte Lehramt und arbeitet als Redakteurin bei einer Zeitung in A-Stadt. Die Großväter der Erzählerin migrierten beide als sogenannte ›Gastarbeiter‹ aus einem dörflichen Kontext im mittleren Anatolien nach A-Stadt in Österreich, wo zum Zeitpunkt des Interviews viele Verwandte väterlicherseits leben. Die Eltern der Erzählerin sind beide in Mittelanatolien geboren und in der Türkei aufgewachsen. Die Mutter migrierte im Alter von fünf oder sechs Jahren in eine türkische Großstadt, wo sie eine weiterführende Schule besuchte, die sie allerdings wegen eines Militärputsches und der damit einhergehenden politischen Umstände nicht abschließen konnte. Über die Ausbildung des Vaters in einem Dorf erzählt Alime Alpaslan nur, dass er einen weniger hohen Abschluss als die Mutter hat. Die politisch bedingte unfreiwillige Migration der Mutter nach Österreich ist von Dequalifizierung und prekären Arbeitsund Lebensbedingungen gekennzeichnet. Nach ihrer möglicherweise nicht 1 | Allein die Auswahl oder Aussparung bestimmter Daten stellt bereits das Ergebnis von Interpretationen dar (vgl. Schwendowius 2015: 155).
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mit vollkommener Überzeugung eingegangenen Ehe ist sie für den Haushalt der Schwiegereltern zuständig, in dem sieben Personen leben, und arbeitet daneben als Reinigungskraft in öffentlichen Toilettenanlagen. Nach einer Fehlgeburt erfolgt der Umzug in eine sehr viel kleinere Substandard-Wohnung und nach einiger Zeit die Geburt der älteren Schwester Alime Alpaslans. Als die Mutter mit Alime schwanger ist, rät der Onkel väterlicherseits u.a. aufgrund ökonomischer Engpässe zu einer Abtreibung, gegen die sich die Mutter im allerletzten Moment entscheidet. Als Alime Alpaslan etwa 5 Jahre alt ist, erhält die Mutter eine Arbeit als Hausmeisterin, was der Familie den Umzug in eine der Größe der Familie entsprechende Wohnung ermöglicht. Trotz sehr guter schulischer Leistungsbewertungen und umfassender Unterstützung von der Mutter im Rahmen ihrer Möglichkeiten rät Alime Alpaslans Lehrer von einem Gymnasium ab und sie besucht eine Hauptschule. Im Anschluss meldet die Mutter Alime Alpaslan in einer Handelsakademie an. Sie wiederholt sowohl die erste als auch die zweite Klasse und wechselt danach an eine Handelsschule. Nach deren Abschluss ist Alime Alpaslan verliebt und möchte ihren Bildungsweg vorerst beenden. Allerdings wird sie von der Mutter gegen ihren Willen für den sog. Auf baulehrgang angemeldet, der eine Möglichkeit für eine Matura darstellt. Als ihr damaliger Freund aus den Sommerferien in der Türkei zurückkommt und ihr sagt, dass er dort eine andere Frau geheiratet hat, beginnt Alime mit dem Auf baulehrgang – allerdings mit der Intention, über negative Noten eine weitere Schullauf bahn zu verunmöglichen. Sie gewinnt dort aber überraschend neue Freund*innen, die einen Ansporn für sie darstellen, aus sozialen Gründen in der Klasse bleiben zu wollen. Während der Schulzeit hat Alime Alpaslan den Berufswunsch Ärztin entwickelt, aus Gründen einer vermuteten besseren Vereinbarkeit mit einer Familie entscheidet sie sich jedoch für ein Lehramtsstudium und inskribiert die Fächer Deutsch und Französisch und wechselt später von Französisch zu Geschichte. Während ihres Studiums arbeitet Alime Alpaslan in einer Werbeagentur als Assistentin der Geschäftsführung und wechselt dann als Redakteurin an eine Zeitung in A-Stadt, wo sie innerhalb kürzester Zeit eine Reihe wichtiger Verantwortungsbereiche übernimmt. Jonas Balta Jonas Balta wird 1987 in W-Stadt in Süddeutschland geboren. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und steht vor dem Abschluss des Masterstudiums Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Im Alter von zwei Jahren übersiedeln seine Eltern mit ihm nach P-Stadt in ein österreichisches Bundesland, wo etwa ein Jahr später sein jüngerer Bruder geboren wird. Jonas Balta stellt nach der Migration sein Sprechen für einige Monate fast vollständig ein. Ein Professioneller, der im Interview als
