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German Pages XIII, 218 [225] Year 2020
Andreas Bergholz
Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer Eine rekonstruktive Studie am Beispiel eines innerstädtischen Wohnquartiers in Nordrhein-Westfalen
Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer
Andreas Bergholz
Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer Eine rekonstruktive Studie am Beispiel eines innerstädtischen Wohnquartiers in Nordrhein-Westfalen
Andreas Bergholz Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie Medizinische Hochschule Brandenburg – Theodor Fontane Brandenburg an der Havel Deutschland Universität zu Köln, NRW Forschungskolleg GROW – Wohlbefinden bis ins hohe Alter & Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät: Andreas Bergholz, AlbertusMagnus-Platz, 50923 Köln, Deutschland.
ISBN 978-3-658-31706-5 ISBN 978-3-658-31707-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Mein Dank gilt meinen Kolleg*innen am NRW Forschungskolleg GROW „Wohlbefinden bis ins hohe Alter / Gerontological Research on Well-Being“, die mir im Verlauf der Dissertation stets zur Seite standen. Besonders möchte ich Katrin Alert danken, die im Laufe der gesamten Promotionsphase stets eine kritische, konstruktive und hilfsbereite Kollegin war und einen großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit hat. Ein weiterer Dank gilt Natalia Schulz, Lea Braun und Benjamin Badstieber für unsere ausführlichen und ausdauernden Interpretationsrunden. Ein besonderer Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, der mich während meiner (Um)Wege zum Forschungsfeld stets darin bestärkt hat, diesen Weg weiter zu gehen und beharrlich zu bleiben. Weiterhin danke ich ihm für seine große Offenheit, forschungspraktisch eigene Wege gehen zu können. Ein großes Dankeschön möchte ich Sandy Schilling aussprechen, der mir als Quartiersentwickler der Caritas in Krefeld stets zur Seite stand, mich an vielen Aktivitäten rund um mein Forschungsfeld teilhaben ließ und mir sowohl den Zugang zum Forschungsfeld als auch viele wichtige Erfahrungen im Bereich der Quartiersentwicklung ermöglichte. Zu guter Letzt ein großer Dank an meine Freunde und meine Familie für Ihre Unterstützung in der Zeit der Promotion, die manchmal notwendigen Ablenkungen und die Geduld für die häufig zu lange Abwesenheit. Köln im Juni 2019
V
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ausgangslage und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 3
2 (Um-)Wege zum Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Pfad I – Intergenerationale Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Etappe 1 – Zur Bedeutungszunahme außerfamiliärer Generationenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Etappe 2 – Intergenerationale Begegnungen in initiierten Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Etappe 3 – Gegenseitige Wahrnehmung der Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Pfad II – Die Bedeutung des Quartiers bzw. Wohnumfeldes in einer alternden Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Forschungsleitende Fragestellungen und Erkenntnisinteresse . . . .
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4 Theoretischer Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Herleitung eines metatheoretischen Handlungsmodells zur Rekonstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Metatheoretische Grundlagen einer praxeologischen Wissenssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12 14 16 19 20 22
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VIII
Inhaltsverzeichnis
4.1.2 Anpassung des metatheoretischen Handlungsmodells an das Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Soziologie des relationalen (Sozial-)Raums . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Beobachtung sowie nicht-zentrierte und zentrierte Interaktion als mikrosoziologischer Zugang zu Bildern von jungen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Generation als theoretischer Gegenstand der Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Generativität als entwicklungspsychologische Aufgabe im höheren und hohen Lebensalter im Kontext sozialwissenschaftlicher Generationenkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Problemzentrietes Interview – Erhebungsmethode und forschungsleitendes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundpositionen des problemzentrierten Interviews . . . . . . 5.1.2 Interviewführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Leitfadenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Anwendungsbereiche und forschungspraktische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Forschungspraxis und Adaption an das Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Methoden des Stadtteilporträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Auswertung amtlicher Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Stadtteilbegehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zufällig erworbene Eindrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Methodische Implikationen der Dynamik des Forschungsprozesses und Reflexion der Feldaktivitäten . . . . . . . . . 5.4.1 Feldzugang und Feldaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Samplingstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Samplebeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Stadtteilporträt Krefeld-Kronprinzenviertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Krefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Krefeld-Kronprinzenviertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Überblick und Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Alters- und Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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48 53 54 55 58 59 61 62 64 69 70 71 72 73 73 76 78 81 82 83 83 84
Inhaltsverzeichnis
6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7
IX
Infrastruktur und Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedarfe des täglichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung, Soziales, Kultur und Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit – Intergenerationalität im Kronprinzenviertel . . . . . . .
7 Rekonstruktion der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Fallporträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Otto Brunner (79 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Hans Kramer (71 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Karl Behrendt (84 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Walter Schlosshauer (65 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Dagmar Berg (86 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.6 Herbert Franke (89 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.7 Monika Koch (55 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.8 Elisabeth Ernst (73 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.9 Hubert Pütz (66 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Sinngenetische Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Typ I – Verantwortungsübernahme der jüngeren Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Typ II – Junge Menschen als Träger funktionaler Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Typ III – Die Lebensphase Jugend als Gleichzeitigkeit von Fremdheit und Vertrautheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Typ IV – Höfliche Gleichgültigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Typ V – Generativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.6 Typ VI – Junge Menschen als Referenz zur eigenen Altersidentitätskonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.7 Junge Menschen zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Relevanz aus der Sicht Älterer . . . . . . . . 7.3 Komparative Dimensionsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Intergenerationaler Erlebensraum Kronprinzenviertel . . . . 7.3.2 Implizites Begriffsverständnis von jungen Menschen . . . . . 7.3.3 Technische Entwicklung als zentraler Bezugspunkt . . . . . .
87 90 90 91 91 93 94 95 106 116 123 130 140 149 158 165 170 171 174 176 179 181 183 186 189 190 197 198
X
Inhaltsverzeichnis
8 Diskussion und Einordnung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Ergebnisdiskussion auf Basis des metatheoretischen Handlungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer – Reichweite, Grenzen und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Gesellschaftspolitische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201 201 202 205 209
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 4.1 Abbildung 4.2 Abbildung 5.1 Abbildung 5.2 Abbildung 6.1 Abbildung 6.2 Abbildung 6.3 Abbildung 7.1 Abbildung 7.2 Abbildung 7.3 Abbildung 7.4 Abbildung 7.5 Abbildung 7.6 Abbildung 7.7 Abbildung 7.8 Abbildung 7.9 Abbildung 7.10 Abbildung 7.11
Neunerfeldtafel ALTERSBILDANALYSE . . . . . . . . . . . Metatheoretisches Handlungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsdesign auf Basis der Grundpositionen des PZI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kronprinzenviertel und seine Umgebung in der Krefelder Innenstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absolute Altersverteilung des Kronprinzenviertels . . . . . Kronprinzenviertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Brunners Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . . . Hans Kramers Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . . . Karl Behrendts Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . . Walter Schlosshauers Bilder von jungen Menschen . . . . Dagmar Bergs Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . . . Herbert Frankes Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . Monika Kochs Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . . . Elisabeth Ernsts Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . Hubert Pütz’ Bilder von jungen Menschen . . . . . . . . . . . Identitätstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche und gesellschaftliche Relevanz junger Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 36 58 60 84 85 89 106 116 123 130 139 149 158 165 169 184 187
XI
Tabellenverzeichnis
Tabelle 5.1 Tabelle 6.1
Sample . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alters- und Sozialstruktur des Kronprinzenviertels . . . . . . . . .
78 87
XIII
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Einleitung
1.1
Ausgangslage und Problemstellung
„Eine Soziologie der Jugend oder des Alters ist (…) eigentlich nur im Rahmen einer Soziologie der Generationen möglich“ (Tenbruck 1965: 62).
Dieses Zitat aus der Jahr 1965 bietet einen passenden Einstieg in die vorliegende Doktorarbeit, da es bereits auf die gesellschafts- und sozialpolitischen Entwicklungen der Gegenwart verweist. Vor dem Hintergrund des relativen Bedeutungsverlusts familialer Strukturen gewinnen intergenerationale Beziehungen und Begegnungsmöglichkeiten jenseits der Familie an Bedeutung (Dallinger und Schmitt 2001: 65). Dieser auf dem demografischen und sozialen Wandel basierende Entwicklung wird kommunalpolitisch mit einer Quartiersorientierung – sei es zum Beispiel im Rahmen von ehrenamtlichen Tätigkeiten oder Angeboten zum Mehrgenerationenwohnen – begegnet. Betrachtet man das geschilderte Phänomen auf einer mikrosoziologischen Ebene verweist das Eingangszitat einerseits auf die Gegenseitigkeitsperspektive zwischen jungen und alten Menschen und betont andererseits die Alltäglichkeit intergenerationaler sozialer Beziehungen. Während vielfältige Perspektiven auf das Alter(n) in den sozialwissenschaftlichen Diskursen eingenommen wurden und werden, erscheint eine von Älteren ausgehende Perspektive auf jüngere Generationen als Bestandteil einer umfassenden wissenschaftlichen Sichtweise auf Intergenerationalität nach wie vor als unterbelichtet. Das Alter(n) in modernen Gesellschaften wird seit den 1950er-Jahren vielfältig erforscht. In der jüngsten Vergangenheit bekommt es eine zunehmende sozialräumliche Komponente (Kricheldorff und Oswald 2015), in der ein gelingendes Altern mit vielfältigen nahräumlichen Versorgungsstrukturen bei gleichzeitiger sozialer Teilhabe im Vordergrund steht. Die Betrachtung wissenschaftlicher und © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Bergholz, Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2_1
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2
1
Einleitung
praktischer Diskurse des sozialräumlichen Alterns erweckt den Anschein eines gewissen Paternalismus gegenüber älteren Menschen (Höpflinger 2010: 183). Intergenerationale Begegnungsstätten und intergenerationale Teilhabe werden als Schlüsselkonzepte zur sozialen Teilhabe in Zeiten eines relativen Bedeutungsverlusts familialer Strukturen gesehen (Dallinger und Schmitt 2001: 65). Um sich der dargelegten Entwicklung genauer widmen zu können, wird eine Perspektive eingenommen, die sich auf die Sichtweise älterer Quartiersbewohner*innen auf Jüngere vornehmlich in sozialräumlichen, außerfamiliären Kontexten fokussiert und somit einen zentralen Aspekt von Intergenerationalität genauer beleuchtet. Altersbilder wurden und werden in vielerlei Hinsicht untersucht. Eine umgekehrte Perspektive, die für intergenerationales Zusammenleben ebenso wichtig ist, fehlt in aktuellen Diskursen fast gänzlich oder wird pauschal als förderlich angenommen, ohne dieses soziale Phänomen empirisch ausreichend erforscht zu haben. Somit möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu leisten, Intergenerationalität in Quartierskontexten besser zu verstehen und eine Perspektive in den Diskurs einführen, die derzeit unterbelichtet, für ein umfassendes Verständnis des Zusammenlebens der Generationen aber obligatorisch erscheint. Höpflinger (2008: 19) legt dar, dass es kein menschliches Leben außerhalb von Generationenbeziehungen gibt. Folglich muss dieses auch bei sich ändernden Formen und Gegebenheiten intergenerationaler Beziehungen von allen Seiten betrachtet werden. Somit ist das Ziel der Arbeit einerseits tiefgreifender zu verstehen, welche Bilder von jungen Menschen auf Basis von Erfahrungen (im Quartier) bei den Älteren vorhanden sind. Im Zuge dessen soll zur Theoriebildung in diesem wenig Beachtung findenden Bereich beigetragen werden. Andererseits sollen speziell das sozialräumliche Zusammenleben von Jung und Alt sowie die Formen der Begegnung und des intergenerationalen Erlebens aus Sicht der Älteren in einem konkreten Quartier betrachtet werden. Aus diesem Grund wurde mit dem Quartiersentwicklungsprojekt „Altengerechte Quartiere.NRW Krefeld Südliche Innenstadt“ kooperiert, um sich der Forschung zu Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer in einem innerstädtisch Wohnquartier, dem Krefelder Kronprinzenviertel, widmen zu können. Die Arbeit verschreibt sich im weitesten Sinne einer rekonstruktiven Altersbildforschung, basierend auf der praxeologischen Wissenssoziologie nach Bohnsack (2017). Der Aufbau und die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit wird im Folgenden dargelegt.
1.2 Vorgehensweise
1.2
3
Vorgehensweise
Die vorliegende Arbeit beginnt in Kapitel 2 mit einer reflexiven Auseinandersetzung des Wegs in das Feld und des Findungsprozesses des konkreten Forschungsgegenstands. Dieser Schritt wird zunehmend als bedeutsamer Aspekt in der qualitativen und transdisziplinären Sozialforschung gesehen, wie es zum Beispiel die Beiträge der 4. Fuldaer Feldarbeitstage, herausgegeben von Poferl und Reichertz (2015), zeigen. Nachdem sich dem Forschungsgegenstand (Kapitel 3) genähert wurde, wird dieser systematisch anhand der Pfade intergenerationale Perspektiven (Abschnitt 3.1) und die Bedeutung des Quartiers bzw. des Wohnumfeldes in einer alternden Gesellschaft (Abschnitt 3.2) aufgearbeitet, um davon ausgehend die forschungsleitenden Fragestellungen zu konkretisieren. Um das Erkenntnisinteresse adäquat verfolgen zu können, wird in Abschnitt 4.1 das Phänomen der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer grundlagentheoretisch für das rekonstruktive Verfahren der dokumentarischen Methode fruchtbar gemacht. Diese Theoriearbeit kann dabei als ein theoretisches Ergebnis der Arbeit verstanden werden. Im zweiten Teil des vierten Theoriekapitels werden gegenstandsbezogene Theorien herangezogen, um empirische Phänomene adäquat abzubilden, sie in Beziehung zu setzen und schlussendlich zur Theorieentwicklung beitragen zu können. Dabei handelt sich zunächst um die Soziologie des relationalen Sozialraums nach Martina Löw, welche dazu dient, die Konstitution und Bedeutung von Raum in Bezug auf junge Menschen erfassen zu können. Beobachtung, nicht-zentrierte und zentrierte Interaktion stellen den mikrosoziologischen Kern der vorliegenden Arbeit dar, da sie die handlungspraktische Auseinandersetzung mit jungen Menschen miterklären können. Die soziologischen bzw. entwicklungspsychologischen Konzepte der Generation und Generativität verdeutlichen zum Ende des Abschnittes 4.2 einerseits die unterschiedlichen Beziehungsformen, wie Generationen zueinander in Beziehung stehen, und beleuchten andererseits generative Motive, die den Umgang mit jungen Menschen in vornehmlich außerfamiliären (raumbezogenen) Kontexten leiten. In Kapitel 5, welches sich mit Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis beschäftigt, wird zunächst das problemzentrierte Interview als Erhebungsmethode aber gleichzeitig auch als Studienplan vorgestellt. Nach der Darlegung des Leitfadens (Abschnitt 5.1.3) wird die dokumentarische Methode (Abschnitt 5.2) auf Basis des zuvor hergeleiteten metatheoretischen Handlungsmodells (Abschnitt 4.1) erläutert. Auf den ersten Schritt einer allgemeinen Einführung und Erläuterung der Grundzüge der Methode (Abschnitt 5.2.1) werden in einem zweiten Schritt die konkrete Forschungspraxis und deren Adaptionen für die vorliegende Arbeit (Abschnitt 5.2.2) dargestellt. Darauffolgend werden die Methoden zur Erstellung des Stadtteilporträts beschrieben, welche sich aus der Auswertung amtlicher
4
1
Einleitung
Daten der Stadt Krefeld (Abschnitt 5.3.1), verschiedenen Varianten von Stadtteilbegehungen (Abschnitt 5.3.2) und zufällig erworbenen Eindrücken im Sinne der Ground Theory (Abschnitt 5.3.3) zusammensetzen. Im abschließenden methodischen Unterkapitel werden zunächst der konkrete Feldzugang und die Forschungsbedingungen in Kooperation mit dem Quartiersentwicklungsprojekt „Altengerechte Quartiere.NRW Krefeld Südliche Innenstadt“ beschrieben. Abschließend wird die Samplingstrategie des qualitativen Interviewsamples erläutert sowie das Sample in allgemeiner Weise vorgestellt. Mit Kapitel 6 beginnt der umfangreiche empirische Teil der vorliegenden Arbeit. Zunächst wird das Kronprinzenviertel in Krefeld als Forschungsfeld vorgestellt. Nach einigen Grunddaten zur Krefelder Gesamtstadt wird sich dem Kronprinzenviertel in Bezug auf Überblick und Lage des Quartiers (Abschnitt 6.2.1), Alters- und Sozialstruktur (Abschnitt 6.2.2), die Infrastruktur und das Wohnen (Abschnitt 6.2.3), die Bedarfe des täglichen Lebens (Abschnitt 6.2.4), Bildung, Soziales, Kultur und Kirchen (Abschnitt 6.2.5) und der Gesundheitsversorgung (Abschnitt 6.2.6) gewidmet. Die Porträtierung des Kronprinzenviertels dient dem tiefgreifenden Verständnis des Untersuchungsraums, um die (sozial)räumlichen Implikationen des Untersuchungsfeld zu verstehen. Ferner dient das Porträt dem transdisziplinären Verwertungszusammenhang der Arbeit, indem es Akteur*innen der Quartiersentwicklung und der sozialen Arbeit in Krefeld zur Verfügung gestellt wurde. Kapitel 7 beinhaltet die Rekonstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer in drei Schritten. Zunächst werden alle ausgewählten Fälle bezüglich des zentralen Erkenntnisinteresses der Bilder von jungen Menschen porträtiert (Abschnitt 7.1). Dabei sind gegenstandsbezogene theoretische Bezüge eher gering gehalten, während der Fokus auf der metatheoretischen Fundierung und somit einer hohen Kohärenz zwischen Metatheorie und Empirie liegt. Im Rahmen der sinngenetischen Typenbildung (Abschnitt 7.2) werden einerseits die empirischen Erkenntnisse vom Einzelfall abgehoben und in einem Typus verdichtet und andererseits diese empirischen Befunde stärker gegenstandsbezogen theoretisch eingebettet und weitere Theoriebezüge, die aus der Empirie heraus relevant wurden, eingeführt. Das dritte Unterkapital 7.3 der komparativen Dimensionsanalyse behandelt Aspekte der Fallporträts, die im Material über viele Fälle hinweg immer wieder im Zusammenhang mit jungen Menschen standen, aber sehr unterschiedlich behandelt wurden. Die beiden verdichtenden Kapitel der sinngenetischen Typenbildung und komparativen Dimensionsanalyse sind diejenigen, die zur Theoriebildung in Form von ersten Hypothesen in diesem explorativen Forschungsfeld beitragen. An verschiedenen Stellen werden Hypothesen formuliert, die die gewonnenen Erkenntnisse darstellen, welche über die vorliegende Arbeit hinaus evidenzbasiert weiter
1.2 Vorgehensweise
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untersucht werden können. Ferner werden Modelle vorgeschlagen, für die dasselbe gilt. Darüber hinaus wird der Forschungsprozess im Schlussteil (Kapitel 8) hinsichtlich des metatheoretischen Handlungsmodells sowie der gegenstandsbezogenen Ergebnisse diskutiert und abschließend mit gesellschaftspolitischen Überlegungen in Verbindung gebracht. Die methodische Reflexion sowie die Reflexion des gesamten Forschungsprozesses erfolgen in der vorliegenden Arbeit dezentral. Dies erlaubt dem*der Leser*in, etwaige Überlegungen und Entscheidungen des Forschungsprozesses vornehmlich an den Stellen zu erfahren, an denen diese forschungspraktische Relevanz bekamen. Dies hat jedoch auch zur Folge, dass an gewissen Stellen vorgegriffen werden muss, da gewisse Prozesse sonst nicht nachvollziehbar wären. Dies geschieht vornehmlich in den Kapiteln 2 und 5, wo einerseits die (Um-)Wege zum Forschungsgegenstand dargelegt werden und andererseits in den einzelnen Kapiteln zum Forschungsdesign die Wahl der Methodik erläutert wird. Dies umfasst die Erhebungs- und Auswertungsmethodik sowie den Feldzugang und die Samplingstrategie. Ferner werden im abschließenden Kapitel 8 einzelne Aspekte des Forschungsprozesses hinsichtlich Aussagekraft und Reichweite der Ergebnisse eingeordnet.
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(Um-)Wege zum Forschungsgegenstand
Die vorliegende Dissertation entstand im Rahmen des „NRW Forschungskollegs GROW – Wohlbefinden bis ins hohe Alter“ und wurde durch das „Ministerium für Wissenschaft und Kultur“ (ehemals „Ministerium für Innovation Wissenschaft und Forschung“) des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützt. Das NRW Forschungskolleg GROW verfolgt eine inter- und transdisziplinäre1 Ausrichtung, sodass die Arbeit nicht ausschließlich im sogenannten wissenschaftlichen Elfenbeinturm entstand, sondern sowohl in der Entstehung als auch in der Durchführung und in Teilen hinsichtlich bestimmter Ergebnisse konsequent in stetem Austausch mit der Praxis vollzogen wurde. Der Forschungsgegenstand, die forschungsleitenden Fragen sowie das Forschungsfeld waren nicht von Anfang an gegeben, sondern haben sich über einen längeren Prozess mit einigen Umwegen und Unwägbarkeiten sukzessive konstituiert. Bei einem praxisorientierten transdisziplinären Forschungsprojekt bestehen stets Wechselwirkungen zwischen Wissenschaftler*innen, Praxispartner*innen und Interviewpartner*innen, die einem kontinuierlichen Entwicklungs- bzw. Veränderungsprozess unterliegen. Qualitative Forschungsprojekte im Allgemeinen und transdisziplinäre im Speziellen unterliegen besonderen Zugzwängen. Dies sind vor allem Subjekt-Subjekt-Beziehungen zu Praxisakteur*innen, Gatekeepern und Interviewpartner*innen. Die Bedeutung derartiger Beziehungen wird in den folgenden Ausführungen deutlich wird. 1 Dem Projekt ist ein Verständnis von Transdisziplinarität zugrunde gelegt, dass einerseits die
Orientierung an lebensweltlichen Problemen (Pohl und Hirsch Hadorn 2006) und andererseits einen Austausch von Wissen zwischen Wissenschaft und Praxisakteur*innen (Muhar und Kinsperger 2006) umfasst. Es berücksichtigt die Diversität von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Sichtweisen auf die Problemlage(n) bzw. auf das Erkenntnisinteresse (Pohl und Hirsch Hadorn 2006). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Bergholz, Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2_2
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(Um-)Wege zum Forschungsgegenstand
Ausgangspunkt des Dissertationsprojekts war die Begleitung des Aufbaus einer Bürgerplattform in Köln nach dem Prinzip des Community-Organizings (CO)2 . Grundlegendes Ziel des CO ist die dauerhafte selbstständige und selbst organisierte zivilgesellschaftliche Handlungsfähigkeit der Bürger insbesondere gegenüber Politik und Markt (Penta und Sander 2007: 161 f.). Im ersten Schritt der Begleitung der Bürgerplattform sollten altersrelevante sozialraumbezogene Fragestellungen mit Akteur*innen der Bürgerplattform entwickelt und gleichermaßen die Dynamiken innerhalb der Plattform evaluiert werden. Die größte Herausforderung zu diesem Zeitpunkt bestand darin, sich diesem Projekt mit maximaler Offenheit zu widmen. Ein erstes Sondierungsgespräch ließ länger auf sich warten, da es sich schwierig gestaltete, einen gemeinsamen Termin mit allen relevanten Beteiligten zu finden. Das erste Zusammentreffen sollte in dieser Konstellation auch schon das letzte sein. Es wurden Vorbehalte seitens des CO-Projekts geäußert, „Wissenschaftlicher*innen“ mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse, in diesem Fall das Alter(n), am Aufbau der Plattform partizipieren zu lassen. Es bestünde die Gefahr, die an der Bürgerplattform Beteiligten einerseits zu überfordern und andererseits die Ausrichtung der Plattform in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ein elementares Ziel von CO ist das Empowerment3 (Dangschat 2009: 29). Grundlegendes Ziel ist, dass alle Beteiligten gängige Techniken wie Diskussion und Moderation beherrschen, da diese für bürgerschaftliches Engagement elementar sind (Dangschat 2009: 29). Ebenso sind Konflikt- und Kritikfähigkeit hinsichtlich dessen bedeutsam. Die COProjektleitung sah die Gefahr, dass neben dem aufwendigen und zeitintensiven Empowermentprozess die Auseinandersetzung mit Wissenschaftler*innen zu Überforderung führen könnte. Ein weiterer elementarer Grundsatz von CO ist Vertrauen vor Inhalt. Bevor inhaltliche Themen in einer Bürgerplattform festgelegt werden, wird zunächst über einen längeren Zeitraum Vertrauen zwischen den beteiligten Akteur*innen aufgebaut (Penta und Sander 2007: 163 f.). Erst wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, werden inhaltliche Themen gesucht und Arbeitsgruppen zu
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Prinzip des Community-Organizings kann an dieser Stelle nicht ausführlich vorgestellt werden. So werden nur die Aspekte, die der Argumentation bzw. der Reflektion der (Um-)Wege zum Forschungsgegenstand dienlich sind, erläutert. Für weitere Informationen zum Community-Organizing siehe zum Beispiel Penta und Sander 2007, Dangschat 2009, Müller 2014. 3 Empowerment ist folgendermaßen definiert: „the capacity of individuals, groups and/or communities to take control of their circumstances, exercise power and achieve their own goals, and the process by which, individually and collectively, they are able to help themselves and others to maximize the quality of their lives“ (Adams 2008: xvi).
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diesen gebildet. Aus Sicht der CO-Projektleitung wurde befürchtet, dass die Themenfindung durch Altersforscher*innen in diese Richtung gelenkt wird, was der Logik des CO widersprechen würde. Mit der Erfahrung des gescheiterten Feldzugangs musste die Ausrichtung des Dissertationsprojekts verändert werden. Zudem wurde die Bedeutung von Subjekt-Subjekt-Beziehungen zu relevanten Akteur*innen wie Gatekeepern deutlich. Ein belastbarer Beziehungsaufbau (vgl. Reichertz 2015: 26) ist demnach nicht gelungen bzw. wurde von Anfang unterbunden. Zu diesem Zeitpunkt wurde das erste Mal deutlich, was es bedeutet, auf andere Akteur*innen angewiesen zu sein, um Forschung praxisbezogen und praxisrelevant betreiben zu können. Subjekt-Subjekt-Beziehungen sind der Schlüssel zum Feld (Reichertz 2015: 27). Neben den Erkenntnissen zu den Zugzwängen praxisorientierter Forschung führte die Auseinandersetzung mit altersgerechten Quartiersprojekten zu dem Eindruck, diese seien doch sehr verengt auf die ältere Bevölkerung zugeschnitten. Es wird zwar versucht, der Heterogenität des Alters Rechnung zu tragen, jedoch wird intergenerationalen Aspekten wenig Beachtung geschenkt. So verfolgt der Zugang zum Forschungsgegenstand die Maßgabe, dass sozialräumliche Altersprozesse und deren Gestaltung ein gesamtgesellschaftliches Phänomen sind. Somit sollte eine intergenerationale Perspektive eingenommen werden. Mit der Maßgabe, weiterhin eine altersbezogene Forschungsfrage im städtischen Raum zu verfolgen, wurde zunächst mit der Option, zu einem späteren Zeitpunkt in das CO-Projekt einsteigen zu können, am konkreten Projektraum der Bürgerplattform in Köln festgehalten. Forschungsleitend waren dabei folgende Fragen: 1. Welche Vorstellungen und welches Verständnis haben Bürgerorganisationen von einer alter(n)sfreundlichen Kultur? 2. Welche Wahrnehmung bzw. Vorstellungen haben Hochaltrige und junge Alte vom sozialen und sozialräumlichen Altern? 3. Welche Einstellungen haben die Jungen der Gesellschaft gegenüber alten Menschen? Wie ist der Umgang miteinander? Dabei wurde eine generationenübergreifende Perspektive des Zusammenlebens eingenommen, in der das Generationengefüge in Stadtteilen und Vereinen im Zentrum stehen sollte. Im weiteren Vorgehen wurden zunächst relevante Vereine im potenziellen Untersuchungsgebiet recherchiert, die sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung nicht mit dem Thema Alter beschäftigen. Parallel wurde Kontakt zu einer Quartiersentwicklerin aufgenommen, um tiefer in das Feld einsteigen zu können und
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(Um-)Wege zum Forschungsgegenstand
gemeinsame Erkenntnisinteressen auszuloten. Nachdem die Kontakte eher rudimentär waren und kaum Verbindliches zustande kam, erforderte die Situation ein erneutes Umdenken. Im Folgenden wurde der Kontakt zu einem Quartiersentwicklungsprojekt in Krefeld intensiviert. Schnell wurde deutlich, dass das Quartiersprojekt der Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände Krefeld unter Leitung der Caritas in Krefeld einen interessanten Ausgangspunkt darstellen könnte, um das Interesse an sozialräumlicher Altersforschung aus einer intergenerationalen Perspektive umzusetzen. Vor allem weil das Kronprinzenviertel im Verhältnis zu den anderen beiden Projektquartieren in Krefeld innenstadtnah gelegen war, es sich aber dennoch um ein Wohnquartier handelte. Dies erwies sich als das wichtigste Unterscheidungsmerkmal gegenüber den anderen Quartieren, da diese von typisch innerstädtischen Gegebenheiten wie einer autofreien Einkaufsstraße geprägt sind. Ferner hat das Kronprinzenviertel eine äußerst heterogene Alters- und Sozialstruktur, was besonders hinsichtlich der Perspektive auf Intergenerationalität eine wichtige Grundvoraussetzung darstellte. Die Entscheidung hinsichtlich eines geeigneten Quartiers ist auf das Kronprinzenviertel gefallen und daran anschließend wurde sich anhand gemeinsamer Quartiersbegehungen mit diesem Quartier und dessen ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Strukturen vertraut gemacht. Forschungsfeld und -gegenstand konnten in stetiger Kommunikation mit dem zuständigen Quartiersentwickler weiter ausgelotet werden. Eine intergenerationale Perspektive auf das Kronprinzenviertel wurde fokussiert. Ausgehend von den unmittelbar ersichtlichen Charakteristiken des Kronprinzenviertels wurde nun der Forschungsstand aufgearbeitet, um daraus konkrete forschungsleitende Fragestellungen ableiten zu können. Dies soll Gegenstand des nächsten Kapitels sein. Der weitere Feldzugang, die Zugzwänge des Feldes und die Reflexion dieser Prozesse sind Gegenstand in Abschnitt 5.4.
