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German Pages XIII, 282 [289] Year 2020
Philipp Annen
Agency auf der Straße Eine biografietheoretische Studie zu jungen Menschen und ihren Wegen in die Wohnungslosigkeit
Agency auf der Straße
Philipp Annen
Agency auf der Straße Eine biografietheoretische Studie zu jungen Menschen und ihren Wegen in die Wohnungslosigkeit
Philipp Annen Trier, Deutschland Dissertation an der Universität Trier, 2020
ISBN 978-3-658-30761-5 ISBN 978-3-658-30762-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Die Umsetzung dieser Arbeit wäre nicht ohne die tatkräftige wie vielfältige Unterstützung einiger Personen denkbar gewesen, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Zunächst möchte ich Stefan Köngeter danken, der mir die Perspektive Promotion überhaupt erst eröffnet hat. Der mich im Laufe der letzten Jahre mit viel Expertise sowie klugen Ratschlägen unterstützt hat und immer wieder Zeit fand, sich meiner Probleme und Fragen anzunehmen. Mein Dank gilt auch Maren Zeller, die mir, mit ihrer wertschätzenden Art und viel Sachverstand – insbesondere in Hinsicht auf den methodischen Teil meiner Arbeit – sehr geholfen hat. Leider kann ich nicht alle Kolleginnen und Kollegen namentlich aufzählen, die in Institutskolloquien, Forschungswerkstätten, Interpretationsworkshops oder auch informellen Kontexten in ganz unterschiedlichen Formen zu dieser Arbeit beigetragen haben. Vielen Dank euch allen und besonders unserer Reko-Truppe in Trier! Weiter gilt mein Dank meinen beiden Chefinnen Sabine Bollig und Caro Schmitt für ihre Rücksicht, Ermutigungen, das tägliche Vertrauen und immer wieder sehr nützliche Hinweise. Lisa Alt und Lisa Groß, ihr seid ohnehin die Besten. Danke! Außerdem bin ich meinen (ehemaligen) Kolleginnen und Kollegen Marina Swat, Alexander Knauf und Marc Tull zu Dank verpflichtet. Liebe Grüße an dieser Stelle an Siuca, meine Familie, Freunde und Gizmo, für euren ständigen Rückhalt! Außerdem möchte ich den Fachkräften und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe danken, die mir Interviewpartner vermittelt und mir einen Einblick in
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Danksagung
ihren Alltag gewährt haben. Zuletzt möchte ich mich bei Ville, Hamid, Marvin, Ali, Laith und den anderen jungen Wohnungslosen bedanken, ohne deren Bereitschaft, ihre Lebensgeschichten mit mir zu teilen, diese Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand: Wohnungslosigkeit in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Homelessness, Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit – Unterschiede und Begriffserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1.1 ETHOS Light und der Versuch einer einheitlichen Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1.2 Rechtliche Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Daten zur Wohnungslosigkeit in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2.1 Wohnungslose nach Altersgruppen und Geschlecht . . . . . . . 17 2.2.2 Situation nach 2015. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3 Strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit in Deutschland. . . . . 20 2.3.1 Armut als Ursache von Wohnungslosigkeit. . . . . . . . . . . . . . 21 2.3.2 Wohnpolitische Ursachen von Wohnungslosigkeit . . . . . . . . 23 2.3.3 Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sanktionierungsmöglichkeiten und das ‚Auszugsverbot‘ für junge Erwachsene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.4 Junge Wohnungslose – Alter und geschlechtsspezifische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.4.1 Begriffsklärung und Typen von Straßenkindern . . . . . . . . . . 30 2.4.2 Alter und geschlechterdifferenzierende Aspekte von Straßenkindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.4.3 Alltag von Straßenkindern: Kriminalität, Lebensort und Umgang mit Drogen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
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2.4.4 Ursachen von Straßenkarrieren bei Kindern und Jugendlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.4.5 Junge Menschen in der Wohnungslosigkeit. . . . . . . . . . . . . . 40 2.5 Einblicke in ausgewählte Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.5.1 Mallet et al. – „Young people’s pathways in and through homelessness“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.5.2 Mücher – „Prekäre Hilfen?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.5.3 Mögling et al. – Das Projekt „Disconnected Youth“. . . . . . . 55 2.5.4 von Paulgerg-Muschiol – Wege in die Wohnungslosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.6 Exkurse – Weitere Facetten von Wohnungslosigkeit. . . . . . . . . . . . . 59 2.6.1 Gesundheitliche Folgen von Wohnungslosigkeit. . . . . . . . . . 59 2.6.2 Frauen in der Wohnungslosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters. . . . . . . . . . 65 2.7.1 Junge Erwachsene, Emerging Adulthood und die Entstandardisierung des Lebenslaufs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.7.2 Das Konzept der ‚emerging adulthood‘. . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.7.3 Das Konzept des ‚jungen Erwachsenenalter‘. . . . . . . . . . . . . 70 2.7.4 Junge Erwachsene und Übergange. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.7.5 Entkoppelte Jugendliche, Disconnected Youth, marginalisierte Jugendliche und Systemsprenger . . . . . . . . . 75 2.7.6 Care Leaver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3 Biografie- und agencytheoretischer Zugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1 Biografische Prozessstrukturen nach Schütze. . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1.1 Institutionelle Ablaufmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.1.2 Biografische Handlungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.1.3 Verlaufskurven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1.4 Biografische Wandlungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2 Agency. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.1 Die iterative Dimension von Agency. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.2.2 Die projektive Dimension von Agency . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.2.3 Die praktisch-evaluative Dimension von Agency . . . . . . . . . 97 3.2.4 Struktur, Handeln und Agency auf der Straße. . . . . . . . . . . . 100 3.3 Wege aufgeschlüsselt – vom Forschungsdesiderat zur Forschungsfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
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4 Wege beforschen und rekonstruieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1 Biografieforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1.1 Zur Geschichte der Biografieforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.1.2 Die theoretischen Grundlagen der Biografieforschung. . . . . 105 4.1.3 Warum Biografieforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.2 Narrative Interviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.2.1 Sample und Feldzugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2.2 Transkriptionssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.2.3 Zur Kritik an narrativen Interviews und deutendem Verstehen von Sinnstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3.1 Schritte der Auswertung autobiografischer Stehgreiferzählungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.3.2 Theoretical Sampling sowie minimal- und maximalkontrastive Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.3.3 Agency in narrativen Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.3.4 Kategorisierung und Typenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.4 Schwierigkeiten im Forschungsvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5 Fallanalysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.1 Ville – „Und du bist also einfach nur ein Stück Dreck“ . . . . . . . . . . 138 5.1.1 Biografische Kurzbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.1.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung. . . . . 140 5.1.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.1.4 Analytische Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.2 Albert – „Also ich hab’ da immer sone Selbstbestimmtheit, sone Freiheit gesehen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.2.1 Biografische Kurzbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.2.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung. . . . . 161 5.2.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.2.4 Analytische Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.3 Ali – „Un das is ja alles verloren gegangen dann, als meine Mutter gestorben is“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.3.1 Biografische Kurzbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.3.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung. . . . . 188 5.3.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.3.4 Analytische Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.4 Marvin – „Und dann kommen Sozialarbeiter, die einem nen Platz in […] nem Wohnheim verschaffen“. . . . . . . . . . . . . . . . . 196
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5.4.1 Biografische Kurzbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5.4.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung. . . . . 197 5.4.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.4.4 Analytische Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.5 Laith – „Dass ich auf der Straße bin unso, das hat die gar nich interessiert“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.5.1 Biografische Kurzbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.5.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung. . . . . 202 5.5.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.5.4 Inhaltliche Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5.6 Hamid – „Es gibt den einen, der klaut, weil er habgierig is, ja? Und es gibt den, der klaut, weil er nix zu essen hat“. . . . . . . . . . . . . 206 5.6.1 Biografische Kurzbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.6.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung. . . . . 208 5.6.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.6.4 Inhaltliche Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6 Idealtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 6.1 Idealtyp I – Sukzessiv exkludiert werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 6.2 Idealtyp II – Straße als Möglichkeitsraum verstehen. . . . . . . . . . . . . 226 6.3 Idealtyp III – Aus der Bahn geworfen werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 6.4 Idealtyp IV – Das Hilfenetz nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6.5 Idealtyp V – Durch das Hilfenetz fallen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 7.1 Junge Erwachsene, Straße und Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 7.2 Junge Erwachsene, Straße und Agency. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 7.3 Die Ergebnisse im Kontext der Wohnungslosenforschung . . . . . . . . 246 7.4 Forschungsdesiderate und Wissenslücken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 8 Was hilft? Folgerungen und Vorschläge für Sozialpolitik sowie sozialpädagogische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 8.1 Übergangsgestaltung nach Verlassen der Jugendhilfe und Vernetzung der Akteure. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 8.2 Novellierung der Sonderregelungen für unter 25-Jährige. . . . . . . . . 259 8.3 Bezahlbaren Wohnraum schaffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 8.4 Spezifisches Wissen und Herausforderungen der Fachkräfte . . . . . . 263 9 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 People living rough (Eigene Aufnahme 2011): Die Schlafstelle eines wohnungslosen Paares in einer leerstehenden Fabrik in einer deutschen Großstadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Abbildung 2.2 People living in non-conventional-buildings (Eigene Aufnahme 2011): Eine selbstgebaute Hütte in einem Waldstück nahe einer deutschen Großstadt. . . . . . . . . . . . . 14 Abbildung 4.1 Forschungsprozess. (eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . 115
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.1 Ethos Light (Edgar et al. 2007) Measurement of Homelessness at European Union Level . . . . . . . . . . . . . . . 12 Tabelle 2.2 Altersverteilung 2012 (BAG W e. V. 2012): Statistikbericht 2012 – Auswertungstabellen. . . . . . . . . . . . . . 18 Tabelle 2.3 Altersverteilung 2015 (BAG W e. V. 2015): Statistikbericht 2015 – Auswertungstabellen. . . . . . . . . . . . . . 19 Tabelle 2.4 Übergangsverlaufsmuster (Walther 2008, S. 15; vgl. auch: Walther et al. 2007, S. 104) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Tabelle 4.1 Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Tabelle 7.1 Übergangsverlaufsmuster (Walther 2008, S. 15; vgl. auch: Walther et al. 2007, S. 104).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
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Wohnungslose leben in Deutschland am Rande der Gesellschaft und werden vornehmlich kaum – oder abschätzig – wahrgenommen. Sie passen nicht in das Bild eines hochmodernen, entwickelten Sozialstaates, in dem vermeintlich niemand auf der Straße leben muss. Wohnungslosigkeit geht mit massiver Stigmatisierung einher und so vermeiden es einige Betroffene aufzufallen und leben verdeckt wohnungslos. Dabei sind immer mehr junge Erwachsene von Wohnungslosigkeit bedroht und in vielen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe beginnt sich die Altersstruktur signifikant zu verändern. Die Gruppe der jungen Erwachsenen unter 25 Jahren hat sich mittlerweile zu einer wichtigen Klientel in diesem Bereich herauskristallisiert. In Stichtagserhebungen, Schätzungen und Prognosen wird weitestgehend davon ausgegangen, dass die Anzahl von jungen Erwachsenen in der Wohnungslosigkeit in Deutschland wächst und permanent steigen wird. Die Liga der freien Wohlfahrtspflege hat im Jahr 2013 1.427 unter 25-Jährige im Hilfesystem in Baden-Württemberg gezählt, was einer Steigerung von 14,4 % im Vergleich zum Vorjahr entspricht (vgl. liga-bw.de 2013). Die European Federation of National Organisations working with the Homeless (FEANTSA) und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) schätzen, dass im Jahr 2013 etwa 17 % der 19.512 Wohnungslosen in Deutschland zwischen 15 und 19 Jahren sowie weitere 10 % 20–29 Jahre alt waren (vgl. BAG W e. V. 2012, S 2; Busch-Geertsema et al. 2014, S. 63). In der jüngsten Erhebung gibt die BAG W an, dass 20,3 % der Wohnungslosen jünger als 24 Jahre alt sind sowie weitere 13,6 % der Altersspanne zwischen 25 und 29 Jahren zugeordnet werden können (vgl. BAG W e. V. 2016). Hohe Mieten, ein knapper Wohnungsmarkt und der verstärkte Wettbewerb um günstigen Wohnraum seit dem Jahr 2015 im Zuge der steigenden
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Migrationszahlen werden häufig als mögliche strukturelle Erklärungen für den Anstieg der Wohnungslosenzahlen angeführt. Für die Gruppe der jungen Erwachsenen kommen weitere potentielle Faktoren hinzu, etwa Sonderregelungen für unter 25-Jährige im Rahmen des SGB II. Care Leaver, also junge Erwachsene, die bereits eine langjährige Institutionskarriere mit Aufenthalten in Jugendheimen, Jugendgefängnissen oder Pflegefamilien hinter sich haben, werden ebenfalls in den Blick genommen. Nur wenige dieser jungen Menschen verfügen über stabile Netzwerke sowie ausreichende materielle wie immaterielle Ressourcen. Dadurch steigt das Risiko, in prekäre Lebenslagen bis hin zur Wohnungslosigkeit zu geraten. „Care Leaver haben deshalb einen erhöhten Unterstützungsbedarf, sind anfälliger für Wohnungslosigkeit, unterliegen einem erhöhten Armutsrisiko und weisen beim Aufbau von Sozialbeziehungen meist größere Schwierigkeiten auf als Gleichaltrige jenseits der Fremdunterbringung“ (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) 2014, S. 1).
Viele Hilfeeinrichtungen der klassischen Wohnungslosenhilfe wie etwa Übernachtungsheime, Tee- oder Wärmestuben, Notunterkünfte und Kälteschlafstellen sind laut Selbsteinschätzung nicht geeignet, die jungen Erwachsenen entsprechend ihrer Bedürfnisse angemessen zu betreuen und nach Aussage der Europäischen Kommission sind in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten die auf Jugendwohnungslosigkeit spezialisierten Dienstleistungsnetze unterentwickelt, sodass die Betroffenen in für sie ungeeigneten Unterkünften leben (vgl. Stephens et al. 2010, S. 240). Volljährige junge Menschen haben nach § 41 i. V. m. § 7 Abs. 1 Zif. 3 SGB VIII einen gesetzlichen Anspruch auf bedarfsgerechte Unterstützung durch die Jugendhilfe und Kommunen in Deutschland sind nach dem Ordnungsrecht (Ordnungsbehördengesetze der Länder) verpflichtet, Wohnungslosigkeit zumindest durch ein vorübergehendes, aber menschenwürdiges Obdach zu beseitigen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2013, S. 393). Die Fachliteratur auf dem Gebiet der Wohnungslosenhilfe ist überschaubar, dies gilt ebenso für Literatur, die die Themen Wohnungslosigkeit und junge Menschen kombiniert. Es gibt zwar einen Fundus an Lehr- und Handbüchern (vgl. Paegelow 2012; Lutz et al. 2017), diese sind aber eher Einführungen in den status quo der Praxis und Positionen in der Wohnungslosenhilfe. Einige ältere Studien liegen bezüglich minderjährigen ‘Straßenkindern’, einer vergleichbaren Klientel (vgl. Romahn 2000; Hansbauer 2000) sowie im englischen Diskurs
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(vgl. Mayers 2001; Mallet et al. 2010) vor. Im Rahmen seines Handbuches zur Wohnungslosenhilfe hat Paegelow relevante Studien zusammengetragen: Es ist bezeichnend, dass die meisten der angeführten Studien in den Jahren zwischen 1970 und 1980 entstanden (vgl. Paegelow 2012, S. 29 ff.) und somit veraltet sind. Er konstatiert: „So marginal, und manchmal abschätzig, wie wohnungslose Menschen in der Gesellschaft wahrgenommen werden, ergeht es der Wohnungslosenforschung selbst“ (ebd., S. 34). Umfangreiche, aktuelle und deutschsprachige Untersuchungen sind rar, einige wenige Studien (z. B. Gerull 2016; Hoch 2016) bilden die Ausnahme. Keine der genannten Studien nimmt dabei jene Prozesstrukturen in den Blick, die junge Menschen in die Wohnungslosigkeit führen. Die Gründe für Wohnungslosigkeit werden eher eindimensional in Strukturen – wie bereits in dieser Einleitung angedeutet – durch Mangel an günstigem Wohnraum, Armut, fehlender Netzwerke etc. verortet oder mit individuellen Dispositionen oder fehlenden persönlichen Ressourcen oder Fähigkeiten erklärt. Hier kann eindeutig ein Forschungsdesiderat konstatiert werden, dem sich diese Arbeit mithilfe der forschungsleitenden Frage nach Wegen in die Wohnungslosigkeit widmet. Die analytische Metapher des Weges betont den explorativ-rekonstruktiven Charakter der Fragestellung und verweist darauf, Wohnungslosigkeit als Genese und Prozess statt als Situation und singulären Ereignisses zu verstehen. Nur wer die Prozessstrukturen hinter der Wohnungslosigkeit junger Menschen versteht, kann zielgerichtete Hilfen leisten. Die Frage nach der Prozesshaftigkeit nimmt dezidiert bestimmte Ambivalenzen – wie etwa zwischen der Verselbstständigung eines Lebensverlaufs auf der einen – sowie Veränderungen und Bedingungen von Handlungsfähigkeit auf der anderen Seite, in den Blick, die in bisherigen Studien unbeachtet bleiben. Welche Prozesse führen dazu, dass sich die Lebensentwürfe junger Menschen entgegen den eigenen Intentionen und biografischen Entwürfen verselbstständigen? Kann Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen gar als Versuch der Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit gedeutet werden und welche theoretischen Konzepte bieten Erklärungsmuster hierzu? In einigen Fällen beginnen sich negative, schmerzhafte Erfahrungen wie ein unüberwindbares Hindernis aufzutürmen und das intentionale Handeln, das bislang selbst bestimmt und geplant wurde, wird zunehmend durch von außen gesetzte Rahmenbedingungen determiniert (vgl. Glinka 2013, S. 813). Der Betroffene erlebt sich durch die Ereignisse überwältigt und in Situationsentwicklungen hineingetrieben, in denen er nur noch reagieren kann. Das zielgerichtete Handeln wird durch ein ledigliches Reagieren auf konditionelle Relevanzen abgelöst und der Biografieträger erlebt sich in seinem Handeln fremdbestimmt (vgl. ebd.). Hierzu können
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1 Einleitung
Verlaufskurven des Erleidens rekonstruiert werden, anhand derer zu erkennen ist, in welchen biografischen oder sozialen Unordnungen sich der Betroffene erlebt hat (primäre Verlaufskurve), bevor sich diese dann in eine sekundäre Verlaufskurve (z. B. Drogenkonsum/ Isolation/ Schulden, respektive Wohnungslosigkeit) transformieren (vgl. ebd., S. 815). Das theoretische Konzept der Verlaufskurve bietet sich an, um die Verselbstständigung eines Weges in die Wohnungslosigkeit in den Blick zu nehmen, bleibt aber blind für mögliche Wege in die Wohnungslosigkeit, die durch Handlungsfähigkeit oder die eben genannte Ambivalenz aus Handlungsfähigkeit und Verselbstständigung gekennzeichnet sind. An diesem blinden Fleck scheint das Konzept von Agency – und insbesondere im Verständnis von Emirbayer und Mische (1998) – anschlussfähig zu sein und wird als theoretische Perspektive dieser Arbeit herangezogen. Wohnungslosigkeit wird als etwas Prozessförmiges und Temporales sowie in ihrer Relationalität und Prozessualität gedacht und untersucht. Vor dem Hintergrund der geschilderten Problemstellung werden Biografien von jungen erwachsenen Wohnungslosen dahingehend untersucht, ob und wie Agency in den Wegen in die Wohnungslosigkeit identifizierbar ist und wie Agency verhandelt wird. Welche Mittel bieten sich den jungen Wohnungslosen an, Akteure ihrer Biografie zu werden, ihre Lebenspläne zu überdenken und zu verwerfen, sich alternative Möglichkeiten vorzustellen, Entscheidungen zu kalkulieren und revidieren? Indem bei der Auswertung sprachlich konstruierte Ausdrucksformen und Handlungs- und Wirkmächtigkeit und deren Wandel im Rahmen der erzählten Wege in die Wohnungslosigkeit analysiert werden, kann die agencytheoretische Perspektive die Wohnungslosenforschung bereichern. Die Daten des Forschungsvorhabens werden mittels narrativer Interviews, einem qualitativen Verfahren zur Erfassung und Interpretation der Erzählung der Lebensgeschichte von Interviewpartnern1 und deren eigenen, subjektiven Perspektiven konstruierter Sinnzusammenhänge, erhoben. Erzählen ist eine, wenn nicht die „alltagsweltliche ‚Methode‘, mit der Subjekte sich selbst und ihre soziale Welt konstruieren, sich reflektieren und entwerfen, sich anderen mitteilen und mit anderen einen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit teilen“ (Dausien 2005, S. 8). Aus diesem Grund sind Erzählungen ein geeignetes Medium für die fallrekonstruktive Arbeit. Die im Rahmen der biografischen Methode angeführten Autoren (Dausien 2005; Rosenthal/ Fischer-Rosenthal 1997; von Felden 2008)
1Aus
Gründen der Leserfreundlichkeit wird vorzugsweise die männliche Form benutzt, womit die Leserinnen ausdrücklich ebenfalls adressiert werden.
1 Einleitung
5
stehen in der Tradition der von Schütze (1981/ 1983) vertretenen Annahme, dass sich biografische Selbstpräsentationen am überzeugendsten in Erzählungen darstellen lassen. Das genaue empirische Vorgehen und die damit verbundenen methodologischen sowie methodischen Überlegungen werden im Kapitel Wege beforschen und rekonstruieren, weiter expliziert. Die im Rahmen dieser Studie befragten jungen wohnungslosen Männer zwischen 18- und 28 Jahren, sind zwar keine Jugendlichen mehr, aber eben so wenig sind sie erwachsen. Sie befinden sich in einer Periode des Übergangs, die von verschiedenen Autoren als neue Lebensphase des „jungen Erwachsenenalter“ (Galuske/ Rietzke 2008; Stauber et al. 2007; Walther 2007; Pohl 2009) oder „emerging adulthood“ (Arnett 2004) beschrieben wird. Diese Phase ist durch eine Vielzahl an Möglichkeiten – sich auszuprobieren, die Weichen für die Zukunft zu stellen – sowie Entwicklungsaufgaben und Statuspassagen, aber auch Schwierigkeiten und Unsicherheiten gekennzeichnet. Begleitet wird der Übergang ins Erwachsenendasein von zahlreichen Teilübergängen. Die Übergänge von der Ausbildung ins Erwerbsleben, in ernsthafte Partnerschaften oder der Auszug aus dem Elternhaus in eine eigene Wohnung können hier als Beispiele angeführt werden. Ob diese von einem jungen Erwachsenen als Krise und risikobehaftet oder entlastend bzw. bereichernd erlebt werden, wird durch unterschiedliche Lebenserfahrungen, wie auch Erfahrungen mit verschiedenen Übergangssituationen beeinflusst. Wie jemand in schwierigen Übergangsphasen handelt, hängt davon ab, welche Erfahrungen bisher gemacht wurden, welche institutionalisierten Abläufe den jeweiligen Übergang begleiten und welche Deutungsmuster zur Bewältigung von Krisen angeboten werden (vgl. Köttig 2013, S. 991). Dies bedeutet, dass Übergänge und soziale Phänomene nicht losgelöst von ihrer Genese, also der Entstehungs-, Aufrechterhaltungs- und Veränderungsprozesse in ihrer Bedeutung erschlossen werden können (vgl. ebd. S. 998). Der Diskurs um Übergänge wird im Rahmen dieser Arbeit genutzt, um die Relevanz von Agency im Lebenslauf herauszuarbeiten und damit für die Konstruktion idealtypischer Wege in die Wohnungslosigkeit nutzbar zu machen. Im Anschluss an die Rekonstruktion der Interviews werden aus den kumulierten Erfahrungen der jungen Wohnungslosen Idealtypen abstrahiert. Es wird versucht, systematische Strukturen in den erhobenen Interviews zu identifizieren und ein komplexes Thema wie Wohnungslosigkeit bei jungen Volljährigen durch die Typenbildung und damit einhergehende Strukturierung sowie Informationsreduktion, begreifbar zu machen. In Anlehnung an Kelle und Kluge soll dieses Vorgehen als „Heuristik[] der Theoriebildung“ (Kelle/ Kluge 2010, S. 11) dienen. Indem die zentralen Ähnlichkeiten und Unterschiede im Datenmaterial deutlich gemacht werden, regen Typologien die Formulierung von
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1 Einleitung
Hypothesen über allgemeine kausale Beziehungen und Sinnzusammenhänge an. Die Idealtypen ermöglichen somit nicht nur die Strukturierung des Untersuchungsbereichs verschiedener Wege in die Wohnungslosigkeit, sondern können auch die Generierung von Hypothesen und die (Weiter-) Entwicklung von Theorien in vielfältiger Weise unterstützen (vgl. ebd.). Die gewonnenen Erkenntnisse sollen die wenig beachtete Problemstellung der jungen Erwachsenen in der Wohnungslosigkeit beleuchten, den Fachdiskurs diesbezüglich erweitern sowie – wenn möglich – Impulse zum besseren Umgang und zielgerichteteren Hilfen für Betroffene liefern. Hierzu werden die verschiedenen Wege in die Wohnungslosigkeit beschrieben und es wird versucht das umfangreiche Konglomerat an potentiellen Ursachen, Bedingungen, Ambivalenzen, Problemen, Begleit- sowie Folgeerscheinungen soweit an Komplexität zu reduzieren, dass die Thematik begreifbar und behandelbar wird. Im Anschluss sollen die Möglichkeiten der einzelnen Akteure (Adressaten, Städte/ Kommunen, Soziale Arbeit, Politik usw.) ausgelotet werden, um mit Wohnungslosigkeit bei jungen Erwachsenen umzugehen, diese zu verhindern, und entkoppelte junge Volljährige wieder ins Hilfesystem zu integrieren Die Studie wird dazu in sechs Teile untergliedert. Anfangs wird sich im Kapitel Annäherung an den Untersuchungsgegenstand mit dem Phänomen Wohnungslosigkeit in Deutschland auseinandergesetzt. Es werden die gängigen Begriffe, Definitionen sowie die vorhandene Datenlage geklärt und strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit erläutert. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf der Lebenssituation junger volljähriger Wohnungsloser in Deutschland. Da sich die Lebenswelten und Probleme wohnungsloser Männer und Frauen zum Teil massiv unterscheiden, geschlechterspezifische Bewältigungsstrategien Anwendung finden und generell qualitative wie quantitative Unterschiede vorliegen (siehe Abschnitt 2.3 und 2.6), wird sich in dieser Arbeit auf männliche Wohnungslose – allem Anschein nach, die größere Gruppe – konzentriert. Um auf die prekäre Lage von Frauen in der Wohnungslosigkeit hinzuweisen wird in einem Exkurs deren Situation auf der Straße skizziert. Diesbezüglich bräuchte es weitere, geschlechtersensible Forschung. Im nächsten Schritt wird der Blick auf die Phase des jungen Erwachsenenalters bzw. der emerging adulthood gerichtet. Außerdem wird auf Erkenntnisse der Übergangsforschung zurückgegriffen, um die wechselnden Herausforderungen, Chancen und Risiken der Zielgruppe junger Menschen zu verstehen. Anschließend wird, im Biografie- und agencytheoretischen Zugang, das Konzept der Agency, als Versuch der Überwindung eines Dualismus, der entweder Handlungen als sozialdeterminiert, oder Individuen als vollständig autonome Subjekte konzipiert, vorgestellt. Im Anschluss werden Studien zu jungen Wohnungslosen angeführt, die
1 Einleitung
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sich durch eine gewisse Nähe zur Fragestellung dieser Arbeit auszeichnen, um anschließend noch einmal ausführlich die Forschungslücke aufzuzeigen, der sich diese Studie widmen möchte. Im Kapitel Wege beforschen und rekonstruieren wird die forschungslogische Herangehensweise, das Sample und die Erhebungs- sowie Auswertungsmethode begründet. Die Rekonstruktion der im Rahmen der Untersuchung erhobenen, autobiografisch-narrativen Interviews sowie die Interpretation und Analyse der ausgewählten Fälle erfolgt im Kapitel Fallanalysen. Im nächsten Schritt wird mittels kontrastiven Fallvergleichen versucht, theoretisch relevante typische Gemeinsamkeiten wie Differenzen zwischen den Fällen zu entdecken und diese immer weiter vom Einzelfall zu lösen. Diese werden im Kapitel Idealtypen zu abstrakteren Kategorien geordnet und schließlich durch eine Typisierung verschiedener Wege in die Wohnungslosigkeit abgeschlossen. In einem letzten Schritt werden die Ergebnisse dieser Arbeit mit dem Fachdiskurs zum Thema Wohnungslosigkeit in Bezug gesetzt, Implikationen durch die gewählte theoretische Sensibilisierung diskutiert und Möglichkeiten der verschiedenen Akteure evaluiert, zielgerichtete Hilfen zu gewähren.
2
Annäherung an den Untersuchungsgegenstand: Wohnungslosigkeit in Deutschland
In der Einleitung wurde ausschließlich von Wohnungslosigkeit und Wohnungslosen gesprochen, der Begriff Obdachlosigkeit wird demgegenüber häufig unreflektiert und synonym verwendet. Alltagssprachlich finden sich zusätzlich abschätzige Begriffe wie Penner, Bettler oder Vagabunden. Im folgenden Kapitel nähere ich mich dem Phänomen Wohnungslosigkeit, indem ich die im Feld und alltagssprachlich verwendeten Begriffe kläre und voneinander abgegrenze. Besonderes Augenmerk lege ich auf das Vokabular von verschiedenen Akteuren aus Theorie, Praxis, Sozialpolitik sowie Lobby, welches ich für eine weitere Verwendung im Rahmen dieser Arbeit präzisiere. Anschließend expliziere ich die vorhandene Datenlage, die rechtlichen Zusammenhänge sowie die strukturellen Bedingungen im Kontext von Wohnungslosigkeit in Deutschland.
2.1 Homelessness, Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit – Unterschiede und Begriffserklärungen Im deutschsprachigen Raum wird vor allem von Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit gesprochen, in Vergleichen unter EU-Staaten wird die Bezeichnung Homelessness verwendet. Im Hilfesystem und alltagssprachlich werden die beiden Begriffe häufig synonym gebraucht, es finden sich mitunter auch Abgrenzungs- bzw. Unterscheidungsversuche. Lutz et al. (2017) fassen zum Beispiel den Begriff der Obdachlosigkeit weiter und bezeichnen damit allgemein Menschen, die ihre Wohnung verloren haben. Unabhängig von der Schuldfrage hinsichtlich des Wohnungsverlustes – sei es durch Katastrophen wie Brände, Überflutung oder aufgrund nicht bezahlter Mieten – sind diese Menschen obdachlos (vgl. ebd., S. 97 f.). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_2
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Wohnungslose sind für sie im Gegensatz zur Gruppe der Obdachlosen alleinstehende Menschen, die neben der Tatsache, dass sie aktuell keine Wohnung haben, „auch noch von besonderen sozialen Schwierigkeiten bedroht sind, die eine sozialarbeiterische Maßnahme zur Wiedereingliederung erforderlich machen“ (ebd.). Die Wohnungslosen sind insgesamt „eine spezifische Untergruppe der Obdachlosen, die zumeist einer besonderen sozialarbeiterischen Unterstützung bedürfen“ (ebd.). Diese Unterscheidung wird allerdings nicht von allen Akteuren geteilt und es finden sich durchaus differente Beschreibungen sowie die synonyme Verwendung. Die Diakonie etwa definiert Obdachlose als jene Menschen, die „keinen festen Wohnsitz und keine Unterkunft haben. Sie übernachten im öffentlichen Raum wie Parks, Gärten oder U-Bahnstationen“ (diakonie.de 2017). Als Wohnungslose hingegen werden alle Menschen bezeichnet, „die über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Sie leben beispielsweise in einer Notunterkunft, einer stationären Einrichtung der Wohnungslosenhilfe oder übernachten in einer kommunalen Einrichtung“ (ebd.). Wohnungslose Menschen schämten sich häufig für ihre Situation und versuchten diesen Umstand zu verschleiern (vgl. ebd.). Die Zuschreibung von bestimmten Attributen zur Klärung der Begriffe Obdach- und Wohnungslosigkeit wirkt beliebig. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hingegen verzichtet auf eine Unterscheidung und spricht ausschließlich von Wohnungslosigkeit und Wohnungslosen (vgl. BMAS 2017, S. 480 ff.) und folgt dabei der Begrifflichkeit der BAG W. Neben der Bundesregierung wird die begriffliche Definition der BAG W, die zwischen Wohnungsnotfällen und Wohnungslosigkeit unterscheidet, weitgehend von Kommunen und Trägern anerkannt und verwendet. Nach der BAG W liegen Wohnungsnotfälle dann vor, wenn eine Person „wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht ist oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt“ (bagw.de 2017). Wohnungslos hingegen ist: „wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt. Aktuell von Wohnungslosigkeit betroffen sind danach Personen: • im ordnungsrechtlichen Sektor • die aufgrund ordnungsrechtlicher Maßnahmen ohne Mietvertrag, d. h. lediglich mit Nutzungsverträgen in Wohnraum eingewiesen oder in Notunterkünften untergebracht werden • im sozialhilferechtlichen Sektor • die ohne Mietvertrag untergebracht sind, wobei die Kosten nach Sozialgesetzbuch XII und/oder SGB II übernommen werden
2.1 Homelessness, Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit …
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• die sich in Heimen, Anstalten, Notübernachtungen, Asylen, Frauenhäusern aufhalten, weil keine Wohnung zur Verfügung steht • die als Selbstzahler in Billigpensionen leben • die bei Verwandten, Freunden und Bekannten vorübergehend unterkommen • die ohne jegliche Unterkunft sind, ‚Platte machen‘ • im Zuwanderersektor • Aussiedler, die noch keinen Mietwohnraum finden können und in Aussiedlerunterkünften untergebracht sind“ (ebd.). Eine einheitliche Definition des im englischsprachigen Diskurs geläufigen Terminus homelessness stand lange Zeit aus. Bezüglich dessen Begriffserklärung fanden sich neben einigen Überschneidungen auch erhebliche Unterschiede unter den verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Dadurch wurden internationale Vergleiche und Diskurse erschwert, sodass die FEANSTA, die einheitliche European Typology of Homelessness (ETHOS) entwickelt hat (vgl. Busch-Geertsema et al. 2014, S. 21). Diese ETHOS Typologie erwies sich jedoch als zu komplex, sodass eine vereinfachte Version – ETHOS Light – erarbeitet wurde (vgl. ebd.).
2.1.1 ETHOS Light und der Versuch einer einheitlichen Terminologie Wie in der Einleitung bereits erwähnt, werden neben jenen Menschen, die tatsächlich auf der Straße, in verlassenen Häusern oder unter Brücken leben – szenesprachlich ‘Platte machen’ – weitere Gruppen in die Typologie der Wohnungslosen, bzw. Homelessness eingeordnet. Das ETHOS Light besteht aus sechs Kategorien, die Anhand in einer ‘Operational Category’, durch die ‘Living Situation’ und einer entsprechenden Definition eingeordnet werden. Die Typologie versucht, Differenzierungen in dem sehr heterogenen Phänomen Wohnungslosigkeit sichtbar zu machen, da sich die Lebenslagen deutlich unterscheiden können (Tabelle 2.1). Die erste Kategorie beschreibt das stereotype Bild eines Wohnungslosen, der tatsächlich ‘rough’, auf der Straße, in Abrisshäusern oder unter Brücken lebt. Also Menschen, die ohne oder mit minimalem Kontakt zum Hilfesystem auskommen. Hier herrscht eindeutig eine Mangelsituation, denn die von der Gesellschaft als üblich angesehenen Standards werden deutlich unterschritten. Die betroffenen Menschen „gelten als unterversorgt, da ihnen Güter und Kompetenzen fehlen, um ein Leben selbstständig führen zu können.
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Tabelle 2.1 Ethos Light (Edgar et al. 2007) Measurement of Homelessness at European Union Level Operational Category
Living Situation
Definition
People living rough
Public spaces/ external spaces
Living in the streets or public spaces without a shelter that can be defined as living quarters
People living in emergency accommodation
Overnight shelters
People with no place of usual residence who move frequently between various types of accommodation
People living in accommodation for the homeless
Where the period of stay is Homeless hostels Temporary accommodation time-limited and no longterm housing is provided Transitional supported accommodation Women’s shelters or refugee accommodation
People living in institutions
Health care institutions Penal institutions
Stay longer than needed due to lack of housing No housing available prior to release
Mobile homes People living in nonconventional dwellings due to Non-conventional buildings Temporary structures lack of housing
Where the accommodation is used due to a lack of housing and is not the person’s usual place of residence
Conventional housing, but not the person’s usual place of residence
Where the accommodation is used due to a lack of housing and is not the person’s usual place of residence
Homeless people living temporarily in conventional housing with family and friends (due to lack of housing)
Ferner fehlen ihnen Zugänge zu einer die Lebenslage sichernden Versorgung mit Dienstleistungen“ (Lutz et al. 2017, S. 103). Diese Art des Lebens ist auf vielfältige Weise mit Problemen behaftet. Hygiene ist kaum möglich, die Plätze liegen oft versteckt oder schwer zugänglich und kaum von außen wahrnehmbar. Wohnungslose in dieser Form sind unmittelbar mit Gewalt auf der Straße konfrontiert. Sie werden Opfer – häufig, aber nicht ausschließlich, rechtsradikaler – Jugendlicher oder von Gewalt, die von anderen aus der Szene ausgeht (vgl. Paegelow 2012, S. 76). Je abgeschiedener diese Plätze liegen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Personen von außerhalb in Not- und Konfliktsituationen intervenieren oder Hilfe leisten
2.1 Homelessness, Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit …
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können. Bei niedrigen Temperaturen besteht ohne eine adäquate Unterkunft zudem ein erhebliches, gesundheitliches Risiko bis hin zur konkreten Lebensgefahr durch Erfrieren: „Im letzten Winter 2013/2014 sind nach Kenntnis der BAG W mindestens fünf wohnungslose Menschen in Deutschland erfroren, in den letzten 23 Jahren (seit 1991) waren sogar mindestens 283 Kältetote unter Wohnungslosen zu beklagen. Sie erfroren im Freien, unter Brücken, auf Parkbänken, in Hauseingängen, in Abrisshäusern, in scheinbar sicheren Gartenlauben und sonstigen Unterständen. Durch die Kälte besonders bedroht sind die ca. 24.000 Wohnungslosen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben“ (bagw.de 2014, S. 1).
Trotz dieser Gefahren übernachten viele Wohnungslose draußen. Entweder, weil Notunterkünfte fehlen, aus Angst vor Diebstahl ihrer Habseligkeiten in Einrichtungen, der Befürchtung, mit vielen anderen in einem Raum schlafen zu müssen (vgl. Paegelow 2012, S. 77) oder, um den häufig restriktiven Hausordnungen bezüglich Alkohol- und Drogenkonsums zu entgehen (Abbildung 2.1).
Abbildung 2.1 People living rough (Eigene Aufnahme 2011): Die Schlafstelle eines wohnungslosen Paares in einer leerstehenden Fabrik in einer deutschen Großstadt
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Die nächste charakterisierte Gruppe setzt sich aus Personen zusammen, die in verschiedenen, niedrigschwelligen Hilfeeinrichtungen wie Notschlafstellen oder Bahnhofsmissionen unterkommen. Davon unterscheiden sich diejenigen, die in zeitlich begrenzten Übernachtungsheimen, Frauenhäusern oder Asylen schlafen. Die vierte Kategorie beschreibt jene, die in Institutionen (Justizvollzugsanstalten, Psychiatrien etc.) verweilen, kurz vor der Entlassung stehen, aber vorerst keine Perspektive auf eine eigene Wohnung haben. Auch Personen, die beispielsweise in Wohnwagen, auf Campingplätzen oder in selbstgebauten Hütten, sogenannten „non-conventional buildings“ (Edgar et al. 2007, S. VIII) leben, werden von der Definition eingeschlossen (Abbildung 2.2).
Abbildung 2.2 People living in non-conventional-buildings (Eigene Aufnahme 2011): Eine selbstgebaute Hütte in einem Waldstück nahe einer deutschen Großstadt
2.1 Homelessness, Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit …
15
Als letzte Gruppe werden die Menschen genannt, die zeitweise bei Freunden und Verwandten leben können, aber über keine eigene Wohnung verfügen, wofür sich der Begriff des couch surfens etabliert hat. Alle sechs Kategorien teilen die Gemeinsamkeit, dass ein Anlass zur Hilfe, die in den §§ 67–69 des SGB XII geregelt sind, aufgrund besonderer sozialer Schwierigkeiten gegeben ist. Die Unterversorgung zeigt sich vor allem hinsichtlich des Wohnraums. Den Betroffenen fehlt eine eigene, durch Mietvertrag abgesicherte Wohnung und sie leben illegal bei Freunden, in Ersatzunterkünften, Notwohnungen oder in nicht adäquaten Unterkünften. Ihnen mangelt es an einer gesicherten wirtschaftlichen Lebensgrundlage und es fehlt ein regelmäßiges, ausreichendes Einkommen, das aus eigener Tätigkeit oder aus staatlichen Transfers resultieren kann. Somit wird eine von Hilfe unabhängige, wirtschaftliche Planung und Gestaltung des Alltags schwierig bis unmöglich (vgl. Lutz et al. 2017, S. 103). Die Betroffenen befinden sich nur selten in einem dauerhaften Arbeitsverhältnis, stattdessen leben sie vom Betteln, Pfandsammeln oder Gelegenheitsarbeiten. Mitunter fehlen Schul- bzw. Berufsausbildung oder ihre Ausbildung ist nicht mehr zeitgemäß, sodass sich ihnen keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen (vgl. ebd.). Die Unterversorgung betrifft darüber hinaus die soziale und kulturelle Teilhabe, denn vielfach sind die Wohnungslosen „von ihren familiären Hintergründen abgeschnitten und haben kaum noch Möglichkeiten an sozialen Netzen von Gemeinschaften zu partizipieren“ (ebd.). Ihre Beziehungen verkürzen sich mit der Dauer ihrer sozial problematischen Situation zumeist auf soziale Netze in der Szene, die wiederum zu einer Verfestigung der prekären Lage beitragen (vgl. ebd.). Anhand der ETHOS Light Kategorisierung wird auch deutlich, wieso es so schwierig ist, verlässliche Zahlen im Bereich der Wohnungslosenhilfe zu erheben. Während Übernachtungsheime, Frauenhäuser und andere institutionalisierte Hilfeangebote üblicherweise ihre Klientenzahlen erfassen (wozu es jedoch kein einheitliches und bundesweites System gibt), ist es nahezu unmöglich all jene zu erfassen, die tatsächlich auf der Straße leben, zeitweise bei Freunden oder Verwandten unterkommen können oder komplett den Kontakt zum Hilfesystem vermeiden. Diese Arbeit verwendet im Folgenden die Begrifflichkeiten der ETHOS Light Kategorisierung und übersetzt Homelessness mit Wohnungslosigkeit. Es wird also von Wohnungslosigkeit sowie Wohnungslosen gesprochen und im Zweifel auf die entsprechende Kategorie des EHTOS Light verwiesen. In den späteren Fallanalysen wird die entsprechende Lebenssituation der Betroffenen ohnehin detailliert erläutert.
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
2.1.2 Rechtliche Rahmenbedingungen Da im weiteren Verlauf dieser Arbeit immer wieder Verweise auf verschiedene rechtliche Rahmenbedingungen in bestimmten Kontexten erfolgen, werden die grundlegenden Gesetze hier überblicksartig umrissen. Neben offensichtlichen Individualrechten, den Grund- und Menschenrechten wie Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit sowie Menschenwürde, sind die Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder sowie die Sozialgesetzbücher II, VIII und XII besonders relevant. Aufgrund der Heterogenität und Vielfalt der denkbaren Problemkonstellationen können über die hier genannten, weiteren Rechtskreise eine Rolle spielen. Jede Gemeinde ist zunächst verpflichtet, die grundgesetzlichen Individualrechte zu schützen. Aus diesem Grund haben wohnungslose Menschen ein Recht darauf, von der Kommune, in der sie sich aktuell aufhalten, mit einer Notunterkunft nach Ordnungsrecht versorgt zu werden (vgl. bagw.de 2015a). Die §§ 67–69 SGB XII liefern die Rechtsgrundlagen für die Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Sind Personen nicht in der Lage aus eigener Kraft besondere soziale Schwierigkeiten – wie z. B. Wohnungslosigkeit – zu überwinden, stehen ihnen Leistungen zu (vgl. § 67 SGB XII). Diese umfassen „alle Maßnahmen, die notwendig sind, um die Schwierigkeiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten […]“ (§ 68 (1) SGB XII). Dazu zählen insbesondere: „Beratung und persönliche Betreuung für die Leistungsberechtigten und ihre Angehörigen, Hilfen zur Ausbildung, Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes sowie Maßnahmen bei der Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung“ (ebd.). Für erwerbstätige bzw. erwerbsfähige Wohnungslose gelten die Bestimmungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende des SGB II. Diese soll Leistungsberechtigten ermöglichen, „ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 (1) SGB II). Hierzu werden im § 20 SGB II der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts festgelegt, die allerdings im Rahmen des Konzeptes Fordern und Fördern an Bedingungen geknüpft sind. Im Kontext des SGB II sind für sogenannte „Pflichtverletzungen“ (§ 31 SGB II) Sanktionen („Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen“ (§ 31a SGB II)) vorgesehen. Da diese Praxis im Zusammenhang mit Wohnungslosigkeit, besonders bei jungen Menschen, von Bedeutung zu sein scheint, wird diese Thematik in Abschnitt 2.3.3 gesondert betrachtet. Für die Thematik sind ebenfalls Hilfen im Kontext des SGB VIII relevant. Hierbei könnte es sich um Hilfen in Belastungs- und Krisensituationen nach §§ 16, 17, 18 in den Erziehungs-, Jugend- oder Familienberatungsstellen, oder Hilfen außerhalb der Herkunftsfamilie (§§ 33, 34, 35 SGB VIII) handeln. Mitunter bestehen Rechtsansprüche über die Volljährigkeit hinaus (vgl. § 41 SGB
2.2 Daten zur Wohnungslosigkeit in Deutschland
17
VIII), auch wenn diese Hilfen aufgrund des kommunalen Kostendrucks auf die Jugendämter vielfach nicht gewährt werden.
2.2 Daten zur Wohnungslosigkeit in Deutschland In regelmäßigen Abständen veröffentlicht die BAG W Stichtagserhebungen und versucht die numerische Situation von Wohnungslosen in Deutschland zu erfassen. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass es sich bei den folgenden Zahlen um Schätzungen sowie Hochrechnungen und keinesfalls um gesicherte Erkenntnisse handelt. Es ist somit mit einer Abweichung der tatsächlichen Zahlen von den folgenden Annäherungen zu rechnen. Eine einheitliche, bundesweite Statistik zum Thema Wohnungslosigkeit steht zum jetzigen Zeitpunkt noch aus. „Kern des BAG-W-Schätzmodells ist die Beobachtung der Veränderungen des Wohnungs- und Arbeitsmarktes, der Zuwanderung, der Sozialhilfebedürftigkeit sowie regionaler Wohnungslosenstatistiken und eigener Blitzumfragen. Die Schätzung der BAG differenziert zwischen wohnungslosen Personen in Mehrpersonenhaushalten (Familien, Alleinerziehende, Paare), alleinstehenden Wohnungslosen (Einpersonenhaushalte) und wohnungslosen Aussiedlern in Übergangsunterkünften“ (bagw.de 2012).
Die Schätzungen der BAG W kommen zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2014 ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung waren (vgl. bagw.de 2015). Dies entspräche einem Anstieg um ca. 18 % seit 2012. Von diesen Menschen leben schätzungsweise 39.000 ohne jegliche Unterkunft ‚rough‘ auf der Straße. Die Zahl der bedrohten Wohnverhältnisse, also Haushalte, die unmittelbar vor Räumungsverfahren oder Zwangsräumungsterminen stehen, stieg ebenfalls deutlich von 144.000 (im Jahr 2012) auf ca. 172.000 Haushalte im Jahr 2014. Zwar konnte die Wohnung in knapp der Hälfte der Fälle durch präventive Maßnahmen erhalten werden, dennoch gab es 86.000 neue Wohnungsverluste (vgl. ebd.). Seit 2007 ist die Zahl der akut Wohnungslosen kontinuierlich angestiegen und die Schätzungen der BAG W gehen davon aus, dass die Zahlen der Wohnungslosen bzw. von Wohnungsverlust bedrohten weiter ansteigen werden (vgl. BAGW e. V. 2013, S. 1).
2.2.1 Wohnungslose nach Altersgruppen und Geschlecht Im Rahmen ihrer jährlich erscheinenden Statistikberichte veröffentlicht die BAG W ausgewählte Ergebnisse zu soziodemographischen Daten sowie zur Lebenssituation wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen in
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Deutschland. Die Erhebungen stammen aus 176 Einrichtungen und Diensten der bundesdeutschen Wohnungslosenhilfe im Rahmen des Dokumentationssystems zur Wohnungslosigkeit (DzW) und sind nicht mit den geschätzten absoluten Zahlen des vorherigen Kapitels zu verwechseln. Im Folgenden werden die Zahlen aus den Jahren 2012 und 2015 gegenübergestellt, um etwaige Tendenzen und Veränderungen festzustellen. Verteilt nach Altersgruppen und Geschlecht ergibt sich für das Jahr 2012 folgende Aufteilung (Tabelle 2.2): Für die vorliegende Untersuchung und um dessen Relevanz zu verdeutlichen ist besonders die folgende Aussage der BAG W von Bedeutung: Tabelle 2.2 Altersver teilung 2012 (BAG W e. V. 2012): Statistikbericht 2012 – Auswertungstabellen
Männer
Frauen
Gesamt
bis 25 Jahre
17,5 %
29,6 %
20,4 %
25–29 Jahre
11,5 %
11,8 %
11,5 %
30–39 Jahre
21,8 %
19,8 %
21,4 %
40–49 Jahre
24,7 %
20,4%
23,6 %
50–59 Jahre
17,5 %
13,4 %
16,5 %
60 Jahre u. älter
7,0 %
5,0 %
6,6 %
Gesamt
20.337
6.195
26.532
„Der Anteil der unter 25-Jährigen Hilfesuchenden ist mit 20,4 % aller KlientInnen weiterhin hoch. Damit belegt das Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit (DzW) auch für 2012 die anhaltende Problematik von Wohnungslosigkeit und auch für jüngere Menschen, auf die sich das Hilfesystem in den letzten Jahren verstärkt eingestellt hat“ (BAG W e. V. 2012, S. 1).
Zur Situation der betroffenen Personen konstatiert die BAG W weiter: „In den Bereichen Arbeit und Qualifikation, Wohnen und soziale Kontakte bleibt die Situation der Menschen in Wohnungsnot und sozialen Schwierigkeiten weiterhin prekär, und auch die Gesundheitssituation dieser Menschen ist unverändert schlecht“ (BAG W e. V. 2012a., S. 1) Für das Jahr 2015 ergibt sich folgende Verteilung (Tabelle 2.3): Neben dem generellen Anstieg der Wohnungslosigkeit zeigt sich die weitere Tendenz, dass besonders die Anzahl junger Wohnungsloser (bis 24 und von 25–29 Jahren) zunimmt. Zwar ist ein leichter prozentualer Rückgang der unter 25-jährigen Frauen zu verzeichnen, dem steht aber ein umso größerer Zuwachs an männlichen Wohnungslosen dieser Alterskohorte und ein Anstieg der wohnungslosen Frauen zwischen 25 und 29 Jahren entgegen.
2.2 Daten zur Wohnungslosigkeit in Deutschland
19
Tabelle 2.3 Altersverteilung 2015 (BAG W e. V. 2015): Statistikbericht 2015 – Auswertungstabellen bis 24 Jahre (Auf telefonische Rückfrage (2018) bestätigte die BAG W, dass es sich hierbei wie in den Jahren zuvor um die Kategorie der unter 25-Jährigen handelt. Die Bezeichnungen wurden im Rahmen der Statistikberichte geändert, die Alterskohorte bleibt unverändert die der unter 25-Jährigen.)
Männer
Frauen
Gesamt
18,2 %
24,3 %
19,7 %
25–29 Jahre
13,1 %
13,0 %
13,1 %
30–39 Jahre
23,4 %
22,0 %
23,0 %
40–49 Jahre
22,0 %
20,1 %
21,5 %
50–59 Jahre
16,7 %
15,0 %
16,3 %
60 Jahre u. älter
6,7 %
5,6 %
6,4 %
Gesamt
20.856
6.557
27.513
An dieser Stelle lässt sich bereits ein Forschungsdesiderat konstatieren: Zahlen, die auf Schätzungen, Stichtagserhebungen, Vergleichen mit Nachbarländern oder Hochrechnungen einzelner Bundesländer beruhen, bleiben letztendlich vage Annäherungen an den tatsächlichen status quo und können die quantitative Situation nicht angemessen abbilden. Aus diesem Grund versucht die BAG W seit Jahren das Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit zu etablieren, um politische Regelungs- und Entscheidungsbedarfe zu identifizieren, gegenüber der fachpolitischen Öffentlichkeit zu verdeutlichen sowie die Forderung neuer Ressourcen für sich verändernde Angebotsstrukturen in allen Hilfebereichen zu legitimieren (vgl. ebd.). Da ein solches bundeseinheitliche System bisher fehlt, bieten die Zahlen der BAG W die bisher beste statistische Grundlage.
2.2.2 Situation nach 2015 Im Jahr 2017 hat die BAG W eine erneute Schätzung zur Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland vorgenommen. Es ist dennoch zielführend, zunächst den veralteten Erhebungen Platz einzuräumen, denn seit dem Jahr 2016 schließt die BAG W in ihre Schätzung die Zahl der wohnungslosen anerkannten Flüchtlinge ein (vgl. bag-w.de 2017a), welches die Quantifizierung massiv beeinflusst.
20
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Da die wenigsten der anerkannten Flüchtlinge über mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen, schätzt die BAG W die Zahl der wohnungslosen Flüchtlinge auf ca. 440.000 Menschen. So steigt die Gesamtzahl der Wohnungslosen in Deutschland seit 2014 um 150 % auf etwa 860.000 (vgl. ebd.). Zwar ist davon auszugehen, dass auch ohne Berücksichtigung der Wohnungslosigkeit von Geflüchteten die Anzahl der Wohnungslosen gestiegen wäre, sich dieser Anstieg jedoch weniger drastisch vollzogen hätte. Im Moment ist nicht abzusehen, wie sich die Gruppe der Geflüchteten verteilen wird, also wie vielen Menschen eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt und eigenen Wohnraum gelingt, wie viele im Hilfesystem verbleiben oder wer Deutschland wieder verlässt. Durch den teilweise ungeklärten Rechtsstatus der Zuwanderer steht die Hilfepraxis vor neuen Herausforderungen (unsicherer Aufenthaltsstatus, damit einhergehend unterschiedliche Zugangsberechtigungen zum primären Arbeitsmarkt usw.) und das Thema Migration hat wieder stärker an Bedeutung gewonnen. Dynamiken, die durch Krieg und Vertreibung zur Wohnungslosigkeit führen sind auch angesichts der hier aufgeführten Zahlen eine hochrelevante Problematik. Im Rahmen der vorliegenden Studie können die aktuellen Entwicklungen von Flucht und Vertreibung, welche die Wohnungslosenhilfe tangieren, nicht betrachtet werden. Im folgenden Kapitel werden strukturelle Erklärungsansätze für Wohnungslosigkeit in Deutschland in den Blick genommen, die sich weitestgehend in die drei Abschnitte Armut, wohnungspolitische Ursachen sowie gesetzliche Rahmenbedingungen untergliedern lassen.
2.3 Strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit in Deutschland Der Human Development Index (HDI) von Deutschland liegt aktuell bei 0,936 (vgl. hdr.undp.org 2018). Nach dem Wohlstandsindikator der Vereinten Nationen gehört Deutschland somit zu den höchst entwickelten und reichsten Ländern der Welt. Abschnitt 2.2 hat aufgezeigt, dass dennoch eine beachtliche Zahl an Menschen ohne gesicherten Wohnraum lebt, oder von Wohnungslosigkeit bedroht ist. Bei Erklärungsansätzen verbietet schon die beeindruckende Heterogenität der Personengruppe monokausale Betrachtungsweisen (vgl. Kellinghaus 2000, S. 13). Es gibt nicht die eine Ursache, sondern vielmehr ein Konglomerat aus Gründen, Risikofaktoren, Zufällen und Konstellationen, die zu Wohnungslosigkeit führen könnten, von denen mögliche strukturelle Ursachen nachfolgend betrachtet werden.
2.3 Strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit in Deutschland
21
2.3.1 Armut als Ursache von Wohnungslosigkeit Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Armut sowie Arbeitslosigkeit potenzieren das Risiko des Eintretens prekärer Lebenslagen, aus denen Wohnungslosigkeit resultieren kann und Arbeitslose sind in besonderem Maße von Armut bedroht. Die entsprechende Unterstützung wird seit Jahren sukzessiv gekürzt, die seit den 1970er Jahren anhaltende Entwicklung hat 2005 durch die Angleichung von Arbeitslosenhilfe an das Niveau der Sozialhilfe einen Tiefpunkt erreicht (vgl. Lutz et al. 2017, S. 43). Zwar zeigt sich ein Rückgang der Arbeitslosenquote auf einen Jahresdurchschnittswert von 5,2 % (vgl. statista.com 2019), gleichermaßen steigt die Anzahl an prekären Beschäftigungsverhältnissen, also gering bezahlte und ungesicherte Jobs wie z. B. Leiharbeit (vgl. Paegelow 2014, S. 9; Lutz et al. 2017, S. 45). Im vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist festgehalten, dass Niedriglöhne mit einem materiellen Armutsrisiko verbunden sein können (vgl. BMAS 2013, S. 336) und seit dem Ende der 1990er Jahre ist in Deutschland ein Anstieg eben solcher Niedriglohnbeschäftigung festzustellen (vgl. ebd., S. 337). „So hat etwa die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) in ihrem Global Wage Report Deutschland, Polen und die Vereinigten Staaten als die Industriestaaten mit der stärksten Zunahme der Lohnungleichheit seit 1995 benannt und für Deutschland die Zunahme von Niedriglöhnen als Ursache genannt“ (ebd.).
Die niedrige Arbeitslosenquote suggeriert einen weit verbreiteten Wohlstand, der bei genauerer Betrachtung relativiert werden muss, denn das Vermögen in Deutschland ist äußerst ungleich verteilt. Die Deutsche Bundesbank ermittelt im Rahmen ihrer Vermögensbefragung ein ungefähres durchschnittliches Nettovermögen von 214.500 € pro Haushalt. Dieser Wert wird allerdings stark durch Extremwerte – also besonders reiche und besonders arme Haushalte – beeinflusst, dass auch hier eine differenzierte Betrachtung von Nöten ist. So besitzen die reichsten 10 % etwa 60 % des Nettovermögens1 (vgl. ebd.). Der
1Diese
ungleiche Vermögensverteilung ist wahrscheinlich noch ausgeprägter, da in der Schätzung sehr vermögende Haushalte mit einem Vermögen von über 100 Mio. Euro fehlen.
22
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Gini-Koeffizient2 liegt mit 0,76 % in Deutschland im internationalen Vergleich (0,68 % im Euroraum) sehr hoch (vgl. bpb.de 2016). Die finanzielle Situation von vielen Menschen in Deutschland ist also deutlich schlechter, als die hohe Beschäftigungsquote oder das durchschnittliche Nettovermögen vermuten lassen und wie bereits angesprochen potenziert Arbeitslosigkeit sowie Armut das Risiko von Wohnungslosigkeit. Neben den monetären Aspekten besitzt Armut weitere Dimensionen, für die es eine Vielzahl an verschiedenen Konzepten bzw. Modellen gibt. Die Diskussion, welche immateriellen Ressourcen, politische Freiheiten, sozialen Chancen, Partizipationsmöglichkeiten usw. im Kontext von Armut betrachtet werden müssen, kann hier nicht nachgezeichnet werden. An dieser Stelle wird auf die „Arbeitsdefinition von Armut für die Soziale Arbeit“ (Gerull 2011, S. 28) verwiesen, die für den Rahmen der vorliegenden Studie geeignet ist: „Unter Armut ist die Kumulation von Unterversorgungslagen und sozialen Benachteiligungen zu verstehen, wobei diese weder vollständig objektivierbar sind noch ausschließlich anhand des subjektiven Erlebens definiert und operationalisiert werden können. Armut in Deutschland ist dabei immer relativ zu betrachten und dem Lebensstandard der Gesamtbevölkerung gegenüberzustellen. So definierte Armut ist durch die massive Einschränkung von Handlungsspielräumen gekennzeichnet, sodass ein Leben in Menschenwürde gefährdet und im Extremfall unmöglich gemacht wird. Sie wird individuell erfahren, basiert auf sozialer Ungleichheit und kann Ausgrenzungserfahrungen nach sich ziehen. Individuelle Bewältigungsstrategien, ein stabiles soziales Netzwerk und professionelle Unterstützungsangebote können eine Verfestigung von Armutslagen verhindern und soziale Inklusion ermöglichen“ (ebd.).
Hilfebedürftigkeit in der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter ist ein Thema von hoher sozialpolitischer Bedeutung, da frühe Armutserfahrungen die Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensqualität in hohem Maße beeinträchtigen können (vgl. Koch et al. 2009, S. 172). In Abschnitt 2.4 wird wird der frühe Einstieg in die Straßenszene ausführlicher und aus theoretischer Perspektive in den Blick genommen.
2Der
Gini-Koeffizient ist ein Standardmaß zur Messung von Vermögensungleichheit und wird auf den Wertebereich zwischen 0 (vollkommene Gleichverteilung) und 1 (vollkommene Ungleichverteilung) normiert. Die Vermögensverteilung und der GiniKoeffizient sind keine exakten Daten, sondern beruhen auf Schätzungen und Hochrechnungen. Diese sind an dieser Stelle aber ausreichend, um die eindeutige Tendenz abzubilden.
2.3 Strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit in Deutschland
23
2.3.2 Wohnpolitische Ursachen von Wohnungslosigkeit Neben Armut ist mangelnder Wohnraum, insbesondere in Großstädten, eine wesentliche strukturelle Ursache für Wohnungslosigkeit in Deutschland. Der steigende Bedarf an Wohnungen steht im gravierenden Gegensatz zu dem zur Ver fügung stehenden Wohnraum und Wohnungsneubau. Dieser Trend besteht seit einigen Jahren und setzt sich konsequent fort. Der Deutsche Mieterbund konstatiert dazu: „In Großstädten, Ballungszentren und Universitätsstädten wächst eine neue Wohnungsnot heran. Schon heute fehlen hier 250.000 Mietwohnungen. Angesichts steigender Einwohner- und vor allem Haushaltszahlen wird sich hier die Nachfrage weiter erhöhen. So stieg die Zahl der Haushalte zwischen 2002 und 2010 von 38,7 auf 40,3 Millionen. Bis zum Jahr 2025 werden es nach Prognosen der Bundesregierung 41,1 Millionen Haushalte sein“ (mieterbund.de 2013).
Mit der bestehenden und weiter steigenden Nachfrageentwicklung hält das Wohnungsangebot nicht Schritt. In den letzten Jahren befanden sich die Fertigstellungszahlen sogar auf einem historischen Tiefstand, sodass sich bei einer Fortsetzung dieser Entwicklung ein Mangel von einer Millionen Mietwohnungen einstellen wird (vgl. ebd.). Dieser Trend scheint sich zu bestätigen und wird durch den Anstieg der Asylbewerberzahlen im Jahr 2015 weiter verschärft. „Deutschland schiebt seit Jahren ein wachsendes Wohnungsdefizit vor sich her, das jetzt auf rund 800.000 Wohnungen angewachsen ist. Der jährliche Neubau von zuletzt 250.000 bis 260.000 Wohnungen reicht nicht aus, die wachsende Nachfrage – jetzt verstärkt durch hohe Zuwanderungs- und Flüchtlingszahlen – zu befriedigen, geschweige denn das Wohnungsdefizit abzubauen“ (mieterbund.de 2015).
Die Ursachen von Wohnungslosigkeit für einkommensschwache Personen liegen also letztendlich auch in den Strukturbedingungen unserer Wohnpolitik und der Einkommensentwicklung bestimmter Haushaltsgruppen bei gleichzeitigem Fehlen einer ausreichenden sozial-staatlich motivierten Wohnungswirtschaft (vgl. Lutz et al. 2017, S. 52 f.). Es gibt nicht genügend Wohnraum für Geringverdiener und besonders in Großstädten ist die Lage prekär. Wenn sich Vermieter unter zahlreichen Bewerbern ihre Mieter aussuchen können, wird es für stigmatisierte Personen sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Es sind vielfältige sozialpolitisch motivierte Eingriffe in den freien Wohnungsmarkt erforderlich, um auch Personengruppen mit geringerem Einkommen ausreichend mit Wohnraum zu versorgen (vgl. bagw.de 2017a; Lutz et al. 2017,
24
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
S. 52 f.; vgl. mieterbund.de 2015a). In Zeiten der Mietpreisbremse und generell schlechten Renditen sind Investitionen in Sozialwohnungen unattraktiv. Der Anstieg der Asylbewerberzahlen in den Jahren 2015 und 2016 hat dafür gesorgt, dass der Bedarf an günstigem Wohnraum so offensichtlich wurde, dass bereits entsprechende Förderungsmaßnahmen beschlossen wurden. Dies könnte wie ein Sonderkonjunkturpaket für die Bauwirtschaft wirken, von dem im Endeffekt neben den Asylbewerbern auch die Wohnungslosen profitieren könnten. Sollten sich die Förderungsmaßnahmen als nicht ausreichend erweisen, werden Wohnungslose mit Asylbewerbern und Geringverdienern um den ohnehin knappen, günstigen Wohnraum konkurrieren müssen.
2.3.3 Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sanktionierungsmöglichkeiten und das ‚Auszugsverbot‘ für junge Erwachsene Einen wesentlichen Aspekt der fordernden Aktivierung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende stellt die Möglichkeit dar, die Mitwirkung der Hilfebedürftigen einzufordern und dies mit Hilfe von Sanktionen3 durchzusetzen. Im Sozialgesetzbuch (SGB) II sind zahlreiche Pflichtverletzungen aufgeführt: „Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis 1. sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Absatz 3 Satz 3 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen, 2. sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d oder ein nach § 16e gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern, 3. eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen. (2) Eine Pflichtverletzung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist auch anzunehmen, wenn
3Hierbei
handelt es sich um die Rechtslage während der Erhebung und Auswertung des Datenmaterials. Seit dem 15.01.2019 verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit der thematisierten Sanktionen (vgl. bundesverfassungsgericht.de 2019). Mit einer Entscheidung ist allerdings erst in einigen Monaten zu rechnen.
2.3 Strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit in Deutschland
25
1. sie nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert haben, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen, 2. sie trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen, 3. ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht oder erloschen ist, weil die Agentur für Arbeit das Eintreten einer Sperrzeit oder das Erlöschen des Anspruchs nach den Vorschriften des Dritten Buches festgestellt hat, oder 4. sie die im dritten Buch genannten Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit erfüllen, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen“ (§ 31 SGB II).
Diese Pflichtverletzungen ziehen teilweise weitreichende Rechtsfolgen nach sich, die im § 31a SGB II geregelt werden. „Bei einer Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt. Erklären sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte nachträglich bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann der zuständige Träger die Minderung der Leistungen nach Satz 3 ab diesem Zeitpunkt auf 60 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs begrenzen“ (§ 31a (1) SGB II).
Für junge Erwachsene sind Sonderregelungen vorgesehen und die Sanktionierungsmöglichkeiten sind deutlich restriktiver. „Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen beschränkt. Bei wiederholter Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Absatz 1 Satz 4 und 5 gilt entsprechend. Erklären sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nachträglich bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann der Träger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ab diesem Zeitpunkt wieder die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen gewähren“ (§ 31a (2) SGB II).
26
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Solche Sanktionsmöglichkeiten können ebenfalls als eine der möglichen Ursachen von Wohnungslosigkeit herangezogen werden. Die BAG W konstatiert dazu in einer Pressemitteilung: „Der Anteil der jungen Erwachsenen – insbesondere der jungen Erwachsenen bis 24 Jahre – an den Wohnungslosen [hat] überproportional zugenommen. Dieser deutlich spürbare Anstieg in der Altersgruppe der U-25-Jährigen – insbesondere in den letzten Monaten – ist nach Meinung der BAG Wohnungslosenhilfe e. V. eine direkte Folge der Verschärfung der Sanktionsregelungen für diese Altersgruppe im SGB II: Ihnen können nicht nur die Regelleistungen zum Lebensunterhalt gekürzt werden, sondern auch die Leistungen für Miete und Nebenkosten können gänzlich zurückgefahren werden“ (bagw.de 2008).
Zunächst ist festzuhalten, dass junge Erwachsene unter 25 Jahren im Vergleich zu Älteren tatsächlich besonders häufig und besonders intensiv sanktioniert werden (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2018, S. 1 ff.), was die These der BAG W stützt. Selbst die Bundesregierung hat zur Kenntnis genommen, dass „sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte aufgrund einer Sanktionierung häufiger (zumindest vorübergehend) aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Ferner weisen diese Studien nach, dass Sanktionen teils zu deutlichen Einschränkungen der Lebensqualität führen können“ (Deutscher Bundestag 2014, S. 6). Offensichtlich ist, dass eine Leistungskürzung die Lebenssituation des Sanktionierten zunächst verschärft. Da kein eigenes Vermögen oder Ersparnisse vorhanden sind (denn diese würden Leistungen nach ALG II verhindern), muss der Leistungsausfall anderweitig – beispielsweise durch Schulden – kompensiert werden. Es drohen gegebenenfalls sogar Räumungsklagen, womit das Risiko der Wohnungslosigkeit steigt (vgl. Schreyer/ Götz 2010, S. 83 f.). Bemerkenswert ist zudem, dass der Zusammenhang zwischen Sanktionsgrund und Ausmaß der Sanktionen unsystematisch erscheint (vgl. Koch et al. 2009, S. 123). Dies ist damit zu erklären, dass die zuständigen Sachbearbeiter durchaus Handlungsspielraum haben, in welchem Maße Sanktionen verhängt werden. In einigen Jobcentern werden Sanktionen möglichst nur als Ultima Ratio eingesetzt und wenn möglich vermieden, in anderen werden Sanktionen leichtfertiger verhängt. Die mögliche Totalsanktion4, also eine Sanktionierung um 100 % sowie bei unter 25-Jährigen bei wiederholter Pflichtverletzung mögliche Streichung der
4Der
Begriff ‚Totalsanktion‘ ist im SGB II nicht definiert, wird im Diskurs aber verwendet. Die Bundesregierung spricht z.B. von „als vollsanktioniert erfasste Personen“ (Deutscher Bundestag 2014, S. 2).
2.3 Strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit in Deutschland
27
Kostenerstattung für Unterkunft und Heizung, wird von vielen Fachkräften als drakonisch eingeschätzt (vgl. ebd., S. 124 ff.) und in der Praxis selten angewandt. Im Jahr 2017 wurden insgesamt 136.799 Leistungsberechtigte mit mindestens einer Sanktion belegt. Die Sanktionsquote lag bei den unter 25-Jährigen mit 28,0 deutlich über dem Durchschnitt der älteren Leistungsberechtigten (19,0). Bei den Totalsanktionen5 führt sich dieser Trend fort: von 7.228 verhängten Vollsanktionen entfallen 3.469 auf die jungen Erwachsenen (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2018, S. 1 ff.). Schreyer und Götz stellen ebenfalls fest, dass die Fachkräfte aus Vermittlung und Fallmanagement die scharfen Regelungen kritisieren und hauptsächlich milde Sanktionen, etwa beim Versäumen von Terminen, als sinnvoll erachten. Diese fördern Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, also Eigenschaften, die auch von den jungen Erwachsenen im Berufsleben erwartet werden (vgl. Schreyer/ Götz 2010, S. 82). Die Möglichkeit von höheren Sanktionen kann die Betroffenen hingegen dazu drängen, sich einen beliebigen Job zu suchen, was sich besonders bei jungen Menschen, bei denen es eigentlich um Qualifizierung und langfristige Integration in den Arbeitsmarkt gehen sollte, als problematisch herausstellt (vgl. ebd., S. 82 f.). Totalsanktionen können die soziale Lage der Betroffenen dramatisieren und im äußersten Fall zum Verlust der Wohnung führen. Die ausbleibende finanzielle Unterstützung muss kompensiert werden, da natürlich weiterhin Ausgaben für den Lebensunterhalt (Miete, Lebensmittel, Gesundheitspflege, Dienstleistungen etc.) fortbestehen. Schulden und entsprechende Schufa Einträge als mögliche Folge erschweren eine erneute Wohnungssuche enorm. Auch ohne Sanktionen erleben die auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende angewiesenen jungen Erwachsenen faktische und subjektiv wahrgenommene Benachteiligungen. Fast die Hälfte der jungen Erwachsenen im Leistungsbezug nach SGB II weist Bildungsdefizite auf und hat keinen Schuloder Berufsabschluss. Außerdem hat der Hauptteil der Betroffenen finanzielle Probleme, Schulden oder lebt unter problematischen Wohnbedingungen. Zehn Prozent klagen über fehlende soziale Unterstützung und ein Gefühl der sozialen Ausgrenzung (vgl. Popp/ Schels 2008, S. 167). Schreyer und Götz konstatieren zur Sanktionierungspraxis:
5Hierbei
handelt es sich um jene Personen, bei denen die Höhe des Sanktionsbetrages die Höhe des laufenden Leistungsanspruchs im Bereichsmonat vorliegt. D. h. es liegt eine komplette Leistungskürzung vor.
28
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand … „In Intensivinterviews beurteilen Fachkräfte aus ARGEn und Optionskommunen die milden Sanktionen bei einem Terminversäumnis eher positiv, die scharfen Sanktionen bei größeren Pflichtverletzungen eher negativ. Teils massiv kritisieren sie die Streichung der Kostenübernahme von Miete und Heizung. Sie befürworten stattdessen abgestufte Sanktionen wie bei älteren Arbeitslosen“ (Schreyer/ Götz 2010, S. 84).
Werden sämtliche Leistungen gestrichen, müssen die Sanktionierten entweder Schulden aufnehmen oder die Leistungen durch Schwarzarbeit oder Kleinkriminalität kompensieren. Im schlimmsten Fall drohen Räumungsklagen und Verlust der Wohnung. Eine weitere mögliche Ursache für Wohnungslosigkeit bei jungen Erwachsenen kann in den entsprechenden Sonderregelungen des SGB II gefunden werden. Nach § 22 (5) SGB II unterliegen alle unter 25-Jährigen einer Art Auszugsverbot. Es werden keine Kosten für Heizung und Unterkunft übernommen, wenn die unter 25-Jährigen aus ihrem Elternhaus ausziehen und nicht „schwerwiegende soziale Gründe“ (§ 22 (5) SGB II), „der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist“ (ebd.), oder „ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt“ (ebd.). Dies schränkt massiv die Selbstbestimmung derer ein, die auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen sind. Den Nachweis über z. B. schwerwiegende soziale Gründe zu erbringen, ist mitunter schwierig, also wählen viele jungen Menschen lieber die Straße, oder andere riskante Bewältigungsstrategien als in ihr Elternhaus zurückzukehren. Von solchen Konstellationen wird in einschlägigen Fachzeitschriften berichtet (vgl. Horn/ Lütkehus/ Tenbrink 2016, S. 16) und auch die Europäische Kommission konstatiert: „Unemployed young people have been particularly affected by the Hartz reforms. They are no longer supported to move out from the family home, and this was considered a ‘high risk’ strategy […]. Vulnerable young people who nonetheless leave home are said to be reduced to, sometimes highly risky, forms of self-help under the threat of benefits sanctions“ (Stephens et al. 2010, S. 218 f.).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Sanktionen, insbesondere Vollsanktionen und das Auszugsverbot im Rahmen des § 22 (5) SGB II gravierende Auswirkungen auf die soziale Lage der Betroffenen haben können. Zwar haben Jobcenter Mitarbeiter Spielraum, wie restriktiv die Sanktionsmöglichkeiten eingesetzt werden und die Anzahl der vollsanktionierten Personen ist gesunken, nichtsdestotrotz, herrscht im Rahmen des SGB II eine eklatante Benachteiligung der unter 25-Jährigen.
2.4 Junge Wohnungslose – Alter und geschlechtsspezifische Aspekte
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2.4 Junge Wohnungslose – Alter und geschlechtsspezifische Aspekte Eine Arbeit, die sich mit jungen Erwachsenen in der Wohnungslosigkeit befasst, kommt nicht umhin, auch die Klientel der Straßenkinder zu beachten. Es kann davon ausgegangen werden, dass einige der minderjährigen Straßenkinder auch in der Volljährigkeit wohnungslos bleiben werden und einige der momentan wohnungslosen jungen Erwachsenen auch als Straßenkinder gelebt haben. Diese Annahme trifft auch auf einige der Lebensgeschichten der Interviewpartner dieser Arbeit zu, die teilweise episodenhaft minderjährig auf der Straße leben mussten. Häufig wird fälschlicherweise angenommen, dass Kinder und Jugendliche, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, in Entwicklungsländern in Afrika, Südostasien oder Südamerika anzutreffen sind. Auch in Deutschland gibt es Kinder und Jugendliche, die ohne adäquates Obdach auskommen müssen. Eine genaue Klassifizierung ist schwierig, da die handelnden Institutionen nicht immer einheitliche Definitionen verwenden. Zur Anzahl der minderjährigen Wohnungslosen gibt es in Deutschland nur Mutmaßungen, die zum Teil weit auseinanderliegen, bzw. nicht wirklich vergleichbar sind. Die BAG W schätzt die Zahl der betroffenen Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 8 %, was etwa 32.000 wohnungslose Kinder bedeuten würde (vgl. bagw.de 2017a). Das Bündnis für Straßenkinder geht von ungefähr 9.000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, vermutet jedoch eine deutlich höhere Dunkelziffer (vgl. Hoch 2016a, S. 28). Die Stiftung ‘Off Road Kids’ wiederum schätzt, dass bis zu 2.500 Kinder und Jugendliche pro Jahr auf die Straße geraten (vgl. offroadkids.de 2015) und bezeichnet alle höher liegenden Zahlen als unseriös (vgl. offroadkids. de 2015a). Die Hochrechnungen erfolgen auf Basis von Teilgebieten, etwa einzelnen Bundesländern, auf Vergleichsdaten aus anderen europäischen Staaten, aus Stichtagserhebungen sowie auf Statistiken des Bundeskriminalamtes zu vermissten Minderjährigen. Inwiefern diese Quantifizierungen die tatsächliche Situation in Deutschland widerspiegeln und welche der Zahlen die Realität am genauestens abbildet, lässt sich nur schwer beurteilen, da sich die verschiedenen Zahlen zum Teil mit unterschiedlich zugrundeliegenden Definitionen erklären lassen. Für die Stiftung ‘Off Road Kids’ sind mit ‚Straßenkindern‘: „all diejenigen gemeint, die minderjährig sind und sich ohne offizielle Erlaubnis (Vormund) für einen nicht absehbaren Zeitraum abseits ihres gemeldeten Wohnsitzes aufhalten und faktisch obdachlos sind. Jugendliche, die sich mittags und
30
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand … abends ‘an der Straßenecke’ treffen und nachts Zuhause schlafen, zählen nicht dazu“ (offroadkids.de 2015b).