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›Entwicklungspsychologe‹ bezeichnet wird, attestiert bei Jonas Balta sog. ›Entwicklungsrückstände‹, weswegen er ein Jahr später eingeschult wird als seine gleichaltrigen Kolleg*innen. Jonas Balta fällt es bis in die Primarstufe hinein schwer, in Interaktion zu anderen Kindern zu treten. Dies hängt unter anderem mit seiner Sprache zusammen, die sich von derjenigen der anderen Kinder unterscheidet, und wegen der er zur ›Zielschreibe‹ (Transkript Jonas Balta: 21/28) gemacht wird. Zudem bereitet ihm als Kind die Feinmotorik Schwierigkeiten. Nach der Primarstufe besucht Jonas Balta ein Gymnasium und lernt dort neben Englisch auch Französisch und Latein. Nach der Matura absolviert Jonas Balta ein einjähriges Volontariat an einem Jugend- und Freizeitzentrum, in dem er vor allem handwerkliche Tätigkeiten verrichtet. Seinen Plan, in A-Stadt Dolmetsch zu studieren, kann er wegen – seiner eigenen Einschätzung nach – noch nicht ausreichender Tschechischund Englischkenntnisse nicht realisieren und entschließt sich aus diesem Grund für ein BA-Studium der Slawistik mit der Hauptsprache Tschechisch und der Zweitsprache Polnisch, das er drei Jahre später abschließt. Anschließend inskribiert er ein MA-Studium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, im Rahmen dessen er ein Unterrichtspraktikum in der Ukraine absolviert und das er bald nach dem Interviewzeitpunkt abzuschließen plant. Zum Interviewzeitpunkt hat Jonas Balta das Ziel, nach Abschluss seines Studiums ein Jahr lang in A-Stadt zu arbeiten und dann als Auslandslektor in der Tschechischen Republik die aus seinen Studienfächern gewonnenen Kenntnisse miteinander zu verbinden. Afërdita Bushaj Afërdita Bushaj wird als Älteste von drei Geschwistern in einer ländlichen Region in R-Bundesland in Österreich geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews studiert sie Lehramt Deutsch und Englisch und arbeitet als Deutschlehrerin für Menschen mit Fluchterfahrung. Afërdita Bushajs Großvater väterlicherseits migrierte in den 1960er Jahren aus Mazedonien nach Österreich. Ihre Eltern – beide Angehörige der albanischen Minderheit – lernten sich bereits in Mazedonien kennen. Der Vater absolvierte dort eine Lehre als Konditor und migrierte nach seinem Militärdienst in den 1970er Jahren gemeinsam mit seinem Bruder nach Österreich. Von ihrer Mutter erzählt Afërdita Bushaj, dass sie ein Gymnasium besuchte. Die Migration nach Österreich stellt für die Familie eine große Befreiung von marginalisierten Verhältnissen in Mazedonien dar. Afërdita Bushaj lernt in ihrer Kindheit den lokalen deutschen Dialekt von ihrem Großvater und die mazedonische Variante des Albanischen von ihren Eltern. Ab der Primarstufe erhält sie darüber hinaus über sechs Jahre hinweg Unterricht in Standardalbanisch.
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Entgegen des elterlichen Wunsches entschließt Afërdita Bushaj sich für den Besuch einer Hauptschule, wechselt aber auf nachdrückliche Empfehlung von Lehrer*innen nach zwei Jahren auf ein Gymnasium. Zum Zeitpunkt der Matura hat sie ein starkes Interesse für Islamwissenschaften entwickelt, was aber nach mehreren Gesprächen mit ihren Eltern nicht als Studienfach in Frage kommt. Sie fasst den Plan, nach der Matura nach Mazedonien zu migrieren, möchte aber zuerst ein Semester lang studieren. Ein Studium der Architektur bricht sie relativ rasch ab, weil sie weder sozial noch inhaltlich Anschluss findet, und auch die Entscheidung der Migration macht sie rückgängig. Ein weiteres sehr ausgeprägtes Interesse Afërdita Bushajs sind Sprachen. Da sie das Fach Albanisch in A-Stadt nicht studieren kann, besucht sie Lehrveranstaltungen in Französisch und Englisch und entscheidet sich für ein BA-Studium Deutsch und Englisch und daran anschließend für ein Lehramtsstudium mit denselben Fächern. Neben ihrem Studium erhält Afërdita Bushaj nach einiger Zeit die Möglichkeit, in einem Gesundheitszentrum als Dolmetscherin zu arbeiten. Daneben unterrichtet sie Deutsch als Zweitsprache für Menschen mit Migrationsund Fluchterfahrung. Günnur Duman Günnur Duman wird