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Forschungsstand
Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit wird anhand von zwei unterschiedlichen Forschungssträngen (im Folgenden als Pfade bezeichnet) aufgearbeitet und mündet in der Relevanz des konkreten Erkenntnisinteresses als Forschungsdesiderat, welches die Rekonstruktion der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer als einen Weg aufzeigt, sich dem Erkenntnisinteresse zu nähern. Einerseits werden intergenerationale Beziehungen, vornehmlich in außerfamiliären Kontexten, beleuchtet und andererseits wird die Rolle des Quartiers bezüglich des demografischen Wandels für Ältere betrachtet. Quartier ist in den Raum- und Sozialwissenschaften ein häufig gebrauchter Begriff bzw. ein viel verwendetes Konzept. Es herrscht jedoch kein einheitliches Begriffsverständnis vor (Schnurr 2014: 22). Schnurr definiert Quartier auf Basis verschiedener disziplinärer Zugänge als „Fuzzy Concept“ folgendermaßen: „Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konstruierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfeldes abbilden“ (Schnurr 2014: 43).
An dieser Definition wird sich in der vorliegenden Arbeit orientiert. Der Forschungsstand besitzt nicht den Anspruch, die gegenwärtigen Diskurse um Quartier und intergenerationale Beziehungen in ihrer Vollständigkeit abzubilden. Vielmehr soll ein Eindruck der forschungspraktischen Herangehensweisen mit ausgewählten zentralen Befunden als Ausgangspunkt genommen werden, um das spezifische Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit zu schärfen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Bergholz, Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2_3
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Forschungsstand
Pfad I – Intergenerationale Perspektiven
Dieser Pfad der intergenerationalen Perspektiven ist in vier Etappen zu beschreiten, um schlussendlich das Ziel der Relevanz einer rekonstruktiven Herangehensweise an Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer zu erreichen. Zunächst wird in der ersten Etappe die Generationenforschung kurz beleuchtet und der Ausgangspunkt dargestellt, von dem intergenerationale Begegnungen und Solidarität außerhalb der Familie zunehmend zum Forschungsgegenstand in den Sozialwissenschaften werden. In der zweiten Etappe werden Befunde vornehmlich zu Projekten zur Förderung intergenerativer Zusammenarbeit und Begegnung aufgezeigt. Die dritte Etappe widmet sich etwas allgemeiner der gegenseitigen Wahrnehmung der Generationen in erster Linie aus einer quantitativen Forschungslogik heraus. In der vierten Etappe wird abschließend diskutiert, welche Implikationen nun in den aufgezeigten Befunden stecken und welche Konsequenzen dies für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit hat.
3.1.1
Etappe 1 – Zur Bedeutungszunahme außerfamiliärer Generationenbeziehungen
Seit den 1960er-Jahren beschäftigt sich die deutsche Altersforschung mit Generationenbeziehungen (Ette et al. 2010: 9). Thematisch wurde zunächst zwischen zwei Bereichen, den Generationenbeziehungen und den Generationenverhältnissen, unterschieden. Generationenbeziehungen beschäftigen sich vornehmlich damit, wie Generationenbeziehungen innerfamiliär gelebt werden (Ette et al. 2010: 11). Dabei sind vor allem die zunehmend größer gewordene gemeinsame Lebensspanne mehrerer Generationen sowie Austauschbeziehungen zwischen den Generationen im Zuge des sozialen und demografischen Wandels von Interesse (Ette et al. 2010: 11 f.). Generationenverhältnisse nehmen gesellschaftliche Aspekte in den Fokus und behandeln Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Kohorten hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit und damit der gesellschaftlichen Altersstruktur in Bezug auf soziale (umlagenfinanzierte) Sicherungssysteme (Ette et al. 2010: 12). Seit den 1990er-Jahren werden zusätzlich auch Wechselwirkungen zwischen beiden Themenbereichen untersucht, die sogenannten Generationenpotenziale (Ette et al. 2010: 13 f.). Innerfamiliäre Generationenbeziehungen wurden im Rahmen der Theorie intergenerationaler Solidarität (siehe zum Beispiel Bengston 2001; Bengston und Roberts 1991) beforscht. Diese erfasst alle relevanten Aspekte von intergenerationalen innerfamiliären Beziehungen, wenngleich vor allem ökonomische, emotionale
3.1 Pfad I – Intergenerationale Perspektiven
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und zeitliche Ressourcen sowie räumliche Nähe und Kontakthäufigkeit untersucht wurden. Dabei liegt der Fokus meist auf Älteren und ihren erwachsenen Kindern (Haberkern und Neuberger 2014: 1). Hier fließen vor allem Geld von Alt nach Jung und Unterstützungsleistungen und Pflege von Jung nach Alt (Haberkern und Neuberger 2014: 1). In der Folge dieses Modells entwickelten Lüscher und Kollegen die Theorie intergenerationaler Ambivalenz (Lüscher und Pajung-Bilger 1998), da der Ansatz um Bengston als zu stark auf Harmonie fokussiert angesehen wurde. Zentrale Aspekte dieses Ansatzes sind Ambivalenzen auf der Ebene sozialer Strukturen (unterschiedliche Rollenverständnisse und Normen) und auf der Ebene des Individuellen (emotionale Nähe versus individuelle Autonomie) (Ette et al. 2010: 17). Bei Fragen nach der Solidarität zwischen den Generationen werden diese also vornehmlich anhand von innerfamiliären Reziprozitätsbeziehungen und weniger in außerfamiliären Kontexten untersucht. Diese innerfamiliäre Perspektive erscheint im intergenerationalen Forschungsdiskurs dominant. Der Ausgangspunkt einer Bedeutungszunahme intergenerationaler Beziehungen in außerfamiliären Bereichen wird unter dem Stichwort des sozialen und demografischen Wandels diskutiert. Neben der relativen Zunahme älterer Menschen in der Gesellschaft äußert sich dieser durch eine Erosion bzw. Fluidität familiärer Strukturen und weitere Auswirkungen wie den Auszug der Kinder oder den Tod des*der Ehepartner*in. Darüber hinaus lassen generelle Individualisierungstendenzen innerfamiliäre Sozialbeziehungen an Bedeutung verlieren (Helmer-Denzel und Schneiders 2013: 327). Aufgrund des sozialen und demografischen Wandels können Sozialbeziehungen immer weniger in familiären Kontexten gelebt werden (Eisentraut 2008: 200). So treten andere Formen der Vergemeinschaftung in den Vordergrund, unter anderem intergenerationale Wohnformen oder bürgerschaftliches Engagement (Helmer-Denzel und Schneiders 2013: 330 ff.). Das Postulat, den intergenerationalen Austausch zu fördern und intergenerationale Beziehungen zu stärken, wird von Politik (vgl. zum Beispiel BMFSFJ 2012) und Wissenschaft (vgl. zum Beispiel Dallinger und Schmitt 2001: 64; Cosandey 2014: 150 ff.) gleichermaßen verfolgt. Demzufolge entsteht gegenwärtig eine Vielzahl an derartigen Projekten, die intergenerationale Beziehungen fördern. Diese sollen Sozialbeziehungen ergänzen bzw. kompensieren, die in familialen Strukturen nicht mehr erfüllt werden können (Suck und Tinzmann 2005: 26), und gleichermaßen die sogenannte Segregation der Generation (siehe dazu auch Abschnitt 4.2.3) zu überwinden helfen (Uhlendorff 2008: 138 f.). Allerdings liegen sowohl zu Fragen der außerfamiliären intergenerativen Solidarität (Findenig 2017: 11) als auch zu Urteilen von Älteren gegenüber Jüngeren im Speziellen (Pinquart und Schönbrodt 1997: 198) kaum
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Forschungsstand
empirische Befunde vor. Was dazu an Befunden vorhanden ist, wird im Folgenden dargelegt.
3.1.2
Etappe 2 – Intergenerationale Begegnungen in initiierten Kontexten
Im Rahmen des Projekts „Zusammenleben der Generationen – jetzt und später“ halten Dallinger und Schmitt (2001: 65) auf Basis einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Studien fest: „Durch generationsübergreifende Projekte können Verständnis und Kommunikation zwischen den Generationen sowie das gegenseitige Lernen voneinander gefördert werden; Vertreter der verschiedenen Generationen können einander ihre Erlebnisse und Sichtweisen vermitteln; generationsspezifische Erfahrungen werden ausgetauscht. Dies fördert die Solidarität zwischen den Generationen, was im Idealfall familiale Netze zwar nicht zu ersetzen, aber doch zu entlasten vermag.“
Dieses Zitat kann exemplarisch für den in der Einleitung behandelten Eindruck genommen werden, dass die Förderung von generationenübergreifenden Projekten als Garant zur Förderung von intergenerationaler Solidarität und sozialer Teilhabe gilt. So erfreuen sich generationenübergreifende Projekte in Deutschland großer Beliebtheit (Höpflinger 2010: 181). Höpflinger (2010: 183) gibt jedoch zu bedenken, dass teilweise bei Fachpersonen und in der breiten Öffentlichkeit bezüglich Generationenprojekten sozial-romantische Generationenmodelle, gekoppelt mit kulturpessimistischen Ansichten zum gesellschaftlichen Wandel vorherrschen. So wird vielfach angenommen, dass zwischen Jung und Alt enger Kontakt stets wünschenswert sei. Dies ist folglich auch eines der zentralen Absichten von Generationenprojekten, dass diese einen positiven Effekt für Jung und Alt herbeiführen. Altersheterogenen Projekten stehen allerdings altershomogene Netzwerke entgegen. Höpflinger (2008: 185) stellt in Frage, dass altersheterogene Kontakte, wie die Projekte teilweise suggerieren, per se besser seien als altershomogene. In unterschiedlichen Settings gibt es Studien zum Potenzial intergenerativer Aktivitäten. So diskutieren Baur et al. (2008) die sozialintegrativen Potenziale und Leistungen von Sportvereinen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die intergenerationale Integrationsleistung von Sportvereinen sehr voraussetzungsvoll ist. Es müsse zunächst zwischen Integrationsleistungen und -potenzial differenziert werden. Unter gewissen förderlichen Rahmenbedingungen wie kleinen Sportvereinen,
3.1 Pfad I – Intergenerationale Perspektiven
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gemischten Sportgruppen und ohnehin vorhandenem intergenerationalem lebendigem Vereinsleben kommen intergenerationale Integrationsprozesse in Gang (Baur et al. 2008: 192). Eisentraut zeigt aus der Perspektive von Jugendlichen, dass diese sich aktiv in außerfamiliäre Begegnungsmöglichkeiten einbringen und diese mitgestalten (Eisentraut 2008: 209). Dabei handelt es sich um verschiedenste intergenerationale Projekte. Zum Beispiel unterrichten Kunststudent*innen interessierte Senior*innen oder Jüngere beschäftigen sich mit pflegebedürftigen Senior*innen im Rahmen von Besucherdiensten zur Verbesserung der Lebensqualität der Senior*innen (Eisentraut 2008: 203). Die Erwartungen der Jugendlichen sind dabei Gelegenheiten beruflicher Profilierung und Selbstverwirklichung und Möglichkeiten intermediären Engagements sowie Kommunikation und Erfahrungsaustausch mit den Älteren (Eisentraut 2008: 209). Ferner wurden in dargestellten Projekten Stereotype abgebaut (Eisentraut 2008: 209). Die Auswirkungen intergenerativer Projekte auf Senior*innen in Seniorenheimen in Österreich haben Gaderer und Baumann (2008) untersucht. Dabei wurden in der Beurteilung von Aktivitäten1 mit Kindern von 3 bis 5 und 7 bis 10 Jahren hohe Übereinstimmungen mit positiven Auswirkungen dieser Aktivitäten gemessen. Besonders hohe Zustimmung erhielten die Möglichkeit zur Unterhaltung und das Erleben von Abwechselung (Gaderer und Baumann 2008: 251). Der Gesamtscore über alle Items der positiven Auswirkungen hinweg, fällt jedoch eher moderat aus und ist bei der Gruppe der älteren Kinder signifikant höher als bei der Gruppe der 3 bis 5-Jährigen (Gaderer und Baumann 2008: 251). Bei einem Höchstwert von 4 liegt der exakte Median bei den 3 bis 5-Jährigen bei 1,8 und bei den 7 bis 10Jährigen bei 1,9. Den Autor*innen zufolge, stehen die nur geringfügig erwarteten positive Effekte der Senior*innen im Widerspruch zu den bisher erforschten und angenommenen Wirkungen derartiger Projekte. Sie werden damit erklärt, dass die selektive Gruppe der Seniorenheimbewohner*innen sich mit dem Entwicklungsschritt der Integrität (Erikson 2003: 142) auseinandersetzen. Dies ist nicht mehr Bestandteil von Generativität, sondern erfordert eine innere Aktivität und weniger den direkten Austausch mit anderen (Gaderer und Baumann 2008: 254). Es zeigen sich darüber hinaus auch Bedenken und Befürchtungen bei den Projekten. Vor allem die Angst vor einer schnellen Ermüdung und einer zu hohen geistigen und körperlichen Beanspruchung finden hohe Zustimmung (Gaderer und Baumann 2008: 251). Insgesamt zeigt die Studie, dass die Heimbewohner*innen nur ein geringes Interesse 1 Folgende
Aktivitäten wurden durchgeführt: Singen/Musizieren, Tanzen, Frei Unterhaltung, Erzählen/Vorlesen von Geschichten, Kochen/Backen, Basteln, Malen, Spiele (Brett-, Karten-, Wissensspiele), Ausflüge, Filme ansehen, Gymnastikübungen, Ballspiele, Spielzeug spielen und auf den Spielplatz gehen (Gaderer und Baumann 2008: 250).
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Forschungsstand
und wenig Bedürfnisse an intergenerativen Projekten haben und vor allem das hohe Alter, die gesundheitlichen Einschränkungen und das Wohnumfeld dazu beitragen, dass sich eher mit der Entwicklungsaufgabe der Endlichkeit auseinandergesetzt wird (Gaderer und Baumann 2008: 255). Höpflinger (2010: 193) erachtet Intergenerationenprojekte als eines der zentralen Handlungsfelder der Zukunft. Solche seien dann erfolgreich, wenn alle beteiligten Altersgruppen in Entscheidungen eingebunden sind. Dem Autor zufolge sind derartige Projekte gegenwärtig von den Älteren dominiert und Jüngere sind demzufolge an der Ausgestaltung weniger beteiligt (Höpflinger 2010: 193). Weiter führt Höpflinger aus, dass wenige Kontakte zwischen den Generationen im Zweifel negative Stereotypisierungen fördern können als gar keine Begegnungen (Höpflinger 2010: 185). Somit wird darauf verwiesen, dass Intergenerationenprojekte darauf abzielen sollten, möglichst persönliche Beziehungen zwischen Jung und Alt aufzubauen (Höpflinger 2010: 185).
3.1.3
Etappe 3 – Gegenseitige Wahrnehmung der Generationen
Außerhalb konkreter intergenerationaler Projekte liegt eine Reihe von Befunden vor, die vor allem aufzeigt, welche Erkenntnisse bereits zu Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer vorhanden sind. Zieht man zunächst die Repräsentativbefragungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hess et al. 1997), die SIGMA-Studie (Ueltzhöffer 1999) und die Jacobs-Krönung-Studie aus dem Jahr 2013 heran, wird deutlich, dass sich Generationenbeziehungen und ihre Bewertung vor allem im außerfamiliären Bereich seit der Jahrtausendwende kaum geändert haben. In deskriptiven Auswertungen zeigt sich die jeweilige Meinung der verschiedenen Generationen, dass Junge und Alte in verschiedenen Welten leben würden und ein Auseinanderdriften der Generationen stattfinde (Ueltzhöffer 1999; Jacobs-Krönung-Studie 2013). Darüber hinaus wird evident, dass die verschiedenen Altersgruppen tendenziell am liebsten unter sich sind und somit kaum intensive Kontakte zwischen Jungen und Alten bestehen. So haben nur vier Prozent aller Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren intensiven Kontakt zu Personen ab 60 Jahren außerhalb von Familie und Beruf bzw. Bildungseinrichtungen (Ueltzhöffer 1999: 23), was die These der Segregation der Generationen (Höpflinger 2008: 40 f.) unterstützt. Die SIGMA-Studie zeigt auch, dass die Familie nach wie vor der wichtigste Ort für intergenerationale Begegnungen ist (Ueltzelhöffer1999: 14). Bei der Betrachtung von Fragenstellungen zur stereotypen Betrachtung der Generation vermutet das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
3.1 Pfad I – Intergenerationale Perspektiven
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(Hess et al. 1997) auf Basis seiner „Umfrage zum gegenseitigen Bild der Generationen“, dass negative Urteile über die andere Generation die Beziehung bzw. die Kontakthäufigkeit zur anderen Generation beeinflussen (Hess et al. 1997: 9), was wie oben dargestellt auch Eisentraut (2008: 209) belegt. Hess et al. (1997: 9) kommen aber ferner zu dem Ergebnis, dass nur circa jeder Zehnte ab 50 Jahren ein negatives Stereotyp wie Respektlosigkeit, Leichtsinnigkeit oder Verantwortungslosigkeit gegenüber Jüngeren äußert. Kruse und Thimm (1997) zeigen, dass es bei der Kommunikation zwischen jungen und alten Menschen, die sich nicht kennen, zu Stereotypisierungen kommt, was sich letztlich in der Art der Kommunikation äußert. Sie beziehen sich auf das „Communication Predicament of Aging Model“ von Ryan, Giles, Bartolucci und Henwood (1986). Das Modell geht davon aus, dass, wenn Jüngere mit Älteren zu tun haben, eine Stereotypisierung stattfinde und die Sprache der Jüngeren an vermeintliche Defizite der Älteren angepasst werde (Kruse und Thimm 1997). Derartige Stereotypisierungen finden sich häufig bezogen auf ältere Menschen. In umgekehrter Form liegen nur wenige Erkenntnisse vor. Demnach kann von Interesse sein, inwieweit diese Aspekte für Ältere in Interaktionen mit Jüngeren relevant sind. So kann es beispielsweise sein, dass die auf vermeinte Defizite ausgerichtete Sprache Jüngerer auf das Bild von jungen Menschen aus der Sicht Älterer wirkt. Aus einer tiefenpsychologischen qualitativen Perspektive verdeutlicht SchulzNieswandt (2012), dass der alte Mensch generell durch tiefe seelische Haltungen der „Hygieneangst“ gegenüber dem Andersartigen, Fremden sozial ausgegrenzt wird. Der Hygieneangst liegt die Logik der Dichotomie zugrunde, die letztendlich zu Inklusion und Exklusion führt. Das Bekannte, Vertraute wird inkludiert, das Fremde, Andersartige dagegen exkludiert. Diese psychologisch verankerten Dispositionen sind nicht determiniert, sondern im Prozess der „zweiten soziokulturellen Geburt“ sozial erlernbar (Schulz-Nieswandt 2012: 593 f.). Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Ambulantisierung der Versorgung und einer zunehmenden Anzahl alter und hochaltriger Menschen sozialräumlich von großer Bedeutung. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt die geschilderten Befunde, indem untersucht wird, inwieweit es in der Darstellung junger Menschen einen Selbstbezug der Älteren gibt. Sprich: Wird über junge Menschen vor dem Hintergrund, wie diese mit einem selbst umgehen, gesprochen? Pinquart und Schönbrodt (1997: 198) kommen zu dem Ergebnis, dass Senior*innen zwischen 60 und 94 Jahren die gegenwärtige junge Generation negativer als Jugendliche zur eigenen Jugendzeit bewerten (Pinquart und Schönbrodt 1997: 200). Dies bezieht sich auf alle abgefragten Items (u. a. Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Verantwortung, Friedfertigkeit). Es sei angemerkt, dass die Bewertung
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Forschungsstand
der gegenwärtigen Jugend zwar schlechter als die der eigenen ist, jedoch im Neutralbereich liegt, sodass nicht von negativen Stereotypen gesprochen werden kann. Zudem wurden von den Senior*innen bekannte Jugendliche positiver beurteilt als die jüngere Generation im Allgemeinen (Pinquart und Schönbrodt 1997: 201). Höpflinger (2010: 184) beschreibt dies als substanzielle Wahrnehmungsschere zwischen persönlichem Wohlbefinden und kollektivem Pessimismus, dass nämlich das persönliche Verhältnis zu Personen der anderen Generation stets besser eingestuft wird als das allgemeine. Eine erweiterte Perspektive eröffnen Schröder und Leonhardt (1998). Sie gehen davon aus, dass die Haltung gegenüber Jugendlichen mit den eigenen Erfahrungen in Beziehung steht. Jugendkulturen wirken demnach als Projektionsleinwand für Wünsche und Ängste Erwachsener. Die Betrachtung und Bewertung Jugendlicher durch Erwachsene hängt also von den eigenen lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen ab (Wirth 1984: 7 ff.). Vor diesem Hintergrund unterscheiden Schröder und Leonhardt (1998: 25) vier Umgangsformen mit Jugendlichen: abwertende, idealisierende, sorgende und gleichgültige. Die abwertende Haltung kann zur Ursache haben, dass die jungen Menschen Dinge tun, die man sich selbst nie getraut hat, als bedrohlich für eigene Leistungen angesehen werden oder verborgene Aggressionen und tabuisierte Gefühle ansprechen. Abwertung dient als Schutzmechanismus (Schröder und Leonhardt 1998: 25 f.). Die Idealisierung ist die Projizierung der eigenen Wünsche, die man selbst gerne realisieren würde, auf Jugendliche und besitzt einen Abwehraspekt, da sie die Wahrnehmung der Jugendlichen verzerrt (Schröder und Leonhardt 1998: 26). Die sorgende Haltung wird dann problematisch, wenn sie zur dominierenden Einstellung wird. Die Autor*innen stellen die Frage, wie Sorge mit selbsterlebten Versorgungsdefiziten korrespondiert (Schröder und Leonhardt 1998: 26). Gleichgültigkeit als vierte Haltung passt den Autor*innen zufolge in die Postmoderne, in der vielen vieles einfach „egal“ und „beliebig“ zu sein scheint (Schröder und Leonhardt 1998: 26). Auf Basis des Deutschen Alterssurveys (DEAS) zeigen Franke und Simonson (2017: 348), dass die 40- bis 85-Jährigen Jüngere kritischer beurteilen als Ältere, da knapp zwei Drittel der Meinung sind, dass Jüngere sich zu wenig um die Belange der Älteren kümmern. Dagegen sind nur 41 Prozent der Auffassung, die Älteren kümmerten sich zu wenig um die Zukunft der Jungen. In der ersten Aussage steckt somit die implizite Erwartungshaltung, dass Jüngere mehr für Ältere tun sollten. Weiterhin zeigt die Studie, dass sich die Wertschätzung der Jüngeren durch die Älteren seit 1996 nicht verändert hat. Ältere bewerten dann die jüngere Generation positiver, wenn sie selbst eine enge Beziehung zu ihren Kindern haben, im Vergleich zu Älteren, die entweder keine enge Beziehung zu ihren Kindern oder gar keine Kinder haben (Franke und Simonson 2017: 351). Ein niedriger Bildungsstatus führt
3.1 Pfad I – Intergenerationale Perspektiven
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zu einer kritischeren Bewertung der Generationenbeziehungen. Diese Gruppe ist der Meinung, dass sich sowohl die Jüngeren zu wenig um die Bedürfnisse der Älteren (77,6 Prozent Zustimmung) also auch die Älteren zu wenig um die Zukunft der Jüngeren kümmern (51,0 Prozent). Im Vergleich dazu sind die Zustimmungsraten bei den Hochgebildeten 56,4 Prozent bzw. 41,6 Prozent. An Debatten zu Generationenbeziehungen anschließend konstatieren Schoklitsch und Baumann (2012), dass Generativitätsforschung zum höheren Lebensalter in den Alterswissenschaften noch immer ein Schattendasein fristet. Quantitativ ausgerichtete Studien fokussieren sich vornehmlich auf das mittlere Erwachsenenalter und Personen über 60 Jahre werden kaum berücksichtigt (Schoklitsch und Baumann 2012: 268). Weitere Befunde bzw. Perspektiven auf Generativität werden im Zuge der gegenstandsbezogenen theoretischen Zugänge (siehe Abschnitt 4.2.4) dargestellt.
3.1.4
Zwischenfazit
Der Überblick verdeutlicht die Notwendigkeit, intergenerationale Beziehungen auf der Erlebensebene zu beforschen. So nimmt die Studie von (Kruse und Timm 1997) eine Alt-Jung-Perspektive ein, was eine Erlebensebene der Diskriminierung bei Älteren anzeigt, diese aber nicht weiterverfolgt wird. Auch der erörterte Gedanke der Hygieneangst (Schulz-Nieswandt 2012) bietet einen Ausgangspunkt, Bilder von jungen Menschen aus der Perspektive erfahrener Ablehnung der Älteren durch Jüngere zu betrachten, welche im Umkehrschuss die Bilder von jungen Menschen prägen können. Empirische Ergebnisse werfen also implizit gewisse Fragen auf der Erlebensebene auf, die bisher nicht aufgegriffen wurden. Beim Betrachten der methodischen Zugänge zur Erforschung der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer wird deutlich, dass sich vornehmlich quantitative Studien mit dem Thema auseinandersetzen. Diese sind nochmals in deskriptive und inferenzstatistische Verfahren zu unterscheiden. Darüber hinaus fällt eine weitere Differenzierungsebene auf, dass sowohl innerhalb als auch zwischen Studien Fragen der gegenwärtigen Bewertung oder Wahrnehmung junger Menschen aber auch Fragen zur Antizipation zukünftiger Entwicklungen zwischen den Generationen erforscht werden. Festzuhalten bleibt, dass die vorgelegten Befunde zwar Aussagen darüber zulassen, wie sich Generationen gegenseitig bewerten, was vermeintliche Stereotype abbaut und wie es sich mit der Kontakthäufigkeit verhält. Sie vermögen aber keinen Aufschluss darüber geben, in welch unterschiedlicher Art und Weise der Umgang mit jungen Menschen durch Ältere strukturiert sein kann. Dafür bedarf
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Forschungsstand
es eines Zugangs zur tatsächlichen Erlebensebene. Projekte zur Kompensation von nicht mehr erfüllten innerfamiliären Sozialbeziehungen verweisen bereits auf einen stärkeren Sozialraumbezug, der im Folgenden als zweiter Pfad betrachtet wird.
3.2
Pfad II – Die Bedeutung des Quartiers bzw. Wohnumfeldes in einer alternden Gesellschaft
Das Thema Altern in Quartieren erlebt seit ungefähr einem Jahrzehnt einen erstaunlichen Aufschwung (Noack und Veil 2013: 1). Die Schwerpunkte liegen dabei auf sozialer Teilhabe, Partizipation2 und Verbesserung der Lebensumstände. Ausgangspunkt ist dabei die zunehmende Bedeutung des unmittelbaren Wohnumfeldes im Altersverlauf (Kricheldorff 2015: 17 f.; Oswald und Konopik 2015: 401). 93 Prozent der älteren Bevölkerung leben in einer eigenen Wohnung oder in einem eigenen Haus (Beetz und Wolter 2015: 210) und möchten darüber hinaus so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld verbleiben (BMFSFJ 2001: 42). Die Lebensbezüge vieler älterer Menschen sind die Wohnung, das Wohnumfeld sowie das Quartier (Saup 1999: 44). Folglich setzt sich die aktuelle Gerontologie zunehmend mit dem individuellen Raumbezug auseinander (Kricheldorff 2015: 18), denn vor allem bei nachlassender Mobilität und damit einhergehenden kleiner werdenden Aktions- und Handlungsspielräumen werden Wohnung, Nachbarschaft und Wohnumfeld hinsichtlich des individuellen Wohlbefindens wichtiger (Kricheldorff 2015: 18 f.). Dies betont explizit auch die siebte Altenberichtskommission der Bundesregierung (BMFSFJ 2016: XXIV). Vor allem die subjektiven und emotionalen über die Zeit der Wohndauer gewachsenen Bezüge zur Wohnung und zum Wohnumfeld sind entscheidend, um in der gewohnten Umgebung altern zu wollen (BMFSFJ 2016: XXIV). Soziale Teilhabe und Partizipation spielen dabei eine entscheidende Rolle. Dabei ist eine Tendenz von einer individuellen zu einer sozialraumorientierten Gerontologie – durchaus im Sinne des Spatial Turns3 – zu erkennen und weiterhin lassen sich in diesem Zusammenhang partizipative Studien mit interventionsgerontologischem Schwerpunkt finden (Kricheldorff und Oswald 2015: 399). 2 Partizipation
kann zum Beispiel im Rahmen des Modells von Wright et al. (2010) verstanden werden. Dort werden neun verschiedene Stufen unterschieden, welche von der Nicht-Partizipation bis weit über die Partizipation hinaus also der Selbstorganisation reichen. 3 Der Spatial Turn meint die Hinwendung zu Raum als relevante Kategorie des Sozialen. Räume stellen somit soziale Konstrukte dar (Löw 2015). Döring und Thielmann verweisen darauf, dass jede Disziplin sich vornehmlich innerfachlich ihren Spatial Turn eingeläutet bzw. sich zu ihm positioniert hat (Döring und Thielmann 2008: 10), so auch die Gerontologie.