Die Definition umfasst also nur jene, die durch im ETHOS Light unter die erste (‘people living rough’) und letzte (‚Homeless people living temporarily in conventional housing with family and friends‘) operationale Kategorie erfasst werden. Die Zahlen der BAG W oder dem Bündnis für Straßenkinder sind also nicht zwingend unseriös, sie beziehen sich schlicht auf die weiter gefasste Definition von Wohnungslosigkeit mit weiteren vier Kategorien (vgl. Abschnitt 2.1.1.). Die deutsche Straßenkinderszene ist darüber hinaus sehr vielfältig und die Informationen, die von Sozialarbeitern an einem bestimmten Ort gesammelt werden, sind auf andere Orte (Stadtgebiete, Städte, Regionen) nicht zwingend übertragbar (vgl. Romahn 2000, S. 23). Darüber hinaus haben viele der Kinder und Jugendlichen, die scheinbar auf der Straße leben, einen bei ihren Eltern oder in einer Jugendhilfeeinrichtung angemeldeten Wohnsitz und werden somit nicht als Straßenkinder erfasst. Die meisten minderjährigen Wohnungslosen sind außerdem bemüht, nicht aufzufallen, was die Identifikation und eine verlässliche Quantifizierung weiter erschwert (vgl. ebd.). Der Wechsel von einem Zustand in einen anderen verläuft zumeist fließend und es entstehen unzählige Mischformen. Daher ist es nicht immer klar, ab wann Betroffene als Straßenjugendliche gelten können (vgl. Hoch 2016, S. 5). Da insgesamt erhebliche Unschärfen hinsichtlich der definitorischen Grenzen bei gleichzeitiger Heterogenität verschiedener Lebenslagen herrschen, entstehen nicht nur bei dem Versuch einer verlässlichen Quantifizierung, sondern auch bei einer näheren Bestimmung, Begriffserklärung und Typisierung Probleme. Minderjährigen Wohnungslosen wird im Folgenden ein eigenes Kapitel gewidmet, um Parallelen und Unterschiede zu jungen Volljährigen sowie älteren Wohnungslosen sichtbar zu machen.
2.4.1 Begriffsklärung und Typen von Straßenkindern In einer Definition des Deutschen Jugendinstituts e. V. ist ein zentraler Aspekt für Straßenkinder die Bedeutung der Straße als Handlungsraum. Das heißt, die Straße wird zur wesentlichen oder einzigen Sozialisationsinstanz und zum Lebensmittelpunkt der Kinder und Jugendlichen. Damit ist weitestgehend eine Abkehr von gesellschaftlich vorgesehenen Sozialisationsinstanzen wie Familie oder zumindest Jugendhilfeeinrichtungen verbunden (vgl. Projektgruppe Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen 1995, S. 138). Auch
2.4 Junge Wohnungslose – Alter und geschlechtsspezifische Aspekte
31
Fernandes identifiziert die Straße, nach der oftmals sukzessiven Abwendung von Familie, Jugendhilfeeinrichtungen und Schule als primären Sozialisationsort von Straßenkindern bzw. Straßenjugendlichen (vgl. Fernandes 2014, S. 326). Für Romahn sind Straßenkinder Kinder und Jugendliche, für die das Leben auf der Straße eine wichtige Rolle spielt, die sie wiederum in drei Gruppen unterteilt: Die erste Gruppe umfasst jene Kinder, die zwar tagsüber auf der Straße leben, aber noch zum Teil bei ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten übernachten. Die Straße ist für diese Kinder ein Ort der ‘kleinen Fluchten’. Es besteht die Gefahr, sich von der Schule und der Familie zu distanzieren oder von diesen ausgegrenzt zu werden. Häufig ist diese Situation vorübergehend und eine Vorstufe für die Kinder und Jugendlichen, die Familie endgültig zu verlassen (vgl. Romahn 2000, S. 10 f.). Die zweite Gruppe findet bei Freunden und Bekannten aus dem Milieu eine Unterkunft. Der Kontakt zur Familie ist zwar abgebrochen, aber das Kind lebt nicht ganz auf der Straße. Die Freunde ersetzen in dem Fall weitestgehend die Familie. Auch diese Situation ist provisorisch, da die Beziehungen zwischen Straßenkindern selten zuverlässig und beständig sind (vgl. ebd., S. 11). Die dritte Kategorie betrifft komplett ausgegrenzte Kinder und Jugendliche, die permanent auf der Straße leben. Für sie ist „die Straße der vorläufige Endpunkt einer langen Kette von mißlungenen (sic.) Integrationsversuchen. Solche Kinder finden zwar sporadisch Unterkunft bei Bekannten oder in Heimen, aber sie landen irgendwann wieder auf der Straße“ (ebd., S. 11). In der Literatur wird vornehmlich davon ausgegangen, dass Kinder, die längerfristig auf der Straße leben, eher die Ausnahme darstellen. Es wird angenommen, dass die meisten von ihnen wenige Tage ohne Obdach leben, dann bei Freunden unterkommen oder zu ihrer Herkunftsfamilie zurückkehren (vgl. Chamberlain/ MacKenzie 1998, S. 51 ff.). Das Institut für Soziale Arbeit (IfSA) hat nach Sichtung der relevanten Literatur drei verschiedene Unterkategorien von Kindern und Jugendlichen in besonderen Problemlagen entwickelt. Bei den Ausgegrenzten handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die von zu Hause oder aus Einrichtungen geflohen sind oder von den Eltern rausgeworfen wurden (vgl. Hansbauer 1996, S. 30). Hierzu sind auch minderjährige Asylbewerber und unbegleitete Flüchtlinge zu zählen, deren soziale Bindungen aufgrund ihrer besonderen Lebensumstände nicht mehr vorhanden sind. Bei dieser Gruppe ist die Straße der Endpunkt von misslungenen Integrationsversuchen und sie landen an Orten, die durch minimale Integrationserwartungen charakterisiert sind. Diese Kinder und Jugendlichen bewegen sich über längere Zeit in
32
2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
subkulturellen Kontexten und versuchen dadurch, sich den problematisch verlaufenen Sozialisationserfahrungen in Schule und Elternhaus zu entziehen (vgl. ebd.). Zur Gruppe der Auffälligen gehören Kinder und Jugendliche, die die Straße als Ort der Selbstinszenierung, bzw. der Identitätsfindung nutzen. „Von den üblichen Teilhabeformen am gesellschaftlichen Leben und den daraus resultierenden Möglichkeiten der Identitätsbildung ausgeschlossen, wird hier die ‚illegitime‘ Teilhabe an öffentlicher Aufmerksamkeit zu einem Moment der ‚Selbstvergewisserung‘“ (ebd., S. 31). Eine zentrale Bedeutung hat hier die mediale Öffentlichkeit und die daraus resultierende gesellschaftliche Beachtung der Straßenkinder (vgl. ebd.). Die Gruppe der Gefährdeten besteht aus Kindern und Jugendlichen, die sich der elterlichen Kontrolle für eine kurze Zeit entziehen wollen und die Straße als Ort der ‘kleinen Fluchten’ nutzen. Insbesondere sind solche Jugendlichen in Stadtteilen mit hohem Anteil an sozial schwachen, von Verarmung bedrohter, Familien zu finden. Hauptsächlich handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die in loser Verbindung zu gefährdenden Szenen stehen und oftmals zwischen regulären Sozialisationsinstanzen und diesen Szenen pendeln. Für die Betroffenen besteht die Gefahr, sich schnell von Schule und Elternhaus zu distanzieren und ausgegrenzt zu werden (vgl. ebd., S. 31 f.).
2.4.2 Alter und geschlechterdifferenzierende Aspekte von Straßenkindern Im Sinne des SGB VIII ist Kind, wer nicht das vierzehnte Lebensjahr vollendet hat (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII). Jugendlicher ist demgegenüber, wer „14 aber noch nicht 18 Jahre alt ist“ (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Der Begriff ‘Straßenkind’ scheint zumindest juristisch unangemessen, wenn das Alter der hauptsächlich Betroffenen berücksichtigt wird. Junge Straßenkinder unter dreizehn Jahren sind fast immer Kurzausreißer, die aus bestimmten Gründen von Zuhause weglaufen, aber innerhalb von 24 Stunden ins Elternhaus zurückkehren. Diese kurzen Etappen können, müssen aber nicht der erste Schritt zu einer ausgeprägten Straßenkarriere sein. Romahn geht davon aus, dass die meisten Straßenkinder vierzehn Jahre oder älter sind (vgl. Romahn 2000, S. 25) und somit meist juristisch nicht mehr unter die Kategorie der Kinder fallen. Die DJI Studie zur Situation von Straßenjugendlichen in Deutschland (vgl. Hoch 2016) hat unter anderem das Eintrittsalter in Straßenkarrieren ermittelt. Bei 279 Befragten lag sowohl der Durchschnitt als auch der Median bei einem Alter von 16 Jahren beim
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ersten Kontakt zur Straße. Das niedrigste Eintrittsalter lag in der Studie bei sechs Jahren (vgl. ebd., S. 31). Eine Parallele zu den volljährigen Wohnungslosen ist, dass die Straßenkarrieren von Mädchen häufig verdeckter verlaufen. Prostitution kann für einen Schlafplatz, wenn nicht sogar für ein ausreichendes Einkommen sorgen (vgl. ebd., S. 26). Es besteht auch die Gefahr, dass sie über männliche ‚Freunde‘, die ihnen Unterkunft gewähren, in Abhängigkeitsbeziehungen geraten (vgl. ebd.). Die Realitäten der Straße setzten Mädchen besonderen Bedrohungen aus, denn Übergriffe durch Szeneangehörige wie Fremde sowie Angst vor Überfällen und Vergewaltigungen gehören zum Alltag (vgl. ebd., S. 27; vgl. Permien/ Zink 1998, S. 268; vgl. Flick/ Röhnsch 2008, S. 206). „Whatever the case, prostitution or ‘survival sex’ (sex in exchange for money, food, or shelter) is a behavior in which many street youth engage“ (Mayers 2001, S. 152). Ein von Mayers interviewtes Mädchen, welches auf der Straße lebt, schildert ihre Erfahrung, dass betteln von Mädchen häufig mit eindeutigen Angeboten zur Prostitution einhergeht (vgl. ebd., S. 53). Sexuelle Abhängigkeitsverhältnisse und Prostitution treten dabei zwar vermehrt, aber keineswegs ausschließlich bei weiblichen Straßenkindern auf. Für Jungen sind Bewältigungsstrategien vorrangig von traditionell männlichen Verhaltensweisen geprägt: „Im männlichen Gebaren demonstrierten die Jungen untereinander Aggressionsbereitschaft, Unerschrockenheit und Souveränität […] die Identifikation mit einer ‘machistischen’ Männerrolle ermöglichte den Jungen […] eine informelle Rangordnung“ (Permien/ Zink 1998, S. 256 f.). Dazu zählt auch die Abwertung von schwächeren Jungen und Mädchen, die auf der Straße leben. Den wenigen Mädchen, die einen hohen Status in Cliquen erwerben konnten, gelang diese Positionierung meist durch die Übernahme solcher machistischer Männerrollen (vgl. ebd.). Da Durchsetzungsfähigkeit und Stärke als Vorteil gegenüber anderen ein wesentliches Moment des Überlebens auf der Straße sind, finden sich selten stabile Solidargemeinschaften unter Straßenkindern (vgl. Pfennig 1995, S. 38). Hoch findet in ihrer Untersuchung zwar Indizien dafür, dass Mädchen ein früheres Eintrittsalter in die Straßenkarrieren als Jungen vorweisen, diese Unterschiede sind anhand der erhobenen Daten zu minimal, um die Annahme bestätigen zu können (vgl. Hoch 2016, S. 33). Sowohl Jungen als auch Mädchen haben idealisierte Vorstellungen von Partnerschaften. Für die Mädchen ist mit einem Freund ein gewisser Schutz sowie die Hoffnung, Liebe und Beachtung zu erhalten, verbunden. Jungen träumen von einer Freundin als Retterin von außerhalb der Szene, mit deren Hilfe sie endgültig aus dem Straßenmilieu aussteigen können (vgl. ebd., S. 269 f.).
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2.4.3 Alltag von Straßenkindern: Kriminalität, Lebensort und Umgang mit Drogen Eine wesentliche Rolle in der Attraktivität von Straßenkarrieren für Kinder und Jugendliche spielt die Möglichkeit, sich mit der Polizei und Justiz zu konfrontieren. Dabei sind zwei Arten von Kriminalität zu unterscheiden. Delikte wie z. B. Vandalismus befriedigen das Bedürfnis nach Status und Anerkennung sowie Selbstdarstellung in der Gruppe und ermöglichen es, kurzzeitig der Langeweile zu entfliehen. Das autonome Leben in Notgemeinschaften erfordert darüber hinaus riskante, existenzsichernde Überlebensstrategien, die ebenfalls mit Kriminalität verbunden sind. Dazu gehören Prostitution, Bagatelldelikte wie häufiges Schwarzfahren, Diebstahl und Hehlerei sowie seltener Drogenhandel oder Gewaltdelikte (vgl. Romahn 2000, S. 33 f.). Somit werden die Jugendlichen in meist delinquente Netzwerke gezwungen. Palenski kommt zu dem Schluss, dass kriminelle Aktivitäten eine Notwendigkeit darstellen, um auf der Straße überleben zu können (vgl. Palenski zit. nach Mayers 2001, S. 149), da die Möglichkeiten legaler Bewältigungsstrategien im Straßenalltag äußerst begrenzt sind. In vielen Fällen sind die Kinder und Jugendlichen schon vor ihrer Zeit auf der Straße mit der Polizei in Konflikt geraten, was viele Probleme Zuhause oder in Heimen verschärft hat. Die Reaktionen von Eltern und Erziehungsberechtigten auf die Straftaten tragen häufig zu ersten Fluchten bei (vgl. Permien/ Zink 1998, S. 255). Die Jugendlichen begründen ihr delinquentes Verhalten zum einen mit den Zugzwängen des Straßenlebens, zum anderen wird auch deutlich, dass es sich häufig um Statusfragen und die Demonstration von Gruppenmacht und -stärke handelt (vgl. ebd., S. 257). Tagsüber leben die meisten Straßenkinder in Fußgängerzonen, Stadtzentren, in der Nähe der großstädtischen Haupt- oder U- Bahnhöfen sowie in Parkanlagen. Die meisten Betroffenen kommen aus den jeweiligen Großstädten oder aus dem Umland und bleiben in der Stadt. Einen Szenetourismus von entwurzelten Kindern und Jugendlichen gibt es kaum, nur ein kleiner Teil der Straßenkinder reist ab und zu in andere Städte (vgl. Romahn 2000, S. 30). In der Regel zeichnen sich diese Orte neben der zentralen Lage und guter Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln auch durch gute Flucht- und Rückzugsmöglichkeiten sowie eine Infrastruktur aus, die es erlaubt Bedürfnisse des täglichen Lebens (Essen, Trinken, Toiletten) zu befriedigen (vgl. Hansbauer 2000, S. 12). An Orten der Innenstadt finden die Jugendlichen Präsentierflächen, die sie bei Bedarf für Selbst- und Gruppeninszenierungen sowie für den Gelderwerb (betteln, schnorren) nutzen können, im Idealfall sind auch Versteck- und
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Rückzugsmöglichkeiten gegeben (vgl. Permien/ Zink 1998, S. 225). Nützliche Informationen über Schlafgelegenheiten privater Art oder zu Hilfeangeboten und Unterstützungsleistungen des sozialen Systems werden an solchen Orten ausgetauscht. Den Sozialraum der Straße, also Bahnhöfe oder geeignete Innenstadtorte müssen sich die Straßenkinder mit anderen Gruppen jugendlicher oder erwachsener Außenseiter teilen. Viele der Gruppen von Jugendlichen grenzen sich vehement und teilweise aggressiv gegen bestimmte Gruppierungen (z. B. ältere Wohnungslose) oder Szenen ab (vgl. ebd., S. 226 ff.). Der Konsum von Drogen ist eines der wesentlichen Begleitprobleme von Menschen, die auf der Straße leben und die Gruppe der Straßenkinder bildet hier keine Ausnahme. Der Konsum reicht von klassischen Suchtmitteln wie Nikotin, Alkohol und Medikamenten, über weiche Drogen (Cannabisprodukte, ‚legal highs‘) bis hin zu harten Drogen wie z. B. Heroin. In einer Studie von Russel haben 94 % der jungen Wohnungslosen Probleme mit „substance abuse“ (Russel zit. nach Mayers 2001, S. 155). „Nahezu alle [Straßenkinder] konsumieren mitunter exzessiv Alkohol und rauchen Cannabis. Dies sind die Basisdrogen der Straßenjugendlichen, die nicht weiter hinterfragt oder problematisiert werden“ (Permien/ Zink 1998, S. 259). Die DJI Studie reproduziert diese Annahmen zum Teil: So geben lediglich 30,9 % der Betroffenen an, täglich oder zumindest wöchentlich Alkohol zu konsumieren, ein deutlicheres Bild zeigt sich bei der Frage nach dem Konsum von illegalen Drogen. Mit 70,7 % hat der Großteil der Befragten Straßenjugendlichen Kontakt mit Rauschmitteln (vgl. Hoch 2016, S. 45 f.). Besonders bei jungen Menschen wiegt Substanzmissbrauch schwer, da der Konsum insbesondere vor der Pubertät einen gravierenden Risikofaktor darstellt (vgl. Bilke-Hentsch 2012, S. 446). Die Vorgeschichten vieler Jugendlicher zeigen, dass ihr Suchtverhalten ein vertrautes Handlungsschema ist, welches sie aus Familienzusammenhängen kennen und das sie auf der Straße lediglich fortsetzen (vgl. ebd.). Viele betroffene Kinder und Jugendliche geben an, ohne Alkohol oder Drogenkonsum den Alltag und den Kummer in der Wohnungslosigkeit nicht aushalten zu können. Außerdem besitzen Drogen, insbesondere in Cliquen, in denen sich überwiegend Jugendliche mit verfestigten Straßenkarrieren aufhalten, die Funktion eines sozialen Bindemittels. Drogen begründen gemeinsames Handeln innerhalb der Szene und gegenüber der Polizei (vgl. ebd., S. 261 f.). Permien und Zink fanden im Rahmen der von ihnen geführten Interviews Hinweise darauf, dass Drogen zwar einerseits gefürchtet sind, da sie abhängig machen und ins Wohnungslosenheim, Gefängnis oder in die Psychiatrie führen können, andererseits aber auch Spaß, Spannung und Faszination versprechen. Der versierte Umgang mit Drogen und das Austricksen der Polizei schafft Anerkennung und Bewunderung durch andere Jugendliche.
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Auch wenn viele junge Wohnungslose persönliche Grenzen deutlich machen, die in den meisten Fällen harte Drogen wie z. B. Heroin darstellen, scheitern viele Ausstiegsbemühungen daran, dass sie auf die vielfachen, individuell unterschiedlich relevanten Bedeutungsebenen von Drogen nicht sofort verzichten können (vgl. ebd., S. 262 ff.). Ein weiteres Merkmal von Menschen auf der Straße – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bilden hier keine Ausnahme – sind psychologische bzw. psychiatrische Auffälligkeiten. Hierzu folgt Whitbeck in einer Untersuchung jungen amerikanischen Ausreißern und Wohnungslosen in ihr Erwachsenendasein. Seine Studie „details the risk factors associated with homelessness including victimization, revictimization, and self injury“ (Whitbeck 2009, S. XIV) und versucht insbesondere die Langzeitfolgen von Phasen der Wohnungslosigkeit in der Jugend für das spätere Leben zu erfassen (vgl. ebd., S. 3). Der Fokus ist dabei psychologischer Natur: Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren wurden nach dem „Diagnostic Interview Schedule for Children Revisted (DISC-R) for conduct disorder“ (ebd.) und dem „University of Michigan-Composite International Diagnostic Interview (UM-CIDI)“ (ebd.) für depressive und posttraumatische Störungen sowie Substanzmissbrauch interviewt. Diese Befragung wurde drei Jahre lang, alle drei Monate wiederholt, bis die Probanden zwischen 19 und 22 Jahre alt waren. Nach der 13. Interviewwelle wurden die Teilnehmer zusätzlich auf eine „antisocial personality disorder“ (ebd.) gescreent. Whitbeck stellt eine bemerkenswerte Konstanz der psychischen Probleme fest. 83 % der männlichen und 70 % der weiblichen Probanden erfüllen im Alter von 16–19 Jahren Kriterien einer psychischen Störung (conduct disorder). Im Alter von 19–22 wird bei 88 % eine Persönlichkeitsstörung (antisocial personality disorder) diagnostiziert (vgl. ebd., S. 58). Whitbeck gibt aber zu bedenken, „that focusing simply on antisocial behaviors among these young people is far from the whole story. Depression, PTSD, and substance use all affect their attempts to adapt to life on their own in difficult circumstances, their ability to stablish adult relationships and to enter the labor force as they make the transition to young adulthood“ (ebd., S. 60).
Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Probanden leidet zusätzlich unter Depressionen (‚major depressive disorder‘), davon sind die Teilnehmerinnen etwas stärker betroffen. In der Untersuchung korrelieren Depressionen zusätzlich mit der sexuellen Orientierung, unter den homo- und bisexuellen Wohnungslosen kam es häufiger zu solchen Krankheitsbildern (vgl. ebd., S. 74). Insgesamt
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scheinen die Teilnehmer der Studie in einem Teufelskreis aus riskantem Verhalten, Opfererfahrungen und Depressionen gefangen zu sein. „Risky behaviors result in victimization, and victimization increases the likelihood of depressive symptoms. In turn, depressive symptoms may lead to self-medication with drugs and alcohol, which promote risky behaviors and risk of victimization“ (ebd., S. 76). Zwei Drittel der befragten Probanden wurden darüber hinaus Opfer physischer Gewalt durch ihre Erziehungsberechtigten und knapp die Hälfte der weiblichen Wohnungslosen hat sexuellen Missbrauch erlebt. Als Folge dieser Erfahrungen weisen ein Drittel der Untersuchungspopulation auch im jungen Erwachsenenalter Symptome der ‚posttraumatic stress disorder‘ (PTSD) auf (vgl. ebd., S. 87 ff.). Die Wahrscheinlichkeit, erneut Opfer von sexueller Gewalt zu werden, ist bei den Untersuchungsteilnehmerinnen auf der Straße deutlich höher, als bei gleichaltrigen Peers (vgl. ebd., S. 212). Beide Geschlechter der untersuchten Gruppe haben außerdem deutlich früher Geschlechtsverkehr, wechseln häufiger ihre Sexualpartner, infizieren sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit Geschlechtskrankheiten und bei den befragten Frauen kommt es häufiger zu einer Schwangerschaft (vgl. ebd., S. 214). Wie bereits mehrfach in dieser Arbeit angesprochen spielen Alkohol und Drogen für Menschen auf der Straße eine wichtige Rolle, Whitbecks Studie kommt zu keinem anderen Ergebnis. Verglichen mit gleichaltrigen Peers stellt er einen signifikant höheren Drogen- und Alkoholkonsum der jungen Wohnungslosen fest. Mit gesteigertem Substanzmissbrauch geht wiederum ein Anstieg von riskanten Überlebensstrategien, riskantem Sexualverhalten, selbstverletzenden Tendenzen und Stigmatisierung einher (vgl. ebd., S. 104 f.). „Indeed, substance abuse plays a role in nearly every negative event or outcome“ (ebd., S. 105). Bei den jungen Wohnungslosen können außerdem häufig selbstverletzendes Verhalten (vgl. ebd., S. 154) und suizidale Tendenzen beobachtet werden (vgl. ebd., S. 157). Diese Suizidversuche sollten dabei nicht als Hilfeschrei abgetan und verharmlost werden, denn von den Selbstmordversuchen der Probanden wurden etwa 60 % als lebensbedrohlich eingestuft und weitere 30 % mit einer „very high probability of death“ (ebd., S. 167) beschrieben. Die sozialen Netzwerke der Studienteilnehmer sind generell von Instabilität gekennzeichnet und es wird versucht, den fehlenden Halt einer Familie durch Straßennetzwerke zu kompensieren. Diese suggerieren zwar bis zu einem gewissen Punkt Sicherheit und sind für den Erwerb von Überlebensstrategien notwendig, verführen die Studienteilnehmer aber auch zu Substanzmissbrauch oder riskantem Verhalten. Bemerkenswert ist, dass es zu Beginn der Studie kaum Hinweise auf eine emotionale und instrumentelle Bindung der jungen
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Wohnungslosen an ihre Eltern gab, es aber im weiteren Verlauf der Studie wieder zu Annäherungen gekommen ist (vgl. ebd., S. 197 ff.). Whitbeck kommt in seiner Studie „Mental Health and Emerging Adulthood among Homeless Young People“ (2008) zu dem Schluss, dass es mit zunehmender Dauer auf der Straße für die jungen Menschen immer schwieriger wird, sich konventionelle Lebensentwürfe, gekennzeichnet durch Schule, Ausbildung, Arbeit und Familie anzueignen. Bestehende Bindungen zur Familie, Schule oder Nachbarschaft machen hingegen eine Rückkehr in ein geordnetes Leben wahrscheinlich. „It is in the areas of education, survival strategies, and housing that the cumulative consequences of early independence […] that lead them further and further away from conventional adjustment and that over time may make such adjustment difficult“ (ebd., S. 232). Whitbeck empfiehlt zwei Strategien, um Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen zu bekämpfen. Zunächst soll proaktiv dafür gesorgt werden, dass Jugendliche erst gar nicht auf der Straße landen und sich entsprechende Überlebensstrategien aneignen. Den Einstieg in die Straßenszene identifiziert er als ein weichenstellendes Ereignis, in welchem binnen kurzer Zeit der weitere Lebensweg der jungen Menschen massiv beeinflusst wird. Für eine gelungene Hilfe müsste noch vor der ersten Episode des Weglaufens und bevor sich bestimmte Probleme zementiert haben, eine familienbasierte Hilfe stattfinden. Die Unterstützung sollte aber nicht in allen Fällen auf eine Familienwiedervereinigung ausgelegt sein, da dies für viele der jungen Wohnungslosen keine Option sei (vgl. ebd., S. 252 f.). Dann ist es notwendig, besonders schnell aktiv zu werden, um die zu erreichen, die sich erst seit kurzem in der Szene bewegen. „If we can engage runaways early enough in the process, further damage can be avoided. If we cannot prevent runaway episodes or drifting out, the primary effort should be to prevent further victimization“ (ebd., S. 253). Dazu müssen entsprechende Anlaufstellen liberal gestaltet werden, da restriktive Regeln, z. B. bezüglich des Alkohol- oder Drogenkonsums, viele Wohnungslose abschrecken, sodass sie die Straße vorziehen. Hilfsangebote sind immer mit Aufwand verbunden. „It is true that developing innovative new strategies to address adolescent homelessness will take expertise, time, and money“ (ebd., S. 254). Die Ergebnisse seiner Studie lassen jedoch vermuten, dass sich frühe Aufwendungen, verglichen mit den Kosten, die andernfalls auf das Gesundheitssystem, die Suchtkrankenhilfe oder das Justizsystem zukommen, rentieren.
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2.4.4 Ursachen von Straßenkarrieren bei Kindern und Jugendlichen Die Projektgruppe Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen unterteilt die Ursachen einer Straßenkarriere in zwei Kategorien: Die Ausgrenzungsprozesse in den Sozialisationsmilieus als sogenannte Push-Faktoren und die Gelegenheitsstrukturen sowie die Anziehungskraft der Straße (die Straße als Gegenentwurf zum grauen Alltag, mit idealisierten Vorstellungen von Freiheit und Abenteuer) als Pull-Faktoren (vgl. Projektgruppe Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen 1995, S. 70). Sozialisationstheoretische Erklärungsversuche führen unterschiedliche Belastungsfaktoren an: materielle, soziale und berufliche Mangel- und Konfliktlagen der Eltern, misslungene Paarbeziehungen, Beziehungsabbrüche, Schwierigkeiten Erziehungsaufgaben wahrzunehmen (vgl. Liesenhoff 1994, S. 6). „Das Weglaufen der Kinder ist daher als Problemlösungsversuch zu verstehen. Weglaufen als Versuch, Spannung zu reduzieren, Weglaufen als Signal, Weglaufen als Reaktion auf ambivalente Beziehungsangebote und Ablehnung, aber auch Weglaufen als Suche nach neuer Orientierung“ (ebd.).
Es liegt nahe, dass die wesentlichen Ursachen für das Leben auf der Straße in den familiären Beziehungen zu finden sind. Viele Straßenkinder kommen aus Familien, in denen sie Opfer von psychischer, physischer oder sexualisierter Gewalt wurden (vgl. Romahn 2000, S. 48; Mayers 2001, S. 135; Zerger et al. 2008, S. 829). „Childhood abuse and family disorganization are common themes in the homes of many young people prior to their running away“ (Tyler/ Schmitz 2013, S. 1720). Diese Annahme scheint sich in aktuelleren Erhebungen zu bestätigen: Mit 45,3 % werden in der DJI Studie vom Großteil der Befragten familiäre Gründe als Auslöser für ihre Straßenepisode angegeben (vgl. Hoch 2016, S. 35). Darunter fallen Konflikte und Probleme mit den Eltern, schlechte Wohnverhältnisse im Elternhaus sowie Flucht vor Gewalt und Missbrauch (vgl. ebd.). Zu den Pull-Faktoren gehören idealisierte Vorstellungen des Lebens auf der Straße. „For some kids panning [ugs. Bettelei (panhandling)] is an opportunity to live out the romantic view of the free, boundless bohemian“ (Mayers 2001, S. 55). Mayers konstatiert weiter: „It seems that some kids frame their experience of life on the street as being the gateway to freedom, the ultimate in being real, authentic, alive“ (ebd., S. 56).
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Es gibt somit scheinbar weitläufige Parallelen zwischen Straßenkindern und jungen volljährigen Wohnungslosen. Das Leben auf der Straße ist – unabhängig vom Alter – mit bestimmten Herausforderungen, Risiken und Widrigkeiten verbunden. Alkohol-, bzw. Drogenmissbrauch spielt sowohl bei jungen als auch bei älteren Betroffenen eine substantielle Rolle. Frauen sind auf der Straße vermehrt der Gefahr von sexueller Gewalt ausgesetzt und können leicht in Abhängigkeitsbeziehungen geraten. Es ist wahrscheinlich, dass dieses Risiko für minderjährige und unerfahrene Mädchen deutlich erhöht ist. Die Situation von jungen Wohnungslosen, beschreiben Frietsch und Holbach treffend durch „[g]ravierend-komplexe Problemlagen“ (Frietsch/ Holbach 2016, S. 92) gekennzeichnet. Sie stellen, wie im Abschnitt 2.4.2 beschrieben, in ihrer Studie einen eindeutigen Trend zur „Verjüngung der Klientiennen und Klienten“ sowie eine „Tendenz außergewöhnlichen Erhöhung der Klienten und Klientinnenzahlen“ fest (ebd., S. 106). Außerdem wurde eine „eindeutige Zunahme der psychischen Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrischen Krankheitsbilder – vor allem in der Gruppe der U25 – festgestellt. Analoges gilt für Substanzgebrauchsund Suchtstörungen“ (ebd., S. 106 f.). Zusammengefasst konstituiert sich die Symptomatik Wohnungslosigkeit aus den Merkmalen niedriger Schulabschluss, Arbeitslosigkeit, Suchtprobleme, Überschuldung, justizielle Belastungen sowie psychische Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrische Krankheitsbilder (vgl. ebd., S. 107 f.). Dies gilt gleichermaßen für ältere, junge volljährige und minderjährige Wohnungslose.
2.4.5 Junge Menschen in der Wohnungslosigkeit Wohnungslosigkeit ist besonders bei heranwachsenden Menschen fatal. Die Hypothese der sozialen Adaption/ „social adaption“ (Johnson/ Chamberlain 2008, S. 563) geht davon aus, dass junge Menschen mit zunehmendem Verbleib in der Wohnungslosigkeit diesen Weg mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als ihren „way of life“ (ebd.) adaptieren. Johnson und Chamberlain untersuchten dazu 1.677 Individuen, die im Alter von unter 18 Jahren wohnungslos wurden. Es zeigt sich, dass es mit anhaltender Wohnungslosigkeit immer schwieriger wird, die Straße zu verlassen (vgl. ebd.). Die Tendenz, dass Straßenkarrieren mit zunehmendem Alter länger werden und sich verfestigen, bestätigt sich in weitern Studien (vgl. Hoch 2016, S. 29). Zur Veranschaulichung führen Chamberlain und MacKenzie den Fall Maria an, die sich immer weiter von ihrer Familie löst und die Straße als Lebensmittelpunkt annimmt: „At a later stage, she has accepted homelessness as a way
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of life, and become part of the sub-culture of chronic homelessness. We call this the transition to chronicity“ (Chamberlain/ MacKenzie 1998, S. 57). Die soziale Adaption beinhaltet die Idee, dass wohnungslose Menschen Freundschaften oder Beziehungen auf der Straße knüpfen und dadurch ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, welches ihnen vorher gefehlt hat. Gleichermaßen verlieren sie den Kontakt zu Verwandten oder Freunden, die in geregelten Verhältnissen leben (vgl. Johnson/ Chamberlain 2008, S. 569). Außerdem werden die Menschen in die Subkultur der Straße eingeführt und erlernen entsprechende Überlebensstrategien, z. B. Drogenkonsum, die wiederum eine Rückkehr in ein geordnetes Leben erschweren. „When homeless people have substance use issues their day-to-day life is structured by the need to raise money and things like food and paying for accommodation commonly fall by the wayside“ (ebd., S. 574). Zusätzlich können sich die Betroffenen mit zunehmender Dauer besser an ihre prekäre Situation anpassen und gewöhnen sich z. B. daran, in unkonventionellen Unterkünften zu schlafen. „These teenagers develop a complex range of street skills to get by, and many have an extensive practical knowledge of the welfare system. It inerancy is common, and most of the time they no longer express a strong disposition to change their lifestyle“ (Chamberlain/ MacKenzie 1998, S. 57). Ein zusätzlicher Problemfaktor für junge Menschen auf der Straße ist die Verzögerung der Entwicklung zum Erwachsenen durch szenetypische Elemente. Dazu zählen unter anderem Substanzmissbrauch, Stress, psychische Probleme, chronische Krankheit, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch, die besonders heranwachsende Jugendliche in ihrer Entwicklung hemmen (vgl. Zerger et al. 2008, S. 828). Ein Leben auf der Straße, entsprechend der ersten Kategorie des ETHOS light (‘people living rough’), geht meist mit einem Verlust von Selbstwertgefühl und schlechterem Gesundheitszustand einher. „When people’s physical health, appearance and self-esteem decline, it often works to reinforce their exclusion from mainstream institutions“ (Johnson/ Chamberlain 2008, 575). Somit liegt es nahe, besonders früh zu intervenieren und gegebenenfalls präventiv zu arbeiten. „Early intervention refers to measures to help young people as soon as possible after they become homeless. Preventative strategies include: individual support for young people who are perceptibly at risk; school strategies directed towards all young people; and strategies focusing on groups with higher risk levels“ (Chamberlain/ MacKenzie 1998, S. 115).
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Dazu entwerfen Chamberlain und MacKenzie ein Skalensystem, mit dem bedrohte Klienten identifiziert werden können. Es werden Fragen gestellt, ob sich die Jugendlichen zuhause glücklich fühlen oder schon einmal weggelaufen sind. Chamberlain und MacKenzie schlagen vor, ein solches Frühwarnsystem z. B. in Schulen zu installieren (vgl. ebd., S. 91). Ein wesentlicher Aspekt von früher Intervention ist die Kosteneffektivität (vgl. ebd., S. 142 f.).: „[The] key economic costs of youth homelessness focusing on labour market efficiency, health related costs, and involvement in the criminal justice system“ (ebd., S. 143). Mit Präventivarbeit können die Folgekosten, die zwangsläufig mit Wohnungslosigkeit verbunden sind, verringert werden. Das generelle Problem von Präventivarbeit, dass die Wirksamkeit nicht schlüssig nachgewiesen werden kann, stellt sich auch hier. „However, it has also been claimed that early intervention is an expensive policy that does not have clearly identified outcomes“ (Johnson/ Chamberlain 2008, S. 565). Das wesentliche Argument für eine Präventivarbeit ist dabei die Vorstellung einer Art dauerhafter Straßenkarriere: „A series of transitions from one stage of the process to another. Early intervention and prevention are points for intervention along this continuum of experience. Early intervention refers to measures taken as soon as possible after a young person becomes homeless – at the beginning of the homeless career“ (Chamberlain/ MacKenzie 1998, S. 115).
Die Beiden schlagen drei wesentliche Punkte vor, wie mit (drohender) Wohnungslosigkeit umgegangen werden kann. Zunächst sei es wichtig, die jungen Wohnungslosen wieder mit ihrer Herkunftsfamilie zu verbinden und zu versöhnen. Den Familien müsse geholfen werden, Konflikte selber zu lösen und ihre Kommunikation zu verbessern (vgl. Johnson/ Chamberlain 2008, S. 577). Des Weiteren sollen besonders Risikogruppen fokussiert werden. Mehrere Studien legen nahe, dass besonders Kinder und Jugendliche, die in Heimen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind, von Wohnungslosigkeit bedroht sind (vgl. Bassuk et al. 1997, S. 246; Penzerro 2003, S. 229; Piliavin 1996, S. 37; Zugazaga 2004, S. 650; siehe auch Abschnitt 2.7.6). Diese Zielgruppe („people at risk“) müsse intensiver betreut und vorbereitet werden (vgl. Johnson/ Chamberlain 2008, S. 577). Als dritter Schritt müsse eine adäquate Langzeitunterstützung installiert werden, da viele Wohnungslose zwar kurzzeitig den Schritt in eine konventionelle Unterkunft schaffen, häufig aber wieder ihre Wohnung verlieren (vgl. ebd.). Dies liegt an häufig ungelösten Problemen wie Arbeitslosigkeit, sozialen Netzwerken in der Subkultur der Wohnungslosen und/ oder Drogenabhängigkeit. Zumindest der letzte Punkt muss nach aktuellen Studien, die im Rahmen des
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relativ neuen Konzeptes ‚housing first‘ erhoben wurden, hinterfragt werden. In verschiedenen Untersuchungen wurden sehr hohe Wohnerhalt-Quoten (von 80 bis über 90 %) – auch bei Wohnungslosen mit psychiatrischer Diagnose – festgestellt (vgl. Busch-Geertsma 2017, S. 20). Inwieweit ein solch präventives System sinnvoll und umsetzbar wäre, kann in der gebotenen Ausführlichkeit an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Die Beiden plädieren aber schlüssig, dass besonders junge Erwachsene mit institutioneller Hilfeerfahrung eine substantielle Gruppe darstellen, die im Diskurs beachtet werden muss.
2.5 Einblicke in ausgewählte Studien Neben dem aktuellen Forschungsstand zum Thema Wohnungslosigkeit generell (siehe Abschnitt 2.1 bis 2.3) und der Lage junger Wohnungsloser im Speziellen (siehe Abschnitt 2.4 sowie 2.7), werden im Anschluss einige exemplarische Studien angeführt, die sich durch eine besondere Nähe zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit auszeichnen. Es handelt sich dabei um Untersuchungen, welche verschiedene Pfade junger Menschen in und aus der Wohnungslosigkeit nachzeichnen (vgl. Mallet et al. 2010), welche die Auswirkungen von sozialpädagogischen Hilfen auf den Verlauf von Straßenkarrieren betrachten (vgl. Mücher 2010) oder nach „empirisch begründeten […] Verlaufsmuster[n] von ‚disconnected youth‘“ (Mögling et al. 2015, S. 12) fragen. Diese Untersuchungen sind insofern von besonderem Interesse, da sich die Ergebnisse in Bezug zu den Erkenntnissen der vorliegenden Erhebung in Bezug setzen, bzw. diskutieren lassen.
2.5.1 Mallet et al. – „Young people’s pathways in and through homelessness“ „Moving Out, Moving On – Young people’s pathways in and through homelessness“ (Mallet et al. 2010) ist die Veröffentlichung zu einer Längsschnittstudie, die zwischen Dezember 2000 und August 2002 in Melbourne, Australien durchgeführt wurde. Mallet et al. untersuchten dabei „young people’s pathways into and through homelessness. We describe the complexity of their pathways and identify the factors that make a difference to their lives and especially their capacity to exit homelessness“ (Mallet et al. 2010, S. 1).
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Im sogenannten Project i wurden junge Menschen rekrutiert, die unterschiedlich lange auf der Straße gelebt haben. Dabei konnten zwei Gruppen gebildet werden: Die erste Gruppe besteht aus relativ unerfahrenen, wohnungslosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem Durchschnittsalter von siebzehn Jahren, die weniger als sechs Monate wohnungslos waren und durchgehend Kontakt zu ihren Herkunftsfamilien hatten (77 männliche und 88 weibliche Personen) (vgl. ebd., S. 36). Die zweite Gruppe (266 männliche und 261 weibliche Personen) hatte mehr Straßenerfahrung aufzuweisen und war seit über sechs Monaten ohne familiäre Kontakte wohnungslos (vgl. ebd.). Zunächst wurde eine umfangreiche Erhebung unter den so rekrutierten Wohnungslosen durchgeführt, wobei Fragen zur bisherigen Unterkunft, Drogen sowie Alkoholkonsum, sexuellen Praktiken, Geschlechtskrankheiten, psychischen Problem, Gesundheitszustand, Familienkontakt, sozialen Kontakten, Freunde, Einkommen, Ressourcen, Bildung, Beschäftigung, Überlebenskünste und Kontakt zum Hilfesystem gestellt wurden (vgl. ebd., S. 37). Nach den Kriterien Geschlecht, Alter und Kontakt zum Hilfesystem wurden aus dem Teilnehmerfeld 40 Personen ausgewählt, die achtzehn Monate nach dem Erstkontakt erneut interviewt wurden. Im Interview wurden sie gebeten, ihre Erfahrungen in der Wohnungslosigkeit, die Gründe ihre Familie zu verlassen, ihre Unterkünfte, ihre Bildung und Beschäftigungen, Krankheitsgeschichte sowie ihre sozialen Kontakte, ihre Beziehung zum Hilfesystem und ihre diesbezügliche Zufriedenheit darzulegen (vgl. ebd.). Daraus konnten Mallet et al. vier typische Verlaufspfade (‚pathways‘) konstruieren. Die erste Gruppe, die Mallet et al. unter dem Pfad on the streets zusammenfassen, stammt hauptsächlich aus zerrütteten Familien, in denen sie Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch gemacht haben (vgl. ebd., S. 78 ff.). Die zweite Gruppe hat weniger Erfahrungen mit Gewalt oder Missbrauch in ihrer Herkunftsfamilie gemacht. Das essentielle Merkmal dieser Gruppe ist, dass die Mitglieder durch einen guten Kontakt zum Hilfesystem gelernt haben, die Dienstleistungen zu bekommen, die ihre Grundbedürfnisse sicherstellen. Diesen Pfad bezeichnen Mallet et al. als using the system. Zwar spielt gelegentlicher Konsum von (weichen) Drogen eine Rolle, physische Abhängigkeit oder harte Drogen hingegen nicht (vgl. ebd., S. 96 ff.). Die dritte Gruppe, in and out of home, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Beteiligten zwar häufig nach kurzer Wohnungslosigkeit wieder Zuhause leben, aber viele ungelöste Probleme in den Herkunftsfamilien dazu führen, dass sie permanent der Gefahr einer erneuten Obdachlosigkeit ausgesetzt sind (vgl. ebd., S. 117 ff.).
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Der vierten Gruppe – going home – gehören jene an, die nur eine kurze Zeit wohnungslos waren und währenddessen weiterhin einen relativ positiven Kontakt zu Familienmitgliedern aufrechterhalten haben. Durch konstante Unterstützung auch in Phasen der Wohnungslosigkeit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, wieder in ihre Familien zurückzukehren (vgl. ebd., S. 140 ff.). Im folgenden Abschnitt sollen die im Rahmen des project i konstruierten Pfade näher erläutert werden. Mallet et al. erklären zunächst die Gründe, warum die Probanden der jeweiligen pathways auf der Straße gelandet sind. Anschließend werden in den jeweiligen Pfaden die Aspekte der Unterkunft, Gewalterfahrungen, Drogenkonsum, psychische und physische Gesundheit, Bildung und Beschäftigung, Kontakt zum Hilfesystem, Beziehungen sowie die Einstellung zur Zukunft erörtert.
2.5.1.1 Pathway ‘on the streets’ Dieser Pfad wurde weiter in zwei Kategorien „dropped out – seeking independence“ (ebd., S. 47) und „kicked out – fleeing abuse“ (ebd., S. 48) unterteilt, um die genaueren Umstände der Wohnungslosigkeit zu klären. Bei der ersten Kategorie unterscheiden die Autoren wieder zwei Muster: Einige der Befragten haben sich aktiv dazu entschieden ihr Zuhause zu verlassen, um nach eigenen Regeln unabhängig leben zu können, oder zumindest passiv durch ein Beharren auf einem Lebensstil einen Rauswurf forciert. Die Betroffenen der dropped out Kategorie haben, von Freunden und bestimmten Lebensstilen beeinflusst, gegen ihr Elternhaus und die damit verbundenen Grenzen und Regeln rebelliert. Ein Leben auf der Straße schien durch Vorstellungen von Abenteuer, Freiheit und Unabhängigkeit attraktiv (vgl. ebd., S. 48). Die Umstände, unter denen die Probanden der Kategorie kicked out – fleeing abuse ihre Herkunftsfamilie verlassen mussten, waren vornehmlich durch Gewalt und Vernachlässigung geprägt. „As children they experienced extreme violence and neglect from parents who, for a variety of reasons, where unable to provide them with stable home environments“ (ebd.). Die Geschichten der Interviewpartner unterscheiden sich zwar untereinander, ein immanentes Element ist aber die Erfahrung von massiver Gewalt in Kindheit und Jugend (vgl. ebd., S. 48 ff.). Die Gruppe on the streets lebte über einen langen Zeitraum in „highly unstable accomodation“ (ebd., S. 78), womit heruntergekommene Wohnungen ohne Bad, Zelte oder Autos gemeint sind. Des Weiteren haben die Interviewpartner häufig die Unterkunft gewechselt und kamen teilweise in Hotels oder Übernachtungsheimen unter (vgl. ebd., S. 78 f.).
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Gewalt war dabei für viele dieses Pfades der Hauptgrund ihre Herkunftsfamilien zu verlassen und blieb auch im Laufe ihres Lebens auf der Straße ein konstantes Thema. Die Interviewpartner waren sowohl Opfer (Gewalt durch Partner, Eltern, Stiefeltern) als auch Täter (Raub, bewaffnete Überfälle) im Laufe ihrer Biografie. Diejenigen, die bereits in ihrer Familie Gewalt erlebt haben, wurden später eher selber gewalttätig, während die, die im Weitesten von Gewalt in der Familie verschont geblieben sind, auf der Straße eher Opfer von Gewalt wurden (vgl. ebd., S. 82). Der Gesundheitszustand der Mitglieder dieses Pfades war insgesamt schlecht. „All five of these young people […] experienced significant mental health problems, particularly depression“ (ebd., S. 82). Induziert von den psychischen Problemen kam es zusätzlich zu physischen Schwierigkeiten. Es wurden Selbstverletzung, Essstörungen oder Suizidversuche festgestellt und trotz dieser Problematik kam es höchstens zu sporadischer Behandlung (vgl. ebd., S. 83). Für alle Probanden in diesem Pfad hat Drogenkonsum vor und während ihrer Zeit in der Wohnungslosigkeit eine wichtige Rolle gespielt (vgl. ebd.). Eigener Drogenkonsum und die daraus resultierenden Konflikte mit den Eltern, als auch Alkoholsucht bei den Erziehungsberechtigten selbst (vgl. ebd., S. 51) führten zu Konflikten. Abhängigkeit war mitunter ein Faktor, der eine Rückkehr in ein stabiles Leben verhindert hat und mit Ausnahme von einem Interviewpartner hat kein weiterer Proband dieses pathway die zwölfte Klasse abgeschlossen. Anstelle von Schule, Bildung oder einer Arbeit stand und steht der tägliche Überlebenskampf (vgl. ebd., S. 86 f.). Auffällig ist, dass die Wohnungslosen nur in Ausnahmesituationen Kontakt zum Hilfesystem suchten und somit ihre Unabhängigkeit über Sicherheit oder Unterstützung stellten. Insgesamt dominierten in dieser Gruppe negative Erfahrungen mit dem Hilfesystem (vgl. ebd., S. 87 f.). Überraschenderweise war eine weitere Schlüsselcharakteristik dieser Gruppe, dass die Personen eine positive Einstellung gegenüber ihrer Zukunft teilten. „[…] [T]heir hopes and aspirations were conventional and typically involved stable employment, long-term relationships, children and secure accommodation“ (ebd., S. 92). Einige der Wohnungslosen hatten hinsichtlich ihrer Zukunft konkrete Pläne und Vorstellungen, andere eher vage Hoffnungen. Die Überschneidung liegt darin, dass sich Alle eine sichere Beschäftigung, stabile Beziehungen und angemessene Unterkunft wünschten (vgl. ebd., S. 92 ff.).
2.5.1.2 Pathway ‘using the system’ Die Personen dieser Gruppe haben ihre Familie verlassen, da sie sich nicht länger willkommen oder zugehörig gefühlt haben (vgl. ebd., S. 52 f.).
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Im Unterschied zur on the streets Gruppe haben die sieben Personen dieses pathways kaum – und wenn, dann nur für eine sehr kurze Zeitspanne – auf der Straße gelebt. Sie kamen bei Freunden oder in Hilfsunterkünften, Asylen und Wohnungslosenheimen unter. Sie haben sich aktiv um Hilfe bemüht und sich an die entsprechenden Institutionen gewandt (vgl. ebd., S. 102 f.). Ein weiterer Unterschied zum ersten Pfad besteht darin, dass die jungen Erwachsenen in den Wohnungslosenheimen Sicherheit und Stabilität anstelle von Freiheit und Abenteuer auf der Straße gesucht haben. Den damit einhergehenden strukturierten Tagesablauf und die Pflicht, die Schule zu besuchen wurde von den Probanden sogar als positiv bewertet (vgl. ebd.). Die Familienbeziehungen der using the system Gruppe waren, verglichen mit denen der anderen wohnungslosen Jugendlichen, insgesamt stabiler. „Despite this, familial violence was a contributing factor in five of the seven in this grouping becoming homeless“ (ebd., S. 58). Entgegen den vorherrschenden Klischeevorstellungen ging die Gewalt dabei eher von den Müttern, als von den Vätern aus (vgl. ebd.). Ein weiterer, essentieller Unterschied zur on the streets Gruppe bestand darin, dass Gewalt vor Eintritt in die Wohnungslosigkeit zwar eine Rolle gespielt hat, während der Wohnungslosigkeit hatte aber keiner der Personen dieser Gruppe Gewalterfahrungen erlebt (vgl. ebd., S. 108). Es liegt nahe, dass Hilfsunterkünfte zumindest die permanente Gefahr von Gewalt verringert, die mit einem Leben ‚rough‘ auf der Straße zwangsläufig einhergeht. Trotz der relativen Stabilität und Sicherheit ihrer Unterkunft, sind psychische Probleme und emotionale Instabilität ein Kennzeichen dieser Gruppe. „Feelings of rejection and abandonment triggered reactive depression in all seven young people and resulted in five of them self-harming and/ or attempting suicide” (ebd., S. 104). Die psychischen Probleme haben zu einem insgesamt schlechten Gesundheitszustand geführt und Gewichtsverlust, Magenkrämpfe und Kopfschmerzen wurden als Symptome genannt (vgl. ebd., S. 106). Drogenkonsum ist in diesem Pfad kein relevanter Faktor. Zwar haben einige dieser Gruppe Alkohol, Zigaretten und Marihuana ausprobiert, dieses Verhalten aber nicht beibehalten oder exzessiv ausgelebt (vgl. ebd., S. 60 und S. 107 f.). Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zur on the streets Gruppe bestand darin, dass die Mitglieder des using the system Pfades Zugang zu Bildung und Beschäftigung hatten (vgl. ebd., S. 108). Durch die sichere, stabile Unterstützung durch das Hilfesystem konnten die Betroffenen weitestgehend unabhängig von ihren Familien leben. Die jungen Wohnungslosen des using the system Pfades teilten die positive Einstellung zu ihrer Zukunft mit den Mitgliedern der on the streets Gruppe (vgl. ebd., S. 109 f.)
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
und haben ambitionierte, aber durchaus realistische Ziele was Beruf, Familiengründung oder Studium angeht (vgl. ebd., S. 113 f.).
2.5.1.3 Pathway ‘in and out of home’ Als Ursache der Wohnungslosigkeit wurden in dieser Gruppe hauptsächlich psychische Probleme und Drogen- sowie Alkoholmissbrauch genannt. Im Gegensatz zur using the system Gruppe, bei denen psychische Probleme erst als Resultat der Wohnungslosigkeit auftraten, war der psychische Zustand hier für die weiblichen Probanden der Auslöser für die Wohnungslosigkeit (vgl. ebd., S. 61). Für die beiden männlichen Mitglieder war das eigene, problematische (Schulabstinenz) und häufig kriminelle Verhalten (Drogenmissbrauch, Drogenhandel, Diebstahl) der Grund, die Familie zu verlassen (vgl. ebd., S. 64 ff.). Mallet et al. fassen zusammen: „The dominant shared elements in these young people’s routes into homelessness were severe parental and personal mental illness, external family crises, personal drug use and in two cases, family conflict caused in large part by the young people’s self-assessed problematic behavior“ (ebd., S. 68).
Bezüglich ihrer Unterkunft sind die Betroffenen dieses Pfades relativ gut versorgt. Zum Zeitpunkt der Befragung lebten alle Interviewpartner entweder wieder bei ihren Herkunftsfamilien oder in Mietwohnungen. Dennoch sind sie durch die ungelösten familiären Probleme konstant der Gefahr einer erneuten Wohnungslosigkeit ausgesetzt. Abgesehen von einer sicheren Unterkunft teilt die in and out of home pathways Gruppe mehr Merkmale mit dem on the streets als dem using the system pathway. In der Zeit, in der die Mitglieder dieses Pfades nicht bei ihren Eltern leben konnten, sind sie entweder in Hilfeeinrichtungen, bei wechselnden Freunden oder nahen Verwandten mittels couch surfing untergekommen. Eine längere Zeit auf der Straße hat keiner dieser Gruppe verbracht (vgl. ebd., S. 118 ff.). Mit einer Ausnahme war Gewalt (weder als Täter noch als Opfer) kein relevanter Faktor für diese Gruppe (vgl. ebd., S. 124), stattdessen haben die zugehörigen Jugendlichen mit psychischen Problemen wie Depressionen, Panikattacken oder Suizidalität zu kämpfen und haben mehrheitlich Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen hinter sich. Der schlechte physische und psychische Gesundheitszustand wurde durch massiven Drogenmissbrauch dieser Gruppe bedingt. Mit einer Ausnahme fallen die Probanden dieses Pfades durch exzessiven Substanzmissbrauch auf.
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Der Kontakt zum Hilfesystem war im in and out of home pathway teilweise ausgeprägter bei den using the system Peers, was sich durch die psychischen Probleme erklären lässt. Dementsprechend wurden fast ausschließlich gesundheitsbezogene Angebote des Hilfesystems wahrgenommen. Die Personen dieser Gruppe haben im Laufe der 18 Monate weiter regelmäßig die Schule besucht oder zumindest zeitweise gearbeitet (vgl. ebd., S. 123 f.). Im Kontrast zu den vorigen beiden pathways, waren die jungen Menschen dieser Gruppe skeptisch ihrer Zukunft gegenüber und hatten keine konkreten, realistischen Ziele oder Vorstellungen.
2.5.1.4 Pathway ‘going home’ Der going home Pfad ist durch familiäre Konflikte charakterisiert, die die Interviewpartner selber ausgelöst haben. Auf der Suche nach Unabhängigkeit haben sie massiv gegen ihr Elternhaus rebelliert, bis sich die Erziehungsberechtigten dazu gezwungen sahen, ihre Kinder rauszuwerfen. Generell haben Drogen, Alkoholmissbrauch, psychische Probleme oder Gewalt in dieser Gruppe nur eine untergeordnete Rolle gespielt, was ein schnelles Ende der Wohnungslosigkeit begünstigt hat (vgl. ebd., S. 67). Hauptsächlich konnten die jungen Menschen in den Phasen der Krise bei Verwandten oder Freunden unterkommen. Durch die sichere Unterkunft wurden Obdachlosenasyle nur in Ausnahmefällen und kurzzeitig frequentiert. Außerdem wurden die Probanden durch die Fürsorge und materielle wie emotionale Unterstützung von nahen Verwandten bzw. Freunden unterstützt (vgl. ebd., S. 144), weswegen nur sporadisch Kontakt zum Hilfesystem aufgenommen werden musste. Des Weiteren haben die Probanden dieser Gruppe mehrheitlich konstant die Schule besucht oder waren in einem festen Beschäftigungsverhältnis angestellt. Gesundheits- und Drogenprobleme wurden hier hauptsächlich durch die Phasen der Wohnungslosigkeit ausgelöst, indem die Interviewpartner trotz Unterstützung Schwierigkeiten hatten, auf ihre Ernährung zu achten und ihren Drogenkonsum gesteigert hatten. Gegen Ende der Studie haben die jungen Erwachsenen ihren Substanzmissbrauch komplett eingestellt oder zumindest reduziert (ebd., S. 152 f.). Ein ähnlicher Verlauf kann bei den psychischen Problemen festgestellt werden. Über den Zeitraum der Studie nahmen diese zwar in Phasen der Krise zu, mit dem Ende der Wohnungslosigkeit hat sich der psychische Zustand jedoch wieder verbessert (vgl. ebd., S. 155). Verglichen mit den vorherigen drei Pfaden waren die jungen Menschen dieser Gruppe eine vergleichsweise kurze Zeit wohnungslos und hatten in dieser Phase auch eine relativ sichere Unterkunft sowie die durchgehende Unterstützung von Freunden oder Verwandten. „The ability of the young people in the going
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home pathway to exercise their Agency and to make choices directed towards more positive futures for themselves is what enabled them to transition through homelessness back into stable accommodation“ (ebd., S. 160).
2.5.2 Mücher – „Prekäre Hilfen?“ In seiner Studie „Prekäre Hilfe? – Soziale Arbeit aus der Sicht wohnungsloser Jugendlicher“ (Mücher 2010) beschäftigt sich Mücher mit der Frage, wie „wohnungslose Jugendliche als Adressaten Sozialer Arbeit sozialpädagogische Hilfen in Anspruch nehmen und welche Auswirkung diese auf den Verlauf ihrer Straßenkarrieren nehmen“ (ebd., S. 13). Dabei liegt seine Aufmerksamkeit nicht auf den institutionellen Rahmenbedingungen sozialpädagogischer Maßnahmen, sondern auf der subjektiven Sichtweise der Adressaten – also junger Wohnungsloser – des Hilfesystems. Im Verlauf dieser Studie wurden insgesamt sechzehn verschiedene Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 17 und 22 Jahren interviewt, die darum gebeten wurden, möglichst viel und frei über ihre Erfahrungen auf der Straße zu berichten. Anhand dieser Interviews bildet Mücher fünf unterschiedliche Verlaufstypen von jugendlicher Wohnungslosigkeit im Hinblick auf die Inanspruchnahme Sozialer Arbeit. Seinen besonderen Fokus legt Mücher dabei auf die Erfahrungen mit Straßensozialarbeit, in dessen Rahmen er auch die Studie durchgeführt und Interviewpartner rekrutiert hat.
2.5.2.1 Verlaufstyp 1 – Straßensozialarbeit als Form peripherer Unterstützung Der erste Verlaufstyp ist durch eine „weitreichende Abkehr von einem, an bürgerlichen Maßstäben orientierten Leben charakterisiert […]. Der sukzessiven Verfestigung eines Lebens auf der Straße geht dabei eine lange Verkettung von gescheiterten Jugendhilfemaßnahmen voraus“ (ebd., S. 145). Durch das Scheitern früherer Hilfen wird das Vertrauen in pädagogische Bezugspersonen erschüttert, sodass sozialpädagogische Unterstützungsleistungen in der weiteren Entwicklung dieser Jugendlichen höchstens einen peripheren Stellenwert einnehmen. An die Stelle professioneller Hilfe tritt die informelle Unterstützung durch Peers, die zwar einerseits Schutz vor den Widrigkeiten der Wohnungslosigkeit bieten, andererseits aber Abhängigkeiten erzeugen, die eine spätere Abkehr der Straße erschweren (vgl. ebd., S. 145 f.). Nur unlösbare Probleme im Umfeld der Jugendlichen werden zum Anlass genommen, die Hilfe von Straßensozialarbeitern in Anspruch zu nehmen. Trotz
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häufig positiv empfundener Zusammenarbeit wird weiterhin ausgeschlossen, etwas Grundlegendes an ihren Lebensentwürfen zu verändern oder weitergehende (Jugend-) Hilfemaßnahmen anzunehmen. Die Unterstützung der Streetworker wird vornehmlich dazu genutzt, soziale Grundsicherungen, z. B. Kindergeld oder den Bezug von Sozialleistungen zu erwirken (vgl. ebd., S. 146). Die Jugendlichen dieses Typs nehmen die Unterstützung eines solchen niedrigschwelligen Hilfeangebotes insoweit in Anspruch, „als dass sie für sich einen konkreten Nutzen aus der Zusammenarbeit mit Streetworkern ziehen können, ohne aber gleichzeitig gezwungen zu sein, ihr Leben auf der Straße aufgeben zu müssen“ (ebd.). Aufgrund langjähriger Szenenzugehörigkeit und dem Fehlen von Sozialkontakten außerhalb der eigenen Peers sowie dem mangelnden Veränderungswillen wird die Abkehr von einem Leben auf der Straße für Jugendliche dieses Verlaufstyps mit zunehmender Dauer der Wohnungslosigkeit immer schwieriger (vgl. ebd.).
2.5.2.2 Verlaufstyp 2 – Gescheiterter Übergang nach Beendigung der Jugendhilfe Der zweite Verlaufstyp ist durch eine enge Verbindung der Wohnungslosigkeit mit dem Auslaufen der Jugendhilfe bei Beginn der Volljährigkeit gekennzeichnet. Die Jugendlichen dieses Typs blicken in ihrer Biografie oftmals auf eine langjährige und in sich komplizierte Jugendhilfekarriere zurück. Dabei scheint der übergangslose Zuständigkeitswechsel von der Jugend- in die Sozialhilfe und die damit verbundenen Misserfolgserfahrungen eine wichtige Rolle für die Wohnungslosigkeit zu spielen (vgl. ebd., S. 156). Werden Maßnahmen der Jugendhilfe bei Erreichen der Volljährigkeit eingestellt, fallen die betroffenen Jugendlichen ohne Vorbereitung in den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe. „Die hierdurch hervorgerufenen Verselbstständigungsprobleme, die durch das Auslaufen jeglicher Jugendhilfemaßnahmen beim Übergang in die Volljährigkeit auftreten, können von diesen Jugendlichen nicht eigenständig bewältigt werden und führen zu einer weiteren Zuspitzung der Situation. Daher haben sie das Gefühl, dass ihnen – trotz des eigenen großen Bemühens – von behördlicher Seite immer wieder neue Steine in den Weg gelegt werden, so dass sich ihre (ungewollte) Situation auf der Straße verfestigt. Aus diesem Grund erscheinen Jugendliche dieses Typs als Opfer äußerer Faktoren, die außerhalb ihrer Handlungsmöglichkeiten liegen“ (ebd.).
Trotz wiederholter Misserfolge nehmen sie weiterhin Hilfe von Straßensozialarbeitern in Anspruch und erhoffen sich dadurch eine langfristige Verbesserung ihrer Situation. Das Vertrauen in bestimmte Formen der Hilfe ist also ungebrochen, sodass ihr Handeln durch eine aktive Bewältigungsstrategie
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geprägt ist. Straßensozialarbeit hat daher einen massiven Stellenwert im Leben dieser Jugendlichen, die sich langfristig die Rückkehr in ein bürgerliches Leben wünschen, was allerdings aufgrund geringerer schulischer Qualifikationen und fehlender sozialer Ressourcen erschwert wird.
2.5.2.3 Verlaufstyp 3 – Muttersein als die Eröffnung einer neuen Perspektive Diese Gruppe ist durch die vollständige Übernahme eines neuen Rollenmusters charakterisiert. Zwar besitzt dieser Typ für die konkrete Fragestellung dieser Arbeit eine untergeordnete Relevanz, wird aufgrund der Vollständigkeit dennoch mit aufgeführt. Die Jugendlichen repräsentieren einen geschlechtsspezifischen Verlaufstyp, da zwar auch jugendliche Väter nach der Geburt ihres Kindes bestrebt sind, ihren Lebensentwurf zu überdenken, jedoch bieten sich ihnen oftmals nicht dieselben Möglichkeiten, z. B. spezielle Hilfsangebote oder Förderprogramme, wie sie jungen Müttern geboten werden (vgl. ebd., S. 173). Ein wesentlicher Faktor, der den betroffenen Frauen die Rückkehr in ein geordnetes Leben gestattet, ist das Finden einer passgenauen Hilfe, „die an der gegenwärtigen Problematik dieser Jugendlichen ansetzt und ihnen die Eröffnung einer neuen Perspektive ermöglicht“ (ebd.). Durch die Schwangerschaft können die jungen Frauen in Mutter-Kind-Einrichtungen unterkommen, sich so auf das Mutterdasein vorbereiten und gleichzeitig Abstand vom Leben auf der Straße bekommen. Bei solchen Jugendlichen ist es das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren in einer kritischen Lebensphase, die sie dazu bewegen, ihr Leben grundsätzlich zu verändern. Ein einschneidendes biografisches Erlebnis – wie die Geburt eines Kindes – kann als Wendepunkt dazu führen einen existentiellen Entschluss zu fassen und sich relativ schnell von alten sozialen Bezugsfeldern abzugrenzen (vgl. ebd., S. 174). Häufig kommt es in dieser Phase zu einer Wiederhinwendung oder Rückkehr in die Herkunftsfamilie, da meist soziale Bezugspunkte außerhalb des eigenen subkulturellen Milieus fehlen. Die Zukunftsvorstellungen dieses Verlaufstyps sind von starken Normalitätsorientierungen und dem Wunsch nach Sicherheit für sich und ihre Kinder geprägt. Mangelnde schulische und berufliche Perspektiven rücken dabei häufig durch das Hineinwachsen in die tagesfüllende Ausübung der Elternrolle in den Hintergrund (vgl. ebd.).
2.5.2.4 Verlaufstyp 4 – Wohnungslosigkeit als zeitlich begrenzte Krise Der vierte Verlaufstyp ist durch eine starke Normalitätsorientierung bezüglich Wohnraum und Erwerbsarbeit bestimmt. Die Jugendlichen erhoffen sich eine
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materielle Grundsicherung ihrer Lebensbedürfnisse sowie soziale Inklusion durch Arbeit und eine eigene Wohnung (vgl. ebd., S. 184). Wohnungslosigkeit wird als „äußere Störung gewohnter Lebensverhältnisse bewertet, die es schnellstmöglich zu beheben gilt“ (ebd.). Die Betroffenen investieren viel, um geordnete Verhältnisse wiederherzustellen. Dabei verfolgen sie eine aktive Bewältigungsstrategie und suchen eigenständig Behörden und sozialpädagogische Hilfsdienste auf. Jugendliche, die dem normalitätsorientierten Verlaufstyp entsprechen, sind durch einen hohen Grad an Selbstverantwortung und eine konkrete Zukunftsorientierung gekennzeichnet. Sie distanzieren sich eher von szenenahen Jugendlichen, die ihre Lebenssituation nicht verändern wollen und Kontakte auf der Straße sind vom Austausch über verschiedene Hilfsmöglichkeiten geprägt. Die Jugendlichen dieses Typs verfügen in der Regel über gute Qualifikationen, einen Schulabschluss und Engagement, sodass sie auf dem Arbeitsmarkt relativ gute Chancen haben, einen Ausbildungsoder zumindest Praktikumsplatz zu erhalten. Zwar haben sie Angst vor einem erneuten Abrutschen in die Wohnungslosigkeit, ihr Handeln ist dennoch zukunftsorientiert und sie verfolgen einen festen Lebensplan (vgl. ebd., S. 185).
2.5.2.5 Verlaufstyp 5 – Jugendhilfe als die Nutzung einer zweiten Chance Die Jugendlichen dieses Verlaufstyps haben sich der Straße aufgrund einer Alternativorientierung zugewandt, um dort ihre Vorstellungen von Freiheit und Abenteuer zu verwirklichen. Auf der Straße haben sie sich weitestgehend dem Einfluss klassischer Sozialisationsinstanzen entzogen, sich umfassend mit den Werten jugendkultureller Gemeinschaften identifiziert und stehen Jugendhilfemaßnahmen ablehnend gegenüber (vgl. ebd., S. 200). Nur wenn sie im Verlauf ihrer Straßenkarriere an einen Punkt gelangen, an dem sie das Gefühl haben, nicht mehr ohne fremde Hilfe herauszukommen, sind diese Jugendlichen bereit, sozialpädagogische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Hierbei ist von ausschlaggebender Bedeutung, dass eine passgenaue Jugendhilfemaßnahme gefunden wird, mit dessen Inhalten und der Umsetzung sich die Jugendlichen identifizieren können. Dadurch kann es zu einem Umkehrprozess kommen, in dessen Verlauf es den Jugendlichen gelingt, für sich ein „neues Lebenskonzept zu entwickeln, das ihnen die Möglichkeit auf eine gelingende Reintegration in die gesamtgesellschaftlichen Normalbezüge einer an Leistung orientierten Erwerbsgesellschaft in Aussicht stellt“ (ebd.). Der vorherige, subkulturell geprägte Lebensstil wird dabei in ein neues, an Normalität ausgerichtetes Lebenskonzept integriert. Die zurückliegende Straßenkarriere wird als ein wichtiger Bestandteil der biografischen Identität insofern transformiert, dass die Anforderungen einer durch die Jugendhilfe
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geforderte Realitätsorientierung mit dem Aufrechterhalten eines alternativen Lebensstils verbunden werden. Die Jugendlichen dieses Verlaufstyps zeichnen sich in ihrem Alltag durch einen hohen Grad an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung aus. Sie lernen rasch, sich um ihre Belange zu kümmern und diese eigenständig zu erledigen, worin sie dem vierten Verlaufstyp ähneln. Sie verfügen ebenfalls über realistische Zukunftsvorstellungen und blicken angesichts ihrer vorhandenen schulischen oder beruflichen Qualifikationen optimistisch auf ihre selbst gesteckten Ziele (vgl. ebd., S. 201).
2.5.2.6 Prekäre Hilfen? Besonders interessant ist die Feststellung, dass mit einer Ausnahme alle Verlaufstypen im Sample über ausgeprägte Vorerfahrungen mit unterschiedlichen Einrichtungen des Hilfesystems verfügen (vgl. ebd., S. 204) und sich die vier Typen durch ein weitreichendes Misstrauen gegenüber Maßnahmen der Jugendhilfe auszeichnen (vgl. ebd., S. 206). „In fast allen Fallgeschichten konnten biographische Muster gefunden werden, in denen Angebote und Maßnahmen der Jugendhilfe von den Jugendlichen deutlich negativ konnotiert wurden“ (ebd., S. 216). Mücher kommt zu dem Schluss, dass Straßensozialarbeit aus Sicht der Adressaten nur dann eine Alternative gegenüber anderen Formen der Hilfe darstellt, wenn diese in der Lage ist, positive Gegenerfahrungen zu den bisherigen (Negativ-) Erfahrungen mit Hilfesystemen zu vermitteln (vgl. ebd.). Für die jugendlichen Wohnungslosen ist es ein wichtiger Faktor, dass sich Straßensozialarbeit auf ihre individuellen Lebensumstände flexibel einstellen kann, ohne dabei den Anspruch zu erheben, diese Lebensumstände unbedingt verändern zu wollen. Die Jugendlichen möchten in ihrer Lebenslage akzeptiert und ernst genommen werden, ohne dabei einem sofortigen Veränderungsdruck ausgesetzt zu sein (vgl. ebd., S. 217 f.). Es besteht die Gefahr, dass jugendliche Wohnungslose, die nicht dem Bild des aktiven oder angepassten Adressaten entsprechen, in wachsendem Maß von Hilfesystemen unter dem Aspekt ihrer zukünftigen Integrationsfähigkeit- oder Willigkeit betrachtet werden und somit sukzessiv aus dem Hilfesystem ausgeschlossen werden. Straßensozialarbeit steht dadurch vor der paradoxen Aufgabe ihre Adressaten in ein Hilfesystem integrieren zu müssen, dass ihre Adressaten zum Teil systematisch ausschließt (vgl. ebd., S. 224 f.).
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2.5.3 Mögling et al. – Das Projekt „Disconnected Youth“ Das Projekt „Disconnected Youth“ startete im Juli 2014 und hatte das Ziel, die Erfahrungen und Übergangswege von entkoppelten Jugendlichen bzw. disconnected youth (siehe Abschnitt 2.7.5) sowie die Sicht der Fachpraxis abzubilden. Die Studie legt den Schwerpunkt als erweiterte Erkundungsstudie auf qualitative Methoden wie qualitative Interviews und Gruppendiskussionen. Dazu wurden Fachkräfte des U-25 Bereichs der Jobcenter, dem Bereich der Jugendhilfe sowie der kommunalen Jugendpolitik, als auch betroffene Jugendliche wie junge Erwachsene befragt (vgl. Mögling et al. 2015, S. 11). Zentrales Anliegen der Befragung war die Erfassung „der Erfahrungen mit Exklusionsund Entkopplungsprozessen“ sowie von „Bedarfslagen für eine gelungene Verselbstständigung“ und die Beschreibung von „empirisch begründeten […] Verlaufsmuster von ‚disconnected youth‘“ (ebd., S. 13). An erster Stelle konstatieren Mögling et al. die Heterogenität unter den interviewten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, deren konkrete Lebensumstände breit gefächert sind. Die Befragten leben in Jugendwohnheimen, in betreuten Wohngemeinschaften, in eigenen, nach SGB II finanzierten Wohnungen, bei wechselnden Freunden oder auf der Straße. Familiäre Problemlagen der Herkunftsfamilien spielen insofern eine Rolle, als dass sie in vielen Fällen zu psychischen oder gesundheitlichen Belastungen der Jugendlichen führten, infolgedessen einige in Pflegefamilien, Kinder- und Jugendheimen, in der Kinderund Jugendpsychiatrie untergebracht wurden (vgl. ebd., S. 15). Die Studie hält fest, dass die individuellen Lebensläufe, verglichen zu gleichaltrigen Peers, von einer relativ hohen Anzahl von wechselnden Stationen (in Bezug auf Wohn-, Bildungs- und Beschäftigungsstatus) geprägt sind (vgl. ebd., S. 19). Unabhängig von den konkreten Lebensumständen der Probanden, identifizieren die Autoren gemeinsame Merkmale, die typische Lebenslagen in der Herkunftsfamilie charakterisieren. Kombiniert treten üblicherweise folgende Faktoren auf: • • • • •
„Patchwork-Familien mit zahlreichen (Halb-)Geschwistern, Gewalterfahrungen/ Verwahrlosung, beschränkte finanzielle Mittel, niedrige Formalbildung, Suchtproblematik/ Schulden“ (ebd., S. 20).
Aus den aufgeführen Merkmale gehen bereits in ihrer singulären Wirkung mit Exklusions- und Entkopplungserfahrungen sowie Unterstützungsbedarfe für eine
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gelungene Verselbstständigung der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen einher. Die Ausprägung des familiären Rückhalts bestätigt sich als eine der wesentlichen Ursachen von Straßenkarrieren. Zahlreiche Geschwister, Halbgeschwister, Patchwork-Familien, Gewalterfahrungen sowie Drogen- und Alkoholmissbrauch in der Herkunftsfamilie führen dazu, dass sich die Befragten von seiten ihrer Familie als vernachlässigt empfinden. Armut verstärkt die innerfamiliären Belastungen, denn sie führt häufig zum Leben in sozialen Brennpunkten, einem niedrigeren Konsumniveau und zu unregelmäßiger Betreuung der Kinder (vgl. ebd., S. 20 f.). Da materielle Armut häufig mit Bildungsarmut korreliert, besteht ein weiteres Merkmal der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in niedriger Formalbildung. Die meisten Probanden haben keinen Schulabschluss oder sind frühere Förderschüler, viele haben die Schule oder Ausbildung abgebrochen (vgl. ebd., S. 22). Überwiegend wurden schlechte Erfahrungen mit öffentlichen Unterstützungsstrukturen geschildert. Die staatlichen Instanzen, vorranig Jobcenter und Jugendämter, werden von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen als nicht untersützend wahrgenommen. Kritisiert werden vor allem der Mangel an Untersützungsleistungen durch die Instanzen sowie der hohe bürokratische und zeitliche Aufwand, um Hilfen bewilligt zu bekommen (vgl. ebd., S. 23). Die Autoren stellen des Weiteren fest, dass sich die Entlassung in eine formalrechtliche Selbstständigkeit mit Beginn der Volljährigkeit häufig als Problem herausstellt. Nach Jahren der empfundenen Bevormundung und Unselbstständigkeit sind die jungen Menschen vielfach mit der neuen Situation überfordert (vgl. ebd., S. 26). Neben den Jugendlichen am Übergang ins Erwachsenenalter wurden auch Vertreter staatlicher Einrichtungen befragt, die in einem gesetzlich definierten Rahmen (SGB II/ III/ VIII) tätig sind und die von Seiten der jungen Erwachsenen vornehmlich kritisiert wurden. Sie werden von Seiten der jungen Wohnungslosen als Repräsentanten von Ämtern und somit fast durchgängig als Antagonisten wahrgenommen. Diese sehen ein grundsätzliches Problem in der fehlenden Erfolgskontrolle der Maßnahmen und Bemühungen zur (Re-)Integration, die bereits an der fehlenden Definition von Efolg scheitere (vgl. ebd., S. 29). Schwachstellen innerhalb der aktuellen Rahmenbedingungen identifizieren die Experten zusätzlich in dem stark standardisierten Repertoire an Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen auf der Basis der gesetzlichen Vorgaben. Diese seien ungeeignet, flexibel auf die komplexen Biografien und Problemlagen der jungen Wohnungslosen zu reagieren. Außerdem wird die oftmals aus finanziellen Gründen amtlich verordnete Selbstständigkeit mit dem 18. Lebensjahr als kontraproduktiv gewertet.
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Die Vertreter der Jobcenter und Jugendämtern verweisen hingegen darauf, dass die wichtige Übergangsphase unter kontrollierten Bedingungen vollzogen wird. Der Ausstieg aus dem Betreuungssystem erfolge in der Regel keineswegs abrupt, vielmehr würden die Betreuungsleistungen nach und nach abgebaut und gleichzeitig Verselbstständigungsmodule angeboten. Es gebe darüber hinaus vielfältige Formen der Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den relevanten Institutionen, die weitgehend verhindern, dass tatsächlich Jugendliche in größerem Umfang ‚entkoppelt‘ werden. Die Zahl der Jugendlichen, die z. B. aufgrund der Sanktionierungspraxis der Jobcenter herausfallen, sei verschwindend gering (vgl. ebd., S. 30). Vor allem die Mitarbeiter von Trägern stationärer Einrichtungen kritisieren, dass die Methode der allmählichen Verselbstständigung inklusive des sukzessiven Abbaus von Betreuungsleistungen aus Kostengründen nur bei einem Teil der jungen Erwachsenen umgesetzt wird. Die Jugendhilfe würde im Prinzip einfach gekappt und die jungen Menschen in die Jobcenter abgeschoben (vgl. ebd.). Die Experten stellen fest, dass die entkoppelten Jugendlichen für Behörden vielfach nicht sichtbar sind; auch weil sie unentdeckt bleiben wollen. Nach Meinung der Vertreter von Regeleinrichtungen (Jugendämter, Jobcenter) ist das Phänomen der Entkopplung von jungen Menschen eher selten. Vonseiten der Experten aus öffentlichen und freien Trägern stationärer oder auf Angebote stagnieren die Klientenzahlen demgegenüber auf hohem Niveau und es werden mehr niedrigschwellige Angebote gefordert (vgl. ebd., S. 32).