Ende der 1980er Jahre in A-Stadt geboren und wächst mit ihren Eltern und drei jüngeren Geschwistern in einem Stadtteil auf, der durch einen hohen Anteil an Arbeiter*innen und Menschen mit Migrationsgeschichte gekennzeichnet ist und dem sie sich sehr stark zugehörig fühlt. Zum Zeitpunkt des Interviews steht sie kurz vor dem Abschluss des Lehramtsstudiums Deutsch und Geschichte, ist verheiratet und hat einen zweijährigen Sohn. Günnur Dumans Eltern sind beide aus der Türkei migriert. Ihr Vater kommt mit 26 Jahren nach A-Stadt, wo er seither als Fleischhauer und Fleischlieferant arbeitet. Ihre Mutter kommt bereits als Kind nach A-Stadt und absolviert dort die Primarstufe und Hauptschule. Eine weitere Schulbildung wird ihr von den Eltern verwehrt. Die Mutter ist in der islamischen Community des Stadtteils sehr aktiv und nimmt nach der Geburt des dritten Kindes – Günnur Duman ist zu diesem Zeitpunkt etwa zwölf Jahre alt – zunächst eine Tätigkeit als Aushilfslehrerin in einer Moschee an. Diese geht bald in eine dauerhafte Beschäftigung über, die sie auf eher ›unorthodoxe‹ Weise gestaltet. Günnur Dumans Kindheit ist durch einen starken Bezug zur Religion geprägt: Bereits als kleines Kind betet sie gemeinsam mit ihrer Großmutter und ihrem Vater und begleitet ihren Vater in die Moschee. Nach der Primarstufe besucht sie ein Gymnasium und entschließt sich nach der Unterstufe zum Besuch einer Handelsakademie.
Kurzbiographien
Alle Freund*innen und Schulkolleg*innen nehmen nach der Matura eine Arbeit in einem wirtschaftsnahen Bereich an oder beginnen mit einem Wirtschaftsstudium. Günnur Duman schließt eine solche Option für sich aus, hat aber zunächst keine Alternative und greift daher den Vorschlag ihrer Mutter auf, ihre Erfahrungen in der Hausaufgabenhilfe für ein Lehramtsstudium zu nutzen. Sie entscheidet sich für die Fächer Deutsch und Geschichte. In ihrem dritten Studienjahr wird ihr Sohn geboren. Günnur Duman besucht schon kurze Zeit nach der Geburt wieder Lehrveranstaltungen an der Universität, während derer ihr Kind von den Eltern und Schwiegereltern betreut wird. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Günnur Duman kurz vor Abschluss des Studiums. Für die Zukunft wünscht sie sich, an einem Gymnasium zu unterrichten. Ece Erbay Ece Erbay wird 1985 in A-Stadt geboren und wächst dort auf. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 29 Jahre alt und studiert Lehramt Deutsch und Geschichte. Ece Erbay ist verheiratet und Mutter eines dreijährigen Sohnes. Ihr Großvater väterlicherseits migriert in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Deutschland und bald danach nach Österreich. Seine drei Söhne, die teils noch in die Schule gehen oder schon eine Lehre in der Türkei abgeschlossen haben, holt er nach Österreich. Nachdem ihre Eltern heiraten, wird zunächst Ece, sechs Jahre später ihr jüngerer Bruder geboren. Nach dem Besuch der Elementar- und Primarstufe wird Ece Erbay auf Bestreben ihrer Eltern und entgegen der Empfehlung ihrer Lehrerin in ein Gymnasium eingeschrieben. In der dritten Klasse bekommt sie allerdings Schwierigkeiten und entschließt sich zu einem Wechsel in die Hauptschule mit dem Ziel, im Anschluss eine Handelsakademie zu besuchen. In der Handelsakademie lernt Ece Erbay ihren heutigen Mann kennen. Ihre Eltern wenden sich zunächst vehement gegen die Beziehung, weil sie aufgrund der verschiedenen Herkunftsregionen in der Türkei ›Kulturkonflikte‹ vermuten. Das Paar entscheidet sich trotzdem zu einer Heirat, die vermutlich nach der Matura stattfindet. Nach der Matura bewirbt sich Ece Erbay für verschiedene Stellen im Bankensektor, erhält aber keine Zusage. Daraufhin inskribiert sie Deutsch und Englisch mit dem Berufsziel Lehramt. Nach drei Jahren Studium, die im Fach Englisch wenig befriedigend und weiterführend sind und die sie auch aufgrund der Schwangerschaft als besonders belastend erlebt, entschließt sie sich auf Anraten einer Freundin, das Fach zu wechseln und ersetzt Englisch durch Geschichte. Ece Erbay steht zum Interviewzeitpunkt kurz vor Abschluss ihres Studiums.