3.2 Pfad II – Die Bedeutung des Quartiers bzw. Wohnumfeldes …
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Strube et al. (2015) zeigen, wie sich Dimensionen sozialer Benachteiligung auf die Teilhabe-chancen und -möglichkeiten auswirken. Dabei ist zunächst die Erreichbarkeit von vulnerablen Gruppen von Interesse, welche über Multiplikatoren prinzipiell gut gelang, wobei allerdings oft ohnehin Gruppensettings erreicht wurden, die bereits teilhatten. Selbst organisierte Projekte erwiesen sich häufig als exkludierend, sodass offene Teilhabe verhindert wurde. Dies kann auch für Stadtteilzentren als multifunktionale Einrichtungen und Begegnungsräume gelten. Simonson et al. (2013) verdeutlichen anhand einer Mehrebenenanalyse, dass die Möglichkeit, die Lebensphase Alter den eigenen Lebensentwürfen entsprechend zu gestalten und gesellschaftlich aktiv zu sein, in dem Sinne ungleich verteilt ist, dass sich vor allem in den unteren Schichten der Zugang zu sozialer Teilhabe (in den Dimensionen außerhäusliche Bildungsaktivitäten und Ehrenamt) schwierig gestaltet. Darüber hinaus haben regionale Faktoren Einfluss auf die soziale Teilhabe und die spezifischen Rahmenbedingungen vor Ort. Letztendlich kommen sie hinsichtlich der Rahmenbedingungen (Ermöglichungsstrukturen) und sozialer Ungleichheit bezüglich sozialer Teilhabe zu ähnlichen Ergebnissen wie Rüßler et al. (2013), auf deren Studien unten detaillierterer eingegangen wird. Auch Helmer-Denzel und Schneiders (2013) diskutieren aus der Perspektive der Vergemeinschaftung bürgerschaftliches Engagement und gemeinschaftliche Wohnformen als Antwort auf erodierende familiäre Strukturen und kommen zu dem Fazit, dass besonders gemeinschaftsbildende Wohnformen ins Quartier geöffnet werden sollten, dort bürgerschaftliches Engagement aktiviert und somit Gemeinschaft gelebt werden könne. Dabei soll der Fokus ebenfalls auf dem integrierenden Potenzial derartiger Projekte liegen, auch unterprivilegierte Ältere aus den Quartieren mit einzubinden, die sonst aufgrund mangelnder ökonomischer und sozialer Ressourcen ausgeschlossen würden (Helmer-Denzel und Schneiders 2013: 334 f.). Dies schließt an die Ungleichheitsbefunde sozialer Teilhabe Älterer von Strube et al. (2015) und Simonson et al. (2013) an. Oswald und Konopik (2015: 401) konstatieren, dass es in der gerontologischen sozialraumbezogenen Forschung kaum empirische Beiträge gibt, die differenzielle Wirkungen von alltäglichem Wohnhandeln, Zugänglichkeitsbarrieren, Nachbarschaftsbezügen und Quartiersverbundenheit auf Wohlbefinden im sehr hohen Alter bzw. bei schlechter Gesundheit untersuchen. Demnach fehlen Studien zum subjektiven Erleben Älterer im sozialräumlichen Kontext. Soziale Teilhabe kann auch partizipativ und interventionsgerontologisch untersucht werden. So zeigen Rüßler und Stiel (2013), dass Empowermentkonzepte in Form von Beteiligungsprojekten zur Gestaltung des Quartiers positive Effekte auf die Lebensqualität dieser Personen haben. Das Untersuchungsgebiet GelsenkirchenSchalke zeichnet sich durch eine hohe Armut bzw. Armutsgefährdung aus. So
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3
Forschungsstand
gelten bis zu knapp 50 Prozent der partizipativ eingebundenen Älteren als einkommensarm. Konkret wurde eine Zunahme der Wertschätzung, des nahräumlichen (Aktions-)Wissens und des örtlichen Zugehörigkeitsgefühls im Projektverlauf beobachtet. Ferner hatte der Partizipationsprozess auf die individuelle und kollektive Selbstwirksamkeit positive Auswirkungen. Darüber hinaus konnten persönliche Netzwerke vergrößert und vertieft, die subjektive Wertschätzung gesteigert sowie persönliche Lernerfahrungen gemacht werden. Auch Verbesserungen der physikalischen Umwelt wie zum Beispiel die Verringerung von Mobilitätsbeeinträchtigungen wurden erreicht (Rüßler und Stiel 2013). Bei dieser Art der Forschung wird einerseits gezeigt, dass unter Einbezug der Zielgruppe in den Forschungsprozess valide Ergebnisse erzielt werden können und andererseits, dass diese Form der Forschung gleichzeitig einen Weg darstellt, wie Altern gelingen kann, nämlich sozialräumlich und aktiv eingebunden in ein Gemeinwesen. Das zeigen Rüßler et al. (2013) in einer weiteren Publikation zum selben Projekt. Dafür benötige es geeignete Ermöglichungsstrukturen wie den kommunalen politischen Willen und deren Unterstützung sowie Vernetzung und Einbezug von relevanten Akteur*innen wie zum Beispiel Seniorenvertretung, Netzwerke der Seniorenarbeit usw. Wichtig seien zudem die wirkliche Partizipation und Wertschätzung der Teilnehmer*innen als Expert*innen ihrer Umwelt. Das Einbinden vulnerabler Gruppen älterer Menschen hilft, sozialer Ungleichheit in der (Partizipations-)Demokratie entgegenzuwirken. Hinsichtlich der Gestaltung der Lebenswelt Älterer erweist sich eine Quartiersfokussierung in Hinblick auf die gesellschaftliche Alterung als sinnvoll, was zum Beispiel der siebte Altenbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ (BMFSFJ 2016) oder das ExWoSt-Forschungsfeld „Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Habermann-Nieße 2010) verdeutlichen. Eine intergenerationale Perspektive ist bei einer derartigen gesamtgesellschaftlichen Herausforderung obligatorisch. Dieser Logik folgend sind intergenerationale Erlebensräume von großer Bedeutung, um sich der kaum beforschten Perspektive Älterer auf Jüngere widmen zu können.
3.3
Forschungsleitende Fragestellungen und Erkenntnisinteresse
Wie die bisherigen Ausführungen zeigen konnten, wird die Perspektive der Älteren auf Jüngere in außerfamiliären Kontexten bislang wenig erforscht. Intergenerationale Kontakte gibt es vor allem in der Familie und am Arbeitsplatz. Speziell die
3.3 Forschungsleitende Fragestellungen und Erkenntnisinteresse
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Familie ist Forschungsgegenstand von Generationenbeziehungen. Zugleich nehmen Sozialbeziehungen im Allgemeinen und intergenerationale Beziehungen im Speziellen innerhalb der Familie ab (Eisentraut 2008: 200). Diese verlagern sich in anderweitige Bereiche wie zum Beispiel nachbarschaftliche, sozialräumliche Netzwerke. Im Zuge der demografischen Alterung werden also intergenerationale Kontakte vor dem Hintergrund des Bedeutungszuwachses des Wohnumfelds und einer Zunahme von Einpersonenhaushalten im tertiären Sektor (wie Ueltzhöffer (1999) es bezeichnet) auf der einen Seite und bezüglich des demografischen und sozialen Wandels und der damit einhergehenden Erosionserscheinungen der Familien und Individualisierungstendenzen auf der anderen Seite wichtiger. Der tertiäre Sektor in Form von Quartiers-, Teilhabe- und Engagementforschung wird zwar umfassend untersucht, jedoch führte dies bisher nicht dazu, dass die dem Umgang zugrunde liegenden Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer aus einer intergenerationalen Perspektive analysiert wurden. Viele Befunde zu Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer stammen aus dem Zeitraum um die Jahrtausendwende. Der gegenwärtige Forschungsdiskurs ist dagegen durch eine Vielzahl an projektbezogenen Interventionsstudien bzw. Begleit- und Evaluationsstudien dominiert. Das handlungsleitende Wissen in intergenerationalen Zusammenhängen aus der Perspektive der Älteren ist weitestgehend unerforscht. Welche Bilder bzw. welches Erfahrungswissen das Handeln leiten, kann einerseits dort untersucht werden, wo sich Menschen vermehrt begegnen, nämlich im unmittelbaren Wohnumfeld, und andererseits implizieren diese Handlungen jenes Wissen, was für ein tiefergehendes Verständnis von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer von Interesse ist, wie in Abschnitt 4.1 noch zu zeigen ist. Ein Quartiersbezug hat dabei zwei Vorteile. Zum einen dient er als Setting, um sozialräumlich kontrolliert Erfahrungswissen zu erfassen, und zum anderen können gleichermaßen Erkenntnisse über sozialraumspezifisches intergenerationales Zusammenleben gewonnen werden. Der Quartiersbezug hat somit sowohl in der Erhebungsphase als auch in der Auswertungsphase seine Kraft. Später können Bilder von jungen Menschen von einem konkreten Erlebensraum abgehoben werden und in ihrer Komplexität in Form von sinngenetischen Typen über das Quartier hinaus ihre Aussagekraft entfalten, denn rekonstruktive handlungsleitende, in der Handlungspraxis verankerte implizite Bilder von jungen Menschen sind gänzlich unerforscht. Dahingehende Forschung vollzieht sich lediglich auf einer expliziten Ebene, das aber auch sehr rudimentär. Zieht man den sechsten Altenbericht der Bundesregierung zum Thema Altersbilder heran und betrachtet die Beispiele, mit welchen wissenschaftlichen Methoden Altersbilder erforscht werden, fällt auf, dass rekonstruktive Verfahren zur Analyse impliziter, vorreflexiver Sinnstrukturen und Wissensbestände in dem großen
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Forschungsstand
interdisziplinären Forschungsfeld der Altersbildforschung kaum eine Rolle spielen (BMFSFJ 2010: 29 ff.). Diesbezüglich sei lediglich auf Studien von Schäffer (2010) und Dörner et al. (2011) verwiesen, die eine Ausnahme darstellen. Bei Betrachtung der gegenteiligen Perspektive der Bilder von jungen Menschen, die ungleich kleiner ist, finden sich derartige Methoden gar nicht, sodass die vorliegende Arbeit sich nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch und somit grundlagentheoretisch einem Forschungsdesiderat nähert. Es konnte gezeigt werden, dass die beiden Pfade zu den zwei nachstehenden forschungsleitenden Fragestellungen führen und gleichermaßen ein Forschungsdesign nahelegen, welches auf Grundlage theoretischer Grundannahmen (Abschnitt 4.1) im fünften Kapitel dargelegt wird. Nimmt man also die aufgedeckten Forschungslücken in ihren empirischen und methodischen Ausprägungen ernst, so vermag die vorliegende Arbeit eine deutlich vielfältigere Perspektive auf junge Menschen aus der Sicht Älterer zu eröffnen, die sich jenseits von Meinung, Höflichkeit und potenzieller Hilfsbereitschaft bewegt. Auf Basis des Forschungsstandes liegen der Arbeit die folgenden forschungsleitenden Fragen zugrunde: (1) Welche stereotypen und erfahrungsbasierten Bilder von jungen Menschen herrschen bei den Älteren vor und in welcher Beziehung stehen diese zueinander? (2) Welche Rolle spielt das eigene Wohnquartier hinsichtlich erfahrungsbasierter Bilder von jungen Menschen und als intergenerationaler Erlebensraum? Nachfolgend werden diese Fragen grundlagentheoretisch fundiert, methodologisch angepasst und in ein konkretes Forschungsdesign überführt.
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Theoretischer Bezugsrahmen
Schroeter (2004: 17) formuliert den Anspruch an die Alterssoziologie, dass diese sich auf die allgemeine Soziologie rückbesinnen und den reichhaltigen Fundus für alterssoziologische Fragestellungen nutzen solle. Dieser Idee folgend wird in Bezug auf das Erkenntnisinteresse der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer ein theoretischer Rahmen eröffnet, der sich an diversen soziologischen Klassikern orientiert. Dabei wird der Logik Erving Goffmans entsprochen und eine Vielzahl an theoretischen Zugängen gewählt, um der Komplexität des Forschungsgegenstandes gerecht zu werden (Raab 2008: 33). Im ersten Teil (Abschnitt 4.1) wird die forschungsleitende Fragestellung in ein grundlagentheoretisches Handlungsmodell im Sinne einer praxeologischen Wissenssoziologie überführt. Der zweite Teil führt in gegenstandsbezogene theoretische Zugänge in Hinblick auf das konkrete Erkenntnisinteresse ein. Mit dem relationalen Raumbegriff von Martina Löw (2001) wird zunächst theoretisch dargelegt, wie sich die Konstitution von Raum beim Individuum vollzieht. Daran anschließend werden in Bezug auf Goffman drei Formen der Erfahrung bzw. der Handlungspraxis aufgezeigt: die zentrierte und die nicht-zentrierte Interaktion (Goffman 2009: 49 ff.) sowie die Beobachtung, welche unter anderem in Bezug auf den relationalen Sozialraum relevant werden. Der dritte gegenstandsbezogene theoretische Zugang beleuchtet verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien bzw. Zugänge zum Generationenbegriff, um auf dessen Basis unterschiedliche Formen von Generativität einzuführen, welche in der Beziehung von alten und jungen Menschen von Interesse sind. Ferner dient der theoretische Bezugsrahmen dazu, im Sinne der Forschungslogik des problemzentrierten Interviews (vgl. Abschnitt 5.1) das theoretische Vorwissen sowie die auf der Methodologie der dokumentarischen Methode beruhenden Erkenntnisse offenzulegen und dem Forschungsinteresse fruchtbar zu machen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Bergholz, Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2_4
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4.1
4 Theoretischer Bezugsrahmen
Herleitung eines metatheoretischen Handlungsmodells zur Rekonstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer
Das metatheoretische Handlungsmodell zur Rekonstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer wurde im Wesentlichen in Anlehnung an Bohnsacks Grundlagentheorie einer praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack 2012; Bohnsack 2014a; Bohnsack 2017; Bohnsack et al. 2013: 13) und Schäffers Ansätze zur dokumentarischen Altersbildforschung (Schäffer 2010) im Zuge der vorliegenden Arbeit entwickelt, um sich anhand dieses Modells dem Erkenntnisinteresse in systematisierter Weise zu nähern. Es kann somit bereits im Vorfeld der Empirie als erstes (theoretisches) Ergebnis der vorliegenden Arbeit betrachtet werden. In einem ersten Schritt werden zunächst die metatheoretischen Grundlagen des Handlungsmodells erläutert. Daran anschließend erfolgt der konkrete Zuschnitt auf das Erkenntnisinteresse, indem die dargelegten Grundlagen in ein erkenntnisleitendes Handlungsmodell zur Rekonstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer überführt werden.
4.1.1
Metatheoretische Grundlagen einer praxeologischen Wissenssoziologie
Die vorliegende Arbeit orientiert sich an der praxeologischen Wissenssoziologie Ralf Bohnsacks. Zentrale theoretische Bezugspunkte sind die Erlebnisschichtung sowie das kommunikative und konjunktive Wissen nach Karl Mannheim, die (virtuale) soziale Identität Erving Goffmans als Form der Fremdidentifikation sowie darauf aufbauende weiterführende Überlegungen von Ralf Bohnsack. Ausgangspunkt des metatheoretischen Handlungsmodells zur Rekonstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer ist die Unterscheidung zwischen Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen als Leitdifferenz. Dabei geht es um eine analytische Trennung von zwei unterschiedliche Wissensformen, nämlich dem expliziten und dem impliziten Wissen. Das explizite Wissen ist das Kernstück des Orientierungsschemas und umfasst grob gesagt Theorien der Erforschten über ihr eigenes Handeln, sogenannte Alltags- bzw. Common-SenseTheorien, und ist dem*der Akteur*in reflexiv zugänglich (Bohnsack 2012: 120). Dem steht das implizite Wissen gegenüber, welches das Handeln leitet, an die Handlungspraxis geknüpft ist und dem*der Akteur*in nicht reflexiv zugänglich ist.
4.1 Herleitung eines metatheoretischen …
27
Orientierungsschemata als Ebene der Fremdidentifizierung Auf der Ebene des Orientierungsschemas werden drei Bereiche unterschieden. Erstens institutionalisiertes und rollenförmiges Handeln, zweitens Theoriekonstruktionen des Common-Sense und drittens die Konstruktion sozialer Identitäten (Bohnsack 2017: 84 f.). Für die vorliegende Arbeit werden vor allem soziale Identitäten von Interesse sein, da sie in Form von Fremdbildern und Fremdidentifizierungen relevant sind1 . Das Orientierungsschema ist die Ebene der kommunikativen Generalisierung. Auf dieser Ebene besteht Wissen losgelöst von seinem Entstehungszusammenhang und besitzt somit eine allgemeine Definition. Kommunikative Verständigung ist auf dieser Ebene stets eine der wechselseitigen Interpretation und keines unmittelbaren Verstehens, wie es bei konjunktiver Verständigung der Fall ist (Bohnsack 2014b: 61). Wie bereits angedeutet wurde, ist das Orientierungsschema u. a. die Ebene der Konstruktion sozialer Identitäten und somit der Fremdidentifizierung. Nach Goffman (2014: 11) wird unter sozialer Identität die Einordnung einer fremden Person – zum Beispiel bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße – in klassische Kategorien wie Alter oder Ethnie verstanden, die man für das Erscheinungsbild des Gegenübers als normal empfindet. Demzufolge sind diese Kategorien bereits bei nicht-zentrierten Interaktionen oder reiner Beobachtung2 identifizierbar (Raab 2008: 76). Dies geschieht zunächst anhand von Zuschreibungen, die – so die Annahme – über verschiedene Situationen hinweg relativ stabil bleiben (Raab 2008: 76). Wenn man einer fremden Person begegnet, antizipiert man ihre soziale Identität (Goffman 2014: 10). Es liegt nahe, dass sich die soziale Identität in einer zentrierten Interaktion als korrekturbedürftig erweist. Sie ist lediglich ein Stereotyp (Goffman 2014: 11). Die Antizipation der sozialen Identität des Gegenübers wandelt das Individuum in normative Erwartungen und darüber hinaus in rechtmäßig gestellte Anforderungen um, die auf eigenen Werten und Normen in Bezug auf die Kategorien der anderen Person beruhen (Goffman 2014: 11). Menschen machen sich die gestellte Forderung solange nicht bewusst, bis eine Situation entsteht, die diese Anforderungen abfragt. Diese Forderungen werden deshalb als im Effekt gestellte Forderungen und als virtuale soziale Identitäten bezeichnet (Goffman 2014: 11). Diese im Effekt zugeschriebene Identität wird von einer solchen, die ihr tatsächlich nachgewiesen werden kann, unterschieden (Goffman 2014: 11). 1 Zu den Bereichen der Common-Sense-Theorien und institutionalisiertes und rollenförmigen
Handeln im Rahmen der Dokumentarischen Methode bzw. praxeologischen Wissenssoziologie siehe Bohnsack 2012: 123 f. und Bohnsack 2017: 84 ff. 2 Zu nicht-zentrierter und zentrierter Interaktionen sowie Beobachtung siehe Abschnitt 4.2.2 bzw. Goffman 2009: 49 ff.
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
Findet ein Individuum eine Passung einzelner Aspekte seiner stereotypen Kategorisierung, wird dies als aktuale soziale Identität bezeichnet (Goffman 2014: 10). Es kann also eine große Diskrepanz zwischen aktualer und virtualer sozialer Identität vorherrschen. Zu betonen ist, dass die soziale Identität unabhängig von konkreten Handlungen besteht, jedoch handlungsleitend werden kann. Der Begriff der (virtualen und aktualen) sozialen Identität wird ein Stück weit aus dem Gesamtkontext Goffmans herausgelöst, indem es eben nicht um eine rollentheoretische Nutzung und ein Verständnis des Selbst geht (Raab 2008: 76), sondern sie als Stereotyp verstanden wird, welche Erwartungen auslösen kann. Werden diese Erwartungen handlungspraktisch eingefordert, kann davon gesprochen werden, dass Stereotype handlungsleitend sind. Eine besondere Form der virtualen sozialen Identität sind die sogenannten Normalitätserwartungen (Bohnsack 2017: 153). Dabei handelt es sich um subjektive Erwartungen, die das Individuum im Rahmen der Fremdidentifizierung als normal erachtet. Das Normale ist also keine Person, sondern eine Perspektive (Raab 2008: 79). Normalitätserwartungen sind im Sinne der virtualen sozialen Identität Erwartungen, die das explizite Wissen um das Allgemeine betreffen. In der Abweichung von dieser Normalitätsfolie zeigen sich die Besonderheiten eines Falls (Bohnsack 2014b: 86).3
3 Die
soziale Identität ist der erste Bestandteil der Typologie des Selbst. Von der sozialen Identität wird die persönliche Identität unterschieden. Diese ist komplementär zur sozialen Identität und meint die Kombination einzigartiger Merkmale des Gegenübers, um diesen eindeutig von anderen Personen unterscheiden zu können (Goffman 2014: 74). Dies sind zum Beispiel Daten der Lebensgeschichte, Klang der Stimme, Name usw., die das Individuum als Subjekt ausmachen und dadurch von allen anderen Individuen unterscheidbar macht (Goffman 2014: 74). Zudem stellt die persönliche Identität sicher, dass das Ich über verschiedene Situationen hinweg stabil bleibt. Die persönliche Identität ist ein soziales Phänomen, da es als Unterscheidungsmerkmal innerhalb einer Gruppe fungiert. Sie beinhaltet positive, aber auch negative stigmatisierende Merkmale und beruht stets auf Akten sozialer Identifizierung und Zuschreibung (Raab 2008: 77). Ich-Identität bildet sich anhand eines Wechselspiels von sozialer und persönlicher Identität aus. Sie bildet den subjektiven und reflexiven Teil des Selbst (Raab 2008: 78). Beide komplementär wirkenden Identitätstypen sind soziale Produkte, die jedes Individuum im Interaktionsprozess erwirbt (Bamberg 2006: 165). Wie bereits deutlich wurde, sind soziale und persönliche Identität Fremdzuschreibungen. Für ein Individuum ist nun die Ich-Identität „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt und das auf der Verschmelzung beider fremdzugeschriebener Identitäten als reflexiver subjektiver Prozess beruht“ (Goffman 2014: 132). Ich-Identität auf Erikson (2017) basierend ist also das Balancieren zwischen beiden Identitäten. Diese stehen dabei in ständigen Widerstreit zueinander (Krappmann 1971: 30). Eine gelungene Identitätsbalance ist dann vorhanden, wenn das Individuum so wie kein anderer (persönliche Identität) und andererseits wie alle anderen ist (soziale Identität) (Krappmann 1971: 30). Dies äußert sich, wenn sich das
4.1 Herleitung eines metatheoretischen …
29
Orientierungsrahmen Der Orientierungsrahmen umfasst das implizite Wissen eines*einer Akteur*in und ist handlungsleitend. In Abgrenzung zum Orientierungsschema, welches kommunikativ-generalisierendes Wissen als theoretisches Wissen in den Fokus nimmt, bezieht sich der Orientierungsrahmen auf nicht theoretisches und folglich atheoretisches Wissen. Dieses Wissen ist nicht explizierbar, an die Handlungspraxis geknüpft und vorreflexiv. Am Beispiel des Knüpfens eines Schuhknotens verdeutlicht Mannheim die Verankerung dieser Wissensform in der Handlungspraxis (Mannheim 1980: 73 ff.). Demnach ist es kaum möglich, die Handlung des Knüpfens eines Schuhknotens zu explizieren. Was ein Knoten ist, erfährt man erst im Herstellungsprozess (Bohnsack 2014b: 61). Wenngleich Bourdieus Habitusbegriff und Bohnsacks Orientierungsrahmen weitestgehend synonym genutzt werden (Bohnsack 2012: 126), verweist der Orientierungsrahmen eher auf den modus operandi als Produkt impliziter Wissensbestände und mentaler Bilder (Bohnsack 2012: 125)4 . Auch vor dem Hintergrund der stärkeren Orientierung an Kategorien der Mannheim’schen Wissenssoziologie bietet sich der Begriff des Orientierungsrahmens an (Bohnsack 2012: 126). Mentale Bilder können somit auch erfahrungsbasierte Bilder von jungen Menschen sein, die dem*der Akteur*in nicht reflexiv zugänglich sind, wie später noch zu zeigen ist. Zentraler Bestandteil des Orientierungsrahmens ist das sogenannte konjunktive Wissen (Mannheim 1980: 201 ff.). Konjunktives Wissen meint implizites Wissen, das gemeinsam von mehreren Personen geteilt und in diesem geteilten Erfahrungsraum angeeignet wird. Akteur*innen verfügen dann über konjunktives Wissen, wenn sie auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Konjunktive Erfahrungen konstituieren schlussendlich einen konjunktiven Erfahrungsraum. Diese Erfahrungsräume können losgelöst von persönlicher Bekanntschaft oder direkter Interaktion bestehen. So können beispielsweise Generationenzusammenhänge (Schäffer 2003) oder Milieus (Bohnsack 1989) konjunktive Erfahrungsräume darstellen. Sie existieren nicht in Reinform, sondern überlagern einander stets (Schäffer 2010: 213). Dem soeben eingeführten Begriff der Erlebnisschichtung kommt in der Wissenssoziologie Mannheims insbesondere hinsichtlich seines Generationenbegriffs eine zentrale Rolle zu. Bezüglich der Erlebnisschichtung wird zwischen angeeigneter und selbsterworbener Erinnerung differenziert. „Nur wirklich selbst erworbene Individuum trotz seiner Einzigartigkeit nicht aus der Interaktion bzw. Kommunikation ausschließen und sich gleichzeitig nicht unter die für es bereitgehaltenen sozialen Erwartungen subsumieren lässt (Krappmann 1971: 30). 4 Bohnsack (2012: 127) schlägt den Begriff des Habitus dort vor, wo es sich um (vollständig) inkorporiertes Wissen handelt.
30
4 Theoretischer Bezugsrahmen
Erinnerung in aktuellen Situationen wirklich erworbenes ‚Wissen‘ besitze ich wahrhaft. Nur dieses Wissen ‚sitzt fest‘, aber auch nur dieses bindet wirklich“ (Mannheim 1964: 534). Die selbst erworbene Erinnerung ist einerseits die Basis für die in der Praxis verankerte Erfahrung und somit des impliziten Wissens und andererseits der Garant für unmittelbares Verstehen (Bohnsack und Schäffer 2002: 253). Nur in konjunktiven Erfahrungsräumen ist unmittelbares Verstehen ohne Interpretieren möglich (im Gegensatz zu kommunikativ-generealisierenden Erfahrungsräumen, in denen das Verstehen stets eine Interpretationsleistung des Empfängers ist) (Bohnsack und Schäffer 2002: 253). In der Alltagskommunikation verwendete Begrifflichkeiten beinhalten stets die kommunikativen und konjunktiven Bedeutungsdimensionen (Bohnsack 2012: 122; Mannheim 1980: 220). Vor dem Hintergrund der Leitdifferenz zwischen Orientierungsschema und Orientierungsrahmen können zwei Aspekte des jeweils selben Falls behandelt werden (Bohnsack 2012: 127): einerseits soziale Identitäten in Form von Fremdidentifizierungen und andererseits Erlebens- und Erfahrungszusammenhänge.
4.1.2
Anpassung des metatheoretischen Handlungsmodells an das Forschungsinteresse
Basierend auf den dargelegten Grundlagen des metatheoretischen Handlungsmodells einer praxeologischen Wissenssoziologie wird dieses im Folgenden für das Forschungsinteresse fruchtbar gemacht. Eine Forschungsarbeit über die Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer kommt nicht ohne eine adäquate Definition des Altersbegriffs aus. Dieser bekommt im Wesentlichen seine Relevanz, wenn es um die Frage geht: Wer (älterer Mensch) hat welches Bild (Fremdbild) von wem (junge Menschen)? Anhand dieser Frage werden bereits die wesentlichen Merkmale der für die vorliegende Arbeit genutzten Definition mit ihren Implikationen deutlich. Erstens bezieht sich der Altersbegriff nicht explizit auf alte Menschen, sondern ist für alle Lebensalter offen (Befragte und Adressat*innen). Zweitens impliziert er im Sinne der Gerontologie Alter als Prozess, als Phase und als (kalendarisches) Alter einer Person (Wahl und Heyl 2012: 13 ff.). Drittens korrespondiert der Altersbegriff mit dem Altersbildbegriff, im Rahmen der vorliegenden Arbeit vornehmlich dem der Fremdbilder von jungen Menschen.