2.5.4 von Paulgerg-Muschiol – Wege in die Wohnungslosigkeit Die Studie „Wege in die Wohnungslosigkeit“ (von Paulgerg-Muschiol 2009) untersucht auf Basis qualitativer Interviews, die im Rahmen einer Untersuchung zur Bedeutung von Kriminalisierung für die Karrieren von wohnungslosen Männern erhoben worden sind, die Genese von Wohnungslosigkeit (vgl. ebd.). Die Autorin analysiert, welche Einflussfaktoren beim Einstieg in die Wohnungslosigkeit eine Rolle spielen und inwieweit das individuelle Handeln an Schlüsselstellen den weiteren Verlauf der Wohnungslosigkeit beeinflusst. Ihr Ziel ist es, aufzuzeigen, „wo und wie die Gesellschaft und das Individuum miteinander verknüpft sind und aufeinander Einfluss nehmen, gerade auch in einem so extremen Bereich“ (ebd., S. 83). Sie folgt dabei einem kontingenten Karrieremodell, um bei der Analyse den Blick für alle „Möglichkeiten von Karriereverläufen offen zu halten und so nicht durch Vorentscheidung, sondern durch empirisch begründete
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Analyse die „kontingenten“ Anteile von Wohnungslosigkeitskarrieren herauszuarbeiten“ (ebd.). In ihrer Analyse des Karrieregeschehens verweist sie auf Gerhardt (1986) und das Verständnis eines „dualen Verhältnis von Handeln und Erleiden, das in jedem Karrieremoment angelegt ist“ (ebd., S. 52). Als zweites theoretisches Konzept zieht von Paulgerg-Muschiol das soziale Coping heran, welches sie als eine flexible Anpassung an gegebene Lebensumstände versteht (von Paulgerg-Muschiol 2009, S. 71). Der Autorin nach „folgen Wohnungslosigkeitskarrieren nur selten den gängigen Klischees der Abwärtsspirale“ (ebd., S. 102), was angesichts der von ihr geschilderten Fallbeispielen und des Kapitels „Strukturbedingtes Hineinschlittern/ Scheitern an, mit und durch Strukturen“ (ebd., S. 126 ff.) nicht ganz konsistent scheint. In diesem wird herausgearbeitet, wie Betroffene, nach verschiedenen, strukturbedingten Gründen, sukzessive in die Wohnungslosigkeit „hineinschlittern“ (ebd.) und mittels einer „Kumulation von kritischen Lebensereignissen auf verschiedene Art und Weise einen scheinbar unaufhaltsamen Abstieg erleben und sich am vorläufigen Ende des Weges auf der Straße wieder finden“ (vgl. ebd., S. 126). Gründe seien etwa der Verlust von Wohnung bzw. Arbeit (vgl. ebd., S. 127 ff.; S. 130 ff.) oder das Ende eines Strafvollzugs (vgl. ebd., S. 132 ff.). Außerdem sind im weitesten Sinne finanzielle Schwierigkeiten miteingeschlossen (vgl. ebd., S. 135). Nach dem Zwischenfazit, dass „Hineinschlittern [] die Konsequenz Wohnungslosigkeit langsam und schleichend nach sich [zieht]: oft wird die tatsächliche Wohnungslosigkeit sogar noch später wahrgenommen, als sie tatsächlich eintritt“ (ebd., S. 138), schildert von P aulgerg-Muschiol verschiedene Copingstrategien, um die drohenden Abstiegsprozesse zu verhindern. Dabei handelt es sich z. B. um das Aufsuchen von staatlichen Hilfeeinrichtungen und Ämtern, die paradoxerweise zu einer Manifestierung des Status ‚wohnungslos‘ führen oder das Aktivieren von persönlichen Netzwerken, die jedoch nur kurzfristig die Wohnungslosigkeit vermeiden können (vgl. ebd., S. 136 ff.). Neben dem „Hineinschlittern“ (ebd., S. 126) arbeitet von Paulgerg-Muschiol „Flucht“ (ebd., S. 141) als weitere Ursache von Wohnungslosigkeit heraus. Etwa Flucht nach Scheidung oder Trennung, Flucht nach Konflikt mit Eltern/Familie, Flucht vor offenem Strafverfahren, Flucht vor Räumungsklagen sowie Flucht aus Kinder-, bzw. Jugendheimen, (vgl. ebd., S. 142 ff.). Als Kontextbedingung für Flucht werden finanzielle Probleme, etwa durch Unterhaltsansprüche oder Schulden herausgearbeitet. Flucht als Umgang mit kritischen Lebensereignissen impliziere auf der individuellen Seite ein Fehlen von Konflikt-, bzw. Problembewältigungsstrategien. An einem exemplarischen Lebensverlauf wird in der Studie noch einmal verdeutlicht, „wie eine Kumulation von kritischen
2.6 Exkurse – Weitere Facetten von Wohnungslosigkeit
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Lebensereignissen in die Wohnungslosigkeit mündet“ (ebd., S. 148), was der postulierten Ausgangsthese, Wohnungslosigkeit folge nur selten den gängigen Vorstellungen einer Abwärtsspirale, widerspricht. Wohnungslosigkeit als Konsequenz von Fluchtprozessen vollziehe sich teilweise abrupt, meist „aber fließend“ (ebd., S. 150) und werde von einem beruflichen Abstieg begleitet. Mögliche Unterstützungsnetzwerke aus Familie oder Freunden erweisen sich dabei als vornehmlich instabil. Zusätzlich zeigt sich „Verlust bzw. das Nichtvorhandensein von Netzwerken/Auflösung von traditionellen sozialen Netzwerken“ (ebd., S. 152), als letztendlicher Auslöser von Wohnungslosigkeit.
2.6 Exkurse – Weitere Facetten von Wohnungslosigkeit Die folgenden Kapitel bieten Einblicke in Themenkomplexe, die für die konkrete Fragestellung dieser Arbeit weniger relevant sind, allerdings zum umfassenderen Verständnis der Situation wohnungsloser Menschen beitragen.
2.6.1 Gesundheitliche Folgen von Wohnungslosigkeit Wohnungslosigkeit hat weitreichende Folgen für die Betroffenen. Insgesamt ist der Gesundheitszustand bei Wohnungslosen signifikant schlechter, als bei Menschen mit einem festen Wohnsitz (vgl. Paegelow 2012, S. 68; Shelton et al. 2009, S. 465; Stablein/ Appleton 2013, S. 305 f.; Zerger et al. 2008, S. 826). So liegt das durchschnittliche Sterbealter weit unter dem Durchschnitt der Bevölkerung bei nur 60 bis 70 Lebensjahren (vgl. Paegelow 2012, S. 68). Wohnungslose Menschen leiden hauptsächlich an Erkrankungen der Atmungsund Verdauungsorgane, Herz- und Kreislauf, Skelettsystems, Hautkrankheiten und Zahnleiden (vgl. ebd.). Aus offensichtlichen Gründen ist es schwierig bis unmöglich, ohne Obdach und monetäre Ressourcen ausreichend Schlaf zu bekommen, auf eine ausgewogene Ernährung sowie Hygiene zu achten oder Vorund Nachsorgeuntersuchungen durchführen zu lassen. Fehlende Intimität und mangelnde Rückzugsmöglichkeiten sind ebenfalls eng mit Wohnungslosigkeit verbunden. Auf der Straße stehen die Betroffenen unter ständiger öffentlicher Beobachtung und werden bei unangepasstem Verhalten schnell von öffentlichen Plätzen vertrieben. In Heimen und Unterkünften gibt es meistens keine eigenen Zimmer und damit keine Möglichkeit, Störendem
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
und Bedrängendem aus dem Weg zu gehen oder sich bei Konflikten zurück zu ziehen. Wohnformen, in denen ein Privatbereich fehlt, werden von der Mehrheit der Betroffenen als belastend empfunden und Enge kann Aggressionsbereitschaft hervorrufen (vgl. Kellinhaus 2000, S. 18). Mit Sucht, die – je nach Schätzung – 50 bis 80 Prozent der wohnungslosen Menschen betrifft (vgl. ebd., S. 69; vgl. Flick/ Röhnsch 2006, S. 261 ff.; Simon 2009, S. 10; Zerger et al. 2008, S. 832 f.), gehen die typischen Alkohol- und/ oder drogeninduzierten (psychiatrischen) Krankheiten, Unfallverletzungen sowie akute Infektionen einher. Gerade für jugendliche und junge erwachsene Wohnungslose sind Alkohol und Drogen meist alltäglich und selbstverständlich. Männer weisen dabei tendenziell härtere Konsummuster auf, nutzen eine größere Anzahl verschiedener Substanzen und sind eher von Abhängigkeit betroffen als Frauen (vgl. Flick/ Röhnsch 2008, S. 236). Wird neben dem Geschlecht zusätzlich das Alter in den Blick genommen, kehrt sich dieser, für das weibliche Geschlecht ‚positive‘ Trend um. Mädchen, die exzessiv Alkohol- oder Drogen konsumieren, sind eher minderjährig und somit jünger als die betroffenen Jungen. Die Risiken des Substanzmissbrauchs werden von den Betroffenen überwiegend unterschätzt. So relativieren von Flick und Röhnsch befragte jugendliche Wohnungslose ihre substanzbedingten Probleme häufig mit dem Hinweis, dass andere Szeneangehörigen einen weitaus riskanteren Konsum aufweisen (vgl. ebd., S. 236 ff.). Der Zugang zu spezifischen Peergruppen und der Kontakt zum anderen Geschlecht kann durch Rauschmittel erleichtert werden und Drogenkonsum verspricht Spaß, Einzigartigkeit und das Ausleben von subkulturellen Werten. Substanzkonsum kann außerdem Mittel zum Zweck sein, um bestimmten Entwicklungsaufgaben zu begegnen (vgl. Silbereisen/ Reese 2001, S. 138). Durch Drogenkonsum oder die bewusste Verletzung der Kontrolle kann z. B. die Unabhängigkeit von den Eltern demonstriert werden und außerdem kann eine gewollte Normverletzung eine Form des sozialen Protestes darstellen (vgl. ebd.). Die möglichen Funktionen des Drogenkonsums sind ursprünglich aufgrund querschnittlicher Befunde der alterskorrelierten Verbreitung von Substanzkonsum postuliert worden. Daher stammt auch die Annahme, dass mit dem Übergang in den sozialen Erwachsenenstatus der Substanzkonsum nachlässt, weil er mit der Bewältigung der damit einhergehenden neuen Entwicklungsaufgaben inkompatibel sei (vgl. ebd., S. 139). Gerade bei der hier untersuchten Klientel muss bei der Unterscheidung von auf die Jugend begrenztes versus lebenslang anhaltendes Problemverhalten, die zweite Perspektive verstärkt in den Blick genommen werden. Zwar argumentiert z. B. Labouvie schlüssig, dass der Substanzkonsum mit der Übernahme von Erwachsenenrollen
2.6 Exkurse – Weitere Facetten von Wohnungslosigkeit
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(Ehepartnerschaft, Elternschaft, Arbeitstätigkeit) abnimmt, welches er „Maturing out of substance use“ (Labouvie 1996) nennt. Auf der Straße kompensieren Suchtmittel aber häufig Widrigkeiten und werden als Wärmespender, Nahrungsersatz und Nahrungsergänzung, Analgetikum bei körperlichen Schmerzen, Schlafmittel, Mittel zur Stärkung des Selbstwert- und Gruppengefühls, Immunisierung gegen sozialen oder psychischen Druck und als Coping-Strategie zur Bewältigung von Stress oder Ohnmacht eingesetzt (vgl. Simon 2009, S. 10), sodass Labouvies Argumentation nicht zwingend auf Wohnungslose übertragbar ist. Neben den angesprochenen gesundheitlichen Problemen, die mit Substanzmissbrauch einhergehen, sind damit zusätzlich soziale Risiken verbunden (vgl. Flick/ Röhnsch 2006, S. 261). Durch Drogenabhängigkeit geraten die Betroffenen meist in die entsprechenden Szenen aus Abhängigen und Dealern, eine Rückkehr von der Straße in ein geordnetes Leben wird somit durch Sucht signifikant erschwert. Häufig leiden wohnungslose Menschen zusätzlich unter psychischen Problemen, von denen depressive Störungen, Angsterkrankungen und kognitive Störungen häufig diagnostiziert werden. Schizophrene Erkrankungen werden hingegen seltener festgestellt. Insgesamt bestätigen zahlreiche Studien die generell hohe psychische Morbidität unter Wohnungslosen, gleichwohl bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den diagnostischen Zuordnungen (vgl. Freudenberg 2012, S. 496 f.; Zerger et al. 2008, S. 833 f.). Durch „die epidemiologisch weltweit bestätigte deutlich erhöhte Prävalenz von psychischen Störungen bei Menschen, die auf der Straße oder in Notunterkünften leben“ (Reker 2000, Geleitwort) fühlt sich, neben der Sozialpädagogik, die Psychiatrie verantwortlich. Neben der Politik (aufgrund der strukturellen Bedingungen) und der Sozialen Arbeit wird der Hilfeauftrag somit auch in der Psychologie und Psychiatrie verortet. Kellinghaus fasst die psychiatrische Wahrnehmung der Situation Wohnungsloser wie folgt zusammen: „Bei Eintritt des Wohnungsverlustes werden die mehr oder weniger belastbaren individuellen Ressourcen der Betroffenen aufs äußerste beansprucht und führen zu einer dramatischen Lebenskrise. Die Lebensbedingungen in der Wohnungslosigkeit dünnen das ohnehin meist schwache soziale und wirtschaftliche Netz weiter aus, gefährden die körperliche und psychische Gesundheit und zwingen zu einer Anpassungsleistung an das neue Milieu. Damit wächst auch die Tendenz, Alkohol oder andere Drogen zu konsumieren, sei es um die Realität erträglicher zu gestalten […] [oder], zur Knüpfung und Aufrechterhaltung wenigstens einiger sozialer Kontakte. Gelingt die Anpassung, so wird das Selbstbild in eine Richtung verändert,
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand … die therapeutische Intervention zunehmend schwieriger macht. Gelingt sie nicht, drohen Depression, Vereinsamung und dadurch möglicherweise höherer Alkoholund Drogenkonsum. Psychosen und andere Störungen exacerbieren“ (Kellinghaus 2000, S. 91).
Die „Behandlung von wohnungslosen Menschen durch niedergelassene Psychotherapeuten dürfte aber unwahrscheinlich sein, da diese sich ihre Klientel aussuchen und schwierige Patienten gerne sich selbst oder anderen Kliniken überlassen“ (Paegelow 2012, S. 70). Schon 1997 stellten Reker und Eikelmann die Frage, ob Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht eigentlich auch psychiatrische Einrichtungen seien, die die schwierigsten und kränksten Patienten unter schlechten Bedingungen und mit den geringsten Ressourcen betreuen müssten. Wohnungslose seien meist die Patienten, die wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer Behandlung, ihrer Multimorbidität und ihrer Selbstaufgabe aus dem psychiatrischen Versorgungssystem herausgefallen oder ausgegrenzt wurden (vgl. Reker/ Eikelmann 1997, S. 1440). Die beiden Autoren plädieren dafür, dass auch Wohnungslose ein Anrecht auf eine qualifizierte und engagiert durchgeführte Behandlung haben (vgl. ebd., S. 1441). Zusätzlich weisen – geschlechtsunabhängig – besonders junge Betroffene ein riskantes Sexualverhalten auf. Der meist praktizierte Substanzkonsum verstärkt die Suche nach Spaß und Befriedigung durch sexuelle Kontakte zusätzlich, wogegen die Wahrnehmung der Risiken von ungeschütztem Geschlechtsverkehr beeinträchtigt wird. Dass häufig darauf verzichtet wird, beim Sexualverkehr regelmäßig Kondome zu verwenden, wird mit der Spontanität, mit der der Geschlechtsakt zustande kommt, der Behinderung erotischer Gefühle sowie den Kosten für Präservative erklärt (vgl. Flick/ Röhnsch 2008, 126 ff.; vgl. ebd., S. 238 ff.; vgl. Stablein/ Appleton 2013, S. 306). Wohnungslosigkeit hat, neben unmittelbaren Risiken für die Gesundheit während der ‚aktiven‘ Zeit auf der Straße, auch mittelbare Langzeitfolgen im späteren Leben: „Those who experienced homelessness were significantly more likely to experience abuse, poor mental health, and engage in early life risk behaviors prior to homelessness and engage in early life risk behaviors prior to homelessness […], as well as have lower levels of education, more depressive symptoms, and higher levels of substance use in the years following a homeless experience compared to those without prior homeless experience“ (Stablein/ Appleton 2013, S. 305).
Frühe Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit verschlechtern zusätzlich die Perspektive eine funktionierende Ehe zu führen (vgl. ebd., S. 309 f.). „[A]
2.6 Exkurse – Weitere Facetten von Wohnungslosigkeit
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dolescent and young adult homeless experience sets in motion a chain of events that negatively impacts multiple life domains in the years after the acute crisis of homelessness has subsided“ (ebd., S. 310). Stablein und Appleton stellen zusätzlich einen Geschlechtereffekt fest. Der Gesundheitszustand von ehemals wohnungslosen Frauen ist im Vergleich zu ihren männlichen Pendants tendenziell schlechter. Stigmata, Diskriminierung und Ausgrenzung wirken sich zusätzlich negativ auf die Gesundheit von Wohnungslosen aus. „[E]xperiences of stigma were associated with negative mental health outcomes including low selfesteem and feelings of alienation, hopelessness, and helplessness“ (Toolis/ Hammack 2015, S. 51). Daraufhin werden risikobelastete verbale, physische und sexuelle Verhaltensmuster demonstriert, um nicht als schwach wahrgenommen zu werden. Dieses Verhalten wird wiederum als aggressiv und deviant empfunden und führt somit zu einem Teufelskreis mit weiteren negativen Konsequenzen und einer Zementierung des Status der Wohnungslosen (vgl. ebd.). „In other words, numerous transitions have long-term implications for the developmental pathways of young adults“ (Tyler/ Schmitz 2013, S. 1720).
2.6.2 Frauen in der Wohnungslosigkeit Auch wenn sich die vorliegende Untersuchung auf männliche Wohnungslose konzentriert, soll die Adressatinnengruppe der weiblichen Wohnungslosen nicht völlig unbeachtet bleiben. Dieser Exkurs bietet sich an, um zu verdeutlichen, wie sich die Lebenssituation, Überlebensstrategien sowie Problemkonstellationen von beiden Geschlechtern in der Wohnungslosigkeit unterscheiden und warum es sinnvoll sein kann, sich im Rahmen einer Dissertation auf ein Geschlecht zu fokussieren. Aus diesem Grund widmet sich der folgende Abschnitt der besonderen Situation von Frauen auf der Straße. Diese stehen vor geschlechtsspezifischen Problemen und nutzen Überlebenstechniken, die nicht unbedingt mit denen der Männer im Milieu vergleichbar sind. Neben szenetypischen Problemen wie Alkohol, Drogen oder Krankheiten ist für Frauen vor allem die Gefahr von sexueller Gewalt hoch (vgl. Pagelow 2012, S. 64). Bei der Wohnungslosigkeit von Frauen handelt es sich außerdem häufiger um „verdeckte Wohnungslosigkeit“ (Lutz et al. 2017, S. 168), was die Erfassung der ohnehin schon problematischen Datenlage weiter erschwert. Das Ausmaß der wohnungslosen Frauen in Zahlen zu erfassen ist ebenfalls nur durch Schätzungen möglich (vgl. Wesselmann 2009, S. 25). Laut BAG W liegt der Frauenanteil (ohne Berücksichtigung der wohnungslosen Flüchtlinge) bei ca. 27 % und ist seit 2011 um 3 % gestiegen
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
(vgl. bagw.de 2017a). Im Rahmen eines TAWO- (Teilhabe von abhängigkeitskranken Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz) Forschungsprojektes wurde ein Frauenanteil unter Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz von 25 % festgestellt (Frietsch/ Holbach 2016, S. 96), was etwa dem geschätzten bundesweiten Durchschnitt entspricht. Allerdings scheinen Frauen positiver auf Hilfeangebote zu reagieren. Eine planmäßige Beendigung der Hilfe findet bei Frauen in 47,4 % der Fälle statt (37,4 % bei Männern) und Abbrüche der Hilfe durch die Klientinnen sind mit 27,9 % seltener als bei Männern (35,2 %) (vgl. BAG W e. V. 2015, S. 8). Aus quantitativer Perspektive scheint Wohnungslosigkeit eher ein Problem von Männern zu sein. Der Anteil von wohnungslosen Frauen steigt jedoch seit einiger Zeit und scheinbar stetig weiter an, außerdem sind Frauen durch die vermehrt verdeckte Wohnungslosigkeit schwerer erfassbar. Einer der Gründe hierfür ist, dass Mädchen und Frauen einfacher bei männlichen Freunden Unterschlupf finden und über ‘Liebesbeziehungen’ in Abhängigkeiten, Zwangspartnerschaften und Prostitution geraten (vgl. Romahn 2000, S. 26; Paegelow 2012, S. 64; Lutz et al. 2017, S. 173; Permien/ Zink 1998, S. 268). Die Gründe für dieses Verhalten weiblicher Wohnungsloser liegt vor allem darin, dass das Leben auf der Straße für Frauen mit zusätzlichen Risiken verbunden ist; sie sind „in der Wohnungslosigkeit verstärkt der Gefahr der Gewalt ausgesetzt“ (Wesselmann 2009, S. 25). Verglichen mit dem Rest der Bevölkerung liegt die Wahrscheinlichkeit, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, bei Frauen auf der Straße deutlich höher (vgl. Whitbeck 2009, S. 212). Mit einem Schlafplatz bei einem Mann geht zumindest ein gewisser Schutz vor anderen Männern einher (vgl. Lutz et al. 2017, S. 173; Romahn 2000, S. 27). Gleichwohl existieren auch unter Wohnungslosen Beziehungen, in denen sich Männer der Frauen (und andersherum) liebevoll annehmen, sie beschützen und ihnen behilflich sind, mitunter leben Paare gemeinsam auf der Straße. Da Frauen quantitativ seltener, besonders in den ersten Kategorien des ETHOS light (people living rough; people living in emergency accomodation), vertreten sind, sich die Probleme und Lebenssituationen von weiblichen und männlichen Wohnungslosen zum Teil unterscheiden und aus forschungspragmatischen Gründen (Zugang als männlicher Forscher), begrenzt sich die vorliegende Arbeit auf junge Männer in der Wohnungslosigkeit. Außerdem kann es aus methodologischen Überlegungen sinnvoll sein, Studien auf ein Geschlecht zu begrenzen (vgl. Kapitel 4.).
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters Im folgenden Abschnitt werden die Beschreibungen der Alltagswelten und Probleme junger Wohnungsloser aus den vorherigen Kapiteln durch Ausführungen zur spezifischen Lebensphase junger Menschen ergänzt und mit ihnen verknüpft. Hierzu werden Überlegungen zum jungen Erwachsenenalter, zur generellen Bedeutung von Übergängen in dieser Lebensphase und die entsprechenden Zusammenhänge skizziert. Eine Betrachtung Jugendlicher und junger Erwachsener, die einem besonders hohen Risiko unterliegen, in prekären Lebenssituationen wie z. B. Wohnungslosigkeit zu enden, schließt das Kapitel ab, dass gewissermaßen den Übergang zum theoretischen Zugang dieser Arbeit darstellt.
2.7.1 Junge Erwachsene, Emerging Adulthood und die Entstandardisierung des Lebenslaufs Die forschungsleitende Frage nach ‚Wegen in die Wohnungslosigkeit‘ suggeriert bereits, dass es sich bei der Problematik um eine längere Genese handelt, sodass nicht zielführend ist, einzelne, losgelöste Teilaspekte zu fokussieren. Vielmehr erfordert es, das große Ganze, die gesamte Geschichte dahinter, in den Blick zu nehmen. Lebenslauf und Biografie sind somit relevante Orientierungsgrößen dieser Studie – und darüber hinaus der (Sozial-) Pädagogik im Allgemeinen. Wie der Lebenslauf strukturiert, die Biografie erlebt wird und welchem Wandel diese unterliegen, wird nachfolgend beschrieben. Der Lebenslauf gibt als institutionalisiertes Ablaufmuster eine Struktur vor, während die Biografie – also die subjektive Lebensgeschichte – individuell konstruiert wird. In allen Gesellschaften und zu jeder Zeit wurden die verschiedenen Lebensalter in eine Reihenfolge gebracht. Die Bedeutung dieser Lebensalter und die Konstruktion klar abgrenzbarer biografischer Phasen, mit gestaffelten Rechten und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, war dabei schon immer Produkt historischer Verhältnisse. Es gab zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte Individuen bestimmten Alters. Was die entsprechende Lebensphase jedoch für die Subjekte bedeutet, welche Anforderungen, Begrenzungen, Chancen und Risiken damit verbunden waren, konnte stark variieren und unterlag, als das Ergebnis gesellschaftlicher Institutionalisierungsprozesse des Lebenslaufs, historischen Veränderungen (vgl. Galuske/ Rietzke 2008, S. 1).
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Kohli hat ausführlich dargelegt, wie sich der typische Lebenslauf der vorund protoindustriellen westlichen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts zur Hochmoderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat und daraus seine These der Institutionalisierung des Lebenslaufs abgeleitet (vgl. Kohli 1985; Kohli 2003). Der Lebenslauf wurde als Institution zur neuen Folie für die individuelle Lebensführung, blieb dabei handlungs- sowie deutungsoffen und schrieb sogar eine solche Handlungs- und Deutungsoffenheit als soziale Anforderung im Sinne einer Biografisierung der Lebensführung fest (vgl. Kohli 2003, S. 526). Die Moderne hat im letzten Vierteljahrtausend die Eckpfeiler in einer biografischen Ordnung herausgebildet, die Aufklärung entdeckte im 18. Jahrhundert die Kindheit als Lebensphase und das 19. Jahrhundert brachte die Jugendphase als Antwort auf die komplexen Anforderungen moderner Arbeitsgesellschaften hervor. Die Jugend gilt als relativer Schon- und Lernraum mit dem Ziel der qualifikatorischen und motivationalen Vorbereitung auf die Anforderungen der Erwachsenenexistenz. Die berufliche Fundierung, die Ablösung von der Herkunftsfamilie, Identitätsfindung und Familiengründung sind die Aufgaben, die die Heranwachsenden im Rahmen gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen zu bewältigen haben (vgl. ebd.). Eine Dreiteilung in Jugend (Vorbereitung auf die Erwerbsphase), Erwachsene (Erwerbs- oder Familienphase) und arbeitsentlastende Phase des Alters repräsentierte lange die Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft (vgl. Walther 2008, S. 11), bildete aber keineswegs die Realität des sich wandelnden sozialen Lebens ab (vgl. Galuske/ Rietzke, S. 2). Hier deutet sich bereits das erste Problem an: auch wenn ein ‚Normallebenslauf‘ für die meisten Menschen weitestgehend unerreichbar – bzw. nicht erstrebenswert – scheint, dient die Vorstellung davon immer noch als Orientierungsmuster, dessen Nichtbefolgung Konsequenzen haben kann. Ein solches Modell, welches aufweichende Lebensläufe stigmatisiert, nennt Kohli „Lebenslaufregime“ (Kohli 1985, S. 2), denn ein institutionalisierter Lebenslauf konstruiert nicht nur Sicherheit, sondern auch Zwang. „Er erzeugt Handlungsfreiheit, indem er Handlungsfreiheit beschränkt – dies ist die bekannte Ambivalenz aller Institutionen“ (Kohli 2003, S. 527). Kohli kritisiert die Vorstellung eines normierten Lebenslaufs weiter, da Abweichungen umso schmerzlicher werden, weil eine Normalitätsfiktion immer einen Zurechnungsmodus erzeugt, dessen Verfehlen kritisch ist und somit soziale Ausgrenzung legitimiert werden kann (vgl. ebd.). Wenn ein Maßstab für ein richtig gelebtes (Erwerbs-) Leben gesetzt wird, dann auch für ein falsches (vgl. ebd., S. 528).
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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Die deutlichen Destandardisierungs- und Deregulierungstendenzen bei den wesentlichen Strukturgebern des Lebenslaufs – die Familien und Erwerbsbiografie – ergibt eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Lebenspfade (vgl. ebd., S. 532 f.) und ein standardisierter Lebenslauf erscheint überholt. An seine Stelle treten „Kontingenz und Optionenvielfalt“ (ebd., S. 533). Dennoch werden von Institutionen in den Politikfeldern Arbeitsmarkt, Berufsbildung und soziale Sicherung die Vorstellung einer Normalbiografie der Individuen zugrunde gelegt. Normalbiografien bestehen „nicht nur aus Vorstellungen, an denen Individuen ihre Lebensplanung orientieren, sondern auch als gesellschaftlich definierte Verlaufsmuster, die in unterschiedlichem Ausmaß juristisch fixiert sowie institutionell verankert sind“ (Heinz/ Behrens 1991, S. 2). Die Kontinuitätserfahrung der Menschen wird heute trotz allem durch institutionalisierte Lebenslaufprogramme abgestützt und der Lebenslauf tritt immer noch als Institution der Vergesellschaftung der Individuen auf; er ist ein Regelsystem, welches das individuelle Leben zeitlich ordnet und wird auf zwei Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion wirksam: Bei der normativen und zeitlichen Rahmung von Statuspassagen in Bildungs-, Familien- und Erwerbsorganisationen und als Schema zur biografischen Orientierung (vgl. ebd., S. 3). Die von den Institutionen als normal unterstellten bildungs-, berufs- und familienbezogenen Lebenslaufmuster verlieren also an Realitätsgehalt, sind aber weiterhin Richtschnur für die Praxis der gesellschaftlichen Instanzen und Organisationen, für die Phaseneinteilung des Lebenslaufs (vgl. ebd., S. 5). Nachdem die Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Lebensläufen festgestellt wurden, nehmen verschiedene Perspektiven eine Phase in den Blick, die offensichtlich nach der Jugend, aber noch vor dem Erwachsenendasein zu verorten ist. Auch dieser Phase werden – je nach Standpunkt – verschiedene Entwicklungsaufgaben, Merkmale und Möglichkeiten zugeschrieben. Die interessante Frage im Kontext dieser Arbeit lautet, was es für die Entwicklung und Identitätsbildung bedeutet, wenn jungen Menschen die Chancen dieses Lebensabschnittes verwehrt bleiben und sich dessen Risiken potentieren. Bevor auf die einzelnen Konzepte einer postadoleszenten Phase eingegangen wird, soll zunächst die ‚Entdeckung‘ derselben am gesellschaftlichen Wandel verdeutlicht werden. Bereits in den 1960er Jahren wurden unter dem Begriff der Postadoleszenz die jungen Erwachsenen in den Blick genommen, die zwar dem Alter nach erwachsen sind, aber noch nicht die materiellen und psychosozialen Ablösungsprozesse vollzogen haben. Durch längere Bildungszeiten, immer labilere berufliche Einmündung sowie die Herausbildung von städtischen Szenen, die es erlauben, auf die Erwachsenenexistenz vorerst zu verzichten, hat sich die
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Postadoleszenz von der Ausnahme zur Regel gewandelt. Hintergrund ist die Modernisierung der Arbeitsgesellschaften, denn wenn die Möglichkeit lebenslanger, kontinuierlicher und statussicherer Beschäftigung wegfällt, z. B. durch Globalisierung, technologische Innovationen und marktliberalere Gesellschaftsordnungen, dann endet auch die Vorstellung der Jugend als ‚Wechsel auf die Zukunft‘. Das Phänomen der (erzwungenen) Nachjugendphase ist zur allgegenwärtigen Normalität geworden (vgl. Galuske/ Rietzke 2008, S. 2 ff.). „Nicht Kontinuität, sondern Flexibilität ist die Leitformel der entfesselten Marktgesellschaft und lebenslanges Lernen ist ihr Credo. Das, was im Zeitalter des Normalarbeitsverhältnisses der Jugend vorenthalten blieb, entgrenzt sich nun und wird zur Aufgabe für das gesamte Leben“ (ebd., S. 4).
Für die Konstitution von Lebensläufen bedeutet dies, dass klassische Entwicklungs- und Statuspassagen der Jugendphase ausdifferenziert werden, sich über das gesamte Erwachsenenleben erstrecken, aber gleichzeitig Anforderungen des Erwachsenendaseins in die Phase der Jugend hineinreichen (vgl. ebd., S. 5). „Die zunehmende Entkopplung von Bildung und Beschäftigung führt zu einer Diversifizierung der Übergänge zwischen Jugend und Erwachsenensein und einer Zunahme an Unsicherheit und Ungewissheit, da das Ankommen in einem anerkannten und abgesicherten Erwachsenenstatus immer weniger erwartbar und planbar ist“ (Walther 2008, S. 12).
Die Risiken des Scheiterns sind dabei ungleich verteilt, denn alte Ungleichheitsstrukturen wie soziale Herkunft, Geschlecht, Ethnizität und Region spielen nach wie vor eine zentrale Rolle (vgl. ebd.). Es kann konstatiert werden, dass Lebensläufe generell offener geworden sind. Wo die Gesellschaft früher klar strukturierte Erwartungen an die Jugend von Ausbildung, Beruf, Hochzeit, Kinder, Haus hatten, muss heute jeder junge Mensch immer wieder jede biografische Entscheidung selbst fällen (vgl. Albrecht/ Hurrelmann 2015, S. 31). Trotz allem besteht weiterhin die Tendenz, sich an einem – für die Meisten illusorischen – ‚normalen‘ Lebenslauf zu orientieren.
2.7.2 Das Konzept der ‚emerging adulthood‘ Das Konzept der „emerging adulthood“ (Arnett 2004) verbindet die entwicklungspsychologische Postadoleszenz mit einer Perspektive des sozialen Wandels. Arnett stellt fest, dass junge Menschen, besonders in Industrienationen,
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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eine Phase, „lasting from the late teens through the mid- to late twenties“ (ebd., S. 4) durchleben, die sich sowohl vom Erwachsenendasein als auch der Jugend unterscheidet. Diese Phase bezeichnet er als „emerging adulthood“ (ebd.). Dabei spielen nicht nur soziologische Faktoren wie Bildungsabschlüsse, Heirat oder Elternschaft eine Rolle, sondern auch abstrakte psychologische Dimensionen wie eigene Verantwortung zu übernehmen oder unabhängige Entscheidungen zu treffen. Er postuliert fünf konstitutive Merkmale dieser Phase: „1. It is the age of identity explorations, of trying out various possibilities, especially in love and work. 2. It is the age of instability. 3. It is the most self-focused age of life. 4. It is the age of feeling in-between, in transition, neither adolescent nor adult. 5. It is the age of possibilities, when hopes flourish, when people have an unparalleled opportunity to transform their lives“ (Arnett 2004, S. 8).
Jungen Menschen wird die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Lebensoptionen, insbesondere Liebe und Arbeit betreffend, auszuprobieren, ohne sich letztlich festlegen zu müssen. Zwar beginnt die Identitätsfindung bereits in der Jugendphase, intensiviert sich aber erst in der Postadoleszenz. Im Vergleich zur Jugend werden die Liebes- und Arbeitsbeziehungen zuverlässiger, aber noch nicht verbindlich oder endgültig (vgl. ebd., S. 9). Viel ausprobieren zu können, bedeutet gleichermaßen auch, viele Lebenskonzepte wieder zu verwerfen, die Periode der emerging adulthood ist somit auch durch Instabilität gekennzeichnet. Junge Menschen stellen fest, dass sie sich für das falsche Studium entschieden haben und wechseln das Fach, entscheiden sich stattdessen für eine Ausbildung, oder arbeiten erst einmal ungelernt, um schnell Geld zu verdienen. Was Arnett als Instabilität bezeichnet, findet sich bei Walther unter dem Begriff Reversibilität. Einmal getroffene Entscheidungen können noch relativ einfach zurückgenommen werden. Was zunächst positiv klingt, beinhaltet dennoch den Aspekt der gezwungenen Reversibilität, sei es durch den Verlust der Arbeit oder das Ende einer Partnerschaft (vgl. Walther 2008, S. 14). Ob Instabilität oder Reversibilität, konstituierend für diese Phase sind viele Fragen und lebensweisende Entscheidungen. „So many decisions […] Go to college? Work full time? Try to combine work and college? Stay in college or drop out? Switch majors? Switch colleges? Switch jobs? Switch apartments? Switch roommates? Break up with girlfriend/boyfriend? Move in with girlfriend/boyfriend? Date someone new? Even for emerging adults who remain at home, many of these decisions apply“ (Arnett 2004, S. 13).
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Mit jeder Anpassung ihres ursprünglichen Lebensplans lernen die jungen Erwachsenen etwas über sich selbst und im Idealfall über ihre angestrebte Zukunft. Arnett illustriert die Instabilität, indem er die Anzahl der Umzüge von Personen verschiedenen Alters anführt, die mit 20–24 Jahren am höchsten ist (vgl. ebd., S. 10 ff.). Er postuliert die Phase der emerging adulthood darüber hinaus als die Zeit, in der die Betroffenen sehr selbstbezogen („self-focused“ (ebd., S. 13)) sind. Das ist keineswegs abwertend gemeint, denn dadurch können Fähigkeiten entwickelt werden, die für das weitere Leben als Erwachsener bedeutsam sind. Arnett erachtet dies als wichtige Entwicklungsaufgabe: „learning to stand alone as a self-sufficient person […] before committing themselves to enduring relationships with others, in love and work“ (ebd., S. 14). Daraus resultiert ein Gefühl des dazwischen („feeling in-between“ (ebd.)). Viele der 18- bis 25-Jährigen fühlen sich weder als Erwachsene, noch als Jugendliche. Dieses subjektive Empfinden weicht oft erst in den späten 30ern (vgl. ebd.). Befragt nach ihrer Zukunft, äußert sich die große Mehrheit der emerging adults sehr positiv. Sie sind sich sicher eines Tages gut bezahlte, befriedigende Arbeit zu finden, eine lebenslange Ehe zu führen und glückliche Kinder zu haben. „Emerging adulthood is the age of possibilities, when many different futures remain open, when little about a person’s direction in life has been decided for certain. It tends to be an age of high hopes and great expectations […] because few of their dreams have been tested in the fires of real life“ (ebd., S. 16).
An die möglichen negativen Aspekte der Zukunft, wie schlechte Arbeit, Kündigung, Scheidung etc., verschwenden sie kaum Gedanken (vgl. ebd.). Arnett formuliert schließlich Kriterien für das Erwachsenendasein, die im Anschluss an die Phase der emerging adulthood erfüllt werden müssen: „(1) accepting responsibility for oneself; (2) financial independence; (3) independent decision making; (4) general independence/ self-sufficiency; and (5) establishing an independent household“ (Arnett 1998, S. 305). Erst nachdem diese Aufgaben bewältigt sind, befinden sich Individuen im gefestigten Erwachsenenalter.
2.7.3 Das Konzept des ‚jungen Erwachsenenalter‘ Die ersten deutschen Studien und Veröffentlichungen zur Lebenslage der jungen Erwachsenen (vgl. Müller 1990; Walther 1996) halten zumindest indirekt an der Vorstellung eines linear fortschreitenden Lebenslaufes fest, in der Übergänge lediglich verlängert, oder in andere Lebensphasen eingefügt werden. Walther
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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Tabelle 2.4 Übergangsverlaufsmuster (Walther 2008, S. 15; vgl. auch: Walther et al. 2007, S. 104) Glatt
Ohne Brüche entlang institutioneller normalbiografischer Vorgaben
Aufsteigend
Aufstocken von Bildungsabschlüssen
Alternativ
Ausstieg aus formal vorgegebenen Karrieren zugunsten selbst gewählter Lebensentwürfe (z. B. Selbstständigkeit)
Institutionell repariert
Nach Brüchen mithilfe von intervenierenden Maßnahmen wieder in Entsprechung zu institutionellen normalbiografischen Vorgaben
Stagnierend
Zahlreiche Ein- und Ausstiege ohne Qualifikations- und Statusgewinn, strukturelle Benachteiligung und Motivationsverlust verstärken sich gegenseitig
Absteigend
Benachteiligung und Ausgrenzungsrisiken in verschiedenen Lebensbereichen werden durch prekäre Bewältigungsstrategien wechselseitig verstärkt
plädiert für eine „Entstandardisierung“ (Walther 2008, S. 14) des Lebenslaufs. ‚Junge Erwachsene‘ sei eher eine Forschungsperspektive auf neue Lebenslagen im Kontext entstandardisierter Lebensläufe als eigenständige Lebensphase (vgl. ebd.). Eng verbunden mit dem Konzept des jungen Erwachsenenalters sind verschiedene Überlegungen bezüglich der Übergänge zwischen den einzelnen Lebensphasen. „Die Übergänge junger Erwachsener oszillieren wie Yoyos zwischen Jugend und Erwachsenensein; auch in der Binnenperspektive […] wird es zunehmend normal, sich von einer Einordnung als Jugendliche oder Erwachsene kritisch zu distanzieren“ (Stauber/ Walther 2002, S. 115). Yoyo-Übergänge sind vor allem durch Reversibilität, Fragmentierung, Gleichzeitigkeit und Diversifizierung gekennzeichnet (vgl. Walther 2008, S. 14 f.). Übergangsschritte sind reversibel, d. h. sie können entweder aufgrund neuer attraktiver Optionen gewählt werden, oder z. B. durch den Verlust der Arbeit, zurückgenommen oder erzwungen werden. Mit der Verlängerung des Übergangs in die Arbeit entkoppeln sich zusätzlich Teilübergänge bezüglich Familie und/ oder Wohnen, die wiederum eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Je nach Lebensbereich werden gleichzeitig typisch jugendliche oder typische erwachsene Anforderungen gestellt. Insgesamt verbinden sich Übergangsstrukturen und Übergangshandeln zu variablen Zusammensetzungen, die immer seltener normalbiografisch-institutionalisierten Vorgaben entsprechen (vgl. ebd.). Dies
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
bedeutet auch, dass die jungen Erwachsenen immer mehr Risiken ausgesetzt sind, wie die von Walther et al. konstruierten idealtypischen Übergangsverläufe verdeutlichen (Tabelle 4.4): Das Konzept der Yoyo-Übergänge wird zwar durch empirische Befunde gestützt, ist aber zunächst als heuristisches Konzept gedacht. „Anstatt um die Prägung eines neuen Labels geht es um die Sensibilisierung für die Tatsache, dass nur noch weniger Übergänge mit den institutionellen Normalitätsannahmen übereinstimmen. Geht es der Übergangsforschung um die Erfassung und Analyse des fortschreitenden Wandels von Übergängen und seine Bedeutung für die jungen Frauen und Männer, bedarf es deshalb einer Erweiterung der bislang vorherrschenden Perspektive. Anstatt eindimensional danach zu fragen, von wem institutionelle Anforderungen im Übergang bewältigt werden und von wem nicht, muss die wechselseitige Beziehung zwischen sozioökonomischen Strukturen (Arbeitsmarkt, soziale Ungleichheit), institutionellen Vorgaben (Schule, Berufsbildung, Arbeitsmarktpolitik) und biographischen Perspektiven in den Blick genommen werden. Welche Anforderungen stellen sich den Subjekten vor dem Hintergrund ihrer Interessen und Bedürfnisse und welche Möglichkeiten sehen sie, diese subjektiv sinnvoll zu bewältigen?“ (Walther 2008, S. 16)
Synchron zu Arnett stellt Walther fest, dass es zu einer Relativierung des Erwachsenenstatus kommt. Anstatt Stabilität anzustreben, werden Optionen offengehalten und die jungen Menschen sind bereit für Veränderungen. Es fällt ihnen schwer, sich entweder als jugendlich oder erwachsen zu beschreiben und in vielen Fällen kultivieren sie eine Distanzierung von einem als starr erlebten Erwachsenenstatus (vgl. ebd., S. 20). Doch was sind die Anforderungen des Erwachsenenwerdens, denen sich junge Menschen ausgesetzt sehen? Und welche Strukturen führen zu einem immer weiteren Hinausschieben des Erwachsenenwerdens? Walther und Stauber identifizieren dazu die zentrale Übergangsthemen „Arbeit und Bildung, Wohnen und Familie, Geschlecht, Partnerschaft und Sexualität sowie Lebensstil, Jugendkultur und Konsum“ (vgl. Stauber/ Walther 2002, S. 115). Damit bestätigen sei weitestgehend Arnetts Überlegungen zu dieser entsprechenden Lebensphase (vgl. Abschnitt 2.7.2). Als Zwischenschritt in Richtung der theoretischen Sensibilisierung dieser Arbeit durch das Konzept von Agency, folgt die Beschreibung der Relevanz von Übergängen in und zwischen den einzelnen Lebensphasen von Individuen.
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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2.7.4 Junge Erwachsene und Übergange Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens immer wieder mit zahlreichen Übergängen konfrontiert und erlebt diese auf völlig unterschiedliche Weise. In der Metapher der forschungsleitenden Frage nach den Wegen in die Wohnungslosigkeit stellen Übergänge hier Kreuzungen, versperrte sowie unwegsame Pfade oder auch gut begehbare Wege und Straßen dar. An einigen dieser Kreuzungen entscheiden sich die Individuen aktiv für eine bestimmte Richtung, andere Abbiegungen werden ihnen empfohlen, gegen ihren Willen aufoktroyiert oder bleiben unzugänglich, weil ihnen – symbolisch gesprochen – das passende Schuhwerk fehlt. Wieso es aus sozialwissenschaftlicher Perspektive interessant sein kann, Übergänge im Lebenslauf zu beobachten, welche Risiken oder Möglichkeiten den Transitionen immanent sind und wie sich insbesondere der Übergang hin zum jungen Erwachsenen vollzieht, wird im Folgenden erörtert. Übergänge sind jene Passagen, die Menschen zwischen verschiedenen Lebensphasen durchlaufen. Dass Übergänge thematisiert werden, bedeutet zunächst, dass ihre Relevanz im Lebenslauf, sowohl was ihre Dauer als auch ihre Häufigkeit betrifft, zunimmt. Des Weiteren kann nicht mehr eindeutig bestimmt werden, wann sie beginnen und aufhören. Außerdem kann immer weniger festgelegt werden, was zu ihrer erfolgreichen Bewältigung notwendig ist oder was ihre erfolgreiche Bewältigung überhaupt bedeutet (vgl. Stauber et al. 2007, S. 7). Kutscha definiert sie als „Schnittstellen individueller biographischer Verläufe und sozialer Strukturen, Verzweigungen gesellschaftlich vorgeformter Entwicklungsbahnen. Sie markieren Brüche, die es zu überbrücken gilt, sie sind das Nadelöhr für gesellschaftlichen Erfolg, aber auch Stationen des Scheiterns und Misserfolgs“ (Kutscha 1991, S. 113).
In der Übergangsforschung rücken soziale Prozesse des Wechsels von Lebensbereichen, die unterschiedlich zugänglich sind, in den Blick. Es geht um den Wechsel des Status und um die Reproduktion und Transformation eines Sozialsystems (vgl. ebd., S. 116 f.). Übergangsforschung ist subjektorientiert, da die mit der Entstandardisierung verbundene Pluralisierung von Lebenslagen junger Menschen dazu führt, „dass die Dynamik biographischer Übergänge nicht länger ausschließlich aus einer Perspektive institutionalisierter Normallebensläufe, sondern zunehmend nur noch aus der Innensicht der individuellen AkteurInnen erfasst werden können“ (Stauber et al. 2007, S. 8). Die Voraussetzungen, unter denen junge Menschen die neuen Anforderungen, die sich stark individualisiert
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
haben, bewältigen können und der sich daraus ergebene Bedarf an Kompetenzen und an Unterstützung, sind ebenfalls für die Übergangsforschung von Interesse (vgl. ebd., S. 10). Die Vorstellung, beim Lebenslauf handle es sich, im Sinne einer zyklischen Abfolge von Entwicklungsschritten oder Lebensaltersstufen, um eine relativ gleichförmige, strukturierte Entwicklung menschlicher Erfahrung im Verlauf der Zeit, wurde zumindest partiell revidiert (vgl. Raithelhuber 2013, S. 102). Menschen können in ihrem alltäglichen Leben eine konstitutive und aktive Rolle einnehmen und Einfluss auf den Lebenslauf üben. Dieses Moment wird auch als Agency in transition gefasst (siehe Abschnitt 3.2 für eine ausführliche Ausarbeitung von Agency im Kontext Übergänge). Wie bereits mehrfach angesprochen scheint ein Modell von Normalbiografien zunehmend obsolet zu werden. Schulabschlüsse sind keine ausreichenden Bedingungen für einen Ausbildungsplatz im Wunschberuf, Ausbildungsabschlüsse garantieren keine entsprechenden qualifizierten sowie abgesicherten Arbeitsplätze mehr und immer häufiger werden Erwerbsverläufe von Berufswechseln gekennzeichnet. Die Familie hat sich, als zweite Säule des Normallebenslaufs, immer mehr diversifiziert und hat dadurch, sowohl als Sozialisationsinstanz aus Sicht der Institutionen als auch als sozialer Haltepunkt für die Individuen, an Verlässlichkeit verloren (vgl. Walther/ Stauber 2007, S. 31). Viele junge Menschen orientieren sich trotzdem weiterhin, entgegen vielfacher Gegenerfahrungen, an einer institutionell vorgegebenen Normalbiografie (vgl. Shell-Jugendstudie 2015, S. 15 ff.; vgl. Abschnitt 2.7.3 & 2.7.4). Die Realisierung wird für viele dabei zur Zerreißprobe, denn während der „Normallebenslauf nicht nur Linearität suggeriert, sondern auch eine integrierte Bewältigung aller mit der Statuspassage Erwachsenenwerden einhergehenden Aufgaben, ist von unterschiedlichen Teilübergängen mit durchaus widersprüchlichen Anforderungen auszugehen“ (Walther/ Stauber 2007, S. 31). Das folgende Kapitel thematisiert jene problembehaftenten Übergänge, die über die vermeintlich typischen Probleme junger Menschen in Übergangskontexten hinausgehen. Es gibt eine Vielzahl an Begrifflichkeiten, um junge Menschen zu bezeichnen, deren Übergangskontexte von Schwierigkeiten geprägt sind. Häufig beschreiben die verschiedenen Termini Jugendliche und junge Erwachsene mit ähnlichen Problemlagen. In der Literatur finden sich die Begriffe entkoppelte, bzw. marginalisierte Jugendliche, disconnected youth, Systemsprenger, um jene jungen Menschen zu beschreiben, deren Übergangsprozesse hauptsächlich von Krisen begleitet werden. Wie bereits in der Einleitung thematisiert, unterliegen ebenfalls Care Leaver einem hohen Risiko, an dem Übergang in ein eigenständiges Leben
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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zu scheitern. In den folgenden Kapiteln werden die Begrifflichkeiten geordnet und untereinander abgegrenzt.
2.7.5 Entkoppelte Jugendliche, Disconnected Youth, marginalisierte Jugendliche und Systemsprenger Entkoppelte Jugendliche, bzw. im englischen Diskurs: disconnected youth, sind jene jungen Menschen, die sich angesichts fehlender Verbindungen zu Familie, sozialen Netzwerken, Schule, Ausbildung oder Erwerbsarbeit in prekären Lebenssituationen befinden und auf Hilfeangebote angewiesen sind (vgl. Mögling et al. 2015, S. 5 ff.). Des Weiteren sind sie – verglichen mit gleichaltrigen Peers – eher arm, leiden häufiger unter psychischen Problemen, haben eher Erfahrungen mit Drogen und Gewalt, sind eher psychisch auffällig und werden häufiger bereits im Teenageralter Eltern (vgl. Hair et al. 2009, S. 1 f.; Mögling et al. 2015, S. 5; Schwabe et al. 2013, S. 13). Hair et al. identifizieren mehrere Risikofaktoren, welche die Wahrscheinlichkeit einer solchen ‚disconnectedness‘ erhöhen. Den größten Einfluss scheint dabei ein niedriges Haushaltseinkommen, gefolgt von der Familienstruktur zu haben. Leben die Kinder und Jugendlichen mit beiden biologischen Eltern zusammen, ist das Risiko gering, fehlt hingegen ein Elternteil, sind Stiefeltern involviert, oder fallen gar beide Eltern weg, steigt das Risiko an (vgl. ebd., S. 3). Außerdem spielt das Alter (je älter, desto höher das Risiko), das Vorhandensein von Geschwistern (verringert das Risiko) (vgl. ebd., S. 4) und die Zugehörigkeit zu einer Minderheit (erhöht das Risiko) (vgl. ebd., S. 2) eine Rolle. Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Probleme und Risikofaktoren der entkoppelten Jugendlichen deutliche Schnittmengen mit denen der jungen Wohnungslosen (vgl. Abschnitt 2.4) aufweisen. Gerdes, Steding und Würfel beschreiben marginalisierte Jugendliche als jene im Alter zwischen 14 und 27 Jahren, die • „sich nur noch teilweise oder überhaupt nicht mehr innerhalb der regulären Erwerbs-, Bildungs- und Sozialsysteme bewegen, • sich zeitweise in Fördermaßnahmen befinden, aber zu den hochgradig Abbruchgefährdeten gehören, • gesellschaftlich abgehängt und entkoppelt sind und keinen Zugang mehr finden, • sich zum Teil selbst von der Gesellschaft abgrenzen und keine Hilfe mehr erwarten und
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
• die teilweise durch ihr Verhalten auffallen, teilweise aber auch ganz unauffällig und zurückgezogen leben“ (Gerdes/ Steding/ Würfel 2016, S. 132). Die Systemsprenger nehmen unter den entkoppelten Jugendlichen eine Ausnahmestellung ein, bei denen die Grenzen vieler konventioneller Erziehungshilfen offenkundig werden: Es handelt sich dabei um junge Menschen, bei denen die Erziehungshilfemaßnahmen von Seiten der betreuenden Einrichtung abgebrochen wurde, da die Jugendlichen wegen schwerwiegender Verhaltensstörungen nicht zu betreuen erscheinen und somit den Rahmen der Erziehungshilfe ‚sprengen‘. Die Ablehnung wird in den meisten Fällen mit der Rücksichtnahme gegenüber den anderen anvertrauten Klienten oder den Mitarbeitern gerechtfertigt. Die Systemsprenger lehnen mitunter selbst weitere Hilfen ab, da ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Jugendhilfesystem überwiegend negativ bilanziert werden (vgl. Schwabe et al. 2013, S. 20). Die Systemsprenger befinden sich in einer durch Brüche geprägten, negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfe-, Bildungs- und Gesellschaftssystem, und prägen diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mit (vgl. Baumann 2010, S. 13). Sie sind aus Sicht der Sozialisationsinstanzen Familie und/ oder Schule so ‚unaushaltbar‘, dass sie in den Systemen oft von Institution zu Institution weitergereicht werden (vgl. Schwabe et al. 2013, S. 13). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Etikettierungen zu Recht kritisiert wurden (vgl. ebd., S. 26), da sie das komplexe, interaktive Geschehen, welches zu Abbrüchen und wechselseitigem Ressentiment zwischen jungen Menschen und Hilfesystem eher die Rolle – respektive Schuld – der Jugendlichen und jungen Erwachsenen betont.
2.7.6 Care Leaver Unter dem Begriff Care Leaver werden jene jungen Erwachsenen zusammengefasst, die eine – teilweise langjährige – Institutionskarriere in stationären Erziehungshilfen durchlaufen haben und die Kinder- und Jugendhilfe verlassen haben. Entweder, weil diese aufgrund ihres Alters dem Hilfesystem für Jugendliche entwachsen sind, im Rahmen ihrer mit der Volljährigkeit erlangten Entscheidungsfreiheit beschließen, auf die Hilfeangebote zu verzichten, oder die Hilfen von Seiten der betreuenden Einrichtungen abgebrochen werden (vgl. Abschnitt 2.7.5). Häufig gehören die Care Leaver zu den entkoppelten Jugendlichen (respektive jungen Erwachsenen) und Systemsprengern. Diese Gruppe unterliegt einem erhöhten Armutsrisiko und hat häufig große Schwierigkeiten
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bei dem Aufbau von Sozialbeziehungen (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinderund Jugendhilfe (AGJ) 2014, S. 1). Diese Gruppe ist für das Thema dieser Arbeit von besonderem Interesse, da eine nicht unerhebliche Zahl der Care Leaver in letzter Konsequenz auf der Straße landet. Verschiedene Studien legen nahe, dass diese Risikogruppe vermehrt nach Beendigung der institutionalisierten Hilfe wohnungslos werden (vgl. Bassuk et al. 1997, S. 246; Mögling et al. 2015, S. 37 ff.; Penzerro 2003, S. 229; Piliavin 1996, S. 37; Zugazaga 2004, S. 650). Zerger et al. zeigen, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika viele junge Menschen kurze Zeit nach Verlassen der Jugendhilfe wohnungslos werden. „Those aging out of the foster care system are especially at risk“ (Zerger et al. 2008, S. 825) und „24 percent to 50 percent of former foster/ probation youth become homeless within the first 18 months of emancipation“ (Independent Living Program Policy Unit Child and Youth Permanency Branch 2002, S. 2). Bei jungen Menschen, die ein Setting der Fürsorge verlassen, wird der Übergang aus dem Hilfesystem in ein eigenständiges Leben in der Regel nicht unauffällig und problemlos ablaufen. Vielmehr bedarf dieser Moment besonderer Aufmerksamkeit (vgl. Schmid-Obkirchner 2015, S. 7 f.). Die Care Leaver stehen vor der Herausforderung, „sowohl den Übergang aus der Institution Erziehungshilfe heraus, als auch den Übergang in das Lebensalter des/ der Erwachsenen zeitgleich meistern zu müssen“ (Zeller/ Köngeter 2013, S. 571). Dabei können sie im Gegensatz zu ihren Peers auf vergleichsweise wenig materielle wie immaterielle Unterstützungsressourcen zurückgreifen und sie müssen den Schritt in ein selbstständiges Erwachsenenleben durchschnittlich deutlich früher bewältigen (vgl. Sievers et al. 2015, S. 9). Dazu fehlen den jungen Care Leavern jedoch häufig die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen: „[T]hey are more likely to have low-paying jobs with few benefits and are less likely to have health insurance, substantial savings, or experience with housing matters, legal rights, or community resources than more experienced adults“ (Zerger et al. 2008, S. 825). Im Kontext dieser Arbeit ist das Thema Wohnen, bzw. der Übergang in eigenen Wohnraum von Care Leavern von besonderem Interesse. In den fachlichen Diskussionen und der Praxis der Übergangsbegleitung nimmt die Frage, ob ein junger Mensch in der Lage ist, „allein zu wohnen und alle damit zusammenhängenden Anforderungen zu bewältigen, einen sehr zentralen Raum ein“ (ebd., S. 92). Viele Angebote und Maßnahmen richten sich gezielt auf die Vorbereitung der Care Leaver auf ein selbstständiges Wohnen. Die Begleitung im Hinblick auf den Aufbau und die Pflege von tragfähigen sozialen Beziehungen oder des Erreichens von Bildungszielen wird nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. ebd.).
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2 Annäherung an den Untersuchungsgegenstand …
Grundsätzlich ist der Umzug in eine eigene Wohnung für die meisten Care Leaver mit einem Statusgewinn verbunden und wird als ein sichtbares Symbol für ein eigenständiges Leben forciert. Allerdings empfinden viele der jungen Erwachsenen das Ende der Hilfe zur Erziehung als erzwungen und erleben das Erreichen der Volljährigkeit somit als Zeit neuer Unsicherheiten (vgl. ebd.). Nichtsdestotrotz konzentrieren sich in der Praxis der Übergangsbegleitung viele Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auf eine passgenaue Ausgestaltung der Angebote zur Begleitung des Übergangs in den eigenen Wohnraum. Das betreute Wohnen mit zunehmend reduziertem Betreuungsumfang und in einer Vielzahl abgestufter Formen ausgestaltet, scheint den typischen Übergangspfad aus der Heimerziehung darzustellen. Gemeinsam ist die konzeptionelle Ausrichtung auf das Einüben von Kompetenzen, die für ein selbstständiges Leben unabdingbar sind. Die Übergangsbedingungen in Pflegefamilien gleichen stärker denen für Jugendliche und jungen Erwachsenen, die in ihren Herkunftsfamilien leben, somit ist eine Betrachtung spezifischer Wohnformen und Zwischenstufen für diese Gruppe weniger relevant (vgl. ebd., S. 93). Der Aufbau und Erhalt von tragfähigen sozialen Beziehungen stellt einen Schlüsselaspekt in der Vorbereitung des Übergangs und des Ankommens im Erwachsenenleben dar. Soziale Netzwerke beeinflussen die Entwicklung und Sozialisation von Menschen und tragen entscheidend zu ihrem persönlichen Wohlbefinden bei (vgl. Nestmann et al. 2008, S. 69). „Soziale Unterstützung im sozialen Netzwerk wird somit nicht nur für die Problemund Krankheitsbewältigung in Belastungssituationen als relevant erachtet, sondern auch für die persönliche Entwicklung und die Gesunderhaltung. Die Integration in ein soziales Netzwerk und der Rückhalt den man tagtäglich im normalen Leben auch außerhalb von Stresssituationen erhält, führen zu besserer Gesundheit und weniger Krankheit. Hier wird betont, dass Menschen soziale Bezüge nicht mit dem Blick auf Problembewältigung aufnehmen, sondern vielmehr im Zusammenhang mit ihrem ständigen Bedürfnis nach Kontakten, Interaktion, Rückmeldung, Akzeptanz, Intimität etc.“ (Nestmann/ Wehner 2008, S. 14).
Soziale Beziehungen sind also sowohl in Belastungs- als auch in Alltagssituationen von enormer Bedeutung. Sie können Wohlbefinden, Zuversicht und eine positive Stimmung befördern und in Stresssituationen als Puffer wirken. Menschen, die in unterstützenden Netzwerken eingebettet sind, zeigen sich generell weniger belastet und weniger krankheitsanfällig (vgl. ebd., S. 15). Ein zentrales Problem bei Care Leavern ist der Mangel an eben solchen verlässlichen Beziehungen oder zumindest entsprechenden informellen Kontakten. Bei allen Menschen birgt der Lebensabschnitt des jungen Erwachsenenalters
2.7 Über die Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters
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eine Veränderung und Neujustierung sozialer Beziehungen. Die Ablösung von den Eltern ist dabei kein bewusst gesetztes Ziel, sondern geschieht indirekt durch das Streben nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmung. Dabei bedeutet die Ablösung von der Herkunftsfamilie nicht den Abbruch, sondern eine Neuordnung der Eltern-Kind-Beziehung mit veränderten Distanzen (vgl. Sievers et al. 2015, S. 122). Für Care Leaver sind die Veränderungen ihrer sozialen Beziehungen von gravierender Bedeutung, denn junge Menschen, die in stationären Hilfen aufwachsen, „erleben in der Phase des Übergangs nicht nur eine Veränderung ihrer Wohnsituation, sondern zwangsläufig auch hinsichtlich zentraler Bezugspersonen, welche nach dem Verlassen der Hilfe zudem nicht mehr selbstverständlich verfügbar sind“ (ebd.). Der Prozess des Übergangs und die Phase der Ablösung selbst ist für Care Leaver häufig mit erheblichen emotionalen Belastungen verbunden, da neben den Anforderungen, einen Bildungsabschluss zu erwerben, sich beruflich zu orientieren und sich zeitgleich Kompetenzen für das selbstständige Leben anzueignen der Verlust von Betreuungs- und Vertrauenspersonen verarbeitet werden muss (vgl. ebd., S. 123). Diskontinuität ist ein zentrales Moment für Care Leaver. „Die meisten Kinder und Jugendlichen in stationären Hilfen haben aber sowohl im Hinblick auf Bezugspersonen in der Herkunftsfamilie als auch bezüglich der Betreuer_innen schon mehrere Wechsel erlebt. Diese Diskontinuität in den sozialen Beziehungen reproduziert sich i. d. R. im Übergang ins Erwachsenenleben hinsichtlich der Betreuer_innen im Hilfesystem“ (ebd.).
Oft liegen bei Care Leavern aufgrund von biografischen Erfahrungen von Mangel und Gewalt Bindungsprobleme vor, sodass ein grundlegendes Misstrauen gegenüber anderen Menschen entwickelt wird. Des Weiteren haben viele der jungen Menschen im Prozess der Herausnahme oder Unterbringung oft keinen guten Abschied aus ihrer Herkunftsfamilie bzw. aus anderen Hilfesettings erlebt. Somit ist davon auszugehen, dass der Aufbau und die Pflege von positiv erlebten Beziehungen für die Care Leaver mit Herausforderungen verbunden sind (vgl. ebd.). Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Übergängen und jungen Erwachsenen, bei denen Übergänge in verschiedenen Formen gescheitert sind oder zu scheitern drohen, wird die sozialwissenschaftliche Diskussion und Konzeptualisierungsversuche von Agency, als theoretisch sensibilisierendes Konzept der vorliegenden Studie dargelegt.
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Biografie- und agencytheoretischer Zugang
Im folgenden Abschnitt wird der theoretische Zugang zur Forschungsfrage eröffnet. Dazu werden verschiedene Theorien und Perspektiven angeführt, die einerseits zum Verständnis und andererseits zur Begründung des methodischen Vorgehens im anschließenden Kapitel notwendig sind. Zum Einstieg werden Schützes Prozessstrukturen beschrieben, die er als zentrale Verlaufsmuster in Biografien identifiziert. Dann wird der Begriff Agency konzeptuell bestimmt, der als weitere theoretische Hintergrundfolie herangezogen wird und eine feinere Analyse ermöglicht. Abschließend wird unter Rückbezug auf Abschnitt 2.5 die Forschungslücke benannt, dem sich diese Arbeit widmet.
3.1 Biografische Prozessstrukturen nach Schütze Schütze identifiziert insgesamt vier typische Verlaufsmuster in Biografien. Individuen folgen institutionellen Ablaufmustern, die auf gesellschaftlich, institutionalisierten Mustern des Lebenslaufs (z. B. Schule) beruhen, weitgehend unhinterfragt. Verlaufskurven stehen für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz im Gegensatz zu biografischen Handlungsschemata. Diese repräsentieren das intentionale, normativ-versachlichte Prinzip des Lebenslaufs (vgl. Schütze 1983, S. 288). Biografische Wandlungsprozesse beschreiben Übergangsphasen, meist im Anschluss an eine negative Verlaufskurve, die zur abrupten Beendigung des verlaufskurvenartigen Prozesses führen (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 72). Die vier Prozessstrukturen des Lebenslaufs dienen bei der empirischen Analyse einzelner biografischer Abschnitte als heuristische Instrumente. Ziel ist es, auf diese aufbauend, die spezifische Qualität und Verlaufslogik einzelner biografischer
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_3
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3 Biografie- und agencytheoretischer Zugang
Sequenzen inhaltlich möglichst genau zu bestimmen, um anschließend die Verlaufslogiken der einzelnen Sequenzen zu analysieren und die gesamtbiografische Verlaufslogik des Falles zu bestimmen (vgl. ebd.).
3.1.1 Institutionelle Ablaufmuster Als institutionelles Ablaufmuster werden jene biografischen Handlungen bezeichnet, die im Kontext einer den Lebensabschnitt strukturierenden Institution stattfinden. In diesen Fällen wird die Biografie gewissermaßen der Institution überantwortet (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 69 f.). Damit ist gleichermaßen die „Gesamterwartung regelmäßiger sequentieller Zusammenhänge des Lebenszyklus mit normativer Geltung verbunden“ (Schütze 1981, S. 68). Das Individuum muss sich den entsprechenden Rollen und Normen der jeweiligen Institutionen verpflichten, die zur Ausbildung „allgemein gültiger absolut moralischer Idealbilder des individuellen Vollzugs des Lebenszyklus“ (ebd.), zu dem der faktische Vollzug des Lebenszyklus mehr oder weniger im Kontrast steht. So wird zum Beispiel erwartet, dass sich die Familiengründung erst im Anschluss an die Aufnahme einer Erwerbsarbeit vollzieht. In Bildungsund Berufskarrieren zeigen sich Institutionalisierungen von lebensgeschichtlichen Ablaufmustern besonders deutlich (vgl. ebd.). So verläuft die Ausbildung und anschließende Berufstätigkeit idealerweise in geregelten Bahnen; die einzelnen Stationen sind von Seiten der Organisation klar definiert. Auch wenn Berufskarrieren heutzutage de facto häufig anders und wenig erwartbarer verlaufen, bleibt das Grundmuster an Erwartungen bestehen (siehe auch Abschnitt 2.7.1 und Kohlis Lebenslaufregime).
3.1.2 Biografische Handlungsschemata Mit biografischen Handlungsschemata werden selbst initiierte und gesteuerte Entwicklungen beschrieben. Institutionalisierte Vorgaben sind entweder nicht klar vorgegeben oder werden umgangen (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 70). Jemand, der sein Studium abbricht, um Musiker zu werden, handelt gemäß solcher, biografischer Handlungsschemata, indem eigene Handlungspläne entwickelt und verfolgt werden. In biografischen Handlungsschemata bearbeiten Individuen „Gestaltungsaufgaben und Probleme in ihrer Lebenssphäre: in ihnen
3.1 Biografische Prozessstrukturen nach Schütze
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manifestiert sich ihre zupackende Situations- bzw. auch Lebensbewältigung“ (Schütze 2000, S. 63). Biografische Handlungsschemata repräsentieren also das „intentionale Prinzip des Lebenslaufs“ (Schütze 1983, S. 288).
3.1.3 Verlaufskurven Um den chaotischen und anomischen Aspekten der sozialen Realität Rechnung zu tragen, schlägt Schütze die „Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie“ (Schütze 2006) vor. Da es sich dabei um die vielleicht zentralste Prozessstruktur seiner Ausarbeitungen handelt, wird diese detailliert erläutert. „Der soziale und biographische Prozess der Verlaufskurve ist durch Erfahrungen immer schmerzhafter und auswegloser werdenden Erleidens gekennzeichnet: die Betroffenen vermögen nicht mehr aktiv zu handeln, sondern sie sind durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen […]. Die Betroffenen reagieren auf die immer wieder eintretenden widrigen Ereignisse von Mal zu Mal unangemessener […] und diese eigenen Aktivitätsbeiträge der Betroffenen verschärfen noch die Erleidens- […] und Auflösungsmechanismen der Verlaufskurve“ (ebd., S. 212 f.).
Verlaufskurven konstituieren sich dabei häufig über ähnliche Stadien und Mechanismen, die sich jedoch nicht zwingend in der folgenden Reihenfolge vollziehen müssen: Zunächst ergibt sich ein allmählicher Aufbau eines Bedingungsrahmens für das Wirksamwerden einer Verlaufskurve. Eine Komponente biografischer Verletzungsdisposition und eine Komponente der Konstellation von zentralen Widrigkeiten in der aktuellen Lebenssituation ergeben das Verlaufskurvenpotential. Beide Aspekte wirken ineinander, die – obwohl ausdeutbare Vorzeichen für die drohende Verlaufskurve gefunden werden können – für den Betroffenen meist verborgen bleiben (vgl. ebd., S. 215). Dem folgt eine plötzliche Grenzüberschreitung des Wirksamwerdens des Verlaufskurvenpotentials. Der Betroffene kann seinen Lebensalltag nicht mehr aktiv-handlungsschematisch gestalten; das zuvor latente Verlaufskurvenpotential dynamisiert und konkretisiert sich zu einer übermächtigen Verkettung äußerer Ereignisse, auf die der Betroffene nur noch konditionell reagieren kann (vgl. ebd.).
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3 Biografie- und agencytheoretischer Zugang
Nachdem die erste Schockerfahrung oder der Verwirrungszustand überwunden wurde, folgt der Versuch des Aufbaus eines labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung. Das neue Lebensarrangement bleibt aber dennoch unstabil, weil die eigentlichen Determinanten des Verlaufskurvenpotentials nicht bearbeitet und unter Kontrolle gebracht werden können. Der dominante Wirksamkeitsdruck des Verlaufskurvenpotentials besteht weiterhin (vgl. ebd.). Das labile Gleichgewicht der Alltagsbewältigung droht sich durch die Erfahrungen der Verlaufskurvengrenzüberschreitung und die Anstrengungen der Bewältigung zu entstabilisieren. Der Betroffene wird sich selbst fremd, er versteht sich selber nicht mehr, da er nicht mehr so handeln kann, wie er früher handeln konnte. Er verbraucht die restlichen Energien, um ein labiles Gleichgewicht so gut es geht aufrechtzuerhalten. Dabei kommt es zu einer Überfokussierung auf einen Aspekt der Problemlage, was zu einer Vernachlässigung anderer Problemaspekte führt, die sich wiederum unkontrolliert weiterentfalten könnten. Die verschiedenen Problemaspekte und die inadäquaten Reaktionen des Betroffenen wirken als „cumulative mess“ (Strauss et al. 1985, S. 163) zusammen; das labile Gleichgewicht wird durch eine Kette von zusätzlichen Belastungsereignissen erodiert und immer weniger beherrschbar (vgl. Schütze 2006, S. 215). Die plötzliche Zunahme an Alltagsproblemen bewirkt „eine totale Falsifikation des Erwartungsfahrplans für das tägliche Leben“ (ebd.). Das Funktionieren der Alltagswelt auf die bisher übliche Weise wird in Zweifel gezogen und die Kompetenz zur Alltagsorganisation geht endgültig verloren. Außerdem verliert der Betroffene das Vertrauen zu sich selbst und zu seinen signifikanten Anderen – ausgerechnet in einer Situation, in der sie eigentlich besonders wichtig sind. Er erfährt sich unfähig zu jeder Handlung, sozialer Beziehung oder Selbstbeziehung und begegnet sich selbst mit Misstrauen, Ablehnung und Hoffnungslosigkeit (vgl. ebd., S. 216). Die Erfahrung der totalen Handlungsunfähigkeit zwingt den Betroffenen zu einer radikal neuen Definition der Lebenssituation und er versucht den Orientierungszusammenbruch theoretisch zu verarbeiten. Diese Definitionen weisen die Dimensionen der Erklärung der Bedingungen des Erleidensprozesses (Erkenntnis des Verlaufskurvenpotentials), der moralischen Einschätzung (Ablehnung, Anklage, Rechtfertigung des Erleidens) und der Formulierung der Auswirkungen des Erleidensprozesses für die bisherige, gegenwärtige und zukünftige Lebensführung auf (vgl. ebd.). Die theoretische Verarbeitung kann entweder authentisch sein, d. h. seitens der Betroffenen selbstgeleitet (unterstützt von professionellen Helfern oder Verwandten/ Freunden), oder sie kann aus einer unreflektierten Übernahme fremder Erklärungen bestehen.
3.1 Biografische Prozessstrukturen nach Schütze
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Schließlich bleibt der Versuch der Bearbeitung und Kontrolle der Verlaufskurve, bzw. des Ausbrechens aus ihren Fesseln. Hier sind die Haltungsformen der Flucht aus der verlaufskurvenförmigen Lebenssituation (ohne das damit eine wirksame Kontrolle des Verlaufskurvenpotentials einhergehen würde), der systematischen Organisation des Lebens mit der Verlaufskurve (sollte das Verlaufskurvenpotential irreversibel sein, z. B. im Falle einer unheilbaren Krankheit) oder die systematische Eliminierung des Verlaufskurvenpotentials unterscheidbar (vgl. ebd.). Es sei noch einmal erwähnt, dass es sich bei der hier geschilderten Entfaltung um einen möglichen Verlauf handelt, der nicht immer in einer identischen Reihenfolge ablaufen muss. Nicht immer kommt es zu einem Orientierungszusammenbruch oder zur Entstabilisierung der Lebenssituation. Genauso wenig müssen die Stadien der theoretischen wie praktischen Kontrolle der Verlaufskurve eintreten. Möglicherweise treten auch schon vor dem Stadium des Orientierungszusammenbruchs Stadien der Bewältigung auf. Darüber hinaus lassen sich spezifische Mechanismen der Abweichung vom elementaren Verlaufskurvenskript aufweisen: Bremsmechanismen (z. B. in der Alkoholismus-Verlaufskurve das Vermeiden von Trinkanlässen), unerwartete Erweiterungen der Verlaufskurve (Stigmatisierung als Alkoholiker durch Arbeitskollegen), Transformationen der Verlaufskurve (Selbsttäuschung) oder die Dramatisierung oder Normalisierung der Verlaufskurve (vgl. ebd.).
3.1.4 Biografische Wandlungsprozesse Die vierte idealtypische Prozessstruktur des Lebenslaufs ist der biografische Wandlungsprozess. Dieser führt meist im Anschluss an eine negative Verlaufskurve zu einer grundlegenden biografischen Veränderung und somit zur abrupten Beendigung des verlaufskurvenhaften Prozesses. Ein biografischer Wandlungsprozess kommt ursächlich nicht durch intentionale Handlungen des Subjekts zustande, sondern wird von außen induziert (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 72). Durch die Aktivitäten Dritter oder aufgrund struktureller Veränderungen eröffnen sich dem Subjekt neue „Handlungsmöglichkeiten, bzw. es erhält Anstöße zu einem Wandel der eigenen Wahrnehmungen und Orientierungen, die zuvor nicht wahrgenommene eigene Handlungspotentiale bzw. Ressourcen offenen legen“ (ebd.). Dadurch gewinnt das Subjekt biografische Handlungsfähigkeit zurück.
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3 Biografie- und agencytheoretischer Zugang
3.2 Agency Agency ist ein vages und schwer fassbares Konstrukt, welches innerhalb der Sozialwissenschaften unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt ist (vgl. Emirbayer/ Mische 1998, S. 962). Im deutschsprachigen Diskurs wird Agency mit Handlungsbefähigung, Handlungsfähigkeit oder Handlungsmächtigkeit übersetzt. Andere setzten den Begriff mit Handeln an sich gleich (vgl. Raitelhuber 2008, S. 18). Im Kern geht es um die für die Sozialwissenschaften elementare Frage nach der Beziehung von Individuum und Gesellschaft, von Struktur und Handeln und einer Bestimmung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Beschränkung und individueller Selbstbestimmung (vgl. Scherr 2012, S. 99 f.). Verschiedenen Konzeptualisierungsversuchen ist dabei gemein, dass sie Strukturtheorien einerseits und Handlungs- und Subjekttheorien andererseits zu integrieren versuchen. Erstere schreiben Strukturen und Systemen vor allem beschränkende Funktionen zu, welchen der Mensch unterworfen ist und sich seine Handlungen deshalb überwiegend als systemfunktional und begrenzt durch externe Gegebenheiten erfassen lassen können (vgl. Raitelhuber 2012, S. 126). Dieser Fokussierung auf strukturdeterministische Prozesse und die Vernachlässigung eines interaktiv handelnden Menschen folgten vermehrt Theorien, die Handlungen von individuellen Menschen oder Gruppen in den Blick nehmen. Diese gehen davon aus, dass Individuen per se und jenseits von sozialen Begrenzungen reflexiv und aktiv Einfluss auf ihre Umgebung nehmen können, also handlungsfähig sind (vgl. Scherr 2012, S. 99). Dieser Einwand sah sich mit der Kritik konfrontiert, die Strukturen der Makroebene zu vernachlässigen. Daraus resultierten Versuche, diese zwei Positionen zu verbinden und den strukturzentrierten als auch subjektzentrierten Blick auf das Zusammenspiel und die Wechselwirkung beider Seiten zu lenken (vgl. Raithelhuber 2012, S. 127). Es geht bei diesen Versuchen um die Überwindung des beschriebenen Dualismus, der auf der einen Seite Handlungen als sozialdeterminiert, auf der anderen Seite Individuen als autonome Subjekte konzipiert. Wird in der Übergangsforschung von Agency gesprochen, dann häufig im Kontext von Ereignissen in den Biografien von Menschen, „die für den weiteren Verlauf als problematisch, besonders sensibel oder risikobehaftet angesehen werden“ (Raithelhuber 2013, S. 99). Agency ist in diesem Zusammenhang das Vermögen eines Individuums, über die Ausgestaltung einer Übergangssituation einen entscheidenden Einfluss ausüben zu können und hat in solchen Momenten maßgebliche Konsequenzen für den weiteren Lebensverlauf (vgl. ebd., S. 100). In solchen Übergangsmomenten stehen sowohl sozialstrukturelle Begrenzungen,
3.2 Agency
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als auch individuelle Entscheidungen und Handlungen im Wechselspiel. Agency versucht zu erklären, wie Menschen in unterschiedlicher Weise über die Fähigkeit verfügen, eine gewisse Kontrolle über das aktuelle Übergangsgeschehen auszuüben, sodass sie auf das eigene Handeln und auf die handlungsbedingenden sozialstrukturellen und institutionellen Kontexte reflexiv Einfluss nehmen können (vgl. ebd.). In psychologischen Modellen von Agency, z. B. bei Diewald und Mayer, wird sich anstelle von Persönlichkeitseigenschaften eher auf persönliche Konstrukte wie Motivationen, Entscheidungen, Werte, Lebenspläne oder Strategien fokussiert und deren Bedeutung für die selbstaktive Ausgestaltung des Lebens bestimmt (vgl. ebd., S. 103). Dem einzelnen Menschen wird bei seiner Entwicklung und dem Durchlaufen qualitativ unterschiedlicher hierarchisch organisierter Stufen eine aktive Rolle zugemessen. Entwicklungsprozesse werden als prinzipiell offen betrachtet und das Modell wendet sich von starren Konzepten einer stufenförmigen Entwicklung ab (vgl. ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass Menschen ihre Lebensumstände aktiv gestalten, dass sie über das grundlegende Vermögen – die Agency in transition – verfügen und dies reflexiv sowie intentional tun. Die Entscheidungen, die Menschen an wichtigen Schnittstellen treffen, werden dabei von vorherigen Lernerfahrungen beeinflusst. Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Ergebniserwartungen, Ziele, Interaktion mit anderen Personen, Umwelt, Geschlecht, soziale Unterstützung oder Beschränkungen sind relevante Variablen, die in entsprechenden Untersuchungen fokussiert werden (vgl. ebd., S. 104). Bandura entfaltet ein Konzept von human agency, worunter er die grundlegende menschliche Fähigkeit versteht, absichtsvoll auf die eigene Existenz und die eigenen Lebensumstände einwirken zu können. Durch ihre kognitiven Fähigkeiten können Menschen nicht einfach nur reagieren, sondern sie sind vielmehr generativ, kreativ, proaktiv und reflektierend. Sie stellen sich eine Zukunft vor und üben dementsprechend Einfluss auf die Gegenwart aus (vgl. ebd., S. 104 f.). „Through cognitive self-regulation, humans can create visualized futures that act on the present; construct, evaluate, and modify alternative courses of action to secure valued outcomes; and override environmental influences“ (Bandura 2006, S. 164). Ein weiteres Konzept versteht Agency als das zentrale Moment, mit dem erklärt werden soll, dass Menschen in ihrem Handeln und der Ausgestaltung ihres Lebens nur lose an soziale Strukturen gekoppelt sind. Sozialstruktur wirkt dabei nicht nur begrenzend oder bestimmend, sondern ist auch konstitutive Kraft von Entwicklung. Sie birgt Gelegenheiten, die der Einzelne nutzen kann. Menschen treffen in bestimmten Momenten ihres individuellen Lebenslaufs Entscheidungen
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über unterschiedliche, denkbare Entwicklungslinien (vgl. Raithelhuber 2013, S. 107). „Agency markiert also jene Stellen im Leben, an denen Individuen die persönlichen Erfahrungen, die sie bisher gemacht haben, sowie ihre Dispositionen in eine Übergangssituation einbringen. […] Anders ausgedrückt ist Agency ein zentraler Faktor der Heterogenität, die sich durch individuelle Einflüsse innerhalb strukturierter, gesellschaftlicher Pfade ergibt“ (ebd.).