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Özlem Karaca Özlem Karaca ist als älteres von zwei Kindern in A-Stadt geboren und befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews im ersten Semester des Masterstudiums Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Özlem Karacas Urgroßvater stammt aus dem damaligen Staatsgebiet Aserbaidschans im heutigen Iran und flüchtet aufgrund eines Krieges in den Osten der heutigen Türkei. Dort wird in einer aserbaidschanischsprachigen Community 1945 der Großvater Özlem Karacas geboren. Dieser kommt in den 1960er Jahren als ›Gastarbeiter‹ nach Österreich und holt später seine Frau und seine Kinder, darunter Özlem Karacas Mutter, die damals zwölf Jahre alt ist, nach. Diese besucht zunächst eine Hauptschule, bricht diese dann aber ab, um ihre Eltern zu unterstützen. Özlem Karacas Vater, ein Cousin ihrer Mutter, kommt einige Jahre später über eine von den Eltern arrangierte Ehe nach Österreich. Özlem Karaca wächst mit den Sprachen Aserbaidschanisch, Deutsch und Türkisch auf, wobei in ihrer Familie eine ›Mischsprache‹ mit Elementen aus Aserbaidschanisch und Türkisch gesprochen wird. Sie hat gegen Ende der Primarstufe – auch wegen der Empfehlungen ihrer Lehrer*innen – die feste Absicht, ein ihr über Verwandte und Bekannte bekanntes Gymnasium zu besuchen. Allerdings fällt ihr Übergang in die Sekundarstufe mit einem Umzug der Familie in einen anderen Stadtteil zusammen, der dieses Unterfangen unrealistisch erscheinen lässt. Nach einigen Schwierigkeiten bekommt Özlem Karaca einen Platz in einem anderen Gymnasium, hat allerdings Schwierigkeiten und verliert schnell das schulische Interesse. Ein halbes Jahr vor der Matura bricht sie die Schule aus Angst vor dem Abschluss ab und reist für einen Monat zu ihren Verwandten in die Türkei. Nach der Matura studiert Özlem Karaca ein Semester lang Jus, findet aber kein Interesse fürs Studium und entschließt sich dann für ein BA-Studium Slawistik, das vor allem vom Wunsch motiviert ist, sich auf Russisch mit Aserbaidschaner*innen verständigen zu können. Nach Abschluss des Studiums überlegt sie eine Inskription eines Lehramtsstudiums mit dem Hauptfach Englisch, entscheidet sich aber dagegen, weil sie vermutet, dass sie als ›nichtMuttersprachlerin‹ in Englisch nicht so ohne Weiteres eine Beschäftigung finden wird. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Özlem Karaca am Beginn eines Masterstudiums Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Majda Melić Majda Melić wird 1989 in M-Stadt in Bosnien als erstes Kind ihrer Eltern, einer Krankenschwester und einem Ingenieur, geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews steht sie kurz vor Abschluss des MA-Studiums Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Als 1992 der Krieg in Bosnien beginnt, flüchtet ihre Mutter gemeinsam mit der Tochter; der Vater arbeitet zu der Zeit beim Militär. Über mehrere
Kurzbiographien
Stationen gelangen Majda Melić und ihre Mutter in die Schweiz und leben dort zunächst in einer Unterkunft für geflüchtete Familien, dann in einem Altersheim in O-Dorf. Majda Melić besucht in O-Dorf einen Kindergarten und erwirbt dort sowohl den lokalen Dialekt als auch die Standardsprache. Nach etwa zwei Jahren kommt ihr Vater in die Schweiz nach. Den Einschulungstest besteht Majda Melić mit sehr guten Ergebnissen; trotzdem wird sie in einen verpflichtenden Deutschförderkurs eingeschrieben. Während der Primarstufe besucht sie zusätzlich zur Regelschule eine ›bosnische Schule‹, in der sie vor allem Bosnisch und Landeskunde lernt. Majda Melić verfügt in O-Dorf über gute soziale Kontakte und spielt im Schulorchester mit. 1996 wird ihr Bruder geboren, 1998 remigriert die Familie nach Bosnien. Dort melden Majda Melićs Eltern ihre Tochter für einen Schulzweig an, in dem Deutsch als erste Fremdsprache gelehrt wird. Die Tochter kann sich mit dem Deutsch des Deutschlehrers allerdings nicht anfreunden und bringt ihre Eltern dazu, sie für den englischsprachigen Zweig anzumelden. Die Einschulung verläuft insgesamt nicht unproblematisch, da Majda Melić in der Schule vielfältige Ausgrenzungserfahrungen macht. Sie beginnt, im Bosnischen zu stottern und erlangt erst nach längerer Zeit wieder einen unproblematischen Umgang mit der Sprache. Den ›Kontakt‹ zur