4.1 Herleitung eines metatheoretischen …
31
Dimensionen des Altersbegriffs Alter als kalendarisches Alter ist vor allem als soziale Kategorie zu sehen. In Deutschland sind an das Alter vielfältige Rechte und Pflichten geknüpft. Beispielsweise beginnt die Rechtsfähigkeit mit der Geburt und die Regelaltersgrenze liegt bei 67 Jahren5 . Unter Altern versteht man den Prozess des Älterwerdens. Beide Begriffe meinen grundsätzlich jegliches kalendarische Alter und sind nicht explizit einer späteren Lebensphase bzw. den Prozessen einer späteren Lebensphase vorbehalten (Schäffer 2010: 210). Dagegen bezieht sich der Begriff der Alten in der Gerontologie speziell auf alte Menschen. Demzufolge muss neben der Kategorie alter Menschen auch die von jungen Menschen eingeführt werden. Die befragten älteren Menschen fallen somit der Kategorie Alter zu, während die Adressaten der Interviewten junge Menschen als Personen, aber auch der Prozess des Älterwerdens als junger Mensch oder die Phase des Jungseins sein können. In der Gerontologie findet sich zu den drei Dimensionen des Alters häufig die Einteilung in das sogenannte dritte und vierte Lebensalter, welche Laslett mit „Zeit der persönlichen Erfüllung“ (Laslett 1987: 135) und „Zeit der unabänderlichen Abhängigkeit, der Altersschwäche und des Todes“ (Laslett 1987: 135) beschrieben hat. Das dritte Lebensalter meint grob die Lebensphase zwischen 60 und 80 Jahren, während das vierte Lebensalter, also die Hochaltrigkeit, mit ca. 80 Jahren beginnt (Amrhein 2011). Alter wird als relationale Kategorie verstanden, welche in Abhängigkeit des Kontexts, der subjektiven Relevanzsetzung der Befragten sowie hinsichtlich geschlechts- generationsspezifischer oder bildungsmilieuspezifischer Herkunft variiert (Schäffer 2010: 210). Der modernen Entwicklungspsychologie folgend wird dem kalendarischen Alter zunächst keine Erklärungskraft zugewiesen (Staudinger 2012: 187). Es überlagert vielmehr gewisse Entwicklungen, Prozesse und Einflüsse, die mit dem kalendarischen Alter einhergehen. Alter wird als mehrdimensionales Konzept verstanden, welches sich aus sozialem, psychologischem und biologischem Alter zusammensetzt (Staudinger 2012: 187). Unter dem biologischen Alter versteht man zusammengefasst den Gesundheitszustand in einem gewissen Lebensalter. Dieser ist stark von historischen, kulturellen und medizinischen Faktoren abhängig. So entsprach der durchschnittliche Gesundheitszustand eines 70-Jährigen im Jahre 1990 dem eines 80-Jährigen im Jahr 2010 (Staudinger 2012: 189 f.). Das psychologische Alter soll in der vorliegenden Arbeit das subjektiv wahrgenommene Alter abbilden. Dem sozialen Alter kommt eine besondere Bedeutung zu. Wie bereits angesprochen, sind in modernen Gesellschaften mit dem kalendarischen Alter Rechte und Pflichten verbunden. Je höher das kalendarische 5 Zu
Alter als soziale Kategorie siehe weiterführend Wahl und Heyl 2012: 14
32
4 Theoretischer Bezugsrahmen
Alter ist, desto weniger hilft diese Kategorie, scheinbar typische Eigenschaften einer Person zu erhalten (Staudinger 2012: 189). Auch wenn der sogenannte Normallebenslauf aufgrund einer Individualisierung des Lebenslaufs an Bedeutung verliert und Altersnormen an Stärke verlieren, bleibt das kalendarische Alter als subjektive Bewertungsgrundlage bedeutsam. Im Sinne der vorliegenden Arbeit ist es nebensächlich, wie Lebensläufe (von jungen Menschen) in Deutschland tatsächlich gelebt werden, da die subjektiven Erwartungen und Rollenzuschreibungen der Älteren an junge Menschen – durchaus im Sinne des Thomas-Theorems (Thomas und Thomas 1928: 572) – im Zentrum des Interesses stehen. Das heißt aber nicht, dass es keine Wechselwirkungen zwischen der Wahrnehmung des eigenen Alters, also des Altersselbstbilds, und der Wahrnehmung von jungen Menschen geben kann. Junge Menschen, so die Annahme, umfassen im Wesentlichen Kinder, Jugendliche sowie junge Erwachsene. Das heißt nicht, dass junge Menschen durch die Befragten im Verlauf der Studie nicht völlig anders definiert sein können. Von Altersbildern6 zu Bildern von jungen Menschen Ausgehend von der dargelegten in der Gerontologie gängigen Definition von Alter in seiner Mehrdimensionalität wird diese nun auf den Begriff des Altersbildes und schlussendlich auf Bilder von jungen Menschen übertragen. Analog zum dreidimensionalen Altersbegriff ist dieser auch auf Altersbilder übertragbar. So wird zwischen Vorstellungen vom Alter als Prozess, als Lebensphase sowie von alten Menschen (als Einzelperson oder Gruppe) unterschieden (Rossow 2012: 11; Schäffer 2010: 210; BMFSFJ 2010: 27).
6 Auf
die Abbildung des Altersbilddiskurses, an dem sich die vorliegende Arbeit orientiert und welcher hin zu jungen Menschen gewendet wird, wird bewusst verzichtet. Es sei nur so viel gesagt, dass im Fachdiskurs zwischen individuellen und kollektiven Altersbildern unterschieden wird. Unter individuellen Altersbildern werden „[…] Vorstellungen und Ideen einer Person von Älteren, vom Alter und Altern – dem eigenen wie dem Alter(n) im Allgemeinen – beschrieben“ (Rossow 2012: 12). Diese Beschreibung impliziert bereits die Unterscheidung zwischen Altersfremd- und Altersselbstbild. In der vorliegenden Arbeit sind die individuellen Altersfremdbilder zentral, da es primär um die Rekonstruktion des Umgangs mit Menschen in anderen Lebensaltern geht. Altersbilder äußern sich im Handeln, in Interaktionen sowie in Verhaltens- und Denkmustern (Rossow 2012: 12) und sind somit rekonstruierbar. Altersbilder sind keine unveränderlichen starren Gebilde. Sie sind stark an historische, kulturelle und soziale Kontexte gebunden und somit nicht zeitlich stabil, sondern im stetigen Wandel (Rossow 2012: 13). Kollektive Altersbilder dagegen sind kollektive Deutungsmuster, die in öffentlichen Diskursen verankert sind (Schenk et al. 2011: 11). Sie sind tradierte Vorstellungen vom Alter(n) bzw. alten Menschen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kulturkreis (Rossow 2012: 12). Weiterführend siehe zum Beispiel: BMFSFJ 2010; Rossow 2012; Staudinger 2012.
4.1 Herleitung eines metatheoretischen …
33
Schäffer (2010: 210 f.) verweist auf den pictorial turn in den Kultur- und Geisteswissenschaften der 1990er-Jahre, die dem Leben in Bildern eine ontologische Bedeutung in dem Sinne zuschreiben, dass die Konstitution von Wirklichkeit in Bildern vollzogen wird. Auch Mann (2014: 19) verweist auf den Bedeutungscharakter von Bildern in der Strukturierung der Wirklichkeit. Vor allem in der Psychologie ist Altersbildforschung Stereotypenforschung (Schäffer 2010). Im Sinne einer rekonstruktiven Sozialforschung in der methodologischen Anlage der praxeologischen Wissenssoziologie nach Bohnsack reicht diese Betrachtung jedoch nicht aus, um Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer zu erforschen. Einerseits muss die Altersbildforschung so gewendet werden, dass sie auch als Forschung über Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer möglich ist, und andererseits muss ein tiefergreifenderes Bild von jungen Menschen erfassbar sein, was sowohl Stereotype als auch an die Handlungspraxis gebundene Bilder umfasst. Zunächst ist die Trias von Alter als Lebensphase, Altern als Prozess und als kalendarisches Alter auf die Fragestellung nach Bildern von jungen Menschen übertragbar, die zum Teil bereits in der Neunerfeldtafel der ALTERSBILDanalyse von Schäffer (2010: 214) mit angelegt ist (siehe Abbildung 4.1). Die Altersdimension Alter ist in ihrer Anlage nach Schäffer (2010: 210) bereits für alle Altersphasen offen (Kindheit, Jugend, Erwachsen, Greis etc.). Altern als Prozess denkt das Älterwerden ungeachtet eines kalendarischen bereits mit. Lediglich der Begriff der Alten ist in Schäffers Konzept als „genuin als ‚alt‘ wahrgenommene Menschen“ definiert. Dieser Aspekt wird schlichtweg auf als genuin als „jung“ wahrgenommene Menschen übertragen. Die Wahrnehmung eines Alters verbleibt wie bereits dargelegt in den Relevanzen der Befragten.
34
4 Theoretischer Bezugsrahmen
Abbildung 4.1 Neunerfeldtafel ALTERSBILDANALYSE. (Quelle: Schäffer 2010: 214)
Denkbilder als (virtuale) soziale Identitäten und Gegenstand des Orientierungsschemas Wie bereits beschrieben sind Bilder als Stereotype besonders in der Psychologie Gegenstand der Forschung. Schäffer führt diesbezüglich den Begriff der Denkbilder in die Altersbildforschung ein (Schäffer 2010: 212). Dabei handelt es sich erstens um begrifflich fassbare Vorstellungen über die Altersphase des Jungseins aus der subjektiven Perspektive der Befragten. Zweitens sind mit Denkbildern Vorstellungen über den Prozess des Alterns bei jungen Menschen gemeint. Drittens umfassen Denkbilder Menschen, die als genuin alt bzw. in diesem Fall als genuin jung wahrgenommen werden. Zudem schließt der Begriff auch Vorurteile7 und Stereotype ein (Schäffer 2010: 212), wenngleich in der vorliegenden Arbeit 7 Ein Vorurteil ist eine ablehnende oder feindselige Haltung gegenüber einer Person oder einer
Gruppe einfach deswegen, weil sie dieser Gruppe angehört. Im Wesentlichen sind Vorurteile durch ihre extrem starke Verknüpfung zwischen einer sozialen Kategorie wie zum Beispiel eine ethnische Minderheit und den damit vermeintlichen negativen Eigenschaften und den mit dieser sozialen Kategorie assoziierten affektiven Reaktionen wie zum Beispiel Hass definiert.
4.1 Herleitung eines metatheoretischen …
35
vornehmlich auf Stereotype Bezug genommen wird. Stereotype sind kollektive Vorstellungen, die von der Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe geteilt werden (BMFSFJ 2010: 245). Zudem können sie sowohl positiv als auch negativ sein und sind die mentale Repräsentation einer sozialen Kategorie (BMFSFJ 2010: 245). Um die handlungstheoretische Wirkungsweise des Begriffs des Denkbildes fassbar zu machen, wird diese im Sinne der sozialen Identität (vgl. Abschnitt 4.1.1) verstanden. Die vorliegende Arbeit unterscheidet zwei Formen von Denkbildern: 1) Soziale Identitäten im Sinne stereotyper Kategorisierungen bezogen auf alle Dimensionen des Altersbegriffs 2) Virtuale soziale Identitäten im Sinne von (Normalitäts-)Erwartungen bezogen auf alle Dimensionen des Altersbegriffs Erfahrungsbilder als Orientierungsrahmen Erfahrungsbilder nach Schäffer (2010: 213) bezeichnen Formen der inneren bildlichen Repräsentation von Alter, Altern und Alten. „Diese Ebene innerer Bilder kann nicht so ohne weiteres, wie materialisierte Abbilder oder textförmige Denkbilder, unmittelbar explizit benannt werden, sondern dokumentiert sich eher implizit“ (Schäffer 2010: 213). Mentale Bilder und implizites Wissen, die den Orientierungsrahmen ausmachen, können somit auch erfahrungsbasierte Bilder von jungen Menschen sein, die dem*der Akteur*in nicht reflexiv zugänglich sind. Sie werden innerhalb konjunktiver Erfahrungsräume angeeignet. Es wird davon ausgegangen, dass sich handlungsleitende Orientierungen hinsichtlich der drei Dimensionen des Altersbegriffs anhand der eigenen kommunikativen und interaktiven Erfahrungen mit den relevanten anderen konstituieren (Schäffer 2010: 213). Über die kommunikative und interaktive Erfahrung hinaus können Erfahrungsbilder auf reiner Beobachtung beruhen und sich in dieser dokumentieren. Erfahrungsbilder umfassen demnach sämtliche an die Handlungspraxis und Wahrnehmung geknüpfte innerlich repräsentierte mentale Bilder bezüglich des mehrdimensionalen Altersbegriffs. Diese können laut Schäffer (2010: 213) mit allgemein gesellschaftlich verfügbaren kommunikativ-generalisierenden Wissensformen kontrastieren. Darüber hinaus können sich Erfahrungsbilder in der Auseinandersetzung mit der Norm, also mit Wissensbeständen des Orientierungsschemas, entfalten. Damit unmittelbar verbunden sind die sogenannten kontrafaktischen Erwartungen, „die aufrechterhalten werden, obschon sie in Diskrepanz zu Handlungspraktiken stehen“ (Bohnsack 2017: 161). Bohnsack (2017: 161) verweist dabei auf Luhmann (1970: 95): „Normen sind Es unterscheidet sich von Stereotypen einerseits durch ihren affektiven Gehalt und andererseits durch ihre rein negative Deutungsrichtung (Filipp und Meyer 1999: 56)
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
Verhaltenserwartungen, die auch dann als ‚richtig‘ festgehalten werden, wenn sie hin und wieder unerfüllt bleiben.“ Das metatheoretische Handlungsmodell verdeutlicht, dass Bilder von jungen Menschen auf verschiedenen Ebenen (explizit und implizit) erfasst werden und in welcher Beziehung diese zueinanderstehen. Zur Veranschaulichung des entwickelten Modells siehe die nachfolgende Abbildung 4.2.
Abbildung 4.2 Metatheoretisches Handlungsmodell
4.2
Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
Im Folgenden wird ein weiteres theoretisches Gerüst aufgebaut, welches auf den Forschungsgegenstand ausgerichtet ist und eine interdisziplinäre Perspektive einnimmt.
4.2.1
Soziologie des relationalen (Sozial-)Raums
Die Bedeutung des sozialräumlichen Bezugspunkts Quartier wurde bereits in Abschnitt 3.3 verdeutlicht. Daran anschließend soll nun ein Raumverständnis dargelegt werden, welches in der vorliegenden Arbeit leitend ist und die subjektive Konstitution von Raum verhandelt. Löw (2001) bietet ein Synthesekonzept, welches
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
37
Behälterraum und Beziehungsraum zusammenführt. Dies erscheint für die vorliegende Arbeit als besonders geeignet. Von einem derartigen Raumverständnis wird auch in der gegenwärtigen raumsoziologischen Debatte ausgegangen (Kessl und Reutlinger 2007: 22 ff.). Beide genannten Raumaspekte spielen beim Forschungsgegenstand eine Rolle. Einerseits ist von einem Behälter in Form des Krefelder Kronprinzenviertels als Untersuchungsraum auszugehen, der die räumlichen Grenzen setzt, und andererseits von wechselseitigen Beziehungen von Menschen, beides in Anlehnung an Quartier als Fuzzy Concept von Schnurr (siehe Abschnitt 3.1; Schnurr: 2014: 43). Der Containerraum kann auch als Sozialraum als (Stadt-) Gebiet verstanden werden, wie es Riege in seiner analytischen Dreiteilung von Betrachtungsdimensionen von Sozialräumen aus der Perspektive der sozialen Arbeit diskutiert (Riege 2007: 378)8 . Die Synthese dieser beiden Raumkonzepte, wie Löw (2001) sie vollzieht, erscheint geeignet, um soziale Prozesse untersuchen zu können, ohne dabei die physikalischen Gegebenheiten des Quartiers aus den Augen zu verlieren. Räume sind ständigen Dynamiken unterworfen und besitzen somit etwas Prozesshaftes (Löw und Sturm 2005: 42). In diesem Zusammenhang bestimmen die räumliche und zeitliche Kontextualität von Sachverhalten und Ereignissen, was Raum eigentlich heißt (Löw und Sturm 2005: 42). Von daher ist es nicht zielführend, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der unabhängig von konkreten sozialen Praktiken und Fokussierungen besteht (Kessl und Reutlinger 2007: 27). Ein relationales Raumverständnis behält „das Wechselspiel von symbolischer Wirkung materialisierter Raumordnungen und deren permanente (Re-)Konstruktion als Kampf um die Vorherrschaft bestimmter Redeweisen vom Raum“ im Blick (Kessl und Reutlinger 2009: 203). Im Fall der vorliegenden Arbeit bedarf es demnach eines Raumverständnisses, welches die spezifische Perspektive des intergenerationalen Zusammenlebens als soziales Phänomen impliziert. Welche Gestalt dieses soziale Phänomen hat, wird in einer mikrosoziologischen Fundierung im nächsten Kapitel (Abschnitt 4.2.2) ausgeführt. Räume werden als relationale (An-)Ordnungen von sozialen Gütern und Lebewesen an Orten verstanden (Löw 2001: 159 f.). Unter sozialen Gütern sind Produkte zu verstehen, die sowohl aus gegenwärtigen als auch aus vergangenen materiellen und symbolischen Handlungen entstanden sind (Kreckel 1992: 77). Löw (2001: 153) nennt als Beispiele für materielle Güter Tische, Stühle und Häuser und als 8 Der
Sozialraum als Aktionsraum meint die Beziehung zwischen physischen Raum und seinen Nutzern, also welche Aktivitäten sich abspielen? Welche Wege gegangen werden, welche nicht (Riege 2007: 378 f.)? Sozialraum als Wahrnehmungsraum nimmt eine starke Subjektperspektive ein. Es wird verhandelt, wer welche Räume wie empfindet und wahrnimmt. (Riege 2007: 379).
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
symbolische Güter Lieder, Werte und Vorschriften. Dies stellt eine analytische Trennung dar, denn soziale Güter haben stets Anteile beider Dimensionen, eine tritt jedoch in der Regel stärker als die andere in den Vordergrund. Mit Spacing und Synthese beschreibt Löw zwei sich in der Regel gegenseitig bedingende Prozesse, welche analytisch unterschieden werden und den Raum konstituieren (Löw 2001: 160). Unter Synthese wird das aktive Verknüpfen von Elementen durch Menschen verstanden (Löw und Sturm 2005: 44). Dieser Prozess charakterisiert sich durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse, welche soziale Güter und Menschen zu Räumen zusammenfassen. Spacing hängt unmittelbar damit zusammen. Damit ist das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen gemeint (Löw 2001: 158). Beispiele dafür sind nach Löw unter anderem das Aufstellen von Waren im Supermarkt oder das Sich-Positionieren von Menschen gegenüber anderen Menschen. Es handelt sich also um ein Positionieren in Relation zu anderen Platzierungen (Löw 2001: 158). In Bezug auf Menschen(-gruppen) meint Spacing den Moment der Platzierung sowie die Bewegung zur nächsten Platzierung (Löw 2001: 158 f.). Die erwähnten (An-)Ordnungen sind zum einen als gesellschaftliche Strukturen (Löw 2001; 166) zu verstehen, was aus dem Begriffsteil Ordnung hervorgeht, und zum anderen meinen sie den Prozess des Anordnens, welcher die Verhaltens- und Handlungsdimension betont (Löw 2001: 166). Der Ordnung als gesellschaftliche Strukturen sind Verhalten und Handeln einerseits vorgelagert und andererseits deren Folge (Löw und Sturm 2005: 42). Räume konstituieren sich durch Menschen und soziale Güter und durch deren Verknüpfung (Löw und Sturm: 42 f.). Menschen verknüpfen bei ihrer Konstruktion von Raum nicht nur materielle Dinge, sondern auch Menschen und Menschengruppen untereinander und Menschen oder Menschengruppen mit Materiellem. Räume entstehen also dadurch, dass Menschen aktiv durch Menschen verknüpft werden (Löw 2001: 158). Dafür spricht, dass der Alltag von Menschen in aller Regel in der Gegenwart anderer verbracht wird und somit sozial situiert ist (Goffman 1994: 56). Die soziale mikrosoziologische Komponente von Raum wird im folgenden Kapitel hinsichtlich des vorliegenden Erkenntnisinteresses fruchtbar gemacht.
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
4.2.2
39
Beobachtung sowie nicht-zentrierte und zentrierte Interaktion als mikrosoziologischer Zugang zu Bildern von jungen Menschen
Goffman bietet theoretische Annahmen, wie Menschen sich im Alltag begegnen. Er sieht dabei stets die räumliche Komponente, die im weitesten Sinne ein relationales Raumkonzept darstellt (Frehse 2016). Somit stellt Goffman die interaktionelle Mikroebene der vorliegenden Arbeit dar. Begegnung Der Arbeit soll eine analytische Dreiteilung von Formen der Auseinandersetzung der Älteren mit Jüngeren vornehmlich im öffentlichen Raum zugrunde liegen. Dies sind die Beobachtung auf der einen Seite und die nicht-zentrierte und zentrierte Interaktion nach Goffman (2009: 49 ff.) auf der anderen Seite. Vorab sei in Kürze die theoretische Einbettung Goffmans sogenannter Interaktionsordnung sozialer Situationen dargelegt, bevor sich der mikrotheoretischen Fundierung von Alltagssituationen bezüglich des Forschungsinteresses der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer gewidmet wird. Face-to-face-Interaktionen sind eigenständige, sehr spezifische Sphären menschlichen Wahrnehmens, Deutens und Handelns, was die Interaktionsordnung zu einem eigenständigen soziologischen Untersuchungsfeld macht (Raab 2008: 27). Goffman übernimmt die Prämisse Durkheims, dass die Gesellschaft eine Wirklichkeit sui generis sei, und münzt sie auf Interaktionen bzw. soziale Situationen. In unmittelbarer Begegnung kann dieser ein dramatischer Aufbau verliehen werden, der den Sinnen nicht auf andere Weise zugänglich ist (Goffman 1994: 78). Goffman begreift soziale Ordnung als alltägliche, gesellschaftliche Wirklichkeit, die von Handelnden aktiv stets mitkonstruiert wird (Raab 2008: 34). Demzufolge ist sie voller Untiefen, stets unsicher, vorläufig und mehrdeutig (Raab 2008: 34). Goffman löst die Ritualtheorie Durkheims aus ihrer religionssoziologischen Verankerung und identifiziert kleine interpersonelle Alltagsrituale, mit denen das soziale Leben im öffentlichen Raum durchsetzt ist (Raab 2008: 63 f.). Diese bilden das Grundkonzept der Interaktionsordnung. Beobachtung, nicht-zentrierte und zentrierte Interaktion Wie zu Beginn des Kapitels bereits eingeführt, dienen die drei analytischen theoretischen Konstrukte der Beobachtung sowie der nicht-zentrierten und zentrierten Interaktion als Basis zur Rekonstruktion von Erfahrungsbildern von jungen Menschen aus der Perspektive Älterer. Bei zufälligem Aufeinandertreffen von Menschen kommt es stets zur Interaktion (Goffman 2009: 49 f.). Dabei gibt es stets viele verschiedene Realitäten. Durch
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
Kommunikation, welche immer stattfindet (man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick 1969: 53)), wird angezeigt, in welcher Realität man sich bewegt. So entstehen Erwartungen. Goffmans Interaktionssoziologie beruht auf den zwei zentralen Bezugspunkten des Selbst9 und der sozialen Situationen. Im Anschluss an Simmel liegt immer dann eine soziale Situation vor, wenn ein Individuum in die Wirkzone eines anderen (Goffman 1994: 69), also in Reichweite sinnlicher Wahrnehmung des Anderen, gelangt. Sobald Menschen in soziale Situationen eintreten oder sie antizipieren, sehen sie ein Gewebe aus Deutungen und Bedeutungen, aus Erwartungen und Erwartungserwartungen, was sie bereits im Entwurf anhält, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihr Handeln aufeinander auszurichten (Raab 2008: 61). Es besteht eine Verstrickung und damit eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Interaktionspartner*innen. Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen werden nur die drei Formen des handlungspraktischen Erlebens der vorliegenden Arbeit dargelegt, um analytisch drei Formen der Konstruktion von Bildern von jungen Menschen aus der Sicht Älterer unterscheiden zu können. Unter Beobachtung wird die Abwesenheit von Kommunikation und somit von Interaktion verstanden. Eine soziale Situation endet, wenn die vorletzte Person aus dem Sphärenbereich sinnlicher Wahrnehmung heraustritt (Raab 2008: 61). Voraussetzung der Beobachtung ist, dass die Person, die beobachtet wird, darüber keine Kenntnis besitzt, etwa durch Blickkontakt. Wenn der Mensch also keine nonverbale Kommunikation auf den*die Beobachter*in ausgerichtet vollzieht (Goffman 2009: 49), kann von Beobachtung gesprochen werden. Dabei ist es unerheblich, ob die nonverbale Kommunikation bewusst oder unbewusst ist. In den genannten Aspekten liegt das entscheidende Merkmal, was Beobachtungen von beiden Formen der Interaktion unterscheidet. Beobachtung liegt beispielsweise dann vor, wenn aus einem Wohnungsfenster Menschen auf Straße beobachtet werden. Diese Form der Wahrnehmung spielt im intergenerationalen Raum eine wichtige Rolle, da diese Form der Wahrnehmung das Bild von jungen Menschen durchaus prägen kann. Unter nicht-zentrierter Interaktion, welche die einfachste Erscheinungsform sozialer Situationen darstellt, versteht Goffman zunächst die Abwesenheit eines offiziellen Zentrums für allgemeine Aufmerksamkeit (Goffman 2009: 50). Beide Akteur*innen verfolgen unterschiedliche Handlungslinien. Es ist also all das, „was zwischen Personen allein auf Grund ihrer gemeinsamen Anwesenheit in derselben sozialen Situation kommuniziert werden kann“ (Goffman 2009: 97). Alle Akteur*innen sind sich also darüber bewusst, dass sie von den anderen anwesenden Akteur*innen wahrgenommen werden. Sämtliche expressiven körperlichen Zeichen können zur Bestimmung all dessen genutzt werden, was jemand einem 9 Dies
wurde im für die vorliegende Arbeit notwendigen Maße im Abschnitt 4.1.1 dargelegt.
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
41
anderen gegenüber meinen kann (Goffman 2009: 50). Diese vermitteln Informationen über das Bild, das der*die Akteur*in von der sozialen Situation und sich selbst hat (Goffman 2009: 50). Derartige Zeichen sind somit die Grundlage nichtzentrierter Interaktionen (Goffman 2009: 50). Unter nicht-zentrierte Interaktion fällt auch das gegenseitige Nichtbeachten, wenngleich dies eine wechselseitige Koordination erfordern kann, zum Beispiel beim Entgegenkommen auf dem Fußweg (Bergner 2010: 14). Der spezielle Fall der nicht-zentrierten Interaktion kann dann auf Gleichgültigkeit gegenüber dem*der Interaktionspartner*in zurückgeführt werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang von höflicher Gleichgültigkeit (Goffman 2009: 97 ff.). Diese findet dann statt, wenn man keinen Grund hat, den Absichten der anderen Anwesenden zu misstrauen oder den anderen zu fürchten, feindlich gesonnen zu sein oder meiden zu wollen, und wird als gesellschaftlich angemessen erachtet (Goffman 2009: 98). Diese ist von der Unpersonen-Behandlung10 abzugrenzen, die andere als keines Blickes würdig erachtet (Goffman 2009: 97 f.). Beide Formen nicht-zentrierter Interaktionen sind prinzipiell empirisch beobachtbar und werden somit als theoretische Annahmen für Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer angenommen. Nicht-zentrierte Interaktionen können im öffentlichen Raum als häufig angenommen werden. Auf dem Gehsteig aneinander vorbeizulaufen, fällt unter diese Form der Interaktion11 . Dass nicht-zentrierte Interaktionen im öffentlichen Raum gängig sind, korrespondiert auch mit der Annahme der Segregation der Generationen, welche im folgenden Kapitel dargelegt wird. Bei einem gemeinsamen Zentrum der Aufmerksamkeit spricht Goffman von zentrierter Interaktion. Sie betrifft Gruppen von Personen, die einander eine besondere Lizenz der Kommunikation erteilen (Goffman 2009: 97). Wichtig ist dabei vor allem der Kontakt zwischen Unbekannten. Dabei handelt es sich um eine exponierte Position im öffentlichen Raum, welche sich dadurch auszeichnet, dass man durch einen gewissen Status infolge von Fremdidentifizierung im Sinne der sozialen Identität für die Aufnahme von (Blick-)Kontakt empfänglich ist bzw., wie Goffman es sagt, so wenig Wertschätzung besitzt, dass man durch Blickkontakt absolut nichts zu verlieren hätte und somit unbegrenzt verfügbar ist (Goffman 2009: 137 f.). So kann aus einem Koexistieren zweier Akteure eine zentrierte Interaktion entstehen, 10 Goffman nimmt dieses Verhalten in der amerikanischen Gesellschaft der 60er Jahre gegen-
über Kindern, Bediensteten, Schwarzen und Geisteskranken an (Goffman 2009: 98). Bei angenommenem Desinteresse der Jüngeren aus der Sicht Älterer, ist diese Form auch empirisch vorstellbar, dass eben junge Menschen „keines Blicks würdig sind“ (Goffman 2009: 97). 11 Es sei angemerkt, dass Goffman die Koordinierungsleistungen von Fußgängerströmen detailliert untersucht hat (siehe Goffman 1971): Dies soll jedoch nicht Gegenstand des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit sein.
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
welche Goffman (2009: 102) als Blickkontakt oder Begegnung bezeichnet. Eine zentrierte Interaktion findet immer dann statt, wenn sich wechselseitig eine Lizenz zur Kommunikation erteilt wurde. Die dargelegte analytische Unterscheidung der beiden Interaktionsformen sowie der Beobachtung wird als Rahmen angenommen, um verschiedene Aspekte der Wahrnehmung junger Menschen aus der Sicht Älterer erfassen zu können. Alle drei dargelegten Formen sind Aspekte der Handlungspraxis im Sinne der metatheoretischen Rahmung.