Agency wird im Lebenslauf somit als ein Moment selbstbestimmter und selbst kontrollierter Prozesse verstanden, in dem Entscheidungen über die Beteiligung an sozialen Institutionen und interpersonalen Beziehungen getroffen werden (vgl. Shanahan/ Elder 2002; Hitlin/ Elder 2007 zit. nach Raithelhuber 2013, S. 107). Das Mainstream-Verständnis von Agency in der Lebenslaufperspektive kennzeichnet sich durch vier Charakteristika, die auf der biografischen Ebene eine Erklärung bieten sollen: 1. allgemeine altersbezogene Veränderungen, 2. mutmaßlich stabile interindividuelle Unterschiede (Gene, Persönlichkeitsmerkmale sowie Veranlagungen), 3. frühere Lebenserfahrungen (Gewohnheiten und Bewältigungsverhalten) und 4. die Agency der Individuen. An dieser Stelle wurde die Kritik laut, dass Agency immer dann ins Feld geführt wird, um nicht erklärbare Varianzen – also das, was ‚übrig‘ bleibt – zu erklären. Weiter wird bemängelt, dass kaum berücksichtigt wird, wie Entscheidungen und Agency durch, bzw. in sozialen Prozessen der Interaktion und in sozialen Praktiken kollektiv hergestellt werden (vgl. ebd.). Raithelhuber attestiert der anglophonen Lebenslaufliteratur insgesamt eine große Nähe zur Rational Choice Theory und kritisiert eine zu rationalistisch verkürzte Betrachtung von Ereignissen im Lebenslauf (vgl. ebd.). Im europäischen Kontext wird hingegen häufig betont, dass individuelle Lebensläufe ihre Ordnung und Begrenzung durch historisch-dynamische, gesellschaftlich- institutionelle Mechanismen erfahren, wie z. B. durch die Etablierung des Lebenslaufs als Vergesellschaftungsprogramm (vgl. Abschnitt 2.7.1 und 2.7.3). Im deutschsprachigen Diskurs wird „häufig das Wechselspiel von institutionell gerahmten und bereitgestellten Handlungsspielräumen […] auf der einen Seite sowie deren bedeutungsvolle, subjektive Interpretation und aktiven Ausgestaltung im Rahmen von Biografien auf der anderen Seite in den Blick genommen“ (Raithelhuber 2013, S. 109).
Heinz postuliert Agency als eine alternative Perspektive gegen eine überinstitutionalisierte Konzeption des Lebenslaufs, da sich Biografiemuster, die in
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institutionell gerahmten Statuspassagen entstehen, nicht ohne Beteiligung der Individuen – die Optionen abwägen und eigene Zeitperspektiven verfolgen – entwickeln (vgl. Heinz/ Behrens 1991, S. 4). Er geht davon aus, dass Individuen durch die Anforderung, zwischen verschiedenen Institutionen und Netzwerken durch eigene Handlungen tragfähige Verbindungen und Koordinationsmuster herzustellen, die Kompetenz zur Reflexion und Innovation ihres Lebenslaufs im Spannungsfeld von Biografie, Lebensentwürfen und sozialen Handlungskontexten erwerben (vgl. Heinz 2000, S. 166). Biografische Akteure bündeln durch Prozesse der Selbstsozialisation ihr Erfahrungswissen zu Handlungsmodi, um die mit den Übergängen im Lebenslauf verbundenen Anforderungen ihren Interessen entsprechend zu meistern (vgl. ebd., S. 183). Die Kompetenz dazu nennt er „biographical Agency“ (Heinz 1992, S. 8), durch die in Zeiten wenig vorhersehbarer Dauer von Erwerbsarbeit, Heirat und Status, beeinflusst durch die „combination of formalized status criteria and individualized preferences“ (ebd., S. 9), Kontinuität hergestellt wird. In seiner Auseinandersetzung mit Agency fließen gesellschaftsdiagnostische Annahmen über die Entwicklung posttraditionaler Gesellschaften, sozialtheoretische Syntheseversuche sowie psychologisch angelegte Theorien zu Persönlichkeit, Selbstentwicklung und Selbstsozialisation ineinander. Damit wird Agency als eine individuelle Kompetenz beschrieben, die in Übergängen im Sinne einer kausalen Kraft eingesetzt werden kann, um Struktur zu vermitteln oder zu beeinflussen (vgl. Raithelhuber 2013, S. 111). Agency stellt hier also die Fähigkeit dar, mit Blick auf einen Zeithorizont an bedeutenden Stellen des Lebenslaufs selbstreflexive Entscheidungen zu treffen und biografische Handlungsorientierungen zu entwickeln (vgl. ebd.). Scherr fasst Agency als „die Fähigkeit sozial eingebetteter Akteure, sich kulturelle Kategorien sowie Handlungsbedingungen auf der Grundlage persönlicher und kollektiver Ideale, Interessen und Überzeugungen anzueignen, sie zu reproduzieren sowie potentiell zu verändern“ (Scherr 2012, S. 108) zusammen. Von Agency ist demnach zu sprechen, wenn die biografisch vorgängigen Prozesse, die zur Formierung individueller oder kollektiver Dispositionen geführt haben sowie die aktuell vorgefundenen situativen Bedingungen nicht alternativlos festlegen, was als nächstes geschieht (vgl. ebd., S. 109). Wenn in einer gegenwärtigen Situation also alternative Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, ohne dass durch die vorgängig erworbenen Dispositionen und die gegenwärtigen Bedingungen festgelegt ist, wie zwischen den zur Verfügung stehenden Optionen entschieden wird (vgl. ebd.). Diesen Überlegungen folgend, besteht die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Agency-Forschung darin, jene sozialen Bedingungen zu identifizieren und empirisch zu untersuchen, die dazu führen, dass eine über die
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Befolgung von Regeln und Normen, bzw. die Reinszenierung von habituellen Dispositionen hinausgehende Handlungsfähigkeit ermöglicht oder eingeschränkt wird (vgl. ebd., S. 111). An Stelle der vermeintlich binären Logik, Individuen seien entweder lediglich Marionetten der sozialen Verhältnisse oder selbstbestimmt und frei von Zwängen, richtet sich damit der Blick auf in sich komplexe Verschränkungen in je konkreten sozialen Konstellationen (vgl. ebd.). Weiter müssen zwei Sachverhalte geklärt werden: Erstens, „was die sozialen Bedingungen sind, die zu einer Blockierung oder Entfaltung solcher Fähigkeiten in individuellen Sozialisations- und Bildungsprozessen führen“ (ebd., S. 112). Auf soziale Benachteiligungen übersetzt, bedeutet dies, dass diese nicht nur in einem Mangel an materiellen Ressourcen bestehen, sondern zentral auch in „Sozialisations- und Lebensbedingungen, die dazu führen können, dass Handlungsfähigkeit sich auf die Fähigkeit reduzieren kann, unter den gegebenen Bedingungen die eigene psychosoziale Lebensbewältigung alltäglich bewerkstelligen zu können“ (ebd.). Zweitens müssen jene Merkmale sozialer Strukturen und Prozesse bestimmt werden, die dazu führen, „dass projektive Handlungsfähigkeit freigesetzt oder stillgelegt wird. Hierfür ist es von zentraler Bedeutung, Handlungen nicht als eine Hervorbringung von Individuen, sondern als ein soziales Ereignis in den Blick zu nehmen“ (ebd., S. 114). In narrativen Zugängen zu Agency werden Menschen als Erzähler und Erinnerer verstanden, die als Autor ihre Identität konstruieren und ihren Biografien Sinn verleihen (vgl. auch Abschnitt 4.1.2). Erziehungswissenschaftliche Perspektiven, die an eine Übergangsforschung anschlussfähig sind, thematisieren hauptsächlich den Zusammenhang von Bildung, Lernen und Biografie (vgl. Raithelhuber 2013, S. 112). In neueren Beiträgen, die den Zusammenhang zwischen Lernen und Agency untersuchen, wird Agency als die Fähigkeit einer Person verstanden, Kontrolle über ihr Leben auszuüben. Lernen wird als etwas betrachtet, das damit zusammenhängt, wie ein Individuum auf erwartete oder zufällige Ereignisse im Leben antworten kann, um Kontrolle bzw. Agency zu erhalten oder zurückzugewinnen. In dieser Perspektive wird Agency in einen transaktionalen Rahmen eingebettet und ist damit keine individuelle Fähigkeit oder Kompetenz, sondern eine situative Errungenschaft, die Individuen dadurch erlangen, dass sie sich zeitlich-relational auf verschiedene strukturelle Handlungsumgebungen einlassen (vgl. ebd., S. 113). Damit zusammenhängend ist die Fähigkeit des biografischen Lernens relevant. Biografisches Lernen hat nicht nur Konsequenzen dafür, wie Menschen auf bestimmte Situationen reagieren, bzw. reagieren können. Es kann sich des Weiteren auf die Möglichkeiten auswirken, diesen eigenen Antworten auf
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aktuelle Probleme und Herausforderungen selbst unterschiedliche Gestalt zu geben und dadurch im besten Fall gesteigerte Agency zu erlangen. Gerade Narrationen bieten dafür selbst eine Lernmöglichkeit. In Erzählungen können Menschen etwas durch ihr Leben lernen und eine Vorstellung vom Selbst aktiv ausarbeiten. Insbesondere in Krisensituationen und lebensentscheidenden Wendepunkten präsentiert die eigene Lebensgeschichte geradezu die Notwendigkeit, etwas zu lernen oder zumindest die Veränderung von Dispositionen und möglicherweise auch der Identität in Betracht zu ziehen (vgl. ebd., S. 114). Dies wird in einigen, hauptsächlich argumentativen Passagen der im Rahmen dieser Arbeit geführten narrativen Interviews deutlich, an denen nachvollzogen werden kann, wie sich der Erzähler in der aktuellen Interviewsituation mit nicht abgeschlossenen Problematiken auseinandersetzt und durch die Narration reflexiv-biografische Arbeit leistet (vgl. Glinka 2008, S. 13). Um nun wieder auf die Übergangsthematik zurückzukommen, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Menschen durch die Entgrenzung von Übergängen permanent gefordert sind, ihre Handlungsfähigkeit – also ihre Agency – zu sichern. Agency meint hier die Fähigkeit zum kreativen, reflexiven Umgang mit den begrenzenden und ermöglichenden strukturellen Bedingungen. Sie wird ausgehandelt, erodiert und verändert sich als Reaktion auf den sozialen Wandel, in dessen Entwicklung junge Menschen aufgefordert sind, aus sich selbst heraus und von sich selbst verantwortete, reflektierte Entscheidungen zu treffen. Dabei wird nicht primär aus Sicht der Institutionen gefragt, wie die Agency der Betroffenen im Sinne von Fähigkeiten, Dispositionen oder Kompetenzen verändert werden muss, sondern wie subjektive Bedeutungsausarbeitung und die Erfahrung eigenen Handelns aufeinander bezogen sind und wie dies sich auf die Agency der Individuen in Übergängen auswirkt (vgl. Raithelhuber 2013, S. 120 f.). Werden biografische Verläufe und Übergangsprozesse beleuchtet, ist es jedoch wichtig, eine „Überbetonung der Subjektperspektive“ (Stauber/ Riegel 2009, S. 367) zu vermeiden und sich neben den individuellen Bedingungen (z. B. Agency) auch mit gesellschaftlichen Rahmungen und Strukturen (vgl. Abschnitt 2.3) auseinanderzusetzen. Emirbayer und Mische (1998)1 verorten ihr Konzept von Agency an der Temporalität des Lebenslaufs, und zeigt sich dadurch an den Forschungsansatz
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Folgenden wird sich hauptsächlich auf die englische Originalversion von „What is agency?“ (Emirbayer/ Mische, 1998) bezogen. Die paraphrasierten Stellen wurden teilweise unter Zuhilfenahme der Übersetzung durch Löwenstein: „Was ist agency?“ (Emirbayer/ Mische 2017) formuliert.
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dieser Arbeit anschlussfähig. Sie argumentieren, dass die Dimension der Zeit eine wichtige Rolle spielt, um Agency in seiner Komplexität erfassen zu können (vgl. ebd., S. 963). Soziale Akteure orientieren sich in jeder neu entstehenden Situation gleichzeitig an Vergangenheit – „in its habitual aspect“ (ebd.) – Zukunft – „as a capacity to imagine alternative possibilities“ (ebd.) – und Gegenwart – „as a capacity to contextualize past habits and future projects within the contingencies of the moment“ (ebd.). Akteure greifen auf Muster der Vergangenheit zurück, entwerfen hypothetische Zukunftspläne und handeln entsprechend gegenwärtiger Erfordernisse. Sie können in ihren zeitlichen Orientierungen Handlungen erproben und messen dabei aber einer der drei zeitlichen Dimensionen mehr Bedeutung zu (vgl. ebd., S. 964). Indem untersucht wurde, wie Akteure die Orientierung bezüglich ihrer Agency verändern, konnte nachgezeichnet werden, welche variierenden Grade an Beweglichkeit, Schaffenskraft und reflektierte Entscheidungen Menschen in Bezug auf ermöglichende und begrenzende Handlungskontexte erlangen (vgl. Raithelhuber 2013, S. 102). Das Agency Konzept von Emirbayer und Mische fokussiert stark die temporäre Natur der menschlichen Erfahrung. „Actors are always living simultaneously in the past, future, and present […]. They continuously engage patterns and repertoires from the past, project hypothetical pathways forward in time, and adjust their actions to the exgencies of emerging situations“ (Emirbayer/ Mische 1998, S. 1012). Zusammengefasst konzeptualisieren Emirbayer und Mische Agency wie folgt: „Our central contribution is to begin to reconceptualize human Agency as a temporally embedded process of social engagement, informed by the past (in is habitual aspect), but also oriented toward the future (as a capacity to imagine alternative possibilities) and toward the present (as a capacity to contextualize past habits and future projects within the contingencies of the moment)“ (Emirbayer/ Mische 1998, S. 962).
Zwar findet jede Erfahrung in der Gegenwart statt, wird aber zum Teil massiv von der Vergangenheit – „through habit and repetition“ (ebd., S. 975) – beeinflusst. Soziale Erfahrungen werden schematisiert und somit zu einem stabilisierenden Einfluss, „that shapes the flow of effort and allows us to sustain identities, meanings, and interactions over time“ (ebd.).
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3.2.1 Die iterative Dimension von Agency Jene Dimension von Agency, welche sich stark an der Vergangenheit orientiert, nennen Emirbayer und Mische „iterational“ (ebd., S. 971), die iterative Dimension von Agency. Individuen verlassen sich bei der Bewältigung von Alltagsproblemen unwillkürlich auf Routinen und haben die Fähigkeit, selbstverständliche, in vergangenen Interaktionen entwickelte Handlungsschemata abzurufen und anzuwenden. Selbst routinierten Handlungen sei dabei Agency immanent: „Even relatively unreflective routine dispositions must be adjusted to the exigencies of changing situations; and newly imagined projects must be brought down to earth within real-world circumstances. Moreover, judgments and choices must be often be made in the face of considerable ambiguity, uncertainty, and conflict; means and ends sometimes contradict each other, and unintended consequences require changes in strategy and direction“ (ebd., S. 994).
Die iterative Dimension ist entscheidend für eine Konzeption von Agency, da die projektiven („projective“) und praktisch-evaluativen („practitcal-evaluative“) Dimensionen in den habituellen, unreflektierten und vornehmlich unproblematischen Handlungsmustern begründet liegen (ebd., S. 975). Der Begriff Iteration versucht jene Handlungsmuster zu fassen, die wir für gewöhnlich nicht mit agentativen Handlungen assoziieren: Routinen, Dispositionen, Vorurteile, Kompetenzen, Schemata, Typisierungen und Traditionen (vgl. ebd.). Emirbayer und Mische argumentieren, dass Agency bei der Reproduktion zurückliegender Handlungsmuster wirkt und veranschaulichen dies an der Metapher eines Akkordes: Die vorrangige Orientierung an der Vergangenheit, unterteilt in „selective attention, recognition of types, and categorical location“ (ebd., S. 979), bildet sowohl mit der Zukunfts- als auch der Gegenwartsperspektive einen Dreiklang. In der iterativen Dimension werden fünf Prozesse vergangener Erfahrungen miteinbezogen: Selektive Aufmerksamkeit: Soziale Akteure sind in jedem Punkt des Transaktionsflusses dazu in der Lage, den Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf kleine Ausschnitte der Realität zu konzentrieren. Welchen Elementen Aufmerksamkeit gewährt und auf welche reagiert wird, hängt dabei mit den Erfahrungen der Akteure zusammen. Die meisten Elemente alltagspraktischer Aktivitäten erfordern zwar nur ein geringes Maß an Bewusstsein, aber selbst die Bereiche, selbstverständlicher, habitueller Aktivität erfordern selektive Aufmerksamkeit, um
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zu entscheiden, welche Elemente eine Reaktion erfordern, damit eine bestimmte Interaktion aufrechterhalten werden kann (vgl. ebd.). Wiedererkennen von Typen: Ist die Aufmerksamkeit ausgerichtet, müssen Akteure typische Erfahrungsmuster identifizieren und die Wahrscheinlichkeit ihrer Reproduktion in der Zukunft einschätzen. Dazu konstruieren sie vereinfachte Modelle, mit Hilfe derer sie wiederkehrende Aspekte von Personen, Beziehungen, Kontexten sowie Ereignisse charakterisieren (vgl. ebd.). Da diese Modelle niemals vollständig mit neuen Situationen übereinstimmen, müssen Individuen neue Erfahrungen retrospektiv zu den vergangenen modifizieren. Durch diesen aktiven Prozess aus Erinnerung und Assimilation tragen sie dazu bei, dass Erfahrungen, die sich über die Zeit entfalten, sich zu einem Gefühl von Kontinuität und Ordnung entwickeln (vgl. ebd., S. 980). Kategorische Verortung: Akteure identifizieren nicht einfach Ähnlichkeiten zwischen vergangenen und aktuellen Typen von Erfahrung, sie verorten ihre Typisierungen auch in Relation zu Personen, Kontexten oder „events within matrices composed of socially recognized categories of identity and value“ (ebd.). Obwohl solche Matrizen meist unreflektiert bleiben, müssen Akteure Anstrengungen ausüben, um zu entscheiden, an welcher Stelle Erfahrungen in diese Matrizen hineinpassen, um soziale Beziehungen entlang etablierter Verläufe aufrechtzuhalten (vgl. ebd.). Manövrieren und Mobilisierung des Repertoires: Die Anwendung von Routinen ist nicht fern jeder Agency, da sie stets einen Prozess benötigt, in dem aus einem Spektrum habitualisierter Aktivität eine Auswahl getroffen wird. Das Spektrum habitualisierter Aktivität ist jedoch durch individuelle wie kollektive Lebensgeschichten limitiert und unterschiedlich flexibel. Um geeignete Reaktionen auf konkrete Situationen zu ermöglichen, ist ein gewisses Maß an Manövrierbarkeit unabdingbar. In unproblematischen Situationen ist dieses Manövrieren das Resultat der Inkorporation von Handlungsschemata in die körperlich praktische Aktivität eines jeden. Andererseits bleibt die Anwendung eines solchen Repertoires insofern intentional, wie es dem Individuum gestattet, durch habitualisierte Interaktion oder Aushandlung Dinge erledigt zu bekommen (vgl. ebd.). Aufrechterhaltung von Erwartungen: Eines der Resultate unterschiedlicher Formen der oben beschriebenen Schematisierung ist, dass sie Akteure mit mehr oder weniger reliablem Wissen über soziale Verhältnisse ausstattet, das es ihnen erlaubt, vorauszusehen, was in der Zukunft eintreten wird. Diese Erwartungen verleihen der Handlung Stabilität und Kontinuität und das Vertrauen, dass andere ebenso auf vorhersehbare Weise agieren werden. Diese Aufrechterhaltung von
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Erwartungen ist kein automatischer Prozess. Zukunftserwartungen können durch Störungen, Missverständnissen und Veränderungen im Relevanzsystem zusammenbrechen, die dann Reparaturen erfordern (vgl. ebd., S. 980 f.).
3.2.2 Die projektive Dimension von Agency Individuen sind bis zu einem gewissen Maße fähig, sich von „schemas, habits and traditions that constrain social identities and institutions“ (ebd., S. 984) zu lösen und diese in Relation zu zukunftsorientierten Hoffnungen, Ängsten und Wünschen zu setzen (vgl. ebd., S. 971). Die Orientierung an die zeitliche Dimension der Zukunft – die projektive Dimension von Agency – bleibt als Antwort auf die Anforderungen und Möglichkeiten der Gegenwart. Akteure widerholen nicht nur vergangene Routinen, vielmehr sind sie in der Lage, neue Möglichkeiten und Handlungen zu entwerfen. Diese Dimension von Agency, die Emirbayer und Mische als „creative“ und „reconstructive“ (ebd., S. 984) bezeichnen, trägt der Frage Rechnung, wie agentative Prozesse zukünftige Möglichkeiten formen. Um auf Kontingenzen und Herausforderungen des Lebens reagieren zu können, müssen sich Akteure von Routinen und Schemata lösen und Innovationen einführen. „Immersed in a temporal flow, [social actors] move „beyond themselves“ into the future and construct changing images of where they think are going, where they want to go, and how they can get there from where they are at present. Such images can be conceived of with varying degrees of clarity and detail and extend with greater or lesser reach into the future; they entail proposed interventions at diverse and intersecting levels of social life“ (ebd.).
Projektivität ist somit zwischen der iterativen und praktisch-evaluativen Dimension von Agency zu verorten. Sie enthält einen ersten Schritt hin zur Reflexivität, als Reaktion, die von erstrebenswerten Vorstellungen ausgeht und sich auf ein Problem richtet, welches nicht zufriedenstellend mithilfe von bewährten Routinen und habitualisierten Praktiken bewältigt werden kann (vgl. ebd.). Emirbayer und Mische betonen, dass Projektivität nicht immer einen sozial erwünschten Umgang mit problematischen Situationen zur Folge hat. Der Erfindungsreichtum von Akteuren kann sowohl zu alltäglichen, harmlosen Reaktionen (z. B. einen Garten zu bepflanzen), als auch zu dramatischen, destruktiven Projekten (ein tausendjähriges Reich zu errichten) führen (vgl. ebd., S. 985).
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Innerhalb der projektiven Dimension von Agency werden drei Aspekte – „narrative construction“, „symbolic recomposition“ und „hypothetical resolution“ (ebd., S. 988) voneinander differenziert, die allerdings miteinander interagieren. Akteure müssen Muster von möglichen Entwicklungen vor dem Hintergrund einer unbestimmten Zukunft aktiv identifizieren, um die begrenzte und dennoch flexible Struktur zukünftiger Möglichkeiten zu verstehen. Dazu stützen sich Individuen auf vergangene Erfahrungen, um Motive, Ziele und Intentionen zu klären, mögliche zukünftige Begrenzungen zu erkennen sowie moralisch und praktisch angemessene Handlungsverläufe zu identifizieren. Dieser Prozess ist niemals abgeschlossenen, sondern wird kontinuierlich vor dem Hintergrund des wechselnden Charakters menschlicher Motivationen und sozialer Beziehungen neu bewertet (vgl. ebd., S. 989). Narrative Konstruktion: Eine Identifikation typischer Verläufe ist eng mit der Konstruktion von Narrativen verbunden, welche die zukünftigen Möglichkeiten in Relation zu mehr oder weniger konsistenten, kausalen und temporalen Sequenzen setzen. Da Narrative immer eine kulturelle Struktur repräsentieren, die unabhängig von der Intentionalität existieren kann, sind Narrative nicht mit Entwürfen identisch. Dennoch stellen sie kulturelle Ressourcen bereit, durch welche Akteure ein Gefühl für eine zeitliche Vorwärtsbewegung entwickeln können (Anfang – Mitte – Ende). Jede soziale Gruppe besitzt dabei eigenständige Geschichten, die als Ressource zur zeitlichen Rahmung und zur Unterstützung, die Mitgliedschaft der Gemeinschaft zu definieren, dient (vgl. Carr 1986; Somers 1992, zit. n. Emirbayer/ Mische 1998, S. 989). Der Grad an Spezifität und Komplexität, mit derer verschiedene Zukunftspläne entworfen werden, ist mit dem Aufkommen bestehender Narrative verbunden, die sie sowohl als moralisch als auch praktisch akzeptabel präsentieren. Narrative bieten Handlungsspielräume, helfen Abschnitte im Lebenslauf zu institutionalisieren und bei der Formulierung neuer experimenteller Lösungen für aufkommende Probleme (vgl. Emirbayer/ Mische 1998, S. 989). Symbolische Rekomposition: Die projektive Vorstellung funktioniert auf eine ähnliche Weise wie die Möglichkeit, anhand einer Metapher semantische Innovation zu kreieren. Sie nimmt Bedeutungselemente getrennt voneinander auf und setzt sie in einer unerwarteten Kombination wieder zusammen. Akteure fügen sich selbst spielerisch in eine Vielfalt möglicher Verläufe ein und ersinnen alternative Ziel-Mittel-Sequenzen, so dass sie in einem gegebenen Handlungsfeld flexibler reagieren können. In diesem Spiel mit Szenarien können symbolische Codes, Schemata und Narrative (relativ) befreit von praktischen Beschränkungen kreativ rekonfiguriert werden (vgl. ebd., S. 990).
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Hypothetischer Entschluss: Nach der Begutachtung möglicher Handlungsszenarien wenden sich Akteure der Aufgabe zu, hypothetische Entschlüsse auf den Weg zu bringen, die auf die moralischen, praktischen und emotionalen Anliegen abgestimmt sind, welche die erlebten Konflikte betreffen. Da üblicherweise alle unsere Konflikte von mehr als einer Bedingung bestimmt sind und dass sich Einschätzungen ihrer Relevanz im Verlaufe unseres Lebens immer wieder verändern, bedeutet, dass die meisten dieser Beschlüsse synthetischer Natur sind. Sie sind häufig ein Versuch, mehrere Konflikte gleichzeitig zu lösen und verschiedene Felder der intendierten Handlung einzubeziehen (vgl. ebd.). Experimentelle Inszenierung: Die letzte Dimension von Projektivität – die Experimentelle Inszenierung – liegt auf der Grenze zwischen Vorstellung (Zukunft) und Handlung (Gegenwart). Wenn Szenarien geprüft und Lösungen vorgeschlagen werden, können die hypothetischen Entschlüsse in unverbindlichen sozialen Interaktionen zur Sondierung geprüft werden (vgl. ebd.).
3.2.3 Die praktisch-evaluative Dimension von Agency Schließlich bleibt die praktisch-evaluative Dimension von Agency als jene, die auf die Anforderungen und Möglichkeiten der Gegenwart anspricht. Selbst relativ unreflektierte Dispositionen für bestimmte Routinen müssen auf die Erfordernisse wechselnder Situationen abgestimmt werden. Des Weiteren müssen neu imaginierte Projekte unter realen Bedingungen umsetzbar sein und dafür auf den Boden der Tatsachen gebracht werden. Beurteilungen und Entscheidungen müssen in Anbetracht einer beachtlichen Kontingenz und Ungewissheit oder in Konfliktlagen vorgenommen werden (vgl. ebd., S. 994). Mittel und Ziel widersprechen sich gelegentlich und nicht intendierte Handlungsfolgen erfordern neue Strategien und Ausrichtungen. Dass Erfahrungen in Auseinandersetzung mit aufkommenden Situationen problematisiert werden, erfordert daher zunehmend reflexive und interpretative Arbeit der Akteure. Emirbayer und Mische subsumieren all das unter „the pracical-evaluative dimension of Agency“ (ebd., S. 994), wofür üblicherweise unterschiedliche Begriffe wie „practical wisdom, prudence, art, tact, discretion, application, improvisation, and intelligence“ (ebd.) verwendet werden. Agency in ihrer praktisch-evaluativen Dimension findet primär in der Kontextualisierung über soziale Erfahrung, in kommunikativen, transaktionalen Prozessen (durch das Abwägen mit Anderen oder selbstreflexiv mit sich selbst) statt. Durch pragmatische und normative Erfordernisse gelebter Erfahrung erhalten Akteure die Fähigkeit, durchdachte Entscheidungen zu treffen, die tradierte Handlungsmuster herausfordern können. In genau
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diesem kommunikativen Prozess liegt der Unterschied zwischen einem starken situationsgebundenen Moment einer abgewogenen Entscheidung und der schwachen Situationsgebundenheit der iterativen Dimension von Agency. Durch die Erweiterung ihrer Fähigkeit zu praktischer Bewertung stärken Akteure ihre Möglichkeit, Agency auf vermittelnde Weise auszuüben, indem sie sie in die Lage versetzt – zumindest potenziell – ihre Projekte derart zu verfolgen, dass sie die situationsbezogenen Handlungskontexte selbst herausfordern und verändern (vgl. ebd.). Die praktische Evaluation ist mit vielen verschiedenen Formen von Aktivität verbunden: mit kognitiver, moralischer und ästhetischer Beurteilung; mit generellen Zuständen von praktischem Bewusstsein und Handeln; mit weit gefassten, allgemeinen Idealen, mit restriktiven Vorstellungen von Geschlechteridentität oder sozialen Positionen; mit Cleverness und Berechnung, mit erweitertem Denken und öffentlicher Deliberation (vgl. ebd., S. 998). Emirbayer und Mische arbeiten heraus, dass innerhalb der Akkordstruktur der praktischen Evaluation drei dominante Töne, die Problematisierung, Beschluss und Ausführung unterschieden werden können. Alle drei bedürfen der Kontextualisierung von Projekten oder von habitualisierten Praktiken des jeweiligen Moments. Weiter werden zwei Tonintervalle beschrieben: So basiert die Beziehung eines Akteurs zur Vergangenheit auf der Charakterisierung einer bestimmten Situation vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungsmuster. Die Beziehung zur Zukunft ist charakterisiert durch die Deliberation verschiedener möglicher Handlungsverläufe, durch welche Akteure alternative hypothetische Szenarien mittels kritischer Beurteilung der Konsequenzen abwägen, die sich bei der Implementierung in Situationen der realen Welt ergeben (vgl. ebd., S. 997 f.). Problematisierung: Die erste analytische Komponente praktischer Evaluation besteht im Erkennen, dass die konkrete, unmittelbar bevorstehende Situation auf eine Weise mehrdeutig unsicher und ungeklärt ist. Im Fall von Projekten äußert sich dieses Erkennen als Befürchtung, dass sich die Realität bis zu einem gewissen Grad widerständig gegenüber einer mühelosen Umsetzung oder Kontextualisierung aufwirft. Im Fall von iterativer oder habitueller Aktivität besteht außerdem das Problem, dass keine neue Situation jemals einer der vorangegangenen exakt entspricht. Jede Routineaktivität ist mit neuen Kontingenzen konfrontiert, auf die bestimmte Anpassungen vorgenommen werden müssen. Akteure müssen etwas – zu dem sie durch irgendeine praktische Beurteilung gekommen sind – tun, dass die gegebene Situation rahmt, bis sie unproblematisch, erledigt und geklärt ist (vgl. ebd., S. 998). Charakterisierung: Problematische Umstände müssen auf Prinzipien, Schemata oder Typisierungen der vergangenen Erfahrung bezogen werden,
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durch die sie auf eine bestimmte weise charakterisiert sind. Diese Komponente beinhaltet im Moment der praktischen Evaluation am stärksten die Vergangenheit. Erfordert die betreffende Situation die Aktivierung einer bestimmten iterativen Aktivität? Erfordert sie eine genaue Pflichterfüllung oder zeigt sie sich als ein Kontext, in dem das Verfolgen einzelner Handelsprojekte passend oder wenigstens möglich ist? (vgl. ebd.) Deliberation: Plausible Entscheidungen müssen im Lichte praktischer Wahrnehmungen und Verständnisweisen vor dem Hintergrund eines bereiteren Feldes von Möglichkeiten und Ansprüchen abgewogen werden. Deliberation beinhaltet mehr als eine unreflektierte Anpassung habitueller Handlungsmuster an die konkreten Anforderungen der Gegenwart. Sie enthält, zumindest potentiell, auch eine bewusste und nach einer Lösung suchende Abwägung, wie am besten auf situative Kontingenzen weiterer Projekte zu reagieren ist. Eine solche Abwägung kann individualistisch, diskursiv, monologisch oder in öffentlichen Räumen erfolgen. Sie umfasst sowohl weitere Präzisierungen von Gewohnheiten und Projekten als auch eine Festlegung auf bestimmte Mittel, um diese zu aktualisieren. Deliberation umfasst letztlich auch eine emotionale Beteiligung an der Situation und ihren Eigenheiten (vgl. ebd.). Entscheidung: Deliberation zielt auf eine Entscheidung, Wahl oder Vorsatz, hier und jetzt auf eine bestimmte Weise zu handeln. In bestimmten Fällen enthält ein solcher Vorsatz eine eigenständige oder abgegrenzte Wahl, in anderen Fällen mischt sie sich nicht unterscheidbar in den Fluss von praktischer Aktivität und wird erst nachträglich eindeutig wahrgenommen. Bestimmte Entscheidungen sind provisorisch, dürftig und opportunistisch oder sie können sich auch mit mehr als einer problematischen Situation gleichzeitig auseinandersetzen. Außerdem lassen sich nicht alle Entscheidungen einfach in Worte fassen oder erläutern. Wahlen können sich als eine stillschweigende Umstellung oder Anpassung an wechselnde Kontingenzen vollziehen wie auch Produkt einer artikulierbaren, expliziten Begründung sein (vgl. ebd., S. 999). Ausführung: Wenn Deliberation Überlegung bzw. Planung umfasst und die Entscheidung ein Schritt vorwärts auf eine konkrete Handlung hin darstellt, ist es das ausführende Vermögen, innerhalb bestimmter konkreter Lebensumstände richtig und effektiv zu handeln. Idealerweise begreift man nicht nur, was man tun sollte, sondern auch wie man das im vorliegenden Fall am besten in Angriff nimmt. Manchmal jedoch beinhaltet selbst eine überlegte Handlung einen Verlust. Ausführung bedeutet in dem Fall keine glückliche Lösung, sondern das Eintreten eines geringen Übels. Darüber hinaus produzieren selbst relativ unproblematisch erscheinende Instanzen der Ausführung im weiteren Verlauf häufig neue Probleme für die Handlung. Bisweilen gibt es Rückkopplungseffekte, über
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welche die Akteure wenig Kontrolle haben und die sie nicht unbedingt intendiert haben müssen. Mit der Ausführung oder Handlung ist der Bogen der praktischen Evaluation komplett (vgl. ebd. 999 f.).
3.2.4 Struktur, Handeln und Agency auf der Straße Da das, was Emirbayer und Mische agentive Orientierungen nennen, in seinen konkreten Manifestationen variiert, bleibt auch Agency eine Dimension, die in allen empirischen Fällen menschlichen Handelns präsent ist. Das dynamische Element der Agency garantiert, dass soziale Handlungen in der Empirie niemals vollständig determiniert oder strukturiert sein werden. Andererseits ist kein Moment vorstellbar, in dem Agency unbeeinflusst von Struktur sein könnte (vgl. ebd., S. 1004). Von diesen theoretischen Bestimmungen ausgehend, ergibt sich die empirische Herausforderung, verschiedene Variationen von agentiven Prozessen und bestimmten strukturierenden Handlungskontexten zu lokalisieren, zu vergleichen und zu prognostizieren. Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies, dass die sozialtheoretische Frage nach dem Verhältnis von sozialer Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmungsfähigkeit in den Wegen in die Wohnungslosigkeit betrachtet wird. Welches Ausmaß und welche Ausprägungen von Handlungsfähigkeit werden in sozialen Strukturen ermöglicht oder eingeschränkt und wie unterstützen temporal-relationale Kontexte bestimmte agentive Orientierungen von jungen Wohnungslosen? Welche Rolle spielen Netzwerke, signifikante Andere und Institutionen? Wo wird in den rekonstruierten Interviews Agency ausgehandelt und welche Rolle spielt die Straße bezüglich der Reflexivität und Kreativität in bestimmten sozialen Kontexten? Aufgrund welcher Bedingungen oder Situationen neigen die jungen Wohnungslosen dazu, habituelle schematische Erwiderungen und Relationen aufrechtzuerhalten und welche Kontexte fordern sie dazu heraus, eine imaginative Distanz zu diesen zu gewinnen und bisherige Muster durch den Entwurf von alternativen zukünftigen Verläufen zu reformulieren? Wodurch werden die jungen Erwachsenen gehindert, ihre Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft in reflexiver Auseinandersetzung mit sozialen Erwartungen und Konventionen zu entwerfen? Und schließlich die Frage, in welchen Fällen Konventionen beschränkend wirken können und wie radikale Gegenentwürfe genutzt werden, um Handlungsfähigkeit zu behaupten?
3.3 Wege aufgeschlüsselt – vom Forschungsdesiderat zur Forschungsfrage
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3.3 Wege aufgeschlüsselt – vom Forschungsdesiderat zur Forschungsfrage Die in den Abschnitten 2.5 skizzierten Untersuchungen schauen aus verschiedenen Blickwinkeln auf Wohnungslosigkeit bei jungen Erwachsenen und helfen, sich dem Phänomen junger Wohnungsloser sowie der Frage nach deren Wegen in die Wohnungslosigkeit weiter zu nähern. Bislang gibt es wenige Studien zum Thema Wohnungslosigkeit und junger Wohnungsloser in Deutschland. Dies ergibt bezugnehmend auf Abschnitt 2.2 eine Diskrepanz zur Relevanz der Thematik, da die Anzahl an jungen Wohnungslosen in Deutschland kontinuierlich zunimmt und allen Prognosen nach weiter steigen wird. Die Studie von Mallet et al. (2010) hat zwar keinen direkten Bezug zu Deutschland, beschreibt aber anschaulich die Situation von jungen Menschen in Australien, vor deren Hintergrund die Ergebnisse dieser Studie später verglichen und reflektiert werden können. Das durch die Studien von Mücher (2010) sowie Mögling et al. (2015) komplettierte Bild von typischen Problemen und Lebenslagen junger Wohnungsloser hilft im Anschluss an die Datenerhebung, um aus dem Pool an empirischem Material vermeintlich normale Verläufe sowie Anomalien zu identifizieren und entsprechend zu kontrastieren. Die Gründe für Wohnungslosigkeit werden in den aufgeführten Studien eindimensional durch ein Konglomerat struktureller Probleme wie Armut, fehlender Netzwerke etc. verortet, oder mit individuellen Dispositionen oder fehlenden persönlichen Ressourcen oder Fähigkeiten erklärt. Dabei werden die wechselseitige Beeinflussung und Verstärkung sowie Verkettung von Ereignissen ungenügend betrachtet. Es fällt des Weiteren auf, dass es noch wenig Wissen über den prozessualen und vielfältigen Verlauf von Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen gibt. Die leitende Metapher der vorliegenden Studie, nach Wegen in die Wohnungslosigkeit zu fragen, verweist darauf, Wohnungslosigkeit als Genese und Prozess statt als Situation, singulären Ereignis und Konglomerat an Umständen zu verstehen. Nur wer nach den Prozessstrukturen hinter der Wohnungslosigkeit junger Menschen fragt, kann die Rolle der Straße dabei verstehen. Welche gemeinsamen Prozesse und Zusammenhänge stecken also hinter den individuellen Lebensverläufen der jungen Wohnungslosen? Gibt es solche, die sich mit hoher Plausibilität verallgemeinern lassen? Die Frage nach der Prozesshaftigkeit nimmt dezidiert
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3 Biografie- und agencytheoretischer Zugang
bestimmte Ambivalenzen, wie etwa zwischen der Verselbstständigung eines Lebensverlaufs auf der einen sowie Veränderungen und Bedingungen von Handlungsfähigkeit auf der anderen Seite in den Blick, deren Verknüpfung in bisherigen Studien unbeachtet bleiben. Agency ermöglicht es hier, als feinere Operationalisierung, Handlungsfähigkeit gewissermaßen quer zu den Prozessstrukturen Schützes zu analysieren. Vor diesem Hintergrund werden Biografien von jungen Erwachsenen dahingehend untersucht, ob und wie Agency in ihren Erzählungen identifizierbar ist und verhandelt wird sowie welche Rolle eine empfundene Handlungs(ohn)mächtigkeit in ihren Lebensgeschichten gespielt hat.
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Wege beforschen und rekonstruieren
Der folgende Abschnitt widmet sich dem methodologischen wie methodischen Vorgehen dieser Studie. Zunächst wird die Biografieforschung vorgestellt und im weiteren Verlauf darauf hingeführt, warum ein biografisch-narratives Design einen geeigneten Ansatz für die vorliegende Forschungsfrage darstellt. Die Erhebungs- und Auswertungsmethoden – das narrative Interview sowie die Fallrekonstruktion durch die Narrationsanalyse – werden beschrieben und kritisch reflektiert. Des Weiteren wird am Ende des Kapitels auf mögliche Schwierigkeiten im Forschungsprozess eingegangen.
4.1 Biografieforschung Lebensgeschichte stellt ein Mittel der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften sowie ihrer Individuen dar. Menschen werden in einer Gesellschaft jenseits von Stand und Klasse nicht topisch einem Platz zugewiesen, sondern werden entsprechend ihrer Lebensgeschichte in einer lebenszeitlichen Erstreckung, die durch zum Teil nicht normierte oder unerwartete Erlebnisse und Phasen konstruiert sind, modelliert (vgl. Rosenthal/ Fischer-Rosenthal 1997, S. 406). Eng verwoben mit den institutionellen Strukturen des Lebenslaufs ist die biografische Perspektive der Individuen. Menschen denken nicht in Kategorien von Lebenslauf oder Lebensverlauf, sondern entwerfen und planen ihr Leben, sie ziehen zu unterschiedlichen Anlässen Bilanz, sie rechtfertigen Entscheidungen, sie bereuen oder verleugnen Fehler und Misserfolge, sie erzählen – sich und anderen – Geschichten und versuchen ein normales, bzw. besonderes Leben zu führen (vgl. Walther/ Stauber 2007, S. 28). Des Weiteren verbindet sich mit dem Konzept der Agency (vgl. Abschnitt 3.2) die Vorstellung, dass Individuen
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_4
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als active agents zur Ausgestaltung ihrer Biografien beitragen (Heinz/ Krüger 2001, S. 43), sich dabei nicht nur an gesellschaftlichen, kulturellen Erwartungen und Standards, Ablauffolgen sowie Möglichkeiten orientieren, sondern auch auf „linked lives“ (ebd.) – also Familie, Freunde, Partner – Rücksicht nehmen. „Cultural standards, institutions, opportunity structures, human Agency and linked lives are essential building blocks for an adequate understanding of […] life courses. This requires multi-level analysis that includes structured pathways, institutionalized standards, market dependency, social networks and independent trajectories“ (ebd.).
Biografieforschung bezeichnet einen komplexen, keineswegs einheitlichen oder eindeutigen Forschungsansatz. Sie ist inter- und transdisziplinär und ist als solche in den Disziplinen in unterschiedlichem Ausmaß etabliert. Ihre fachliche Verankerung und Institutionalisierung hat sie vor allem in der Soziologie, der Erziehungswissenschaft, aber auch in der Geschichts- und Kulturwissenschaft sowie bestimmten Richtungen der Psychologie (vgl. Dausien 2004, S. 314). Biografieforschung stützt sich auf grundlagentheoretische Vorannahmen, die dazu führen, dass bei sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, welche sich auf soziale Phänomene beziehen, die an die Erfahrungen von Menschen gebunden sind und für diese eine biografische Bedeutung haben, eben diese Bedeutung im Gesamtzusammenhang ihrer Lebensgeschichte interpretiert wird (vgl. Rosenthal 2014, S. 177). Bevor detaillierter auf die grundlagentheoretischen Vorannahmen der Biografieforschung eingegangen wird, folgt ein kurzer Abriss der Entstehung dieses Forschungszweiges.
4.1.1 Zur Geschichte der Biografieforschung Der Beginn der universitär verankerten Biografieforschung verlief in der Psychologie und der Soziologie zeitlich ungefähr parallel in den 1920er Jahren. In der Psychologie ist vor allem die Psychoanalyse für biografische Forschungen an den Universitäten verantwortlich. Sigmund Freud hat zum einen mit seinen Interpretationen biografischer Quellen von historischen Persönlichkeiten lebensgeschichtliche Analysen vorgelegt. Zum anderen stellt das psychoanalytische Gespräch eine Form eines biografischen Verfahrens dar (vgl. Rosenthal 2014, S. 174). In der Soziologie beginnt die Biografieforschung mit der Migrationsstudie „The Polish Peasant in Europe and America“ (Thomas/ Znaniecki 1958) an
4.1 Biografieforschung
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der University of Chicago. Die Studie enthält neben Dokumentenanalysen zum Migrationsprozess die Biografie eines polnischen Migranten. Nach Auffassung von Thomas und Znaniecki stellt die persönliche Lebensgeschichte den perfekten Typ von soziologischem Material dar. Nach ihrer Ansicht ermöglichen autobiografische Quellen den Zugang zu subjektiven Erfahrungen und Einstellungen. Außerdem erreichen sie die volle lebendige und aktive soziale Wirklichkeit unterhalb der formalen Organisation der sozialen Institutionen oder hinter den statistisch tabellierten Massenphänomenen (vgl. Thomas/ Znaniecki zit. nach Rosenthal 2014, S. 175). Diese Studie inspirierte in den 1920er Jahren in Chicago ein Florieren der biografischen Methode am dortigen soziologischen Department. Dabei wurden neben den Vorteilen der biografischen Fallstudie für die Erfassung der subjektiven Perspektive und des sozialen Handelns von Mitgliedern unterschiedlicher Milieus und deren Entstehungsgeschichte auch die Vorzüge bei der Rekonstruktion sozialer Lebenswelten sowie deren Nützlichkeit für Anregungen für die soziale Praxis erkannt (vgl. Rosenthal 2014, S. 175). In den 1960er Jahren dominierten, angeregt durch die realistische Wendung, empirisch-quantitative Methoden in den Sozial- und Erziehungswissenschaften (vgl. von Felden 2008, S. 9), bis es in den 1970er Jahren durch die Rückbesinnung auf die Arbeiten der Chicago School zu einem neuen Aufschwung der Biografieforschung in der deutschen Soziologie kam (vgl. Rosenthal 2014, S. 175; Rosenthal/ Fischer Rosenthal 1997, S. 409). Der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1978 in Tübingen trug maßgeblich dazu bei, dass diese Forschungsrichtung auch in der Pädagogik auf großes Interesse stieß und zunehmende Verbreitung fand (vgl. von Felden 2008, S. 9). „Biographieforschung wurde jetzt Teil der methodologisch und methodisch begründeten empirischen Sozialforschung“ (ebd.).
4.1.2 Die theoretischen Grundlagen der Biografieforschung Lebensgeschichtliche Äußerungen, in denen subjektive, individuelle Erfahrungen zum Ausdruck kommen, bilden das Material für wissenschaftliche Analysen im Rahmen von Biografieforschung (vgl. von Felden 2008, S. 11). Insofern werden zur Analyse autobiografische Schriften (Autobiografien, Tagebücher), biografische Medien (Bilder, Videos) und hauptsächlich (auto-) biografische narrative Interviews herangezogen (vgl. ebd.). Nicht nur die Lebenszusammenhänge sind von Interesse, sondern insbesondere die formalen Darstellungen der Personen, also die Art, wie Menschen ihr Leben erzählen, beschreiben und
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argumentativ darstellen. Es wird davon ausgegangen, dass Biografien konstruiert sind und der Blick auf das eigene Leben die Biografie erst herstellt. Dabei sind Biografien nicht allein individuelle Lebensbeschreibungen, sondern transportieren gesellschaftliche und historische Normen. Das bedeutet, dass aus biografischen Materialien herausgearbeitete Wirklichkeitskonstruktionen gesellschaftliche und soziale Strukturen skizziert werden können. Es wird davon ausgegangen, dass nur über die Interpretationen der Subjekte Wirklichkeit erfassbar wird (vgl. ebd., S. 11 f.). Anders ausgedrückt: Die objektive Realität wird immer nur durch die Evidenzen der Subjekte hindurch analysierbar; das Objektive selbst ist nicht erfahrbar, sondern Erfahrung eine Evidenz der Lebenswelt (vgl. Marotzki 2011, S. 22). Zum anderen folgt Biografieforschung der Annahme, dass die soziale Wirklichkeit „grundsätzlich in kulturellen Symbolsystemen konstituiert wird“ (ebd., S. 23). Die sinnhafte Strukturierung des sozialen Handelns sowie der Aufbau von Selbst- und Weltbildern geschieht durch die Subjekte selbst, die sich schon immer in interpretativ von ihnen selbst erzeugten Horizonten bewegen und anderen in interaktiven Zusammenhängen über und durch symbolisch strukturierte Horizonte begegnen, die solche Selbst- und Weltauslegungen darstellen. Gegenstand der Biografieforschung ist demzufolge die soziale Wirklichkeit, die die Menschen in Auseinandersetzung mit sich, mit anderen und der Welt für sich jeweils herstellen (vgl. ebd.). Das Konzept Biografie steht somit für den komplexen Zusammenhang einer individuellen Lebensgeschichte1, die sich in der Dialektik von gesellschaftlicher Subjektkonstitution und intersubjektiver Konstruktion sozialer Wirklichkeit entfaltet (vgl. Dausien 2009, S. 161). Biografien sind dabei sowohl strukturierte (durch gesellschaftlich objektivierte Verlaufsstrukturen) als auch strukturierende (durch das Hervorbringen von Deutungs- und Handlungspraxen) Sinngefüge. Folglich sind Biografien der Form nach individuell, ihrem Wesen nach aber gesellschaftlich (vgl. ebd.). Menschen konstruieren ihre Identität und verleihen ihren Biografien Sinn, indem sie sich ihrer vergangenen Geschichte erinnern und ihre Erfahrung mit Bedeutung versehen. Der biografische Sinn ist ein gesellschaftlicher Sinn, da er in interaktiven Praxen und in geteilten kulturellen Sinnhorizonten konstruiert wird, er ist aber zugleich auch das immer wieder neu
1Zwar
herrscht in der Biografieforschung das Primat des Individuellen, dennoch können auch Gruppen, Gemeinschaften oder Kollektive eine Biografie haben. Biografien können auch auf einer Mikro-, Meso- und Makroebene sozialer Realität studiert werden. Diese Ebenen werden im Kontext dieser Arbeit jedoch vernachlässigt.
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hervorgebrachte und überarbeitete Produkt einer besonderen Geschichte eines Subjektes, das in unterschiedlichen Situationen, mit je bestimmten Funktionen und Formaten hervorgebracht wird (vgl. ebd., S. 163). Dabei darf der Konstruktionsbegriff keineswegs so verstanden werden, dass Subjekte ihre Biografie nach Belieben erfinden und gestalten. Lebensgeschichten sind in empirisch konkrete, historische sowie gesellschaftliche Kontexte eingebunden, werden durch Institutionen (z. B. das Bildungssystem) vorstrukturiert und unterliegen gesellschaftlichen Regeln und Normen. Biografien werden durch historische wandelbare kulturelle Muster und Vorbilder geprägt. Diese stecken Möglichkeitsräume für biografische Konstruktionen ab, ohne sie umfassend zu determinieren (vgl. Dausien 2005, S. 8). Innerhalb dieser so begrenzten, aber veränderbaren, Handlungsspielräumen haben Individuen in unterschiedlichem Ausmaß die Möglichkeit, ihr Leben zu gestalten (siehe auch Abschnitt 3.2). „Biografie ist also ein Konzept, das die Dialektik von Individuum und Gesellschaft in den Blick nimmt“ (ebd.). Rosenthal formuliert drei grundlagentheoretische Vorannahmen, aus denen sie die Notwendigkeit der Biografieforschung legitimiert. 1) Um zunächst soziale oder psychische Phänomene verstehen und erklären zu können, muss ihre Genese, also der Prozess ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung, rekonstruiert werden (vgl. Rosenthal 2014, S. 178). 2) Damit weiter das Handeln von Menschen verstanden und erklärt werden kann, ist es notwendig, sowohl die Perspektiven der Handelnden als auch die Handlungsabläufe selbst kennen zu lernen. Es ist das Ziel zu verstehen, was Individuen konkret erlebt haben, welche Bedeutung sie ihren Handlungen damals gaben und aus heutiger Sicht zuweisen, sowie in welchen biografisch konstituierten Sinnzusammenhängen sie ihre Erlebnisse und Handlungen stellen (vgl. ebd.). 3) Es ist darüber hinaus notwendig, die Aussagen eines Interviewpartners über bestimmte Erlebnisse seiner Vergangenheit, in den Gesamtzusammenhang seines gegenwärtigen Lebens sowie in seine daraus resultierende Gegenwartsund Zukunftsperspektive eingebettet zu interpretieren, um diese verstehen und erklären zu können (vgl. ebd.). Auf die hier vorliegende Studie angewandt bedeutet dies, dass der Einblick in die Geschichte bzw. die Biografie einer Person benötigt wird, um den Alltag, die Situationen, das Erleiden oder Handeln, welche den Weg in die Wohnungslosigkeit begleiten, verstehen und erklären zu können. Es wird danach gefragt,
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in welcher Reihenfolge bestimmte Erfahrungen vorausgingen und was diesen folgten. Es geht also darum, die Wohnungslosigkeit in ihrem Prozess des Werdens zu rekonstruieren und nicht nur das gegenwärtige Erleben zu untersuchen. Neben dieser klassischen Fragestellung, was wir von dem einen wohnungslosen Menschen wissen, wird der Versuch unternommen, darüber hinaus und über die subjektiven Konstruktionen der Wohnungslosen soziale, kulturelle sowie gesellschaftliche Zusammenhänge zu explorieren. Dies erzeugt im besten Fall fundiertes Wissen über komplexe Biografien und neue soziale Phänomene (hier: Wohnungslose) in der (Post-) Moderne (vgl. Bohnsack 2011, S. 24).
4.1.3 Warum Biografieforschung? Im Folgenden soll erläutert werden, warum die in Abschnitt 4.1 beschriebene Biografieforschung im Kontext dieses Forschungsvorhabens als Herangehensweise ausgewählt wurde. Zunächst kann ein Argument angeführt werden, welches so selbstverständlich ist, dass es leicht übersehen werden kann. Soziale Arbeit hat schon aus dem Grund eine sehr hohe Affinität zu Biografien, da die Probleme, mit denen pädagogisches Handeln umgeht, immer Lebenslagen konkreter Subjekte betreffen. Das bedeutet, sie sind – nicht ausschließlich, aber immer auch – biografisch strukturiert (vgl. Dausien 2005, S. 6). (Soziale) Probleme (hier: Wohnungslosigkeit) entstehen im Kontext von Lebensgeschichten. Sie haben eine Geschichte, werden im Horizont biografischer Erwartungen bearbeitet und haben darüber hinaus auch Zukunftsbezug. Die Frage: ‚Welche Wege führen junge Menschen in die Wohnungslosigkeit?‘ kann gar nicht losgelöst von den eigenen, höchst individuellen – und dennoch gesellschaftlich strukturierten – Lebensgeschichten beantwortet bzw. untersucht werden. Ähnliches gilt für die Phase des jungen Erwachsenenalters und einer Übergangsperspektive: Der Übergang vom Jugendlichen zum (jungen) Erwachsenen vollzieht sich neben vielen Teilübergängen. Hier spricht z. B. Köttig davon, dass eben solche Übergänge und soziale Phänomene nicht losgelöst von ihrer Genese in ihrer Bedeutung erschlossen werden können (vgl. Köttig 2013, S. 998). Wie also der junge Erwachsene (Wohnungslose) in schwierigen Übergangsphasen handelt, ob er handelt oder sich als handlungsmächtig – oder ohnmächtig – empfindet, wird dadurch beeinflusst, welche Erfahrungen er bisher gemacht hat, somit ist die Lebensgeschichte wieder immanent. Biografische Statuspassagen (z. B. Schüler vs. Arbeitsloser) und der Wechsel von Lebenswelten (zu Hause wohnen vs. auf der Straße schlafen vs. im Wohnungslosenheim leben) müssen
4.2 Narrative Interviews
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bewältigt werden. Dausien spricht dabei von biografischen Ressourcen, die von Subjekten aktiviert werden und biografischer Arbeit, die praktiziert wird, um neue Lebenslagen zu meistern (vgl. Dausien 2005, S. 6). Stimmt die Annahme, dass Subjekte im Alltag biografische Arbeit leisten, um sich selbst sowie ihre Welt zu interpretieren und daraus soziale Praxis zu entwickeln, ist es ratsam die Lebensgeschichte zu fokussieren. Soziale Arbeit hat es typischerweise mit Fällen zu tun, in denen biografische Übergänge scheitern, oder zu scheitern drohen. Häufig ist nicht nur „die Bewältigung einzelner Krisensituationen problematisch geworden, sondern die Fähigkeit zur biografischen Arbeit selbst, und jenes Potential der Biografizität ist stark eingeschränkt“ (ebd., S. 7). In einer Verkettung von Erfahrungen, Deutungen sowie Interaktionen mit der sozialen Welt und institutionellen Interventionen können sich Krisen aufschichten. Auch wenn Individuen dies nicht notwendigerweise erkennen oder bewusst reflektieren: Die zeitlich aufgeschichteten Erfahrungen und Sinnzusammenhänge bestimmen ihre Handlungsn und Deutungen mit (vgl. Dausien 2005, S. 6). Biografieforschung kann soziale Erfahrungen sichtbar – bzw. in Form von narrativen Interviews erhoben (siehe Abschnitt 4.2) – hörbar und nach der Transkription lesbar machen.
4.2 Narrative Interviews Die Daten dieses Forschungsvorhabens wurden mittels narrativen Interviews, einem qualitativen Verfahren zur Erfassung und Interpretation der Erzählung der Lebensgeschichte von Interviewpartnern und deren eigenen, subjektiven Perspektiven konstruierter Sinnzusammenhänge, erhoben. Erzählen ist eine, wenn nicht die „alltagsweltliche ‚Methode‘, mit der Subjekte sich selbst und ihre soziale Welt konstruieren, sich reflektieren und entwerfen, sich anderen mitteilen und mit anderen einen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit teilen“ (Dausien 2005, S. 8). Aus diesem Grund sind Erzählungen ein geeignetes Medium für die fallrekonstruktive Arbeit. Die im Rahmen der biografischen Methode angeführten Autoren (Dausien; Fischer-Rosenthal; Rosenthal; von Felden) stehen in der Tradition der von Schütze vertretenen Annahme, dass sich biografische Selbstpräsentationen am überzeugendsten in Erzählungen darstellen lassen. Narrative Interviews bilden somit die Grundlage einer textanalytischen Methode der biografischen Analyse (vgl. Rosenthal/ FischerRosenthal 1997, S. 410).
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Das Fundament der qualitativen empirischen Sozialforschung bilden drei theoretische Grundannahmen. Zunächst steht die Annahme, dass die soziale Wirklichkeit nicht außerhalb des Handelns der Gesellschaftsmitglieder existiert, sondern jeweils im Rahmen von Interaktionen hergestellt wird. Die soziale Wirklichkeit wird somit als Prozessgeschehen verstanden, das prinzipiell in jeder Interaktionssituation aufs Neue aktualisiert und ausgehandelt wird. Für eine Untersuchung ist also eine sinnverstehende Analyse der kommunikativen Interaktion nötig (vgl. Küsters 2009, S. 18). Dabei wird nicht nach dem Was, also den Inhalten, gefragt, sondern vielmehr nach dem Wie, folglich den Mechanismen der gegenseitigen Bezugnahme, der Inhaltskonstitution und Verweisung auf die gemeinsam geteilte soziale Wirklichkeit. „Eine Kernfrage bei der Analyse ist, wie das Handeln bzw. die das Handeln anleitenden Orientierungsstrukturen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, wie die sprachliche Interaktion und die gemeinsam geteilte bzw. hergestellte soziale Wirklichkeit miteinander zusammenhängen. […] Dies lässt sich weiterdenken zu der […] Frage, welcher Zusammenhang zwischen den Äußerungen eines Befragten und seinen tatsächlichen Handlungen besteht“ (ebd.).
Aus diesen Grundannahmen resultieren nach Flick drei Primärziele qualitativer Forschung: Zunächst die Erfassung subjektiver Sichtweisen, dann die Erforschung der interaktiven Herstellung sozialer Wirklichkeiten und zuletzt die Identifikation der kulturellen Rahmung sozialer Wirklichkeiten (Flick 1996, S. 28 ff.). Das narrative Verfahren im Rahmen dieser Arbeit überließ den interviewten jungen Wohnungslosen weitestgehend die Ausgestaltung der vereinbarten Interviewthematik (Wege in die Wohnungslosigkeit) und vermochte in einigen Fällen gerade dadurch, den Befragten heikle Informationen zu entlocken (vgl. Küsters 2009, S. 21). Zu Beginn des Interviews wurde folgender Erzählstimulus gesetzt, mit dem versucht wurde, eine möglichst spontane, unvorbereitete Erzählung in Gang zu setzen: Ich interessiere mich für die Lebensgeschichten von jungen Erwachsenen, die sich entweder in der Wohnungslosigkeit2 befinden oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind.
2In
einigen Fällen wurde im Erzählstimulus von Obdachlosigkeit statt Wohnungslosigkeit gesprochen. Dahinter steckten keine methodologischen Überlegungen, ich bin in der Interviewsituation teilweise zur alltagssprachlichen, synonymen Verwendung übergegangen.
4.2 Narrative Interviews
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Ich möchte dich bitten, mir deine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Ich werde dich zunächst nicht unterbrechen, sondern zuhören und mir ab und zu Notizen machen. Nachdem du fertig erzählt hast, werde ich vielleicht einige Nachfragen stellen.
Üblicherweise wurden dann erst am Ende einer – je nach Interview mehr oder weniger – autonom gestalteten Erzählung der jungen Wohnungslosen Rückfragen gestellt, die im Idealfall neue Narrationen hervorriefen. In einigen Fällen ergab sich direkt eine stringente, dichte Haupterzählung, ohne das Nachfragen notwenig wurden und teilweise wurden die Interviewpartner durch immanente Nachfragen zu Erzählungen angeregt. In wieder anderen Interviewsituationen führten weder der Erzählstimulus noch die Rückfragen zu stringenten Narrationen und es entwickelte sich gegenüber der ursprünglichen Intention eine Dialogsituation mit ständig wechselnden Sprechern. Die geführten Interviews sollten, entlang der Logik der narrativen Interviews, eine alltägliche Kommunikationssituation imitieren; das direkte Erzählen einer selbst erlebten Geschichte in der direkten Interaktion. Die Asymmetrie in der Verteilung des Rederechts wurde dabei zugespitzt, indem ich mich in der Rolle des Interviewers – im Gegensatz zu einem alltäglichen Zuhörer – ganz auf die Rolle des aufmerksamen, aber thematisch nicht intervenierenden Zuhörers beschränkt habe. An der Künstlichkeit der Interviewsituation änderte dieses Vorgehen zwar nichts, sie basierte meist aber dennoch auf natürlichen Kommunikationsmechanismen und machte sich diese, mit wenigen Ausnahmen, zunutze (vgl. ebd., S. 22). Durch das narrative Vorgehen konnten die jungen Wohnungslosen selbst die Grenzen bestimmen, bis zu denen sie sich auf das Forschungsvorhaben einließen wollten und hatten dennoch die Möglichkeit ihre eigenen Erfahrungen zur Geltung zu bringen. Die Grenzen wurden dabei von den Interviewpartnern unterschiedlich weit gefasst, es gab sowohl detailreiche Schilderungen von emotionalen Situationen, oder Episoden für die sich die jungen Wohnungslosen retrospektiv schämten, als auch eher zurückhaltende, vorsichtige Interviewpartner, die bestimmte Informationen nicht preisgeben wollten. Rosenthal und Fischer-Rosenthal (1997) fassen zusammen, warum solche narrativen Interviews und Biografieforschung gut ineinandergreifen: „[…] [W]enn wir rekonstruieren wollen, was Menschen im Laufe ihres Lebens erlebt haben, und wie dieses Erleben ihre heutige biographische Gesamtsicht bestimmt, das heißt, ihren heutigen Umgang mit ihrer Vergangenheit und ihre gegenwärtigen Handlungsorientierungen konstituiert, dann müssen wir Erinnerungsprozesse und deren sprachliche Übersetzung in Erzählungen hervorrufen. Nur
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die Erzählung einer Geschichte ermöglicht, neben der Reinszenierung vergangener Situationen im sprachlichen Spiel, die Annäherung an eine ganzheitliche Reproduktion des damaligen Handlungsablaufs oder der damaligen Ereignisgestalt im Kontrast zu der heutigen kognitiven, aber auch emotionalen und leiblichen Sicht auf diesen Vorgang“ (Rosenthal/ Fischer-Rosenthal 1997, S. 413).
Die Konzentration auf Erzählungen kommt daher, dass diese im Vergleich zu Argumentationen oder Beschreibungen einen besonders hohen Indexikalitätsund Detaillierungsgrad aufweisen. Erzählungen ermöglichen eine Annäherung an eine ganzheitliche Reproduktion eines damaligen Handlungsablaufs oder einer damaligen Erlebnisgestalt (vgl. Rosenthal 2014, S. 155). Mit Indexialität ist die Kontextgebundenheit, also die Bezugnahme auf eine konkrete Situation gemeint. Erzählungen sind an eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Person gebunden (vgl. ebd., S. 153). Argumentationen sind hingegen stärker an die Gegenwart gebunden und weit mehr von den Erlebnissen abgehoben und Beschreibungen beziehen sich nicht auf singuläre Ereignisse, sondern stellen statische Strukturen dar (vgl. ebd.). Auch, wenn die drei Darstellungsformen – Erzählung, Beschreibung, Argumentation – als analytische Kategorie von einander unterscheidbar sind, kamen sie in den geführten Interviews selten in Reinform vor. Alltagssprachliche Erzählungen beinhalten in der Regel auch beschreibende und argumentative Elemente. Umgekehrt weisen Beschreibungen und Argumentationen jeweils Elemente der beiden anderen Darstellungsformen auf (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 65). Die Interviews im Rahmen dieses Forschungsvorhabens bilden dabei keine Ausnahme. Zwar ließen sich einzelne Passagen eher einer der sprachlichen Formen zuordnen, entsprechende Darstellungen in Reinform fanden sich nicht, oder nur in sehr kurzen Segmenten. Durch das narrative Vorgehen sollten im Idealfall die Zugzwänge des Erzählens in Kraft gesetzt werden. Dies bedeutete einerseits, dass die jungen Wohnungslosen mehr berichten, als sie zunächst beabsichtigt hatten und andererseits, dass sie ihre Erzählungen beschränken mussten. Die Interviewpartner unterlagen den sogenannten Zwängen zur Gestalterschließung, Detaillierung und Kondensierung. Damit ihre Erzählungen nachvollziehbar blieben, mussten die Gesamtzusammenhänge mit allen wichtigen Teilzusammenhängen dargestellt werden. Zusätzlich benötigte ich als Zuhörer genügend Details, um die Geschichte auch zu verstehen und den Handlungsvorgang nachvollziehen zu können (vgl. ebd., S. 153 f.), was dazu führt, dass von den Interviewpartnern als relevant erachtete Elemente erzählt werden und vermeintlich eher unwichtige Zusammenhänge ausgelassen werden. Durch diesen Kondensierungszwang versuchen Erzählende üblicherweise, „das Geschehen auf die für den Nachvollzug der Geschichte wesentlichen Momente zu reduzieren“ (ebd.). Den jungen
4.2 Narrative Interviews
113
Wohnungslosen war bewusst, dass die Interviews im ungefähren Rahmen von 30 Minuten bis zu zweieinhalb Stunden stattfinden würden. Dies bedeutete, dass sie durch den Kondensierungszwang jene Details weglassen mussten, die die Sinnhaftigkeit ihrer Erzählung beeinträchtigen würden. Gleichermaßen mussten die Relevanzen so gesetztwerden, dass der Gesamtzusammenhang ihrer Geschichte weiterhin nachvollziehbar blieb.
4.2.1 Sample und Feldzugang Im Verlauf des Forschungsprozesses wurden insgesamt 18 Interviews mit 16 jungen wohnungslosen Männern geführt (Tabelle 4.1). Tabelle 4.1 Interviewpartner Name
Alter zum Zeitpunkt des Interviews
Albert (zwei Interviews)
28
Ali
24
Andreas
26
Basti
23
Björn
23
Bud
21
Felix
24
Georg
21
Hamid
24
Harro
21
Laith
19
Markus (zwei Interviews)
23
Marvin
22
Olli
21
Patrick
23
Ville
20
Es wurden ausschließlich männliche Wohnungslose für die Studie rekrutiert, die zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 18 und 28 Jahre alt waren und in verschiedenen Hilfeeinrichtungen für Wohnungslose lebten. Junge wohnungs-
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
lose Frauen wurden nicht ins Sample aufgenommen, um in den minimal- und maximalkontrastiven Vergleichen Geschlechtereffekte auszuschließen. Außerdem sprach folgende forschungsethische Annahme dagegen, wohnungslose Frauen im Rahmen dieses Forschungsprojektes von einem männlichen Interviewer befragt zu werden: Narrative Interviews stellen eine durchaus verletzliche Situation dar und Interviewpartner berichten unter Umständen – im Kontext dieses bestimmten Forschungsvorhabens wahrscheinlich – über schwierige Erfahrungen. Entsprechende Veröffentlichungen legen nahe, dass für weibliche Wohnungslose sexuelle Gewalt, Bedrohungen oder sexuelle Abhängigkeiten zum Alltag gehören (vgl. Flick/ Rönsch 2008; Lutz et al. 2017; Mayers 2001; Paegelow 2012; Permien/ Zink 1998; Romahn 2000; Wesselmann 2009). Auch wenn die Betroffenen im Rahmen der Interviews nicht explizit auf solche Erlebnisse angesprochen werden, könnten sie sich genötigt fühlen, solche Erlebnisse in der Interviewsituation zu rekapitulieren. Außerdem ist es, wie im vorherigen Kapitel geschildert wurde, ein Merkmal narrativer Interviews, dass häufig Zugzwänge des Erzählens in Kraft gesetzt werden, die dazu führen, dass die Erzählenden mehr berichten, als sie zunächst vor der Erzählung beabsichtigt haben (vgl. Rosenthal 2014, S. 155). Lutz et al. fordern aufgrund der besonderen Lebens- und Problemlagen von wohnungslosen Frauen spezifische und geschlechtersensible Hilfen (vgl. Lutz et al. 2017, S. 175 ff.), welche an dieser Stelle um die Forderung nach einer geschlechtersensiblen Forschung erweitert werden kann. Frauen leben zwar seltener (vgl. Abschnitt 2.6.2) auf der Straße oder in Formen der Wohnungslosigkeit wie Asylen, Notschlafstellen, aber ebenfalls unter äußerst prekären Bedingungen und häufig verdeckter als Männer. Dieses Thema bedarf der Aufmerksamkeit und es kann hier erneut das Forschungsdesiderat hinsichtlich Frauen in der Wohnungslosigkeit bekräftigt werden, welchem sich die vorliegende Arbeit jedoch nicht widmen kann. Die Arbeit konzentriert sich auf junge Wohnungslose und so wurde die Altersspanne der Interviewpartner von 18 bis 28 Jahren festgelegt. Zum einen, um damit die Phase des jungen Erwachsenenalters, bzw. der emerging adulthood abzubilden (vgl. Abschnitt 2.7.2 bzw. 2.7.3). Dieses Lebensalter, „lasting from the late teens through the mid- to late twenties“ (Arnett 2004, S. 4), beginnt im Anschluss an die Jugendphase und zieht sich bis in die späten Zwanziger. Zum anderen ist diese Altersspanne bezüglich verschiedener Gesetzesnormen (z. B. § 41 SGB VIII, Übergang aus dem SGB VIII in die SGB II und/ oder SGB XII sowie unterschiedliche Sanktionierungspraxis im Rahmen des SGB II für unterund über 25-Jährige) besonders relevant. Der Kontakt zu den Interviewpartnern wurde hauptsächlich über Hilfeeinrichtungen und ‚typische‘ Anlaufstellen für Wohnungslose hergestellt.
4.2 Narrative Interviews
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Es handelte sich um verschiedene Einrichtungen von niedrigschwelligen, ambulanten Hilfen bis zu vollstationären Einrichtungen mit umfangreicher Betreuung. In diesen Einrichtungen wurden in Frage kommende junge Wohnungslose angesprochen und als Interviewpartner rekrutiert. Es wurden durch diese Vorgehensweise hauptsächlich solche Menschen erreicht, deren Wohnungslosigkeit sich bereits manifestiert hatte. Straßenkinder, Jugendliche und junge Erwachsenen, die kurzzeitig von Zuhause wegliefen und kleine Fluchten suchten, oder jene, die aus verschiedenen Gründen Hilfeangebote vermieden hatten, wurden durch den gewählten Zugang nicht primär erreicht. Die Interviews fanden hauptsächlich in Büros oder Konferenzräumen in den jeweiligen Einrichtungen statt, da diese Räumlichkeiten meist ausreichend Platz und Ruhe für ein Gespräch boten. Die Unterhaltungen wurden mit Zustimmung der Interviewpartner digital aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht (vgl. Abschnitt 4.2.2). Die Namen der Gesprächspartner sowie aller genannten Personen (Betreuer, Bekannte, Freunde, Lehrer usw.) wurden geändert. Außerdem wurden Orte, Institutionen, Sehenswürdigkeiten, regionale Besonderheiten, Dörfer und Städte ebenfalls maskiert, um eine Identifikation der Interviewpartner zu verhindern. Vereinfacht hat sich der Forschungsprozess wie folgt vollzogen (Abbildung 4.1):
Abbildung 4.1 Forschungsprozess. (Eigene Darstellung)
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
Auf Basis einer ausführlichen Literaturrecherche und nachdem ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand vorlag (vgl. Abschnitt 2.1 bis 2.7), wurden erste Interviews erhoben. Das theoretische Vorwissen wurde in Anlehnung an Kelle und Kluge verwendet, die argumentieren, dass „qualitativ entwickelte Konzepte und Typologien gleichermaßen empirisch begründet und theoretisch informiert sein müssen“ (Kelle/ Kluge 2010, S. 23). Neue Ideen entstehen hiernach aus einer Kombination von altem Wissen und neuer Erfahrung (vgl. ebd., S. 26). Schließlich ermögliche erst das theoretische Vorwissen dem Forschenden, „einerseits, eine Anomalie überhaupt als solche wahrzunehmen, und dient andererseits als Material für die Formulierung neuer Hypothesen“ (ebd., S. 26). Aus den Interviews der ersten Erhebungsphase wurde die Biografie von Ville als Ausgangspunkt ausgewählt, da diese die gesamte Bandbreite an Problemen, welche in der Literatur zur Thematik Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen diskutiert werden (vgl. Abschnitt 2.4), umfasste. Sein Weg in die Wohnungslosigkeit schien ein vermeintlich typischer zu sein. Daran anschließend fand eine zweite Erhebungsphase statt, in der im Sinne des theoretical sampling nach möglichst maximal wie minimalkontrastiven Biografien gesucht wurde. Aus dem so erweiterten Pool an Interviews wurde Albert als maximal kontrastiver Fall ausgewählt, da seine Biografie in konstitutiven Merkmalen markante Unterschiede aufwies. Diese beiden Lebensgeschichten wurden ausführlich rekonstruiert und der Prozess der Rekonstruktion detailliert nachgezeichnet (Abschnitt 5.1 und 5.2). Anschließend wurden weitere minimal wie maximal kontrastive Biografien, die neue bedeutsame Aspekte aufweisen, in Form von Kurzportraits dargestellt (Abschnitt 5.3 bis 5.6). Für diese Kurzportraits von Ali, Marvin, Laith und Hamid folgte der biografischen Beschreibung eine komprimierte formale Textanalyse. Die strukturelle, inhaltliche Beschreibung sowie analytische Abstraktion wurden auf die wesentlichen, besonders relevanten Segmente reduziert. Die Lebensgeschichten wurden darüber hinaus so ausgewählt, dass sie als sogenannte „Prototypen“ (Kickartz 1988, S. 233), die später gebildeten Idealtypen relativ gut repräsentieren. Im Anschluss an die Fallanalysen und Kurzportraits wurden die Real- und Prototypen wie in Abschnitt 4.3.4 beschrieben, abschließend zu Idealtypen abstrahiert.