deutschen Sprache hält sie über Brieffreundschaften mit Schweizer Freundinnen, über das Fernsehen und über deutschsprachige Bücher. Nach einem erneuten Umzug der Familie, vermutlich innerhalb von MStadt, besucht Majda Melić ein Gymnasium mit sprachlichem Schwerpunkt, wo sie Deutsch wieder als Unterrichtsfach hat. Daneben lernt sie Englisch, Latein und Französisch. Da sie allerdings mit ihrer Deutschlehrerin und insgesamt mit dem Schulsystem nicht zufrieden ist, wird sie politisch aktiv und versucht, ihre Ideen als Klassensprecherin umzusetzen. Nach der Matura möchte Majda Melić Deutsch und Englisch studieren. Im Laufe des Aufnahmeverfahrens erfährt sie allerdings, dass sie sich für eine Sprache entscheiden muss und wählt Deutsch. Sie ist mit mehreren curricularen und methodischen Aspekten des Studiums unzufrieden und tritt der Student*innenorganisation der philosophischen Fakultät bei, um Veränderungen zu bewirken. Sie kann Erfolge aufweisen und wird auch auf Fakultätsebene als Vertreterin gewählt. Gegen Ende ihres Studiums bewirbt sich Majda Melić für eine finanzierte Europareise und wird als eine der besten Bewerber*innen ausgewählt. Daneben gewinnt sie einen Schreibwettbewerb, was mit der Möglichkeit eines vierwöchigen Praktikums bei einer Zeitung in Deutschland verbunden ist, das sie vermutlich nach ihrem BA-Abschluss absolviert. Eigentlich möchte Majda Melić in Deutschland oder in der Schweiz studieren, aber der Bruder ihrer besten Freundin studiert in Österreich, und die Freundin überzeugt sie, gemein-
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sam ein Master-Studium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in A-Stadt zu beginnen. Das erste Studienjahr ist für Majda Melić krisenreich und mit vielfältigen Orientierungsfragen verbunden. Für einige Zeit verliert sie ihr selbstverständliches Verhältnis zur deutschen Sprache. Sie macht ein fünfmonatiges Unterrichtspraktikum in Portugal, lernt dort Portugiesisch und findet ihre Nähe zur deutschen Sprache über Kontakte mit deutschsprachigen Bekannten wieder. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Majda Melić kurz vor Abschluss ihres MA-Studiums. Inzwischen steht für sie fest, nicht nach Bosnien remigrieren zu wollen und sie überlegt, in A-Stadt zu bleiben. Zwei von mehreren beruflichen Perspektiven, die Majda Melić zu diesem Zeitpunkt hat, sind Deutschlehrerin und Diplomatin. Paola Pascucci Paola Pascucci wird Ende der 1980er Jahre in einem ländlichen Kontext in der Toskana als zweites von drei Kindern geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews macht sie ein Doktoratsstudium in Germanistik mit dem Schwerpunkt Literaturwissenschaft. Nach dem Besuch eines neusprachlichen Gymnasiums beginnt Paola Pascucci mit dem Studium der Literaturwissenschaft in den Fächern Anglistik und Germanistik und macht im Rahmen ihres BA-Studiums ein Erasmus-Jahr in A-Stadt. Während ihres Studiums entwickelt sie ein großes Interesse für deutschsprachige und vor allem österreichische Literatur, und während ihres Erasmus-Aufenthalts auch für A-Stadt. Nach Abschluss ihres MA-Studiums in Italien macht sie ein Praktikum am italienischen Kulturinstitut in A-Stadt. Nach einem Gelegenheitsjob in ihrem Heimatort in Italien erhält sie die Möglichkeit, eine Stelle als Hilfskraft in einer Bibliothek in A-Stadt anzutreten. In dieser Zeit zieht auch ihr damaliger Partner von Deutschland nach A-Stadt. Allerdings fühlt sich Paola Pascucci bei ihrer Arbeit in der Bibliothek unterfordert, und Bewerbungen für andere Jobs sind nicht erfolgreich. Sowohl die von ihr zum damaligen Zeitpunkt bereits als endgültig empfundene Entscheidung, von Italien weggegangen zu sein, als auch das ungewohnte Zusammenwohnen mit ihrem Partner sind für Paola Pascucci herausfordernd und führen zu Unsicherheiten. In dieser Zeit entscheidet sie sich dafür, mit einem Doktoratsstudium zu beginnen und damit einem großen eigenen Interesse nachzugehen, von dem sie sich auch die Verbesserung beruflicher Optionen erhofft. Parallel dazu beteiligt sie sich an einem italienweiten Wettbewerb für eine Stelle als Lehrerin. Sie bekommt trotz sehr hoher Bewerber*innenzahlen sowohl in der Mittelschule als auch im Gymnasium einen Platz, entscheidet sich aber dafür, ihr Doktoratsstudium in A-Stadt fortzusetzen.