4.2.3
Generation als theoretischer Gegenstand der Sozialwissenschaften
Der Begriff der Generation ist ein soziologischer Grundbegriff. Er beschreibt im Sinne des soziologischen Klassikers Karl Mannheims eine soziale Lagerung wie Schicht oder Klasse und ist somit ein Kollektivitäts- bzw. Kollektivierungsbegriff, der den Rang einer soziokulturellen Ordnungskategorie wie Geschlecht, Ethnie oder Schicht innehat (Jureit und Wildt 2005: 7; Baader und Sager 2008: 291). Mannheims Aufsatz Das Problem der Generationen ist wohl die sozialwissenschaftlich prägendste Abhandlung der Generationenforschung. Neben dem Begriff der Generation bestehen in den Sozialwissenschaften weitere Begrifflichkeiten wie Kohorte oder Altersgruppe, welche weiter unten im Rahmen des historisch-sozialen Generationenbegriffs erläutert werden. Da Mannheims Zugang zur Generation zwar der bekannteste und einflussreichste, aber nicht der einzige zum Generationenbegriff ist, soll das Ziel sein, auf ein möglichst facettenreiches und gleichzeitig dem vorliegenden Forschungsgegenstand möglichst angemessenes Verständnis des Generationenbegriffs zurückgreifen zu können. Dabei wird der Unterscheidung Rechnung getragen, dass Generation einerseits die subjektiv konstruierten impliziten und expliziten Vorstellungen von Personen und damit das subjektive Generationenzugehörigkeitsempfinden einer Selbstthematisierungsformel meint (Jureit 2006: 9) und andererseits eine möglichst breite Überführung des Generationenbegriffs hin zur Generativität zu gewährleisten ist, was die analytische Dimension des Generationenbegriffs betont (Jureit 2006: 9). Generation im Sinne der Selbstthematisierungsformel meint eine individuelle Zuordnungsgröße sowie eine kollektive Selbstbeschreibungsformel. Diese spielt empirisch dann eine Rolle, wenn die älteren Befragten sich implizit oder explizit einer gewissen Generation zuordnen. Die analytische Kategorie Generation versteht sich als Grundbedingung
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
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menschlicher Existenz zur Erklärung von historischem und gesellschaftlichem Wandel (Jureit 2006: 9 f.) und ist somit eine, die dem*der Wissenschaftler*in vorbehalten ist. Ausgangspunkt der Argumentation ist die Unabhängigkeit und Segregation der Generationen (Höpflinger 2008: 40 f.). Dies unterstreicht empirische Befunde, dass persönliche Kontakte zwischen jungen und alten Menschen fast ausschließlich am Arbeitsplatz und in Familien bestehen (vgl. Abschnitt 3.1.3) und demzufolge im öffentlichen Raum und Alltag verhältnismäßig selten sind. Jede Generation hat ihre eigenen Werte und eigenen Interessen und berührt die Interessen anderer Generationen kaum (Höpflinger 2008: 40). Auch die sozialräumliche Organisation schafft bzw. verstärkt diese Segregation durch zum Beispiel Jugendtreffs und Seniorenclubs bzw. generell die Exklusivität von Räumen für bestimmte (Alters-) Gruppen. Die Segregation der Generationen hat einerseits zur Folge, dass mögliche Generationenkonflikte auf der Mikroebene entschärft werden, da es kaum zu unmittelbaren Auseinandersetzungen kommt, kann aber andererseits gleichermaßen kollektive Generationenbilder bzw. Stereotype verstärken bzw. diesen kaum entgegenwirken, was in einigen Studien zu tertiären Generationenbeziehungen gezeigt wurde (siehe Abschnitt 3.1.2). Da die vorliegende Arbeit vornehmlich außerfamiliale Generationenbeziehungen fokussiert, erscheint die Annahme einer Segregation der Generationen als Ausgangspunkt sinnvoll, um von dieser Perspektive ausgehend den Umgang der Generationen in Abhängigkeit der verschiedenen Generationskonzeptionen zu beleuchten. Bevor im Rahmen des konkreten Zuschnitts der vorliegenden Arbeit auf die vier Grundkonzepte von Generation eingegangen wird, von denen in der Forschungsliteratur ausgegangen wird (Höpflinger 1999: 6), werden zunächst zwei relevante übergeordnete Konstruktionsprinzipien von Generation dargelegt. Das erste Konstruktionsprinzip ist die Identität, die sich in Form der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis in Konfrontation mit anderen Identitätsentwürfen konstituiert (Jureit 2006: 11). Andere Identitätsentwürfe sind vornehmlich die von Gleichaltrigen, denn diese verfügen über eine ähnliche Sozialisations- und Erziehungserfahrung (Jureit 2006: 11). So bietet der generationale Zusammenhang soziale Orientierung und dient als weiter aber nicht unübersichtlicher Vergleichshorizont, um sich mit dem eigenen Selbstverständnis auseinandersetzen zu können (Jureit 2006: 11). Die Kollektivität als zweites übergeordnetes Konstruktionsprinzip, welches bereits als zentrales Element von Generation angedeutet wurde, adressiert das Bedürfnis, in sozialen Bezügen zu leben (Jureit 2006: 11). Vergemeinschaftung kann unterschiedliche Formen annehmen. So bieten beispielsweise Familie, Nation,
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
Klasse und Schicht, aber eben auch Generation die Möglichkeit der Vergemeinschaftung (Jureit 2006: 11). Gemeinschaft ist jedoch nur gefühlte Gemeinsamkeit. Sie ist Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, da man sich zu Menschen, die scheinbar ähnlich denken, fühlen und handeln, zugehörig fühlt (Jureit 2006: 12). Sie ist demnach als subjektive Zugehörigkeitskomponente für Menschen von großer Bedeutung. Im Folgenden wird die Unterscheidung zwischen genealogischen, pädagogischen, wohlfahrtsstaatlichen und historisch-sozialen Generationenbegriffen dargelegt. Diese Begriffe stehen nebeneinander und sind nicht in einen Gesamtbegriff überführbar (Höpflinger 1999: 6), wenngleich eine Person stets mehreren Generationen angehört (Lüscher et al. 2014: 12). Genealogischer Generationenbegriff Der genealogische Generationenbegriff bezieht sich ausschließlich auf Familien und deren generationale Abfolge. Dieser war lange Zeit das dominierende Generationenkonzept, welches die Menschheitsgeschichte als Abfolge von familialen Generationen verstand und wurde von einem Verständnis der Rhythmik des modernen Fortschritts in der Moderne (Jureit 2006: 8), also von einem historisch-sozialen Generationenverständnis abgelöst (Höpflinger 1999: 10). Dabei umfasst eine Generation jeweils das Innehaben gleicher Rollen, zum Beispiel Großeltern, Eltern, Kinder (Filipp und Meyer 1999: 17 f.). Wie sich Generationenbeziehungen innerhalb vom Familien ausgestalten, ist von sozialen, kulturellen und demografischen Gegebenheiten abhängig (Höpflinger 1999: 6). Pädagogischer Generationenbegriff Der pädagogische Generationenbegriff definiert sich nur anhand der gesellschaftlichen Tätigkeit Erziehung bzw. der Weitergabe von Wissen, Fertigkeiten, Normen etc. Dabei wird lediglich unabhängig von allen anderen Zuordnungen wie zum Beispiel Alter oder sozialer Status unterschieden, wer Lehrende*r und wer Schüler*in ist12 (Höpflinger 1999: 8). Es kann demzufolge immer nur von zwei pädagogischen Generationen die Rede sein. Die anderen Generationenbegriffe umschreiben stets gesellschaftliche Gruppen. Dies ist beim pädagogischen Generationenbegriff nicht möglich, da es sich bei diesem um eine Funktion handelt, die ein fundamentales Existenzproblem der menschlichen Gattung, nämlich der Garantie von gesellschaftlicher Kontinuität, löst (Höpflinger 1999: 8). Demnach ist es eine Grundvoraussetzung 12 In modernen Gesellschaften sind alle Menschen ungeachtet des Lebensalters meist Angehörige beider pädagogischer Generationen (Höpflinger 1999: 9), da sowohl die Jungen von den Alten lernen also auch die Alten von den Jungen.
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
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menschlicher Gesellschaften, Normen, Kenntnisse und Fertigkeiten von der älteren an die jüngere Generation weiterzugeben (Höpflinger 1999: 8). Dies kann gelingen, misslingen harmonisch oder konfliktreich sein (Höpflinger 1999: 8). Derartige Prozesse spielen vor allem in familiären sowie schulischen und beruflichen Kontexten eine Rolle. Dabei übernehmen in der Regel die Älteren die Funktion der Vermittlung und die Jüngeren die Funktion der Aneignung (Baader und Sager 2008: 293). Wohlfahrtsstaatlicher Generationenbegriff Der wohlfahrtsstaatliche Generationenbegriff steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Begriff des Generationenvertrags. Dieser ist seit Jahrzehnten Bestandteil öffentlicher Debatten. Er meint das sozialpolitische Umverteilungsprinzip, bei dem die erwerbstätige Bevölkerung die Renten der im Ruhestand befindlichen Bevölkerung finanziert. Von Generationen kann hier im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein, da sich mit jedem Tag die Zusammensetzung der Einzahler und Empfänger ändert (Höpflinger 1999: 12). Historisch-sozialer Generationenbegriff Der historisch-soziale Generationenbegriff bezieht sich auf historische und/oder soziale Gruppierungen, die einen gemeinsamen soziohistorischen Hintergrund haben (Höpflinger 2002: 330). Er orientiert sich im Wesentlichen an Karl Mannheim. Die Gruppierungen sind durch historische, kulturelle oder soziale Gemeinsamkeiten vereint, sodass Generationen in diesem Sinne, wie oben bereits angesprochen, als soziale Kategorien verstanden werden können. Gleichzeitig verweist er auf Personen ähnlichen Alters, in Abgrenzung zum pädagogischen Generationenbegriff. Der historisch-soziale Generationenbegriff wird im Folgenden im Vergleich zu den vorherigen Begriffen etwas detaillierter dargelegt, weil er neben seiner Erklärungskraft als gegenstandsbezogener theoretischer Zugang zudem Implikationen für das metatheoretische Handlungsmodell, zum Beispiel für den konjunktiven Erfahrungsraum, besitzt. Der Mannheim‘sche historisch-soziale Generationenbegriff unterliegt einer Dreiteilung in Generationenlagerung, Generationenzusammenhang und Generationeneinheit, welche aufeinander aufbauen. Ausgangspunkt dieser Begriffshierarchie ist die Auseinandersetzung Mannheims mit dem positivistischen und dem romantisch-historischen Zugang zum Problem der Generationen. Die positivistische Perspektive folgt einer gradlinigen Fortschrittskonzeption (Mannheim 1964: 515: f.). Generationen lösen sich in bestimmten Zeitabständen ab. Somit gilt die Generationenfolge im positivistischen Sinne als Grenztatsache des MenschSeins (Mannheim 1964: 509). Der Generationenwechsel, welcher nach Comte alle 30 Jahre stattfindet und nach dessen Auffassung biologisch fundiert ist (Mannheim 1964: 510 f.), wird dabei als treibende Kraft des Fortschritts angesehen. Der
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
Fokus aus einer romantisch-historischen Perspektive liegt auf der Gleichzeitigkeit der Mitglieder einer Generation. Während die positivistische Perspektive eine quantitative darstellt, in der Generationenabfolgen quantifizier- und messbar sind, ist die romantisch-historische eine qualitative des inneren Zeiterlebens. Grundlegend ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nach Pinder, was bedeutet, dass zu jeder chronologischen Zeit verschiedene Generationen leben (Mannheim 1964: 517). Das Erleben eines gesellschaftlichen Ereignisses wird von jedem unterschiedlich wahrgenommen. Lediglich Gleichaltrige erleben dieses aus einer ähnlichen Perspektive im Sinne konjunktiven Erlebens. Mannheim argumentiert, dass positivistische und romantisch-historische Ansätze nicht ausreichen, um dem Problem der Generationen gerecht zu werden, da aus anthropologischen und biologischen Tatsachen keine sozialen Phänomene ableitbar seien (Mannheim 1964: 527 f.). Mannheims Theorie zum Problem der Generationen besagt, dass Erfahrungen, die zu einem bestimmten Ereignis gemacht werden, von Personen unterschiedlichen Alters unterschiedlich empfunden werden (Schäffer 2012b: 478). Besonders im jungen Alter entstehen somit Erfahrungen, die sich von allen anderen Altersgruppen unterscheiden (Schäffer 2012b; 478). Dies hat parallel existierende Erfahrungszusammenhänge zur Folge, die wiederum bei jungen Menschen das spätere Handeln und Denken mitbestimmen können (Schäffer 2012b: 478) 13 . Mannheim fundiert die Generationenlagerung14 am Beispiel der Klassenlage. Eine Generationslage beschreibt die Zugehörigkeit verwandter Geburtsjahrgängen, die als Folge einer spezifischen Lagerung der durch sie betroffenen Individuen im gesellschaftlich-historischen Lebensraum, auf einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens und somit eine spezifische Art des Erlebens und Denkens beschränkt, eine spezifische Art des Eingreifens in den historischen Prozess nahelegen (Mannheim 1964: 528). Somit ist Generation zunächst keine soziologische Gruppe, sondern ein bloßer Zusammenhang (Jureit 2006: 21). Lagerungen besitzen eine spezifische Art und Weise des Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns und schließen viele andere Möglichkeiten derselben aus. Der Spielraum hat somit 13 Jureit (2006: 27) legt dar, dass die Dominanz der Jugendphase in der erlebnisschichtenden Identitätsbildung empirisch nicht haltbar ist und hinsichtlich dieses Aspekts ein wenig tragfähige Theorie darstellt. 14 Mannheim (1927) identifiziert anhand eines Gedankenexperiments fünf Grundphänomene, die allein auf der Tatsache beruhen, dass es Generationen gibt. Anhand der Überlegung was passieren würde, wenn eine Generation ewig lebt macht er folgende fünf Grundpositionen aus. 1. Das stete Neueinsetzen neuer Kulturträger; 2. Den Abgang früherer Kulturträger; 3. Die Tatsache, dass die Träger eines jeweiligen Generationenzusammenhangs nur an einem zeitlich begrenzten Abschnitt des Geschichtsprozesses partizipieren; 4. Die Notwendigkeit des steten Tradierens (Übertragens) der akkumulierten Kulturgüter; 5. Die Kontinuierlichkeit des Generationenwechsels.
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
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beschränkte Möglichkeiten und bewegt sich in bestimmten Grenzen. Dies bezeichnet Mannheim als negative Beschränkung (Mannheim 1964: 528). Wenn Menschen verwandt gelagert sind, besitzen sie gemeinsame Spielräume, um Individualität zu entfalten. Generationenlagerungen streben nicht zwangsläufig hin zu einer konkreten Gruppenbildung (Mannheim 1964: 524). Sie sind zunächst ein bloßer Zusammenhang ähnlich dem Phänomen der Klassenlage und somit muss ihnen die Zugehörigkeit zu einer Generationslagerung nicht bewusst sein (Mannheim 1964: 526). Personen einer Generationenlagerung fühlen sich zwar aufgrund der Gleichzeitigkeit in gewisser Weise verbunden, ohne jedoch eine konkrete Gemeinschaft auszubilden. Die Generationslagerung ist synonym zur Kohorte zu verstehen (Höpflinger 1999: 11) und in modernen dynamischen Gesellschaften weiterhin adäquat zur Beschreibung von Generationen geeignet (Höpflinger 2008: 29)15 . So kann angenommen werden, dass in Bezug auf die vorliegende Arbeit bestimmte Altersgruppen jeweils verwandt gelagert sind. Mitglieder einer Generationenlagerung bilden einen konjunktiven Erfahrungsraum aus (Meuser 2013: 225). Darunter versteht Mannheim die aus der sozialen Lagerung resultierenden Gemeinsamkeiten der Erfahrungsbasis (Meuser 2013: 225). Von der der zweiten Ebene dem Generationenzusammenhang kann dann gesprochen werden, „wenn reale soziale und geistige Gehalte gerade in jenem Gebiete des Aufgelockerten und werdenden Neuen eine reale Verbindung zwischen den in derselben Generationenlagerung befindlichen Individuen stiften“ (Mannheim 1964: 543). Eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen der historisch-sozialen Einheit macht einen Generationenzusammenhang aus (Mannheim 1964: 542). Dies ist wahrscheinlich, weil verwandt gelagerte Personen eine ähnliche Perspektive auf sozial-historische Gegebenheiten ausbilden, welche auf der negativen Beschränkung beruhen: Bestehen gemeinsame Grundintentionen und Formungstendenzen innerhalb eines Generationenzusammenhangs, welche konkrete Gruppierungen bilden und ein gemeinsames Ziel aktiv verfolgen, liegt eine Generationseinheit vor. Die dargelegten vier Formen des Generationenbegriffs sind zum einen von Interesse, da sie die verschiedenen generationalen Bezüge im Kontext der Bilder von jungen Menschen aus der Perspektive Älterer offenlegen und gleichzeitig in unterschiedliche Konzepte von generativen Handeln überführt werden. Kontexte von 15 Schäffer (2012b: 478) legt dar, dass der Alterskohortenbegriff, welcher auf Ryder (1985) zurückgeht, Großgruppen über ihre Eintrittszeitpunkte in einen neuen sozialen Aggregatszustand beschreibt. Der Autor hält fest, dass die Kohortenforschung eine im Wesentlichen Quantitative ist, die zum Beispiel mit Hilfe des AgePeriodCohort-Modells versucht Altersund Kohorteneffekte zu trennen. Der Generationenbegriff spielt in diesem Forschungsfeld kaum eine Rolle, da er stark von Erfahrungen geprägt ist und somit schwierig zu operationalisieren.
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
jungen Menschen sind deshalb von Bewandtnis, weil sie entlang der dargelegten Generationenverständnisse unterschiedliche Aspekte von Generation betonen. Beispielhaft führen dies Lüscher und Kolleg*innen aus: „Tendenziell kann ein Individuum gleichzeitig mehreren Generationen angehören. Daraus können sich sowohl Chancen als auch Belastungen für die sozialen Beziehungen ergeben. Zum Beispiel können ältere Geschwister elterliche Aufgaben (Betreuung, Erziehung) gegenüber jüngeren Geschwistern wahrnehmen. Die genealogisch junge Generation kann aufgrund ihrer Technik- oder Medienkompetenz gegenüber der mittleren und alten Generation gelegentlich in der Rolle von Lehrenden auftreten, während sie etwa beim Lebensunterhalt oder in der Betriebshierarchie weiter ihre Abhängigkeit von den älteren Generationen erlebt. Oder: Studierende Eltern nehmen zu bestimmten Zeiten die Rolle der Schüler ihrer akademischen Lehrenden ein, zu anderen Zeiten die Rolle der Eltern ihrer Kinder“ (Lüscher et al. 2014: 12).
4.2.4
Generativität als entwicklungspsychologische Aufgabe im höheren und hohen Lebensalter im Kontext sozialwissenschaftlicher Generationenkonzepte
Die dargelegten vier unterschiedlichen Generationenkonzepte verweisen jeweils auf bestimmte Formen von Generativität (Höpflinger 2002). Von diesen sind vor allem die historisch-soziale und die pädagogische relevant, da sie einen starken Zusammenhang zu Bildern von jungen Menschen aufweisen16 . Familialverwandtschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Generativität spielen in der vorliegenden Arbeit ebenfalls eine Rolle, jedoch eine etwas untergeordnete, da einerseits der Fokus der Arbeit auf außerfamiliären Bildern von jungen Menschen liegt und andererseits wohlfahrtsstaatliche Generativität eher (aber nicht ausschließlich) auf der Makroebene verhandelt wird. Unter Generativität ist zunächst eine Entwicklungsaufgabe17 des mittleren Erwachsenenalters zu verstehen (Erikson 2017: 117 ff.). Erikson bezeichnet damit vornehmlich das Interesse an der Erzeugung und Erziehung der nächsten Generation (Erikson 2017: 117). Basierend auf diesem Konzept wurde speziell in der 16 Auch der genealogische und wohlfahrtsstaatliche Generationenbegriff weist Bezüge zu Bildern von jungen Menschen auf. Der genealogische Begriff tritt vor allem deshalb gegenüber pädagogischem und historischen-sozialem in den Hintergrund, da die Arbeit vornehmlich auf außerfamiliäre Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer angelegt ist. 17 Entwicklungsaufgaben stellen sich in bestimmten Phasen des Lebensverlaufs. Ihre gute Lösung ist eine Voraussetzung dafür, dass spätere Entwicklungsaufgaben ebenso erfolgreich absolviert werden. Es wird zwischen biologischen, soziokulturellen und psychologischen Entwicklungsaufgaben unterschieden (Havighurst 1980).
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
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Gerontologie das Konzept der Generativität auf das höhere Lebensalter der nachberuflichen Phase angewandt, was zunächst die Weitergabe und Vermittlung von Erfahrung und Kompetenzen an jüngere Generationen bedeutet (Höpflinger 2002: 329). Zudem sind darunter auch Aktivitäten im Sinne eines Beitrags zum Gemeinwesen zu verstehen (Höpflinger 2002: 329). In diesem Zusammenhang wird auch von einer zweiten Chance für Generativität im Lebensverlauf gesprochen (Schoklitsch & Baumann 2012: 262). Im gerontologischen Sinne bleibt Generativität eine Entwicklungsaufgabe, die als grundlegende Leistung zur Lebensgestaltung und Sinnfindung im höheren Lebensalter wahrgenommen wird (Höpflinger 2002: 329). Diese Entwicklungsaufgabe scheint für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Wandel und Kontinuität der Gesellschaft erforderlich zu sein (Lang und Baltes 1997: 169). Demzufolge zeigt sich Generativität auch immer in der (gedanklichen oder handlungspraktischen) Auseinandersetzung mit jungen Menschen. Lüscher et al. (2014: 13) schlagen ein weitergefasstes Verständnis von Generativität vor: „Generativität bezeichnet die menschliche Fähigkeit, individuell und kollektiv um das gegenseitige Angewiesensein der Generation zu wissen, dies im eigenen Handeln bedenken zu können und zu sollen.“
Es sei angemerkt, dass es sich in der vorliegenden Arbeit, nicht um rein selbstreflexiv bewusste Akte des Generativen handelt, wie es die Definition suggeriert. Ein derartig reziprokes Verständnis von Generationenbeziehungen, kann stets implizit bleiben und muss den Älteren nicht zwangsläufig bewusst sein. Somit kann vorweggenommen werden, dass Generativität eine relevante Dimension von Erfahrungs- und Denkbildern hinsichtlich junger Menschen darstellt. Basierend auf den dargelegten Konzepten von Generation und einem soeben vermittelten Grundverständnis von Generativität im höheren Lebensalter werden die Generationskategorien im Folgenden in Formen von Generativität in Anlehnung an Höpflinger (2002) überführt. Familial-verwandtschaftliche Generativität Diese Form der Generativität zeichnet zunächst die Akzeptanz der eigenen Kinder als Erwachsene und somit als selbstständige, eigenverantwortliche Akteur*innen aus (Höpflinger 2002: 331). Weiterhin sind die wechselseitigen Unterstützungsleistungen zwischen den Generationen innerhalb der Familie Bestandteil dieses Konzepts, was auch impliziert, im höheren und hohen Lebensalter die Belastung jüngerer Familienangehöriger zum Beispiel durch die Aufrechterhaltung einer
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
selbstständigen Lebensführung gering zu halten. Ferner wirken Großeltern auf Werthaltungen ihrer Enkelkinder, vor allem in den Bereichen sozialer Verantwortlichkeit und Kooperation (Höpflinger 2002: 331). Nicht zuletzt, weil oftmals kameradschaftliche Beziehungen zwischen Enkelkindern und Großeltern Teil moderner Großelternschaften sind (Höpflinger 2002: 331). Pädagogischer Generationenbezug Im Zentrum steht hier die Mentorenschaft, die von Älteren übernommen wird und durch eine Altersdifferenz geprägt ist (Höpflinger 2002: 331). Anders als bei der pädagogischen Generationenbeziehung ist bei der pädagogischen Generativität stets der Mentor älter (Höpflinger 2002: 331). Hier kann nochmals zwischen formeller und informeller Mentorenschaft unterschieden werden. Formelle Mentorenschaften können zum Beispiel an ein Ehrenamt geknüpft sein, während informelle Mentorenschaften eher zufällig sind und in unterschiedlichen Kontexten auftreten. Zentral sind personalisierte Beziehungen zwischen Jung und Alt, in denen die Vermittlung von Erfahrungs- und Fachwissen im Vordergrund steht. Höpflinger (2002: 332) spricht dann von einer erfolgreichen Mentorenschaft, wenn Generationendifferenzen durch die Förderung der jungen Menschen bei gleichzeitigem Lernen der Mentoren durch die Jüngeren überbrückt werden. Diese Doppelrolle des Lernenden und Lehrenden verweist nochmals auf den pädagogischen Generationenbegriff. Historisch-soziale Generativität Bei der historisch-sozialen Generativität kann einerseits aktives Engagement für Jüngere und die Auseinandersetzung mit deren Werthaltungen oder andererseits die Verantwortungsübergabe an Jüngere im Vordergrund stehen (Höpflinger 2002: 332). Damit geht aber auch die negative Generativität einher, welche sich durch Desinteresse an gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen sowie anhand von intergenerationalem Neid im Zuge eines Einflussverlustes der eigenen Generation äußert (Höpflinger 2002: 332). Derartige kulturelle Wandlungen zu akzeptieren und zu verstehen, stellt eine große Herausforderung dar und kann im aktiven Austausch mit Jüngeren bewältigt werden (Lang und Baltes 1997: 176). Auch die Aufrechterhaltung von kultureller Kontinuität und der Sorge um das Bestehende sind eine Form der historisch-sozialen Generativität (Lang und Baltes 1997: 169 ff.; Vaillant und Milofsky 1980). Höpflinger (2002: 332) beschreibt den historisch-sozialen Generationenbezug im hohen Lebensalter vornehmlich als symbolische Kulturleistung aufgrund einer starken Segregation der Generationen in außerfamiliären Kontexten. Von daher ist ein Aspekt des Generativitätskonzepts von Lang und Baltes (1997: 172) besonders zu betonen, da dieses die Ausübung von Generativität auch ohne direkten Kontakt zu Jüngeren miteinschließt. Dies verweist somit auf indirekte Formen der
4.2 Gegenstandsbezogene theoretische Zugänge
51
Generativität, die sich einerseits auf die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt und damit verbundenen Werthaltungen junger Menschen beziehen (Höpflinger 2002: 332) oder andererseits anhand von kreativen Produkten wie Büchern oder Memoiren vollzogen werden können (Lang und Baltes 1997: 172; Fisher und Specht 1999). Demnach besteht Generativität aus dem Bemühen und der Sorge um nachfolgende Generationen insgesamt, was nicht ausschließlich die Weitergabe von eigenen Ideen und Handlungen umfasst, sondern weitergefasst ist (Kleiber und Ray 1993). Ein weiterer Aspekt der historisch-sozialen Generativität, der soeben bereits angedeutet wurde, ist das Schaffen von Werten über das eigene Leben hinaus. Das kann etwas beruflich Geschaffenes, ein ehrenamtliches Engagement oder ein ganzer Lebensentwurf sein (Lang und Baltes 1997: 173). Inwieweit und in welcher Form dies gelingt, hängt nach Kenny und LaVoie (1984) unter anderem von Einstellungen gegenüber jungen Menschen, von möglichen jungen Interaktionspartner*innen und deren Einstellungen zu Älteren sowie von Merkmalen der spezifischen Beziehung wie zum Beispiel der situative Kontext ab (Lang und Baltes 1997: 174). Der Rückzug aus sozialen Rollen und Positionen kann als weiterer Aspekt der historischen-sozialen Generativität genannt werden. Sie können sich beispielsweise auf den Beruf oder das Ehrenamt beziehen. Dies geht mit der Verantwortungsübergabe an Jüngere einher, was zweierlei impliziert. Einerseits übernehmen junge Menschen nun die Verantwortung für die Gesellschaft und andererseits garantiert dies, dass sie die Gelegenheit bekommen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen (Lang und Baltes 1997: 176). Die Bewältigung des Kontrollverlusts stellt die zentrale Herausforderung dieses Prozesses für die Älteren dar (Lang und Baltes 1997: 176). Wohlfahrtsstaatliche Generativität Bei diesem Generativitätskonzept steht die Unterstützung gesellschaftlicher Interessen nachfolgender Generationen durch die Älteren im Vordergrund (Höpflinger 2002: 332). Die Interessen der eigenen Altersgruppe werden dabei ausgeblendet. Ein Einsetzen für die jüngere Generation reicht dabei vom Entlasten des Pflegepersonales bei Pflegebedürftigkeit bis hin zu Interessenpolitik beispielsweise im Zuge von Seniorenverbänden, die sich für sozialpolitische Entlastungen jüngerer Generationen einsetzen (Höpflinger 2002: 332). Ferner kann der eigene Lebensstil das Generationenverhältnis prägen, indem gesundheitliche Prävention bei zurückhaltender Inanspruchnahme staatlicher Leistungen forciert wird (Höpflinger 2002: 332). Unter anderem diskutieren dies auch Lang und Baltes (1997: 175) in Zusammenhang mit dem SOK-Modell (Baltes und Baltes 1989) unter den Begriffen Selbstbescheidung und Selbstverantwortlichkeit. Der alte Mensch kann demnach
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4 Theoretischer Bezugsrahmen
die Verantwortung für sich selbst behalten und damit die Belastung anderer auf einem Minimum halten. Analog dazu, dass jeder Mensch gleichzeitig mehreren Generationen angehört, ist dies auch auf Generativität übertragbar. So kann generatives Handeln einer Person auf verschiedene Formen der analytischen Unterscheidung von Generativität verweisen beziehungsweise eine Mischform darstellen. Die vorliegende Arbeit verfolgt eine Lesart des Generativitätsbegriffs, die einerseits die verschiedenen Aspekte in Abhängigkeit zum Generationenbegriff umfasst und andererseits aber stets in (un-)mittelbarem Verhältnis zu Bildern von jungen Menschen steht, sodass auch Aspekte, die qua Definition Generativität meinen, jedoch nicht von Forschungsinteresse hinsichtlich von Bildern von jungen Menschen sind, ausgeblendet werden.