4.2.2 Transkriptionssystem Die geführten Interviews mussten verschriftlicht und in einer Form dargestellt werden, die eine Analyse und Interpretation ermöglichte. Eine exakte Transkription nach einem einheitlichen Standard sollte zumindest teilweise ver-
4.2 Narrative Interviews
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hindern, dass subjektive Wahrnehmungen des Forschenden in die inhaltliche Interpretation Eingang fanden (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 27). Das gewählte Transkriptionssystem sollte sich durch einen Kompromiss aus guter Lesbarkeit des Materials bei gleichzeitiger Komplexität bei Variablen, die für die Analyse und Interpretation wichtig waren, auszeichnen. Das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) schien hierfür geeignet. GAT dient der Erforschung von Gesprächen und unterscheidet zwischen Basis- und Feintranskription (vgl. Dittmar 2009, S. 131). Für das vorliegende Forschungsvorhaben war das entsprechende Basistranskript, welches durch „(a) die sequentielle Verlaufsstruktur, (b) die Pausen, (c) spezifisch segmentale Konventionen, (d) Arten und Formen des Lachens, (e) Rezeptionssignale, (f) Akzentuierungen und (g) Tonhöhenbewegungen am (prosaischen) Einheitenende“ (ebd.) gekennzeichnet ist, ausreichend. Jedes Transkript bestand schließlich aus einem Transkriptionskopf und dem Gesprächstranskript. Folgende Regeln wurden im Basistranskript beachtet: • Sequentielles Schreibformat: Das Nacheinander auf dem Papier bildet ikonisch das Nacheinander in der Zeit ab. • Kleinschreibung des gesamten Textes: Für lautische/ morphologische Abweichungen von der Standardorthographie wurden einige weitere Regeln gegeben. • Sprecher wurden zu Beginn eines Beitrags durch Buchstabeninitiale, gefolgt von einem Doppelpunkt und einem Leerzeichen getrennt. • Für Turns, also neue Sprecherbeiträge, die ohne Simultansprechen einsetzen, wurde eine neue Zeile begonnen. • Simultansprechen wurde zu Beginn der überlappend gesprochenen Passage durch eckige Klammern dargestellt. Passagen, die untereinanderstehen, sind also immer parallel zu lesen. • Schnelle, unmittelbare Turns wurden mit einem Gleichheitszeichen am Ende der alten und zu Beginn der folgenden Einheit gekennzeichnet. • Selbstabbrüche wurden mit dem Zeichen für Glottalverschluss’ markiert. • Hörerrückmeldungen wurden in folgender Form notiert: hm, ja, nein, nee (einsilbige Signale), hm=hm, ja=ja, nee=e (zweisilbige Signale), ‘hm’hm (mit Glottalverschlüssen, meistens verneinend). • Zweisilbige Rezeptionssignale wurden in Form von ja=a, nei=ein etc. mit einem Gleichheitszeichen notiert. • Die Akzentstelle sowie die Akzentstärke einer Phrasierungseinheit wurde durch Wiedergabe der akzentuierten Silbe in Majuskeln gekennzeichnet (UNglaublich).
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
• Pausen wurden wie folgt angegeben (.) Mikropause, (-), (–), (—) kurze, mittlere, längere Pausen. • Pausen, die zwischen zwei Sprechbeiträgen liegen, wurden gesondert notiert (vgl. ebd., S. 132 ff.). Für das Basistranskript sind üblicherweise Symbole für Tonhöhensprünge vorgesehen (?,-;.). Darauf wurde in den hier verwendeten Transkripten zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Die Symbole wurden entsprechend ihrer normalen Bedeutung eingesetzt. Zum Beispiel ein ? in einem fragend formulierten Satz oder ! nach einem Imperativ, oder wenn dem Gesagten ein besonderer Nachdruck verliehen wurde.
4.2.3 Zur Kritik an narrativen Interviews und deutendem Verstehen von Sinnstrukturen Im folgenden Abschnitt wird über Schwierigkeiten und Grenzen von narrativen Interviews sowie deren Implikationen für die späteren Auswertungsschritte reflektiert. Koller und Kokemohr etwa kritisieren in ihrem Vorwort zu „Lebensgeschichte als Text“ (Koller/ Kokemohr 1994) die Vorstellung, dass eine autobiografische Stegreiferzählung eine besondere Nähe zu den faktischen Ereignissen ermöglicht. Die Position, textförmig vorliegende Dokumente als eine günstige forschungspragmatische Ausgangsbedingung zu verstehen, durch die ein Blick auf die wirkliche Lebensgeschichte gewonnen werden kann, wird von beiden kritisiert (vgl. ebd., S. 7). Es müsse dem referentiellen Wert misstraut werden und den Geltungsbereich der Aussagen von vornherein strikt auf den Text konzentrieren (vgl. ebd.). Koller und Kokemohr begründen ihre Kritik gesellschaftlich-historisch, denn „die Skepsis gegenüber dem referentiellen Wert autobiographischer Erzählungen verstärkt sich in dem Maße, in dem im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse fraglos als gültig unterstellte Muster des Lebenslaufs und seiner narrativen Darstellung verloren gegangen sind. Wo das Leben der Individuen weitgehend einem für alle verbindlichen Modell folgt, kann eine erzählte Lebensgeschichte weit eher als unproblematisches Abbild des gelebten Lebens erscheinen als in einer Gesellschaft, in der ein solches Modell verschwunden ist und individuelle Lebensgeschichten deshalb als letztlich kontingente Konstruktionen gelten“ (ebd., S. 8).
Nittel begegnet der Kritik, in dem er darauf hinweist, dass Wissenschaftler in der Regel mit der epistemologischen Differenz zwischen dem Sachverhalt
4.2 Narrative Interviews
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als solchem und der Deutung dieses Sachverhaltes arbeiten (vgl. Nittel 2008, S. 79 f.). Es kann notwendig sein, den wirklichen Bedeutungsgehalt einer Proposition zu eruieren oder zumindest gedankenexperimentell in Rechnung zu stellen, um den Abstand zwischen dem faktisch Geäußerten und dem subjektiven Bedeutungsgehalt der Äußerung zu ermessen (vgl. ebd.). Im Diskurs gibt es zum einen die auf Vertrauensvorschuss gegenüber der Erinnerung setzende Haltung, welche davon ausgeht, dass das Gedächtnis – bei aller Fallibilität – eine recht valide Instanz bei der Aufbewahrung vieler Ereignismerkmale darstellt. Andererseits findet sich aber auch die Annahme, die jeglicher Art von autobiografischem Material einen ausgeprägten Hang zur Verfälschung, Mystifizierung und harmonisierenden Realitätswahrnehmung attestiert (vgl. ebd., S. 101). Diese Mahnung beachtend, wird versucht mit dem im Rahmen dieser Arbeit erhobenen, autobiografisch-narrativen Interviews, verantwortungsvoll umzugehen und einen (methodisch) reflektierten Mittelweg zwischen grenzenlosem Vertrauen und ungebremsten Zweifel zu finden, denn „ein sachgemäßer Umgang mit dem autobiographisch-narrativen Interview schließt die Reflexion seiner Grenzen mit ein“ (ebd.). In der Biografieforschung im Gesamten und im Rahmen dieser Arbeit wird nicht der Anspruch vertreten, durch die Vertiefung in Lebensgeschichten die vergangene Realität vollständig revitalisieren zu können. Vielmehr wird aus dem Kosmos aller lebensgeschichtlichen Erfahrungen nur ein kleiner, aber wesentlicher Teil rekonstruktiv fokussiert (vgl. ebd., S. 74 f.). Es ist offensichtlich, dass die narrativen Interviews nicht mit der gelebten Wirklichkeit verwechselt werden. Grenzen sind auch dem deutenden Verstehen von Sinnstrukturen und dem Vorgang des Interpretierens von textförmigen empirischen Daten gesetzt. Während wir im Alltag ständig darauf angewiesen sind, Situationen schnell zu begreifen – respektive sie zu deuten und zu verstehen – geben Kleemann et al. folgendes zu bedenken: „Im Austausch mit anderen wird man gelegentlich darauf hingewiesen, dass man die Dinge ‚durchaus auch anders sehen‘ könne oder dass man mit der eigenen Deutung einer Situation ‚über das Ziel hinausschießt‘; manchmal erkennt man zu spät, dass der Andere ‚eigentlich etwas Anderes gemeint hat‘“ (Kleemann et al. 2013, S. 15).
Ohne methodologische Reflexion und der Beachtung der generellen Kontingenz menschlichen Handelns läuft die qualitative Forschung Gefahr, willkürliche und nicht überprüfbare Aussagen über die Wirklichkeit zu produzieren (vgl.
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
ebd., S. 14). Außerdem haben die Forschenden in der Regel keinen unmittelbaren Zugang zu den spezifischen Lebenswelten der Beforschten, hegen aber dennoch den Anspruch, diese Lebenswelten in ihrer jeweiligen Eigensinnigkeit und Komplexität zu verstehen. Wie etwas wahrgenommen und verstanden – also Wirklichkeit konstruiert wird – ist dabei voraussetzungsreich und von der eigenen sozialen und kulturellen Position abhängig (vgl. ebd., S. 18). Um die Konstruktionsleistungen der Beforschten angemessen rekonstruieren zu können, müssen die Forschenden den Weg methodisch angeleiteten Fremdverstehens gehen (vgl. ebd., S. 19). Dies ermöglicht es, die Konstruktionen ersten Grades in begrifflich-theoretische Explikationen zu überführen, wie sie für wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig sind. Die wissenschaftlichen Konstruktionen zweiten Grades sind dabei keineswegs den Alltagskonstruktionen überlegen, sie stellen aber eine andere, den Handelnden oft nicht mögliche Reflexionsebene dar (vgl. ebd.). Narrative Interviews können darüber hinaus misslingen. Dies ist der Fall, wenn sich der Befragte nicht auf den narrativen Strom des Nacherlebens seiner Erfahrungen eingelassen hat, sondern versucht, seine Darstellung, etwa indem er entlang einer bereits bestehenden Erzählfolie spricht, zu kontrollieren (vgl. Küsters 2009, S. 66). Die Ursachen des Misslingens können in der Interaktion zwischen Informanten und Interviewer, aber auch in Erzählhemmungen des Befragten gesucht werden. Gründe hierfür können ein nicht erzählgeneriernder Stimulus, mangelhaft aufgebaute Vertrauensbeziehung oder die nicht geleistete Ratifizierung des Stimulus seitens des Interviewpartners sein (vgl. ebd.). In Interviews, in denen der Befragte zunächst nur mit einem Abriss der Geschichte auf den Stimulus reagiert und nicht selbsttätig erzählen will, könnte auf behutsame Nachfragen zu den gegebenen Rohdaten mitunter ausführliche Erzählungen folgen. Diese Variante ist für eine Auswertung noch geeignet. Dagegen lassen sich aus Interviews, die fast ausschließlich aus unergiebigen Sprecherwechseln bestehen und keine bzw. kaum Narrationen enthalten, kaum Prozessstrukturen herausarbeiten (vgl. ebd., S. 67). Der Interviewer muss des Weiteren darauf gefasst sein, dass es bei der Erzählung oder Nachfragen zu Gefühlsausbrüchen und starken emotionalen Reaktionen des Befragten kommt. Hinweise, wie dem Befragten in diesen Situationen beizustehen ist, finden sich mitunter in vorherigen Erzählpassagen. Der Abbruch des Interviews3 oder ein Reagieren nach der persönlichen Intuition wären ebenfalls Möglichkeiten (vgl. ebd., S. 68).
3Während
der Erhebung der Interviews zu diesem Forschungsprojekt kam es zwei Mal zu heftigen emotionalen Reaktionen. In beiden Fällen wurde angeboten, dass Interview zu pausieren oder abzubrechen, welches von den Interviewpartnern jeweils abgelehnt wurde.
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
121
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen Die im Rahmen dieser Arbeit erhobenen Interviews wurden nach einer durch Rosenthal modifizierten Version des von Schütze entwickelten Verfahrens der Narrationsanalyse (vgl. Schütze 1983, S. 283 ff.; Rosenthal 2014, S. 186 ff.) ausgewertet. Schütze hat seinen Auswertungsprozess für narrative Interviews in nur einem Aufsatz dargelegt, der ganz auf die Anwendung in der Biografieforschung zugeschnitten ist (vgl. Küsters 2009, S. 77). Es wurde Schützes Argumentation gefolgt, dass neben dem Lebenszyklus von Altersgruppen einer Gesellschaft und von Personengruppen mit bestimmten gemeinsamen sozialen Merkmalen auch jene Aspekte relevant sind, die mit dem individuellen Lebensschicksal zusammenhängen. Negative Ereignisverkettungen wie z. B. Wege in die Alkoholsucht oder in die Arbeitslosigkeit sind nicht jenseits des Umstandes begreifbar, dass sie die Identität des Biografieträgers angreifen (vgl. Schütze 1983, S. 283 f.). „Vieles, manchmal alles, hängt davon ab, wie der Biografieträger die negative Ereignisverkettung erfährt und wie er sie theoretisch verarbeitet“ (ebd., S. 284). Hieraus abgeleitet, dass es sinnvoll ist, die Frage nach Prozessstrukturen von individuellen Lebensläufen zu stellen und davon auszugehen, dass es elementare Formen dieser Strukturen gibt, die zum Teil in allen Lebensläufen anzutreffen sind. Außerdem gebe es Kombinationen solch elementarer Prozessstrukturen, die als Typen von Lebensschicksalen gesellschaftliche Relevanz besitzen (vgl. ebd.). Erstes Ziel der Auswertung war es, die Zusammenhänge von biografischen Deutungsmustern und Interpretationen der Biografieträger, also der jungen Wohnungslosen und ihrer rekonstruierten Lebensgeschichte aufzudecken. „Die Verschränkung zwischen gesellschaftlichen Möglichkeitsräumen und individuellen Lebensgeschichten ist nicht kategorial und allgemein zu klären, sondern muss für den Einzelfall re-konstruiert werden. Dieses Prinzip besagt nicht, dass Einzelfälle ausschließlich in ihrer Besonderheit als ‚unvergleichbare Schicksale‘ zu verstehen sind, sondern fordert dazu auf, allgemeine gesellschaftliche Strukturen im Besonderen zu rekonstruieren“ (Dausien 2005, S. 8).
Im vorliegenden Forschungsdesign wurden einzelne Fälle rekonstruiert und auf ihre konstituierenden Prinzipien interpretiert. Wie bereits im vorherigen Kapitel angedeutet, zielten diese Fallrekonstruktionen auf Gesetze des Typischen und nicht des Repräsentativen (vgl. Bude 2011, S. 61).
122
4 Wege beforschen und rekonstruieren
4.3.1 Schritte der Auswertung autobiografischer Stehgreiferzählungen Mit der Auswertung wurde begonnen, nachdem ein Pool an Datenmaterial vorlag, indem sich ein vermeintlich typischer Fall herauskristallisierte (erste Erhebungsphase). Dieser wurde dann nicht in einzelnen, interessant erscheinenden Textpassagen analysiert, sondern vollständig als Fall rekonstruiert (vgl. Küsters 2009, S. 76). Der Logik der Rekonstruktion folgend, wurde darauf verzichtet, mit einem bestehenden Set an Hypothesen oder vorab entwickelten Kategorien an das Interviewmaterial heranzugehen, sondern jeder weitere Text wurde aufs Neue interpretiert und die Bedeutung einzelner Teile stets im Gesamtzusammenhang rekonstruiert (vgl. Rosenthal 2014, S. 55). Die Grundlage der Analyse bildete zunächst die autonom gestaltete Haupterzählung der jungen Wohnungslosen. Erst nach der Interpretation dieser Haupterzählung wurden Interviewpassagen aus den immanenten Nachfragen ergänzend herangezogen (vgl. ebd., S. 76 f.). In den meisten Fällen bestanden die autobiografisch-narrativen Interviews aus drei zentralen Teilen: Auf eine autobiografisch orientierte Erzählaufforderung (den Stimulus) folgte als erster Hauptteil die autobiografische Anfangserzählung. Erst nachdem eine Erzählkoda erfolgte (z. B. Gibt’s noch irgendwas?; Das wars so ungefähr; Ham’ se' vielleicht noch fragen?), wurde mit den immanenten Nachfragen begonnen. Dabei wurde zunächst versucht, das tangentielle Erzählpotential auszuschöpfen, das in der Anfangserzählung an Stellen der Abschneidung „weiterer, thematisch querliegender Erzählfäden, an Stellen der Raffung des Erzählduktus wegen vermeintlicher Unwichtigkeit, an Stellen mangelnder Plausibilisierung und abstrahierter Vagheit“ (Schütze 1983, S. 285) angedeutet wurde. Teilweise, aber nicht immer, gelang es, im Anschluss an eine wenig stringente Haupterzählung noch Narrationen zu bestimmten Episoden, etwa auf der Straße, zur Schulzeit oder der Familiensituation, durch Nachfragen zu erzeugen. Die jungen Wohnungslosen wurden anschließend aufgefordert, Zustände und Darstellungen abstrahierend zu beschreiben, um die Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit der Interviewpartner als Experten und Theoretiker ihrer selbst zu nutzen (vgl. ebd.). Durch Nachfragen wurde versucht, am Beschreibungs- und Theoriepotential anzusetzen, soweit diese an autobiographischen Kommentarstellen nach „dem Abschluss der Darstellung von bestimmten Lebensabschnitten sowie an Stellen der Erläuterung situativer, habitueller und sozialstruktureller Hintergründe ansatzweise deutlich [wurden]“ (ebd.). Den Abschluss bildete ein weiterer Interviewteil, indem mittels Leitfadens zusätzlich relevant erachtete Fragen zum Thema
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
123
Wohnungslosigkeit gestellt wurden. Waren die Themen des Leitfadens bereits durch eine besonders dichte, stringente Haupterzählung abgedeckt, wurde auf den dritten Interviewteil mit Leitfaden verzichtet. Das Ergebnis vieler (aber nicht aller) Interviews war schließlich ein Erzähltext, der den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biografischen Identität kontinuierlich, also ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen darstellte und explizierte (vgl. ebd., S. 286). Bei der Auswertung wurde zunächst mittels einer Interviewkritik anhand der Eingangssequenz geprüft, ob der Interviewpartner den Stimulus ratifiziert hatte und ob eine Stehgreiferzählung zustande kam. Zwar waren auch Interviews, bei denen die Erzählung durch Fragen oder Bemerkungen unterbrochen wurden, interpretierbar, es musste in diesen Fällen aber besonders sorgfältig geprüft werden, ob durch die Unterbrechungen und Fragekonstruktionen neue Themen eingeführt wurden, die das ursprüngliche Darstellungsvorhaben beeinflusst haben (vgl. ebd., S. 77). Die anschließende Analyse gliederte sich in eine Abfolge von fünf Arbeitsschritten: 1. formale Textanalyse, 2. strukturelle inhaltliche Beschreibung der Darstellungsstücke, 3. analytische Abstraktion, 4. kontrastive Vergleiche unterschiedlicher Interviewtexte, der übliche fünfte Schritt, die Konstruktion eines theoretischen Models (vgl. ebd., S. 286 ff.), wurde durch die Konstruktion von Idealtypen als Heuristik zwischen Empirie und Theorie, ersetzt. Auf die Wissensanalyse, die in einigen Studien an den Schritt der analytischen Abstraktion anschließt, wurde in der vorliegenden Arbeit verzichtet. Im ersten Analyseschritt wurde der Erzähltext anhand seiner formalen Abschnitte segmentiert. In Anlehnung an Küsters und Rosenthal wurden primär die Narrationen analysiert, weil von ihnen angenommen wurde, dass sie in besonderer Nähe zum Erleben des erzählten Ereignisverlaufs stünden. Beschreibungen und Argumentationen, die als Bewertungen des zuvor Erzählten in Narrationen eingelagert sind, wurden zusätzlich mit in die Analyse einbezogen, da auch sie von Interesse sein konnten (vgl. Küsters 2009, S. 78; Rosenthal 2014, S. 154). Die Erzählpassagen wurden weiter in ihre einzelnen Segmente unterteilt. „Die Segmente entsprechen der Aneinanderreihung von Ereigniseinheiten und bilden zusammen die Erzählkette, die den geschilderten Ereignisverlauf in seiner Gesamtheit repräsentiert“ (ebd.). Im zweiten Schritt wurde die strukturelle inhaltliche Beschreibung der Darstellungsstücke durchgeführt. Formale Binnenindikatoren wie Verknüpfungselemente zwischen einzelnen Ereignisdarstellungen (z. B. dann, weil) und
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Markierer des Zeitflusses (damals, plötzlich) sowie Markierer mangelnder Plausibilisierung und notwendiger Zustandsdetaillierung wie Verzögerungspausen oder Selbstkorrekturen wurden zusätzlich zur Interpretation herangezogen (vgl. Schütze 1983, S. 286). Diese Markierer konnten stellenweise ebenfalls zur Abgrenzung der einzelnen Segmente herangezogen werden (vgl. Küsters 2009, S. 78). Im Rahmen der strukturellen Beschreibung wurde versucht, die einzelnen, zeitlich begrenzten Prozessstrukturen des Lebenslaufs – also institutionell bestimmte Lebenssituationen; Höhepunktsituationen; dramatische Wendepunkte oder allmähliche sowie geplante und durchgeführte biografische Handlungsabläufe herauszuarbeiten. Folgende mögliche Fragen stellten sich im Rahmen der Analyse: „Warum macht der Erzähler an dieser Stelle einen Einschnitt? Was ist neu, was hat sich geändert (im Vergleich zum vorherigen Segment)? Was wird erzählt? Was könnte stattdessen erzählt werden? Was wird nicht erzählt, wird dethematisiert? Welchen Tonfall hat die Erzählung? Aus welcher Sprachsphäre wird gesprochen? Welche Perspektive nimmt der Erzähler ein? Welche Zusammenhänge stellt er her? Wie führt er Personen und Bedingungen ein?“ (Küsters 2009, S. 79).
Bei der Interpretation wurde immer sequentiell vorgegangen, d. h. von Segment zu Segment. Bei der Analyse von biografischen Erzählungen wurde zunächst versucht, in jedem Segment die Verlaufsstruktur des geschilderten Prozesses zu beschreiben und dabei möglichst alle relevanten Einflussgrößen des Prozessverlaufs (z. B. institutionelle Handlungsrahmen, innere Reaktionen, Deutungsmuster des Erzählers) zu berücksichtigen. Das strikt sequentielle Analysevorgehen, welches die Reihenfolge der sprachlichen und nichtsprachlichen Aktivitäten berücksichtigte, war insofern von großer Bedeutung für eine Annäherung an empirische Phänomene, da „jede einzelne Äußerung in den Kontext des vorher Gesagten eingebettet ist und dadurch eine spezifische Bedeutung für den Gesamtablauf einer Sequenz hat“ (Kleemann et al. 2013, S. 20). Das Ergebnis der strukturellen inhaltlichen Beschreibung wurde im dritten Abschnitt der Auswertung, der analytischen Abstraktion, von den Details der einzelnen dargestellten Lebensphasen gelöst. Die abstrahierten Strukturaussagen zu den einzelnen Episoden wurden systematisch miteinander in Beziehung gesetzt und auf dieser Grundlage wurde versucht, die lebensgeschichtliche Abfolge der erfahrungsdominanten Prozessstrukturen in den einzelnen Lebensabschnitten bis hin zur gegenwärtig dominanten Prozessstruktur herauszuarbeiten (vgl. Schütze 1983, S. 286). Hierzu wurden die im vorherigen Schritt entwickelten deskriptiven und analytischen Kategorien mit dem Ziel herangezogen, einen Strukturplan des gesamten geschilderten Prozesses zu entwerfen,
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
125
auf dessen Basis der Gesamtverlauf des erzählten Prozesses und der zugehörigen Erfahrungsaufschichtung beschrieben werden könnte (vgl. Küsters 2009, S. 82). Es wurde versucht, eine biografische Gesamtformung zu erstellen, die auf den inhaltlichen Beschreibungen für jedes Segment, also den identifizierten Prozessstrukturen des Lebenslaufs beruht. Aus ihnen wurde anschließend der Gesamtverlauf der Biografie rekonstruiert (vgl. ebd.). Der nächste Schritt bestand darin, sich von der Einzelfallanalyse des Interviews zu lösen und kontrastive Vergleiche unterschiedlicher Interviewtexte vorzunehmen. In der vorliegenden Arbeit wurde ein Fall aus dem Datenmaterial ausgewählt, der Ville, als vermeintlich typischen jungen Wohnungslosen, in konstitutiven Merkmalen maximal kontrastiv entgegenstand. Der letzte nach Schütze übliche Schritt, die Konstruktion eines theoretischen Modells, wurde in der vorliegenden Studie nicht vollzogen. Es wurde stattdessen versucht, die Explorativität und neue Entdeckungszusammenhänge zu betonen, indem mögliche idealtypische Verläufe in die Wohnungslosigkeit identifiziert wurden, die wiederum als Heuristiken zu einer späteren Theoriebildung dienen könnten. Wie in Prozessen qualitativer Forschung üblich, wurden auch die im Rahmen dieser Arbeit erhobenen Interviews in Kolloquien, Forschungs- und Rekonstruktionswerkstätten gemeinsam interpretiert, analysiert und mögliche Kategorisierungen diskutiert. Insbesondere die Erzählungen von Ville, Ali und Marvin wurden intensiv in entsprechenden Gruppen4 besprochen.
4.3.2 Theoretical Sampling sowie minimal- und maximalkontrastive Vergleiche Die Samplebildung in der vorliegenden Arbeit vollzog sich nach der spezifischen Methode des „Theoretical Sampling“ (Glaser/ Strauss 1967, S. 51 ff.). Nach der Auswertung eines Ausgangsfalles und den daraus gewonnenen Erkenntnissen wurde nach neuen Fällen gesucht, die gleichzeitig der Überprüfung des Wissensstandes dienten und geeignet sein sollten, die Reichweite der bisherigen Interpretationen auszubauen. Auf diese Weise wurde das Untersuchungsfeld schrittweise erschlossen bis konsistente und plausible Idealtypen gewonnen wurden (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 24 ff.).
4Hierzu
zählten u. a. der Magdeburger Methodenworkshop zur Qualitativen Bildungs- und Sozialforschung, verschiedene Institutskolloquien sowie Forschungswerkstätten an der Universität Trier sowie informelle Doktorandengruppen.
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„Das Theoretical Sampling ermöglicht das Finden von tragfähigen Hypothesen und Konzepten anhand empirischer Fälle sowie deren Modifizierung, Differenzierung und Erweiterung in der fortlaufenden Fallauswertung. Die so betriebene empirisch begründete Theoriebildung ist abgeschlossen, wenn keine weiteren strukturell neuen Phänomene in Bezug auf die Forschungsfrage zu erkennen sind (theoretische Sättigung)“5 (ebd., S. 25).
Der erste Schritt ist dabei das Finden von sogenannten minimalkontrastiven Fällen. Sowohl bei konkretem, als auch bei generalistischem Analyseinteresse werden zunächst durch die Strategie des minimalen Vergleiches Interviews gewählt, die hinsichtlich des relevanten Phänomens gegenüber dem ersten Interview Ähnlichkeiten aufweisen. Die Analyse eines ähnlichen Interviewtextes hat die Funktion, die aus der ersten Einzelfallanalyse gewonnenen Erkenntnisse zu verdichten und von den Besonderheiten des Einzelfalls abzulösen (vgl. Schütze 1983, S. 287). Nach der Strategie des minimalen Vergleichs werden durch den maximalen Vergleich Interviewtexte maximaler Verschiedenheit zum ersten Interview herangezogen, die aber immer noch Vergleichspunkte mit dem Ursprungstext aufweisen. Der maximalkontrastive Vergleich von Interviewtexten hat die Funktion, „die in Rede stehenden theoretischen Kategorien mit gegensätzlichen Kategorien zu konfrontieren, so alternative Strukturen biographisch sozialer Prozesse in ihrer unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Wirksamkeit herauszuarbeiten und mögliche Elementarkategorien zu entwickeln, die selbst den miteinander konfrontierten Alternativprozessen noch gemeinsam sind“ (ebd., S. 288).
Darüber hinaus dient der maximalkontrastive Vergleich der Überprüfung, welchen Grad der Verallgemeinerbarkeit einzelne theoretische Kategorien aufweisen (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 26). In der vorliegenden Arbeit wurde das Vorgehen der minimal- und maximalkontrastiven Vergleiche dahingehend modifiziert, dass zur Schärfung des Ausgangsfalles in der zweiten Erhebungsphase zunächst nach maximal kontrastiven Lebensgeschichten gesucht und erst in einem weiteren Schritt minimalkontrastive Fälle herangezogen wurden. Das Prinzip des Vergleichs war dabei maßgeblich für die spätere Idealtypenbildung (vgl. Abschnitt 4.3.4). Denn erst „über das beständige Kontrastieren verschiedener
5Auch
wenn es bei der hier vorliegenden Arbeit nicht um die Bildung einer Theorie, sondern das Konstruieren von Idealtypen als Heuristik für eine spätere Theoriebildung geht, blieb das Vorgehen des Theoretical Sampling zielführend.
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
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Handlungen, Interaktionen, Äußerungen usw. lassen sich typische Gemeinsamkeiten erkennen, die hinter diesen sozialen Akten liegen“ (Sammet/ Erhard 2018, S. 48). Dabei ging es um die Wechselwirkungen der herausgearbeiteten biografisch sozialen Prozesse aufeinander und die zeitlich-sachliche Ablösung der einen durch die anderen sowie ihren gemeinsamen Beitrag zur biografischen Gesamtformung. Am Ende standen Prozessabläufe spezifischer Arten von Lebensläufen und deren Phasen, Bedingungen und Problembereiche (vgl. Schütze 1983, S. 288). Die so gewonnenen theoretischen Kategorien wurden schließlich im letzten Schritt, der Konstruktion von idealtypischen Verläufen in die Wohnungslosigkeit, systematisch aufeinander bezogen.
4.3.3 Agency in narrativen Interviews Der folgende Abschnitt klärt, inwiefern die sprachlich mitgeteilte subjektive Erlebensdimension von Individuen bezüglich ihrer Handlungsmächtigkeit anhand empirischer Daten – in diesem Fall in Form von narrativen Interviews – rekonstruiert werden konnte. Sprache stellt eine Fülle von Möglichkeiten grammatikalischer und syntaktischer Wahlen zur Verfügung, um „basierend auf Erfahrungen, Personen oder Dingen potentielle (Handlungs- und Wirkfähigkeit) oder faktische (Handlungs- und Wirkfähigkeit) Handlungen und Wirkungen zuzuschreiben“ (Helfferich 2012a, S. 12). Die in Abschnitt 3.1 beschriebenen biografischen Prozessstrukturen nach Schütze beinhalten bereits agencytheoretische Implikationen. Helfferich schlägt vor, diesen Ansatz, mit Fokussierung der Auswertung auf sprachlich konstruierte Ausdrucksformen von Handlungs- und Wirkmächtigkeit und deren Wandel über die erzählten Lebensphasen hinweg, auf eine neue Weise fruchtbar zu machen (vgl. Helfferich 2012, S. 210). Zur Analyse postuliert Lucius-Hoene drei mögliche Ebenen, die drei verschiedenen Kontexten, in denen Agency wirksam ist, entsprechen: • „auf der Ebene der Erzählsätze durch die Wahl von Prädikaten und semantischen Rollen sowie anderen sprachlichen Strategien der Handlungscharakterisierungen -> Agentivierungen seitens des Erzählers in den Erzählsätzen […] • auf der Ebene der Interaktion mit der Zuhörerschaft hinsichtlich der Gestaltung der kommunikativen Rollen und des Anspruchs auf epistemische Autorität
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
-> Agentivität des Erzählers in der Interaktion mit dem Hörer und mit den kommunikativen Vorgaben der Erzählsituation […] • auf der Ebene der Leistung des Erzählers durch Art der Geschichtenversion, Evaluation und Moral der Geschichte“ (Lucius-Hoene 2012, S. 43) Hierbei war im Forschungsprozess zu beachten, dass sich solche Elemente im Akt der Erzählung überlagern und auch auf den anderen Ebenen wirksam werden können. Die Art der Agentivierungen in Erzählungen legte die Perspektive der Interviewpartner auf die erzählte Geschichte offen und ließ erkennen, wer oder was als handelndes Zentrum bestimmt wurde, wie der Erzähler sich selbst dazu positionierte und welche sonstigen Akteure er in welcher Form daran beteiligt sah (vgl. ebd., S. 44). Die Art der Versprachlichung eines Geschehens in den Erzählsätzen ließ dabei erkennen, wie ein Wandel – etwa durch eigene Tätigkeit, Urheberschaft oder Wirkkomponente – zustande kommen konnte, oder nicht. Die Erzählungen der jungen Wohnungslosen wiesen sprachliche Hinweise auf, was sie als Ursache der Ereignisse sahen und wen sie daran beteiligt hielten. Dies waren sowohl Personen oder Institutionen, als auch benennbare oder anonyme Mächte. Die Interviewpartner verfügten sprachlich darüber, ob sie sich selbst eine aktive Rolle zuschrieben oder sich als erleidende Person und Spielball Anderer darstellten (vgl. ebd., S. 44 f.). Durch grammatikalische und satzsemantische Vorgaben stellte die Sprache der jungen Wohnungslosen das Repertoire zur Verfügung, ihre Erfahrungen von Handlungs- und Wirkmacht entsprechend zu markieren. Die sprachliche Darstellung wurde allerdings nicht mit dem Erleben der Person zum Zeitpunkt des Ereignisses gleichgesetzt, sondern war immer als Konstruktion der Gegenwart in der Erzählsituation zu betrachten (vgl. ebd., S. 46). Da sprachliche Vermittlungsstrategien eine wichtige Rolle spielten, war der Gegenstand der Analyse nicht nur das Was des Erzählten, sondern auch das Wie des Erzählens, dass, unter anderem aus der Erzählsituation (hier: narratives Darstellungsmuster als Vorlage) gestaltet wurde. Mit der Zuschreibung von Agentivität war nicht nur verbunden, wie die jungen Erwachsenen die Verursachung eines Geschehens konzipierten, sondern auch die Frage nach Intentionalität, Verantwortlichkeit, Kontrolle – und eng damit verbunden: Absicht und Rechenschaft. Umgekehrt konnte der Erzähler nicht bzw. nur bedingt verantwortlich gemacht werden, wenn eine andere Person oder Instanz das Geschehen vorantreibt, oder ihm die Konsequenzen und Implikationen seines Handelns nicht klar waren (vgl. ebd., S. 47). Für die sprachliche Analyse von Agentivierungen in Erzählungen haben sich jene Sätze angeboten, in denen etwas geschah und die Handlung oder die Ereignisfolge
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
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der Erzählung vorangetrieben wurde. Prädikatsausdrücke6 und die semantischen Rollen, in denen die beteiligten Personen oder Mächte auftreten, waren dabei von besonderem Interesse (vgl. ebd., S. 48 f.). Zur weiteren Herausarbeitung von Agency-Konstruktionen in Erzählungen konnte die Frage gestellt werden, um welche Träger von Wirkmacht es sich bei den agentiven Positionen handelte und ob es Personen, Institutionen oder Kollektive waren. Damit war stets die Frage verbunden, ob ihnen Intentionalität und Richtung sowie Wissen um ihr Handeln und damit Verantwortlichkeit zugeschrieben wurde (vgl. ebd., S. 52). Zusammengefasst ließen sich die Erzählungen der jungen Wohnungslosen unter folgenden Fragen beleuchten: • „Wie vollzieht sich das Geschehen? Handelt es sich um eine Handlung […] oder um einen Vorgang […]? • Wer oder was handelt, bzw. durch wen/ was kommt das Geschehen voran […]? Um welche Art von Wirkmächten handelt es sich? […] • Liegt eine Handlung eines als handlungsfähig konzipierten Wirkzentrums oder ein Geschehen als anonymes Ereignis ohne erkennbare handlungsmächtige Instanz als Verursachung vor (Intentionalität und Verantwortlichkeit)? Wird der treibenden Instanz des Geschehens oder der Handlung damit implizit oder explizit Absicht unterstellt? Halten wir sie für fähig und in der Lage, die Konsequenzen ihres Handelns zu kennen? • Wie verhält sich die erzählende Person zu der Handlung oder dem Geschehen? […] • Wie verhalten sich andere Personen oder Instanzen zur erzählenden Person? • Ändern sich Personen oder Instanzen der Geschichte im Hinblick auf ihre semantischen Rollen im Lauf der Geschichte?“ (ebd., S. 53 f.). Eine entsprechende Analyse konnte genutzt werden, um die Vorstellungen einer Person zur Wirkgeschichte und ihrer Agency oder dem Verlust der Agency zu erfassen. Die in den Abschnitten 4.3 bis 4.3.2 vorgestellte sozialwissenschaftliche Textanalyse konnte durch eine solche, linguistisch untermauerte Strategie weiter präzisiert werden.
6Die
detaillierten Ausführungen zu verschiedenen Prädikatsausdrücke und der Funktion von semantischen Rollen sowie der Fokussierung von interaktiven, hörerorientierten Aspekten und psychologischen Implikationen und Wirkungen des Erzählens können an dieser Stelle nicht in Gänze nachgezeichnet werden. Hier sei auf Lucius-Hoene (2012) sowie Lucius-Hoene/ Deppermann (2004) verwiesen.
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
4.3.4 Kategorisierung und Typenbildung Im letzten Schritt der Auswertung wurden zur Beschreibung und Systematisierung der entdeckten Phänomene in den narrativen Interviews Idealtypen gebildet. Diese halfen bei der Beschreibung sozialer Realität durch Strukturierung und Informationsreduktion. Die Einteilung in wenige Gruppen oder Typen erhöhte die Übersichtlichkeit einer komplexen sozialen Realität, die auf eine beschränkte Anzahl von Gruppen bzw. Begriffen reduziert werden konnte, um sie (be-)greifbar zu machen (vgl. Kelle/ Kluge 2010, S. 10 f.). Die Typenbildung fand in Anlehnung an Kelle und Kluge und im Anschluss an die Rekonstruktion sowie Kontrastierung der narrativen Interviews statt. Die Idealtypen sind damit zwischen Empirie und Theorie zu verorten, da sie sich auf reale empirische Phänomene beziehen, diese aber nicht einfach beschreiben, sondern einige ihrer Merkmale überzeichnen, um zu einem Modell sozialer Wirklichkeit zu gelangen (vgl. ebd., S. 83). „Idealtypen sind wissenschaftliche Konstruktionen, die helfen sollen, die Sozialwelt besser zu verstehen und erklärbar zu machen. Sie abstrahieren bewusst von der sozialen Wirklichkeit. […] Die gezielte Bildung von Idealtypen lässt sich deshalb als ein wissenschaftlich-strategisches Mittel verstehen, um die Komplexität sozialer Wirklichkeit, ihre Verwobenheit und Verschachteltheit, handhabbar zu machen. Man isoliert einzelne Züge dieser Wirklichkeit, um sie überhaupt analytisch beschreiben zu können. Ganz ähnlich wie im Alltag, nur eben bewusst reflektierend und methodisch vorgehend, bedeutet Generalisierung in den empirischen Sozialwissenschaften somit, aus verschiedenen Einzelbeobachtungen Typisches zu isolieren und begrifflich zuzuspitzen.“ (Sammet/ Erhard 2018, S. 47).
Aus einem umfangreichen Konglomerat an Vergleichsdimensionen und Kategorien wurde versucht, konstitutive Merkmale und Unterschiede zu identifizieren und diese dann zu geeigneten Kategorien und schließlich Typen zusammenzufassen. „Da eine Typologie (explizit oder implizit) aus einer Kombination von Kategorien bzw. Merkmalen entwickelt wird, besteht der erste Schritt einer expliziten Typenbildung darin, jene Merkmale bzw. Vergleichsdimensionen zu identifizieren, die die Basis für die spätere Typologie bilden sollen“ (Kelle/ Kluge 2010, S. 93). Dazu wurde Kelle und Kluges Verständnis des Kategoriebegriffs gefolgt: „Kategorie ist demnach jeder Begriff, der zu einer Klassifizierung von beliebigen Objekten dienen kann, im qualitativen Forschungsprozess also jeder Begriff, der zur Kennzeichnung und Unterscheidung von Phänomenen jeglicher Art (also Personen, Gruppen, Vorgängen, Ereignissen u.v.a.m.) und damit zur Erschließung,
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
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Beschreibung und Erklärung der Daten genutzt werden kann: Ein am Anfang des Analyseprozesses genutztes einfaches Codewort ist demnach ebenso eine Kategorie wie ein komplexer theoretischer Begriff, der am Ende der Analyse steht. Auch ein Typus kann somit als eine Kategorie bezeichnet werden“ (ebd., S. 60 f.).
Im Folgenden wird beschrieben, wie durch die Kontrastierung der Fälle des empirischen Datenmaterials ein Kategorienschema aufgebaut wurde, welches als Grundlage für die Konstruktion der empirisch begründeten Typologien herangezogen wurde. Dieses Vorgehen folgte weitestgehend der Grundidee von qualitativen Kodierverfahren, die sich dadurch kennzeichnen, dass „1. Textpassagen indiziert bzw. kodiert werden, indem ihnen bestimmte Kategorien zugeordnet werden, 2. Textpassagen, die bestimmte Kategorien und ggf. weitere Merkmale gemeinsam haben, synoptisch verglichen und analysiert werden, 3. und dass angestrebt wird, auf der Grundlage dieses Vergleichs Strukturen und Muster im Datenmaterial zu identifizieren, die dann etwa zur Bildung neuer Kategorien bzw. Subkategorien führen können“ (ebd., S. 59).
Die Zuordnung einer Kategorie zu einer Textpassage entsprach forschungslogisch dem hypothetischen Schlussfolgern, bei dem ein durch eine Textstelle repräsentiertes empirisches Phänomen, begrifflich ‚auf den Punkt gebracht‘ und durch die Zuordnung zu einer Klasse von Begriffen beschrieben, verstanden und erklärt wurde (vgl. ebd., S. 61). Dabei erfolgte die Kodierung weder anhand eines vorbereiteten Kategorienschemas, noch wurden die Kategorien nur anhand des Datenmaterials entwickelt. Es wurde stattdessen auf verschiedene Arten von (strukturiertem) Vorwissen zurückgegriffen: empirisch nicht gehaltvolles Theoriewissen, zentrale Begriffe aus (Groß)theorien, empirisch gehaltvolles Alltagswissen (Alltagskonzepte, die in dem untersuchten Feld eine Rolle spielen) sowie empirisch gehaltvolles Theoriewissen (aus sozialwissenschaftlichen Theorien mittlerer Reichweite) (vgl. ebd., S. 62). Des Weiteren konnten Heuristiken, beispielsweise als „allgemeine, abstrakte und empirisch gehaltlose Kategorien und Aussagen ohne zusätzliche Brückenannahmen“ (ebd., S. 63) herangezogen werden, um z. B. empirisch nicht gehaltvolle Konzepte zu ‚füllen‘. Die so konstruierten Kategorien wurden anschließend achsial kodiert, sprich theoretisch geordnet. Dafür war ein anspruchsvollen Kodierparadigma nicht zwingend notwendig, sondern es ließ sich mit vergleichsweise einfachen heuristischen Rahmenkonzepten (vgl. ebd., S. 64) sowie empirisch – mehr oder weniger – gehaltvollem Alltagswissen (vgl. ebd., S. 66) und der Übernahme von Konzepten aus anderen Gegenstandsbereichen bzw. Studien (vgl.
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4 Wege beforschen und rekonstruieren
ebd., S. 68) arbeiten. Wichtig bei der Konstruktion eines Kategorienschemas für die Systematisierung qualitativen Datenmaterials war, nicht die hypothesengenerierende und theoriebildende Funktion qualitativer Forschung aus dem Blick zu verlieren. Es wurde sich aus diesem Grund weiter auf Kelle und Kluge bezogen, die vorschlagen, die Kodierkateogrien, die zu Beginn der Systematisierung des Datenmaterials verwendet werden, möglichst offen zu halten, um das gesamte Spektrum relevanter Phänomene auf der Grundlage der Daten erfassen zu können und diese im Laufe der Auswertung gewissermaßen empirisch anzureichern (vgl. ebd., S. 70 f.). Zusätzlich waren Subkategorien hilfreich, um das empirische Spektrum, welches von den festgelegten Kodierkategorien aufgespannt wurde, zu erschließen und weiter zu konkretisieren. Die Subkategorien und deren Dimensionen mussten dabei so gewählt sein, „dass Ähnlichkeiten und Unterschiede im Datenmaterial […] deutlich herausgearbeitet werden können […], d.h. solche Kategorien und Subkategorien zu konstruieren, die zu einer guten Beschreibung von Heterogenität und Varianz im Datenmaterial führen“ (ebd., S. 73 f.). Auch für die Subkategorien galt, dass diese sowohl vor der Analyse des empirischen Materials, durch begriffliche Explikation des Vorwissens über die betreffende Kategorie, als auch im Anschluss an die Analyse, vor der Schablone des qualitativen Datenmaterials entwickelt wurden (vgl. ebd., S. 74). Für Zweiteres ergab sich zum einen die Möglichkeit des Fallvergleichs, bei der Textpassagen zuerst auf der Ebene von Einzelfällen verglichen wurden und die daraus entstandenen Merkmale mit denen in Bezug gesetzt wurden, die anhand des Materials anderer Fälle entwickelt wurden. Zum anderen bestand die Möglichkeit, thematisch vergleichend und fallübergreifend vorzugehen. Hierbei wurde nach der Kodierung des gesamten Datenmaterials für jede Kategorie das gesamte Textmaterial für alle Fälle hinweg herausgesucht und die Textsegmente anschließend fallübergreifend in einer Synopse zusammengestellt und analysiert (vgl. ebd., S. 76). Da in vielen Fällen – und zum Teil auch in dieser Arbeit – wesentliche Dimensionen einer Kategorie aus dem wissenschaftlichen- und Alltagswissen bereits bekannt waren, erschein es sinnvoll, diese Herangehensweisen zu verbinden. So wurden in der vorliegenden Arbeit für die Subkategorisierung zum Teil a priori bekannte – bzw. auf Basis des Vorwissens erwartbare – Dimensionen für die Kodierung des Datenmaterials genutzt, die bei der weiteren Analyse weiter präzisiert und ergänzt wurden. Darüber hinaus wurde nicht nur konsequent fallvergleichend oder thematisch vergleichend und fallübergreifend vorgegangen, sondern beide Strategien genutzt. Die Herausforderung dabei war es, einen Kompromiss aus Konkretisierung und Abstraktion zu finden. Die (Sub-)kate-
4.3 Narrationsanalyse und Fallrekonstruktionen
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gorien mussten einerseits so konkret sein, dass ein Vergleich zwischen den Fällen sinnvoll durchgeführt werden konnte, andererseits durften diese nicht zu abstrakt formuliert werden, damit nicht zu viele Fälle unter eine Kategorie subsumiert werden konnten (vgl. ebd., S. 78). Zusammengefasst speisen sich die Kategorien der vorliegenden Studie aus dem Konglomerat an theoretischem Vorwissen (vgl. Abschnitt 2.1 bis 2.4 sowie 2.7) (‚Welche Erklärungsmuster gibt es bereits?‘), Alltagswissen sowie Praxiserfahrung (‚Was erscheint vor dem Hintergrund meiner Erfahrung plausibel‘), vergleichbaren Studien (vgl. Abschnitt 2.5) ‚Welche Wege in die Wohnungslosigkeit werden von Anderen konstruiert?‘ und dem erhobenen Datenmaterial (‚Welche neuen Aspekte bringt das empirische Material hervor?‘). Dadurch konnte ein Kategorienschema entwickelt werden, welches sowohl die Varianz, als auch die Heterogenität der gesamten Untersuchungsgruppe zufriedenstellend abbildet. Die Kategorien zur Systematisierung des empirischen Datenmaterials dieses Forschungsprozesses wurden in der analytischen Abstraktion der einzelnen Interviewrekonstruktionen erarbeitet und waren ebenfalls Gegenstand der Diskussionen in Forschungskolloquien und –werkstätten. Vereinfacht ausgedrückt ließ sich der Prozess der Theoriebildung in vier Teilschritte oder Stufen einteilen, die allerdings nicht starr oder linear nacheinander abgearbeitet wurden, sondern mehrfach durchlaufen wurden und sich gegenseitig anregten. Der erste Schritt bestand darin, jene Merkmale (bzw. Vergleichsdimensionen) zu identifizieren, welche die Basis für die spätere Typologie bilden sollten. Die Kategorien mussten dabei so dimensionalisiert werden, dass die Fälle, die einer Merkmalskombination zugeordnet wurden, sich möglichst ähnlich sind, zwischen den einzelnen Gruppen aber maximale Unterschiede bestanden (vgl. Kelle/ Kluge 2010, S. 91). Im zweiten Schritt wurden Fälle anhand der definierten Vergleichsdimensionen und ihrer Ausprägungen gruppiert und hinsichtlich empirischer Regelmäßigkeiten untersucht (vgl. ebd., S. 96 ff.). Außerdem wurden die einzelnen Kategorien und Subkategorien auf Zusammenhänge analysiert sowie mögliche schlüssige Kombinationen gesucht, wodurch wiederum neue Merkmalsräume konstruiert werden konnten, die die Bildung von weiteren, komplexeren Typologien anregen konnten (vgl. ebd., S. 99). Während des dritten Schritts der Typenbildung, bei dem inhaltliche Sinnzusammenhänge zwischen Merkmalen bzw. Kategorien analysiert wurden, standen erneut Vergleiche und Kontrastierungen von Fällen im Fokus. Im Rahmen dieser Vergleiche konnte es dazu kommen, dass
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• „Fälle anderen Gruppen zugeordnet werden, denen sie ähnlicher sind, • stark abweichende Fälle zunächst aus der Gruppierung herausgenommen und separat analysiert werden • zwei oder auch drei Gruppen zusammengefasst werden, wenn sie sich sehr ähnlich sind oder • einzelne Gruppen weiter differenziert werden, wenn starke Unterschiede ermittelt werden“ (ebd., S. 102). In dieser Phase der Analyse wurde in der Regel der Merkmalsraum reduziert und somit die Anzahl der Merkmalskombinationen auf wenige Typen verringert. Angeregt wurde die Reduktion des Merkmalsraums dabei durch weitere vergleichende Analysen des Datenmaterials, wobei innerhalb wie außerhalb der Gruppen kontrastiert wurde (vgl. ebd., S. 102 f.). Umfassende Kenntnis der Forschungsliteratur war in diesem Schritt vorteilhaft, um von vorneherein den Kreis denkmöglicher Idealtypen zu begrenzen (vgl. Gerhardt 1995, S. 437). Eine umfassende und möglichst genaue Charakterisierung der gebildeten Typen anhand der relevanten Vergleichsdimensionen und Merkmalsausprägungen sowie der rekonstruierten Sinnzusammenhänge schloss den Prozess der Typenbildung ab. Da sich die Fälle der Typen aber nicht gleichen, sondern lediglich ähneln, stellte sich die Frage, wie das Gemeinsame der Typen treffend charakterisiert werden konnte. Diesbezüglich boten sich „Prototypen“ (Kuckartz 1988, S. 223), also reale Fälle, die die Charakteristika jedes Typus am besten repräsentierten, als Heuristik an. Der Prototyp war dabei nicht der Idealtyp, sondern veranschaulicht diesen (vgl. Kelle/ Kluge 2010, S. 105). Im Rahmen dieser Arbeit wurde im Anschluss an die Typenbildung jeder Idealtyp als bereinigter Fall veranschaulicht (vgl. Gerhardt 1995, S. 438). Es wurden optimale Fälle konstruiert, die die entsprechenden Wege in die Wohnungslosigkeit möglichst klar und eindeutig repräsentieren sollen. Dieses Vorgehen ermöglichte es, die Differenzen der Einzelfälle, aber auch ihre Nähe zum gedachten Idealfall zu bestimmen und ihre Eigenarten zu erkennen. Ein Nachteil dabei ist, dass die starke Zuspitzung des Idealtyps dazu führen konnte, dass nicht nur die Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen und ihrem Idealtypus, sondern auch zwischen den Fällen betont wurden. Durch einen solchen bereinigten Fall wurden also eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen eines Typs hervorgehoben. Es galt, einen Kompromiss zu finden, bei dem der optimale Fall nicht zu sehr den Bezug zu der Gruppe verliert, für die er ursprünglich gebildet wurde, sondern diese immer noch repräsentieren konnte (vgl. Kelle/ Kluge 2010, S. 106 f.).
4.4 Schwierigkeiten im Forschungsvorhaben
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4.4 Schwierigkeiten im Forschungsvorhaben Ein Forschungsvorhaben, welches Lebenslagen von jungen Menschen und Wohnungslosen untersucht, steht vor einigen Herausforderungen, über die an dieser Stelle reflektiert wird. Zerger et al. führen aus: „Conducting research with homeless youth poses myriad methodological complications associated with studying both adolescents and homeless persons, including confidentiality and consent issues, lack of trust, and transience. These issues complicate recruiting study participants, obtaining consent, and following participants over time. Consequently, research with and about homeless young adults is largely descriptive and cross-sectional, biased toward those actively using services, primarily in metropolitan areas, and heavily reliant on self-reporting“ (Zerger et al. 2008, S. 826).
Alle im Rahmen dieser Dissertation interviewten Wohnungslosen wurden durch, bzw. mithilfe von Institutionen rekrutiert. Dies bedeutet, dass junge Menschen, die komplett auf Kontakt zum Hilfesystem verzichten, diesem misstrauen und komplett andere Bewältigungs- und Überlebensstrategien nutzen, nicht primär in den Blick genommen werden konnten. Die Menschen in der verdeckten Wohnungslosigkeit blieben somit in dieser Studie scheinbar unbeachtet. Dieses Problem relativierte sich partiell insofern, da einige der Interviewpartner durchaus über Episoden in ihrer Lebensgeschichte berichteten, in denen sie keine institutionelle Unterstützung in Anspruch genommen und das Hilfesystem gemieden haben. Des Weiteren spielt Vertrauen für häufig stigmatisierte Adressaten eine wichtige Rolle. Teilweise mussten Vorgespräche mit den Interviewpartnern stattfinden, in denen immer wieder die Anonymität ihrer Person und alleinige Verwendung für Forschungszwecke der Interviewmitschnitte versichert wurden. Der Vollständigkeit sei an dieser Stelle erwähnt, dass einige der Wohnungslosen es bedauerten, dass ihre echten Namen7 im Rahmen der Transkription verändert wurden, da sie das Interview offenbar als Möglichkeit erachteten, sich mit ihren ‚außergewöhnlichen‘ Biografien zu profilieren.
7In
ihren methodologischen Überlegungen zur Anonymisierung von Namen reflektiert Lochner (2017) die Option, die Klarnamen der Beforschten zu verwenden, wenn diese es ausdrücklich erwünschen. In der Datenaufbereitung im Kontext dieser Studie wurde sich, trotz dieser Positionierung einiger Teilnehmer, für die Anonymisuerng entschieden. Die forschungsethische Anforderung der Verfremdung wurde an dieser Stelle höher gewichtet.
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Bezüglich der Institutionen musste teilweise ebenfalls Überzeugungsarbeit geleistet werden. Viele Einrichtungen erlaubten zwar die Besichtigung der Räumlichkeiten und informelle Gespräche mit den Mitarbeitern, verweigerten aber den Kontakt zu Klienten kategorisch. In einigen Fällen konnten die Institutionen durch die Empfehlung Dritter von der Seriosität des Forschungsvorhabens überzeugt werden. Meine langjährige Erfahrung im Bereich der Wohnungslosenhilfe in einer Einrichtung des Caritasverbandes und entsprechende Beziehungen sowie Netzwerke waren in dem Punkt Feldzugang sehr wertvoll, da ich so in einigen Institutionen einen Vertrauensvorsprung hatte.
5
Fallanalysen
Im folgenden Abschnitt werden die Fallanalysen durchgeführt, die den Kern der vorliegenden Studie bilden. Die Interviews wurden mittels des kontrastiven Vergleichs aus dem Gesamtsample ausgewählt, um möglichst unterschiedliche Wege in die Wohnungslosigkeit nachzuzeichnen. Dem ersten analysierten Fall folgt zunächst in der Strategie des maximalen Vergleichs entsprechend ein Interviewtext, der sich durch starke Unterschiede zu dem ersten Fall auszeichnet. Auf diese Weise können die in Rede stehenden Kategorien konfrontiert und alternative Strukturen herausgearbeitet werden, um so mögliche Elementarkategorien zu entwickeln, die selbst den miteinander konfrontierten Alternativprozessen noch gemein sind (vgl. Schütze 1983, S. 288). Die einzelnen Fallanalysen beginnen mit einer Schilderung der Kontextsituation der jeweiligen Interviews sowie einer biografischen Kurzbeschreibung. Die anschließende formale Textanalyse dient als erster Auswertungsschritt dazu, das zu interpretierende Interview anhand formalsprachlicher Merkmale – und nicht nach thematischen Sinneinheiten zu gliedern. Es wird die sequentielle Abfolge einzelner Erzählabschnitte herausgearbeitet, die durch sprachliche Merkmale – sogenannte Rahmenschaltelemente – angezeigt werden (vgl. Kleemann et al. 2013, S. 83). Der formalen Textanalyse folgt die strukturelle wie inhaltliche Beschreibung der einzelnen Segmente. Im Anschluss wird im Zuge der analytischen Abstraktion versucht, die großen Prozessstrukturen des Lebenslaufes und seiner verschiedenen Beziehungen zueinander für das gesamte bisherige Erleben des Informanten, also die biografische Gesamtformung, zu extrahieren (vgl. Glinka 2008, S. 131). Hieran schließen sich vier Kurzportraits an, die, weiterhin der Strategie des minimal- und maximal kontrastiven Vergleiche folgend, neue relevante Aspekte für die Fragestellung beinhalten. Im Vergleich zu den ersten beiden Biografien,
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_5
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5 Fallanalysen
bei denen der Rekonstruktionsprozess ausführlich dargestellt wird, werden diese komprimiert und die einzelnen Schritte in gekürzter Form illustriert.
5.1 Ville – „Und du bist also einfach nur ein Stück Dreck“ Bei dem Erzähler handelt es sich um den 20-jährigen Ville, der zum Zeitpunkt des Interviews in einer Hilfeeinrichtung für Wohnungslose in einer deutschen Großstadt lebt. Der Kontakt zu Ville wurde durch den Einrichtungsleiter hergestellt, der mich auf meine Anfrage hin zunächst unverbindlich in die Einrichtung einlud. Vor Ort wurden dann spontan verschiedene Interviewpartner – darunter Ville – rekrutiert. Das Gespräch fand in einem Speisesaal statt, der zu der Uhrzeit unbenutzt war und zur Verfügung stand.
5.1.1 Biografische Kurzbeschreibung Ville wird 1996 in einer Großstadt geboren und wächst zunächst, da sein leiblicher Vater die Familie kurz nach Villes Geburt verlässt, bei seiner alleinerziehenden Mutter mit engem Kontakt zu seinen Großeltern auf. Diesen Kontakt verliert er, als seine Mutter erneut heiratet und die Familie berufsbedingt umziehen muss. Ville wird von seinen neuen Schulkameraden gemobbt und hat ein schwieriges Verhältnis zu seinen Lehrern. Zwischenzeitlich, mit sieben oder acht Jahren, kommt er in eine geschlossene psychiatrische Klinik, wo als Erklärung seiner Verhaltensauffälligkeiten ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert wird. Die daraufhin erfolgende Behandlung mit Ritalin führt kurzzeitig zu einer Verbesserung seiner Lage, bis sich seine Mutter von ihrem Lebensgefährten trennt und die Familie erneut umzieht. Die alleinerziehende Mutter hat kaum Zeit für Ville, der auf der weiterführenden Schule das Gefühl hat, dass sich die anderen Schüler, Lehrer und Eltern gegen ihn verschwören. Er ist meist allein und verbringt seine Zeit in Hausaufgabenbetreuungen und Tagesgruppen. In dieser Zeit werden erste Schulausschlüsse ausgesprochen, bis er auf ein Internat geschickt wird und letztendlich in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Dort wird ein Borderline Syndrom diagnostiziert und Ville lernt während des Aufenthaltes seine erste Freundin kennen, die ebenfalls als Patientin in der Psychiatrie ist. Nachdem die Beziehung in die Brüche geht, wird Ville – seiner
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Aussage nach zu Unrecht – beschuldigt, mehrere Patientinnen belästigt zu haben und infolgedessen massiv sanktioniert. Von dort aus zieht Ville in eine Wohngruppe, wo er zunächst das restliche Schuljahr per Fernschule nachholt. Als er auf die Realschule eines Nachbarortes wechselt, wird er bereits nach einer Woche der Schule verwiesen und besucht im Anschluss eine Hauptschule, die er erfolgreich abschließt. Ville zieht danach zurück zu seiner Mutter, die zwischenzeitlich einen neuen Lebensgefährten gefunden hat. Mit seinem Stiefvater kommt es von Beginn an zu Konflikten, die sich stetig ausweiten. Ville versucht, die Realschule nachzuholen, doch durch den permanenten Streit zu Hause entwickelt er selbstverletzende Tendenzen und beginnt, sich die Arme und den Hals aufzuschneiden. Die Spannungen in der Familie eskalieren immer weiter, bis Ville mehrmals von seiner Mutter rausgeworfen wird. Es folgen erste Episoden, in denen Ville wohnungslos ist. Er lebt immer wieder für kurze Phasen von bis zu einer Woche auf der Straße, bis ihn die Polizei findet und zurück zu seiner Mutter bringt. An seinem 18. Geburtstag verweist ihn die Mutter erneut aus der Wohnung und Ville schließt sich für eine längere Zeit einer Gruppe wohnungsloser Punks an. Sein bereits vorhandener Drogenkonsum intensiviert sich, um durch den Rausch die Zustände auf der Straße aushalten zu können. Sein Gesundheitszustand hat sich in dieser Periode drastisch verschlechtert und Ville bekommt aufgrund mangelnder Hygiene und steigendem Substanzmissbrauch massive gesundheitliche Probleme. Diese veranlassen ihn dazu, wieder Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen, um über sie ärztliche Versorgung zu erhalten. Seine Mutter nimmt ihn erneut für einen kurzen Zeitraum auf, wobei es jedoch immer wieder zu Problemen kommt und Ville episodenhaft auf der Straße lebt. Zwischenzeitlich wird Villes kleine Halbschwester geboren, was ihn zunächst veranlasst, mit den Selbstverletzungen aufzuhören. Als abermals ein Streit mit seiner Mutter eskaliert, schneidet sich Ville die Pulsadern auf, worauf er erneut und dieses Mal endgültig rausgeworfen wird. Eine Bekannte fährt ihn daraufhin in ein Krankenhaus und nimmt ihn im Anschluss bei sich zuhause auf, bis sich Ville entscheidet, wieder bei den Punks auf der Straße zu leben. Er erfährt schließlich zufällig von einer Hilfeeinrichtung für Wohnungslose, wo er zunächst ein Notübernachtungszimmer erhält. Zu dem Zeitpunkt des Interviews lebt Ville in einer betreuten Wohngemeinschaft, die an das Wohnungslosenheim angegliedert ist. Mit seiner Mutter hat er mittlerweile wieder sporadischen Kontakt.
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5 Fallanalysen
5.1.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung Ville strukturiert seine Erzählung anhand von Wohnorten und besuchten Institutionen wie Schulen, Psychiatrien oder Hilfeeinrichtungen, wobei er immer detailliert auf den Einfluss der Mutter in diesen Abschnitten zu sprechen kommt. Von den ca. 60 Minuten des Interviews entfallen 26 Minuten auf die Haupterzählung. Diese lässt sich in 22 Segmente unterteilen. Wird das Interview konsequent und strikt formal anhand von Rahmenschaltelementen segmentiert, ergibt sich eine große Anzahl an einzelnen Bruchstücken, da Ville versucht, seine Erzählung chronologisch anhand von besuchten Institutionen zu strukturieren. Die hohe Anzahl an einzelnen Segmenten lässt sich zum Teil damit erklären, dass Ville im Laufe seiner Biografie Kontakt zu vielen und unterschiedlichen Einrichtungen hatte und diese einzeln, dem zeitlichen Ablauf entsprechend, aufzählt. In dieser Chronologie kommt Ville an wenigen Stellen durcheinander und vertauscht zum Beispiel verschiedene Psychiatrieaufenthalte. Jeder seiner zahlreichen Schulwechsel, Umzüge, Aufenthalte in Psychiatrien, Internaten oder Wohngruppen hat eine eigene Relevanz und wird aufgrund des Gestalterschließungs- sowie Detaillierungszwangs benötigt, um die gesamte Geschichte zu formen. Ville nutzt des Weiteren an einigen Stellen Vorschauen, um zu zeigen, welche Auswirkungen bestimmte Ereignisse auf die Zukunft haben werden und muss partiell auf Hintergrundkonstruktionen zurückgreifen, um Informationen nachzureichen, damit einzelne Erzählstränge plausibel weitergeführt werden können. Dies zeigt sich besonders bei der Einführung von signifikanten Anderen: Handelnde Personen in Villes Lebensgeschichte sind eigentlich nur er und seine Mutter. Zwar schildert Ville kurz jeweilige Änderungen in der Familiensituation, den Wegzug von den Großeltern, die neuen Stiefväter etc., diese Personen werden aber nicht namentlich genannt oder charakterisiert. Personen, die der Zuhörer vielleicht erwarten würde, wie Freunde, Freundinnen oder seine Halbschwester tauchen immer nur dann auf, wenn sie für die Plausibilität oder die Weiterführung der Geschichte zwingend notwendig sind. Auch dann fehlen detaillierte Beschreibungen, die über „jüngere“ Schwester oder „beste“ Freundin hinausgehen. Es kristallisieren sich in Villes Biografie verschiedene Ereignisketten bzw. Verlaufssequenzen (Familie, Umzug, Schulmartyrium, Psychiatrie und Straße) heraus, die sich immer wieder wechselseitig beeinflussen. Insgesamt ist seine Erzählung eher detailarm und besteht aus einer Aneinanderreihung von allgemeinen Darstellungen, wodurch der Kontrast zu wenigen Situationen, in denen die Dichte der Beschreibung enorm ansteigt,
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nur umso deutlicher wird. Es finden sich vier solcher „sozialen Rahmen“ (Glinka 2016, S. 61), in denen Zustandsveränderungen des Ereignisträgers stattfinden und die sich durch den Aufbau von Spannung, der Angabe des genauen Schauplatzes und der Betonung der Handlungsrelevanz gekennzeichnet sind (vgl. ebd., S. 61 f). Daraus lässt sich schließen, dass diese vier Situationen eine besondere Relevanz für Ville besitzen und Arten von Höhepunkt- bzw. Wendepunktsituationen darstellen. Darüber hinaus finden sich einige bilanzierende Evaluationen, die den Anschein erwecken, dass Ville an diesen Stellen über sich selbst reflektiert und damit nicht den Zuhörer adressiert.
5.1.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung In diesem Schritt werden die Handlungsweisen von Ville untersucht. Die im vorherigen Schritt anhand formalsprachlicher Kriterien identifizierten Sequenzen werden inhaltlich genauer bestimmt und in ihrem inneren Zusammenhang analysiert. Erzählstimulus und Ratifizierung (Z. 1–11) Ville wird zu Beginn der Interview-Situation aufgefordert, seine Lebensgeschichte zu erzählen: „I.: ähm, also wie gesagt, ich interessiere mich für die lebensgeschichten von jungen erwachsenen, die (-) erfahrungen mit der obdachlosigkeit haben und ich würde dich einfach nur bitten, mir deine lebensgeschichte zu erzählen. ich würd dich am anfang nich unterbrechen, sondern erst mal n bisschen erzählen lassen. äh, mach mir vielleicht ein paar notitzen, und am ende, wenn du fertig bist, würd ich dann vielleicht ein paar nachfragen stellen. V.: okay. also soll ich jetz einfach anfangen? okay das is (-) da muss ich weit ausholen (-) un das is auch ziemlich lang (-) also (--) alles hat damit angefangen, dass ich ein liebes kleines kind war, was seine mutter abgöttisch geliebt hat. ich hab nur meine mutter gehabt“ (Interview Ville, Z. 1–11).
Der vorgegebene Stimulus fokussiert die Darstellungsarbeit auf ein erzählerisches Handlungsschema, deutet aber die von dem Interviewer erwartete Wiedergabe der zentralen Aspekte an, die zu Villes Wohnungslosigkeit geführt haben. Mit seiner Erzählpräambel „da muss ich weit ausholen (-) un das is auch ziemlich lang (-)“ (IV 8–9) verdeutlicht Ville, dass er den Erzählstimulus ratifiziert hat und die Rederolle annimmt. Mit dem zweiten Teil der Präambel: „alles hat damit angefangen, dass ich ein liebes kleines kind war, was seine Mutter
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abgöttisch geliebt hat. ich hab nur meine mutter gehabt“ (IV 9–11), stimmt er den Zuhörer auf die Art der folgenden Geschichte ein. In dem von ihm stilierten Familiendrama beschreibt sich Ville als unschuldiges Opfer seiner Mutter und wechselnden Stiefväter, die ihn immer weiter marginalisieren bis er schließlich ganz aus der Familie ausgeschlossen wird. In Institutionen wiederholen sich die Exklusionsprozesse und als dominante Motive herrschen Einsamkeit und das passive Erleiden seiner Situation vor. Die Tatsache, dass er direkt zu Beginn des Interviews die Mutter als zentrale Akteurin einführt, gibt einen Hinweis darauf, welche Relevanz diese Person in seiner Lebensgeschichte einnehmen wird. Ich war der Störfaktor für das Leben meiner Mutter (1. Segment, Z. 11–20) „mein vater is nach meiner geburt abgehaun und ich komm aus [name einer großstadt] ursprünglich. also ich hab da gewohnt, mit meiner mutter und da warn auf jeden fall noch meine großeltern da, die sich (-) halbwegs um mich gekümmert haben. was heißt halbwegs, die haben sich immer sehr um mich gekümmert. meine mutter aber leider nicht, da sie mich ja schon mit 22 bekommen hat und unbedingt der meinung war, dass sie das kind haben muss danach aber nich mehr, hat sies natürlich ein leben lang an mir ausgelassen, dass ich irgendwie der störfaktor war für ihr leben. und (-)“ (Interview Ville, Z. 11–20).
Ville eröffnet seine Erzählung, indem er in die Familiensituation seiner Kindheit einführt, in der die Großeltern seine Hauptbezugspersonen darstellen. Ihm fällt auf, dass die Aussage, seine Großeltern hätten sich „halbwegs“ (IV 15) um ihn gekümmert, der tatsächlichen Rolle der Beiden nicht gerecht wird und so stellt er klar, sie hätten sich immer „sehr“ (IV 16) um ihn gekümmert. Ville möchte sicherstellen, dass die Rolle der Großeltern positiv konnotiert bleibt. Sein leiblicher Vater hat bereits vor seiner Geburt den Kontakt zur Familie abgebrochen und spielt im weiteren Verlauf der autobiografischen Erzählung keine relevante Rolle. Ville betont, wie schwierig das Verhältnis zu seiner Mutter von Beginn an war. Er argumentiert, warum seine Mutter keine Bindung zu ihm aufbauen konnte und beschreibt sie in seiner Kurzcharakteristik als egoistisch („und unbedingt der meinung war, dass sie das kind haben muss“ (IV 17–18)), sprunghaft und inkonsequent („danach aber nich mehr“ (IV 18)), also als einen Menschen, der unverantwortlich handelt und sich den Konsequenzen seiner Entscheidungen nicht bewusst ist. Seine Mutter sei sehr früh schwanger geworden und sähe in Ville einen Störfaktor für ihr Leben. Ville nennt keine weiteren Einzelheiten über seine Kindheit und überspringt die ersten fünf oder sechs Lebensjahre. Genaue Detaillierungen über den Ort, an dem er aufgewachsen ist, über Freunde oder Geschwister fehlen. Die Pause in Zeile 20 fungiert an dieser Stelle als
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Rahmenschaltelement mit Abschlussfunktion und grenzt den Abschnitt gegen die folgende Darstellungseinheit ab. Die lieblose Mutter1 und ihr Vollidiot (2. Segment, Z. 20–33) Ville verwendet auffallend häufig – so auch eröffnend im zweiten Segment – die Formulierung ‚auf jeden Fall‘ als Markierer innerhalb des Erzählflusses an jenen Stellen, die eine neue Darstellungseinheit etablieren. Die Mutter heiratet erneut und infolgedessen muss die Familie umziehen. Ville wird somit von seinen fürsorglichen Großeltern getrennt, die durch einen Stiefvater ersetzt werden, den er mehrmals als „vollidioten“ (IV 21) bezeichnet und zu dem er keine positive Beziehung aufbauen kann. Dass er seinen Stiefvater nur in einer Kurzcharakteristik einführt, ist wahrscheinlich dem Kondensierungszwang geschuldet. Ville deutet zwar an, dass er an dieser Stelle mehr erzählen könnte – etwa was seinen Stiefvater zum Vollidioten mache misst ihm dann aber keine so große Bedeutung zu, als dass er in einer Hintergrundkonstruktion nähere Details schildert. Er ist gezwungen den Stiefvater als Grund für den Umzug einzuführen, widmet ihm aber keinen weiteren Platz in seiner Erzählung. Das Erzählschema dieses Segmentes wird eindeutig von der argumentativen Passage dominiert, in der Ville den Grund für die schlechte Beziehung zu seiner Mutter anführt. Sie sei nicht in der Lage, jemanden zu lieben oder über gefühlvolle Sachen zu sprechen. Hier nutzt Ville seine Großmutter als zweite Instanz, um seine Mutter zu charakterisieren. Seine Oma habe reflektiert und bestätigt, ihre Tochter habe einfach einen „komischen charakter“ (IV 29). Ville versucht an dieser Stelle, die Problematik als abgeschlossen darzustellen und betont, er könne nun selbst auf „eigenen beinen stehen“ (IV 32–33) und sei nun „erwachsen“. (IV 28) Während der Interviewsituation leistet Ville reflexiv-biografische Arbeit, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass er diese Erfahrung eben noch nicht hinreichend bearbeitet hat und es sich dabei um eine noch nicht abgeschlossene Problematik handelt. Im Verlauf seiner Erzählung finden sich einige solcher Momente, in denen er sich im Interviewkontext reflexiv mit Problemen auseinandersetzt.
1Hierbei
handelt es sich nicht um eine Bewertung der Mutter von Seiten des Autors, sondern soll Villes Perspektive verdeutlichen.
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Neue Schüler werden eben gemobbt (3. Segment, Z. 33–50) Die dominante Argumentation des zweiten Segmentes liefert die Erklärung, warum Ville nach dem Umzug, den er im dritten Segment schildert, „völlig alleine war“ (IV 34). Getrennt von seinen Großeltern blieben ihm nur noch sein Stiefvater und seine Mutter, zu denen er keine Bindung als Bezugspersonen aufbauen konnte, sondern die Beziehung eher konfliktbelastet war. In diesem Abschnitt beschreibt Ville zusätzlich die Situation an der neuen Schule. Von den Mitschülern gemobbt und seinen Eltern allein gelassen wird sein Verhalten immer auffälliger, bis seine Lehrerin ein ADS2 vermutet und Ville mit Ritalin behandelt wird. Daraufhin bessert sich sein Verhalten für kurze Zeit oder wie Ville betont: „erstmal“ (IV 35) bis zum nächsten Umzug mit einhergehendem erneutem Schulwechsel. Wann oder warum später die Behandlung mit Ritalin eingestellt wird, erfährt der Zuhörer nicht. Interessant ist auch, dass Ville die Mobbingerfahrungen durch Schüler und Lehrer beiläufig erwähnt und damit erklärt, dass eben neue Schüler gemobbt werden, als sei dies der normale Ablauf an Schulen. Dies lässt sich vielleicht damit erklären, dass Ville an jeder Schule Erfahrungen mit Mobbing sowie Ausgrenzung gemacht, oder sich in irgendeiner Form als Opfer erlebt hat und dies somit für einen normalen Schulalltag obligat ist. Ville dethematisiert anfangs seinen Beitrag zu dieser Situation, reicht aber die Information nach, er wollte sich nichts gefallen lassen und seinen Mitschülern „angst machen“ (IV 39). Dies habe ihn nicht grade beliebt gemacht, aber warum oder wie er „abgedreht“ (IV 35) ist, lässt er offen. In diesem Segment findet sich auch erstmals die Konstruktion eines weitgehend anonymen, antagonistischen Kollektivs. Ville ist überzeugt, dass „alle lehrer irgendwie“ (IV 36–37) gegen ihn waren. Wie sich dieser vermeintliche Umstand geäußert hat, also was die Lehrer getan oder ihn benachteiligt haben, erklärt Ville nicht. Es wird deutlich, dass er den sehr zentralen Übergang in seiner Biografie – den Umzug und den damit einhergehenden Schulwechsel – „völlig alleine“ (IV 34) bewältigen muss, da sich seine (Stief-) Eltern ohnehin nicht um ihn kümmern, seine Großeltern zu weit weg leben und er von seinen Lehrern unter den gegebenen Umständen keine Hilfe erwartet. Der Erzählabschnitt endet mit einer Evaluation Villes, der die Behandlung von Kindern mit Ritalin, für ihn ein „hartes Suchtmittel“ (IV 47) kritisiert, was wohl-
2An
dieser Stelle kommt Ville durcheinander. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom wird – wie sich später im Interviewverlauf in einer Hintergrundkonstruktion zeigen wird – bereits in einer Psychiatrie vor dieser Zeit diagnostiziert und nicht erst durch die Lehrerein vermutet.