Kurzbiographien
Zum Zeitpunkt des Interviews wünscht sich Paola Pascucci, ihr Doktorat erfolgreich fertigzustellen und eine Tätigkeit im wissenschaftlichen Bereich aufzunehmen. Daneben möchte sie die Verbindung zu Italien und zur italienischen Sprache aufrechterhalten. Milan Pavić Milan Pavić wird in V-Stadt in Österreich als erster Sohn eines aus Serbien migrierten Paares geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews steht er kurz vor dem Abschluss seines MA-Studiums Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Milan Pavićs Kindheit ist von jährlichen ausgedehnten Sommerbesuchen in Serbien geprägt, wo seine Eltern im Laufe der Jahre – mit der ursprünglichen und später wieder verworfenen Idee einer Remigration – ein Haus gebaut haben. Seine Bildungslauf bahn folgt einem institutionell vorgegebenen Ablaufmuster: Nach dem Besuch der Primarstufe und des Gymnasiums steht wie selbstverständlich ein Universitätsstudium. Seinen ursprünglichen Plan, Lehramt (Mathematik und Biologie) zu studieren, gibt Milan Pavić auf, weil die online-Anmeldung im Fach Biologie nicht funktioniert und er zufällig eine Bekannte trifft, die ihm erzählt, dass sie Translationswissenschaften studieren will. Milan Pavić greift diese Idee auf und inskribiert ein BA-Studium der Translationswissenschaften mit den Sprachen Deutsch, Serbisch und Französisch. Nach seinem Abschluss taucht zum einen der Wunsch nach einer sicheren Arbeitsstelle, zum anderen der Wunsch zu unterrichten auf. Milan Pavić entschließt sich zu einem Master Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, unter anderem mit dem Ziel, mit – im Verhältnis zu einem Lehramtsstudium – vergleichsweise geringem Aufwand eine Ausbildung zum Deutschlehrer zu erhalten. Er wird allerdings schon zu Beginn des Studiums von seinem großen Interesse an den Studieninhalten überrascht und kann biographischen Sinn daraus ziehen. Das Studium bietet zwar keine feste Arbeitsstelle, wie er sie möglicherweise mit einem Lehramtsstudium finden könnte, aber es bestehen zum Zeitpunkt des Interviews vergleichsweise gute Chancen auf ein Auslandslektorat, das Milan Pavić die Möglichkeit geben würde, zum einen seine wissenschaftlichen Interessen weiterzuverfolgen, und zum anderen seinem Wunsch, andere Länder kennenzulernen, nachzugehen. Katharina Peck Katharina Peck wächst als jüngere von zwei Geschwistern in einem kleinen Dorf, aus dem auch ihr Vater stammt, im österreichischen W-Bundesland auf. Ihre Mutter kommt aus der benachbarten Ortschaft, in der ein anderer Dialekt gesprochen wird. Katharina Peck charakterisiert ihre Familie als ›Arbeiterfa-
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milie‹. Zum Zeitpunkt des Interviews macht Katharina Peck ein MA-Studium der Sprachwissenschaft und ein MA-Studium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und arbeitet daneben in einem Forschungsprojekt. Nach dem Besuch der Primarstufe in B-Dorf wechselt Katharina Peck an ein Gymnasium in der nächstgrößeren Stadt, einen Übergang, den sie vor allem als sprachliche Grenzüberschreitung charakterisiert. Nach der Unterstufe entscheidet sie sich gegen eine Oberstufe im Gymnasium, da sie zu diesem Zeitpunkt weder studieren noch die Region, in der sie aufgewachsen ist, verlassen möchte. Sie führt ihren schulischen Weg an einer Höheren Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe (HLW) mit einem Schwerpunkt für Wirtschaft und Tourismus fort, die in einer anderen Stadt und damit erneut in einer anderen sprachlichen Umgebung ist. Aufgrund der beruflichen Perspektiven nach der Matura, die – allesamt im Bereich von Tourismus und Buchhaltung – für Katharina Peck keine Option darstellen, bereitet sie sich für eine Aufnahmeprüfung für ein Studium der Logopädie vor. Als sie wegen eines ›Sprachfehlers‹ nicht aufgenommen wird, entschließt sie sich zu einem BA-Studium