5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Für die vorliegende Arbeit wird ein explorativ-qualitatives Untersuchungsdesign gewählt, da es sich um ein bislang wenig erforschtes Feld handelt (vgl. Kapitel 3). Dieses beinhaltet das problemzentrierte Interview (PZI) nach Witzel (2000; 1985; 1982) sowie die dokumentarische Methode nach Bohnsack (2014b) und Nohl (2012) als zentrale Methoden zur Erhebung qualitativer Daten und deren Auswertung. Stadtteilbegehungen, deskriptive Auswertungen amtlicher Daten und zufällig erworbene Eindrücke bilden die Basis zur Erstellung des Stadtteilporträts. Das Untersuchungsdesign muss derart gewählt werden, dass anhand dessen die Mechanismen eines sozialen Miteinanders in einem konkreten Stadtteil verstanden werden können und die hinter den Mechanismen stehenden persönlichen Konzepte offengelegt werden. Die subjektive Perspektive Älterer auf Jüngere kann als komplexer vielschichtiger sozialer Sachverhalt verstanden werden, sodass eine qualitative Herangehensweise geeignet erscheint, diesen in seiner Komplexität explorativ zu erfassen. Dementsprechend dienen die Problemzentrierung und die Gegenstandsorientierung nach Witzel als forschungsleitende Grundpositionen des gesamten Forschungsverlaufs, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird. Ferner wurde bereits der metatheoretische Grundstein einer adaptierten praxeologischen Wissenssoziologie als Basis für die Analyse mit der dokumentarischen Methode gelegt. Im Folgenden werden die Methoden ausführlich dargestellt und methodologisch eingeordnet. Im Zuge der Beschreibung wird der konkrete Nutzen der jeweiligen Methode dargelegt. Nachdem die Erhebungs- und Auswertungsmethode der Interviews sowie deren forschungspraktische Adaptionen ausführlich dargelegt wurden, werden die Methoden des Stadtteils erläutert und daran anschließend methodische Implikationen des Forschungsprozesses diskutiert. Der Abschluss dieses Kapitels
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Bergholz, Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2_5
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5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
bildet der konkrete Zugang zum Forschungsfeld und die Entwicklung im Feld sowie die Darstellung der Samplingstrategie und des Samples.
5.1
Problemzentrietes Interview – Erhebungsmethode und forschungsleitendes Verfahren
Die vorliegende Arbeit stützt sich auf das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel (1982, 1985, 2000). Ziel der Erhebungsmethode ist, anhand des Sprechens über das eigene Wohnquartier die persönliche Problemsicht auf das Viertel möglichst offen zu erheben. Das für das Forschungsvorhaben relevante Erkenntnisinteresse soll sich darauf basierend auf Bilder von jungen Menschen bzw. das Kronprinzenviertel als intergenerationalen Erlebensraum zentrieren. Von daher bedarf es einer Methode, die situationsadäquat, flexibel und die Konkretisierung fördernd ist (Witzel 1985: 227). Der Forschungsprozess wird auf die Problemsicht des Individuums zentriert und dem Prinzip der Offenheit folgend (Hoffmann-Riem 1980: 346) werden ex ante keine Hypothesen gebildet, sondern es wird mit einem relativ offenen theoretischen Konzept gearbeitet (Witzel 1985: 228). Da es sich um ein exploratives Forschungsprojekt handelt, ist es wichtig, sich auf die individuelle Sichtweise der Akteur*innen einzulassen, um die Konstruktionsweisen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen (Witzel 1985: 228).1 Wie sich später zeigen wird, orientiert sich das PZI ebenso wie die dokumentarische Methode an der Ethnomethodologie2 . In diesem Zusammenhang wird von Indexikalität gesprochen. Dies ist die Abhängigkeit des Sinns eines Ausdrucks oder einer Erscheinung von deren besonderem Kontext. Die dokumentarische Methode der Interpretation im Sinne der Ethnomethodologie ist in der Lage, einzelne Gegebenheiten aufzulösen, indem der Sinn der Vielfalt sprachlicher Äußerungen und Handlungen dadurch identifiziert wird, dass jede einzelne Erscheinung als Dokument und damit als Ausdruck eines latenten Sinnmusters interpretiert und umgekehrt dieses Muster 1 Dies
erfolgt im PZI in Abgrenzung zum normativen Paradigma, welches einer deduktiven Forschungslogik folgt und in der gesellschaftliche Normen als Hauptdeterminanten der Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit angesehen werden (Witzel 1985: 227) Das PZI wurde also in Folge von Kritik an standardisierten Messverfahren in der empirischen Sozialforschung entwickelt (Witzel 1982: 12 ff.). 2 Zentraler Gegenstand der Ethnomethodologie ist das Alltagshandeln. Dabei stehen aber nicht etwa die Inhalte des Alltagshandelns im Vordergrund, sondern viel mehr die alltagsweltlichen Methoden von Interaktionsbeteiligten. Es wird also untersucht, wie interpretiert wird, wie Handlungen durchgeführt werden und wie durch Handlungsvollzug gesellschaftliche Realität produziert wird (Witzel 1982: 18).
5.1 Problemzentrietes Interview – Erhebungsmethode …
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durch die einzelnen konkreten Erscheinungen erfasst wird (Witzel 1985: 229). Darauf basiert letztendlich die dokumentarische Methode, in der dieses Muster durch eine implizite Regelhaftigkeit einer Herangehensweise an ein bestimmtes Problem herausgearbeitet wird (siehe Abschnitt 5.2.2).
5.1.1
Grundpositionen des problemzentrierten Interviews
Die Problemzentrierung ist die zentrale Grundposition des PZI. Sie meint zum einen die Orientierung an einer gesellschaftlich relevanten Problemstellung, was den Erkenntnis- und Lernprozess, die sogenannte Vorinterpretation organisiert (Witzel 2000). Sie wahrt Offenheit, sodass der*die Interviewte seine*ihre subjektiven Relevanzkriterien entfalten kann3 . Die Problemzentrierung ist somit nicht nur der zentrale Aspekt der Datenerhebung, sondern organisiert gleichermaßen das gesamte Forschungsvorhaben. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit umfasst das die Bedingungen des Zusammenlebens mit Jüngeren in einem Stadtquartier vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft. Die Problemzentrierung als forschungsleitende Prämisse hat zur Folge, dass die persönliche Deutung und Wahrnehmung des Themas sowie die Verarbeitung von Theorien und empirischen Befunden offenbzw. dargelegt werden (Witzel 1985: 230). Im Zuge der Vorinterpretation bedeutet Problemzentrierung das Offenlegen und Systematisieren des Vorwissens des*der Forscher*in (Witzel 1985 5 f.). Dies erfolgte zunächst im Rahmen des Forschungsstandes (siehe Kapitel 3) und des theoretischen Bezugsrahmens (siehe Kapitel 4). Weiterhin erachtet Witzel die Erkundung des Untersuchungsfeldes sowie das Einbeziehen von Expert*innen als notwendig. Die eingenommene Perspektive, ausgehend von demografischem Wandel, Quartiersfokus und Intergenerationalität, legt auf abnehmenden gesellschaftlichen Aggregationsebenen (Makro zu Mirko) die objektiven Rahmenbedingungen offen und erweitert diese durch die transdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Quartiersentwicklungsprojekt und dem regelmäßigen Bewegen im Feld und mündet schlussendlich in einem ersten empirischen Ergebnis in Form des Stadtteilporträts, das streng genommen Bestandteil der Gegenstandsorientierung ist, welche unten als zweite Grundposition des PZI erläutert wird4 . Dieser Weg ist nach Witzel (1985) die einzige Möglichkeit, die Chance zu erhöhen, Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Realität verstehend nachzuvollziehen und 3 Besonders
deutlich wird dies im Auswertungsschritt der komparativen Dimensionsanalyse (Abschnitt 7.3), welcher sich aus dieser Grundposition des PZI heraus entwickelt und systematisiert analysiert wird. 4 Grafisch sind Problemzentrierung und Gegenstandsorientierung in Abbildung 5.1 veranschaulicht.
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5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
inhaltsbezogene Fragen bzw. Nachfragen zu stellen. An dieser Stelle soll besonders auf das Vertrautmachen mit dem Feld, in diesem Fall dem Kronprinzenviertel, hingewiesen werden, was mit dem Stadtteilporträt erreicht wird. Im Verstehen eines Raums und dessen soziale Prozesse (als relationaler Sozialraum) ist die Vorgehensweise Witzels in diesem konkreten Forschungszusammenhang mit der Soziografie zu vergleichen, die ebenfalls versucht, einen sozialen Raum von möglichst vielen Seiten zu betrachten, um die Lücke zwischen nackten Ziffern und zufälligen Eindrücken einer Sozialreportage zu schließen (siehe Jahoda et al. 1975; Riege und Schubert 2005: 19). Neben der allgemeinen Organisation des Erkenntnis- und Lernprozesses einerseits meint problemzentriert zum anderen, eine Gesprächsstruktur zu finden, die die tatsächlichen Probleme der Individuen zu eruieren ermöglicht (Witzel 1985: 230). Von daher wird eine Kommunikationsstrategie forciert, die parallel zur Produktion von breiten und differenzierten Daten während des Interviews bereits an einer Ad-hoc-Interpretation der subjektiven Sichtweise des*der Interviewten arbeitet, um somit die Kommunikation präziser auf das Forschungsproblem zuzuspitzen (Witzel 2000). Diese Logik wird bei der Beschreibung des Leitfadens deutlich (siehe Abschnitt 5.1.3). Wichtig ist, dass bei der Zuspitzung, wenn in der Narration noch nicht geschehen, konkrete Alltagsbeispiele zur Perspektive der Älteren auf Jüngere eingefordert werden. Dies wird im Besonderen verfolgt, da vordergründige Erzählungen und Beschreibungen von Alltagssituationen besonders hinsichtlich der Auswertung mit der dokumentarischen Methode von zentraler Bedeutung sind (siehe Abschnitt 5.2). Gegenstandsorientierung Neben der Problemzentrierung versteht sich das PZI als gegenstandsorientiert, was die Flexibilität der Methode gegenüber den unterschiedlichen Anforderungen des untersuchten Gegenstands betont (Witzel 2000). Es verweist somit auf die Offenheit qualitativer Forschung. Forschungsmethoden sollten stets einen Bezug zum Gegenstand aufweisen und einen geeigneten Zugang zu Handlungs- und Bewusstseinsanalysen bieten (Witzel 1985: 232). Das PZI steht dabei im Zentrum, jedoch können unterschiedlichste Methoden, die dem Erkenntnisgewinn dienlich sind, genutzt werden (Witzel 2000). Die Rekonstruktion der erfahrungsbasierten Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer im Kontext eines spezifischen Raums ist das zentrale Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit, wodurch das PZI als Erhebungsinstrument von größter Bedeutung ist. Die Methoden, die sich um das PZI versammeln, sind einerseits diejenigen, die in das Stadtteilporträt münden (siehe Abschnitt 5.3), welches ein zusätzliches Verständnis der sozialen Realität bewirkt. Andererseits kommen das kontinuierliche Bewegen im Feld, die Teilnahme
5.1 Problemzentrietes Interview – Erhebungsmethode …
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an Bürgerveranstaltungen, der Austausch mit dem Quartiersentwickler hinzu, um den untersuchten Raum besser zu verstehen. Die gewonnenen Erkenntnisse tragen zur Entwicklung des Leitfadens bei, da Vorwissen erzeugt wird, welches in den Leitfaden einfließt und darüber hinaus hilfreich für die Gesprächsführung ist, da das Quartier sowie spezifische Orte, über die gesprochen wird, bekannt sind (siehe Abbildung 5.1). Prozessorientierung Die Prozessorientierung bezieht sich auf der einen Seite auf den gesamten Forschungsverlauf und speziell auf die Vorinterpretation und auf der anderen Seite auf das Interview bzw. die Kommunikationssituation (Witzel 2000). In Hinblick auf den Forschungsverlauf kann von einem induktiv-deduktiven Wechselspiel gesprochen werden. Die flexible Analyse des Problemfeldes wird durch eine schrittweise Gewinnung und Prüfung von Daten vollzogen5 . Mithilfe eines reflexiven Bezugs aufeinander müssen Methoden, die diese Vorgehensweise sicherstellen, genutzt und integriert werden (Witzel 1982: 71). Die Abhängigkeiten der einzelnen Forschungsschritte voneinander werden in Abbildung 5.1 veranschaulicht. Wird die Prozessorientierung auf die konkrete Kommunikationssituation bezogen, erläutert Witzel (2000) die sensible und akzeptierende Zentrierung des Kommunikationsprozesses auf die Rekonstruktion von Orientierungen und Handlungen, um Vertrauen zu erzeugen, damit sich die befragte Person in seiner*ihrer Problemsicht ernst genommen fühlt. Dies trägt zum Erinnerungsvermögen bei und motiviert zur Selbstreflexion. Vergangene Aussagen können revidiert werden. Diese sollten klärend vom Interviewer aufgegriffen und durch Nachfragen sollte Klarheit geschaffen werden (Witzel 2000). Dass der Aspekt der Selbstreflexion im Sinne der dokumentarischen Methode nicht unbedingt angestrebt werden sollte, zeigt sich bei der Beschreibung der verschiedenen Kommunikationsformen des PZI im Laufe dieses Kapitels. Das PZI nutzt, wie es in leitfadengestützten Interviews gängige Praxis ist, die Elemente Kurzfragebogen zur Person, Tonaufzeichnung des Interviews, Leitfaden und ein Postskriptum (Witzel 2000).
5 Diese Vorgehensweise geht auf die sensityzing concepts von Blumer (1954) zurück und dient
der Auflösung des Gegensatzes zwischen unvoreingenommenem* unvoreingenommener Wissenschaftler*in in der Datenerhebungsphase und theorieabhängigem*theorieabhängiger Interpret*in der Daten in der Auswertungsphase. (Dr. Jekyll-Mr. Hyde-Syndrom) (Witzel 1985: 231).
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Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Abbildung 5.1 Forschungsdesign auf Basis der Grundpositionen des PZI
5.1.2
Interviewführung
Die Kommunikationsstrategien des PZI zielen einerseits auf die subjektive Problemsicht und andererseits auf Dialoge, die durch ideenreiche und leitfadengestützte Nachfragen generiert werden (Witzel 2000). Das PZI möchte individuelle Handlungen sowie subjektive Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität möglichst unvoreingenommen erfassen. Von daher ist es für das Forschungsprojekt gut geeignet. Mit einer Einstiegsfrage soll das Gespräch auf das Problem zentriert werden und gleichzeitig zur Narration einladen (Witzel 2000). Gleichzeitig sollte diese Frage so formuliert sein, dass sie für den*die Interviewte*n wie eine leere Seite wirkt (Witzel 2000). Im weiteren Verlauf wird das Prinzip der Offenheit gewahrt, indem in der weiteren Kommunikation die sukzessive Offenlegung der subjektiven Problemsicht fokussiert wird. Dabei werden thematische Inhalte des Erzählten aufgegriffen, um mit Nachfragen einem roten Faden zu folgen und den gewünschten Detailierungsgrad zu erreichen (Witzel 2000). Das Erfragen von Erfahrungsbeispielen ist dazu besonders geeignet. Der Leitfaden ist so angelegt,
5.1 Problemzentrietes Interview – Erhebungsmethode …
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dass die Erzählaufforderungen stets zur Darlegung von Erfahrungen anhand von Beispielen einladen (siehe Abschnitt 5.1.3). Dies ist besonders wichtig, da die dokumentarische Methode als Auswertungsmethode darauf abzielt, den sogenannten dokumentarischen Sinngehalt von Handlungen zu rekonstruieren (siehe dazu ausführlich Abschnitt 5.2). Verständnisgenerierende Kommunikation Das PZI nutzt die Technik der kommunikativen Validierung, indem es einer deduktiven Logik folgend im Interview erworbenes Wissen zurückspiegelt, um die Selbstreflexion des*der Interviewten zu stützen. Dies kann zum Beispiel mithilfe von Unterstellungen stattfinden und ist aus der Gesprächspsychotherapie bekannt (Witzel 2000). Die Anwendung dieser Technik ist jedoch stark vom Vertrauensverhältnis zwischen den Gesprächsteilnehmer*innen abhängig, um keine Rechtfertigungen zu provozieren. Einschränkend muss an dieser Stelle allerdings betont werden, dass erzählgenerierende Nachfragen zu gewissen Themen im Sinne der dokumentarischen Methode sinnvoll sind, um weitere Narrationen zu erzeugen. Jedoch ist der Aspekt des Förderns von Selbstreflexion kritisch zu sehen, da dieser vornehmlich auf die Textsorte Argumentation abzielt (vgl. Abschnitt 5.2.2), die nicht im Vordergrund der Erzählung stehen sollte, wenn die dokumentarische Methode aus guten Gründen die gewählte Auswertungsmethode darstellt. Fragen zum Warum rücken bei der Auswertung mit der dokumentarischen Methode in den Hintergrund. An dieser Stelle sei auch kurz der Bezug von Witzel (2000) zur Beck‘schen Individualisierungsthese erwähnt. Seiner Argumentation, dass Selbstreflexion in einem zunehmend selbstgestalterischen Lebenslauf an Wichtigkeit gewinnt und deshalb im Interview befördert werden soll, kann in der Logik der dokumentarischen Methode nicht gefolgt werden, da Selbstreflexion wie im davor genannten Fall eher auf Argumentation und Bewertung beruht und somit nicht den Textsorten entspricht, die die dokumentarische Methode für ihre Interpretation vordergründig präferiert (vgl. Abschnitt 5.2).
5.1.3
Leitfadenentwicklung
Die Entwicklung des Leitfadens folgt in ihren Grundzügen der SPSS-Logik (Helfferich 2014: 567). SPSS steht für Sammeln, Prüfen, Sortieren, Subsumieren. Zunächst wurden basierend auf den forschungsleitenden Fragenstellungen (vgl. Abschnitt 3.3) Fragen gesammelt. Diese orientieren sich an den Konzepten, welche den leitenden Forschungsfragen zugrunde liegen. Das SPSS-Konzept erweist sich als Orientierung als sehr pragmatisch, da sich von ersten Frageentwürfen Schritt für Schritt ein zunehmend feiner zugeschnittener Fragebogen entwickeln lässt. Das
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Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Resultat dieses Prozesses wird im Folgenden dargestellt und zeigt, warum der Leitfaden wie ausgestaltet ist. Der Leitfaden ist in zwei Themenblöcke eingeteilt, die jeweils mehrere Erzählaufforderungen beinhalten (Abbildung 5.2).
Abbildung 5.2 Interviewleitfaden
5.2 Dokumentarische Methode
61
Die Anordnung der Themenblöcke dient grundlegend dazu, dass sich das Interview sukzessive in Richtung des Problems, also der Erfahrungen mit jungen Menschen, entwickelt. Die Eingangsfrage regt im Sinne des PZI zur Narration an und ermöglicht dem*der Interviewten, seine subjektiven Relevanzen zu eröffnen. Je nach Antwortverhalten dient der Nachfrageteil dazu, dem Befragten die potenzielle Möglichkeit zu geben, auch auf junge Menschen im Kontext des Kronprinzenviertels zu stoßen oder jedwede andere Perspektive auf das Kronprinzenviertel zu eröffnen. Auch mit Beginn des zweiten Themenblocks soll die Erzählaufforderung wie „eine leere Seite“ für den Befragten wirken, gleichermaßen leitet sie das Gespräch weiter in Richtung Problem. Es wird bewusst nach jungen Menschen gefragt, damit der*die Akteur*in seine subjektiven Relevanzen und damit sein*ihr subjektives Begriffsverständnis eröffnen kann. Der Bezug zum Kronprinzenviertel ist zunächst nicht obligatorisch, wird aber dann im Nachfrageteil forciert. Die letzten beiden Nachfragen nach dem Jungsein bzw. Älterwerden zielen nicht auf Erzählungen und Beschreibungen ab, sondern eher auf Theoretisierungen, die eigentlich nicht evoziert werden sollten (vgl. Abschnitt 5.2.2). Aus diesem Grund sind diese Fragen an das Ende gestellt, da Narrationen entweder schon generiert wurde oder aber, falls nicht geschehen, nochmals forciert werden können, wenn bis dato eher weniger Narrationen vorhanden sind. Gerade die Frage nach dem Jungsein erwies sich als erzählgenerierend, da dieses häufig vor dem Hintergrund aktueller Erfahrungen mit jungen Menschen verhandelt wird. Die Nachfrage nach dem Älterwerden ist mit der Intention verbunden, dass die interviewte Person nochmals sich selbst im Kontext ihrer sozialen Umwelt beschreibt, um generelle Perspektiven auf das Älterwerden und die damit möglicherweise in engem Zusammenhang stehende soziale Einbettung zu erlangen. Ferner wird das Älterwerden in Abgrenzung des Jungseins verhandelt und somit auch hier Narration über junge Menschen angeregt.
5.2
Dokumentarische Methode
Im folgenden Kapitel wird die dokumentarische Methode als Auswertungsmethode dargelegt. Dieses Kapitel geht vor allem auf die handwerklichen Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode ein, da die metatheoretischen Grundlagen bereits gelegt wurden (siehe Abschnitt 4.1). Dies erfolgt zweistufig, indem zunächst die von Nohl und Bohnsack vorgeschlagene Vorgehensweise erläutert wird, um daran anschließend die forschungspraktischen Adaptionen darzulegen.
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5.2.1
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Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Anwendungsbereiche und forschungspraktische Grundlagen
Die Methodologie der dokumentarischen Methode ist eine praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack et al. 2013: 13). Ihr Nutzen liegt insbesondere darin, implizites Wissen und ihre milieu-, generations-, geschlechts- oder entwicklungsspezifischen Orientierungen empirisch zu rekonstruieren und zu explizieren, welche der Alltagskommunikation und -handlung zugrunde liegen (Asbrand 2011: 1). Sie ist vor diesem Hintergrund für die entwickelte Fragstellung mit ihrem zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse geeignet, wie im Kapitel zur Herleitung eines metatheoretischen Handlungsmodells (siehe Abschnitt 4.1) bereits ausführlich dargelegt wurde. Die Methode ist in den Sozial- und Erziehungswissenschaften und vor allem in der Bildungsforschung6 weit verbreitet und findet insbesondere bei Interviews, Bildern, Videos und Gruppendiskussionen Anwendung. Die dokumentarische Methode wurde von Bohnsack auf der Basis von Mannheims Kultur- und Wissenssoziologie begründet (Bohnsack 2014b: 11). Was der Orientierungsrahmen genau ist, den es zu rekonstruieren gilt, wird anhand der zwei Ebenen deutlich, die Mannheim unterscheidet. Er differenziert zwischen immanentem Sinngehalt und Dokumentsinn. Innerhalb des immanenten Sinngehalts wird wiederum zwischen intentionalem Ausdruckssinn und Objektsinn unterteilt. Der intentionale Ausdruckssinn meint, dass ein Handeln nur aus seinem Innenweltbezug heraus seinen völlig individualisierten Sinn erhält (Corsten 2010: 101). Dieser muss in derselben Weise erfasst werden, wie er vom Subjekt gemeint und intendiert war (Corsten 2010: 101). Es wird auch vom subjektiv gemeinten Sinn gesprochen (Nohl 2012: 2). Dabei handelt es sich um Absichten und Motive des*der Akteur*in, die jedoch nicht bzw. nur schwer empirisch erfassbar und somit auch nicht interpretierbar sind (Nohl 2012: 2)7 . Der Objektsinn basiert auf gesellschaftlich institutionalisierten reziproken Motivvorstellungen; wenn beispielsweise eine Person einem Bettler Geld gibt, wäre der objektive Sinngehalt die Hilfe (vgl. Bohnsack 2014b: 62). Dieser lässt sich ohne Kenntnisse der Kontextbedingungen oder Intentionen des*der Akteur*in erschließen. Der dokumentarische Sinngehalt konstituiert sich schlussendlich im Herstellungsprozess der Handlung und ist somit unmittelbar an die Handlungspraxis geknüpft (Nohl 2012: 3). Er verdeutlicht also, 6 Zu
den Anwendungsbereichen der Dokumentarischen Methode siehe Bohnsack et al. 2013: 18. 7 Nach Schütz gibt es lediglich eine gewisse Chance, dass der*die Beobachter*in den subjektiv gemeinten Sinn einer Handlung des Handelnden erfassen kann. Diese Chance steigt, wenn es sich um institutionalisiertes, normorientiertes und rollenförmiges Handeln handelt (Bohnsack 2014a: 45 f.).
5.2 Dokumentarische Methode
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was sich in einer Handlung unbeabsichtigt dokumentiert (Corsten 2010: 101). Der Dokumentsinn zeigt sich nie in Gänze, sondern lediglich bruchstückhaft, somit kann Dokumentarisches nur durch weitere dokumentarische Bruchstücke belegt werden (Corsten 2010: 102). Dies wird weiter unten deutlich, wenn die komparative Sequenzanalyse beschrieben wird. Auf den zwei erläuterten Sinnebenen werden auch die verschiedenen Schritte der Interpretation vollzogen. Diese Unterscheidung der Sinnebenen Mannheims trägt zur Überwindung der Aporie von Subjektivismus und Objektivismus bei, welche als Probleme des gegenwärtigen Standes in der qualitativen Forschung genannt werden (Bohnsack et al. 2013: 11 f.). Zusammengefasst besteht ein Dilemma zwischen dem lediglichen Nachzeichnen und Systematisieren des subjektiven Sinns, also den Selbstverständlichkeiten des Common Sense, und der Verabsolutierung des Zugangs zur Realität (Bohnsack et al. 2013: 11 f.)8 . Mannheim bietet eine Beobachter*innenperspektive an, die zwischen subjektivem Sinn und beobachtbarem Handeln unterscheidet, jedoch das Wissen der Akteur*innen als empirische Basis behält, dieses aber vom subjektiven Sinn ablöst (Nohl 2012: 45). Diese Überlegung basiert auf der Annahme, dass Akteur*innen über reflexives theoretisches Wissen einerseits sowie handlungspraktisches, handlungsleitendes Wissen andererseits verfügen. Letzteres Wissen wird auch atheoretisches Wissen genannt und ist der Orientierungsrahmen, vor dessen Hintergrund Handlungen vollzogen werden. Dieser kollektive Wissenszusammenhang leitet das Handeln und ist dem grundlagentheoretischen Rahmen folgend dem Orientierungsrahmen in Differenz zum Orientierungsschema zuzuordnen und somit relativ unabhängig vom subjektiven Sinn. Jedoch ist dieser Zusammenhang bei den Akteur*innen wissensmäßig repräsentiert und somit verfügen diese darüber (Bohnsack et al. 2013: 12). Der*die Wissenschaftler*in hat prinzipiell keinen privilegierten Zugang zu diesem Wissen. Von daher wird davon ausgegangen, dass die Wissenschaftler*innen nicht mehr als die untersuchten Subjekte wissen, sondern das untersuchte Subjekt selbst nicht weiß, was es alles weiß, und somit über implizites Wissen verfügt, welches ihm reflexiv nicht ohne Weiteres zugänglich ist (Bohnsack et al. 2013: 12). Kernaufgabe der dokumentarischen Methode ist schließlich, dieses implizite Wissen explizit zu machen, also den Orientierungsrahmen offenzulegen. Die dokumentarische Interpretation basiert auf dem Wechsel von der Frage, was gesellschaftliche Realität in der Perspektive der Akteur*innen ist, dazu, wie diese 8 Anders ausgedrückt verbleibt die Dokumentarische Methode einerseits nicht beim subjektiv
gemeinten Sinn und verdoppelt somit die Common-Sense-Einstellungen nur und andererseits wird einer Beobachterperspektive zweiten Grades eingenommen. Dabei verlässt man aber nicht das Wissen der Befragten als empirische Basis, was objektivierenden Verfahren häufig vorgeworfen wird (Schäffer 2012a: 197).
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5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
in der Praxis hergestellt wird (Bohnsack et al. 2013: 13). Die Handlungspraxis ist folglich von entscheidender Relevanz in der dokumentarischen Methode und wird somit als praxeologische bezeichnet (Bohnsack et al. 2013: 13). Dieser Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie äußert sich in formulierender und reflektierender Interpretation. Die formulierende Interpretation fragt nach dem Objektsinn, die reflektierende nach dem dokumentarischen Sinngehalt, also dem Orientierungsrahmen. Aufgrund der erkenntnistheoretischen Fundierung, die auf Mannheim zurückgeht, ist der Wechsel vom Was zum Wie obligatorisch (Bohnsack et al. 2013: 13 f.). Methodologische Basis dieses Wechsels ist die Unterscheidung zwischen konjunktivem und kommunikativ-generalisierendem Wissen (siehe Abschnitt 4.1). Die Ethnomethodologie vernachlässigt die Doppelstruktur alltäglicher Sprache und Interaktion (Bohnsack et al. 2013: 15). Die dokumentarische Methode trägt dieser Doppelstruktur dagegen Rechnung. Die Ebenen der Doppelstruktur von Sprache wurden bereits in den metatheoretischen Grundlagen in Form von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen bzw. Denk- und Erfahrungsbildern dargelegt, auf welche hier nochmals verwiesen sei.