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möglich mit seinen negativen Erfahrungen mit Drogen in seiner späteren Biografie zusammenhängt. Neuer Ort, alte Probleme und kollektives Mobbing (4. Segment, Z. 50–58; 5. Segment Z. 58–76) Im vierten Segment thematisiert Ville den nächsten Umzug in seiner Biografie. Dabei lässt er allerdings zunächst Details zu dem neuen Wohnort oder dem Grund des Umzuges aus und schildert stattdessen die Situation in der neuen Schule. Dort wird er von seinen Mitschülern wieder massiv gemobbt, die Lehrer ergreifen im Gegensatz zur vorherigen Schule aber zunächst Partei für ihn. Die genauen Umstände des Mobbings werden von Ville nicht angesprochen und wie im vorherigen Segment ist das Motiv der Einsamkeit dominierend. Die meiste Zeit hat Ville in „hausaufgabenbetreuungen oder tagesgruppen“ (IV 58) verbracht. Dass seine Mutter „natürlich nicht wirklich da war“ (IV 54), rechtfertigt er damit, dass sie als alleinerziehende Mutter das Geld verdienen musste. Dies ist einer der wenigen Momente in seiner Erzählung, in der Ville Verständnis für ihr Verhalten aufbringt und ausnahmsweise nicht die Defizite seiner Mutter betont. Offensichtlich hat eine Trennung von ihrem Lebensgefährten stattgefunden, was für Ville zumindest bedeutet, den Vollidioten losgeworden zu sein. Das fünfte Segment ist von der Beschreibung der Situation an der weiterführenden Schule geprägt. Ville glaubt, durch seine ADS Diagnose zum Ziel für weiteres Mobbing seitens seiner Mitschüler, Eltern und Lehrer geworden zu sein. Alle hätten fälschlicherweise angenommen, er bräuchte ständig Aufmerksamkeit oder würde seine Mitschüler stören. Auch hier versucht Ville Gründe abseits seines eigenen Verhaltens zu finden, warum ausgerechnet er zum Opfer der Mobbingattacken geworden ist. War es auf der vorherigen Schule üblich, dass alle neuen Schüler erst einmal gemobbt werden, werden hier alle Schüler, die vermeintlich den Unterricht stören, tyrannisiert und Ville scheint durch sein ADS als Ziel der Angriffe prädestiniert zu sein. Er konstruiert sich erneut als unschuldiges Opfer eines Kollektivs, welches sich gegen ihn verschworen hat. Seine Aussage, die Stadt sei die mit der höchsten Selbstmordrate an Jugendlichen kann nicht bestätigt oder widerlegt werden, entsprechende Statistiken konnten nicht gefunden werden. Woher Ville diese Information hat, oder ob es eine eigens gebildete These ist, bleibt unklar. Er erklärt dieses Phänomen aber mit der weiterführenden Schule und dem dort vorherrschenden Mobbing. Die angeblich hohe Selbstmordrate und die Formulierung es kommt zu Mobbing gegen „alle kinder, die deren kinder beim lernen stören“ (IV 64), lässt zumindest vermuten, dass es weitere Schüler mit ähnlichen Problemen gab. Das antagonistische Kollektiv, welches Ville nur mit „die“ oder „deren“ (IV 64) und als Zusammenschluss
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aus Lehrern, Schülern und Eltern beschreibt, wird durch seine Formulierungen nicht wirklich fassbar. Hier wären eigentlich Detaillierungen oder Situationsbeschreibungen denkbar. Da Ville immer wieder die besondere Qualität des Mobbings an dieser Schule hervorhebt, könnte der Zuhörer eine genauere Beschreibung erwarten. Ohne weitere Informationen ist eine Eltern- und Lehrerinitiative, die auf Ville „losgelassen wurde“ ebenso schwer vorstellbar, wie die plötzliche Beurlaubung einer Lehrerin, die sich für ihn engagiert hat. Zur angeblichen Lehrerinitiative erfährt der Zuhörer lediglich, dass es aus Villes Sicht unberechtigte Klassenbucheinträge für banale Dinge gegeben hat und er letztendlich von der Schule verwiesen wird. Hier beginnt sich abzuzeichnen, dass sich Ville als handlungsunfähiges Subjekt erlebt, das der Willkür von Anderen ausgesetzt ist. Schulverweise (6. Segment, Z. 76–86) Als Resultat der Spirale aus Mobbingerfahrung und auffälligem Verhalten folgen diverse Schulausschlüsse, von denen er ein Beispiel herausgreift. Ville erzählt, dieser Ausschluss sei zunächst ohne Anführung von Gründen erfolgt und später durch den Diebstahl einer Winnie Pooh Mütze gerechtfertigt worden. Auch wenn Ville behauptet die Mütze nicht geklaut zu haben, erachtet er es dennoch als fragwürdig, in der fünften Klasse noch ein solches Motiv zu tragen. Interessant ist in diesem Segment, dass er in den Plural wechselt („wir haben […] n brief bekommen“ (IV 79)), womit er zum ersten Mal die Familie – also in dem Fall sich und seine Mutter – als Einheit beschreibt. Dies ist neben dem vierten Segment, in dem Ville die Vernachlässigung durch seine Mutter mit ihrer schwierigen Rolle als Alleinerziehende rechtfertigt, die einzige Stelle in seiner Erzählung, in der er zumindest suggestiv ansatzweise positiv von seiner Mutter spricht. Es folgt seine Argumentation, dass solche Episoden von scheinbar grundlosen Benachteiligungen und Diskriminierungen dazu geführt haben, dass er jeglichen Respekt vor Autoritätspersonen verloren – und er es immer als Angriff empfunden habe, wenn ihn ein Lehrer in irgendeiner Form adressiert hat. In diesem Segment wird darüber hinaus die fehlende Handlungsmacht von Ville besonders offensichtlich. Er erlebt sich komplett als Spielball der Entscheidungsträger, die ihn unberechtigter Weise von der Schule ausschließen, ohne dass er Einfluss auf das Geschehen hat. Durch solche Erfahrungen wird nach und nach Villes Vertrauen in Institutionen (des Schul- und Hilfesystems) und deren Repräsentanten untergraben. Mit der Zuschreibung der Rolle als Agenten der eben genannten Akteure (wie auch seiner Mutter in den Segmenten zuvor) geht auch die implizite Verschiebung von Verantwortung einher. Die negativen Konsequenzen und den weiteren Verlauf seines Lebens verortet er in der
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Verantwortung von eben jenen, die somit auch für die Konsequenzen zu Rechenschaft gezogen werden müssten. Die weiteren Folgen schildert er argumentativ im siebten Segment. Randale in der Hauptschule (7. Segment, Z. 92–101) Im siebten Segment rechtfertigt Ville seine Ausraster in der Schule aus Mangel an Respekt gegenüber seinen Lehrern bzw. Autoritätspersonen generell. Welcher konkreten Bedrohung er sich gegenüber sah, bleibt unklar, diese sei jedoch ausschlaggebend für sein aggressives Verhalten gewesen. Die Formulierung, er sei „natürlich“ (IV 92) ausgerastet verdeutlicht, dass er sich bereits in einer Verlaufskurvendynamik befindet, in dessen Folge er keine alternativen Handlungsmöglichkeiten zu der physischen Konfrontation mehr wahrnimmt. Den Wechsel von einer Real- auf eine Hauptschule erlebt er als Rückschritt und ist ihm offensichtlich peinlich. Darum erklärt er diesen ausschließlich durch sein nonkonformes Verhalten und unterstreicht, dass er nie viel lernen musste und trotzdem gute Noten hatte. Dies steht wiederum in einem Widerspruch zum vorherigen Segment, als er von seiner Konzentrationsschwäche spricht. Die aktive Formulierung in der grammatischen Form des Präsenz „ich bin nich dumm“ (IV 97) unterstreicht das Bild, eines klugen Jugendlichen, eines Underachiever, der weit unter seinem Potential geblieben ist und der durch widrige (private wie schulische) Umstände eine niedrigere Bildungslaufbahn einschlagen musste. Die Schule bestraft sein nonkonformes Verhalten, ohne den Versuch, die Ursachen zu berücksichtigen. Hier zeigt sich erneut, wie wenig Handlungsspielraum Ville bis zu diesem Zeitpunkt in seiner Biografie sieht. Obwohl er eigentlich intelligent ist und ihm die Schule auf der intellektuellen Ebene leicht fällt, hat er keinen Einfluss darauf, wie seine Bildungsbiografie verläuft. Durch äußere Umstände, die er vermeintlich nicht beeinflussen kann, erlebt er sich in einer Abwärtsspirale, die schließlich in der Psychiatrie endet. Konfusion – Psychiatrie oder Internat? (8. Segment, Z. 101–134) In dieser Phase des Interviews kommt Ville durcheinander und hat mit dem Gestalterschließungs- und Detaillierungszwang zu kämpfen. Dies wird an Aussagen wie „ich hab jetz schon wieder so viel vergessen“ (IV 101), „wie alt war ich da?“ (IV 104) und „wo mach ich weiter?“ (IV 109) deutlich. Ihm wird bewusst, dass er wichtige, für den weiteren Verlauf seiner Biografie relevante Informationen vergessen, bzw. vorenthalten hat, die er in mehreren Hintergrundkonstruktionen nachreicht. Aufgrund des Kondensierungszwanges kann Ville nicht alles detailliert wiedergeben, obwohl er teilweise andeutet, dass es an entsprechenden Stellen mehr zu erzählen gebe. So erfährt der Zuhörer in wenigen
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Zeilen von Villes erstem Psychiatrieaufenthalt zur Grundschulzeit, in dem die Medikation, von der er bereits im dritten Segment gesprochen hat, veranlasst wurde. Außerdem erwähnt Ville kurz einen Internatsaufenthalt, der schlecht verlaufen ist und einen neuen Stiefvater, der ihn „letzenendlich auch komplett aus der familie rausgeekelt hat“ (IV 121). Ville führt die Probleme mit seinem Stiefvater nicht näher aus, sondern verweist darauf, dass er im späteren Erzählverlauf darauf zurückkommen wird. In diesem Teil der Erzählung wird die fehlende Handlungsmacht wieder augenscheinlich, da äußere Umstände und nicht Ville selber den Verlauf seines Lebens bestimmen. Durch den Internatsbesuch, bei dem er erneut schlechte Erfahrungen mit Institutionen macht und den anschließenden Umzug verliert Ville seine Freunde. Hier ist bemerkenswert, dass erst zum zweiten Mal – neben seinen Großeltern – positiv konnotierte signifikante Andere erwähnt werden, diese aber ohne Details, Namen oder zumindest mit erläuternd-beschreibenden Aktivitäten in die narrative Darstellung eingeführt werden, wie es eigentlich üblich wäre. Die intrigante Freundin (9. Segment, Z. 134–170) „V.: naja, kinder halt. auf jeden fall, hatte ich dann in dieser psychiatrie ne freundin, was ja total verpönt is, is ja auch klar. aber, naja, das war ja auch alles gar nich so schlimm gewesen (-) hätte ich nich mit dieser schluss gemacht (-) ich kann mir vorstellen, dass die das erzählt hat, auf jeden fall hieß es dann irgendwann in dem internat, äh, nich in dem internat, in der psychiatrie, dass ähm, also wurd ich, wurd ich einfach nur in n raum geholt, vier augen gespräch mit nem betreuer un dann wurd ich erst mal angeschrien, dass ich angeblich fünf mädchen gegen ihren willen (-) angefasst hätte. un das war zu ner zeit, wo ich aber mädchen noch gefragt hab, bevor ich sie überhaupt zur begrüßung umarmt hab, also (-) es kann überhaupt nich sein. wurde natürlich aber auch bestätigt in der sache, dass die betreuer mich einmal mit meiner freundin erwischt hatten. also, rumgeknutscht außerhalb des internatsgeländes. deswegen haben die mir natürlich kein wort geglaubt, es durfte natürlich aber auch keine gegenüberstellung erfolgen, weil ich ja sonst, denen schaden zufügen könnte oder so. das heißt es wurden mir strafen gegeben, ohne überhaupt irgendeinen beweis, dass ich irgendwas gemacht hab. (--) ähm ja (-). das heißt ich durfte dann da nich mehr raus, ich hab strafen über strafen bekommen und irgendwann hieß es dann nur noch ein mädchen hätte das behauptet, irgendwann hieß es gar nichts mehr. aber meine strafen sind geblieben und seit dem steht auch in der akte von dieser psychiatrie anscheinend ich bin ein sexualstraftäter. und solche sachen. also ich bin, ich bin in meinem leben überall mal angekommen mit großer hoffnung und diese große hoffnung wurde immer zerstört. und jedes mal ist ein stückchen von mir kaputt gegangen. darum kann ich mich heute eigentlich an kaum noch sachen erfreuen. aber das is gar nich das thema“ (Interview Ville, Z. 143–170)
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Dieser Abschnitt ist gleich aus mehreren Gründen bemerkenswert. So stellt er die erste Höhepunktsituation in Villes Erzählung dar, was am Anstieg des Detaillierungsgrades zu erkennen ist. Erstmals wird aus der Kette der Ereignisse eine konkrete Situation hervorgehoben und besonders dicht mit verschiedenen Akteuren, Schauplatz und Zeit beschrieben. Dies ist ein Indiz dafür, dass diese Episode eine besonders hohe Handlungsrelevanz für Ville besitzt und in einer Zustandsveränderung resultiert. Diese Zustandsveränderung thematisiert er selber in dem bilanzierenden Schlusssatz, der gleichzeitig als Ergebnissicherung dieses Segmentes fungiert: Immer wieder wurde aufkommende Hoffnung durch negative Erfahrungen, hauptsächlich durch Erwachsene, Institutionen und deren Repräsentanten, zerstört und Ville ist Stück für Stück „kaputt gegangen“ (IV 168), bis er sich letztlich an gar nichts mehr „erfreuen“ (IV 169) kann. Immer überwiegt das Misstrauen, es könne wieder etwas schieflaufen, oder er könne etwas gerade Gewonnenes wieder verlieren. Dabei verliert er zunehmend sowohl das Vertrauen in Institutionen als auch das persönliche Vertrauen in verschiedene Akteure seiner Biografie. Zusätzlich hat Ville den Glauben an seine eigene Wirkmächtigkeit aufgegeben und seine vermeintlich fehlende Handlungsmacht resignierend akzeptiert. Ville wird in einer Psychiatrie stationär behandelt und lernt dort seine erste Freundin kennen. Dies sei zwar in der Psychiatrie „verpönt“ (IV 144), hat am Anfang aber kein Problem dargestellt. Nachdem Ville jedoch die Beziehung beendet – warum oder unter welchen Umständen verschweigt er – werden von Seiten seiner Exfreundin und einigen anderen Mädchen in der Psychiatrie Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Ville erhoben. Die Formulierung, er könne sich „vorstellen, dass die das erzählt hat“ (IV 147) verdeutlicht, dass Ville Hintergründe von Ereignissen schildert, die er insgesamt gar nicht miterlebt hat und diese Ereignisse dennoch Auswirkungen auf seine Handlungsabläufe haben. Es folgt ein Gespräch mit einem Betreuer, der ihn anschreit und mit „strafen über strafen“ (IV 161–162) – darunter auch eine Art Ausgangsverbot – belegt. Ville betont mehrmals, dass es keine Beweise gegen ihn gegeben hätte und dass er zu dieser Zeit ohnehin viel zu schüchtern im Umgang mit dem anderen Geschlecht gewesen sei. Im Verlauf des Segmentes kommt es jedoch zu einem Widerspruch, indem sich Ville einerseits als in der Pubertät verzweifelt auf der Suche nach Liebe beschreibt und er nahezu jedes Mädchen angesprochen hat – also zumindest in dieser Hinsicht sehr extrovertiert gewesen sein muss, versucht diese Passage aber durch die Aussage „naja kinder halt“ (IV 143) zu relativieren. Andererseits beschreibt er sich kurze Zeit später als äußerst schüchtern, um den Vorwurf der sexuellen Belästigung zu entkräften. Ville vermutet, dass die Vorwürfe für die Mitarbeiter plausibel erscheinen könnten, da diese ihn einmal
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knutschend mit seiner Freundin erwischt haben. Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und eines potentiellen signifikanten Anderen scheitert für Ville und bleibt für ihn aufgrund der Nachwirkungen äußerst negativ konnotiert. Gleichzeitig bestärkt ihn diese Erfahrung in seiner grundsätzlichen Aversion gegen das institutionalisierte Hilfesystem, deren Mitarbeiter und untergräbt weiter sein Vertrauen in Mitmenschen. Das neunte Segment zeigt exemplarisch die theoretisch-argumentative Gesamtaktivität von Ville, der sofort versucht, seine Behauptung gegenüber der impliziten Opponentenhaltung des Zuhörers zu belegen. Ohne dass der Interviewer, beispielsweise durch eine Nachfrage oder einen Kommentar, an seiner Erzählung Zweifel zum Ausdruck gebracht hat, glaubt Ville, er müsse durch Zusatzinformationen seine Geschichte beweisen. Aus diesem Grund führt er auch die Aussage der Großmutter und im späteren Verlauf des Interviews zusätzlich die Bemerkungen eines Arztes an, um das inadäquate Verhalten seiner Mutter vermeintlich zu belegen. Hier legt Ville dem Zuhörer das Motiv der Exfreundin (Rache nach Beendigung der Beziehung) zur Anschuldigung des Missbrauchs nahe. Weil ihm das nicht ausreichend erscheint, führt er zusätzlich seine damalige Schüchternheit als Beweis vor, dass die Geschichte so nicht passiert sein könne. Hier zeigt sich Villes generelle Befürchtung, dass jeder gegen ihn sei und ihm schaden möchte. Er beschreibt sich von neuem als eine Art Einzelkämpfer, der chancenlos einem übermächtigen Kollektiv entgegensteht, in dessen Anbetracht er sich als handlungsunfähig empfindet. Zu Hause muss Ville sich gegen seine lieblose Mutter und den Idioten behaupten, in der Schule ist es eine Allianz aus Eltern, Lehrern sowie Schülern und in der Psychiatrie verschwören sich andere Patienten mit den Mitarbeitern gegen ihn. 10. Segment: Ich bin Borderliner und Zurück zur Mutter (10. Segment, Z. 170– 180; 11. Segment, Z. 181–208) Im Vergleich zum vorherigen Segment nimmt die Dichte der Beschreibung wieder deutlich ab. Hier evaluiert Ville knapp, dass das Borderline Syndrom ihm seine extremen, wechselhaften Gefühle erklärt. Es wird der Anschein erweckt, die Diagnose wirkt auf eine Art identitätsstiftend für Ville. Einen feindseligen Kommentar gegenüber seiner Mutter kann er nicht zurückhalten und zeichnet das Bild einer gehässigen, empathielosen Frau, die ihr weinendes Kind zurückweist. Ville orientiert sich an dieser Stelle kurz und überlegt, wie er seine Erzählung weiterführen kann. Ville schildert weiter die Zeit nach seinem Psychiatrieaufenthalt. Eigentlich wollte er zurück ins Internat, was zumindest hinsichtlich des achten Segmentes merkwürdig erscheint, in dem er suggeriert, dass die Zeit dort alles andere
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als gut verlaufen sei. In diesem elften Segment schafft er durch die Aussage, „ich wollte diese psychiatrie ja machen, damit ich aufs internat zurück kann“ (IV 180–181) eine erhöhte Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit, er sieht – und das ist in seiner Erzählung äußerst selten – die Möglichkeit, die Zukunft seinen Vorstellungen entsprechend, gestalten zu können. Nach weiteren, nicht näher beschriebenen Ausrastern wird Ville mit der Diagnose, er sei unbeschulbar, schließlich in eine Wohngruppe geschickt. Um was für eine Art von Einrichtung es sich dabei handelt, erfährt der Zuhörer nicht. Das Vorhaben, sich freiwillig in Behandlung zu begeben, um im Anschluss zurück zu seinen Freunden zu können, schlägt fehl, wodurch seine Selbstwirksamkeitsüberzeugung weiter erodiert wird. Mit der Formulierung er sei „natürlich total ausgerastet“ (IV 187) relativiert er einerseits sein Verhalten, zeigt andererseits, wie sehr er immer noch – bzw. wieder – in der Verlaufskurvendynamik gefangen ist, da sich für Ville offensichtlich keine anderen Verhaltens- oder Handlungsalternativen mehr erschließen. Die anschließende Aussage, die Wohngruppe sei „das beste, was mir bis jetz passiert war“ (IV 190–191) deutet an, dass es an dieser Stelle mehr zu erzählen gebe, er sich aufgrund der Kondensierung kurzfasst. Ville schildert an dieser Stelle nicht, welche konkreten positiven Erfahrungen er zu dieser Zeit gemacht hat. Wie im achten Segment bleiben dem Zuhörer Details, Namen oder Beschreibungen zu Villes Freunden, oder glücklichen Momenten, wegen denen er eigentlich zurück ins Internat wollte, vorenthalten. Er erzählt stattdessen, wie er in einer kurzen Zeit seine schulischen Defizite von zweieinhalb Jahren aufgeholt hat, eine Klasse überspringen und auf eine Realschule gehen konnte. Nach nur zwei Wochen wird er aufgrund eines „dummen zufall“ (IV 199) von der Schule ausgeschlossen. Hier ist eine Diskrepanz immanent, denn zum einen spricht Ville von einem Zufall, der zu seinem Schulausschluss geführt hat, und somit seine eigene Beteiligung relativiert. Zum anderen gesteht Ville dieses Mal eine Mitschuld ein, da der Rauswurf berechtigt gewesen sei. Als Konsequenz zieht Ville zurück zu seiner Familie und bilanziert vorangestellt, dass es zu Hause keinesfalls „besser war“ (IV 207). Im folgenden Segment führt Ville die im früheren Interviewverlauf angekündigte Hintergrundkonstruktion zu seinem neuen Stiefvater und die damit verbundenen Konflikte aus. Dieses Scheißkind (12. Segment, Z. 212–240) „V.: mein neuer stiefvater is seit wir bei dem gewohnt haben so, dass ich in die wohnung reingekommen bin, oder nich mal reingekommen, ich bin nur aus meinem zimmer raus un der hat mich gleich total entnervt angeguckt, also diesen blick, den
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musste ich mir wirklich jeden tag geben. so als will ich ihm richtig auf die nerven gehen. (-) obwohl ich da ja zu hause war. und meine mutter das alles natürlich noch unterstützt, wenn sie stress mit mir hatte, hat sie nich mal gewartet bis ich weg war, bis sie sich über mich ausgelassen hat, nein, ich stand direkt daneben. und dann musst ich mir sachen anhören wie, ja dieses scheißkind, dass muss ich jeden tag mitmachen und wenn sie ihn total entgeistert angeguckt hat und auf mich gezeigt hat und einfach nur gesagt hat, siehst du das, hörst du das [atmet hörbar aus]. naja auf jeden fall ging es mit meiner mutter dann (-) immer (-) immer mehr rund. zu hause bin ich dann auf jeden fall, weil ich die zehnte klasse realschule machen, also bin ich auch in nebenkaff in [name eines dorfes] in die zehnte klasse gegangen. ähm, aber in dieser zehnten klasse gab es dann einfach immer mehr zwischenfälle mit meiner mutter, weswegen es dann irgendwann anfing, dass ich mir dann zum ersten mal die arme aufgeschnitten hab. es gab vorher in meinem leben schon selbstverletzerische, selbstverletzende, selbst’ (--) du weißt was ich mein […] ähm. selbstverletzerisches [unverständlich] verhalten. ja, das lass ich einfach mal so gelten. sodass ich mir zum beispiel jetz mal die fäuste blutig geschlagen hab an der wand, oder dass ich mir mit nem geodreieck in meiner haut reingeritzt hab, aber das war nie was (-) großes“ (Interview Ville, Z. 212–240).
Ville schildert im zwölften Segment die veränderte Familiensituation, da seine Mutter wieder heiratet. Der Detaillierungsgrad steigt leicht an und er beschreibt eine exemplarische Situation, die er aber ähnlich häufiger erlebt hat („jeden tag geben musste“ (IV 215–216)). Diese Nebenerzähllinie benötigt Ville, um die besondere Rahmenbedingung darzustellen, die dem Zuhörer eine Erklärung für seine Selbstverletzungen liefert. In der Ergebnissicherung des Segmentes bringt Ville zum Ausdruck, dass er sich zwar bereits vor dem neuen Stiefvater selbst kleinere Verletzungen zugefügt hat, dieses Verhalten jedoch erst mit der Verschärfung der familiären Konflikte eskaliert ist. Hier kann auf das achte Segment zurückgegriffen werden, in welchem Ville darauf hingewiesen hat, er würde an späterer Stelle erläutern, warum sein neuer Stiefvater ihn endgültig aus der Familie rausgeekelt habe. Er sieht den neuen Stiefvater und dessen Allianz mit der Mutter als Anstoß einer Kausalkette. Das Verhalten der Beiden Ville gegenüber führt dazu, dass Villes Selbstverletzungen zunehmen und diese sind schließlich der Grund, warum seine Mutter ihn rauswirft. Arme und Hals aufschneiden (13. Segment, Z. 240–255) „auf jeden fall hab ich mir nach dem ersten mal mit nem alten messer, was zum glück stumpf war, m’, die arme und den hals aufgeschnitten. als meine mutter dann am nächsten morgen rein kam meinte sie nur, [imitiert gelangweilte stimme] is das jetz wirklich dein ernst? (--) ja. aber nach langem, meine mutter bereden, war sie dann letzlich überzeugt, dass es kein normales verhalten is. das heißt ich durfte dann
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endlich freiwillig stationär (-) in ne psychiatrie wo ich dann auch wirklich mal auf das untersucht wurde, worauf untersucht werden sollte. also auf das borderlinesyndrom. was dann ja auch bestätigt wurde. ähm, ja. (--) ähm, dann bin ich nach hause gekommen. ich konnte die zehnte klasse natürlich nich mehr machen, weil ich zu lange in der psychiatrie war. das heißt ich war das restliche schuljahr entweder gar nich in der schule, oder ich wurde nur im nebenklassenzimmer, was leer war halt gesetzt, damit ich mein zeug nachholen konnte. was ich aber auch nie gemacht hab, ich hab da eher geschlafen oder so“ (Interview Ville, Z. 240–255).
Die weiter eskalierende Familiensituation und Villes selbstverletzendes Verhalten sind die bedeutenden Motive des 13. Segmentes. Absolute Darstellungsrelevanz misst Ville dem unangebrachten Verhalten der Mutter bei, die höchstens gelangweilt auf seine Selbstverletzung reagiert und erst davon überzeugt werden muss, dass Ville professionelle Hilfe benötigt. Bemerkenswert ist darüber hinaus die komplette Ausblendung seines Aufenthaltes in der Psychiatrie. Obwohl dort das Borderline Syndrom diagnostiziert wird und Ville immerhin so lange stationär behandelt wurde, dass er die Schule nicht weiter besuchen konnte, fehlen jegliche nähere Ausführungen dieses Abschnitts. Auf der Straße (14. Segment, Z. 255–272; 15. Segment, Z. 272–303) Ville liefert die Einleitung zum 15. Segment, welches vielleicht das Wichtigste in seiner Erzählung darstellt. Es folgen in dieser Zeit episodenhafte Aufenthalte auf der Straße, denen Ville aber, wie am Mangel an näheren Ausführungen offensichtlich wird, keine große Bedeutung zumisst. Ville bereitet vielmehr die Erzählung des 15. Segmentes vor, in dem er den vermeintlich endgültigen Bruch mit seiner Mutter und erste längere Phase auf der Straße schildert. „genau an meinem 18 geburtstag bin ich dann endgültig rausgeflogen erst mal. das war das erste mal, dass ich endgültig rausgeflogen bin (-) weil ich ja jetz 18 bin und ich, weil sie sich das ja jetzt nicht mehr geben braucht. und naja, dann saß ich also an meinem 18ten, WUNDERvollen geburtstag auf der straße. es war kalt, es war arschkalt. und bin erst mal ne weile mit den punks rumgezogen. (--) aber naja, natürlich hab ich zu der zeit schon drogen genommen, weil es eben mit meiner mutter so schlecht geklappt hat, hab ich mir hier im [name eines szenetreffpunktes] mir meine connections gesucht, meine freunde, die mich irgendwie verstanden haben, weil sie ja auch scheiße durchmachen mussten. und genau diese leute sind es dann, die dich dann, die dir dann solche sachen zeigen, manchmal nicht mal böswillig. einfach nur weil sie wollen, dass es dir besser geht. aber sobald du einmal damit angefangen has, is deine hemmschwelle eh runtergesetzt. das heißt egal wie sehr du sags, ich nehm das nur einmal oder so, das wird nich bei einem mal bleiben. vor allem nich, wenn du auf der straße lebst. ähm, ja auf der straße da isses, das hab ich eh immer nur ausgehalten, wenn ich entweder getrunken oder auf irgendwas
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anderem war. das is, das is ja ein richtig widerliches gefühl. man fühlt sich genau so, wie diese ekelhaften gestalten, die einfach halt am straßenrand sitzen, völlig versifft und betteln. so wie du die immer angeschaut has, so schaun dich alle anderen an. und du bist also einfach nur ein stück dreck. und es ist kalt. keiner sorgt sich dafür, dass du auch nicht maln euro hast. für essen. (--) naja auf jeden fall hatte ich da schon chemische drogen genommen, weswegen meine zähne dann auch immer schlechter wurden. ich hatte üble zahnschmerzen. weil meine zähne hinten alle zersplittert sind, ich hatte überall schon füllungen drin, die sind aber durch die chemie alle rausgefallen. und meine zähne sind eben zersplittert. deswegen musste ich unbedingt zum zahnarzt, ich konnte aber nich, weil ich ja, naja, weil ich ja auf der straße war und ich, ich hatte keine ahnung wie man das macht so. ich war komplett unselbstständig“ (Interview Ville, Z. 272–303).
Anhand der Dichte der Beschreibung, dem exakten Zeitpunkt, Villes 18. Geburtstag, und der detaillierten Schilderung des Settings, lässt sich die enorme Handlungsrelevanz dieses Segmentes für die Biografie von Ville erahnen. Aus der Kette von vielen negativen Ereignissen hebt Ville diese konkrete Begebenheit hervor. Es handelt sich offensichtlich um eine Höhepunktsituation und einen dramatischen Wendepunkt in seiner Lebensgeschichte. Nach vorherigen kurzen, episodischen Aufenthalten auf der Straße, entscheidet seine Mutter, dass sie sich „das nicht mehr zu geben braucht“ (IV 274– 275) und setzt Ville an seinem „WUNDERvollen geburtstag“ (IV 276) (vorerst) endgültig vor die Tür. Obwohl Ville zu einem späteren Zeitpunkt wieder nach Hause zurückkehren wird, wählt er sogar zwei Mal die Formulierung „endgültig“ (IV 272/ 273), welche eigentlich durch die spätere Rückkehr zur Mutter falsch ist. Diese Ausdrucksweise gibt aber Ausschluss über die innere Zustandsveränderung von Ville, der an diesem Punkt endgültig mit seiner Herkunftsfamilie bricht. Zwar muss er etwas später aus medizinischen Gründen erneut Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen, hat aber eigentlich mit seiner Familie abgeschlossen. Ist der 18. Geburtstag für die Meisten ein Grund die gewonnene Volljährigkeit zu feiern, muss sich Ville mit der Kälte und dem fehlenden Obdach auseinandersetzen. Immerhin hat er bereits in den vorherigen ‚kleinen Fluchten‘ seine „connections“ (IV 280) in der Szene aufgebaut, sodass er zunächst einmal „mit den punks rumgezogen“ (IV 277) ist und sich nicht alleine durchschlagen muss. Für Villes Erzählung beispielhaft erfährt der Zuhörer wieder keine Details über die Menschen, mit denen er diese prägende Zeit auf der Straße verbracht hat, sondern fasst sie als unbestimmte Gemeinschaft zusammen („diese leute“ (IV 282), „den punks“ (IV 277)). Wir erfahren weiter, dass Drogenkonsum schon vor seiner Zeit auf der Straße eine Rolle gespielt hat, sich dann aber deutlich intensiviert hat und durch seine Freunde, die ähnliche Probleme hatten, initiiert
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wurde. Im Vergleich zu dem vermeintlichen antagonistischen Kollektiv, dass Ville permanent konstruiert und welches ihm immer schaden möchte, hat ihn die Straßen-, bzw. Punkszene auf Anhieb aufgenommen, verstanden und in die milieutypische Bewältigungsstrategie ‚Rauschmittel‘ eingeführt. Ville schreibt seinem Substanzmissbrauch dabei keine Besonderheit zu, er habe bereits Drogen genommen, um die Situation zu Hause besser zu ertragen und diesen Habitus in der Wohnungslosigkeit weitergeführt („das hab ich eh immer nur ausgehalten, wenn ich entweder getrunken oder auf irgendwas anderem war“ (IV 288–289)). Ohne die Fähigkeit, selbstbestimmt und gestaltend auf seine Biografie einzuwirken, etabliert sich typischerweise eine Drogenkarriere als Verlaufskurve innerhalb Villes Biografie. Er ist reaktiv in seiner Situation gefangen, was sich neben dem Inhalt auch sprachlich zeigen lässt. Da er zuhause Probleme hat und auf der Straße lebt, nimmt er „natürlich“ (IV 278) Drogen. Er erfährt sich als nicht wirkungsmächtig und akzeptiert seine Situation resignierend. Auffällig sind auch seine sehr lebhaften Beschreibungen der Zustände auf der Straße, für die er eine drastische Wortwahl nutzt („das ist ja ein richtig widerliches Gefühl […] man fühlt sich wie diese ekelhaften gestalten […] völlig versifft“ (IV 289–291) und anhand derer klar wird, wie präsent diese emotional aufgeladenen Eindrücke für Ville immer noch sind. Weiter differenziert Ville seinen Substanzmissbrauch, indem er explizit den Konsum von chemischen Drogen und die unmittelbaren medizinischen Folgen hervorhebt und diese so zumindest suggestiv gegen scheinbar harmlosere – wahrscheinlich Cannabis und Alkohol – abgrenzt. Andererseits muss er die chemischen Drogen aufgrund des Gestalterschließungszwangs in seine Erzählung aufnehmen, da die Rückkehr in seine Herkunftsfamilie, mit der er ja eigentlich endgültig abgeschlossen hat, für den Zuhörer sonst keinen Sinn ergibt. In Folge der widrigen Umstände auf der Straße, mangelnder Hygiene und gekoppelt mit seinem Drogenmissbrauch bekommt Ville gravierende Gesundheitsprobleme. Seine Zahnfüllungen gehen nach und nach kaputt, bis seine Zähne „zersplittern“ (IV 298). Durch die Schmerzen getrieben, nimmt er wieder Kontakt zu seiner Mutter auf, um auf diesem Weg einen Arzt besuchen zu können. Er beschreibt sich zu der Zeit als so unselbstständig, dass er keinen anderen Rat weiß, als sich wieder an seine Mutter zu wenden. Mit der Formulierung im Präteritum, er „war“ (IV 302) unselbstständig, deutet Ville darüber hinaus an, dass er mittlerweile eigenverantwortlich lebt.
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Das Scheißkind schneidet sich die Pulsadern auf (16. Segment, Z. 307–355) „[…] aber einmal war es dann wirklich so übel, dass ich nach hause kam, ich warn bisschen angetrunken, weswegen ich eh schon emotional war (--) und ähm, ja, meine mutter hat natürlich nichts besseres im sinn gehabt, als mich fertig zu machen, weil ich nichts auf die reihe bekomm und dass ich so ein scheiß kind bin, vor ihrem freund da. und ich hab ihr nur gesagt, warum musst du das machen, hör doch einfach auf, ich hab, ich hab einfach nur unter tränen gebettelt, dass sie aufhört. aber sie hat nich aufgehört. sie hat immer weiter gemacht, bis es dann so eskaliert is, dass ich einfach nich mehr konnte. ich bin also in mein zimmer gegangen und hab mir wieder die pulsadern aufgeschnitten. aber richtig deftig. dann, naja is ne halbe stunde später meine mutter in mein zimmer gekommen, hat das gesehen, is ausgerastet, hat mich rausgeworfen. hat kein arzt gerufen, hat mich rausgeworfen, hat mir den rucksack noch an den kopf geworfen, gesagt ich soll mich verpissen un nie wieder kommen. und ich konnte zum glück dann in dem moment noch meine damalige beste freundin erreichen, die is dann gekommen un hat mich ins krankenhaus gefahren. der arzt hat auch gesagt, dass das, dass das, naja, dass das nich geht, so. da hätte weiß gott was passieren können. (--) aber für mich war das normal, ich kann das jetz noch nich mal so als krass empfinden“ (Interview Ville, Z. 303–355).
Aufgrund seiner Schmerzen und dem immensen Leidensdruck nimmt Ville Kontakt zu seiner Mutter auf, die ihn auch zum Zahnarzt bringt und daraufhin wieder bei sich wohnen lässt. Das erneute Zusammenleben funktioniert durch die ungelösten Konflikte nicht wie erhofft, sodass Ville immer wieder rausgeworfen wird und episodenhaft auf die Straße zurückkehrt. Nach dieser kurzen Einleitung, in der die Dichte der Beschreibung wieder deutlich abnimmt, folgt ein Abschnitt, in dem der Grad der Detaillierung an die beiden Höhepunktsituationen aus dem 9. und 15. Segment heranreicht. Infolge der anhaltenden Auseinandersetzungen mit seiner Mutter fällt Ville in sein selbstverletzendes Verhalten zurück. Um seine Ausführungen plastisch zu untermauern, entblößt Ville in der Interviewsituation seine Arme sowie den Hals und demonstriert seine zahlreichen Narben. Überraschenderweise taucht in Villes Erzählung zum ersten Mal in einer Hintergrundkonstruktion seine kleine Schwester auf, von der der Zuhörer nur erfährt, dass sie noch gefüttert wird, also sehr jung sein muss. Ville entschließt, aus Rücksicht mit den Selbstverletzungen aufzuhören, da die Mutter seine Wunden, wie Ville andeutet, bewusst vor der kleinen Schwester versorgt, die daraufhin Alpträume bekommt. Dies ist, neben dem freiwilligen Aufsuchen der Psychiatrie im elften Segment, einer der wenigen Momente in seiner Erzählung, in der er versucht, sein Verhalten zielgerichtet sowie selbstbestimmt zu verändern und nicht in reaktiven Verhalten gefangen ist.
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Nach einiger Zeit fällt Ville jedoch wieder in alte Muster zurück. Exemplarisch beschreibt er eine Selbstverletzung, bei der die Blutung trotz Verband nicht über Nacht gestoppt wurde. Anstatt am nächsten Morgen auf die Notsituation zu reagieren, fährt die Mutter scheinbar gelangweilt fort, Villes Schwester zu füttern. Mit der Schilderung verdeutlicht Ville zum einen das inadäquate, empathielose Verhalten seiner Mutter und zum anderen die Normalität seiner Selbstverletzungen im Alltag der Familie. Im Anschluss daran folgt die Situation, die in seinem endgültigen Rauswurf resultiert: Ville kommt eines Abends betrunken und emotional sensibel nach Hause, wird infolgedessen von seiner Mutter beschimpft, beleidigt und vor ihrem Freund als „scheißkind“, das „nichts auf die reihe bekommt“ (IV 339–340), betitelt. Als Ville die Situation nicht länger erträgt, geht er in sein Zimmer und schneidet sich „richtig deftig“ (IV 345–346) die Pulsadern auf. Seine Mutter findet ihn eine halbe Stunde später in seinem Zimmer, ruft keinen Arzt oder versorgt seine Wunden, sondern wirft Ville stattdessen aus der Wohnung. Den gesamten Streit und die Eskalation beschreibt dieser mit dramatischen Worten: so habe er anfangs „unter tränen gebettelt“ (IV 342), ihm seine Mutter aber, anstatt zu helfen, mit den Worten er solle sich „verpissen“ (IV 349), einen „rucksack noch an den Kopf geworfen“ (IV 349). Ville kann seine damalige beste Freundin anrufen, die ihn schließlich in ein Krankenhaus fährt. Diese Freundin wird ähnlich wie die Schwester erst in Folge des Gestalterschließungszwangs als Hintergrundkonstruktion in seine Erzählung eingeführt, da er sie benötigt, um den Weg ins Krankenhaus schlüssig zu erklären. Eigentlich wäre es zu erwarten, dass die Freundin während der Schilderung des Psychiatrieaufenthaltes, in dem Ville ihre Bekanntschaft macht in der Erzählung auftaucht. Als vermeintlichen Beleg oder Beweis des inakzeptablen Verhaltens der Mutter nutzt Ville zusätzlich die Autorität des Arztes, der vermeintlich belegt, dass eine solche Reaktion „nich geht“ (IV 353), denn da hätte ja „weiß gott was passieren können“ (IV 353–354). Der zweite Winter auf der Straße (17. Segment, Z. 355–378) Im Vergleich zum 16. wird im letzten Segment eine deutlich längere Zeitspanne merklich kürzer beschrieben. Dies wird vor allem durch den Rückgang der Beschreibungsdichte und Emotionalität der Darstellung offenkundig. Dieses Mal bricht der Kontakt zu seiner Mutter endgültig ab und Ville lebt eine längere Zeit (der „zweite winter“ (IV 358)) auf der Straße. Außer der Bemerkung, „das war auch alles andere als schön“ (IV 359) und „hab wieder angefangen übel mit den drogen“ (IV 360) erfährt der Zuhörer keine weiteren Details über Villes Gefühle oder die Rahmensituation auf der Straße, außer dass er erneut auf die Bewältigungsstrategie Rausch zurückgreift. Mehr durch Zufall über einen ent-
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fernten Bekannten erfährt Ville von einer Hilfeeinrichtung für Wohnungslose in der Stadt. Ville musste durch jemanden auf die Möglichkeit der Hilfe aufmerksam gemacht werden und hat nicht aktiv nach Möglichkeiten zur Verbesserung seiner Situation gesucht. Der Übergang im Anschluss der negativen Verlaufskurve zu einer grundlegenden biografischen Veränderung wird von außen induziert. In der Einrichtung lebt er zunächst in einem Notübernachtungszimmer „wie sau“ (IV 372), konsumiert weiter Drogen und leidet unter Depressionen. Erst nach und nach öffnet er sich für die vorhandenen Hilfeangebote und wechselt schließlich in eine angegliederte betreute Wohngemeinschaft. Es kommt also nicht zu einer abrupten Beendigung des verlaufskurvenhaften Prozesses, Ville erhält aber Anstöße zu einem Wandel der eigenen Orientierung, sodass er langsam zuvor nicht erkannte Handlungspotentiale bzw. Ressourcen wahrnimmt. Wie bereits zu Beginn angesprochen ist die Rahmung der Biografie durch einleitende- und abschließende Bemerkungen zu Villes Beziehung zu seiner Mutter äußerst bemerkenswert. Damit stellt er sicher, dass dem Zuhörer die Art seiner Geschichte – ein Familiendrama – deutlich wird. Zudem verdeutlicht er durch die Formulierung er sei ein „kind gewesen, was seine mutter so abgöttisch geliebt hat“ (IV 376), bzw. in der Einleitung „alles hat damit angefangen, dass ich ein liebes kleines kind war“ (IV 9–10) seine vermeintliche Unschuld und fehlende Handlungsmacht bezogen auf die ausschließlich negativ verlaufenden Ereignisketten seiner Biografie. Die Koda „gibt es noch irgendwas?“ (IV 378) beendet die Haupterzählung von Villes Lebensgeschichte.
5.1.4 Analytische Abstraktion Villes Geschichte ist eine Anhäufung von Verlaufskurvenpotentialen, Verlusterfahrungen und sich wiederholenden und ausweitenden Marginalisierungsmechanismen, Exklusionsprozessen und Deprivationserfahrungen. Im folgenden Abschnitt wird versucht, als Zwischenschritt vor der Kontrastierung, Villes exemplarischen Weg in die Wohnungslosigkeit prägnant zusammenzufassen. Bei den kursiv geschriebenen Begriffen handelt es sich um die Kategorien, die für die spätere Abstrahierung und Generalisierung der Idealtypen verwendet werden. Villes Weg in die Wohnungslosigkeit nimmt seinen Anfang in einer ambivalenten, chaotisierenden Familiensituation und Marginalisierung in familiären Kontexten. Da Ville ohne leiblichen Vater aufwächst und den Kontakt zu seinen Großeltern, die zumindest im Ansatz für ein geborgenes Sozialisationsund Entwicklungsfeld gesorgt haben, durch einen Umzug verliert, bleibt seine Mutter Villes einzige konstante Bezugsperson. Die Beziehung zu ihr ist durch
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Konflikte und Konfrontationen geprägt, wobei sich die Beiden gegenseitig Vorwürfe machen und sich gegenseitig die Verantwortung für ihre verletzende Beziehung zuweisen. Die wechselnden Partner der Mutter bedeuten für Ville, dass er häufig umziehen muss. Die Wohnort- und Schulwechsel führen dazu, dass Ville keinen verlässlichen Freundeskreis aufbauen und aufrechterhalten kann sowie generell unstete Lebensverhältnisse. Zu seinen Stiefvätern hat er ein schlechtes Verhältnis, wodurch sich die Marginalisierung und sukzessive Exklusion aus der Familie weiter fortsetzt. Das primäre Sozialisationsfeld der Familie ist für Ville vornehmlich ein Ort von Deprivationserfahrungen. In der Schule ist er Außenseiter, Opfer von Mobbing und unter Gleichaltrigen mangelt es Ville an Akzeptanz, sodass er typische Entwicklungsaufgaben in Verbindung mit dem Freundeskreis, als zweiter wichtiger Sozialisationsinstanz, nur bedingt vollziehen kann. Bestärkt durch die zahlreichen Umzüge verbleiben außerfamiliäre Peer-Beziehungen vornehmlich konfrontativ und verstärken die Deprivationserfahrungen sowie seine empfundene Einsamkeit und das Gefühl der Entwurzelung. Nur selten und höchstens vorübergehend finden sich unterstützende Netzwerkkonstellationen, in denen Ville positiv konnotierte Beziehungen zu signifikanten Anderen erlebt. Er entwickelt ein generalisiertes Misstrauen gegen Andere, die er vornehmlich als Antagonisten wahrnimmt. Gegenüber helfenden Professionellen und Repräsentanten von Organisationen entwickelt er ebenfalls, bestärkt durch zusätzliche Exklusionserfahrungen in Bildungsinstitutionen, tiefes Misstrauen. Durch seine Verhaltensauffälligkeiten und Aggressionen wird er mehrfach von Schulen verwiesen und es etabliert sich ein Kreis aus Schulwechseln, Außenseitertum, Stigmatisierung, Mobbing, inadäquatem Verhalten und erneuten Schulverweisen. Dies ist für die Positionierung im Erwerbssystem dahingehend kritisch, dass die schließlich erreichte niedrige Qualifikation keine/ kaum Möglichkeiten auf dem primären Arbeitsmarkt eröffnet und Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigung droht. Neben der Schule sind die Psychiatrie und Einrichtungen der Jugendhilfe Orte, an denen Ville auf Professionelle trifft, die in seiner Wahrnehmung ausschließlich als Antagonisten auftreten. Die Erfahrungen in seiner Familie, im schulischen Umfeld sowie mit helfenden Professionellen im Rahmen der Jugendhilfe und Psychiatrie tragen dazu bei, dass sich Ville ständig als Opfer, sowohl konkreter Personen, Institutionen als auch diffuser Kollektive erlebt. In diesem Zusammenhang sieht er sich als Spielball von Anderen, deren Willkür er ohnmächtig ausgesetzt ist. Seine Orientierungsverluste führen zu einer Perspektivlosigkeit, sodass er keine tragfähigen Pläne für die Zukunft entwickeln kann. Durch all diese Prozesse wird Villes Disposition gestärkt, lediglich passives Objekt und nicht Akteur seiner Bio-
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grafie zu sein. Seine Selbstwirksamkeitsüberzeugung geht schrittweise verloren, bis er die äußeren Umstände nur noch passiv erleidet, lethargisch hinnimmt und aushält. Die sukzessiv verlaufende Exklusion aus der Familie, dem Bildungs- und Hilfesystem endet für Ville vorläufig in der Wohnungslosigkeit. Auf der Straße findet er kurzzeitig Anschluss zur Punkszene, durch die er die Flucht in Rausch als Form des Eskapismus kennenlernt, um die widrigen Umstände der Straße ertragen zu können. Die Straße ist für Ville kein Ort der Freiheit oder des Abenteuers, sondern ein Ort des Aushalten-müssens. Die Straße birgt keine Faszination, sondern ist der Inbegriff der Lethargie, der Passivität und der Ohnmacht, gewissermaßen die Manifestation des Erleidens. Zentrale Momente in Villes Biografie sind Diskontinuität und sukzessive Exklusion: Diskontinuität in Hinsicht verlässlicher Bezugspersonen, familiärer Konstellationen, gewohnter Lebensverhältnisse und Lebensräumen sowie sukzessive Exklusion aus familiären Bezügen, Bildungsorganisationen und Hilfeangeboten.
5.2 Albert – „Also ich hab’ da immer sone Selbstbestimmtheit, sone Freiheit gesehen“ Bei dem Erzähler handelt es sich um den 28-jährigen Albert, der zum Zeitpunkt des Interviews in einer Hilfeeinrichtung für Wohnungslose in einer deutschen Großstadt lebt. Seine Arme sind mit auffälligen Symbolen, Bildern und Schriftzügen tätowiert. Das Gespräch fand in einem kleinen Büro eines Mitarbeiters statt, welches mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden ist. Da Albert in der Küche der Einrichtung aushilft, musste er das Interview nach knapp einer Stunde abbrechen, um das Mittagessen vorzubereiten. Am Nachmittag desselben Tages haben wir uns für den zweiten Teil des Interviews getroffen.
5.2.1 Biografische Kurzbeschreibung Albert wird 1988 in einer deutschen Großstadt geboren. Der Vater, ein freischaffender Künstler, verlässt seine Frau, die halbtags als Erzieherin arbeitet, als Albert drei Jahre alt ist. Aus seiner Kindheit und Jugend erfährt der Zuhörer relativ wenig. Albert wächst bei seiner Mutter auf, besucht ein Gymnasium, muss die zehnte Klasse wiederholen, schließt mit dem Abitur ab und leistet anschließend seinen Zivildienst. Dann beginnt er ein Kommunikations-
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designstudium, wechselt jedoch nach einem Semester zu Kunstgeschichte. Er immatrikuliert sich für diesen Studiengang nur aus dem Grund, in seiner beruflichen Orientierungsphase weiterhin BAföG Leistungen und Kindergeld zu erhalten sowie in der Familienversicherung zu bleiben. Albert entscheidet schließlich, zu den Fächern Kunst und Philosophie zu wechseln und diese auf Lehramt zu studieren. Nach fünf Semestern hängt er mit den zu erbringenden Studienleistungen so weit hinter den Vorgaben, dass er – zusätzlich bedingt durch die drei Studiengangwechsel – seinen BAföG Anspruch verliert. Als er sein Studium ohne Abschluss aufgibt, verliert er seine Wohnung im Studentenwohnheim und zieht zu seinem Vater und seiner Großmutter in ein anderes Bundesland. Dort lebt er isoliert von seinen Freunden in dem eigentlich als Atelier genutzten, nicht beheizbaren Teil des Anwesens, erledigt Hausarbeit und kümmert sich um seine Großmutter. Laut seiner Aussage ist er dadurch so ausgelastet, dass er sich nicht um eine eigene Wohnung, Ausbildung oder Arbeit bemühen kann und zeitweise Arbeitslosengeld II bezieht. Das Verhältnis zu seinem Vater verschlechtert sich mit der Zeit, bis Albert beschließt, einen Rucksack zu packen und ohne Ziel aufzubrechen. Er lebt daraufhin einige Nächte an verschiedenen Bahnhöfen, kommt zeitweise bei Freunden oder seiner Mutter unter, bleibt aber nirgendwo für eine längere Zeit. Als er wieder in einem Bahnhof übernachtet, wird er von der Polizei aufgegriffen und da er mittlerweile unter starken Depressionen leidet, in eine psychiatrische Klinik gebracht. Wie lange er dort bleibt geht aus dem Interview nicht hervor. In dieser Zeit lernt er eine ältere Frau kennen, die ihm anbietet, nach seiner Entlassung in ihre Wohnung zu ziehen, bis ihre Therapie beendet ist. Dieses Angebot nimmt er zwar an, entscheidet sich nach kurzer Zeit jedoch dazu, die Wohnung ohne Schlüssel, Handy oder etwas, dass ihm eine Rückkehr ermöglichen würde, zu verlassen. Infolgedessen lebt er wieder einige Zeit auf der Straße. Bei einer Polizeikontrolle wird festgestellt, dass ein Haftbefehl aufgrund fehlender Zahlungen für Vandalismus im Studentenwohnheim vorliegt. Daraufhin muss Albert 30 Tage in Haft, wo er durch einen Sozialarbeiter von der Hilfeeinrichtung für Wohnungslose erfährt, in dem Albert nach seiner Freilassung bis zum Zeitpunkt des Interviews lebt.
5.2.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung Das erste Interview mit Albert dauert ungefähr 56 Minuten, die Fortsetzung am Nachmittag etwa eineinhalb Stunden. Davon entsprechen etwa 48 Minuten der Haupterzählung, die sich in 14 Segmente unterteilen lässt. Darüber hinaus
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sind vier Segmente aus dem immanenten Nachfrageteil für Alberts Weg in die Wohnungslosigkeit von besonderem Interesse. In zwei dieser Segmente schildert er die Faszination Straße, das Ausleben subkultureller Werte und alternativen Szenen, in einem weiteren Segment stellt er dem die Widrigkeiten der Straße gegenüber und schließt mit einem, evaluativen, reflexiven Segment zum Thema Straße ab. Albert strukturiert die Haupterzählung um seine Bildungsbiografie – insbesondere sein Studium mit einigen Fachwechseln, den daraus resultierenden Schwierigkeiten und um die Entfremdung von seinen Freunden. Seine Bekanntschaften und relevante Personen werden (mit wenigen Ausnahmen) ohne detaillierte Beschreibungen der Charakterzüge in die Erzählung aufgenommen. Albert nennt keine Namen und entpersonifiziert die Akteure teilweise komplett, in dem er vom Kontakt zu „dieser Person“ (IA 238) spricht. Die Chronologie seiner Erzählung ist relativ stringent, große zeitliche Sprünge oder Brüche finden sich nicht. Segmente, die als soziale Rahmen mit einem drastischen Anstieg der Detaildichte besonders hervorstechen, finden sich in der Haupterzählung nicht. Stattdessen bleibt die Dichte seiner Erzählung annähernd konstant. Wie bereits erwähnt ist neben der Haupterzählung der immanente Nachfrageteil von besonderem Interesse, in dem Albert ausführlich über die Faszination und Widrigkeiten von Wohnungslosigkeit und der Straße reflektiert.
5.2.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung Erzählstimulus und Ratifizierung (Z. 1–41) Albert wird zu Beginn des Interviews aufgefordert, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er ratifiziert den Erzählstimulus jedoch nicht sofort, sondern es entsteht eine kurze Aushandlungsphase, in der Albert zu ergründen versucht, welcher Zeitraum seiner Biografie für den Zuhörer überhaupt interessant sei. Danach beginnt er seine Erzählung mit einer kurzen Schilderung seiner Familiensituation. Wir waren keine Familie von Großverdienern (1. Segment, Z. 41–68) „A.: ähm, ja so ich bin eigentlich auch in [namen einer deutschen großstadt] auch aufgewachsen, also äh, auch hier zur schule gegangen, hab auch äh, hier mein schulabschluss gemacht, also äh, abitur, äh, 2009 war das. ähm (-) äh (--) hab zu dem zeitpunkt eigentlich gar nich so, solche probleme gehabt, also ich mein ich, äh [räuspert sich] vom, äh, familiärer seits, ähm, äh, komm ich eh aus ner familie wo jetz äh, jetz keine, äh großverdiener dabei sind, also weder von meinen eltern noch verwandten her, also äh, das einzige war wohl irgendwie ne weit entfernte
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tante so, die, n reichen mann geheiratet hat oder so irgendwie, also jetz grad grad meine mutter, mein vater die beide schon seit ich drei bin getrennt waren, also ich bin bei meiner mutter aufgewachsen […] ähm, die, äh, ja, also, also meine mutter, is halt erzieherin, hat halbtags gearbeitet, also arbeitet halbtags, äh, ähm, mein vater is freischaffender künstler, also freiberuflicher künstler, das is auch sone sache, dass das zwar ihm spaß macht unso, aber halt ähm, sehr, unsicher is, wann ma da aufträge bekommt oder wann ma da halt wirklich da seine arbeit zu geld äh umwandeln kann sozusagen. das äh, ja also so gesehen, schon immer, also jetz nich (-) arme verhältnisse oder so, aber nich irgendwie großartig (-) finanziell stark einfach, also das hat dann auch beim studium äh, bisschen probleme auch gegeben, also dass ich auf jeden fall bafög beantragen musste um überhaupt, also ich, ich hab n studium halt nich abgeschlossen, aber ich hab, äh, angefangen zu studieren, jetz bis das jetz halt aufgetreten is, diese, äh, (-) diese zeitspanne hier (Interview Albert, Z. 41–68).
Albert eröffnet seine Erzählung, indem er nüchtern die Familiensituation schildert und zu Beginn den Fokus auf das institutionelle Ablaufmuster seiner Bildungsbiografie legt. Seine gesamte Schulzeit und die Trennung der Eltern, eigentlich prägende Ereignisse für ein Kind, schildert er jeweils in einem Satz ohne Einzelheiten zu nennen. Seine ersten 19 oder 20 Lebensjahre fasst er in wenigen Zeilen zusammen und der Zuhörer erfährt keine Details über Alberts Freunde, weitere Verwandte oder erwähnenswerte Ereignisse während seiner Kindheit und Jugend. Seine Formulierungen, in seiner Familie seien „keine großverdiener“ (IA 47) gewesen und sie waren „nich irgendwie […] finanziell stark“ (IA 63) können wahrscheinlich als euphemistische Umschreibungen für eine prekäre finanzielle Situation interpretiert werden. Die Vermutung liegt nahe, dass bei einem freischaffenden Künstler als Vater und einer halbtags als Erzieherin arbeitenden Mutter das Geld knapp gewesen ist. Ohnehin spielt das Einkommen und die prekäre, unsichere Beschäftigung seiner Eltern eine dominante Rolle in diesem ersten Segment bei der Beschreibung seiner Familiensituation. Neben dieser Relevanzsetzung erfährt der Leser bereits von einer Ambivalenz, die Albert häufig im weiteren Verlauf seiner Erzählung beschäftigen wird. Am Beispiel seines Vaters wird ihm vor Augen geführt, dass ein Leben als Künstler einerseits Spaß und Selbstverwirklichung verspricht, andererseits schwer mit einem Familienleben und den daraus resultierenden Anforderungen („sehr unsicher is, wann ma da aufträge bekommt oder wann ma da halt wirklich da seine arbeit zu geld äh umwandeln kann“ (IA 59–61)) zu vereinbaren ist. Dies resultiert in der paradoxen Disposition Alberts, einerseits ein hohes Sicherheitsbedürfnis zu haben und Verlässlichkeit seiner signifikanten Anderen zu fordern, andererseits nach größtmöglicher Freiheit und Selbstverwirklichung zu streben. Die finanziellen Probleme in der Familie nutzt Albert als Übergang zum zweiten Segment, in dem er etwas detaillierter den Beginn seiner Studien-
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zeit schildert und bereits voranstellt, dass er in dieser Zeitspanne auf BAföG Leistungen angewiesen war. Ich hätte ein guter Lehrer sein können (2. Segment, Z. 69–161) Im zweiten Segment schildert Albert den weiteren Verlauf seiner Bildungsbiografie, die Zeit der Berufs- bzw. Zukunftsorientierung und den Beginn sowie die Wechsel verschiedener Studiengänge. Albert ist zu Beginn seines ersten Studiums bereits 20 oder 21 Jahre alt, da er die zehnte Klasse wiederholen musste und seinen Zivildienst abgeleistet hat. Im Vergleich zum ersten Segment, erzählt Albert etwas ausführlicher über die Lebensphase während des Studiums und die Prozessstruktur seiner Ausführungen wandelt sich von einem institutionellen, zu einem biografischen Handlungsmuster. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass er sorgfältig und mithilfe verschiedener Expansionszapfen seine Entscheidungen differenziert erklärt. Da das zweite Segment dementsprechend lang ist, soll dies an einem Beispiel veranschaulicht werden: „ähm un dann dacht ich dann erst, ja das wär ne sehr gute sache, weil erstens lehrer n sicherer job is und zweitens ähm (-) kunstlehrer wo ich auch wirklich dachte, das könnte mir liegen, also vom äh, ich bin jetz glaub ich nich so, das pädagogik ass an sich, aber ähm, ich, äh ich, also ich hab, zum beispiel, ähm, als ich 15 war oder so, ne so mit 17 hab ich dem vermieter, vom vermieter sein sohn, äh übern relativ langen zeitraum klavierunterricht gegeben, weil ich selber auch, äh, (-) ich glaube sechs jahre auch, äh, aktiv auch klavier gespielt gespielt hab, auch mit unterricht un auch theorie un alles, un auch immer noch könnte jetz un äh, der ähm, war eigentlich ziemlich, also kam eigentlich immer ziemlich gerne äh zu mir in den unterricht gegangen, also der äh, hat sich immer drauf gefreut un wollte am ende nich mehr weggehen […]“
Um die Übersichtlichkeit zu wahren, fehlt in dem Ausschnitt Alberts Erklärung, warum er sein erstes Studium abbricht und sich, obwohl er kurzzeitig mit dem Gedanken spielt, gegen eine Ausbildung entscheidet. Er stellt im Verlauf seines Kommunikationsdesignstudiums fest, dass ihm die angestrebte Möglichkeit der kreativen Entfaltung in diesem Fachgebiet wahrscheinlich verwehrt bleibt und die berufliche Perspektive eher strikte Auftragsarbeiten nach Vorgaben, als freie künstlerische Gestaltung bietet. Aus diesem Grund beendet er nach einem Semester sein Studium und spielt mit dem Gedanken, eine Ausbildung zu beginnen. Dies erklärt er damit, dass in seiner Familie bis dato niemand einen akademischen Abschluss erwerben konnte. Albert befürchtet jedoch, mit Abitur und angefangenem Studium würde er in handwerklichen Betrieben als zu überqualifiziert und nicht belastbar wahrgenommen.
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Dass seine Wahl schließlich auf ein Lehramtsstudium mit den Fächern Kunst und Philosophie fällt, erklärt er mit drei Aspekten. Erstens ist die Sicherheit des Lehrerdaseins verlockend, da er durch seinen Vater die Entbehrungen eines freischaffenden Künstlerdaseins kennen gelernt hat und zweitens hofft Albert, seine Leidenschaft für Kunst mit seinem Beruf verbinden zu können. Er verwendet drittens die Rückblenden zu seinen Erfahrungen als Klavierlehrer und Besuche in der Kindertagesstätte seiner Mutter als Hintergrundkonstruktion, um dem Zuhörer seine vermeintliche Eignung für einen pädagogischen Beruf und Arbeit mit Kindern zu verdeutlichen. Seine berufliche Suchbewegung scheint maßgeblich durch den Konflikt seiner Eltern und deren berufliche Perspektiven beeinflusst zu sein. Künstlerische, freie Entfaltung und Selbstverwirklichung ist Albert außerordentlich wichtig, weshalb er die Position seines Vaters versteht und teilweise Partei für ihn ergreift, auch wenn dies unsicheres, wenig planbares Einkommen für die Familie bedeutet. Er sehnt sich trotzdem nach einem sicheren Beruf mit festem Einkommen, um nicht in prekären Verhältnissen verbleiben zu müssen. Die Probleme, die zu meiner Obdachlosigkeit geführt haben (3. Segment, Z. 161– 175) „da kommen jetz die probleme, die zu meiner obdachlosigkeit geführt haben, so zum einen so gut wie gar keine finanzielle unterstützung von zuhause aus bekommen können, das war wirklich nur, bei, wenns ma wirklich knapp war irgendwo, dass ich da dann fragen konnte, ähm, also äh, das heißt ich hab, ich hab äh, bin normal zur uni gegangen und hab währenddessen zwei drei mal die woche gearbeitet. äh, so dass ich halt, äh, auch wirklich die 400 euro die man als äh, also in nem nebenjob verdienen darf, steuerfrei im monat, also dass ich die erreiche. also dadurch sehr wenig freizeit gehabt, weil du kenns das ja selber, wenn jetz noch uni, is jetz nich so dass ma da dann irgendwie mittag nach hause kommt und (-) kopf ausschalten kann erstmal, sondern da gehts dann halt weiter, quasi, ja, hm, ähm, also ja, äh, sonst is das jetz zu lang. also zum einen der finanzielle aspekt, dass da halt, das eigentlich nur über bafög und ziemlich viel arbeiten neben her ging“ (Interview Albert, Z. 161–175).
Albert leitet den nächsten Abschnitt mit den Worten ein: „da kommen jetz die Probleme, die zu meiner Obdachlosigkeit geführt haben“ (IA 161–162)). Er nutzt dies als Präambel, um den Fokus auf insgesamt drei Aspekte zu legen, die aus seiner Perspektive für seine Wohnungslosigkeit verantwortlich sind und dieses sowie die nächsten beiden Erzählsegmente bestimmen werden. Wird die Detaildichte und der Umfang betrachtet, die Albert diesen Problemen in seiner Erzählung gewährt, kann augenscheinlich eine Hierarchie derselben festgestellt
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werden. Zunächst spricht er die prekäre finanzielle Situation an. Da er von seinen Eltern keine, bzw. nur selten Unterstützung in dieser Form erhält, muss Albert neben seinem Studium arbeiten und ist von den BAföG Leistungen abhängig. Seine finanzielle Situation identifiziert er als eine, aber nicht die gewichtigste Ursache seiner Wohnungslosigkeit. Daneben sind, wie die folgenden zwei Segmente zeigen werden, das Verhältnis zu seinen Freunden sowie die Trennung von seiner Freundin für ihn relevant und eng mit dem Eintritt in die Wohnungslosigkeit verbunden. „Freunde“ (4. Segment, Z. 179–221) „un dann der nächste aspekt war, dass ich zu dem zeitpunkt noch ne ziemlich klare vorstellung von meiner lebensplanung hatte. ähm, die auf äh, vor allem halt auf vielen zusagen von äh, freunden, äh und ausm familienkreis auch basiert hat auch, äh, was, wie ich dann nachher feststellen musste, mein größter fehler war, dass ich mich da wirklich auf andere leute verlassen hab. wo ich eigentlich sage, dass ich, also, äh, wo ich vielleicht auch einfach vom typ her n bisschen zu, zu naiv und gutmütig bin, dass ich mich darauf auch verlassen wollte, weil mir das halt auch, grad freunde für mich auch schon immer irgendwie n hohen stellenwert hatten. dadurch, dass äh, ja, ich wie gesagt nur bei meiner mutter aufgewachsen bin, die dann äh, äh, einmal in der woche teambesprechung hatte, also den ganzen tag nich da war, wenn ich mittags zuhause war, äh, plus meine großeltern sind schon sehr alt, also meine oma is jetz mittlerweile 98 glaub ich schon, un die un die, da meine mutter damals auch schon früher als ich, keine ahnung als teenager, dass sie dann mittags da öfter hin gefahren un ich hab halt, äh, meine nachmittage immer bei nem freund verbracht so. das heißt freunde waren für mich, sind für mich immer wichtig gewesen, äh, und mit den hat ich dann auch, ja genau, viel ausgemacht, ähm, was wir zum einen noch werden zur studentenzeit, eigentlich machen wollten, grade an künstlerischen projekten unso der eine freund war sehr, äh, filmisch begabt, also, äh, wollte auch ursprünglich filmwissenschaften studieren, ähm, hat es aber gelassen aus ähnlichen gründen, wie bei mir das mit dem kommunikationsdesign nich geklappt hat. ähm, nur dass das bei filmwissenschaften wohl noch extremer is. also das is, äh, das is zwar super interessanter studiengang, aber berufsaussichten gehn halt gegen null quasi […] und ähm, der hat ähm, mit dem zusammen wollte ich eigentlich ziemlich viele projekte umsetzen, also, äh, so in die tat umsetzen ja. das, äh, hat sich alles irgendwie verlaufen. irgendwann so am anfang war die freundschaft auch grade sehr auch (-) auf ner intellektuellen basis, so, also wir haben halt auch viele ideen un konzepte un so ausgetauscht. un dann später wars halt eigentlich nur noch, ma hat sich halt nur noch getroffen irgendwie mal am wochenende, also ich hab in [name einer deutschen großstadt] studiert. ähm in so ner [name eines regionaltypischen getränkes] kneipe da irgendwie son [name des regionaltypischen getränkes] zu trinken und äh, das hat mich son bisschen enttäuscht, dadurch hab ich dann eh schon son bisschen angefangen an meiner zukunftsvorstellung die ich da hatte zu zweifeln“ (Interview Albert Z. 179–221).
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Anhand des leichten Anstieges der Detailreiche und dem Anführen von konkreten Beispielen wird deutlich, dass die Veränderung der Beziehung zu seinen Freunden einen hoch relevanten Faktor für Veränderungen in seiner Biografie darstellt. Er betont zwei Mal („grad freunde für mich auch schon immer irgendwie n hohen stellenwert hatten“ (IA 187–188) und „das heißt freunde waren für mich, sind für mich immer wichtig gewesen“ (IA 196–197)) die Bedeutung von Freundschaften. Zusätzlich erzählt Albert rückblickend, dass er in seiner Kindheit und Jugend oft seine Mittage bei Freunden verbracht hat, da seine Mutter kaum Zeit für ihn hatte. Mit eben diesen Freunden, die für ihn eine Art von Familienersatz darstellen, hatte Albert klare, gemeinsame Zukunftspläne und Konzepte entwickelt. Mit der Zeit verändert sich der Kontakt und die Intensität der Freundschaft („so am anfang war die freundschaft auch grade sehr […] auf ner intellektuellen basis“ (IA 213–214) zu „sich halt nur noch getroffen irgendwie mal am wochenende [um was zu trinken]“ (IA 215–216)). Die Freunde, die eigentlich eine Art Familienersatz und Garant für eine erstrebenswerte Zukunft waren, entwickeln sich zu Gelegenheitsbekanntschaften, die sich ab und zu in einer Bar treffen. Es kann nur spekuliert werden, ob Albert die ganze Zeit mehr in die Freundschaft projiziert hat, als seine Peergroup, aber nach seinen Ausführungen kann nachvollzogen werden, warum er unter der Erosion dieser Gemeinschaft leidet. Durch diese dramatisch erlebte Enttäuschung durch signifikante Andere werden bisherige Förderer von Albert zu unkooperativen Opponenten umkategorisiert. Damit einhergehend ist dies die Stelle in seiner Erzählung, in der eine Veränderung aus einem biografischen Handlungsschema („zu dem zeitpunkt noch ne klare vorstellung von meiner lebensplanung hatte“ (IA 180–181)) das Verlaufskurvenpotential („hat sich alles irgendwie verlaufen“ (IA 212) und „dadurch hab ich dann eh schon son bisschen angefangen an meiner zukunftsvorstellung die ich da hatte zu zweifeln“ (IA 221–222)) offenkundig wird. Interessant hierbei ist, dass der Wandel seiner Biografie mit dem Wandel seiner sozialen Beziehungen einhergeht. Im Kollektiv und in Verbindung mit den festen Zusagen seiner Freunde ist Albert handlungsfähig. Auf sich alleine gestellt kann er keinen alternativen Lebensplan entwerfen und verliert seine Handlungsmacht zumindest teilweise. Seine Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsunfähigkeit ist eng mit Anderen verbunden. Generell finden sich in Alberts Erzählung wenige Stellen, in denen Menschen ihm Handlungsfähigkeit ermöglichen, sie werden eher als hemmende Faktoren eingeführt.
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Die wahre, richtige Liebe (5. Segment, Z. 222–255) „ähm, dann kam noch eine sache dazu, also dass ich äh (-), gegen ende der schulzeit ne freundin hatte, mit der, die allerdings nich in [name einer großstadt] gewohnt hat, sondern bisschen weiter weg, und äh (-) das allerdings damals laut unseren beiden aussagen wirklich so die (-) wirklich so die (--) wahre richtige liebe, einzige liebe so mäßig war, ähm, (-) und wir dann zwar schluss gemacht haben wegen dem äh, äh, wegen der entfernung, aber mit dem hintergrundgedanken, äh, wenn wir beide so weit selbstständig sind, dass wir das beide selbst in die hand nehmen können, dass wir uns dann auf jeden fall, also es kann ja passieren, dass es passieren kann, also nich unbedingt direkt wieder zusammen kommen, aber auf jeden fall wieder in kontakt zu treten, falls das bis dahin aufgehört hat, also wir sind danach auch erstmal in kontakt geblieben irgendwie. bis dann irgendwie bis jetz vor vier jahren die situation, dass ich jetz, äh obdachlos bin unso is jetz seit eineinhalb jahren und vor zwei jahren hat so im allgemeinen der ganze stress angefangen, un, äh zwei jahre davor ungefähr hat der kontakt zu dieser person aufgehört, die äh, halt (-) ja auch die ganze zeit in meiner leben’ also das war auch unter anderem, ähm, äh, der grund warum ich äh, son bodenständiges leben un studiengang un so angestrebt hab= […] =weil meine ursprünglichen pläne so mit 16, zwischen 16, 18, 19 so war ich echt noch überzeugt davon, dass ich irgendwie einfach äh, später son, äh, also lebenskünstler kann ma das glaub ich nennen, also jetz nich in dem sinne, so survival mäßig oder irgendwas= […] =sondern einfach, dass ich viel, also ich hab wie gesagt auch musik un kunst, also beziehungsweise auch kreative sachen, die man halt dann in sonem’ in soner lebens äh, ähm, (--) lebensdarstellung gut ausleben kann“ (Interview Albert, Z. 222–255).
Im fünften Segment erzählt Albert vom Verlust seiner Freundin, dem dritten Aspekt, den er für seine Wohnungslosigkeit verantwortlich macht. Neben seinen Freunden hat Albert eine gemeinsame Zukunft mit dieser Frau geplant. Er kennt sie seit der Schulzeit und Albert interpretiert die Trennung während des Studiums nur als Trennung auf Zeit, aufgrund der großen räumlichen Distanz. Er ist fest davon überzeugt, dass sie später, wenn beide „so weit selbstständig sind“ (IA 229) wieder ein Paar werden, da es sich schließlich um „wirklich so die […] wahre richtige liebe, einziege liebe […]“ (IA 225–227) handelt. Wie viel ihm seine (Ex-) Freundin bedeutet, zeigt sich daran, dass Albert bereit wäre, auf ein Leben als Lebenskünstler, der sich mit Musik und Kunst seinen Lebensunterhalt verdient, zu verzichten und stattdessen ein „bodenständiges leben un studiengang“ (IA 240–241) anzustreben. Daran wird auch klar, dass er nicht davon ausgegangen ist, dass die Beiden nach der Trennung sporadisch „in kontakt treten“ (IA 232), sondern er sich eine gemeinsame Zukunft als Paar vorgestellt hat. Der Ablauf ist dabei mit dem vorherigen Interviewabschnitt, der Lebensplanung gemeinsam mit seinem Freundeskreis und die schließliche Umkategorisierung von Förderern zu unkooperativen Opponenten, zu vergleichen.
5.2 Albert – „Also ich hab’ da immer …
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Hier wird erneut die Diskrepanz zwischen ihm und seinen Bezugspersonen hinsichtlich der Verbindlichkeit von jugendlichen Abmachungen deutlich. Während Albert davon ausgeht, dass er mit seiner Freundin und seinen Freunden eine gemeinsame Zukunft hat und dementsprechend plant, verändern sich deren Lebensentwürfe. Interessant ist darüber hinaus, dass auch von der Freundin Beschreibungen oder Details fehlen, Albert spricht von ihr als „freundin“ oder sogar nur von „dieser person“ (IA 263). Auf diese Weise entpersonifiziert er sie und vermeidet es, sie direkt anzusprechen. Obwohl sie nicht mit Namen und/ oder erläuternd-beschreibenden Aktivitäten in die narrative Darstellung eingeführt wird, wie es für einen Ereignisträger üblich wäre, zählt die Freundin (wie auch die Freunde, für die dasselbe gilt) zu dieser kognitiven Figur, denn Albert verbindet sie eindeutig mit Veränderungs- und Wandlungsprozessen in den Ereignissen seiner erzählten Geschichte. Die Freunde/ Freundin sind in seiner Erzählung als zentrale Ereignisträger in Prozesse des Erleidens eingebunden, indem Alberts Handlungsfähigkeit, die eng mit diesen Personen gekoppelt ist, durch Veränderungen in den Beziehungen und anschließende Umkategorisierungen seitens Albert erodiert wird. Dieses Segment wird von einer Hintergrundkonstruktion unterbrochen, da Albert offenbar das Bedürfnis hat, weiter auf seinen inneren Zwiespalt zwischen künstlerischer Selbstentfaltung und alternativem Lebensstil zu einem sicheren, bodenständigen Leben einzugehen. Die Ereigniskette (finanzielle Situation, Verrat der Freunde, Verlust der Freundin), die seine Handlungsmacht weiter untergräbt und den Übergang zu einer Verlaufskurve verdeutlicht, wird im siebten Segment wiederaufgenommen. Vernunft vs. Kunst (6. Segment, Z. 252–298) „also ich hab wie gesagt auch musik un kunst, also beziehungsweise auch kreative sachen, die man halt dann in sonem’ in soner lebens äh, ähm, (--) lebensdarstellung gut ausleben kann. also, ja dass äh, äh wusst ich aber dann, grad von meinem vater her, der äh, äh, zwei mal dann versucht hat ne beziehung aufzubauen, was aber beides mal nich geklappt hat, weil er halt als künstler ähm, ja irgendwie n ganz anderes leben führt. da is zum einen die finanzielle unsicherheit, zum anderen arbeitet er zuhause ja auch, also äh, so im atelier, aber is dann auch am arbeiten tagsüber, was weder meine mutter, noch seine zweite frau, aus der auch meine halbgeschwister entstanden sind, dass wenn er da dann am malen is, dass er dann nich, also man kann nich, wenn man grad an der leinwand steht, n bild malt, mal grad in der küche irgendwie helfen un dann mit äh, fettigen händen an die leinwand gehen. dann is direkt das bild kaputt, was irgendwie, ja find ich zumindest, plaus’ äh verständlich klingt= […] =aber grade seine zwei frauen überhaupt nich verstehen konnten. so dann das hab ich halt da mitbekommen. und äh, ja, hatte mich deshalb
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dann eigentlich, für den, also deshalb und aufgrund der aussagen von diesem einen freund von dem ich schon erzählt hab, dass er, äh, also mit den, den leuten hab ich halt auch am meisten darüber geredet also über diese problematik, äh, der äh hat gemeint ja, dass äh, warum wills du in der gegend rumziehen und irgendwie so, son son (-) vagabunden künstler lebensstil leben, bleib doch lieber hier, also war zu dem zeitpunkt in, in im allgemeinen freundeskreis so die allgemeine meinung, dass die meisten hier im raum, äh [die region] bleiben wollten. […] ähm, äh und die ja, wir haben gemeint, ja wir können ja dann immer noch so, ähm, währenddessen so wie jetz in den semesterferien un später einfach, äh, äh, in zusammenarbeit mit deiner, also wenn ich dann an der schule irgendwelche projekte angeboten hätte, hätte ma die ja auch mit denen zusammen aufziehen können, dass is ja auch irgendwie n, also ein kreatives äh, kreatives ausleben. und ja ähm, ich hier halt auch ne freundin hatte’ also zu dem zeitpunkt noch, äh, noch ne band hatte, sogar auch in der ich gespielt hatte, die dann auch allerdings ziemlich komisch ausgelaufen is am ende (-) ähm, von den drei hauptmitglieder halt immer, also jede woche von einem äh, ne nachricht an die andern beiden kam, ja äh, diese woche müssen wir aber echt ma wieder was machen, sons wird das nix mehr. das lief n paar monate so, dass es jede woche n anderer geschrieben hat un dann war es irgendwann auch vorbei“ (Interview Albert, Z. 252–298).
In diesem Segment ist der Expansionszapfen, in dem Albert von der Situation seines Vaters und den Konflikten in dessen Beziehungen als Hintergrundkonstruktion erzählt, dominant. Die Situation seines Vaters spiegelt Alberts inneren Widerspruch und immer wieder auftauchende Ambivalenz: Einerseits möchte sich Albert künstlerisch frei entfalten und als Lebenskünstler fern von Konventionen leben, andererseits hat er die Schattenseiten eines solchen Lebensstils („als künstler ja irgendwie n ganz anderes leben führt“ (IA 257–258)) kennen gelernt. Er hat unmittelbar erlebt, wie ein unregelmäßiges Einkommen eine prekäre finanzielle Situation zementieren kann und welches Konfliktpotential diese Lebensführung in eine Familie bringt. Den Partnern wird abseits des finanziellen Aspekts, wegen der unregelmäßigen Arbeitszeiten und des speziellen Lebensstils eines Künstlers, eine Menge Verständnis abverlangt. Neben diesen familiären Erfahrungen versuchen ihn seine damaligen Freunde auch davon zu überzeugen, ein bodenständigeres Leben anzustreben: „warum wills du in der gegend rumziehen und irgendwie so, son son (-) vagabunden künstler lebenssil leben, bleib doch lieber hier, also war zu dem zeitpunkt in, in im allgemeinen freundes kreis so die allgemeine meinung, dass die meisten hier im raum, äh [die region] bleiben wollten“ (IA 277–281)).
Dies überzeugt Albert, ein Lehramtsstudium aufzunehmen. Mit der Figur des „vagabunden künstler lebensstil“ (IA 278) taucht in diesem Segment zum ersten
5.2 Albert – „Also ich hab’ da immer …
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Mal zumindest implizit seine Vorstellung von einem Leben auf der Straße auf, welches eindeutig positiv konnotiert ist: ungebunden und ohne Verpflichtungen umherzuziehen, seinen Lebensunterhalt durch Musik und Kunst zu finanzieren sowie das größtmögliche Maß an Freiheit und Selbstverwirklichung zu genießen. Die Entscheidung, von einem solchen Leben abzusehen, externalisiert Albert zu seinem Freundeskollektiv („war zu dem zeitpunkt in, in im allgemeinen freundeskreis so die allgemeine meinung“ (IA 279–280)), woran wieder deutlich wird, dass Alberts Handlungsmächtigkeit an seine Peergroup gebunden ist und er die Steuerung seines Lebensverlaufs bisher zumindest teilweise externalisiert. Obwohl Albert selbst unter den Umständen des Lebensstils seines Vaters, insbesondere der prekären finanziellen Situation, gelitten hat, ergreift Albert Partei für ihn. Aus der Formulierung, dass die „zwei frauen überhaupt nicht [den Lebensstil des Vaters] verstehen konnten“ (IA 271–271), geht hervor, dass Albert dessen Lebensentwurf im Gegenteil versteht und sogar als erstrebenswert erachtet. Wie seine Freunde und Freundin tauchen in diesem Segment Alberts Halbgeschwister ohne weitere Details auf, sie stellen relevanten keine Ereignisträger dar. Gewaltschutzverfügung (7. Segment, Z. 302–320) „un da hab ich dann irgendwann’ un dann kam noch dazu, dass ich halt noch ja mit dieser exfreundin (-) beziehungsweise nich, ja doch exfreundin geredet hab, ähm, oder reden wollte, die ähm, äh, die mich oder uns aber anscheinend komplett vergessen hatte in der restlichen zeit, wie ich dann feststellen musste. äh, un dann, ich weiß es nich, anscheinend aus äh (--) ähm (--), scham oder sowas dann äh, dann sich nich getraut hat, garnich mehr getraut hat mir zu antworten, was dann, was ich aber erst nich verstanden hab, da ich sie über facebook kontaktiert hab und ähm, einfach keine antwort kam. ich dann so einma’ zwei dreimal pro woche, ein monat lang ungefähr, jedes mal sone kurze nachricht hatte. so irgendwie meld dich doch mal, wär cool, noch handynummer und emailadresse unso dazu geschrieben, ähm, weil ich ja auch nich wusste ob ihre emailadresse noch aktuell is. ähm ja un dann kam dann als antwort irgendwann, dass dann zwei polizisten bei mir vor der tür standen und mir die gewaltschutzverordnung, vorgelesen haben und ich unterschreiben musste, dass ich äh, zu der, äh zeugin, äh keine kontaktversuche mehr aufnehme, weil sie das eben zur anzeige gebracht hat, äh, ja und, keine ahnung, zu der zeit is alles drunter und drüber gegangen“ (Interview Albert, Z. 302–320).