der Sprachwissenschaft in A-Stadt. Aufgrund ihres großen Interesses inskribiert sie nach Abschluss des BA-Studiums, in dem sie sich auch Grundkenntnisse der Österreichischen Gebärdensprache aneignet, ein MA-Studium der Sprachwissenschaft und arbeitet während dieser Zeit bereits in mehreren wissenschaftlichen Projekten mit. Ihr großes Interesse für Mehrsprachigkeit und die Perspektive auf bessere berufliche Möglichkeiten führen sie zum MA-Studium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, das sie neben der Sprachwissenschaft studiert. Simona Popescu Simona Popescu wird in einem Dorf in Siebenbürgen/Rumänien als einziges Kind ihrer Eltern geboren. Die Familie lebt unter ökonomisch schwierigen Bedingungen: Die Mutter arbeitet bei einer Erdgasproduktionsfirma, verliert aber während einer wirtschaftlichen Krise ihre Arbeit. Der Vater geht, als Simona Popescu neun Jahre alt ist, nach Italien, um dort zu arbeiten. Simona Popescu bekommt im Alter von fünf bis sieben Jahren Privatunterricht in Deutsch von einer deutschsprachigen Nachbarin und hat auch in der Primarstufe Deutschunterricht. Während der Oberstufe nimmt Simona Popescu an DaF-Olympiaden teil und erreicht einmal sogar den Landeswettbewerb. Simona Popescu entwickelt während ihrer Schulzeit mehrere Studienwünsche, von denen ihr verschiedene biographisch relevante Personen stets abraten. Auch ihr Wunsch, in einer rumänischen Großstadt zu studieren, wird von der Mutter verunmöglicht. Simona Popescu entwickelt äußerst kreative Pläne, um sowohl ihr präferiertes Studienfach als auch ihren gewünschten Studienort zu ermöglichen. Nach mehreren Anläufen und Diskussionen, vor allem mit ihrer Mutter, und nach einem zufällig zustandegekommenen Beratungs-
Kurzbiographien
gespräch mit einer Professorin, entscheidet sie sich letztendlich für ein Studium der Germanistik und Skandinavistik in einer rumänischen Kleinstadt, in der sie sich allerdings nicht besonders wohl fühlt. Sie bewirbt sich erfolgreich für ein Erasmus-Stipendium in A-Stadt (Österreich) und verlängert dieses auf ein Jahr. Danach kehrt sie nach Rumänien zurück, um ihr BA-Studium abzuschließen, mit dem Plan, danach ein Master-Studium in A-Stadt zu beginnen. Zum Zeitpunkt des Interviews studiert Simona Popescu bereits seit mehreren Semestern in A-Stadt und geht daneben einer Erwerbsarbeit im Gastgewerbe nach. Ihr Wunsch ist eine möglichst baldige Lehrtätigkeit in Deutsch. Jelena Selmanović Jelena Selmanović wird gegen Ende der 1980er Jahre als zweite Tochter einer Hausfrau und eines Arztes in einer bosnischen Kleinstadt geboren, ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt und steht kurz vor Abschluss ihres MAStudiums Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Jelena Selmanovićs Eltern ziehen ein Jahr nach ihrer Geburt mit den beiden Töchtern nach G-Stadt, eine Großstadt in Bosnien. Dort wohnt die Familie aufgrund der kriegsbedingten Umstände auf kleinstem Raum mit den Verwandten väterlicherseits zusammen – der Vater arbeitet als Arzt und Soldat. In dieser Zeit kommen Jelena Selmanović und ihre Schwester über Fernsehsendungen und Videos in Kontakt mit Deutsch. Die Mutter entscheidet sich gegen die Möglichkeit, mit den Kindern nach Deutschland zu flüchten, wo bereits einige Verwandte leben: zum einen, da der Vater nicht ausreisen kann und im Zuge des Krieges auch verwundet wird, zum anderen aus Solidarität mit seinen Verwandten. Kurz nach Kriegsende fährt die Mutter mit den Töchtern zur ›Erholung‹ nach Deutschland. Der Aufenthalt ist zunächst für wenige Monate geplant, auf Anraten des Onkels sucht die Mutter allerdings Arbeit in Deutschland, um die durch den Krieg schwierig gewordene ökonomische Situation der Familie in Bosnien zu verbessern. Jelena Selmanovićs Schwester wird in Deutschland eingeschult, sie selber besucht noch für einige Monate den Kindergarten