5.2.2
Forschungspraxis und Adaption an das Erkenntnisinteresse
Im Folgenden werden die zwei Interpretationsebenen der formulierenden und reflektierenden Interpretation dargelegt, welche sich an den Analyseeinstellungen zwischen Objektsinn und dokumentarischem Sinn strukturieren. Formulierende Interpretation Die formulierende Interpretation besteht nach Nohl aus drei Schritten (Nohl 2012: 40 f.). Zunächst werden die Audioaufnahmen abgehört, um die thematischen Abläufe zeitlich zu dokumentieren. Neben dem thematischen Verlauf wird Ausschau nach Fokussierungsmetaphern gehalten. Diese zeichnen sich vor allem durch dichte, enthusiastische und metaphorische Ausführungen aus. Orientierungen werden dort besonders deutlich (Bohnsack 2014b: 125). Des Weiteren können sie offenlegen, dass die Themen des*der Forscher*in nicht genau gewählt wurden und unter Umständen zu erweitern bzw. anzupassen sind (Nohl 2012: 40)9 . Der
9 An
dieser Stelle wird das Prinzip der Offenheit deutlich, welches ein Grundprinzip in der qualitativen Sozialforschung darstellt. Siehe dazu zum Beispiel: Hofmann-Riem 1980 bzw. Abschnitt 4.1.
5.2 Dokumentarische Methode
65
thematische Verlauf gibt zuletzt einen Überblick darüber, welche Themen in unterschiedlichen Fällen in ähnlicher Art und Weise behandelt wurden und ob sie sich gegebenenfalls für die komparative Sequenzanalyse, welche Teil der reflektierenden Interpretation ist, eignen (Nohl 2012: 40). Daran anschließend kann die Transkription als zweiter Schritt erfolgen. Die formulierende Feininterpretation, die den dritten Schritt darstellt, dient in erster Linie dazu, die thematischen Gehalte des*der Akteur*in in eigenen Worten zusammengefasst wiederzugeben. Damit wird einerseits eine gewisse Distanz zum Ausgangstext sichergestellt und andererseits sich vergewissert, was der*die Akteur*in mit seiner*ihrer Ausführung aussagt (Nohl 2012: 41). Der Text wird sequenziell durchgegangen und Themen werden in eigenen Worten zusammengefasst. Dabei kann auch zwischen Ober- und Unterthemen unterschieden werden (Nohl 2012: 40). Es wurde sich dazu entschieden, prägnante Formulierungen und die Nennung relevanter Wörter wörtlich zu übernehmen. Forschungspraktisch wird dieser Schritt eher pragmatisch gehalten. Eine Synthese aus thematischen Verläufen und der formulierenden Feininterpretation erwiesen sich für den Auswertungsverlauf als zielführend, da dies als Grundlage für den Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie diente, Fokussierungsmetaphern offenlegte und die reflektierende Interpretation strukturiert, auf welche im Folgenden ausführlich eingegangen wird. Reflektierende Interpretation Die reflektierende Interpretation vollzieht sich in zwei Schritten. Der erste Schritt ist die Textsortentrennung und im zweiten Schritt werden die semantische Interpretation und die komparative Sequenzanalyse vollzogen (Nohl 2012: 41 ff.). Die Frage danach, wie eine Situation abgehandelt wird, d. h., nach welchem Orientierungsrahmen sie erfolgt, verweist sowohl auf die formalen als auch auf die semantischen Aspekte von Interviews (Nohl 2012: 41). Demzufolge sind beide Aspekte Teil der reflektierenden Interpretation, die sich nicht voneinander trennen lassen. Die Textsortentrennung als erster Schritt der reflektierenden Interpretation geht auf die Narrationsstrukturanalyse von Fritz Schütze zurück (Nohl 2012: 27). Des Weiteren ist die komparative Anlage der dokumentarischen Methode mit dem Ziel der Erfassung von Mehrdimensionalität zentral und unterscheidet sich von der eindimensionalen Herangehensweise von Schütze, die sich lediglich auf die Lebensgeschichte bezieht (Nohl 2012: 37)10 . Schütze unterscheidet die Textsorten Erzählung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung. Erzählungen sind demnach Handlungs- bzw. Geschehensabläufe, 10 Zur Vertiefung der Kritik an Schützes Narrationsstrukturanalyse und dessen Implikationen für die Dokumentarische Methode siehe Nohl 2012: 27 ff.
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5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
die einen Anfang und ein Ende haben (Nohl 2012: 20). Sie stellen ein singuläres Ereignis dar, welches sich durch Zeit- und Ortsbezüge kennzeichnet und den Übergang zwischen zwei Zeitzuständen beinhaltet (Nohl 2012: 20). Beschreibungen sind in erster Linie feststehende Sachverhalte oder immer wiederkehrende Handlungsabläufe (Nohl 2012: 21). Argumentationen äußern sich durch alltagstheoretische Zusammenfassungen und Bewertungen von Motiven, Gründen und Bedingungen des eigenen oder fremden Handelns und sind eng mit Bewertungen verknüpft, die evaluative Stellungnahmen zu eigenen oder fremden Handlungen darstellen (Nohl 2012: 21)11 . Vor allem Stegreiferzählungen beinhalten eine Dynamik von Zugzwängen, die besonders nah an den Erfahrungen der Erzähler liegen (Nohl 2012: 23). Eine Erzählung muss am Ende geschlossen, kondensiert und detailliert werden, damit der Erzähler einen tiefen Einblick in seine Erfahrungsaufschichtung gewährt (Nohl 2012: 42). Laut Schütze gibt es einen engen Zusammenhang zwischen erzählter und erlebter Handlung, sodass diese Textsorte sehr nahe am Erlebten ist (Nohl 2012: 42). Die Textsorten Argumentation und Bewertung besitzen einen starken inhaltlichen Bezug zum Gegenwartsstandpunkt des Erzählers (Nohl 2012: 24). Dieser argumentiert und bewertet aus einer Gegenwartsperspektive in der konkreten Interviewsituation. Interviews können durch Argumentationen und Bewertungen oder durch Erzählungen strukturiert werden. In der Regel kommen alle Textsorten in einem Interview vor und eine Abgrenzung ist nicht immer trennscharf möglich. Ist die Erzählung vordergründig und Beschreibungen, Bewertungen und Argumentationen dienen lediglich als Hintergrundkonstruktionen, greifen die Zugzwänge des Erzählens und der Erzähler verstrickt sich in den Rahmen seiner eigenen Erfahrung (Nohl 2012: 22). Das sollte erreicht werden. Stehen dagegen aber Argumente und Bewertungen im Vordergrund, erfolgt keine Verstrickung. Bei im Vordergrund stehenden Erzählungen handelt es sich also um unmittelbar an die Handlungspraxis gebundene Erfahrungen, die der Erzähler nicht kommunikativ explizieren kann (Nohl 2012: 43). Es handelt sich also um das bereits erläuterte implizite bzw. konjunktive Wissen, an welches man durch Erzählungen oder Beschreibungen gelangen kann, da es nahe an der Handlungspraxis ist. Kommunikatives Wissen bezieht sich in aller Regel auf die Motive des Handelns, die durch den*die Akteur*in explizit gemacht werden können, und korrespondiert demzufolge mit den Textsorten Argumentation und Bewertung (Nohl 2012: 43). Argumentationen werden 11 Neben den genannten Textsorten nach Schütze ist weiterhin die Theoretisierung von Relevanz. Damit ist die theoretische Auseinandersetzung mit Sachverhalten gemeint, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie keine handlungspraktischen Implikationen besitzt. Somit ist die Theoretisierung auf der Ebene des expliziten Wissens also des Orientierungsschemas anzusiedeln.
5.2 Dokumentarische Methode
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als Motiv oder Begründung für Handlungen genutzt, die diese dem Interviewer verständlich machen sollen. Da davon auszugehen ist, dass Interviewer*in und Interviewte*r unterschiedlichen Milieus angehören, müssen die Argumentationen auf kommunikativ-generalisierenden Wissensbeständen beruhen und fallen somit nicht mit der Handlungspraxis zusammen (Nohl 2012: 43). Die dargelegte Textsortentrennung in der Logik der Leitdifferenz bietet die Basis der Interpretation, um zwischen Denk- und Erfahrungsbildern unterscheiden und sich somit auf den unterschiedlichen Sinnebenen des Orientierungsschemas und Orientierungsrahmens bewegen zu können. In Schützes Textsortentrennung findet sich also die Unterscheidung zwischen konjunktiv-impliziten und kommunikativ-generalisierendem Wissen wieder, allerdings auf einer analytischen Ebene, da in Interviews Erzählungen und Beschreibungen beispielsweise mit Argumenten und Bewertungen untermauert werden (Nohl 2012: 43 f.) und Textsorten nie in Reinform auftreten. Als Begründung der Textsortentrennung nach Schütze führt Nohl aus: „Die formale Unterscheidung zwischen Argumentation, Bewertung, Beschreibung und Erzählung sowie die Fokussierung der letzteren zielt darauf, den Erfahrungen der Akteure Rechnung zu tragen, ohne aber deren subjektiven Sinnzuschreibungen aufzusitzen“ (Nohl 2012: 45).
Die semantische Ebene der reflektierenden Interpretation wird maßgeblich mit der dokumentarischen Methode vollzogen. Auf dieser Ebene soll sozusagen die Aporie von Subjektivismus und Objektivismus überwunden werden, indem ein Zugang zur Wirklichkeit gefunden werden soll, der weder jenseits des Akteur*innenwissens als objektiv definiert wird noch sich im subjektiv gemeinten Sinn also im intentionalen Ausdruckssinn erschöpft (Nohl 2012: 45). Wie bereits beschrieben, wissen die Akteur*innen selbst nicht, was sie alles wissen, sodass dieses implizite Wissen zur Explikation gebracht werden muss. Die dokumentarische Methode geht davon aus, dass ein Mensch eine Problemstellung innerhalb seines Lebens auf eine einzige bestimmte Art und Weise bearbeitet bzw. erfährt (Nohl 2012: 46). Basierend auf dieser Annahme wird nach der impliziten Regelhaftigkeit innerhalb einer Sequenz gesucht, um den Orientierungsrahmen und damit den dokumentarischen Sinngehalt zu explizieren (Nohl 2012: 45). In der Erzählung einer Sequenz ist folglich eine gewisse Kontinuität vorhanden, die diese Sequenz strukturiert. An einem Erzählabschnitt kann sich also nur ein spezifischer, der jeweiligen Handlungsweise folgender zweiter Abschnitt anschließen. Zwischen Erzählabschnitt eins und Erzählabschnitt zwei gibt es eine implizierte Regelhaftigkeit, die es zu rekonstruieren gilt.
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5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
„Diese Regelhaftigkeit wird rekonstruiert, indem man nach der Klasse von zweiten Äußerungen sucht, die nicht nur thematisch sinnvoll erscheinen, sondern die auch homolog oder funktonal äquivalent zu der empirisch gegebenen zweiten Äußerung sind“ (Nohl 2012: 46).
Die Klasse der homologen Äußerungen wird in der dokumentarischen Methode mithilfe von minimalen bzw. maximalen kontrastierenden empirischen Fällen bestimmt. Der Ansatz arbeitet somit fallübergreifend und fallvergleichend. Anhand von Gedankenexperimenten und ähnlichen Anschlussäußerungen in anderen Fällen wird nach einem minimalen Kontrast gesucht, in dem eine Problematik in einer ähnlichen Art und Weise behandelt wird. Um Homologien auszumachen, muss sie von maximal kontrastierenden heterologen Fällen abgegrenzt werden. Dies erfolgt, indem man nach Fällen sucht, in denen auf eine gleiche erste Äußerung eine völlig andere zweite Äußerung folgt (Nohl 2012: 46 f.). Da jede Interpretation mithilfe von Vergleichen funktioniert, erleichtern heterologe Fälle den interpretatorischen Zugriff und darüber hinaus dient der Vergleich als Validierung der Methode (Nohl 2012: 49). An dieser Stelle kommt auch die Standortgebundenheit des*der Wissenschaftler*in zum Tragen. Hier besteht die Gefahr des Hinnehmens des geschilderten Falls in die eigenen Selbstverständlichkeiten12 (Nohl 2012: 49). Die Perspektive des*der Wissenschaftler*in kann aber durch Vergleichsfälle relativiert werden (Nohl 2012: 49; Nohl 2012: 7). Diese Vorgehensweise der komparativen Analyse ist der „Königsweg“ des methodisch kontrollierten Fremdverstehens (Nohl 2012: 7). Neben der Validierung der Methode dient die komparative Sequenzanalyse der Generierung von mehrdimensionalen Typologien und somit auch der Generalisierung (Nohl 2012: 50). Ziel dieser Arbeit ist eine sinngenetische Typenbildung13 zu Erfahrungsbildern von jungen Menschen. Diese werden anhand der rekonstruierten Erfahrungsbilder gebildet. Eine sinngenetische Typenbildung meint eine fallübergreifende bestimmte Art und Weise der Bearbeitung einer Problemstellung durch mehrere Akteur*innen (Nohl 2012: 7). Anders gesagt geht es um die Abstraktion des Orientierungsrahmens vom Einzelfall. Gleichzeitig wird ein Orientierungsrahmen mit demjenigen anderer Fälle typisierend kontrastiert (Nohl 2012: 85). 12 Zur weiteren Erläuterung der Standortgebundenheit des*der Wissenschaftler*in siehe Bohnsack 2014b: 191 ff. 13 Neben der sinngenetischen Typenbildung kann zwischen drei weiteren Arten der Typenbildung unterschieden werden. Dies sind: die soziogenetische Typenbildung, die relationale Typenbildung sowie der Mehrebenenvergleich. Die verschiedenen Formen der Typenbildung bauen zum Teil auf einander auf, wobei die sinngenetische Typenbildung für alle Formen obligatorisch ist (siehe dazu Nohl 2013).
5.3 Methoden des Stadtteilporträts
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Forschungspraxis der reflektierenden Interpretation Forschungspraktisch werden die ausgewählten Passagen aus der formulierenden Feininterpretation herangezogen. Die Textsortentrennung erfolgt dabei etwas weniger detailliert, als es Nohl vorschlägt. Dies hat sich als zielführend erwiesen. Argumentationen und Bewertungen, welche in der Regel in Denkbilder münden, können eindeutig identifiziert und somit von Erzählungen bzw. Beschreibungen abgegrenzt werden. Die ausgewählten Passagen eines jeden Falls kondensieren sich in ein zentrales Erfahrungsbild und ggf. weitere Erfahrungsbilder stets unter der Prämisse der impliziten Regelhaftigkeit. Dies geschieht in den Fallporträts zunächst weitestgehend fallspezifisch. Denkbilder werden dagegen unmittelbarer identifiziert und stehen ggf. mit Erfahrungsbildern in Beziehung bzw. kontrastieren diese (vgl. Abschnitt 4.1.2; Schäffer 2010: 213). Ausgehend von den Fallporträts werden die Fälle hinsichtlich ihrer (zentralen) Erfahrungsbilder einer komparativen Analyse unterzogen. Anhand von minimalen und maximalen Kontrastierungen können diese herausgearbeitet werden. In der empirischen Analyse erweisen sich einige Dimensionen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – fallübergreifend als relevant, sodass diese Dimensionen im Anschluss an die sinngenetische Typenbildung einer komparativen Dimensionsanalyse unterzogen werden. Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Rekonstruktion der Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer wurde durch eine stetige Diskussion des Interviewmaterials in verschiedenen regelmäßig stattfinden Interpretationsgruppen sowie auf Summer-Schools sichergestellt. Die Interpretationsgruppen unterschieden sich dadurch, dass diese einerseits eine spezifische zur dokumentarischen Methode und andererseits eine mit gemischten methodischen Zugängen war. Dies erlaubte zum einen, eine hohe Kohärenz zwischen Methodologie und Empirie zu gewährleisten, und zum anderen führte eine methodenungebundene Auseinandersetzung mit dem empirischen Material zu einer „freieren“ undogmatischeren Perspektive, welche den Blick auf das Material hinsichtlich der forschungsleitenden Fragestellungen erweiterte und bereicherte.
5.3
Methoden des Stadtteilporträts
Die Darstellung und die Erforschung des Kronprinzenviertels dienen vorrangig als Kontextwissen für das sozialraumbezogene intergenerationale Miteinander aus Perspektive der Älteren im Sinne der Gegenstandsorientierung und Problemzentrierung (vgl. Abschnitt 5.1.1). Ferner ist sie auf einen transdisziplinären Verwertungszusammenhang ausgerichtet. Es besteht wie bereits dargelegt ein
70
5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Zusammenhang zwischen dem Stadtteilporträt als Kontextwissen und dem weiteren Forschungsprozess (siehe Abschnitt 5.1.1).
5.3.1
Auswertung amtlicher Daten
Vom Statistikamt der Stadt Krefeld wurden vielfältige Daten zur Verfügung gestellt, die speziell auf die Grenzen des Kronprinzenviertels zugeschnitten sind, da dieses keinen eigenständigen statistischen Bezirk darstellt. Die Daten enthalten die folgenden Merkmale und liegen aggregiert als Kreuztabellen vor. Das Alter der Bewohner*innen ist in Fünfjahresschritten mit Geschlecht (männlich, weiblich), Konfession (römisch-katholisch, evangelisch, freireligiöse Gemeinden, griechischorthodox sowie sonstige, ohne Angaben, gemeinschaftslos), Leistungsbezug nach SGB II und XII, Familienstand (ledig, geschieden, verheiratet, verwitwet und sonstige bzw. nicht bekannt), Migrationshintergrund (deutsch mit Migrationshintergrund und ausländisch) sowie Privathaushalten (Einpersonen-, Zweipersonensowie Dreipersonen- und Mehrpersonenhaushalte) gekreuzt. Die Bewohner*innen mit Migrationshintergrund sind zudem nach den sechs häufigsten Herkunftsländern aufgeschlüsselt. Unter den gemeinschaftslosen Konfessionen befinden sich auch Bewohner*innen muslimischen Glaubens. Darüber hinaus liegt eine dreidimensionale Kreuztabelle zu Alter, Haushaltsgröße und Geschlecht14 vor. Da das Kronprinzenviertel sich weitestgehend mit dem statistischen Bezirk 043 – Stephanplatz deckt, konnten darüber hinaus das Statistische Jahrbuch 2015 der Stadt Krefeld herangezogen und Informationen über Wohnungsentwicklung, Ärzte- und Apothekenversorgung, Einkaufsmöglichkeiten, ÖPNV etc., also die gängigen Indikatoren der Qualität des Wohnumfeldes (Mahne et al. 2010: 147 ff.; Köcher und Bruttel 2012: 116 ff.), mit eingebracht werden. Im Stadtteilporträt (Kapitel 6) wird auf eine konsequente Zitation der Quellen zu den Daten der Stadt Krefeld und des Kronprinzenviertels bewusst verzichtet. Diese entstammen einerseits dem Statistischen Jahrbuch 2015 der Stadt Krefeld und sind mit einem „*“ gekennzeichnet und andererseits aus eigenen Berechnungen auf Grundlage der von der Statistikabteilung der Stadt Krefeld zur Verfügung gestellten Daten15 .
14 Diese Kreuztabelle ist vor dem Hintergrund der höheren Lebenserwartung von Frauen und dem Alleinleben nach der Verwitwung für relevant befunden worden und wurde deshalb abgefragt. 15 Die von der Statistikabteilung der Stadt Krefeld zur Verfügung gestellten befinden sich auf der CD im Anhang (Anhang 4).
5.3 Methoden des Stadtteilporträts
5.3.2
71
Stadtteilbegehungen
Stadtteilbegehungen haben ihren Ursprung in der „Chicago-School“, welche systematische raumbezogene Analysen in der Stadt Chicago durchführte (Riege und Schubert 2005: 11). Robert E. Park als ihr prominentester Vertreter war der Überzeugung, dass sich Soziolog*innen mit den Lebensumständen und Lebensweisen der Beforschten unmittelbar vertraut machen sollten (Christmann 2007: 8). Somit empfahl er seinen Schüler*innen, sich auf Beobachtungsgänge in das Feld zu begeben (Christmann 2007: 8). An dieser Logik knüpft die vorliegende Arbeit an. Dabei ist besonders der Erwerb einer „ethnografischen Haltung“ wichtig (Deinet 2009: 66). Diese wurde sich im Laufe des Dissertationsprojektes angeeignet. Im Projektverlauf wurden vier verschiedene Typen von Stadtteilbegehungen durchgeführt, welche sich in der Gestalt herausgebildet haben. Die im Folgenden dargestellten Typen bieten unterschiedliche Möglichkeiten dieser Methode anzuwenden. Dies kann auch für die sozialräumliche und quartiersentwicklerische Praxis vorschlagen werden. 1) Explorative Begehungen des Raums mit dem Quartiersentwickler für ein Grundverständnis des Viertels zu Beginn des Projekts 2) Zielgebundene Begehungen 3) Zufällige Begehungen im Rahmen von Terminen vor Ort 4) Bürgerbegehungen im Rahmen der transdisziplinären Zusammenarbeit mit dem Quartiersentwickler und einer Behinderteneinrichtung und Begegnungsstätte Die explorativen Begehungen dienten vornehmlich dazu, sich im Allgemeinen mit dem Stadtviertel vertraut zu machen und einen groben Eindruck zu gewinnen. Diese wurden mit dem Projektpartner und Quartiersentwickler durchgeführt. Wichtig war vor allem das Kennenlernen der Straßennamen, der Plätze und der generellen physikalischen Infrastruktur sowie der Bausubstanz. Ferner wurde sich ein Überblick über die ökonomische Nutzung des Viertels sowie der Menschen, denen man begegnet, verschafft, wodurch erste grobe Hinweise auf die Sozialstruktur gewährt wurden. Die Erkenntnisse dieser Begehungen fließen im Wesentlichen in das Stadtteilporträt ein, besonders bei der physikalischen Beschreibung des Raums und helfen darüber hinaus bei der Interviewführung. Die zielgebundenen Begehungen zielten vornehmlich darauf, die vier Plätze im Viertel zu erleben und zu dokumentieren, welche Gruppen sich dort aufhalten bzw. wie die Aufenthaltsqualität im Allgemeinen ist. Die Wirkung von Räumen und die Interaktionen von Menschen und Gruppen stehen dabei im Vordergrund (Deinet 2009: 66). Verwertet werden die Ergebnisse im Stadtteilporträt (siehe Kapitel 6) als
72
5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
zusätzliche Verifizierung von statistischen Erkenntnissen wie es zum Beispiel auch die Soziografie nahelegt (Jahoda et al. 1975). Neben den zielgebundenen Begehungen wurden kontinuierlich zufällige Begehungen durchgeführt, immer dann, wenn ohnehin ein Termin in Krefeld ansteht. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass stets neue Eindrücke gewonnen werden konnten und das Viertel in einer möglichst großen Vielfalt wahrgenommen werden kann. Dabei ist vor allem die Wahrnehmung des Raums zu verschiedenen Tagesaber auch Jahreszeiten von Bedeutung. Diese Herangehensweise folgt der Logik der Verwertung von zufällig erworbenen Eindrücken, die durch eine ethnografische Grundhaltung entstehen und im Sinne der Soziografie sind (Riege und Schubert 2005: 19). Weiterhin wurde im Sommer des Jahres 2017 an Bürgerbegehungen im Rahmen eines wöchentlichen Stadtteilspaziergangs teilgenommen, die im Kontext der transdisziplinären Zusammenarbeit durch den Quartiersentwickler und einem Beratungsund Begegnungszentrum der Behindertenhilfe durchgeführt wurden. Neben der Partizipation im Feld sind vor allem die unterschiedlichen Perspektiven der Woche für Woche wechselnden Teilnehmer*innen bereichernd für die Wahrnehmung des Untersuchungsraums. Genereller Nutzen der Stadtteilbegehungen ist in erster Linie das Kontrastieren bzw. die Möglichkeit, einen zweiten Eindruck neben den Erkenntnissen aus dem Stadtteilporträt speziell zu Alters- und Sozialstruktur zu erhalten, die auf Basis amtlicher Daten vorliegen. Zudem ist insbesondere die physikalische Intrastruktur vor allem in Sachen Straßen als Barrieren und Sitzmöglichkeiten im Quartier aus einer altersbezogenen Perspektive wichtig für das Stadtteilporträt und das Verständnis des Raums. Ein gutes Verständnis des Raums hilft bei der Entwicklung des Leitfadens sowie in der konkreten Interviewsituation, da stets klar ist, von welchen Orten das Gegenüber spricht.
5.3.3
Zufällig erworbene Eindrücke
Unter die zufällig erworbenen Eindrücke fielen neben den zuvor dargestellten zufälligen Begehungen Gespräche bei Bürgerveranstaltungen und Treffen, die im Zuge der transdisziplinären Arbeit stattfanden und immer wieder Informationen über das Kronprinzenviertel beinhalteten sowie Eindrücke und Sichtweisen auf Personengruppen und den Raum vermittelten. In Bezug auf eine möglichst umfassende Porträtierung des Kronprinzenviertels wurde der Logik all is data gefolgt, wie sie aus der Grounded Theory bekannt ist (Glaser 2001).
5.4 Methodische Implikationen der Dynamik des Forschungsprozesses …
5.4
73
Methodische Implikationen der Dynamik des Forschungsprozesses und Reflexion der Feldaktivitäten
Das nachfolgende Kapitel legt den Zugang zum Feld dar und ist so gesehen die Fortsetzung des Kapitels zu den (Um-)Wegen zum Forschungsgegenstand (Kapitel 2). Zentral ist dabei die selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Feldzugang sowie den Feldaktivitäten. Dabei wird auch auf die transdisziplinäre Zusammenarbeit im Feld eingegangen. Weiterhin wird die Samplingstrategie eingeführt und daran anschließend das für die Arbeit herangezogene Sample vorgestellt.
5.4.1
Feldzugang und Feldaktivitäten
Grundzüge des Quartiersentwicklungsprojekts „Altengerechte Quartiere.NRW Krefeld Südliche Innenstadt“ Der Feldzugang zum sowie der sozialräumliche Forschungsprozess im Kronprinzenviertel sind wesentlich durch die Kooperation mit dem Quartiersentwicklungsprojekt „Altengerechte Quartiere.NRW Krefeld Südliche Innenstadt“ und insbesondere durch den Verantwortlichen Quartiersentwickler und dessen Netzwerk geprägt. Bei diesem Projekt handelt es sich um ein Quartiersentwicklungsprojekt aus der Förderlinie Altengerechte Quartiere.NRW des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen16 . Das Projekt startete Ende des Jahres 2015, war für drei Jahre angesetzt und hatte gemäß der Förderschwerpunkte der Förderlinie Altengerechte Quartiere.NRW folgende Ziele: Gemeinschaft erleben, Sich versorgen, Wohnen und Sich einbringen (Landesbüro altengerechte Quartiere.NRW 2019). Es umfasst das für die vorliegende Arbeit als Forschungsfeld ausgewählte Kronprinzenviertel sowie zwei weitere unmittelbar angrenzende Quartiere der Krefelder Innenstadt, nämlich den Südring und die Vier Wälle. Die genannten allgemeinen vier Handlungsfelder dienen förderseitig als Basis und Ausgangspunkt und erfordern einen konkreten Zuschnitt für die Gegebenheiten in der südlichen Innenstadt Krefelds. Dies gestaltet sich im konkreten Quartiersentwicklungsprojekt wie folgt aus. Unter Gemeinschaft erleben werden insbesondere die Stärkung sozialer Netzwerke, nachbarschaftliche Begegnungsund Kontaktmöglichkeiten, die Erschließung des öffentlichen Raums im Quartier für 16 Zu Beginn des Projekts war dieses durch den Projektstart in der vorherigen Legislaturperiode noch beim Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA) angesiedelt.
74
5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
eine generationenübergreifende Nutzung sowie die Entwicklung kultursensibler und inklusiver Zugangswege verstanden (Schilling 2016). Sich versorgen meint im konkreten Projekt einen sozialraumorientierten Ansatz zur sozialen und pflegerischen Versorgung, wo vor allem die Herstellung von Transparenz über die bestehenden Angebote sowie zielgruppenspezifische Zugänge zu den Angeboten, ortsnahe Beratung und niederschwellige ortsnahe Versorgungsangebote für pflegende Angehörige zentral sind (Schilling 2016). Das Themenfeld Wohnen zielt auf eine umfassende Quartiersgestaltung mit aufeinander abgestimmten Versorgungsstrukturen ab. Dabei werden das Ziel einer multifunktionalen, generationenübergreifenden Infrastrukturnutzung sowie die Initiierung altengerechter Bau- und Wohnprojekte verfolgt (Schilling 2016). Die Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement und Empowerment sowie die generelle Beteilung an Entwicklungsprozessen sind Ziele des Themenfeldes Sich einbringen (Schilling 2016). Feldzugang Nachdem Vertrauen auf Basis eines gelungenen Beziehungsaufbaus17 vorhanden war sowie ein gemeinsames Interesse an einer intergenerationalen Perspektive auf das Kronprinzenviertel zwischen Wissenschaftler und Quartiersentwickler vorhanden waren (vgl. Kapitel 2), begann der tiefere Einstieg ins Feld, um sich weiter mit dem Quartier vertraut zu machen und gleichzeitig Proband*innen für die interviewbasierte Studie zu gewinnen. Dies erfolgte in einem ersten Schritt im Rahmen eines Vortrags auf einer Bürgerveranstaltung, indem zunächst das Quartiersentwicklungsprojekt durch den Quartiersentwickler dargelegt wurde. Im Anschluss wurde die Möglichkeit gegeben, das Forschungsvorhaben der vorliegenden Arbeit vorzustellen. Dadurch bekamen potenzielle Interviewpartner*innen einen ersten Eindruck und wurden für die Art des Forschungsvorhabens sensibilisiert. Mitglieder eines anwesenden Bürgervereins erklärten sich intern bereit, eine E-Mail-Liste alle Mitglieder bereitzustellen, über die die Interviewer*innenakquise vonstattengehen sollte. Da sich der Bürgerverein kurz darauf auflöste bzw. ein Großteil der Mitglieder austrat, wurde nur ein Teil der (ehemaligen) Mitglieder erreicht. Über diesen Weg und weitere Mundpropaganda konnte der erste Teil des Samples generiert werden. Der andere Teil wurde mithilfe eines Vortrags bei einem Seniorennachmittag einer im Kronprinzenviertel ansässigen Kirchengemeinde generiert. Neben dem Interviewsample wurde die Erstellung des Stadtteilporträts forciert, wofür Daten der Stadt Krefeld zum konkreten Untersuchungsraum notwendig waren. Dafür wurde über den Quartiersentwickler Kontakt zur Statistikabteilung der 17 Beziehungsaufbau und die daraus resultierende Bürgschaft einer*eines Feldangehörigen ist für alle sozialen Felder und alle Feldzugänge konstitutiv (Reichertz 2015: 25). Beziehungsaufbau ist somit der Schlüssel zum Feld (Reichertz 2015: 26 f.).