Dieses Segment ist eigentlich die Fortsetzung des fünften Segmentes, in dem Albert das Ende der Beziehung zu seiner Freundin schildert. Nach einiger Zeit der Trennung – die für Albert eigentlich nur eine Trennung auf Zeit war – schreibt er seiner Exfreundin mehrmals Nachrichten, in der Hoffnung wieder in Kontakt
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zu treten. Anstelle der erhofften Antwort bekommt er jedoch Besuch von zwei Polizisten, die im Auftrag der Freundin sicherstellen möchten, dass Albert jegliche Annäherungsversuche einstellen wird und ihm die „gewaltschutzverordnung vorgelesen haben“ (IA 316). Dem Kontext nach handelt es sich dabei wohl um Schutz vor Belästigungen wie Telefonterror oder anderen Nachstellungen und Stalking nach dem Gewaltschutzgesetz (vgl. § 1 Abs. 2 GewSchG). Parallel zur zerstörten Tür fehlt es Albert auch in dieser Angelegenheit an Unrechtsbewusstsein. Im Hinblick auf die Entwicklung von einem biografischen Handlungsschema hin zu einer Verlaufskurve ist die Textstelle: „zu der zeit is alles drunter und drüber gegangen“ (IA 319–230) aufschlussreich. Daran wird deutlich, dass endgültig Chaos in die Biografie eingezogen ist und sich Albert endgültig in einer Verlaufskurvendynamik befindet. Er kann nicht mehr durch aktives Planen und Eingreifen auf seine Biografie einwirken, sondern lediglich auf die äußeren Rahmenbedingungen, die ihm von den übermächtigen Ereignissen (Rauswurf, prekäre finanzielle Situation, Verlust des Sozialen Netzes) diktiert werden, reagieren. Zwar befindet er sich noch nicht auf dem Verlaufskurvenhöhepunkt, seine Selbstwirksamkeitsüberzeugung wird aber immer weiter erodiert. Prekarisierung der finanziellen Situation (8. Segment, Z. 320–361) Im achten Segment erzählt Albert in einer kurzen Hintergrundkonstruktion, wie es zur Prekarisierung seiner finanziellen Situation kommt. Da er bereits drei Mal den Studiengang gewechselt und nicht die geforderten Studienleistungen erbracht hat („un die zwei semester die da gefehlt haben, warn die, wos dann am bafög amt stress gab“ (IA 353–354)), werden die BAföG Zahlungen an ihn eingestellt. Dabei hatte er sich zeitweise nur auf Anraten seiner Mutter eingeschrieben, um weiterhin krankenversichert zu sein und Kindergeld zu beziehen. Offensichtlich waren sie auf diese Leistungen angewiesen, was verdeutlicht, wie heikel die finanzielle Situation zu dieser Zeit war. Zwar durfte Albert das Geld, welches er im Nebenjob verdient, behalten, das Kindergeld und BAföG waren allerdings für die Miete eingeplant („also dann war die miete quasi gedeckt“ (IA 345), da Albert zu diesem Zeitpunkt noch bei seiner Mutter gelebt hat. Mit 24 Jahren zieht er schließlich in ein Studentenwohnheim, von diesem Punkt aus führt er die Erzählung im neunten Segment weiter. „Freunde II“ (9. Segment, Z. 365–385) „ähm, aber, ähm, dass das mit der freizeit zu dem zeitpunkt nich mehr so, also das normale mit freunden treffen, aufs asta sommerfest gehen, was weiß ich, ähm, am
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wochenende in irgend n club gehen wo studi night is oder sowas, so dass das nich so lief, das war mir von vorneherein schon klar, aber das dann darüber hinaus, dass ich keine musik mehr gemacht hab, keine künstlerischen projekte angegangen bin oder so, das äh, hat mir da halt schon ziemlich zugesetzt, da hab ich dann schon mit den freunden geredet, die haben, das war ziemlich unverständlich für die, so, hm, beziehungsweise, die meinten bei denen läufts im studium grade so gut, das wollen die nich aufs spiel setzen, un ich hab dann halt versucht mit denen zu reden, so ja, dann geht doch mal ein wochenende weniger im monat saufen un feiern und äh, da machen wir dann was zusammen. weil ich mit denen auch fast gar nix mehr zu tun hatte, so außer, dass man halt telefoniert oder geschrieben hat oder so aber eigentlich war gar keine, ja das war so schon nur noch ne bekanntschaft, keine freundschaft mehr und, ja das hat so im endeffekt, finanzielle sorgen, so probleme mit den zukunftsplänen auf den job bezogen plus so diese freundeskreis sache, äh, wo ich dann gesagt hab, so ich exmatrikulier mich jetz, ähm, äh, ähm (-) hab letztes jahr im (--) äh, frühjahr das erste mal über n kurzen zeitraum äh, arbeitslosengeld auch bezogen“ (Interview Albert, Z. 365–385).
In diesem Segment schildert Albert die weitere Entfremdung von seinen Freunden, die im Zusammenspiel mit der Prekarisierung seiner finanziellen Situation schließlich dazu führt, dass er sich exmatrikuliert. Durch sein Studium und den Nebenjob ausgelastet, muss Albert auf einige Freizeitaktivitäten wie „aufs asta sommerfest gehen, […] am wochenende in irgend n club gehen […]“ (IA 366–367) etc., verzichten, womit er eigentlich keine Probleme hat. Was ihm hingegen „zusetzt“, ist die Veränderung, die in seinem Freundeskreis stattfindet. Am meisten leidet Albert darunter, dass er mit seinen Freunden keine Musik mehr macht oder „künstlerische[] projekte“ (IA 370) umsetzt. Darauf angesprochen reagiert die Peergroup relativierend und ausweichend, das Studium laufe so gut, sie wollen dies nicht aufs Spiel setzen. Albert fühlt sich mit seinen Problemen nicht ernstgenommen sowie nicht wertgeschätzt, da seine Freunde keinesfalls dazu bereit sind, ein Wochenende „weniger im monat saufen und feiern“ (IA 376), um mit ihm Zeit zu verbringen. Mit der Aussage „das war so schon nur noch ne bekanntschaft, keine freundschaft mehr“ (IA 380), fasst Albert die Dynamik und Veränderung der Beziehung zusammen. Aus einem engen, in Freundschaft verbundenen Künstlerkollektiv sind Bekanntschaften geworden, die hin und wieder telefonieren und sich Nachrichten schreiben, ansonsten aber wenig gemeinsam haben. Von diesen Ereignissen betroffen, gibt er sein Studium auf und bezieht zunächst Arbeitslosengeld. Zwar spezifiziert Albert diese Information nicht, da er bis zu diesem Zeitpunkt laut seiner Erzählung nie sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, muss es sich um Arbeitslosengeld II handeln.
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Der Sohn wird zum Bediensteten (10. Segment, Z. 385–465) In diesem, vergleichsweise langen Segment erzählt Albert von dem Rauswurf aus dem Studentenwohnheim, woraufhin er zu seinem Vater und seiner Großmutter aufs Land zieht. Zum ersten Mal taucht in seiner Biografie mit der Zerstörung der Tür im Studentenwohnheim eine Form von Aggressivität auf, die zumindest dem Verlauf seiner bisherigen Erzählung nach überrascht und die Albert mit der Aussage, er habe die Tür nur „son bisschen“ (IA 388) kaputt gemacht, versucht zu relativieren. Die Konsequenz daraus ist, dass seine Studentenwohnung fristlos gekündigt wird und Albert eine alternative Unterkunft finden muss. Da seine Mutter mittlerweile einen neuen Lebenspartner gefunden hat und deren Wohnung zu klein ist, zieht Albert zu seinem Vater und seiner Großmutter in ein älteres, unter Denkmalschutz stehendes Haus in einer ländlichen Gegend in einem anderen Bundesland. Dort wohnt Albert fortan in dem als Werkstatt bzw. Galerie genutzten Teil des Hauses, der nicht beheizbar ist. Sein Vater und seine Großmutter verlangen als Gegenleistung für die Unterkunft, dass Albert sich um den Haushalt kümmert, kocht, putzt und Fahrdienste erledigt. Dadurch ist er „ganztags eingespannt“ (IA 437), sodass er es nicht schafft, sich „um ne wohnung und n job zu bemühen“ (IA 438–439). Durch die unterschiedlichen Ansichten – Albert glaubt, er ist bereits ausgelastet, sein Vater und die Großmutter meinen, er könne sich noch viel mehr am Haushalt beteiligen – entwächst ein für beide Parteien unlösbarer Konflikt. Im Rahmen der entsprechenden Erzählung schildert Albert die Charakterzüge seines Vaters als cholerisch, unberechenbar und unfähig, eine Diskussion zu führen („mein vater irgendwie […] komisch drauf […] also ziemlich (-) cholerisch un so“ (IA 448– 452) und „wenn da irgendwelche diskussionen anstanden, konnt ich da nich mit den normalen argumenten n normales gespräch führen, sondern, äh das is dann in zwei minuten umgekippt in lautes rumgeschreie und äh, stühle durchs zimmer rumgekicke“ (IA 455–456)). Hier wird wieder deutlich, wie Albert Anderen in seiner Erzählung stets hemmende Funktionen in Bezug auf seine Handlungsmächtigkeit zuschreibt, bzw. seine Handlungsmächtigkeit immer an andere Personen gekoppelt sieht. Waren es vorher die entfremdeten Freunde und seine Freundin, die die Verwirklichung seines Lebenstraums torpediert haben, sind nun die Großmutter und der Vater vermeintlich dafür verantwortlich, dass er seine Ziele und Pläne nicht verwirklichen kann. Nur ein Rucksack dabei (11. Segment, Z. 469–515) „un sollte da noch mehr machen un so un das hat da so zu sonem stress geführt, dass ich wirklich dann letztes jahr im äh, mitte april (-) ja im april einfach äh,
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ich hab einfach ein rucksack mit den sachen, wo ich wusste, also äh, die wo ich dachte, die könnt ich gebrauchen, bin einfach losgegangen hab auch’ hab weder da meim, mich da verabschiedet, noch irgendwie, noch irgend nem anderen bescheid gesagt, dass ich jetz irgendwie irgendwo anders, das ich irgendwie gesagt hätte, zu meiner mutter, ja ich komm jetz ma vorbei, das läuft hier nich, äh ich muss kurz bei euch im wohnzimmer aufm boden oder so pennen, irgendwas, äh, wenn das gegangen wäre, also das is nur ne drei zimmer wohnung, deswegen bin ich ja vorher zu meinem vater, un äh, ja hab dann irgendwie n paar nächte an bahnhöfen verbracht, äh, bin dann erstma so von [name einer deutschen großstadt] nach [name einer großstadt in einem angrenzenden bundeslandes], hab dann da paar nächte am bahnhof verbracht, äh, bis ich dann n kumpel erreichen konnte, bei dem ich dann äh, ne kurze zeit auf der couch gepennt hab, äh, wenn der freund ma nachts nich da war oder so in der zeit konnte ich dann, konnt ich da auch ganz behelfsmäßig bei meiner mutter übernachten […]“ (Interview Albert, Z. 469–515).
Unfähig, die andauernden Konflikte mit seinem Vater zu lösen, entscheidet sich Albert zur Flucht. Er packt spontan Utensilien zusammen und zieht nur mit einem Rucksack ausgestattet und ohne wirkliches Ziel los. Obwohl er die Möglichkeit hätte, für einige Nächte bei seiner Mutter und deren neuem Lebensgefährten unterzukommen, entscheidet sich Albert zunächst für die Straße, verbringt mehrere Nächte in Bahnhöfen und erlebt eine erste, kurze Episode ohne gesicherte Unterkunft durch typisches couch surfen mit wenigen Nächten tatsächlich ‚rough‘ auf der Straße. Er zieht weiter in die nächstgelegene Großstadt und verbringt erneut einige Tage am Bahnhof. Schließlich kommt er zeitweise bei einem alten Freund unter, den er explizit nicht in dem Künstlerkollektiv verordnet, sondern nur als „freizeitmäßig[en]“ (IA 489) Kumpel bezeichnet. In den Nächten, in denen er nicht bei diesem Freund übernachten kann, zieht er „behelfsmäßig“ (IA 483) zu seiner Mutter. Von den vergangenen Ereignissen enttäuscht, resümiert Albert erneut die Gründe für seine Flucht auf die Straße und bringt dieses Mal – neben den Problemen mit seinen Freunden und der Exfreundin – zusätzlich seine Familie ins Spiel, die „kalt und abweisend“ (IA 496) geworden sei. Die finanzielle Situation erwähnt er in diesem Segment nicht mehr als Grund für die Wohnungslosigkeit, der Fokus liegt hingegen auf den zwischenmenschlichen Aspekten: der Entfremdung von seiner Familie, der Verrat durch seine Freunde sowie „diese frau“, auf die er „reingefallen“ (IA 496–497) ist. Albert leidet zwischenzeitlich unter „starken depressionen“ (IA 504) und wird schließlich von der Bundespolizei aufgegriffen und in eine psychiatrische Station im ortsansässigen Krankenhaus gebracht.
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Das hat zum Glück komplett ins Chaos geführt (12. Segment, Z. 515–562) Auf die Phase in seiner Biografie, in der er episodenhaft auf der Couch eines Freundes, in der Wohnung der Mutter oder verschiedenen Bahnhöfen übernachtet, folgt ein sechswöchiger Aufenthalt in einer „nervenheilanstalt“ (IA 512), wo er von der Bahnhofspolizei hingebracht wurde. Dies ist für Albert der erste Kontakt mit dem institutionalisierten Hilfesystem und dort trifft er eine ältere Frau, eine Patientin in längerfristiger, stationärer Therapie, die ihm anbietet, nach seiner Entlassung für eine Weile in ihre Wohnung zu ziehen. Währenddessen verschlechtert sich Alberts Verhältnis zu seinen Eltern weiter, die jede Schuld an seiner Situation von sich weisen („wir haben nix versäumt dir irgendwie beizubringen, das is alles deine eigene schuld, du muss jetz selber sehen wie du zurecht komms“ (IA 528–530)). Neben dieser Schuldzuweisung und da die Mutter in dem vorangegangenen Streit Partei für seinen Vater bezieht, fühlt sich Albert nun auch von ihr verraten. Dadurch findet zum ersten Mal ein Motiv der Einsamkeit Einzug in Alberts Geschichte, welches sich zwar im Verlauf der Biografie durch die angesprochenen Konflikte angedeutet hat, aber erst mit der Aussage: „ich stand zu dem zeitpunkt schon ziemlich alleine da“ (IA 532–533) explizit wird. Aus diesem Grund entscheidet sich Albert, das Angebot der älteren Frau anzunehmen und vorerst in ihrer Wohnung zu leben. In diesem Zeitraum suchen Alberts alte Freunde wieder Kontakt, wodurch bei ihm die Hoffnung entsteht, seinen ursprünglichen Lebensplan des Künstlerkollektivs doch noch umzusetzen und dass die Entfremdung vielleicht nur auf Missverständnissen beruht haben könnte. Als er schließlich wieder der Exfreundin schreibt, die ihm eigentlich den Kontakt untersagt, eskaliert die Situation. Den genauen Hergang schildert Albert nicht, er verdeutlicht aber mit der Formulierung, „dass hat ja zum glück komplett chaos geführt“ (IA 599), wie die Verlaufskurvendynamik erneut zum bestimmenden Faktor in seiner Biografie geworden ist. Das alte Leben abschütteln (13. Segment, Z. 576–592) „also da bin ich dann, äh, abends hab ich die wohnung irgendwann dann da absichtlich ohne schlüssel einfach verlassen. bin einfach raus. hab einfach gar nix mehr mitgenommen, weil ich zu dem zeitpunkt auch eigentlich nich mehr vorhatte auf der straße zu leben, sondern ich wollte eigentlich einfach (-) vom einfluss, was mich irgendwie zurückholen könnte oder wo ich irgendwie nochn handy mit ner alten nummer von freunden oder so, wollt ich eigentlich, ich wollte einfach alles weg und wollte einfach (-) irgendwo anders hin und irgendwie, das quasi, loswerden, so abschütteln quasi, dann damit mich das nich mehr einholt. […]“ (Interview Albert, Z. 576–592).
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Auf das entstandene Chaos reagiert Albert wieder mit Flucht und verlässt die Wohnung ohne die Gegenstände, die ihm eine Rückkehr in alte Strukturen ermöglichen würden. Um gar nicht erst in Versuchung zu geraten, Kontakt zu alten Freunden aufzunehmen, lässt er sein Handy mit den gespeicherten Nummern zurück und ohne den Schlüssel ist er gezwungen, neue Wege einzuschlagen. Alberts Schilderungen zufolge sollte dieses Mal ein kompletter Neustart erfolgen, indem er versucht hat, sein altes Leben komplett hinter sich zu lassen („ich wollte einfach alles weg […] irgendwo anders hin […] das quasi, loswerden, so abschütteln quasi […] damit mich das nich mehr einholt“ (IA 566– 569)). Albert zieht es wieder auf die Straße und er übernachtet auf Bahnhöfen, wo er allerdings nach wenigen Nächten von der Polizei kontrolliert wird. Für die Beschädigung seiner ehemaligen Studentenwohnung wurde er zwischenzeitlich zu einer Geldstrafe verurteilt, wovon Albert durch die Wirren seiner vielen Umzüge nichts mitbekommen hat. Aus diesem Grund muss er für 30 Tage in Haft. Dort spricht er mit einem Sozialarbeiter über Alternativen zu einem Leben auf der Straße, sobald er wieder entlassen wird. Auf diesem Weg erfährt er von einer Einrichtung für Wohnungslose, an die sich Albert nach Ablauf seiner Strafe wendet. An Niemanden mehr gebunden sein (14. Segment, Z. 592–672) Dieses letzte Segment der Haupterzählung schildert den Zeitraum von der Haftentlassung bis heute und enthält neben einigen Reflexionen und Zukunftsüberlegungen ein Resümée seiner ‚Straßenkarriere‘. Angekommen in der Hilfeeinrichtung für Wohnungslose steht Albert zunächst vor einigen organisatorischen Problemen, wie z. B. dem Fehlen von Ausweispapieren. Diese sind jedoch binnen weniger Wochen gelöst und er geht davon aus, dass er zeitnah aus der Einrichtung in eine eigene Wohnung ziehen kann. Albert stellt jedoch fest, dass er zwar endlich frei von seiner Familie, Freunden und Partnerin ist, dadurch aber das Kollektiv fehlt, durch welches er handlungsmächtig war und welches ihm Orientierung für seine Lebensplanung gegeben hat. Aus diesem Grund steht Albert vor der Herausforderung, auf sich alleine gestellt neue Lebenswege entwerfen und einschlagen zu müssen. An diesem Punkt angelangt, unterbricht Albert diesen Erzählpfad und wechselt abrupt das Thema hin zu seinen Erfahrungen auf der Straße. Er resümiert, dass er insgesamt nur „drei bis vier Wochen“ (IA 623) tatsächlich auf der Straße gelebt hat und sich seine sonstigen Erfahrungen eher auf die Situation im Wohnungslosenheim bzw. dem couch surfing zwischen Freunden und Eltern beziehen. Ihm ist außerdem wichtig, klarzustellen, dass er zu keiner Zeit betteln musste, da er die Zeit mit seinen Ersparnissen bzw. der Unterstützung seiner Mutter überbrücken konnte.
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Interessant ist auch, dass Albert noch einige ungeklärte Probleme wie Schulden und weitere gerichtliche Auseinandersetzungen mit seiner Exfreundin hat, er aber als Hauptproblem identifiziert, dass sich „das nachdenken an sich verändert […] dass ich mir da, ähm selbst nich in allen (-) also nich mehr so von mir selbst überzeugt bin von meinen ideen […]“ (IA 641–644)). Albert realisiert, dass ein Leben frei von jeglichen Zwängen eine utopische Vorstellung ist. Es herrschen zwar unterschiedliche Zwänge in einem vermeintlich normalen, durch Erwerbsarbeit strukturierten Leben und auf der Straße, die imaginierte Freiheit findet er nirgendwo. Seine Handlungsfähigkeit, die er eigentlich durch die Flucht auf die Straße – und somit zur vermeintlichen Selbstverwirklichung hin – behaupten wollte, stellt er in der Einrichtung für Wohnungslose weiter in Frage. Seine beiden Lebensentwürfe, entweder mit seinen Freunden durch Erwerbsarbeit in kreativen Berufen strukturiertem Dasein oder völlig frei und ungezwungen als Lebenskünstler auf der Straße zu leben, haben sich als nicht realisierbar herausgestellt. Somit befindet sich Albert erneut in einer Phase der Desorientierung und Stagnation, die langsam in eine reflexive Aushandlungsphase übergeht, indem Albert über verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten sinniert. Allerdings hat ihn keine seiner Alternativen überzeugt und er beendet die Haupterzählung mit der Koda „haben sie vielleicht noch fragen?“ (IA 669) Neben der Haupterzählung sind Alberts Reflexionen zum Leben auf der Straße dahingehend aufschlussreich, dass ersichtlich wird, warum die Flucht in die Wohnungslosigkeit für ihn eine Option darstellt. Fast schwärmerisch schildert er in zwei Segmenten (z. B. IA 682–709) sein anfängliches Idealbild von einem rebellischen Dasein, unbegrenzter Freiheit sowie maximaler Selbstverwirklichung ohne Zwänge. Diese positiv konnotierten Vorstellungen konfrontiert Albert im anschließenden Segment (IA 709–757) mit der tatsächlich erlebten Realität, wobei er die Widrigkeiten, die mit einem Leben auf der Straße einhergehen, hervorhebt. In einem weiteren Segment (IA 803–925) wägt er ab, evaluiert, und resümiert aus seiner heutigen Perspektive über die Wohnungslosigkeit. Im Folgenden werden diese drei Segmente (Freiheit der Straße, Widrigkeiten der Straße und Resümée) gekürzt dargestellt und analysiert. Faszination Straße (Segmente aus den immanenten Nachfragen, Z. 681–708; Z. 1042–1062) A.: ähm, naja gut am anfang war es echt äh erstmal sehr befreiend. also ich wusste zwar dass das, ähm (-) ähm, ressourcenabhängig is, also dass das nur so lange auch nur so befreiend wirkt, äh, rüber kommt, so lange ich die ersparnisse von meinem, äh, meine restersparnisse aufm konto hab. ähm, äh, ja, hm (-) ja ich hab,
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was, was ich vielleicht auch in der zeit relativ erstmal interessant erlebt hab, is dass da einfach son stadtbild, wo man son ganz festes bild von der stadt hat, wie man sie tagsüber und vielleicht am wochenende abends vielleicht erlebt, dass sich das unter der woche nachts und abends wirklich äh fast um 180 grad drehen kann, so, also das äh, da, grade was dann obdachlose, die wirklich schon seit langem auf der straße wohnen und da gibts ja auch viele die sich dagegen wehren wieder, in so wiedereingliederungsmaßnahmen zu gehen, weil die auch gar nich damit, äh, weil die sich quasi irgendwann für dieses leben entschieden haben so, da äh, ja entsteht so ne zweite gesellschaft einfach so, die man tagsüber oder als normal (-) ähm arbeitender, normal, normaler alltagsmensch halt einfach nich mitbekommt. ähm, das fand ich sehr interessant, also, äh, hm, ja, also ich fand, deshalb und weil ich mich auch früher schon ziemlich für die punk kultur interessiert hab als jugendlicher, ähm, ob das so auch bisschen so dazu passt. also so dieses (-) ja was man auch son bisschen einfach aus den medien her glaub ich so dieses bild hat. von sonem outlaw oder so, der dann so auf der straße wohnt und äh, wenn er durst zu irgend nem brunnen geht und wenn er hunger hat äh, weiß, dass er bei dem und dem gemüsestand, äh, also bei dem un dem lebensmittelladen, steht das gemüse so, dass man sich da immer ohne probleme so einfach ein apfel nehmen könnte oder sowas. so, solche sachen so, das’ ja da ich ja auch n ziemlich kreativer mensch bin, äh, birgt das für mich schon auch ne, also auch ne gewisse faszination […] (Interview Albert, Z. 681–708).
In diesem Segment schildert Albert die Ersteindrücke seiner Anfangsphase ohne gesicherte Unterkunft. Zunächst sei die Erfahrung „sehr befreiend“ (IA 678) gewesen, wobei er direkt relativiert, dass durch seine Ersparnisse noch finanzielle Ressourcen vorhanden waren, auf die er zurückgreifen konnte. Des Weiteren sei diese erste Zeit aus dem Grund interessant gewesen, da sich das komplette Stadtbild mit der Verschiebung der Perspektive ändert und ihm Eindrücke ermöglicht hat, die einem „alltagsmensch“ (IA 694) komplett verwehrt bleiben. Dass dies durchaus einen erstrebenswerten und aktiv gewählten Lebensweg darstellt, erklärt er mit jenen Wohnungslosen, die sich „dagegen wehren […] in wiedereingliederungsmaßnahmen zu gehen“ (IA 689–690), sich für „dieses leben entschieden haben“ und so in einer „zweite[n] gesellschaft“ (IA 691–692) leben. Die von ihm gewählten Begriffe wie wehren und entscheiden suggierten dabei Intentionalität und aktives Handeln. An dieser Stelle ist darüber hinaus interessant, dass er den Begriff eines „outlaw“ (IA 699), eines Geächteten, Ausgestoßenen, bzw. Gesetzlosen und Stigmatisierten, wählt, dies aber in der Logik seiner Darstellung kongruent dem vermittelten Bild des Lebens auf der Straße, positiv konnotiert ist. Er illustriert einen Alltag voller Freiheit, ohne an Normen oder Gesetze gebunden zu sein mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Strategien. Wer auf der Straße hungrig ist, geht zu einem Obsthändler und klaut ein paar Äpfel, wer Durst hat, trinkt aus einem Brunnen. Besonders als kreativer
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Mensch seien dies wünschenswerte Vorstellungen. Er hätte immer schon eine besondere Faszination für nonkonforme Lebensstile gehabt, etwa der Punkkultur, der er eine Nähe zur Straßenszene unterstellt. Die Faszination der Straße untermauert Albert in einem weiteren Segment: „allerdings is äh grade in dieser skater kultur irgendwie (-) also vielleicht durch die verbindung mit dieser punkkultur, die ja auch sehr nah zu der obdachlosenkultur, wenn ma das so nennen kann is. da is sone gewisse verbindung, also irgendwie fand ich, also früher als jugendlicher fand ich auch punks ziemlich cool und äh, keine ahnung, hab schon, hatte schon immer sone faszination für dieses hm(::), also ja vielleicht kann man das so am besten sagen. also ich hab da immer sone selbstbestimmtheit, sone freiheit gesehen, die ich finde die man vielleicht in vielen grade berufen aufgibt. also ähm, dass es, das hab ich auch selber schon im nebenjob erlebt, wenn man in zeitarbeitsfirmen, äh, den tag über im rewe lager aufräumt, da hm, da is nix mehr viel mit selbstbestimmtheit. also da wird einem gesagt was gemacht wird, das einzige was man selbst bestimmen kann is, ob man in der zigarettenpause ne zigarette raucht oder nich so in etwa, aber das was man arbeitet, wie man arbeitet, wann man arbeitet kann man sich gar nix mehr davon aussuchen, und als naja obdachloser, der es schafft, da irgendwie damit durchzukommen äh, hat man sogesehen JEDE freiheit. also dass man nich mehr, also, man, so man is sein eigener chef, allerdings, äh nich, nich mehr chef, weil ja kein arbeitsverhältnis besteht, sondern man is halt einfach so (-) nur noch sich selbst verpflichtet“ (Interview Albert, Z. 1042–1062).
Erneut attestiert Albert der Skater- und Punkkultur eine Nähe zur Wohnungslosenszene und erklärt dies mit den verbindenden Elementen der Freiheit und Autonomie. In seinem Idealbild hat ein Wohnungsloser betont „JEDE freiheit“ (IA 1058) und ist „sein eigener chef“ (IA 1059), wohingegen durch ein Arbeitsverhältnis Fremdbestimmtheit, Einengung und Routine droht. Zwischen den Alternativen Erwerbsarbeit und einem Leben auf der Straße ist letzteres in diesem Segment ausschließlich positiv konnotiert. Im Gegensatz zu anderen Personen (Freundin/ Vater) und Gruppen (Künstlerkollektiv) in seiner Erzählung wird mit der Straße Handlungsfähigkeit assoziiert. Die Punkszene verdeutlicht ihm, dass ein Leben außerhalb gesellschaftlicher Konventionen möglich – und erstrebenswert – ist, da es Strategien gibt, um auf der Straße selbstbestimmt leben zu können. Angestellte, bzw. Menschen, die einen vermeintlich bürgerlichen Alltag leben, verlieren hingegen jegliche Selbstbestimmung und werden zu passiven Objekten. Durch das Vorleben subkultureller Werte und dem Aufzeigen von Optionen nehmen die Punks eine Vorbildfunktion in Bezug auf Alberts zukünftige Lebensentwürfe ein.
5.2 Albert – „Also ich hab’ da immer …
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Widrigkeiten und Reflexion der Straße (Segmente aus den immanenten Nachfragen, Z. 709–757; Z. 803–921) „es is auf jeden fall auch schon sehr hart. also ich mein das, das normale gesellschaftliche leben is ja, besteht ja wirklich zum größten teil daraus, dass man absicherung für viele fälle hat, dass da gar keine notsituation eintreten oder ähnliche sachen aber ähm, naja das konnte ich dann oder hab ich’ ich weiß nich ob zum glück oder leider, nich, also nich erfahren. so in dieser zeit wo ich auf der straße gewohnt hab, also da, hat sich da wirklich, also ich mein es gab n paar, das was ich vielleicht darüber erzählen kann is, dass ich halt wirklich nur mit rucksack und ähm, klamotten los bin, also nich noch ne jacke oder so mitgenommen hab, war es stellenweise, ähm, nachts echt also wirklich extrem kalt, auch wenns schon frühling war. oder auch im sommer noch, ähm, ähm, und ja, es is irgendwie, was mir auch noch aufgefallen is, da gibts halt auch noch zwei probleme. entweder man schläft in der stadt, ähm, an irgendwelchen stellen, wo man sich sicher fühlt, äh, da haste aber wirklich die sicherheitsfrage, also das is ja auch n allgemeinproblem von obdachlosen, dass die äh, hm, wenn die sich zu, wenn die zu weit in der stadt drin sind, dass die da wirklich nachts dann von irgendwelchen betrunkenen zusammengetreten werden oder sowas, also da passiern auch schon schlimme sachen. oder von anderen obdachlosen komplett ausgeraubt oder auch körperlich, äh, angegangen werden und äh, auf der anderen seite, wenn man sich nachts dann immer wieder in richtung, äh, ja, also (-) äh offenes feld macht oder vorstädte, äh vororte so, äh, da isn ähnliches, da is man ähnlich unsicher, weil man da eben äh, gezeiten und umwelt auch komplett ausgesetzt is also. ja ähm, das war son bisschen mein problem, dass ich da dann echt, das ma da dann (-) tagsüber gehts eigentlich, man läuft so durch die stadt, so äh, bleibt an irgendwelchen orten einfach so zwei drei stunden sitzen, ähm, bis man merkt so, äh, okay die leute die hier irgendwie arbeiten oder so, von dem bücherladen gegenüber oder so, die fangen an bisschen komisch zu gucken, warum der da schon zwei drei stunden sitzt, dann geht man halt weiter und setzt sich an die nächste stelle, wo man einfach seine ruhe haben kann, und keine ahnung, irgendwelche bücher aus irgendwelchen, diese bücherkästen, die es ja auch in städten überall gibt, so lesen kann oder irgendwas, also tagsüber kann man das ganz gut rumkriegen. aber abends bin ich dann schon stellenweise, äh, da dacht ich mir dann um neun schon, ja such dir jetz mal n platz zum schlafen und äh, dann bin ich da bis ein zwei uhr in der gegend rumgeirrt und war mir dann auch echt schon bisschen bange weil dann, naja, dann findet man irgendwelche stellen wo man denkt, ja da is ja irgendwie ruhig, da stör ich keinen und mich wird keiner stören, äh, setz mich dann dahin un bin genau in dem moment äh, gehn auf einma alle lichter in dem hof, der der an der ecke liegt, an, weil das dadurch geht, weil das dadurch geht unso, da merkt man dann halt, dass das das leben in der stadt wirklich auf äh, in wohnung leben ausgerichtet is, also da, ja, da kann ma nich einfach, äh, hm, ja vor, vor ner garage schlafen oder so, weil da dann auch, äh, da dann auch die sache mit äh, grad polizei, da hat ich, hab ich nich so viel mitbekommen, wie das“ (Interview Albert, Z. 709–757)
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Das imaginierte Bild von einem Leben auf der Straße, welches das höchste Maß an Freiheit und Selbstverwirklichung verspricht, hält Alberts tatsächlichen Erfahrungen nicht stand. So relativiert er die beiden vorherigen positiven Segmente, indem er diesen die realen Widrigkeiten, die mit Wohnungslosigkeit einhergehen, gegenüberstellt. Zunächst zählt Albert verschiedenartige Absicherungen in Notsituationen auf, die auf der Straße fehlen. Als nächstes spricht Albert die Wettereinflüsse an, denen er auf der Straße ungeschützt ausgesetzt war und berichtet, dass selbst Frühlings- sowie Sommernächte kalt und ohne adäquate Ausrüstung unangenehm werden können. Zusätzlich lebte er nachts mit der ständigen Angst vor Übergriffen, wobei er das Risiko mit zunehmender Nähe zur Innenstadt ansteigen sah. Dies führt zu dem Dilemma, dass Schlafplätze außerhalb der Stadt vermeintlich sicherer sind, dafür tendenziell schlechter vor Umwelteinflüssen schützen und schwieriger zu finden, bzw. aufwendiger herzurichten sind. Schlafplätze in der Stadt bedeuten hingegen permanente Angst vor Übergriffen und machen eine Entdeckung durch Ordnungskräfte wahrscheinlich. Durch dieses Abwägen und um geeignete Kompromisse zu finden, muss er einen Großteil seines Tages damit verbringen, Zufluchtsorte zu suchen, was in einem Kontrast zu seinen imaginierten Vorstellungen von Freiheit auf der Straße steht. Die Zwänge der Wohnungslosigkeit stehen seinem idealisierten Bild diametral entgegen und ersetzen gewissermaßen die Zwänge eines gesellschaftlich angepassten Lebens. Außerdem hat die kurze Zeit auf der Straße gereicht, um Albert einen ersten Eindruck der stigmatisierenden Wirkung dieses Lebensstils zu verdeutlichen. Diejenigen, die einer geregelten Arbeit nachgehen und ihn tagsüber rumsitzen sehen, fangen an „komisch zu gucken“ (IA 736), was Albert sein Außenseitertum verdeutlicht und Scham tritt an die Stelle des rebellenhaften Stolzes. In einem weiteren Segment reflektiert Albert über seine Vorstellungen und die Realität der Straße: „ja, äh, da find ich, muss ich jetz kurz nochmal vorweg greifen, dass jetz neugewonnene freiheit, freiheit JA, ABER, ich weiß nich ob ich das vorher so explizit gesagt hab, dass das zwar eine neu gewonnene freiheit is, die aber halt dann doch, in der tat halt auch irgendwo, also äh, (-) ähm, n hohen preis erfordert. also, ähm, grad was halt die sicherheit einfach angeht. also das äh, das war auch wo ich mit am meisten, am härtesten zu kämpfen hatte und was auch nach wie vor der grund is, warum ich möglichst schnell wieder aus der situation herauskommen will, is das da halt echt so ne, äh, sone grundsicherheit, die einem auch einfach selbstvertrauen und äh äh, gelassenheit so bringt. die geht da echt so (-) schnell verloren. weil man sich, also wenn ich früher so, mit 15, 16, mit meinen skateschuhen, die bisschen zerrupft warn in n rewe gegangen bin, da hab ich mir keine gedanken gemacht, zu dem zeitpunkt, wenn die klamotten dann n bisschen dreckiger aussahen, hab ich dann halt schon gedacht, ja(::) hoffentlich sagen die jetz nix oder […] weil da bin ich glaub
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ich nich so der typ, äh, wohnsitzlos, äh, der da ähm, also da fehlt mir einfach viel zu viel erfahrung, oder halt auch einfach, äh, dieses, diese, dass ich da in gewissen situationen einfach echt eher noch son scham gefühl entwickle glaub ich, als je’ also glaub ich was eh normal is, wenn man aus sonem normal bürgerlichen leben, wenn man das jetz ma einfach so sagen kann, ähm, äh, man da irgendwie, rausfällt, is das glaub ich auch, also das was ich grad eben auch angesprochen hab, wie man in der öffentlichkeit wirkt, dass man nicht mehr so offen, frei sein kann. man hat zwar die freiheit, dass man jeden tag irgendwo hin gehen kann wo man will, man kann an der stelle wo man sitzt auch einfach einschlafen, wenn man wollte, bis man da verjagt wird oder so. ähm. ja dafür fehlen einem dann halt gesellschaftliche freiheiten. man hat halt mehr, ähm, äh, hm mehr freiheit in der alltagsgestaltung, mehr freiheit so ähm, ja vielleicht auch auf ne gewisse art und weise ne größere geistliche freiheit (Interview Albert, Z. 803–872).
In diesem Segment reflektiert Albert über seine anfängliche Faszination für ein Leben auf der Straße und den „hohen preis“ (IA 806), den ein solcher Lebensstil einfordert. Er relativiert die imaginierte Freiheit, die er in den vorherigen Segmenten idealisiert dargestellt hat, indem er sich eingesteht, dass diese mit dem Verlust von Sicherheit und gesellschaftlicher Akzeptanz einhergeht. Außerdem gelten auf der Straße Zwänge, die es anzunehmen gilt und die der Utopie von Autonomie diametral entgegenstehen. Wenn der Großteil des Tages für die Suche nach geeigneten, sicheren Schlafplätzen aufgebracht werden muss, bleibt keine Zeit für Selbstverwirklichung. Wer nachts Angst vor Übergriffen, Entdeckung oder Vertreibung haben muss, kann die Freiheit nicht genießen. Außerdem hat Albert bereits in der kurzen Zeit, die er tatsächlich auf der Straße gelebt hat, unter der damit einhergehenden Stigmatisierung gelitten. Er fühlte sich stets beobachtet, hat sich Sorgen gemacht, dass es Anderen auffällt, dass er ungewaschen ist, dreckige Kleidung trägt und sich tagsüber ohne zu arbeiten herumtreibt. Außerdem sei es ihm schwergefallen, nach Hilfe zu fragen, weil er dann z. B. Bekannten eingestehen müsste, dass er wohnungslos ist. Zwar hat er in seiner Jugend die Straße für kleine Fluchten genutzt und gelegentlich auf Parkbänken übernachtet, dies aber immer mit der Gewissheit zurück nach Hause zu können und dort „wohnung, zimmer, freunde und familie“ (IA 917–918) zu haben. Durch diese frühere Sicherheit, hätte er nicht die nötigen Erfahrungen sammeln können, die es braucht, um auf der Straße bestehen zu können. Interessant ist darüber hinaus eine Formulierung in diesem Segment: „ich bin zwar eigentlich nich der typ der irgendwie vor so sachen flieht“ (IA 905), weil dies eigentlich ein Schema ist, welches sich in zahlreichen vorherigen Segmenten findet und Flucht in Alberts Biografie eine immer wiederkehrende Bewältigungsstrategie ist. Die alleinige Länge des Segmentes zeigt, wie umfangreich die Phase der Bilanzierung und Evaluation des Handlungsschemas ‚Straße als Neustart‘
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bei Albert gewesen ist und er zu dem abschließenden Ergebnis kommt, dass die Straße als Lebensraum für ihn – wiedererwarten – ungeeignet ist.
5.2.4 Analytische Abstraktion Alberts Geschichte ist von mehreren Ambivalenten und Konflikten geprägt. Er erlebt in seiner Kindheit die Unsicherheit und prekäre finanzielle Situation einer Künstlerfamilie. Daraus erwächst bei Albert ein starkes Sicherheitsbedürfnis, welches seinem Lebenstraum, selbst Künstler zu werden, diametral entgegensteht. Er betont immer wieder sein Verlangen nach kreativer Entfaltung und autonomer Lebensgestaltung, sehnt sich aber gleichermaßen nach Sicherheit und Konstanz. Die Straße scheint schließlich als alternativer Lebensentwurf geeignet, Autonomie, Freiheit sowie subkulturelle Werte auszuleben und Zeiten der Krise einen radikalen Neubeginn zu ermöglichen. Sein Weg in die Wohnungslosigkeit lässt sich wie folgt nachzeichnen: Alberts Familiensituation ist durch mehrere Ambivalenzen gekennzeichnet: Einerseits muss er die mit dem Künstlerberuf seines Vaters entstehenden (finanziellen) Unsicherheiten und prekären Lebensverhältnisse ertragen, andererseits versteht er dessen unabdingbaren Wunsch nach künstlerischer Entfaltung. Er verurteilt die Verantwortungslosigkeit seines Vaters einerseits und kritisiert dessen Unfähigkeit die Familie zu versorgen bzw. nach der Trennung den Unterhalt zu zahlen. Andererseits ergreift er Partei für seinen Vater und verteidigt ihn gegen die impliziten Anschuldigungen seiner (Stief-) Mütter, die es nicht verstehen, was es bedeutet, Künstler zu sein. Ähnliche Zwiespältigkeit erlebt Albert im Zusammenhang mit seinen außerfamiliären Bezugspersonen. Seine Freunde und Freundin, die sich anfänglich im künstlerischen, alternativen Milieu bewegen, entscheiden sich nach und nach für eher verlässliche Karrieren und widmen sich vermehrt ihrem Studium zuungunsten gemeinsamer künstlerischer Projekte. Obwohl Albert dieses Sicherheitsbedürfnis teilt und ebenfalls den Beruf des Kunstlehrers als Kompromiss aus Sicherheit und Kreativität in Erwägung zieht, empfindet er das Verhalten seiner Freunde als Verrat. Alberts Freunde sind in seiner Erzählung als zentrale Ereignisträger stark in Prozesse des Erleidens eingebunden. Alberts Lebensplanung – und damit seine Handlungsfähigkeit – ist eng an diese Personen gekoppelt, wird dann jedoch durch Veränderungen in den Beziehungen und anschließende Umkategorisierungen seitens Albert massiv erodiert. Diese Irritation löst bei ihm eine Krise aus und Albert befindet sich in einer Phase der Stagnation und Desorientierung. Seine Lebensentwürfe scheinen sich
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plötzlich aufzulösen, als sich der Orientierungsrahmen seiner Peergroup zerstreut. Obwohl er eine vergleichsweise hohe Qualifikation hat, die ihm durchaus Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt (bzw. hinsichtlich Ausbildung oder Studium) ermöglichen würden, kommt dies aus idealistischen Gründen nicht in Frage. Erschwert wird seine unklare Situation bezüglich einer weiteren Qualifizierung dadurch, dass er von Seiten seiner Eltern keine finanzielle Unterstützung erwarten kann und sein BAföG Anspruch durch drei Fachwechsel und ausbleibende Leistungsnachweise erloschen ist. Da er in dieser Phase aus dem Studentenwohnheim rausgeworfen wurde, benötigt er Unterkunft sowie Orientierung. Beides erhofft er sich von seinen Eltern, wird jedoch diesbezüglich enttäuscht. Alberts Mutter hat mittlerweile einen neuen Partner, weshalb er zu seinem Vater ziehen muss. Dort muss er sich seinen Platz durch Hausarbeit und Unterstützung seiner Großmutter verdienen, lebt darüber hinaus unter prekären Bedingungen in einem unbeheizten Atelier. Das Verständnis, welches Albert dem Künstlerdasein seines Vaters entgegeben gebracht hat, wird von diesem nicht erwiedert und die Konflikte der Beiden eskalieren immer weiter. Die Flucht auf die Straße scheint Albert an diesem Punkt einen radikalen Neubeginn zu ermöglichen und ist eine Gelegenheit, das alte Leben, mit all seinen Problemen und Ambivalenzen hinter sich zu lassen. Die Straße wirkt für ihn als eigenständiger Pull-Faktor, da sie vermeintlich Abenteuer, Autonomie und subkulturelle Werte verspricht. Albert imaginiert die Straße als Möglichkeitsraum, die ihm ein Leben in Freiheit, künstlerischer Entfaltung und Abgrenzung zum bürgerlichen, durch Erwerbsarbeit strukturierten (und somit eingeengten) Leben verspricht. Allerdings erkennt Albert nach kurzer Zeit und der Evaluation seiner Situation, dass die Straße keinesfalls Ort von uneingeschränkter Selbstbestimmtheit und Freiheit, stattdessen ein Ort mit eigenen Zwängen und objektiven Widrigkeiten ist. Die Zwänge eines Lebens, mit dem vermeintlichen Korsett fester Arbeitszeiten, Dienstanweisungen und Fremdbestimmung werden durch jene Zwänge ersetzt, die auf der Straße herrschen. Die Suche nach einem geschützten und praktischen Schlafplatz nimmt Zeit in Anspruch, und er ist ständig einem Gefühl der Unsicherheit ausgesetzt. Er muss die Scham, mit schmutziger, abgetragener Kleidung herumzulaufen ertragen und nachdem seine Ersparnisse aufgebraucht wären, müsste Albert eine Einkommensquelle aquirieren. Dass er aufgrund ausstehender Zahlungen und Sachbeschädigung kurze Zeit in Haft muss, stellt sich für ihn als glücklicher Zufall heraus, da er durch einen Sozialarbeiter in eine Einrichtung für Wohnungslose vermittelt wird. Dort hat er die Möglichkeit, sich in einer erneuten Phase von Stagnation und Desorientierung zu sortieren und verschiedene Zukunftsoptionen abzuwägen.
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5.3 Ali – „Un das is ja alles verloren gegangen dann, als meine Mutter gestorben is“ Bei dem Interviewpartner handelt es sich um den 26-jährigen Ali, der zum Zeitpunkt des Gesprächs in einem Wohnungslosenheim in einer deutschen Großstadt lebt. Er besteht darauf, die Anonymisierung seines Namens selbst zu bestimmen3 und wählt die Maskierung ‚Ali Baba‘. Das Gespräch fand in einem Konferenzraum statt, den die Einrichtung zur Verfügung gestellt hat. Nachdem das Tonbandgerät abgeschaltet ist, entsteht erneut eine Unterhaltung, in der Ali erklärt, dass es ihm als Mann schwerfalle, über Gefühle zu sprechen und er deshalb zu einigen Dingen nichts ausführlicher erzählen möchte. Außerdem habe er Probleme damit, Hilfe anzunehmen und schämt sich für seine Situation und seine psychischen Probleme. Einige Tage nach dem Interview erhält Ali aufgrund seines aggressiven Verhaltens sowie seines exzessiven Drogenkonsums ein Hausverbot und lebt zunächst wieder auf der Straße. Laut Aussage eines Sozialarbeiters der Einrichtung verfügt Ali über keinen deutschen Pass, sondern nur über eine sogenannte ‚Fiktionsbescheinigung‘, die ihm immer nur für einen begrenzten Zeitraum, in dem seine Ansprüche geprüft werden, das Aufenthaltsrecht in Deutschland einräumt4.
5.3.1 Biografische Kurzbeschreibung Ali wird 1989 in einer Kleinstadt in dem damaligen Jugoslawien geboren. Noch vor seinem ersten Geburtstag zieht die dreiköpfige Familie nach Deutschland, um ihm eine bessere Zukunft bieten zu können. Hier angekommen besucht
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(2017) diskutiert die Möglichkeit, die Beforschten in den Anonymisierungsprozess, als Form der Anerkennung und Berücksichtigung des Paternalismusproblems, miteinzubeziehen. Da in diesem Falle, im Gegensatz zur Verwendung des Klarnamens der forschungsethischen Anforderung der Verfremdung genüge getan wurde, wurde dem Wunsch von ‚Ali‘ nach selbstgewähltem Synonym nachgekommen. 4Nach einer ersten Durchsicht des Interviews fielen mehrere Stellen auf, denen möglicherweise weiteres Erzählpotential immanent war. Ich habe aus diesem Grund versucht, nach einigen Wochen erneut mit Ali Kontakt aufzunehmen. In der Zwischenzeit wurde Ali jedoch aufgrund einiger Verurteilungen nach Ablauf einer Haftstrafe aus Deutschland abgeschoben.
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er zunächst den Kindergarten und die Schule, bis die Familie im Jahr 1998 abgeschoben wird und nach Jugoslawien zurückkehren muss. Dies bedeutet, dass Alis Bildungsweg zunächst unterbrochen wird. Er besucht dort keine Schule, sondern verbringt seine Zeit mit Freunden auf der Straße. Außerdem brechen zu dieser Zeit die Kosovokriege aus und Ali erlebt Armut, politische Verfolgung und Kriegswirren, die er im Interview nicht detailliert offenbaren möchte. Die Eltern entschließen sich letztlich dazu, erneut Jugoslawien zu verlassen und die Familie flieht zu Verwandten nach Italien. Aus Alis ungenauer Erzählung lässt sich nicht eindeutig feststellen, wie lange er in Jugoslawien und Italien gelebt hat, die Zeitspanne müsste sich aber insgesamt auf drei bis vier Jahre belaufen, wovon die Familie wahrscheinlich mehr Zeit in Italien verbracht hat. Dort lebt die Familie als Asylbewerber mit finanziellen und integrativen Problemen und insbesondere der Vater hat Schwierigkeiten, die Landessprache zu erlernen. Ali hat jedoch wieder die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen und kann die fünfte und sechste Klasse nachholen. Insgesamt scheint Ali gute Erinnerungen mit dieser Zeit in Italien zu verbinden, er berichtet vornehmlich positiv über das Land und die Einheimischen. Im Jahr 2001 entscheidet sich die Familie erneut ihr Glück in Deutschland zu suchen, da der Vater reguläre Arbeit gefunden hat und sie sich dieses Mal nicht um Asyl bewerben müssen. Ali wurde jedoch nie deutscher Staatsbürger, er erhielt stattdessen eine Fiktionsbescheinigung, die immer wieder verlängert wurde. Mit vierzehn Jahren kommt es laut Ali zum ersten großen Wendepunkt seines Lebens, da die Mutter, bisher die einzige konstante Bezugsperson für ihn, an Lungenkrebs stirbt. Das Verhältnis zu seinem Vater, welches ohnehin von Spannungen geprägt war, verschlechtert sich, da der Vater den Tod und Verlust seiner Frau nicht verkraftet und mit dem Trinken anfängt. Ali bemerkt wie sich seine Persönlichkeit in dieser Phase verändert. Er sei in der Zeit entweder aggressiv oder depressiv gewesen, wohingegen er vor dem Tod seiner Mutter eher schüchtern war. Es fehlt die Darstellung, inwiefern die Situation eskaliert, letztlich schaltet sich aber das Jugendamt ein und Ali bekommt mit sechzehn Jahren eine eigene Wohnung zugesprochen. Da er weder in der Lage ist den Haushalt zu bewältigen, noch mit seinem Geld umzugehen, verliert Ali die Wohnung nach wenigen Monaten und kehrt nach kurzen Episoden auf der Straße zu seinem Vater zurück. Dort lebt er von 2005 bis 2012, schließt die Hauptschule ab und absolviert eine Ausbildung zum Gerüstbauer. Ali lernt schließlich seine Freundin kennen, mit der er nach kurzer Zeit zusammenzieht. Dass die Beziehung nach ungefähr zwei Jahren zerbricht und Ali die gemeinsame Wohnung verlassen muss, bezeichnet er als zweiten großen
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Wendepunkt in seinem Leben. In Folge der Trennung beginnt Ali Alkohol und illegale Drogen zu konsumieren. Eine kurze Zeitspanne kann er seine Beschäftigung als Gerüstbauer aufrechterhalten, da ihm verschiedene Freunde abwechselnd Unterkunft gewähren. Weil er immer häufiger zu spät zur Arbeit erscheint, wird er schließlich entlassen und landet auf der Straße. Den Winter von 2014 auf 2015 verbringt er, begleitet von exzessivem Substanzmissbrauch, auf der Straße. Nachdem ihm mehrfach (vermutlich durch Polizei, Ordnungskräfte, Bekannten oder Streetworker) nahegelegt worden ist, sich Hilfe zu suchen, entscheidet er sich im Frühling 2015 an ein Wohnungslosenasyl zu wenden. Dort lebt er zum Zeitpunkt des Interviews und wartet auf die Kostenzusage für eine Drogentherapie. Allerdings ist sein Verbleib nicht gesichert, da er permanent in Konflikten mit anderen Bewohnern oder Mitarbeitern liegt und durch seine schwerwiegenden Aggressions- und Drogenprobleme ständig an der Schwelle zum Hausverbot steht. Zu seinem Vater, der mittlerweile ebenfalls an Krebs erkrankt ist und auf Pflege angewiesen ist, hat Ali keinen Kontakt. Einige Wochen nach dem Interview erhält Ali ein unbefristetes Hausverbot und bricht den Kontakt zum Hilfesystem vorerst ab. Auf der Straße wird Ali mehrfach straffällig, wodurch seine Fiktionsbescheinigung nicht verlängert wird und er schließlich aus Deutschland abgeschoben wird.
5.3.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung Das Interview mit Ali hat insgesamt ca. 25 Minuten gedauert. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Interviews wird im Folgenden nicht die gesamte Rekonstruktion der Biografie nachgezeichnet, stattdessen werden für dieses Kurzportrait seiner Biografie einzelne, besonders relevante Segmente hervorgehoben. Ali strukturiert seine Erzählung grob anhand seiner Migrationsgeschichte mit der Flucht aus – und Wiederabschiebung nach Jugoslawien, sowie der Rückkehr über Italien nach Deutschland. Im Laufe seiner Erzählungen werden einige gravierende Inkonsistenzen deutlich. Beim Versuch, die objektiven Daten seiner geschilderten Flucht und Umzüge zu erfassen, wird offensichtlich, dass entweder die genannten Zeitspannen oder die Jahresangaben falsch sein müssen. Dies wird insbesondere bei Betrachtung der Episode im Anschluss an die Abschiebung nach Jugoslawien deutlich. Zwar erzählt Ali, er habe insgesamt vier Jahre in Jugoslawien und vier Jahre in Italien gelebt, nennt aber 1998 als das Jahr, in dem er Deutschland verlassen musste und spricht von der Rückkehr nach Deutschland im Jahr 2001. Es
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kann sich also maximal um eine Zeitspanne von drei Jahren zwischen seinen Aufenthalten in Jugoslawien und Italien sowie der Rückkehr nach Deutschland handeln. Dies ist insofern beachtenswert, dass Ali generell Inkonsistenzen in seiner Geschichte (z. B. hier: Zeitabläufe) nicht korrigiert. Dies könnte entweder ein Indiz dafür sein, dass er sich nicht uneingeschränkt auf das biografisch narrative Erzählen einlässt und somit die Zugzwänge des Erzählens – insbesondere der Gestalterschließungszwang – nicht gänzlich zum Tragen kommen, oder die Diskontinuitäten in seiner Biografie sind so wirkmächtig, dass sie sich in der Erzählung widerspiegeln.
5.3.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung Da es sich bei der Darstellung von Alis Weg in die Wohnungslosigkeit um ein Kurzportrait handelt, wird nicht die komplette Haupterzählung in ihren einzelnen Segmenten dargestellt, sondern sich auf einige, für den exemplarischen Verlauf relevante Segmente konzentriert. In seiner Erzählung entstehen detaillierte Höhepunktsituationen an jenen Stellen, in denen er vom Verlust von wichtigen Vertrauenspersonen spricht. Tod der Mutter (Z. 43–59; Z. 92–103) „A: ja und äh, 2003 auf 2004 is meine mutter halt verstorben. ja is halt sehr chaotisch halt ab da geworden. ich hab dann halt meine bezugsperson verloren und es hat mich halt psychisch so belastet, das war eigentlich sehr schwierig für mich (-) nur ich hab halt nie (-) den weg gefunden mich da behandeln zu lassen oder zum psychiater zu gehen oder irgend sowas. ich habs einfach so weiterlaufen gelassen und ja ich denke das hat auch viel dann, meine zukunft auch beeinflusst, da ich auf andre sachen halt anders reagiere oder andere vorstellungen habe und so. weil ich halt viele negative Sachen erlebt habe und so, ja hab ich halt äh, als ich von meinen eltern halt ausgezogen bin, bin ich mit meiner freundin zusammengezogen, ich war zwei Jahre mit ihr zusammen gewesen, aber das haben wir dann schon gemerkt, dass meine psyche manchmal schon verrückt gespielt hat und so. gut ich hab mir alles selber verbaut kann man sagen, aber ich konnte ja nich wirklich was dafür. ich wusste es ja nich. im nachhinein hat mir das alles leidgetan und so, aber ich konnte im selben moment die probleme nich bewältigen, weil mir das alles zu viel war. und so hab ich, bin ich in die obdachlosigkeit gerutscht hier, also (-) so halt (---)“ (Interview Ali, Z. 43–59). „auf jeden fall. also es hat sehr sehr viel damit zu tun. ab da hab ich mich auch, ich bemerk das auch erst jetz und viele haben mir auch gesagt, dass mein verhalten sich auch verändert hat, von heute auf morgen so, also, dass ich, ich war ja früher eigentlich schüchtern und zurückhaltend und so und bin dann schlagartig zu einem
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mutiert, der aggressiv ist und auf leute zu geht und, was man eigentlich von mir nich gekannt hat. so ja, ich denk mal, das äh, hat nich viel geholfen, dass ich dann versucht hab im leben nochmal was aufzubauen, hat mich das halt gehindert öfters. klar, die Leute fragen sich halt, was is denn mit dem los? so, die wissen ja nich, was in mir vorgeht un so, das können die ja nich einfach so, erraten. ja ich denke mal das viel damit zu tun hat, dass ich jetzt hier in der situation bin. so“ (Interview Ali, Z. 92–103).
Obwohl Ali erst deutlich später auf der Straße landet, nennt er den Tod seiner Mutter als den Moment, ab dem Chaos Einzug in seine Biografie hält. Dies ist angesichts seiner Lebensgeschichte überraschend, da aufgrund seiner Flucht, der Abschiebung, vielen Umzügen, unterbrochener Schullaufbahn usw., eigentlich deutliches Verlaufskurvenpotential vorhanden war. Dieses Verlaufspotential wird mit dem Tod seiner Mutter teilweise aktiviert, kann aber durch die Beziehung zu seiner Freundin noch teilweise kompensiert werden. Mit dem Tod seiner Mutter, der plötzlich und unerwartet eintritt, bemerken Ali und seine Bekannten einen radikalen Wandel in seinem Verhalten „von heute auf morgen“ (IAB 93). Vor dem Verlust beschreibt sich Ali als eher zurückhaltend und schüchtern, wandelt sich dann zu einer extrovertierten Persönlichkeit. Hinzu kommt, dass sich ab diesem Zeitpunkt die Beziehung zu seinem Vater dramatisch verschlechtert, der den Tod seiner Frau nicht verkraftet und beginnt, exzessiv zu trinken. Es ist zu vermuten, dass die Mutter eine wichtige Rolle als Vermittlerin zwischen Ali und seinem Vater, aber auch als einzige Konstante für Beide, als Orientierungspunkt in der Fremde und als Organisatorin ihres Alltags, in der Familie innehatte. Während der Vater große Probleme hatte, sich zu integrieren und z. B. nur kyrillisch lesen konnte, war sie in der Lage, die jeweiligen Landessprachen zu sprechen, was für die Familie eine wichtige Ressource gewesen sein muss. Nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter attestiert sich Ali selbst psychologische oder psychiatrische Hilfebedürftigkeit („es hat mich halt psychisch so belastet“ (IAB 45); „haben wir schon gemerkt, dass meine psyche manchmal schon verrückt gespielt hat“ (IAB 53–54)), bemerkt jedoch, dass er nie die Möglichkeit hatte, sich entsprechende Hilfen zu suchen. Die Formulierung, er habe es „einfach so weiterlaufen gelassen“ (IAB 48) suggeriert Passivität und fehlende Handlungsmächtigkeit, im weiteren Verlauf dieses Segment findet aber eine doppelte Relativierung statt: Zunächst folgen durch aktive Formulierungen die Zuschreibung von Eigenverantwortung („ich hab mir alles selber verbaut“ (IAB 55)) und biografische, durch Handlungsmächtigkeit geprägte Schemata, die allerdings unmittelbar wieder abgeschwächt werden („ich konnte ja nich wirklich was dafür“(IAB 55–56)). Dadurch übergibt er die Verantwortung für den weiteren Ereignisverlauf in das verlaufskurvenhaftige, handlungsohnmächtige
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Schema seiner Biografie. Dies wird durch seine Wortwahl, er sei in die „obdachlosigkeit gerutscht“ (IAB 59), weiter bestärkt. Im zweiten Segment, in dem Ali den Tod seiner Mutter thematisiert, wird das plötzliche Moment der Verlaufskurvenaktivierung verdeutlicht. Sein Verhalten, dessen Betonung im Anschluss an die doppelte Relativierung wieder Eigenverantwortung suggeriert, habe sich „von heute auf morgen“ (IAB 93) und „schlagartig“ (IAB 95) verändert. Um diese Selbstbeobachtung zu bestätigen, führt Ali seine Freunde als zusätzliche Instanz ein. Mit seiner Mutter als konstante Bezugsperson als Ressource und durch seine ruhige, introvertierte Art, war Ali im bisherigen Lebensverlauf in der Lage, dem seiner Biografie immanenten Verlaufskurvenpotential (Flucht, Integrationsprobleme, durchbrochene Bildungsbiografie, unstete Lebensverhältnisse etc.) zu trotzen. Mit dem Verlust seiner Mutter wird dieses jedoch schlagartig aktiviert und Ali verliert teilweise die Kontrolle über seine Biografie. Durch die mit dem Verlust einhergehenden Verhaltensänderungen zerstört er mittelfristig jene Strukturen (seine Beschäftigung, seine Freundin), die das Fehlen seiner Mutter potenziell kompensieren konnten. Verlust der Freundin (Z. 246–253; Z. 256–263) „A: ja ich glaub das hat auch äh, ab da war mir alles scheißegal ehrlich gesagt. ich hab dann nur noch, grade aus un durch. und ich hab dann kurzzeitig bei meiner ex dann den halt wiedergefunden, der is dann wieder zerbrochen, is ja klar. was will ma von nem menschen erwarten, der seelisch total im arsch is eigentlich. da kannste keine gesunde beziehung entstehen“ (Interview Ali, Z. 239–243). „A: ja ich glaub sie war der beste mensch, den ich mein ganzes leben lang kennen gelernt hab. und sie zu verlieren war eigentlich (--) fast schlimmer wie meine Mutter zu verlieren (---). n darüber will ich auch eigentlich gar nich sprechen […] ja, dat, das fällt mir einfach zu schwer, da kann ich nich drüber sprechen“ (Interview Ali, Z. 246–253). „A: als sie halt weg war(--), da bin ich halt richtig abgesackt. ich war halt auf der straße un, äh, ich hätte die möglichkeit gehabt, weg von der straße zu kommen. aber ich bin einfach nit. I: auf der Straße, also da hast du richtig= A.: =auf der bank. auf der straße. mit meinen klamotten, den ganzen winter über, war ich draußen. ich war halt nur mit mir selbst beschäftigt, auf der bank un, deprimiert. eigentlich wollt ich sterben, aber das hat nit funktioniert“ (Interview Ali, Z. 256–263).
Der zweite wichtige Wendepunkt in Alis Biografie ist der Verlust seiner Freundin, die ihm während der Trauerphase nach dem plötzlichen, unerwarteten Tod seiner Mutter Halt und Unterstützung geboten hat. Die emotionale Bedeutung des Todes
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seiner Mutter spielt Ali durch die Formulierung, der Verlust seiner Freundin sei schlimmer gewesen, etwas herunter. Nachdem er von seiner Freundin getrennt lebt, nimmt das Verlaufskurvenpotential endgültig überhand und Ali verliert vollständig die Kontrolle über seine Biografie. Zunächst gewähren ihm verschiedene Freunde und Bekannte als Übergangslösung Unterkunft. Da er wie sein Vater auf den Verlust seiner Partnerin mit Alkohol-, bzw. illegalem Substanzkonsum reagiert, fällt es Ali immer schwerer, seiner geregelten Tätigkeit als Gerüstbauer nachzugehen. Er kommt ständig zu spät und verliert schließlich seine Anstellung. Letztlich gibt er auch das couch surfen bei Freunden auf – oder er findet keinen Bekannten mehr, der ihn bei sich wohnen lässt – und landet auf der Straße. Ali berichtet, er hätte mehrfach die Möglichkeit gehabt, die Straße zu verlassen. Dabei lässt sich nur spekulieren, ob ihm von Seiten seiner Freunde/ Verwandten wieder Obdach angeboten wurde oder Ordnungskräfte bzw. Streetworker ihn auf die Möglichkeit einer Hilfeeinrichtung für Wohnungslose aufmerksam gemacht haben. Dennoch verbringt Ali einen ganzen Winter ‚rough‘ ohne wirkliche Unterkunft auf der Straße. Den Widrigkeiten der Straße begegnet er mit exzessivem Substanzkonsum. Seine Aussage, „eigentlich wollt ich sterben, aber das hat nit funktioniert“ (IAB 259–260) soll wahrscheinlich eher die kompromisslose Lethargie und Willenlosigkeit in dieser Phase seines Lebens, als einen tatsächlichen, aktiven Suizidversuch beschreiben. In diesen Abschnitten wird deutlich, wie Ali in kurzer Zeit jegliche Handlungsmacht verliert und in enorme Passivität verfällt. Mit einem kritischen Lebensereignis wird das seiner Biografie immanente Verlaufskurvenpotential aktiviert und die biografische Gesamtformung ändert sich radikal. In Anbetracht seiner vorherigen Erzählung, mit Flucht, Abschiebung, Kriegserfahrungen, erneuter Flucht, vielen Landes-, Ort- und Schulwechseln unter teilweise prekären Bedingungen, wird deutlich, welches Verlaufskurvenpotential in seiner Lebensgeschichte vorhanden war. Dennoch hat Ali stets eigene biografische Ziele verfolgt: sich um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht, einen Beruf erlernt, eigenes Geld verdient und einen gemeinsamen Haushalt mit seiner Freundin geführt. Zwei kritische Ereignisse führen schließlich dazu, dass er sich ausschließlich als passives Objekt äußerer Umstände erlebt und sein Selbstverständnis zerstört wird, handelnder Akteur in seiner Biografie zu sein. Straße (Z. 271–282) „ja mann, ich kann mich an kaum was erinnern, ich hab mich so zugedröhnt, mit alkohol un was weiß ich, ich weiß gar nich, was ich gemacht hab die ganze zeit über. ich hab eigentlich nur vor mich hingelebt, wie son streuner einfach. aber jetz
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mittlerweile bemerk ich, dass es einfach nur schwachsinn is was ich mach (-) muss doch irgendwie weitergehen. ma kann sich ja jetz nit da (-). obwohl ich bin mir da auch nit sicher (--). verstehen se, wenn, wenn, okay, sagen wir es klappt jetz wieder alles un ich krieg alles wieder hin. ich krieg meine wohnung, mein auto und irgendwas kommt un [schnippst mit dem Finger] es wird mir unter den füßen wieder weggezogen (--). das lohnt sich doch garnich (---). wer gibt mir die garantie, dass nich alles wieder schief läuft?“ (Interview Ali, Z. 271–282).
Für Ali ist das Leben auf der Straße ist eindeutig negativ konnotiert, was er am Bild eines Streuners, der ziellos und ohne Wohnsitz herumirrt, veranschaulicht. Daneben fehlt es an weiterführenden Details oder Beschreibungen von dieser Episode seines Lebens, was Ali mit seinem exzessiven Substanzkonsums erklärt, er sei ständig „zugedröhnt“ (IAB 269) gewesen. Flucht in den Rausch ist eine nicht unübliche Strategie unter Wohnungslosen, um den Widrigkeiten der Straße zu begegnen. In diesem Segment – und insbesondere durch die letzten Zeilen – wird darüber hinaus deutlich, wie neben Alis Handlungsmacht auch sein Vertrauen erodiert wurde. Dabei geht es nicht primär um das Vertrauen in Andere, in Fachkräfte oder Institutionen, sondern um eine Art grundsätzliches Vertrauen. Dieser Vertrauensverlust, einhergehend mit dem Verlust von Handlungsmacht wiederholt sich implizit immer wieder und lässt sich nicht auf ein einzelnes Segment reduzieren. Formulierungen wie „ja ich hab seitdem auch nich wirklich die lust für irgendwas. weil ich hab das gefühl, wenn ich mir jetzt nochmal was aufbau gehts sowieso wieder zugrunde. geht alles wieder kaputt“ (IAB Z. 85–87) finden sich auch in anderen Abschnitten/ Segmenten. Ali scheint gar nicht mehr an das Verwirklichen von Zielen oder an persönlichen Erfolg zu glauben, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die Vermeidung von Misserfolgen. Selbstzweifel und Furcht vor dem eigenen Scheitern blockieren jedwede Motivation, sich um eine Veränderung seiner Situation zu bemühen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Ali in einer reflexiven Aushandlungsphase, in der er langsam, aber immer mit Vorbehalt und Skepsis, wieder Vertrauen aufbaut und eigentlich Garantien einfordert, dass alle seine Bemühungen zielführend und seine Fortschritte dauerhaft sind. Die Frage, „wer gibt mir die garantie, dass nich alles wieder schiefläuft?“ (IAB 277–278), wirkt wie an den Interviewer adressiert, als ob Ali sich vergewissern möchte, dass er auf dem richtigen Weg ist. Dieser Eindruck wird dadurch gestärkt, dass ein solches Moment, in dem Ali den Interviewer als pädagogische Fachkraft oder zuständigen Mitarbeiter fehlinterpretiert, in der Anfangssequenz auftaucht. Der Einstieg in das Interview, erweckt teilweise den Eindruck eines Anamnese- oder Erstaufnahmegespräch für einen beginnenden Hilfeprozess. Diese zwei Aussagen
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sind aber auch Zeugnis von einem etablierten Fatalismus und dem generellen Zweifel von Ali, dass seine Entscheidungen und Handlungen überhaupt Einfluss auf den Verlauf seiner Biografie haben. Es könnten erneut unvorhergesehene Dinge passieren, die all seine Bemühungen zunichtemachen.
5.3.4 Analytische Abstraktion Alis Weg in die Wohnungslosigkeit wird maßgeblich von zwei kritischen Lebensereignissen beeinflusst, die das der Biografie immanente Verlaufskurvenpotential plötzlich und unerwartet aktivieren. Insbesondere durch seine Fluchtgeschichte ist seine Biografie von massiven Diskontinuitäten geprägt, die sich auch in der Erzählung, mit plötzlichen Sprüngen, unklaren/ falschen oder ungenauen Zeitangaben und Überschneidungen widerspiegeln. Durch Alis Migrations- und Fluchtgeschichte und den damit einhergehenden Unsicherheiten, Kontingenzen, Problemen sowie atypischem, immer wieder unterbrochenem Lebenslauf, ist seiner Biografie enormes Verlaufskurvenpotential vorhanden. Die Flucht aus und Abschiebung nach Jugoslawien bedeuten für ihn erste von vielen Unterbrechungen seiner Bildungsbiografie und unter den Verhältnissen des aufziehenden Kosovokrieges erlebt er Kriegswirren, anomische Verhältnisse und Armut. Die Familie flieht schließlich zu Verwandten nach Italien und Ali kann dort vorerst wieder zur Schule gehen. Die Lebensverhältnisse bleiben dort, als Flüchtlingsfamilie mit zwei arbeitslosen Elternteilen, prekär und durch den unklaren Aufenthaltsstatus unsicher. In den unsteten Lebensverhältnissen sind seine Eltern die einzige Konstante und insbesondere die bilinguale Mutter scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Sie stellt den Zusammenhalt der Familie sicher und weiß darüber hinaus mit relevantem, alltagspraktischem Wissen in den verschiedenen Ländern den Alltag zu organisieren. Zu ihr hat Ali ein ausgesprochen gutes, vertrauensvolles Verhältnis, die Beziehung zu seinem Vater ist hingegen ambivalent. Er sehnt sich nach Anerkennung und Liebe, die ihm jedoch verwehrt bleibt. Nach einigen Jahren, der genaue Zeitraum ist anhand Alis Erzählung nicht zu rekonstruieren, zieht die Familie wieder um, da der Vater Arbeit in Deutschland findet. Hier ist eine weitere Inkonsistenz in Alis Erzählung festzustellen. Während die Familie in der ersten Episode als Flüchtlingsfamilie in Deutschland gelebt habe, haben sie nun richtig und „normal“ (IAB 168) dort gelebt. Dies widerspricht dem im späteren Verlauf des Interviews, im Rahmen der exmanenten Nachfragen aufkommenden Themas, des weiterhin ungeklärten Aufenhaltsstatus. Ungeachtet dessen lebt die Familie eine Zeit lang
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in Deutschland in mehr oder konstanten Verhältnissen, bis seine Mutter an Krebs erkrankt und nach kurzer Zeit stirbt. Der plötzliche Krebstod seiner Mutter ist für Ali ein erstes, kritisches Lebensereignis, welches fundamentale Auswirkungen auf den weiteren Verlauf seiner Biografie hat. Zum einen bedeutet es den Zusammenbruch des Familiengefüges, da der Vater den Tod seiner Frau nicht verkraftet und anfängt, exzessiv Alkohol zu konsumieren. Ali und sein Vater geraten ständig in Konflikte und Streitigkeiten bis das Jugendamt interveniert und Ali eine eigene Wohnung bekommt. Ohne alltagspraktisches Wissen ausgestattet und unter dem Verlust seiner Mutter leidend, schafft es Ali nicht, seinen Alltag alleine zu bewältigen und mit seinen finanziellen Mitteln zu haushalten. Er verliert die Wohnung binnen weniger Wochen und es folgt eine kurze Episode auf der Straße, bis er zu seinem Vater zurückkehrt. Als er seine Freundin kennen lernt, scheinen sich die Verhältnisse wieder zu stabilisieren. Ali schließt die Hauptschule ab, findet Arbeit als Gerüstbauer und lebt eine Zeit lang mit seiner Freundin in einer eigenen Wohnung. Die Freundin hat eine vergleichbare Funktion wie die Mutter, indem sie Stabilität und Rückhalt gewährleistet. Nach einige Zeit trennt sich die Freundin jedoch von Ali. Diese Trennung und damit der Verlust der zweiten signifikanten Anderen wirkt erneut als kritisches Ereignis, welches das gesamte Verlaufskurvenpotential seiner Biografie aktiviert. Außerstande, den plötzlichen und unerwarteten Kontrollverlust zu bewältigen, kommt es zu einer Blockade seiner Handlungsmächtigkeit. Ali verfällt daraufhin in das Muster seines Vaters und flüchtet sich in den Rausch als eine Form von Eskapismus. Durch ständiges Zuspätkommen verliert er zunächst seine Arbeit und schließlich auch seine Wohnung. Völlig lethargisch endet Ali auf der Straße. Um die Widrigkeiten der Wohnungslosigkeit und insbesondere die Schamgefühle zu ertragen, greift er weiter und immer exzessiver auf das Mittel Rausch als eine Form von Eskapismus zurück. Die Straße ist ausschließlich negativ konnotiert und wird erlitten, bzw. mit Hilfe von Alkohol sowie illegalen Drogen ertragen. Auf der Straße empfindet sich Ali als passives Objekt, das sich, durch äußere Widrigkeiten gedrängt, in Rausch flüchtet, ohne Initiative, etwas an seinem Zustand zu ändern oder die Gegebenheiten auf der Straße zu optimieren. Durch die Verluste seiner beiden signifikanten Anderen hat sich ein Fatalismus etabliert, ohnehin keinen Einfluss auf sein Leben zu haben. Schließlich wird er von nicht genannter Stelle in ein Wohnungslosenheim vermittelt, wo er zum Zeitpunkt des Interviews lebt und versucht, seine Verhältnisse zu ordnen. Die Exklusion aus den strukturgebenden Instanzen des Lebenslaufs, der Familie und Erwerbsarbeit erfolgte bei Ali unvermittelt und spontan durch kritische Lebensereignisse, die das seiner Biografie immanente Verlaufskurvenpotentials aktiviert haben.
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5.4 Marvin – „Und dann kommen Sozialarbeiter, die einem nen Platz in […] nem Wohnheim verschaffen“ Bei dem Erzähler handelt es sich um den 22-jährigen Marvin, der zum Zeitpunkt des Interviews in einer Hilfeeinrichtung für Wohnungslose in einer deutschen Großstadt lebt. Er ist auffällig modisch gekleidet, parfümiert sowie frisiert. Das Gespräch fand in einem Zimmer der Hilfeeinrichtung statt und wurde zwei Mal von der Polizei und Sozialarbeitern unterbrochen, die auf der Suche nach einem anderen Bewohner der Einrichtung waren. Marvin gab zu Beginn an, er hätte noch ein wichtiges Treffen im Anschluss an das Interview und stände deswegen etwas unter Zeitdruck.
5.4.1 Biografische Kurzbeschreibung Marvin wird 1994 in einer deutschen Großstadt geboren und wächst als Einzelkind bei seinen Eltern auf. Über seine ersten Lebensjahre, seine Kindheit und frühe Jugend, erfährt der Zuhörer nur wenig. Marvins Eltern lassen sich scheiden, als er ungefähr 14 Jahre alt ist und es bricht ein regelrechter „Scheidungskrieg“ (IM 25) aus. Das Jugendamt wird involviert, um die Frage zu klären, welches Elternteil das Sorgerecht bekommt. Im Zuge dieses Sorgerechtsstreits äußert Marvin immer wieder den Wunsch, bei seinem Vater bleiben zu dürfen. Die Fachkräfte vermuten allerdings, er würde zu dieser Aussage genötigt und hinterfragt Marvins Fixierung auf seinen Vater stetig. Erst als sich herausstellt, dass die Mutter ihm gegenüber gewalttätig geworden ist, entscheiden die Mitarbeiter schließlich zu Gunsten des Vaters. Dieser leidet stark unter der Scheidung und sein Verdienst reicht kaum aus, um sich und seinen Sohn adäquat zu versorgen. Infolgedessen etabliert sich eine äußerst prekäre finanzielle Situation, die darin gipfelt, dass die Beiden ohne Heizung und warmes Wasser auskommen müssen. Der Schichtdienst des Vaters ist darüber hinaus dafür verantwortlich, dass Marvin viel allein zu Hause ist und sich einsam fühlt. Wider erwarten kommt es zwischen den Beiden nicht zu Konflikten oder Vorwürfen, stattdessen stärkt diese schwierige Phase die ohnehin enge Vater-Sohn-Beziehung weiter. Da sich aber an der prekären Wohnsituation und Einsamkeit nichts ändert, flüchtet sich Marvin an seinen Computer und in Onlinewelten. Sein Eskapismus bleibt zunächst auf Computerspiele beschränkt, bis Marvin etwa im Alter von 16 Jahren, initiiert durch seine Freunde, erste Erfahrungen mit Alkohol
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und Drogen macht. In den folgenden zwei Jahren steigt er seinen Alkohol- wie Drogenkonsum, worunter seine Schulnoten und Freundschaften leiden. Darüber hinaus verliert Marvin drastisch an Gewicht und wiegt schließlich nur noch 51 kg, was für seine Körpergröße eine nicht unerhebliche Gesundheitsgefährdung bedeutet. Sein Vater sorgt letztlich dafür, dass Marvin in eine Entzugsklinik kommt. Dort entscheiden sie gemeinsam mit einem Sozialarbeiter, dass es für Marvin nicht ratsam ist, in sein altes Umfeld und die Wohnbedingungen bei seinem Vater zurückzukehren. Stattdessen wenden sie sich an eine Hilfeeinrichtung für junge Wohnungslose, wo Marvin neben einer Unterkunft auch Zugang zu einer therapeutischen Begleitung hat. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt er immer noch in diesem Wohnheim.