und steigt im kommenden Schuljahr in die Schule ein. Nach etwas mehr als einem Jahr kehrt die Familie nach Bosnien zurück. Während für Jelena Selmanovićs Schwester die Rückkehr in ihre alte Klasse ideal verläuft, hat sie selbst zunächst Schwierigkeiten, in der neuen sozialen Umgebung zurechtzukommen. Die Eltern möchten ihren Töchtern den weiteren Kontakt zu Deutsch ermöglichen, was vor allem durch Fernsehen und deutschsprachige Filme geschieht. Die Begeisterung für Zeichentrickfilme führt Jelena Selmanović zu einer Begeisterung für das Zeichnen. Allerdings sind ihre Eltern gegen ihren Wunsch, eine Kunstschule zu besuchen. Stattdessen geht sie an ein Gymnasium, in dem auch Deutsch Unterrichtsfach ist. Die Deutschlehrerin fördert ihre Schüler*innen sehr, und Jelena Selmanović schafft die Aufnahmeprüfung für ein BA-Studium für
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Deutsche Sprache und Literatur mit großem Erfolg. Ihren nächsten Studienplan, ein MA-Studium für Diplomatie, verwirft Jelena Selmanović zugunsten der Idee, ein sprachbezogenes MA-Studium in Deutschland zu machen. Da ihr Antrag auf ein Stipendium allerdings nicht erfolgreich ist, beschließt sie, gemeinsam mit Freund*innen in Österreich Translationswissenschaften zu studieren. Sie kann aufgrund ihrer guten Studienleistungen einen Student*innenkredit in Bosnien aufnehmen und bewirbt sich zusätzlich für ein Stipendium bei einer bosnischen Firma in Österreich. Allerdings fehlen ihr die notwendigen Voraussetzungen für die Inskription, weswegen sie sich für ein MA-Studium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache entscheidet. Sie wird von ihrem großen Interesse an den Studieninhalten überrascht und erfährt das Studium über die unmittelbaren Inhalte hinaus als sehr bereichernd. Zum Zeitpunkt des Interviews überlegt Jelena Selmanović, nach Abschluss ihres MA-Studiums eine Ausbildung im Bereich Kunst zu machen.
Transkriptionsnotation
1. Besondere Modulation/Prosodie: nein → besonders betont gesprochene Passagen /(geflüstert) vielleicht/ → Passagen mit besonderer Modulation/ Prosodie 2. Paraverbales ((lacht)) ((atmet ein)) → paraverbale Äußerungen der Sprecher*in nen /(lachend) ja und dann/ → von paraverbalen Äußerungen begleitete Passage 3. Unverständliches, schwer Verständliches () → (mitgemacht) →
unverständliche Passage schwer verständliche Passage
4. Überlappung/gleichzeitiges Sprechen Ja so [ich] → [nein] ich
überlappendes/simultanes Sprechen mehrerer Sprecher*innen
5. Pausen und Äußerungsintonation bzw. Äußerungsfunktion (2) → Pausen von einer Sekunde oder mehr (Sekunden in Klammern) Pausen, die »niemandem gehören«, in eigene Transkript-Zeile - → kurze Pause, weniger als eine Sekunde
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: → Ankündigung (vgl. orthographi- sche Doppelpunktfunktion) , → funktional-orthographisches Komma . → Satz- bzw. Äußerungsendeinton ation (Absenken der Stimme) ! → Ausrufeintonation am Satz-/Äu- ßerungsende ? → Frageintonation am Satz-/Äuße- rungsende festge_ → Wort- oder Satzabbrüche hat=hat → schnell hintereinander gespro- chene Worte 6. Interjektionen mhm, oh, aha, ahm → grob abgebildete Transkription »bedeutsamer« Interjektionen 7. Lautungsphänomene gesprochener Sprache/dialektale Lautung Samma jetz dahoam, gell? → umgangssprachliche/dialektale Lautung 8. (Inszenierte) Redewiedergaben Und sie so: »Du machst die Matura!« → 9. Nonverbales bzw. »externe« Ereignisse ((Handy-Klingeln)) ((Person kommt ins Zimmer)
Inszenierte bzw. direkte Redewie- dergabe, Zitate…
Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
Sabine Hark, Paula-Irene Villa
Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4
Andreas Reckwitz
Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4
Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9
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