5.4 Methodische Implikationen der Dynamik des Forschungsprozesses …
75
Stadt Krefeld aufgenommen. Nach einem persönlichen Treffen mit einer Mitarbeiterin verwies diese auf einen Kollegen, der auf die Grenzen des Kronprinzenviertels und die Anforderungen für das Porträt zugeschnittene Daten zur Verfügung stellte (siehe Kapitel 6). Auch in dieser Phase war Beharrlichkeit gefragt, da derartige Prozesse Zeit und Geduld benötigen. Der Zugang zum Feld ist bekanntlich nie abgeschlossen, sodass sich auch die Subjekt-Subjekt-Beziehungen zu den relevanten Akteur*innen des Kronprinzenviertels weiter intensivierten. In diesem Zusammenhang kann von Transdisziplinarität in verschiedenen Phasen des Forschungbzw. Quartiersentwicklungsprozesses insbesondere mit dem Quartiersentwickler gesprochen werden. Transdisziplinäre Kooperation Die Ausgestaltung der transdisziplinären Zusammenarbeit kann neben einem stetigen Austausch mit der Quartiersentwicklung sowie einer regelmäßigen Begleitung quartiersentwicklerischer Prozesse wie der Durchführung von Begehungen von Gebäuden für eine potenzielle gemeinschaftliche Nutzung oder der Teilnahme an Vernetzungsgesprächen mit Akteur*innen im Quartier, vor allem anhand folgender Ankerpunkte festgemacht werden. Zunächst wurden Wissenschaftler und Quartiersentwickler wechselseitig in (semi-)öffentliche Aktivitäten eingebunden. Dies schaffte weiteres Vertrauen füreinander und diente ebenso der Beziehungspflege. Diese Form der Beziehung beschreibt Reichertz (2015: 26) als freiwillige gegenseitige Macht, welche nicht in Gewalt und Herrschaft fundiert ist, „sondern in der Situation einerseits und der gemeinsamen Geschichte der Beteiligten andererseits“ (Reichertz 2015: 26). Es muss demnach ein subjektives Band zwischen den Beteiligten vorhanden sein, welches wechselseitig und belastbar ist und eine affektive Verbundenheit beinhaltet (Reichertz 2015: 26). In der halbjährig stattfindenden WissenschaftsPraxiskollegtagung des NRW Forschungskollegs GROW konnte der Quartiersentwickler seine Ansätze und Ergebnisse seines Projekts mit anderen Praxisakteur*innen und Wissenschaftler*innen diskutieren. Der Autor der vorliegenden Arbeit war entsprechend bei Veranstaltungen im Rahmen des Quartiersentwicklungsprojekt präsent und hat für die Akteur*innen der sozialen Arbeit und der Quartiersentwicklung das Stadtteilporträt der vorliegenden Arbeit zur Verfügung gestellt und darüber hinaus dieses auf die beiden weiteren Projektquartiere übertragen und den Akteur*innen bereitgestellt. Diese drei Porträts wurden neben der Verschriftlichung auch im Rahmen des Krefelder Stadtgesprächs vorgestellt und mit Bürger*innen und Akteur*innen diskutiert. Somit kann diesbezüglich von einem doppelten Verwertungszusammenhang gesprochen werden: einerseits hinsichtlich der vorliegenden Arbeit und andererseits für die konkrete sozialräumliche Arbeit in Krefeld.
76
5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Der gesamte Aufenthalt im Feld diente neben dem wechselseitigen Mehrwert für Wissenschaftler und Quartiersentwickler dem (Vor-)Verständnis des Forschungsgegenstandes im Sinne der Problemzentrierung, insbesondere der sozialräumlichen Strukturen des Kronprinzenviertels. Transdisziplinäre Kooperation und der Zugang zum Feld stehen in einer unmittelbaren ständigen Wechselwirkung zueinander. Zu Beginn des Feldeinstiegs ist es die Übernahme von Teilaufgaben im Feld, die einerseits Respekt gegenüber Beobachter*in oder Forscher*in ausdrücken und andererseits diese auf die Probe stellen, wie es Reichertz (2015: 22) eindrücklich am Beispiel seiner Erfahrungen in der empirischen Polizeiforschung beschreibt. So tragen gemeinsame Aktivitäten im Arbeitskontext der Quartiersentwicklung dazu bei, Vertrauen aufzubauen, um stetige Unterstützung beispielsweise in der Nutzung des Netzwerks zu erhalten.
5.4.2
Samplingstrategie
Das Sampling orientiert sich an den drei Ebenen der Auswahlentscheidungen nach Merkens (2012: 286 ff.), die sich in Fallauswahl, Sampling und Fallkonstruktion unterteilen lassen. Da es sich bei der vorliegenden Arbeit um ein exploratives Vorgehen handelt, wird auf ein rein theoretisches Sampling (Merkens 2012: 295 ff.) und somit auf die Zielvorstellung einer theoretischen Sättigung bewusst verzichtet. Vielmehr wird eine Mischung aus theoretischem und selektivem Sampling (Strauss 1994: 71) in einem zweistufigen Verfahren zur Anwendung gebracht. Im ersten Schritt werden auf Basis einiger Auswahlkriterien im Sinne eines selektiven Samplings Ein- und Ausschlusskriterien in die Stichprobe definiert. Dabei sind zunächst zwei Arten des Ein- bzw. Ausschlusses zu unterscheiden: einerseits obligatorische Bedingungen im Sinne einer theoriegeleiteten Vorabdefinition des Forschungsfelds (Akremi 2014: 268), welche erfüllt sein müssen, und andererseits Kriterien, die dem Sample Heterogenität verleihen und somit den Korpus der Stichprobe bilden. Darüber hinaus besteht eine gewisse Offenheit gegenüber dem Gegenstand des Kronprinzenviertels als Untersuchungsraum, welche sich an der Vorgehensweise der Ground Theory orientiert (Akremi 2014: 268). Auf Basis des selektiven Samplings hatten die folgenden Kriterien Einfluss auf die Stichprobe: a) b) c) d)
Kronprinzenviertel als Arbeits- und/oder Lebensmittelpunkt (vorab) Abbildung des dritten und vierten Lebensalters (vorab) Kinderlosigkeit (vorab) Alleinlebende Menschen (Frauen) (offen)
5.4 Methodische Implikationen der Dynamik des Forschungsprozesses …
77
Wie bereits dargelegt wurde das Kronprinzenviertel auf Basis der Kooperation mit dem Quartiersentwicklungsprojekt als geeignetes und interessantes Quartier für das Erkenntnisinteresse ausgewählt und die Kriterien Lebensmittelpunkt bzw. Arbeitsmittelpunkt als Einschlusskriterium definiert. Wie im Kapitel zu den gegenstandsbezogenen theoretischen Zugängen (Abschnitt 4.2) bereits erläutert wurde, sind Generation und Generativität zentrale theoretische Bezugspunkte, um Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer erfassen zu können. Demzufolge wird angenommen, dass eine generationale Lagerung als konjunktiver Erfahrungsraum die Perspektive auf junge Menschen prägen kann. Darüber hinaus wird die Abbildung des dritten und vierten Lebensalters als wichtig erachtet, da Unterschiede in Abhängigkeit des Lebensalters bezüglich generativen Handelns (v. a. pädagogisch und historisch-sozial) erwartet werden. Auch hinsichtlich zunehmender körperlicher Einschränkungen im höheren Lebensalter kann davon ausgegangen werden, dass zum Beispiel in Hinblick auf Hilfsbereitschaft die Perspektive auf junge Menschen unterschiedlich gelagert ist. Dieser Logik folgend können junge Menschen auch für alleinlebende Ältere eine besondere Bedeutung bekommen. Es darf vorweggenommen werden, dass es einen hohen Anteil alter und hochaltriger alleinlebender Frauen im Kronprinzenviertel gibt, welche sich im Sample wiederfinden sollten. Diese Annahmen bzw. die eingenommene (theoretische) Perspektive sind abhängig von den Grundpositionen des PZI. Genaugenommen werden mitunter im Sampling die Problemzentrierung und die Gegenstandsorientierung (siehe Abschnitt 5.1.1) eingelöst. Auf Basis des offengelegten theoretischen Wissens sowie der Erkenntnisse aus dem Forschungsfeld (insbesondere des Stadtteilporträts) erfolgt die selektive Stichprobenziehung. Vom Erreichen einer theoretischen Sättigung wird aufgrund der Bedingungen der vorliegenden Studie abgesehen. Im Folgenden wird somit nicht von theoretischer, sondern von hinreichender Sättigung gesprochen. Wie bereits dargelegt wurde, soll in explorativer Art und Weise eine gewisse Bandbreite an Perspektiven auf junge Menschen durch Ältere in hypothesenbildender Form formuliert werden. Diese können ein gewisses Spektrum, aber längst nicht alle Spielarten von Erfahrungsbildern erfassen, denn auch hinsichtlich dieses Forschungsgegenstand ist von der hohen Heterogenität des Alter(n)s auszugehen, wie es beispielsweise die Jahrestagung der III. und IV. Sektion der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) 2017 in Fulda zum Thema hatte. Das bedeutet, dass beim Eindruck vielfältiger Erfahrungsbilder von jungen Menschen und den Kriterien des selektiven Samplings (Altersstruktur, Kinderlosigkeit, Alleinlebende) die Strichprobe trotz erwartbarer Leerstellen feststeht und somit die Rekrutierung von
78
5
Forschungsdesign, Methodik und Forschungspraxis
Interviewpartner*innen abgeschlossen ist. Ziel war, eine möglichst große Heterogenität bei gleichzeitigen typischen Charakteristiken des Kronprinzenviertels im Sample abzubilden.
5.4.3
Samplebeschreibung
Zur Datenauswertung werden neun Fälle herangezogen. Die Altersspanne liegt zwischen 55 und 89 Jahren. Fünf Fälle sind dem dritten, vier dem vierten Lebensalter zuzuordnen, wenngleich sich in den Einzelfällen die viel diskutierte Heterogenität des Alters zeigt, sodass derartige Kategorisierungen kaum Aussagekraft über die Lebensvollzüge der Einzelfälle zulassen. So konnten drei alleinlebende Frauen im Sample aufgenommen werden, die innerhalb der Gruppe der Älteren eine große Heterogenität aufweisen (55 Jahre, 73 Jahre und 86 Jahre). Dabei handelt es sich, wie aus der Quartiersforschung bekannt (vgl. zum Beispiel Strube et al. 2015), um eine schwer erreichbare Gruppe. In Tabelle 5.1 werden die wesentlichen Merkmale des Samples auf einen Blick dargestellt.
Tabelle 5.1 Sample
Pseudonym
Geschlecht
Alter
Familienstand
Monika Koch
weiblich
55
ledig
Karl Behrendt
männlich
84
Partnerschaft
Dagmar Berg
weiblich
86
ledig
Herbert Franke männlich
89
verwitwet
Otto Brunner
männlich
79
verwitwet
Hans Kramer
männlich
71
verheiratet
Elisabeth Ernst weiblich
73
geschieden
Walter Schlosshauer
männlich
65
Partnerschaft
Hubert Pütz
männlich
66
geschieden
5.4 Methodische Implikationen der Dynamik des Forschungsprozesses …
79
Mit allen interviewten Personen wurden schriftliche Interviewvereinbarungen abgeschlossen, die dem Autor sowie dem NRW Forschungskolleg GROW die Nutzungsrechte an den aus dem Interview entstandenen Dokumenten als Schenkung überlassen. Weiterhin wird bestätigt, dass die Interviews zu wissenschaftlichen Zwecken und zur Verwertung in der Praxis in pseudonymisierter Form genutzt werden dürfen. Das Interviewmaterial wurde folgendermaßen anonymisiert: • Pseudonymisierung des Namens (Orientierung an verbreiteten Vornamen des jeweiligen Geburtenjahrgangs) • Veränderung des Berufs (Orientierung an der jeweiligen Branche bzw. Art der Tätigkeit) • Erwähnte Orte und Plätze • Erwähnte Personennamen
6
Stadtteilporträt Krefeld-Kronprinzenviertel
Das Stadtteilporträt beschreibt den Untersuchungsraum Krefeld-Kronprinzenviertel und umfasst den ersten empirischen Teil der vorliegenden Arbeit. Es basiert auf amtlich-statistischen Daten sowie Erkenntnissen aus Stadtteilbegehungen und zufällig erworbenen Eindrücken zum Beispiel aus öffentlichen Bürgerveranstaltungen1 . Abgebildet werden die Sozial- und Altersstruktur, die Infrastruktur und besondere Charakteristiken des Viertels. Es dient dem Verständnis des Viertels, was vor allem in Gesprächen mit Bürger*innen und vor allem für die qualitativen Interviews von großer Bedeutung ist. Ferner ist das Stadtteilporträt Bestandteil des transdisziplinären Verwertungszusammenhangs des vorliegenden Dissertationsprojekts. Das Kronprinzenviertel ist neben den Stadtteilen Vier Wälle und Südring Teil des Projektraums „Entwicklung altengerechter Quartiere in NRW Krefeld Südliche Innenstadt“. Die amtlich-statistischen Daten der Stadt Krefeld stammen aus dem Jahr 2015. Sie basieren auf dem Einwohnerregister der Stadt Krefeld und entstammen der Haushaltegenerierung aus Einwohnerdaten. Der Migrationshintergrund wurde mit MigraPro abgeleitet. Des Weiteren wurden Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sowie Daten des Fachbereich 50 Soziales, Senioren der Stadt Krefeld verwendet. Alle genannten Prozesse zur Aufbereitung der Daten sind durch den Fachbereich Bürgerservice der Abteilung Statistik und Wahlen der Stadt Krefeld durchgeführt
1 Derartige
zufällig erworbene Daten werden im Sinne der Soziografie aber auch der Ground Theory für das Stadtteilportrait mitverwertet bzw. dienen neben den nackten Ziffern als zusätzliche Referenz (Jahoda et al. 1975; Riege und Schubert 2005: 19). Des Weiteren werden amtliche Daten mit subjektiven Feldeindrucken ins Verhältnis gesetzt, um einen Eindruck darüber zu gewinnen, ob und wie sich statistische Merkmale im Untersuchungsraum äußern (siehe Abschnitt 5.3).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Bergholz, Bilder von jungen Menschen aus der Sicht Älterer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31707-2_6
81
82
6
Stadtteilporträt Krefeld-Kronprinzenviertel
worden und wurden von diesem zur Verfügung gestellt. Dazu ergänzend werden das Statistische Jahrbuch 2015 der Stadt Krefeld sowie das „Städtebauliche Entwicklungskonzept für die Innenstadt 2009“ herangezogen. Einige Daten entsprechen den genauen Grenzen des Kronprinzenviertels (siehe Abbildung 6.1). Es wurden aber auch Daten herangezogen, die den statistischen Bezirk 043 darstellen. Dieser ist etwas größer als das eigentliche Kronprinzenviertel und umfasst zusätzlich drei Häuserblocks im Norden zwischen Neuer Linner Straße und Rheinstraße. Daten, die auf dem statistischen Bezirk 043 basieren sind deshalb stets mit „*“ gekennzeichnet. Eine weitere Besonderheit ist an dieser Stelle noch zu erwähnen. Personen in Betreuungseinrichtungen sind in den statistischen Bezirken nicht als Bewohner*innen geführt. Da sich im Kronprinzenviertel ein Alten- und Pflegeheim befindet, leben mehr alte und hochaltrige Menschen im Viertel und der Altersdurchschnitt ist etwas höher, als es sich in den amtlichen Daten zeigt2 .
6.1
Krefeld
Der Untersuchungsraum Kronprinzenviertel ist ein innerstädtisches Wohnquartier in der nordrhein-westfälischen Stadt Krefeld. Krefeld gilt mit seinen 232.256 Einwohnern als „kleine Großstadt“. Es liegt linksrheinisch, nordwestlich von Düsseldorf und südwestlich von Duisburg und fällt in den Regierungsbezirk Düsseldorf. Aus historischer Perspektive ist Krefeld stark von der Seidenstoffproduktion im 18. und 19. Jahrhundert geprägt. Viele Orte in der sogenannten Samt- und Seidenstadt zeugen davon. Industrie- und Gewerbe prägen die Krefelder Ökonomie. Sowohl im Südwesten (Edelstahlwerke, Europark Fichtenhain und der Gewerbepark Süd) als auch im Nordosten und entlang des Rheinufers sind Gewerbe und Industrie angesiedelt. Die weitläufigen Flächen im Norden und Süden werden vornehmlich landwirtschaftlich genutzt. Knapp ein Drittel des Stadtgebiets sind Gebäude- und Freiflächen, wovon etwas mehr als die Hälfte Wohngebäude sind. Ein knappes weiteres Drittel der Stadtfläche wird landwirtschaftlich genutzt. Das dritte Drittel besteht hauptsächlich aus Verkehrs-, Wald- und Erholungsflächen. Krefeld ist in neun Stadtbezirke3 unterteilt. Der Untersuchungsraum befindet sich im Bezirk Mitte, der die höchste Bevölkerungsdichte hat. Dort leben 13,8 Prozent der Bevölkerung, während der Bezirk lediglich drei Prozent der Stadtfläche ausmacht. Für Krefeld kann ein leichter Einwohnerrückgang um 3,5* Prozent seit 2006 verzeichnet werden. Die Einführung der Zweitwohnsteuer zum 01.01.2016 führte 2 Im
Verlauf der Studie wurde das Pflegeheim in ein anderes Krefelder Stadtviertel verlegt.
3 Die neuen Stadtbezirke sind: Fischeln, Hüls, Mitte, Nord, Oppum-Linn, Ost, Süd, Uerdingen,
West
6.2 Krefeld-Kronprinzenviertel
83
vom Jahr 2014 auf 2015 zu einem Einwohnerrückgang. Seit 2006 überwiegen die Zuzüge die Fortzüge. Jedoch sterben jährlich deutlich mehr Menschen, als geboren werden, sodass es netto zu einem Einwohnerrückgang kommt.
6.2
Krefeld-Kronprinzenviertel
6.2.1
Überblick und Lage4
Das Kronprinzenviertel ist mit 3.460 Einwohnern ein recht überschaubares Viertel. Es ist fußläufig in weniger als einer Stunde erkundbar. Der Name Kronprinzenviertel verweist auf eine noble Vergangenheit, da im Viertel zum Beispiel die weltbekannte Paramentenweberei ansässig war. Das Haus der Seidenkultur in der Luisenstraße 15 zeugt noch heute davon. Jedoch vermitteln manche Orte im Viertel den Eindruck, dass es von seinem einstigen Glanz ein wenig eingebüßt hat. Die Wohnungsnachfrage ist in dem verdichteten Viertel nicht sonderlich hoch. Die Stärken- und Schwächenanalyse des „Stadtumbau West Innenstadt Krefeld – Städtebauliches Entwicklungskonzept für die Innenstadt 2009“ kam zu den Ergebnissen, dass das Kronprinzenviertel auf der einen Seite eine hohe Verdichtung im privaten und öffentlichen Bereich (wenig Freiflächen), eine schwache Wohnungsnachfrage, eine hohe Verkehrsbelastung (Philadelphiastraße), eine unbefriedigende Parkplatzsituation sowie Nutzungskonflikte im Bereich Verkehr und Spiele hat, jedoch auf der anderen Seite eine „dörfliche Gemeinschaft“, eine stabile Sozialstruktur, hohes Engagement und eine gute Verkehrsanbindung besitzt (Ohne Verfasser 2009). Das Kronprinzenviertel liegt nordöstlich des Hauptbahnhofs im Bereich des Stadtzentrums und gehört zum Stadtteil 010 Stadtmitte. Im Westen wird es durch den Ostwall begrenzt. Der Ostwall ist eine Hauptverkehrsstraße, die vom Hauptbahnhof nach Norden führt. Im Norden ist das Kronprinzenviertel durch die Neue Linner Straße begrenzt, während es im Osten an die stark befahrene Philadelphiastraße und im Süden an den Hauptbahnhof anschließt und durch die Hansastraße begrenzt ist. Es liegt östlich des Quartiers Vier Wälle, welches als gewöhnliche Innenstadt mit einer Einkaufsstraße in Form einer Fußgängerzone zu beschreiben ist. Aufgrund der Lage innerhalb der Innenstadt von Krefeld ist das Kronprinzenviertel stark von Durchgangsverkehr geprägt. Pendler, Tagestouristen, Besucher der Einkaufsstraße und Feierende durchqueren das Viertel häufig. Dies wird als Grund angeführt, warum das Stadtviertel mit viel Müll und Verschmutzung zu kämpfen hat. Hauptsächlich ist das Kronprinzenviertel von Kleingewerbe und Gastronomie 4 Siehe
Abbildung 6.1
84
6
Stadtteilporträt Krefeld-Kronprinzenviertel
Abbildung 6.1 Das Kronprinzenviertel und seine Umgebung in der Krefelder Innenstadt. (Quelle: OpenStreetMap)
geprägt. Sowohl der Süden des Viertels, wo sich vor allem Bars und Imbisse finden lassen, als auch der Osten rund um den Schinkenplatz, wo es italienische, türkische und griechische Imbisse und Restaurants gibt, sind gastronomisch geprägt. Weiterhin sind im Süden die Polizei-Inspektion Süd und die Agentur für Arbeit Krefeld angesiedelt, während das Zentrum vor allem Kleingewerbe aller Art bietet. Man nimmt im Kronprinzenviertel allerdings auch den Leerstand einiger Geschäftsräume wahr.
6.2.2
Alters- und Sozialstruktur
Im Kronprinzenviertel leben 3.460 Menschen. Die Altersstruktur ist sehr heterogen. Beim Blick auf die Verteilung der Altersgruppen in Zwanzigjahresschritten wird die Heterogenität deutlich (siehe Abbildung 6.2)5 . 15,7 Prozent sind zwischen 0 und 19 Jahren alt. Etwas mehr als ein Drittel (35,0 Prozent) befinden sich zwischen 20 5 Im
Text werden die relativen Zahlen berichtet, während Abbildung 6.2 ergänzend dazu Auskunft über die absolute Altersgruppenverteilung gibt.
6.2 Krefeld-Kronprinzenviertel
85
Abbildung 6.2 Absolute Altersverteilung des Kronprinzenviertels
und 39 Jahren. Einem mittleren Lebensalter zwischen 40 und 69 Jahren sind 16,8 Prozent zuzuordnen. 22,8 Prozent sind 60 Jahre und älter und 5,1 Prozent befinden sich im vierten Lebensalter (80 Jahre und älter). Der Altenquotient6 liegt bei 35 und ist somit niedriger als in der Gesamtstadt (50,4) (Tabelle 6.1). Ethnisch ist das Kronprinzenviertel sehr vielfältig. 43,8 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Das ist deutlich mehr als in der Gesamtstadt. Dort liegt der Anteil mit Migrationshintergrund bei 32,9 Prozent. Knapp zwei Drittel (63,2 Prozent) der Bewohner*innen des Kronprinzenviertels mit Migrationshintergrund sind Ausländer. Die amtlichen Daten bestätigen den Eindruck diverser Quartiersbegehungen, bei denen ebenfalls der Eindruck einer ethnischen Heterogenität gewonnen wurde. Besonders südländische und arabische Bürger*innen prägen das Viertel. Hervorzuheben ist, dass ein Großteil der Bürger*innen mit Migrationshintergrund zu den jungen und mittleren Altersgruppen gehört. Lediglich 11 Prozent sind 60 Jahre und älter, wobei sich ein Großteil im dritten Lebensalter (zwischen 60 und 79 Jahren) befindet. Somit ist der Anteil der Bürger*innen ohne Migrationshintergrund, der älter als 60 Jahre ist, fast dreimal so hoch wie bei Bürger*innen
6 Der Altenquotient stellt das Verhältnis der Einwohner ab 60 Jahren zu den Personen im Alter
von 20 bis 59 Jahren dar.
86
6
Stadtteilporträt Krefeld-Kronprinzenviertel
mit Migrationshintergrund. Dieser Betrachtungsweise folgend treffen im Kronprinzenviertel viele junge Menschen mit Migrationshintergrund auf vornehmlich ältere Menschen ohne Migrationshintergrund. Dies ist eine interessante Konstellation, die sich beispielsweise in der Mitgliederstruktur der ansässigen (Bürger-)Vereine nicht widerspiegelt, jedoch im Straßenbild sichtbar ist. Mit einer vielfältigen ethnischen Struktur gehen auch verschiedene Konfessionen einher. Etwas mehr als die Hälfte der Bewohner*innen sind Christen. Davon gehören 70,3 Prozent der römisch-katholischen Kirche an. 44,6 Prozent der Einwohner des Kronprinzenviertels fallen in die Kategorie gemeinschaftslos, ohne Angabe und sonstige. Aufgrund des Eindrucks der verschiedenen Ethnien kann davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil muslimischen Glaubensrichtungen zuzuordnen ist. Der Anteil an Christen in der Gesamtstadt ist mit knapp 60 Prozent deutlich höher als im Untersuchungsraum. Der Anteil gemeinschaftslos, ohne Angabe und sonstige liegt bei 40,1 Prozent und ist damit geringer als im Kronprinzenviertel. Inhaltliche Aussagen zu diesem Unterschied sind nicht möglich, da weder für das Kronprinzenviertel noch für die Gesamtstadt die Verteilung innerhalb dieser Kategorie vorliegt. Die Sozialstruktur des Kronprinzenviertels ist ebenfalls sehr heterogen. 26,1 Prozent der Bewohner*innen beziehen Leistungen des SGB II und sind somit arbeitslos. Die Arbeitslosenquote (SGB II und SGB III)7 des Kronprinzenviertel beträgt 18,7* Prozent und liegt somit deutlich über derjenigen der Gesamtstadt. Im Kronprinzenviertel leben 1370* sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das ist knapp ein Drittel* und nur unwesentlich weniger als in der Gesamtstadt. Über 50 Prozent der Bewohner*innen des Kronprinzenviertels in Privathaushalten, die sich im dritten und vierten Lebensalter befinden, leben allein. Davon ist knapp ein Drittel männlich. Hochaltrige Bewohner*innen leben zu 61 Prozent in Einpersonenhaushalten, wobei dies größtenteils Frauen sind (88 Prozent). Im bundesweiten Vergleich ist der Anteil der in Einpersonenhaushalten lebenden Bürger*innen ab 60 Jahren mit 31 Prozent deutlich geringer (Statistisches Bundesamt 2015). Auch Hochaltrige leben im Kronprinzenviertel deutlich häufiger allein als im Bundesdurchschnitt (51,1 Prozent). Beim Vergleich der amtlichen Daten zu alleinlebenden älteren Bürger*innen mit der Wahrnehmung bei Stadtteilbegehungen fiel auf, dass ältere Menschen, die mit Gehilfen unterwegs waren, sehr häufig alleine waren. Der überdurchschnittlich hohe Anteil alter alleinlebender Menschen macht den Fokus auf Hilfsbereitschaft und Unterstützung umso interessanter und bedeutsamer.
7 Die
Arbeitslosenquote wurde zum 30. Juni 2016 erhoben.
6.2 Krefeld-Kronprinzenviertel
87
581 Bürger des Kronprinzenviertels befinden sich im dritten Lebensalter. Das ist fast jeder Sechste. Dieser Gruppe wird vor allem hohes ehrenamtliches und somit gesellschaftliches Potenzial in ihrer nachberuflichen Phase zugeschrieben (Vogel et al. 2017: 49). Etwas weniger als die Hälfte der Kronprinzenviertler zwischen 60 und 79 Jahren sind verheiratet. Ein gutes Fünftel lebt geschieden und 16,2 Prozent sind verwitwet. Die restlichen 15,1 Prozent sind ledig. Zur besseren Übersicht befindet sich nachstehend Tabelle 6.1, die zu einigen Daten der Alters- und Sozialstruktur des Kronprinzenviertels einen Überblick gibt. Tabelle 6.1 Alters- und Sozialstruktur des Kronprinzenviertels
6.2.3
Einwohner
3.460
Altenquotient
35
Anteil ab 60 Jahren
22,8 %
Anteil ab 80 Jahren
5,1 %
Alleinlebend ab 60 Jahren
52,5 %
Davon Frauen
68, 6 %
Alleinlebend ab 80 Jahren
61,0 %
Davon Frauen
88,4 %
Anteil Migrationshintergrund
43,8 %
Davon Ausländer
63,2 %
60+ Jahre mit Migrationshintergrund
22,8 %
80+ Jahre mit Migrationshintergrund
9,1 %
Migrationshintergrund 20 bis