5.4.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung Das Interview mit Marvin hat ca. 36 Minuten gedauert und wurde zwei Mal durch Dritte unterbrochen. Diese Unterbrechungen haben den aufkommenden Erzählfluss teilweise gehemmt, sodass keine allzu stringente Haupterzählung zustande kam. Stattdessen finden sich mehrere kleinere Erzählungen im Anschluss an die immanenten Nachfragen. Für die Haupterzählung übergeht er seine ersten 14 Lebensjahre und steigt mit dem „Scheidungskrieg“ (IM 25) seiner Eltern ein. Es folgen einige Sprünge, ohne dass eine wirkliche, stringente Erzählung zu Stande kommt. Stattdessen werden Episoden bruchstückartig auf Nachfragen umrissen.
5.4.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung Für Marvins Weg in die Wohnungslosigkeit sind besonders jene Segmente aufschlussreich, in denen er seinen Eskapismus schildert und die Manifestation einer Verlaufskurve im Rahmen eines Milieuwechsels sichtbar wird. Eskapismus, Manifestation einer Verlaufskurve und Intervention des Vaters (Z. 49–71) „un dann eigentlich nur an meinem computer saß. dann äh, mit 16 hab ich dann den ersten kontakt zu drogen bekommen, ja, cannabis, dann gings noch mehr’ dann gings richtig bergab dann, ab, ab dem moment, äh, bin ich, äh, hab ich mich dann
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mehr oder weniger in so ner assi wohnung wiedergefunden und ähm, mit leuten kontakt gehabt, mit denen ich eigentlich (-) nie im leben gedacht hätte, dass es, dass es so ein leben überhaupt auch existiert. das hat sich dann auch wieder ne weile hingezogen (-) auch wieder so ein, zwei jahre, meine schule hat darunter gelitten, mein freundeskreis hat darunter gelitten, ich hab darunter gelitten. ich bin dann auch äh (-) abgemagert auch in die magersucht gerutscht und war auf 51 kilo, also es war richtig richtig schlimm. an äh, damit hab ich jetz noch zu kämpfen mit der erkrankung oder mit der (-) pro’ mit der erkrankung eigentlich. […] und dann hab ich irgendwann mich hemmungslos angefangen zu betrinken […] bis mein vater dann den krankenwagen gerufen hat und ich in eine (-) alkoholklinik gekommen bin“ (Interview Marvin, Z. 49–71)
In diesem Segment wird deutlich, wie sehr sich die biografische Gesamtform hin zu einer Verlaufskurve zu entwickeln droht. Marvin zieht nach der Trennung seiner Eltern zu seinem Vater, der im Schichtdienst arbeitet und aus diesem Grund wenig Zeit für ihn hat. Marvin leidet unter der Einsamkeit, den prekären Wohnverhältnissen und unter dem Unglück seines Vaters, der die Trennung von seiner Frau nur schwer verkraftet. Zunächst reagiert Marvin mit Eskapismus in Onlinewelten und verbringt seine Freizeit ausschließlich vor dem Computer, später entdeckt er über Bekannte Rausch als effektiveres Mittel der Realitätsflucht. Die Kontakte in die Junkie Szene offenbaren ihm ein Leben, welche sogar die prekären Verhältnisse bei seinem Vater unterbieten. Er grenzt sich, trotz seines Drogenkonsums – obwohl der stattfindende Milieuwechsel offensichtlich ist – von diesen Menschen ab, die in einer „assi wohnung“ (IM 52–53) leben, die er in einem späteren Segment als „sumpf“ (IM 135) bezeichnen wird. Mit der Integration in diese Szene verliert Marvin sukzessive den Kontakt zu seinen alten Freunden und seine schulischen Leistungen verschlechtern sich deutlich. Dabei wird das Motiv des Erleidens auch durch seine Wortwahl und dreifache Verwendung von „gelitten“ (IM 57–58) deutlich. Als sein Drogen- und Alkoholkonsum beginnt körperliche Spuren zu hinterlassen und Marvin rapide an Gewicht verliert, interveniert der Vater schließlich und sorgt dafür, dass Marvin professionelle Hilfe bekommt. Marvin schreibt sich in diesem Segment selbst keine aktive Rolle zu und das Aufsuchen der Suchtklinik kommt nur durch die Zuhilfenahme seines Vaters, der in diesem Fall als Agent wirkt, zustande. Willkür der Professionellen (Z. 663–682) „da hat mich das jugendamt sehr sehr genervt. und auch die frau, die die zuständig war, die mich, die mich gefühlt 100 mal aufs neue gefragt hat, ob ich jetz bei meinem vater leben möchte oder nich und mich mir irgendwann echt verarscht vorkam, weil ich immer und immer wieder gesagt hab, ja ich möchte bei meinem
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vater leben, ja. und die und diese frau wirklich unfähig war zu akzeptieren, dass, dass, die meinungen von mir irgendwie vorgefertigt is durch mein vater sondern das es meine eigene meinung war. das hat die einfach nich kapiert auf teufel komm raus. bis (-) bis mein vater dann eben erwähnt hat, und das is ja das schlimme, bis mein vater erwähnt hat, dass mich meine mutter ab und zu geschlagen hat. davor is NICHTS passiert. NICHTS ich hab 100 mal gesagt, ich möchte bei meinem vater bleiben. NICHTS is passiert, erst ab dem moment, wo mein vater gesagt hat, dass mich meine mutter ab und zu geschlagen hat, da is auf einmal äh, da is auf einmal was passiert bei der frau un die hat äh, und die hat (--) ähm, es, die hat, ja, es akzeptiert, dass ich bei meinem vater leben möchte. auch wenn man darüber nachdenkt, schlimm eigentlich wie lange man eigentlich vor sich hinreden kann (-) und ne meinung vertreten kann und erst wenn, wenn sowas dann ans tageslicht kommt, wird dann erst die meinung eines m, kl, jüngeren menschen akzeptiert“ (Interview Marvin, Z. 663–682)
In diesem Segment wird deutlich, wie sich Marvin im Kontext von Institutionen als handlungsunfähig empfunden hat. Obwohl er als Jugendlicher gegenüber dem Jugendamt klar kommuniziert hat, dass er bei seinem Vater leben möchte, wird diesem Wunsch zunächst nicht stattgegeben. Seinen Frust richtet er besonders gegenüber einer bestimmten Mitarbeiterin des Jugendamtes, die seine Meinung, als vermeintlich durch den Vater manipuliert, immer wieder ignoriert. Diese Ohnmacht hat dafür gesorgt, dass für ihn Institutionen und insbesondere deren Repräsentanten zunächst negativ konnotiert waren. Er fühlt sich der Willkür der helfenden Professionellen hilflos ausgesetzt. Erst als sein Vater berichtet, die Mutter habe Marvin „ab und zu geschlagen“ (IM 673), fällt die Entscheidung zugunsten des Sorgerechts des Vaters. Dabei betont Marvin deutlich, dass es die Aussage seines Vaters erfordert hat und seinen eigenen Aussagen keinerlei Relevanz zugemessen wurde. Von Gewalt seitens der Mutter erfährt der Zuhörer erst an dieser Stelle des Interviews und Marvin schildert keine entsprechende Hintergrundkonstruktion, wie man aufgrund des potentiellen Detaillierungs- oder Gestalterschließungszwang seiner Erzählung an dieser Stelle erwarten könnte.
5.4.4 Analytische Abstraktion Marvin vermeidet es durch die Akzeptanz von Hilfeangeboten entweder auf der Straße oder unter prekären Wohnverhältnissen zu leben. Da er die ersten 14 Lebensjahre überspringt und erst mit dem Scheidungskrieg seiner Eltern in die Erzählung einsteigt, kann nur spekuliert werden, dass seine Kindheit weitestgehend unter konstanten Verhältnissen, ohne herausragende Probleme verlaufen ist. Zwar muss es mitunter zu Gewalt von Seiten der Mutter
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gekommen sein, entsprechende Situationsbeschreibungen diesbezüglich fehlen jedoch und der Zuhörer erfährt erst im Kontext der Sorgerechtsstreitigkeiten davon. Im Zuge dessen erlebt Marvin, negative Erfahrungen mit der Jugendhilfe. Seine klare Forderung bei seinem Vater zu bleiben wird von Seiten des Jugendamtes lange Zeit ignoriert. Erst als dieser dort schildert, seine Exfrau würde Marvin schlagen, bekommt der Vater das Sorgerecht. Marvin und sein Vater ziehen aus dem Haus der Familie in eine kleine Wohnung. Dort etablieren sich schrittweise allerdings prekäre Lebensverhältnisse. Da der Vater im Schichtdienst arbeitet, ist Marvin häufig allein und finanzielle Probleme sorgen dafür, dass z. B. die Heizung abgestellt wurde. Durch eine Art Leidensgemeinschaft stärken die Widrigkeiten der Lebensumstände die Beziehung zu seinem Vater noch weiter. Dennoch ist das dominierende Motiv dieser Phase Marvins Einsamkeit. Er hat kaum Freunde oder Kontakt zu gleichaltrigen Peers und flüchtet sich in Onlinewelten als eine Form von Eskapismus. Marvin stellt schließlich, initiiert durch „irgendwelche Vögel“ (IM 129) fest, dass Alkohol und Drogen ein deutlich effektiveres Mittel der Realitätsflucht darstellen und beginnt mit exzessiven Substanzkonsum. Es vollzieht sich ein Milieuwechsel in Richtung Junkie Szene und die verlaufskurvenartigen Strukturen seiner Biografie werden immer deutlicher. Die Lebenssituation unter den Junkies unterschreitet die prekären Bedingungen bei seinem Vater und aufgrund dieses Lebensstils nimmt Marvin rapide an Gewicht ab. Er verliert seine letzten Kontakte außerhalb der Szene und die schulischen Leistungen werden immer schlechter. Er verlässt die Schule schließlich mit einem schlechten Hauptschulabschluss, die erreichte, niedrige Qualifikation bietet ihm allerdings kaum Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Als der Substanzkonsum immer exzessiver wird und der Gewichtsverlust so weit fortschreitet, dass gesundheitliche Risiken drohen, interveniert sein Vater und sorgt dafür, dass Marvin medizinische Hilfe in einer Suchtklinik bekommt. Marvin akzeptiert in Absprache mit seinem Vater das Hilfeangebot, im Anschluss an die Behandlung in eine Einrichtung für junge Wohnungslose zu ziehen, um nicht zurück zu den prekären Verhältnissen in der Wohnung seines Vaters oder den Versuchungen des Junkie Milieus zu müssen. Durch eine Mitarbeiterin, die ihn dort betreut, erlangt er Vertrauen gegenüber helfenden Professionellen zurück und nutzt darüber hinaus die Wohnungslosenhilfe, um Zugang zu weiteren Hilfen und gesellschaftlicher Unterstützung zu erhalten. Die Integration ins Hilfesystem ist für Marvin eine Möglichkeit, prekäre Lebensverhältnisse, bzw. die Wohnungslosigkeit zu vermeiden.
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5.5 Laith – „Dass ich auf der Straße bin unso, das hat die gar nich interessiert“ Laith ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt und lebt in einem Wohnungslosenheim in Deutschland. Nach anfänglicher Skepsis bezüglich der Anonymisierung seiner Daten stimmt er dem Interview zu. Ähnlich wie Marvin und im Gegensatz zu Ville oder Albert ist Laith auffällig gut gekleidet und achtet offensichtlich sehr auf sein Äußeres, um nicht besonders aufzufallen und als Wohnungsloser identifiziert zu werden.
5.5.1 Biografische Kurzbeschreibung Laith erzählt relativ wenig aus seiner Kindheit und Jugend. Der Zuhörer erfährt lediglich, dass sich seine Eltern trennen und er infolgedessen zunächst bei seiner Mutter aufwächst. Als diese jedoch einen neuen Freund findet, mit dem es immer wieder zu Konflikten kommt, zieht Laith zunächst zu seinem leiblichen Vater. Die Beziehung der Beiden ist schwierig und eher distanziert, da Laith ebenfalls Probleme mit der neuen Partnerin seines Vaters hat. Er leidet in dieser Zeit unter der Lieblosigkeit seines Vaters und sehnt sich nach einer geborgenen Kindheit. Seine schulischen Leistungen werden in dieser Zeit immer schlechter, so muss er zunächst eine Klasse wiederholen und bricht schließlich die Realschule nach der achten Klasse ab. Laith beginnt, den Hauptschulabschluss im Rahmen einer berufsbildenden Maßnahme nachzuholen, wird jedoch durch die ständigen Konflikte zuhause belastet und abgelenkt. Um dem zu entgehen, zieht er für die Zeit seiner Abschlussprüfungen für einige Monate zu seinem Onkel und schafft, die Maßnahme erfolgreich mit dem Hauptschulabschluss abzuschließen. Da sein Onkel selbst drei Kinder hat und die Wohnverhältnisse dementsprechend beengt sind, muss Laith eine alternative Wohnmöglichkeit finden. Es beginnt eine Phase, in der er von Freunden zu Freunden zieht, bei verschiedenen Bekannten unterkommt und immer mal wieder zu seinem Vater zieht. Laith bleibt allerdings nirgends langfristig und da die Konflikte mit seinem Vater sowie seiner Stiefmutter ungelöst bleiben und er irgendwann keine Freunde mehr findet, die ihn aufnehmen, landet er letztlich auf der Straße. Er lebt kurze Zeit ohne jegliche Unterkunft in der Innenstadt, treibt dann ein kleines Zelt auf und schlägt in einem nahegelegenen Wald sein Lager auf. Zwei oder drei Wochen ist Laiths einziger Kontakt sein jüngerer Bruder, der ihn in dieser Phase mit Lebensmitteln versorgt.
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Schließlich wendet sich Laith an das zuständige Jobcenter, in der Hoffnung, eine Wohnung finanziert zu bekommen. Die Mitarbeiter schicken ihn jedoch mit dem Verweis weg, er sei noch jünger als 25 Jahre und dementsprechend seien seine Eltern für ihn verantwortlich. Laiths Einwände, er könne aufgrund von Konflikten mit seinem Vater und seiner Stiefmutter nicht zurück nach Hause und er lebe auf der Straße werden zunächst ignoriert, ihm wird stattdessen die Adresse einer Übernachtungsmöglichkeit für Wohnungslose genannt. Dort wird Laith aufgenommen und als die Einrichtung gegenüber dem Jobcenter bestätigt, dass er tatsächlich eine längere Zeit in einem Übernachtungsheim für Wohnungslose lebt, wird Laiths Antrag auf ALG II inklusive der Übernahme der Kosten der Unterkunft bewilligt. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Laith immer noch in dieser Einrichtung und befindet sich auf Wohnungssuche.
5.5.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung Das Interview mit Laith hat 54 Minuten gedauert, von denen ein relativ großer Teil (45 Minuten) auf die immanenten wie exmanenten Fragen entfällt. Die Haupterzählung ist mit ungefähr 9 Minuten eher kurz und lässt sich in 7 Segmente unterteilen, in denen Laith von familiären Problemen, vielen Umzügen, Problemen im schulischen Kontext sowie in verschiedenen Institutionen des Hilfesystems berichtet.
5.5.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung Da es sich bei der Darstellung von Laiths Weg in die Wohnungslosigkeit um ein Kurzportrait handelt, wird nicht die komplette Haupterzählung in ihren einzelnen Segmenten dargestellt, sondern sich auf die, für den exemplarischen Verlauf in die Wohnungslosigkeit besonders relevanten Segmente konzentriert: ‘couch surfing’ und ‘on the street’ (Z. 64–76) “zwei drei monate oder so hab ich auch kurze zeit bei meinem onkel gewohnt un hab dann danach, hab dann danach äh (-) hab dann danach äh, der hat halt selber nich so viel platz gehabt unso weil der auch selber drei kinder hatte un dann wollt ich mal danach gucken was ich, wo ich dann sonst hinkonnte oder so, dann war ich ständig bei freunden gewesen, mal hier mal da, un ja dann hats bei meinem
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vater auch nich geklappt wieder, dann war ich äh, die ganze zeit so hin und her bei freunden so mal hier mal da un hab dann danach irgendwann ging das nichmehr bei den freunden, hab ich halt auf der straße, äh, wie soll ich sagen? auf der straße halt gelebt ertmal in der innenstadt überall mich herum halt versucht irgendwo n schlafplatz zu finden, halt nich gefunden un hab dann son äh altes zelt gehabt son kleines un hab dann erstmal zwei drei wochen oder so im wald geschlafen“ (Interview Laith, Z. 64–76)
Wie für viele junge Wohnungslose üblich, findet Laith in Zeiten der Krise zunächst kurzfristig Unterkunft, indem er bei Verwandten oder Freunden unterkommt. Ebenfalls typisch daran ist, dass keines dieser Arrangements über einen längeren Zeitraum bestand hat. Laith versucht immer wieder, zurück zu seinem Vater zu ziehen, die ungelösten Konflikte, insbesondere mit seiner Stiefmutter, verhindern dies. Laith bevorzugt es schließlich, auf der Straße zu leben, um den ständigen Streitigkeiten zu Hause zu entgehen. Lethargie ‘on the streets’ (Z. 119–130) „[…] ich wusste einfach nich was ich machen sollte ich hab gedacht, dass ich jetz das es jetz erstmal hier im zelt is un dass ich dann im wald schlafen kann un war halt fast eigentlich, ich mein ich war da nur von den zwei wochen zwei drei tage oder so bin ich mal raus gekommen. also was heißt rausgekommen, dass ich mal so unter die leute, die stadt halt gegangen bin un halt sehr, wie soll ich sagen? traurig oder frustriert war un einfach nich weiter wusste un wusste halt was ich machen soll un äh, wie soll ich sagen? einfach zu sehr nachgedacht hab un (--) äh nich dran gedacht hab am anfang erstmal direkt ne lösung zu finden (--) ja. (--)“ (Interview Laith, Z. 119–130)
Laiths Anfangszeit auf der Straße ist durch ausgeprägte Passivität und Lethargie gekennzeichnet. Er sucht nicht den Kontakt zu entsprechenden Szenen, sondern bleibt lieber für sich allein und ungestört. Nachdem er einige Tage an verschiedenen Orten innerhalb der Stadt übernachtet, kann er ein kleines Zelt auftreiben und zieht sich für einige Wochen in einem Waldstück zurück, wo er von seinem jüngeren Bruder mit Lebensmitteln versorgt wird und den Großteil der Zeit mit Nachdenken verbringt. In diesem Zeitraum hat er nur selten Kontakt nach außen, fühlt sich traurig, frustriert und handlungsunfähig, da er keine Lösung für seine Probleme finden kann.
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5 Fallanalysen
SGB II und Auszugsverbot (Z. 253–266; Z. 279–290) „also ich hab davor ja nichts bekommen, un dann bin ich halt dahin gegangen, un also als ich dann dahin gegangen bin zum jobcenter, da haben die äh, mir auch gesagt, ne du kanns bei deinen eltern wohnen, ob, aber die haben mir einfach nich zugehört, wie meine lage halt is, dass ich auf der straße bin unso, das hat den gar nich interessiert un dann halt als ich im [name des obdachlosenheimes] war, hab ich halt sone bestätigung bekommen, dass ich hier auch übernachte un sonstiges= […] =stand auf sonem formular un das hab ich dann den vorgezeigt un dadurch halt haben die mir dann die leistungen also, alg II halt äh für mich, also gegeben halt, dass ich das dann bekomme, un das wurd dann so in tagessätzen halt äh, wird das hier ausgezahlt“ (Interview Laith, Z. 253–266) „[ ja, weil ] ja genau, weil die mir nich zuhören wollten un ham gesagt, äh bis sie 25 sind undso müssen ihre eltern für sie, äh, bezahlen und äh, da, da hat ich auch noch gefragt wie das mit wohnungen, äh, is, da haben die gesagt ja bis sie 25 sin müssen sie bei ihren eltern wohnen, die müssen sie, äh die eltern müssen sie versorgen un sonstiges un dadurch, dass das halt hier durch das [name des wohnungslosenheims] geklappt hat, hab ich, äh auch, äh, halt das geld bekommen und hab auch ne möglichkeit mir ne wohnung zu finden, was ich dann da mit dem besprochen hab äh, is, dass ich dann äh mich jetz, wie soll ich sagen, halt auf wohnungssuche begebe um halt eine wohnung zu finden un das wurde dann da halt auch von der frau bestätigt, dass ich, dass die dass dann übernehmen halt die kosten für ne wohnung“ (Interview Laith, Z. 279–290).
Nachdem Laith seine Lethargie auf der Straße überwunden hat, wendet er sich hilfesuchend an das Jobcenter, um eine eigene Wohnung finanziert zu bekommen. Wie oder warum er sich schließlich zu diesem Schritt entschließt, oder ob ihm jemand von der Zuständigkeit des Jobcenters erzählt hat, erfährt der Zuhörer nicht. Seine Forderungen werden jedoch mit dem Verweis auf § 22 (5) SGB II und die Verantwortung der Eltern bei unter 25-Jährigen zurückgewiesen. Über die Ausnahmeregelung, dass der kommunale Träger zur Zusicherung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung verpflichtet ist, wenn Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen oder ähnlichen schwerwiegenden Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern verwiesen werden können, wird Laith nicht informiert. Er fühlt sich mit seinen Problemen alleine gelassen, nicht ernst genommen und seine aufkommende Handlungsmächtigkeit wird zunächst durch Institutionen blockiert. Als er gegenüber dem Mitarbeiter des Jobcenter mitteilt, er lebe seit einiger Zeit auf der Straße, verweist ihn dieser an ein ortsansässiges Wohnungslosenheim, mit dem Hinweis, dort würde sich um seine Probleme gekümmert. Dass es die Aufgabe des Jobcenters ist, die Grundsicherung für Arbeitssuchende zu gewähren, wird Laith verschwiegen. Er folgt
5.5 Laith – „Dass ich auf der Straße …
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diesem Ratschlag, verlässt sein Zelt und bekommt im ambulanten Bereich eines Wohnungslosenheims ein Notübernachtungszimmer. Mit Unterstützung des Wohnungslosenheims wendet er sich erneut an das Jobcenter, um nachdrücklich und unter Zuhilfenahme der Kompetenz des Sozialarbeiters sein Recht auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung einzufordern, dem schließlich stattgegeben wird, woraufhin sich Laith auf Wohnungssuche begibt.
5.5.4 Inhaltliche Abstraktion Der Verlauf von Laiths Wohnungslosigkeit offenbart eine Paradoxie im SGB II. Laith wendet sich nach der Flucht aus seinem Elternhaus an die zuständigen Vertreter der staatlichen Einrichtungen, die ihn und seine Situation jedoch nicht ernst nehmen und auf das geltende Auszugsverbot im SGB II für unter 25-jährige Leistungsberechtigte verweisen, bzw. ihm Informationen bezüglich Sonderregelungen vorenthalten. Sein Weg in die Wohnungslosigkeit offenbart systemimmanente Hindernisse für junge Erwachsene unter 25 Jahren im Hilfesystem. Laiths Weg in die Wohnungslosigkeit nimmt seinen Ausgang in einer ambivalenten, chaotisierenden Familiensituation und Marginalisierung in familiären Kontexten. Die triadische Beziehung in der Kernfamilie ist von ständigen Konflikten geprägt, da der gewalttätige Vater seine Frau schlägt. Nach Trennung der Eltern hat Laith konstant Probleme mit den neuen Stiefeltern und ist weder bei seiner Mutter, noch seinem Vater willkommen. Er wird zwischen seinen Eltern ‚hin- und hergeschoben‘, was für ihn viele Umzüge, unstete Lebensverhältnisse, Schulwechsel und vor allem Deprivationserfahrungen bedeutet. Laith fühlt sich insbesondere von seinem Vater ungeliebt und macht immer wieder Exklusionserfahrungen in seiner Familie. Die Diskontinuitäten in seinen Lebensverhältnissen wirken sich negativ auf Laiths Bildungserfolg aus und er verlässt die Schule ohne Abschluss. Als ihn sein Onkel bei sich zuhause aufnimmt, erfährt Laith trotz der beengten Wohnverhältnisse Geborgenheit sowie Konstanz und schafft, den Hauptschulabschluss formal über eine berufsvorbereitende Maßnahme nachzuholen. Seine Qualifikation bietet jedoch kaum Perspektiven auf dem primären Arbeitsmarkt. Da die prekäre Wohnsituation bei seinem Onkel auf Dauer keine Perspektive bietet, macht Laith im Ansatz erste Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit durch couch surfen, indem er wechselnd bei Freunden oder Familienmitgliedern unterkommt. Laith lebt in dieser Phase zwar nicht auf der Straße, pendelt jedoch zwischen verschiedenen Unterkünften, ohne wirklich abgesicherten Wohnraum oder dauerhafte Bleibeperspektive in ständiger Unsicherheit. Aus dieser Perspektivlosigkeit etabliert sich bei Laith das Gefühl,
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keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf seines Lebens zu haben und als ihm die Übernachtungsgelegenheiten ausgehen, lebt er zum ersten Mal auf der Straße. Ohne Szenekenntnisse oder Unterstützung versucht er zunächst, einen Schlafplatz in der Stadt zu finden, entscheidet sich schließlich dazu, vorübergehend in die Abgeschiedenheit eines Waldes zu ziehen und in einem Zelt ohne Kontakt zur Außenwelt – mit Ausnahme seines Bruders – zu leben. Der Rückzug in die Einsamkeit ist gewissermaßen die Manifestation seiner Handlungsohnmächtigkeit und ohne Wissen über Hilfeangebote, lebt er von den Pausenbroten, die ihm sein Bruder täglich abgibt. Erst nach einigen Wochen wendet er sich hilfesuchend an das Jobcenter der Stadt, um sich nach Möglichkeiten gesellschaftlicher Unterstützung zu erkundigen. Die Mitarbeiter verweigern Laith mit dem Verweis auf die Sonderregelungen für unter 25-jährige im Rahmen des SGB II, jegliche Leistungen. Er müsse entweder zurück zu seinem Vater oder seiner Mutter und es gebe keine Möglichkeit auf Leistungen. Auf seine Aussage hin, er lebe seit Wochen auf der Straße, wird ihm die Visitenkarte eines Wohnungslosenheims ausgehändigt. Laith stößt auf systemimmanente Hindernisse und fühlt sich von den Vertretern der Institutionen im Stich gelassen. Im Wohnungslosenheim erhält er eine Notunterkunft und ihm wird geholfen, seinen Anspruch auf Grundsicherung durchzusetzen, da er aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern verwiesen werden kann.
5.6 Hamid – „Es gibt den einen, der klaut, weil er habgierig is, ja? Und es gibt den, der klaut, weil er nix zu essen hat“ Im Gegensatz zu den anderen Fallanalysen und Kurzportraits wird Hamids Biografie nicht als Prototyp eines späteren Idealtyps aufgenommen. Die Prozessstrukturen in seiner Lebensgeschichte dienen stattdessen der Schärfung und weiteren Unterscheidung der im Anschluss gebildeten Idealtypen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Hamid 24 Jahre alt und lebt seit seiner Haftentlassung in einer Notübernachtungsstelle für Wohnungslose. In der Einrichtung herrschte vor seiner Aufnahme Uneinigkeit darüber, ob er mit seiner kriminellen Vorgeschichte geeignet für die Einrichtung sei. Im Anschluss an das Interview, zu dem er direkt bereit war, zeigt Hamid seine Akte mit Vorstrafen wegen u. a. besonders schwerem Diebstahl, schwerer Körperverletzung, Nötigung, Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Tierquälerei.
5.6 Hamid – „Es gibt den einen, der klaut …
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5.6.1 Biografische Kurzbeschreibung Hamid wird in der Türkei als Sohn einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters geboren. Während die Familie mit Hamids älterer Schwester kurze Zeit nach seiner Geburt nach Deutschland zieht und einen KFZ-Teile Handel aufbaut, bleibt Hamid zunächst bei seinem Onkel in der Türkei zurück. Mit etwa vier Jahren kommt auch er nach Deutschland, wo er die meiste Zeit im Industriegebiet, dem Büro der Eltern oder dem Autohof ohne andere Kinder verbringt. Hamid freut sich besonders auf jährliche Ferienfreizeiten, wo er mehrere Wochen mit anderen Kindern verbringt. In einer dieser Freizeiten wird Hamid vergewaltigt, was nicht nur für ihn, sondern auch für seine Eltern ein traumatisierendes Ereignis darstellt. Besonders seine Mutter ist mit der Situation und Hamids anschließenden Verhaltensauffälligkeiten überfordert. Auf diese reagiert sie zunächst mit Beschimpfungen, später mit physischen Misshandlungen. Der Vater interveniert zwar in besonders kritischen Situationen, duldet jedoch den Hauptteil der Gewalt seiner Frau gegen ihr gemeinsames Kind. Mit etwa zehn Jahren kommt Hamid zum ersten Mal in eine Einrichtung der stationären Jugendhilfe, worauf in den nächsten Jahren zahlreiche Umzüge und Einrichtungswechsel folgen. In keinem Kinder- oder Jugendheim bleibt Hamid über längere Zeit und er wird immer wieder wegen seines schwierigen, aggressiven Verhaltens rausgeworfen. Als er schließlich volljährig wird, findet sich keine Einrichtung mehr, die bereit wäre, ihn aufzunehmen. Zunächst lebt Hamid eine kurze Zeit auf der Straße, bis er einen alten Bekannten trifft, bei dessen Familie er einige Wochen unterkommt. Die Großfamilie lebt jedoch von Sozialleistungen und in einer prekären Wohnsituation, sodass Hamid nicht länger zur Last fallen will und weiterzieht. Seine eigenen Bemühungen um Sozialleistungen scheitern an der für ihn unüberwindbaren Bürokratie der Jobcenter, da er mit Anträgen und Nachweisen überfordert ist. Er landet schließlich in einer Notschlafstelle für Wohnungslose, wo er von den älteren Übernachtern eingeschüchtert und durch die Räumlichkeiten so abgeschreckt ist, dass er nur eine Nacht bleibt und die Straße vorzieht. Hamid findet einen abgelegenen Wohn wagen, den er sich als Schlafplatz herrichtet. Seinen Lebensunterhalt zu dieser Zeit bestreitet er durch kleinere Diebstähle, in dem er nachts nicht abgeschlossene Autos nach Kleingeld durchsucht. Bald darauf beginnt Hamid, Autoradios sowie Navigationssysteme auszubauen, mit den Autos umherzufahren und diese nach einer Weile wieder abzustellen. Er wird schließlich von der Polizei mit einem gestohlenen Auto und einem Rucksack voller Diebesgut erwischt. Da er bereits wegen mehrerer Delikte auf Bewährung war, wird er zu einer Strafe von zwei-
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einhalb Jahren in einer Jugendvollzugsanstalt verurteilt. Nach eineinhalb Jahren erhält er Vollzugslockerung und Freigang, nutzt diesen allerdings um unterzutauchen. Es folgt eine erneute Episode auf der Straße und routinierten Diebstählen, bis Hamid wieder festgenommen und zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt wird. Nach dieser Zeit vermittelt ihn ein Gefängnisseelsorger an eine Einrichtung für Wohnungslose, in der Hamid zum Zeitpunkt des Interviews lebt.
5.6.2 Formale Textanalyse und Struktur der Haupterzählung Das Interview mit Hamid hat eine Länge von einer Stunde und 38 Minuten, davon entfallen etwa 40 Minuten auf die Haupterzählung. Hamid ratifiziert den Erzählstimulus nach einer kurzen Nachfrage und es entwickelt sich eine detaillierte Haupterzählung, die nachfolgend allerdings nur in Auszügen für eine Schärfung der späteren Idealtypenbildung, aufgeführt wird. Es gibt einige soziale Rahmen, die durch den Aufbau von Spannung, der Angabe des genauen Schauplatzes und der Betonung der Handlungsrelevanz gekennzeichnet sind. Dabei handelt es sich um die Schilderung der erlebten Vergewaltigung, einer konkreten Situation der psychischen Gewalt innerhalb der Familie und der Hafterfahrung. Entlang der vielen Einrichtungswechsel und Umzügen gibt es darüber hinaus zahlreiche kürzere Fragmente, mit deutlich geringerer Detaildichte.
5.6.3 Strukturelle inhaltliche Beschreibung Die zur Unterscheidung von den vorherigen Prototypen relevanten Segmente sind ‚Von Heim zu Heim‘, ‚Folgen der Vergewaltigung‘, ‚Einkommen‘ sowie ‚Routine‘. Von Heim zu Heim (Z.199–226; Z. 244–252) „irgendwann, hats meiner mutter gereicht und äh, sie hat mich ins heim gesteckt, mit zehn jahren. (---) u(::)nd im heim, war ich, am anfang hieß es ich, du bleibs nurn paar wochen odern paar monate, da hab ichs ja noch geglaubt, aber damals als ich umziehen musste un wieder umziehen, äh, ja, da hab ich dann irgendwann realisiert, dass ich eben da bleiben muss, obwohl es aus heutiger sicht vielleicht besser gewesen wär, hab ich damals, war fertisch auch darüber, u(::)nd äh, ja (-) ich da gings weiter, ich war im heim, musste immer wieder umziehen, weil ich rausgeflogen bin, uns jugendamt hat immer wieder n neues heim für mich parat gehabt,
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und äh, ja, das leben in heim is ziemlich langweilisch (--) un anstatt zu merken, dass ich, dass das jetz vielleicht nich die beste lösung is für mich, von heim zu heim zu schicken […] heim, der fliegt raus, nächste heim, der fliegt raus, nächste heim, ja? und, äh, so gings eben weiter jetz, un über die jahre hat sich alles, wie soll ich sagen, es kam immer wieder neues dazu, ja? und ich sag ihnen jetz ehrlich, ich hatte oder hab eine psychische schaden, früher in meine kindheit, ja un in viele dinge, hat es mein leben so geprägt, halt eben, dass ich, äh, auf dem nich klar komm, mit der situation, mit gewissen aufgaben, mit meim leben und arbeit oder so, ja?“ (Interview Hamid, Z. 199–226). „ah ja, okay, da blieb ich noch zwei wochen, bis ich dann keine ahnung wo ich dann verfrachtet wurde, wieder n neues heim und immer wieder neue leute kennen gelernt, immer wieder weil ich immer wieder umziehen musste, so un deswegen fehlt mir halt, mir fehlt irgendwie, soziales, ja, m-mir fehlt einfach, keine ahnung, ob man das vertrauen nennen kann, aber äh (--) wie soll ich, äh, lernen, mit jemand auf einer sozialen basis irgendwie aufzubauen, ich nenns ma so, wenn ich, wenn ich, heute allein schon die einstellung installiert is, dass äh, das eh egal is“ (Interview Hamid, Z. 244–252).
In den beiden Segmenten schildert Hamid seine Erfahrungen mit der stationären Jugendhilfe. Zunächst wurde ihm vermittelt, er würde nur für einen kurzen Zeitraum von seiner Familie getrennt werden. Nach vielen Umzügen und Heimwechseln, beginnt er aber zu realisieren, dass er dauerhaft in Heimen bleiben muss. So wird die nächste Zeit seines Lebens durch immer wiederkehrende Heimwechsel, Rauswürfe und wechselnde Bezugspersonen geprägt. Dem Kondensierungszwang ist geschuldet, dass er nicht detailliert darüber berichtet, warum die Zeit im Heim so langweilig war, oder welche genauen Konflikte zu seinen Rauswürfen geführt haben, diese Episoden reicht er in späteren Segmenten in Hintergrundkonstruktionen nach. Zwar könne er dies aus heutiger Perspektive nachvollziehen, dass ein Heim die richtige Lösung gewesen ist, damals sei die Erkenntnis jedoch schlimm gewesen. Mit vielen Formulierungen („ins Heim gesteckt“ (IH 200); „verfrachtet wurde“ (IH 245)) bringt er seine Handungsohnmächtigkeit in dieser Konstellation zum Ausdruck. Seine Mutter bzw. die Entscheidungsträger der Jugendhilfe sind die handelnden Subjekte seiner Geschichte, er passives, erleidendes Objekt. Mit der Zuschreibung von Wirkmacht gegenüber den Fachkräften geht gleichermaßen die Zuschreibung von Verantwortlichkeit einher: Diese hätten erkennen müssen, dass die ständigen Rauswürfe und Heimwechsel seine Situation weiter verschlimmern und der ständige Austausch von Bezugspersonen seine Fähigkeit, Vertrauen zu erweisen, irritiert. Durch die Fehler in der Jugendhilfe fehle ihm nun „soziales“ und die Fähigkeit, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Die vielen Dinge, die seine
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Kindheit geprägt haben und für seinen „psychische[n] schaden“ (IH 222–223) gesorgt haben, expliziert er in anderen Segmenten, es handelt sich um einen Verweis auf die Erzählungen, in denen er die Misshandlungen durch die Mutter und die Vergewaltigung schildert. Dieses Segment veranschaulicht das verlaufskurvenartige Schema („es kam immer wieder neues dazu“ (IH 221)) seiner Erzählung. Hamid ist nicht in Kontrolle über seinen Lebensverlauf, sondern dieser wird durch äußere, von ihm vermeintlich nicht beeinflussbare Umstände („nächste heim, der fliegt raus, nächste heim“ (IH 219)) bestimmt. Folgen der Vergewaltigung (Z. 58–83; Z. 277–297) „ich denk das war der anfang. ich bin net sicher, auf jeden fall hats nen knack gemacht dann. im kopf dann, denk ich heute. äh, naja, ich war alleine da, später, un wusste nit wie ma zurück kommt, war dunkel, ging, irgendwie bin ich dann zurückgebracht worden, von irgendwelche Leute, weiß ich nich mehr, is schon lange her, und ich hab versucht mit meine mutter darüber zu reden, ich wollts ihr erklären am anfang, wie ma, wies ein kind vielleicht erklären würde, ja? äh, aber, meine mutter kam selbst mit der situation nich klar. ich denk sie wusste in dem moment, ich habs ihr denk ich mal nich erzählt, aber sie wussten es einfach, keine ahnung, wahrscheinlich wie ich aussah oder so, wenn ich mich richtig erinner musste ich der polizei da meine klamotten geben oder meine mutter wollt nich, hat gesagt, nein wir bringen ihn jetz nach hause, dann packen wir die ein, un schicken sie ihnen dann, ja? ich denk sie war ziemlich fertig und äh, als ich mit ihr darüber reden wollte ähm, im auto, ich habs versucht, äh, wollt sie eben nich. äh, heute habe ich dafür verständnis, aber als kind, was denkt ma sich da? Da denkt ma sich, ja guck mal, da is ma einfach feddisch, ja? auf jeden fall, äh, des äh (-) das hab ich die ganzen jahre vergessen, was damals passiert is, keine ahnung, hat einfach klick gemacht un dann wars eben weg. ja, aber eben, ich habs ganz vergessen. wirklich. äh, aber bis jetz, vor zwei jahren etwa, da hab ich mich erinnert. aber äh, nochma zu früher. das hat halt, äh, das hat mich fertisch gemacht, ja, das hat mich traumatisiert. und äh, ich kam auf mein leben damals nich mehr klar. ja, äh (-) äh, ja (-) mir gings echt dreckisch. un dann jahre noch später kopfschmerzen undso“ (Interview Hamid, Z. 58–83)
Hamid schildert in diesem Segment das unmittelbare Geschehen nach einer erlittenen Vergewaltigung. Diese hat in einem Waldstück im Anschluss an eine Nachtwanderung im Rahmen einer Ferienfreizeit stattgefunden. Die erzählenden Anteile beginnen ab dem Moment, in dem er alleine im Wald steht. Vor dieser Erzählung steht die Ergebnissicherung am Anfang des Segmentes: Die Vergewaltigung wird als jener Moment gefasst („das war der anfang […] auf jeden fall hats da nen knack gemacht. im kopf“ (IH 59–60)), der für den weiteren Verlauf seines Lebens determinierend ist. Weiter ist der gesamten Passage eine hohe
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Passivität immanent: die Akteure sind nicht nähere genannte Andere („irgendwelche leuten“ (IA 62)) und Hamid verbleibt als passives Objekt („wurde weggebracht“ (IH 62)). Als Kind und unter den gegebenen Umständen ist Hamid wie gelähmt und überfordert mit der Situation. Nachdem er aus dem Wald zurückgebracht wurde, versucht er auf der Suche nach Trost und Erklärung mit seiner Mutter zu sprechen, die seine Gesprächsversuche jedoch ignoriert. Aus heutiger Perspektive könne er zwar verstehen, dass dies natürlich auch für seine Eltern eine Ausnahmesituation darstellt, zum damaligen Zeitpunkt hat dies seine Hilflosigkeit potenziert. Die Mutter folgt des Weiteren nicht den Anweisungen der hinzugerufenen Polizei, die Kleidungsstücke zur Beweissicherung zu übergeben, sondern bringt Hamid zunächst nach Hause. Die weiteren Folgen der Vergewaltigung, die sich teilweise erst Jahre später offenbaren, für seine Psyche und sein Sexualverhalten erläutert Hamid in einem eigenen Segment ausführlich (vgl. IH 277–297). Segmente Endgültiger Rauswurf aus der Jugendhilfe, erste Erfahrungen auf der Straße und Beginn der kriminellen Karriere (Z. 267–360) In den daran anschließenden Segmenten schildert Hamid ausführlich das ungeplante Ende seiner Jugendhilfekarriere, erste Erfahrungen ohne gesicherte Unterkunft sowie den Beginn seiner kriminellen Karriere. Er ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und lebt betreut in einer Hilfeeinrichtung. In verschiedenen Heimen hat er zwar „sexuelle erfahrungen gemacht mit andren, so mit andre jungen undso“ (IH Z. 286–287), möchte nun zum ersten Mal „richtig“ mit „einem mädchen schlafen“ (IH 296–297). Was seine Sexualität angeht ist Hamid ohnehin unsicher und desorientiert („scheiße ich bin da ziemlich eigen, ja. ich hab so kein punkt, und bei mir sin da so hundert punkte, ja. ja, is eben ziemlich durcheinander, ums ma so zu sagen“ (IH 296–298)). Er schämt sich für seine frühen homosexuellen Erfahrungen, die er mit psychischen Problemen assoziiert und positioniert sich klar heteronormativ. Im Heim stiehlt er Geld, um die Anreise zu seiner Freundin bezahlen zu können. Als Konsequenz für den Diebstahl, vergangene Verfehlungen und dafür, dass er mehrere Tage ohne Erlaubnis unterwegs war, wird er aus der Einrichtung rausgeworfen. Ohne alltagspraktisches Wissen setzt sich Hamid an den Bahnhof, wo er einen Bekannten trifft, der ihn vorerst bei sich aufnimmt. Die Familie lebt von Sozialhilfe und unter beengten Wohnverhältnissen, wodurch Hamid das Gefühl hat, eine zusätzliche Last zu sein.
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Einkommen (Z. 352–378) „un dann fings eben an, dass ich eben, äh (--) irgendwann nachts raus bin un geguckt hab, ob bei offene autos so, ob da die cent und euro stücke hab ich da aus diesen aschenbecher gekramt, wo die leute in parkscheinautomat werfen. ja? äh, so hab ich halt angefangen mir geld zu bekommen un äh, (-) ja (-) ich hab dann auch radios ausgebaut un navigationssystem verkauft, aber ich wurd dadurch nich reich, wenn ma denkt jetz heute, navigationssystem kostet 200 euro oder so, oder heutzutage nich mehr, weil ja eh jeder so smartphone oder so hat, ja? äh, ja ich wurd irgendwie nich reich, auch wenn ich jetz zehn navigationssysteme an nem tag verkauft hab, ja? äh, manchma, das war, sie müssen sich vorstellen, sie gehen raus da zehn cent, da fünf cent, dann is da plötzlich son prall gefüllter aschenbecher, mit was weiß ich so, acht euro oder so, das is dann jackpot ((lacht)) ja? ich mein acht euro, was is das, acht euro, das is was zum essen, du has dann noch bisschen was übrig, unso, aber jetz beiseite. das hat so klein angefangen un wurd halt immer mehr. irgendwann, äh hab ich dann auch, viele leute haben autoschlüssel im auto unso, ja? un dort ne ganze brieftasche im auto, bin ich halt, irgendwann hab ich halt angefangen, auch die autos zu klaun. also mit den paar autos bin ich bloß hin un her gefahren un andres auto hab ich kurz genommen un dann im nächsten dorf abgestellt wieder, äh, aber eins bin ich halt die ganze zeit mit rumgefahrn. un so gings dann weiter so mit autos un hab ich angefangen so in die häuser reinzugehn, ja? und, äh, ja, hat, ich hab geld verdient. ich hab der familie was kaufen können ab un zu, ja hab so trinken gekauft ab un zu kleinigkeiten zu essen, unso ja? äh, das war mir eben lieber so jetz, als äh, da zu nehmen die ganze zeit, weil oder auch nix zu haben oder so, ja? (Interview Hamid, Z. 352–378)“
Hamid beginnt, nichtabgeschlossene Autos nach Wertsachen zu durchsuchen, um die Familie, die ihn aufgenommen hat, zu entlasten. Sukzessive verfeinert er seine Einbruchstechniken und weitet sein kriminelles Portfolio aus. Nachdem er anfänglich nur Kleingeld bzw. geringere Wertsachen aus den Autos entwendet hat, geht er dazu über, Autoradios sowie Navigationssysteme auszubauen und zu verkaufen. Im nächsten Schritt seiner illegalen Tätigkeiten beginnt Hamid, in Häuser einzubrechen und stiehlt Autos die er nach kurzem Zeitraum wieder abstellt. Zu diesem Zeitpunkt hat er genug „geld verdient“, um „der familie was kaufen“ (IH 375) zu können. Sein so realisiertes Einkommen ermöglicht ihm, spendabel zu sein und Hamid pflegt infolge einen – so zeigt das nächste Segment – hedonistischen Lebensstil. Er genießt es, beim Besuch von Diskotheken mit gestohlenen Autos vorzufahren und einen auf „macker“ (IH 380) zu machen. Dieses Segment ist insofern hervorzuheben, da sich Hamid zum ersten Mal nicht als erleidende Person, Spielball äußerer Mächte oder widrigen Umständen darstellt, sondern sich selbst eine aktive Rolle zuschreibt. Er ist plötzlich Subjekt seiner Biografie und nicht länger nur Objekt. Der Kontrast zu seiner bisherigen
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Erzählung, in der er sich eher als handlungsohnmächtig im Kontext bestimmter Ereignisse, seiner Familie, der Schule und Jugendhilfeeinrichtungen konstruiert, wird besonders deutlich, indem er plötzlich aktive Formulierungen wie „hab ich halt angefangen mir geld zu bekommen“ (IH 355–356) oder „ich hab der familie was kaufen können“ (IH 375) verwendet. Erst unter den prekären Wohnverhältnissen, ohne abgesicherten Wohnraum und nachdem er gesellschaftliche Konventionen ablegt, scheint er seine Handlungsfähigkeit (wieder) zu erlangen. Er erfährt soziale Anerkennung, Bewunderung und tritt durchaus Selbstbewusst auf. Aus anfänglichen Bagatelldelikten werden schwere Straftaten und Hamid fühlt sich immer sicherer in einem neuen Lebensstil, bis er schließlich leichtsinnig wird. Hamids erste Phase ohne festen Wohnsitz endet, als er von der Polizei in einem gestohlenen Auto, unter Drogeneinfluss sowie mit Diebesgut aufgegriffen und schließlich zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Routine (Z. 459–471) „äh, aber beim zweiten mal als ich geklaut habe, das war eben, routinierter. ums ma so zu sagen. das war nich so halbe dinger oder so, ich dacht mir, wenn schon machst dus ganz. äh, da hab ich auchnoch paar tage davor auf der straße gelebt unso, hab was weiß ich, in so nem wohnwagen, nem verlassen campiert unter brücken hab ich geschlafen, mit meine hose als decke oder so, keine ahnung ey ((lacht)), ja is eben nich toll, is nich toll. (--) u(::)nd äh, ich kenn des halt wenn ma nix zu essen hat un irgendwann guckt ma bei mcdonalds, vielleicht lässt ja jemand was übrig, undso, ja ich hab damals keine ahnung, so obs caritas oder so was gib ja? ja sowas kenn ich eben ja (---) ja (--) du läufs un deine füße tun voll weh, aber ma muss laufen, ma kann nich einfach stehen bleiben. das is nich toll, ma braut ein Ziel, ja“ (Interview Hamid, Z. 459–471).
In diesem Segment schildert Hamid die Zeit auf der Straße, nachdem er seinen Freigang zur Flucht genutzt hat. In dieser Phase scheint er seine Wirkmächtigkeit erneut zu erlangen bzw. durch illegale Handlungen zu behaupten. Durch Formulierungen wie: „wenn schon machs dus ganz“ (IH 461) in Bezug auf seine kriminelle Karriere, markiert er diese Disposition deutlich. Der biografische Wandlungsprozess kommt originär nicht nur durch intentionale Handlungen zustande, sondern wird dadurch induziert, dass die Straße als große strukturelle Veränderung neue Handlungsmöglichkeiten offenlegt. Bestimmtes Wissen, etwa über Hilfemöglichkeiten („keine ahnung, so obs caritas oder so was gibt“ (IH 468)) fehlt Hamid zwar, stattdessen hat er sich in der ersten Phase seiner Wohnungslosigkeit bestimmte Kompetenzen angeeignet, die ihm nun helfen, auf der Straße bestehen zu können. Er sorgt für eine eigene Tagesstruktur, indem
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er mittlerweile routiniert Diebstähle durchführt und somit ein Einkommen realisiert. Deutlich wird an diesem Abschnitt ebenso, dass Werte wie Moral oder soziale Erwünschtheit keine zwingenden Bedingungen für Handlungsfähigkeit sind. Im Gegenteil, durch die Wohnungslosigkeit und die Anforderungen, den Straßenalltag zu bewältigen, kommt es bei ihm zu einer Reevaluation von Normen. Diese werden pragmatisch so rekonstruiert, dass er den Herausforderungen der Straße gewachsen ist. Hamid ist also nicht trotz der Umstände der Straße handlungsfähig, sondern wegen eben jenen. Da er nicht länger an gesellschaftliche Konventionen gebunden ist, eröffnen sich ihm Möglichkeitsräume, die vorher verschlossen waren. Hier ist bemerkenswert, dass er die geringen vorhandenen Ressourcen nutzt und als sich handlungsfähig wahrnimmt. Hamid empfindet Handlungsfähigkeit als unabdingbar, um überhaupt auf der Straße bestehen zu können, was er durch Formulierungen wie: „aber ma muss laufen, ma kann nich einfach stehen bleiben“ (IH 469–470) verdeutlicht. Sein Konzept von Straße ist dabei von Pragmatismus und bestimmten Notwendigkeiten gekennzeichnet. Er findet es nicht erstrebenswert, übrig gebliebenes Essen in Fastfood Restaurants zu suchen, tut es aber, weil es nötig ist. Andererseits sieht er sich nicht völlig den Zwängen der Straße hilflos ausgesetzt, sondern ist sich bewusst, auf der Straße Strukturen zu seinen Gunsten verändern zu können.
5.6.4 Inhaltliche Abstraktion Hamids Biografie ist bis zu dem Moment, in dem er auf der Straße landet, vornehmlich durch Passivität und Erleiden gekennzeichnet. Ausgehend von der Vergewaltigung und den erlebten Misshandlungen in seiner Familie, über zahlreiche Exklusionsprozesse in Schule sowie in verschiedenen Hilfeeinrichtungen bis zum Rauswurf aus der Kinder- und Jugendhilfe, ist Hamid passives Objekt seines Lebensverlaufs. Erst seit dem Zeitpunkt, ab dem er auf der Straße lebt, bestimmt sich Hamid in seiner Erzählung als handelndes, mit Kontrolle ausgestattetes Subjekt. Hamdis Weg in die Wohnungslosigkeit bestimmen zu Beginn vornehmlich sich wiederholende und ausweitende Exklusionserfahrungen in familiären Kontexten. Die Marginalisierung in der Familie, der Missbrauch durch die Mutter und die passive Duldung des Missbrauchs seitens des Vaters bestärken seine Deprivationserfahrungen und das Gefühl der Einsamkeit. Parallel zur Exklusion aus der Familie findet eine sukzessive Exklusion aus Bildungsorganisationen und der Jugendhilfe statt. Der Besuch der Schule kompensiert keinesfalls die schlechten Voraussetzungen von Hamid, stattdessen verlagern
5.6 Hamid – „Es gibt den einen, der klaut …
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sich die familiären Probleme in die Schule und vice versa. Hamid beendet seine Bildungskarriere formal mit einem Hauptschulabschluss, der als niedrige Qualifikation jedoch kaum Perspektiven auf dem primären Arbeitsmarkt eröffnet. Als Hamid in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe wechselt, vollziehen sich weitere Exklusionsprozesse. Durch sein schwieriges Verhalten entwickelt sich eine negative Dynamik aus Rauswürfen und ungeplanten Hilfeabbrüchen, was weitere Wohnort- wie Schulwechsel und somit unstete Lebensverhältnisse bedeutet. Mit einer Ausnahme sind seine Beziehungen zu helfenden Professionellen von Misstrauen geprägt und im Kontext von Institutionen erlebt er sich als Spielball anderer, der ohnmächtig der vermeintlichen Willkür der Entscheidungsträger ausgesetzt ist. Es gelingt Hamid durch die vielen Umzüge nicht, einen stabilen Freundeskreis aufzubauen, unter Peers ist er eher Außenseiter. Verlässliche, konstante, tragfähige Beziehungen zu signifikanten Anderen finden sich kaum. Kurz nach seinem 18. Lebensjahr vollzieht sich die endgültige Exklusion aus der Jugendhilfe, da sich nach einem weiteren Rauswurf keine weitere Einrichtung findet, die Hamid aufnehmen würde. Durch Zufall trifft er einen entfernten Bekannten, der Hamid nach Schilderung seiner Situation anbietet, vorerst bei ihm unterzukommen. In der Wohnung leben drei Generationen und viele Personen unter beengten Bedingungen und da die Familie nur von Sozialleistungen lebt, sind die Verhältnisse generell prekär. Hamids Versuche, sich um Arbeit oder staatlicher Unterstützung zu bemühen scheitern an fehlendem alltagspraktischem Wissen sowie bürokratischen Hürden, die ihn überfordern. Die Anforderungen der Jobcenter nach Anträgen und Nachweisen stellen für Hamid eine unüberwindbare Barriere und somit ein systemimmanentes Hindernis dar. Da Hamid auf Kosten einer Familie lebt, die ohnehin über wenig Ressourcen verfügt, erfolgt eine Reflexion seiner Situation und damit einhergehend, die Reevaluation von Normen und Werten. Er beginnt im kleinen Stil, offene Autos nach Wertgegenständen zu durchsuchen und verfeinert nach und nach seine Techniken und sein pragmatisches Handlungswissen, um ein Einkommen zu realisieren. Hamid erweitert seine kriminellen Handlungen von Bagatelldelikten bis hin zu Autodiebstahl. Dies trägt zum einen zu seiner Selbstwirksamkeitsüberzeugung bei und verschafft ihm zum anderen eine Form der sozialen Anerkennung, da er die Familie, die ihn aufgenommen hat, finanziell unterstützen kann. Hamid wird schließlich mit einem Rucksack voller Diebesgut ertappt und da er bereits wegen verschiedener Delikte vorbestraft war, zu einer Haft von zwei Jahren verurteilt. Er sitzt den Großteil seiner Strafe ab, nutzt dann allerdings seine Hafterleichterungen und Freigänge zur Flucht. Infolgedessen lebt er zeitweise auf der Straße und kann gelegentlich wieder bei seinem Freund couch surfen.
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5 Fallanalysen
Auf der Straße findet er kreative, pragmatische Lösungen, den Widrigkeiten der Wohnungslosigkeit zu begegnen. Er optimiert seine kriminellen Techniken weiter und richtet sich einen verlassenen Wohnwagen als non conventional building her. Die Straße ist zwar weitestgehend mit ihren Widrigkeiten negativ konnotiert, dennoch erlebt Hamid eine Form der Freiheit. Er deutet gesellschaftliche Konventionen um, indem er seine illegalen Handlungen mit Hunger und Notwendigkeit rechtfertigt und somit gegen habgierige Motive abgrenzt. Nachdem er von der Polizei aufgegriffen wird, muss Hamid zurück in die Justizvollzugsanstalt, wo er sich wöchentlich mit einem Priester trifft und über sein bisheriges Leben spricht. Dieser Priester vermittelt Hamid schließlich nach Ablauf seiner Haftstrafe in ein Wohnungslosenheim.
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Idealtypen
Aus den explizierten Fallanalysen der sechs Realtypen werden im folgenden Kapitel die Idealtypen abstrahiert. Diese dienen dazu, die Entdeckungen im empirischen Material noch einmal verallgemeinernd und wie es für Idealtypen üblich ist – übersteigert (vgl. Kelle/ Kluge 2010, S. 83) – zu beschreiben sowie zu systematisieren, indem konstitutive Ähnlichkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden. Diese werden jeweils zur besseren Veranschaulichung in Form einer bereinigten Falldarstellung präsentiert. Bevor die einzelnen Idealtypen als Kombinationen verschiedener Vergleichsdimensionen vorgestellt werden, müssen zunächst die Kategorien dieser Vergleichsdimensionen geklärt werden. Außerdem wird versucht, das in Abschnitt 4.3.3 beschriebene, abstrakte Vorgehen der Idealtypenbildung in Anlehnung an Kelle und Kluge in den folgenden Kapiteln vor dem Hintergrund des durchlaufenen Forschungsprozesses zu konkretisieren sowie möglichst transparent nachzuzeichnen. Es wird damit versucht, Ordnung in das Chaos derjenigen Sachverhalte zu bringen, die die Fragestellung nach jungen Volljährigen und ihren Wegen in die Wohnungslosen tangieren. Auf der Basis der hinführenden, theoretischen Kapitel und der Analyse des empirischen Materials ergeben sich – je nach Perspektive – zahlreiche mögliche Kategorien und Vergleichsdimensionen. Die im Prinzip einfache Grundidee, möglichst ähnliche Fälle zu Gruppen zusammenzufassen und von möglichst differenten Fällen zu trennen, wird dadurch kompliziert, dass es eine schier endlose Anzahl an Kombinationsmöglichkeiten gibt. Es gilt, einen Kompromiss aus theoretischer Schärfe, ohne sich dabei in zu kleinteiligen Unterscheidungen zu verlieren und heuristischer Komplexitätsreduktion, ohne diese zu weit zu trivialisieren, zu finden. Mit der Bildung von Kategorien und ihrer Dimensionalisierung wird eine wesentliche Grundlage für die Konstruktion von idealtypischen Wegen in die
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_6
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6 Idealtypen
Wohnungslosigkeit gelegt. Bei der Typologie als Gruppierungsprozess, bei der ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen eingeteilt wird, muss darauf geachtet werden, dass sich die Elemente innerhalb eines Typs möglichst ähnlich sind und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (vgl. Kelle/ Kluge 2010, S. 85). Die Kombination von Merkmalsausprägungen bzw. Typen kann auf potentielle Zusammenhänge zwischen Merkmalen und Typen verweisen. Zusätzlich können Fälle, die einer Merkmalskombination zugeordnet werden, einfach auf weitere Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hin untersucht werden und die Identifikation einer neuen Typologie anregen. Dabei ist zu beachten, dass der Prozess der Typenbildung nicht als rein technische (Re)Konstruktion von Merkmalsräumen und Identifikation von Merkmalskombinationen verstanden wird, sondern es geht darum, den Sinn oder die Bedeutung dieser Merkmalskombinationen zu erfassen (vgl. ebd., S. 90 f.). In den folgenden Kapiteln werden die einzelnen Idealtypen ausführlich beschrieben und voneinander abgegrenzt.
6.1 Idealtyp I – Sukzessiv exkludiert werden Dieser idealtypische Weg in die Wohnungslosigkeit ist maßgeblich durch die sukzessive Exklusion der jungen Erwachsenen aus den wesentlichen Strukturierungen des Lebenslaufes, der Familie und dem Erwerbs- bzw. Bildungssystem sowie dem Sozialsystem gekennzeichnet. Die Beziehung zu Anderen ist dabei hauptsächlich von Vertrauensverlust, Instabilität sowie Konflikten geprägt und die jungen Erwachsenen fühlen sich alleine (gelassen) und leiden unter ihrer Einsamkeit. Im Zuge der erlebten Exklusion wird Vertrauen in Andere sowie in Hilfeangebote untergraben und durch Misstrauen ersetzt. Die Betroffenen verlieren allmählich ihre Handlungsmacht, bis sie in einem passiven, geradezu lethargischen Erleiden ihrer Situation gefangen sind. Die Wohnungslosigkeit ist dabei das Ende der Verkettung von vielen, sich gegenseitig bedingenden, sich aufschichtenden Problemen und Straße wird als Lebensort ausschließlich negativ konnotiert. Der Weg der jungen Erwachsenen dieses Typs beginnt durch das Hineingeboren werden in eine ambivalente, chaotische Familie sowie konstant erlebte Marginalisierung in familiären Kontexten bis hin zum Rauswurf und der endgültigen Exklusion aus dem Familiensystem. Die jungen Wohnungslosen erhalten in ihrer Kernfamilie weder Unterstützung noch Rückhalt, stattdessen sind ihre Erfahrungen durch Missachtung, Desinteresse, Vernachlässigung oder dem Erleben psychischer wie physischer Gewalt geprägt. Die jungen Erwachsenen
6.1 Idealtyp I – Sukzessiv exkludiert werden
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verfügen über keine verlässlichen Sozialbeziehungen und die Familien bieten kein sicheres, geborgenes Sozialisations- und Entwicklungsfeld. Typischerweise wachsen sie bei einem Elternteil, meist der Mutter, auf. Die Lebenssituation ist generell prekär, d. h. es sind kaum finanzielle Ressourcen vorhanden, die Wohnverhältnisse sind beengt, außerdem verschärfen Miet- oder andere Schulden die Gesamtsituation. Es gibt höchstens sporadischen Kontakt zum zweiten Elternteil – respektive dem Vater –, der nur für die wenigsten Betroffenen von Bedeutung ist. Sind Stiefeltern vorhanden, ist die Beziehung zu ihnen stereotyperweise von Konflikten geprägt, womit ein weiterer Faktor für die schrittweise familiäre Exklusion gegeben ist. Die Beziehung zu Geschwistern oder nahen Verwandten ist hingegen ambivalent. Zwar können die jungen Erwachsenen diese teilweise in verschiedenen Formen als Ressource aktivieren, etwa dass sie zeitweise durch Großeltern, Tanten, Onkel oder Geschwister unterstützt werden, fällt diese Unterstützung jedoch weg, oder es entstehen dort ebenfalls Konflikte, verschärft sich die Situation weiter. Aus dieser Familiensituation versuchen die jungen Erwachsenen zeitweise zu entkommen, in dem sie in Form von ‚kleinen Fluchten‘ für kurze Episoden von Zuhause weglaufen. Die endgültige Exklusion aus der Familie erfolgt überwiegend fremdbestimmt durch den Rauswurf aus dem Elternhaus oder den Übergang in Formen von stationärer Jugendhilfe. Neben der schrittweisen Exklusion aus der Familie ist dieser idealtypische Weg zusätzlich durch das Fehlen von festen, funktionierenden Beziehungen in außerfamiliären Kontexten gekennzeichnet. Häufige Wohnort-, Schul-, und Einrichtungswechsel und ein unzuverlässiges Umfeld bzw. unstetige Lebensverhältnisse erschweren es, einen stabilen Freundeskreis aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Jugendlichen dieses Weges sind eher Außenseiter und unter Gleichaltrigen mangelt es weitestgehend an Akzeptanz, sodass typische Entwicklungsaufgaben in Verbindung mit der zweiten wichtigen Sozialisationsinstanz, dem Freundeskreis, nur bedingt vollzogen werden können. Im Verlauf dieses typischen Weges bauen die Betroffenen keinen tragenden Freundeskreis auf und entwickeln kein eigenes Partnerschafts- bzw. Familienkonzept oder tragfähige Pläne für die Zukunft. Wie für viele junge Wohnungslose spielt couch surfen auch in diesem typischen Weg eine Rolle. Die jungen Erwachsenen können zeitweise bei Bekanntschaften unterkommen, ohne dass diese Arrangements längerfristig halten. Nach dem Rauswurf aus der Familie können sie nicht auf die dauerhafte Unterstützung eines Freundeskreises oder Verwandten zurückgreifen und die Peer-Beziehungen sind vornehmlich konfrontativ. Zusammenfassend lässt sich zur Sozialsituation sagen, dass im Rahmen dieses typischen Weges in die
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Wohnungslosigkeit keine verlässlichen Beziehungen zu Bezugspersonen – weder in familiären oder professionellen Kontexten, noch unter Gleichaltrigen – aufgebaut werden. Liegt Kontakt zu Anderen vor, dann handelt es sich eher um unsichere, ambivalente Beziehungen, die nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden. Parallel zur erlebten Exklusion aus familiären Kontexten und unter gleichaltrigen Peers werden die jungen Erwachsenen sukzessive aus den weiteren strukturgebenden Institutionen des Erwerbs- bzw. Bildungssystems ausgegrenzt. Die Erfahrungen mit Bildungsinstitutionen sind hauptsächlich durch Exklusion gekennzeichnet. Stephens et al. identifizieren ein stabiles familiäres Umfeld als essenziell für die Bildungskarriere: „[T]he importance of a stable home is emphasised as a precondition to young people’s ability to concentrate on education or work“ (Stephens et al. 2010, S. 218). Vor einem wie hier beschriebenen, schwierigen Hintergrund, mit chaotisierenden Familienkonstellationen sind die jungen Erwachsenen dieses Typs nicht in der Lage, ihre Bildungslaufbahn zu verfolgen. In der Schule sind sie Außenseiter, Opfer von Mobbing und erleben weitere Marginalisierung in Peer-Beziehungen. Sie stellen ihre Lehrer durch unangepasstes Verhalten wie Zuspätkommen, Schulschwänzen bis hin zu Gewalttätigkeiten vor Herausforderungen. Schulverweise und häufige Schulwechsel zementieren ihren Status als Problemschüler, sodass ein Kreislauf aus Stigmatisierung, Exklusion (aus Bildungsorganisationen) und inadäquatem Verhalten entsteht. Der Besuch der Schule kompensiert keinesfalls die schlechten Voraussetzungen der jungen Erwachsenen, die familiären Probleme verlagern sich stattdessen in die Schule und vice versa. Die Bereitschaft, für ihr Verhalten Verantwortung zu übernehmen ist dabei in den Interviews unterschiedlich ausgeprägt. Einige sehen sich ausschließlich als Opfer und verorten die Schuld bei Eltern, Lehrern und Mitschülern, andere erklären, dass ihr Verhalten in verschiedenen Situationen (z. B. Gewalt oder Sachbeschädigungen in der Schule) unangebracht war und gestehen sich eine Mitschuld an den Ereignissen ein. Unter diesen Rahmenbedingungen schaffen nur die Wenigsten einen höheren Schulabschluss und üblicherweise eröffnen die (wenn) erlangten, niedrigen Qualifikationen kaum Optionen auf dem primären Arbeitsmarkt. Neben einer mangelnden oder schlechten Qualifizierung gibt es weitere Faktoren, die den Einstieg in die Erwerbstätigkeit erschweren. Vor dem Hintergrund der kumulativen Probleme: keine Unterstützung seitens der Familie oder anderen sozialen Netzwerken, Zugehörigkeit zur Straßen- oder Junkie Szene, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, psychische Hilfebedürftigkeit, prekäre bzw. unsichere
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Wohnsituation, fällt es den jungen Erwachsenen schwer, den Verpflichtungen einer Ausbildung oder Beschäftigung nachzukommen. Ohne Beschäftigung (und außerdem auch ohne alltagspraktisches Wissen, wie man sich z. B. in der Rolle eines interessierten Mieters verhält), sind die Chancen gering, nach dem Rauswurf eine eigene Wohnung zu finden, bzw. zu unterhalten. Somit eröffnen sich aus der Perspektive dieses Typs keine Alternativen1 zur Straße. Die jungen Erwachsenen bzw. präziser in dieser Phase ihrer Biografie – Jugendlichen – haben teilweise seit ihrer Kindheit Kontakt zum Jugendhilfesystem und die Situation gleicht mit vielen Exklusionserfahrungen den erlebten Vorgängen im Rahmen ihrer schulischen Laufbahn. Die Arbeitsbeziehungen zu helfenden Professionellen sind maßgeblich durch Misstrauen und Schuldzuweisungen geprägt. Zahlreiche Einrichtungswechsel, als deren Ursachen delinquente, nicht tolerierbare Verhaltensweisen, Drogenkonsum oder Konflikte mit Bewohnern wie Mitarbeitern genannt werden, führen dazu, dass die Jugendlichen von Einrichtung zu Einrichtung geschickt werden. Im Anschluss an die Exklusion aus familiären Bezügen und parallel zum Ausschluss aus dem Bildungs-, respektive Erwerbssystem, trägt somit ein weiterer Prozess zu den sich wiederholenden und ausweitenden Exklusionserfahrungen bei. Mit den vielen Rauswürfen aus verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe geht üblicherweise auch der Abbruch der Beziehung zu den in den entsprechenden Institutionen tätigen Sozialarbeitern nach Beendigung der Hilfe einher. Dies bedeutet, dass die jungen Wohnungslosen dieses idealtypischen Weges weder innerhalb noch außerhalb von Einrichtungen auf konstante, verlässliche Bezugspersonen zurückgreifen können und sich keine Beziehungsmuster zu signifikanten Anderen finden, die als harmonisch oder unterstützend bezeichnet werden könnten. Strukturen und Angebote, die eigentlich den Verlust von Familie kompensieren sollen, greifen nicht, schließen die jungen Erwachsenen immer weiter aus, bis die von zahlreichen Brüchen gekennzeichnete Institutionskarriere in letzter Konsequenz auf der Straße endet. Parallel zur sukzessiven Exklusion in sozialen und institutionellen Kontexten wird das Vertrauen der jungen Wohnungslosen schrittweise erodiert. Durch negative Erfahrungen und Erlebnisse, in denen missbrauchtes Vertrauen zu negativen Konsequenzen geführt hat, verlieren sie selbiges in ihre Mitmenschen.
1Zwar
gibt es Alternativen zu einem Leben auf der Straße wie Wohnungslosenheime, Notschlafstellen etc., diese werden aus der Perspektive dieses Typs durch verschiedene konstitutive Merkmale dieses Typs jedoch nicht als Optionen wahrgenommen.
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6 Idealtypen
Dadurch entstehen große Unsicherheiten in zwischenmenschlichen Interaktionen, was wiederum die Exklusionsprozesse festigt. Das Vertrauen in Fachkräfte, Experten, Institutionen sowie deren Repräsentanten geht unter ähnlichen Bedingungen, mit negativen Erfahrungen von konfliktbelasteten und abgebrochenen Hilfen verloren. Dabei bleibt es nicht bei einem Verlust von Vertrauen und der Annahme, dass ihre Mitmenschen, die zuständigen Fachkräfte oder Vertreter von Institutionen sich nicht für die Situation der jungen Wohnungslosen interessieren. Es wird regelrecht Misstrauen aufgebaut, was sich darin äußert, dass die jungen Erwachsenen davon überzeugt sind, dass gewährtes Vertrauen stets zu ihrem Nachteil ausgelegt wird, um die prekäre Situation weiter zu zementieren oder gar zu verschlechtern. Die akkumulierten Sozial- und Milieuerfahrungen der jungen Wohnungslosen führen dazu, dass auf verschiedenen Ebenen, im Rahmen von Sozialbeziehungen oder im Rahmen von professionellen, organisatorisch vermittelten Interaktionen, Vertrauensdefizite vorliegen. Die Straße hat für die Betroffenen dieses Verlaufs keine herausragende Bedeutung im Sinne eines Pull-Faktors. Sie ist stattdessen Endstation eines Weges im Anschluss an vielfältige Exklusionsprozesse, Vertrauensverluste und verlorener Handlungsfähigkeit. Die Straße, oder vielmehr das Leben auf der Straße, wird von den Betroffenen ausschließlich negativ wahrgenommen und wird passiv/ lethargisch erlitten sowie ausgehalten. Substanzkonsum hilft, die objektiven Widrigkeiten wie Kälte, Nässe, Mangel an Rückzugsmöglichkeiten, Hunger und Durst zu ertragen sowie die subjektiven Scham- und Angstgefühle zu betäuben. Es wird zwar teilweise in entsprechenden Szenen verkehrt, diese haben aber nicht den Effekt eines Pull-Faktors, im Sinne einer verschworenen Gemeinschaft oder idealisierten Vorstellungen von Zusammenhalt, sondern werden aus der Not heraus frequentiert. Das Partizipieren an szenetypischen Bewältigungsstrategien und die Integration in das Straßenmilieu führt dabei zu einer weiteren Prekarisierung der Lebenssituation sowie Reproduzierung des Außenseiterstatus. Unter den im Rahmen dieser Studie interviewten Wohnungslosen, die diesem Idealtyp zugeordnet werden können, lassen sich am Ende ihres Weges in die Wohnungslosigkeit zwei gegensätzliche Tendenzen beschreiben: Die Einen bleiben weitestgehend passiv, erleiden lethargisch ihre Situation und versuchen maximal die Widrigkeiten und aufkommenden negativen Gefühle durch Substanzkonsum zu betäuben. Für jene ist die Straße gewissermaßen die Dystopie ihrer blockierten, erodierten und verloren geglaubten Handlungsfähigkeit. Bei den anderen lässt sich hingegen ein Wiederaufkommen der Handlungsfähigkeit
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beobachten. Sie versuchen auf der Straße plötzlich aktiv, kreative Lösungen2 zu finden und die Gegebenheiten zu optimieren. Sie sorgen für ein Einkommen, z. B. durch Kleinkriminalität, bauen oder gestalten ‚non conventional buildings‘, (re-) aktivieren Ressourcen, beginnen Netzwerke aufzubauen etc. und zeigen ein gewisses Maß an Widerstandsfähigkeit. Diese Prozesse werden im Idealtyp Straße als Möglichkeitsraum verstehen weiter ausgeführt. Mit der sukzessiven Exklusion aus den wesentlichen Strukturgebern des Lebenslaufs und dem sukzessiven Verlust von Vertrauen einhergehend, verlieren die Betroffenen schrittweise das Vermögen, über die Ausgestaltung ihres Lebens Kontrolle auszuüben. Da die wenigen Versuche, Lebensumstände aktiv zu gestalten, für diesen Typ üblicherweise misslingen und institutionell gerahmte Statuspassagen ebenfalls scheitern, geht die Selbstwirksamkeitsüberzeugung immer weiter verloren, bis die jungen Erwachsenen ihre Lebensumstände nur noch passiv erleiden, aushalten und lethargisch hinnehmen. Dabei spielt auch wechselseitige Beziehung zwischen Vertrauen und Handlungsmacht eine wichtige Rolle, denn Handlungspotentiale werden immer weiter eingeschränkt, je mehr Vertrauen verloren geht. Weitere Variablen im Kontext von Handlungsmächtigkeit, wie soziale Unterstützung (nicht oder nur kaum vorhanden), andere Personen (hauptsächlich als Antagonisten) oder Beschränkungen (mannigfaltig vorhanden) wirken im Verlauf dieses idealtypischen Weges in die Wohnungslosigkeit hemmend. Die jungen Erwachsenen verlieren nach und nach die Fähigkeit zum kreativen, reflexiven Umgang mit den begrenzenden und ermöglichenden strukturellen Bedingungen, wobei ein deutliches Ungleichgewicht zuungunsten der ermöglichenden strukturellen Bedingungen herrscht und vielfältige begrenzende strukturelle Bedingungen vorliegen. Immer wiederkehrende Alltagsprobleme bleiben ungelöst, da sich die jungen Erwachsenen nicht auf erfolgreiche Routinen verlassen können. Dies ist eng mit den erlebten Exklusionsprozessen aus den Strukturgebern des Lebenslaufs verbunden. Durch den Verlust von wichtigen Sozialisationsfeldern verlieren die jungen Wohnungslosen verlässliche Strukturen, in denen eben jene Routinen, Kompetenzen oder Rituale erlernt werden könnten, mit denen aufkommende Konflikte adäquat adressiert werden könnten (siehe iterative Dimension bei Emirbayer/ Mische, Abschnitt 3.2.1).
2Auch dieser Code orientiert sich nicht an sozialer Erwünschtheit und bezeichnet auch, wie im Beispiel von Hamid, kriminelle Handlungen, um ein Einkommen zu sichern.
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6 Idealtypen
Dies ist insofern fatal, da die die Distanzierung von Routinen und der kreative Umgang mit Anforderungen und Handlungsnotwendigkeiten nicht als Gegengewicht überbetont wird. Die jungen Erwachsenen können keine reflexive Distanz zu den übernommenen Handlungsmustern übernehmen, die darüber hinaus nicht, wie von Emirbayer und Mische positiv formuliert: stabilisierend oder endlastend (siehe projektive Dimension bei Emirbayer/ Mische, Abschnitt 3.2.2) wirken, sondern eher im Gegenteil: verunsichernd oder hemmend. Die Schematisierung der kumulierten sozialen Erfahrung führt dazu, dass sie wie selbstverständlich Handlungsmuster abrufen, die wenig agentativer Natur sind und/ oder Möglichkeitsräume weiter einschränken. Durch die Erwartung, dass sich negative Auswirkungen wiederholen, ist zwar auch eine Orientierung an der Zukunft dem agentativen Prozess immanent, jedoch nicht in der Form, dass kreative, innovative, alternative Lösungen entworfen werden, oder sich reflexiv mit der eigenen Zukunft, den Potentialen, Widrigkeiten und Handlungsspielräumen auseinandergesetzt wird. Die jungen Wohnungslosen sind darüber hinaus weder in der Lage, funktionierende Strukturen zu erhalten (aus Mangel an eben jenen), noch dazu fähig, Strukturen zu gestalten, um Möglichkeitsräume überhaupt als solche wahrzunehmen oder zu öffnen. Zwar sind in jeder konkreten Handlung die drei analytischen Dimensionen von Agency identifizierbar, allerdings – und das ist für diesen idealtypischen Weg, der sehr verlaufskurvenartig konstituiert ist, relevant – kommt es zu einer Überbetonung der Vergangenheit. Durch die Aufschichtung von negativen Erfahrungen vermögen die jungen Wohnungslosen durch die als übermächtig erlebten Ereignisse und deren Rahmenbedingungen, nicht aktiv zu handeln, sondern werden zu rein reaktiven, oder gänzlich passiven Verhaltensweisen gezwungen. Ein typisches Beispiel wäre der Drogenkonsum, um die widrigen Umstände der Straße zu ertragen. Es könnte argumentiert werden, dass der Flucht in Rausch als eine Form von Eskapismus, oder auch die Flucht vor Misshandlungen auf die Straße, Agency immanent ist. Die jungen Erwachsenen dieses idealtypischen Weges können sich allerdings nicht durch einen Prozess der Reflexion unterschiedlich auf die begrenzenden Bedingungen von Handlung beziehen und keine alternativen Handlungsmöglichkeiten entwerfen, was einem handlungsfähigen Akteur entsprechen würde. Durch die kumulative Exklusion aus den Strukturgebern des Lebenslaufes, der spezifischen Ausgestaltung der strukturellen Kontexte sowie dem Vertrauensverlust in Andere, betrachten die jungen Wohnungslosen dieses Typs ihren weiteren Lebensverlauf als wenig gestaltbar. Die projektive Dimension von Agency (Abschnitt 3.2.2) spielt keine relevante Rolle. Die jungen Erwachsenen können sich nicht von Schemata und Gewohnheiten (Rausch, passives Erleiden) lösen
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und diese in Übereinstimmung mit Sehnsüchten oder Zielen zu neuen Handlungsmöglichkeiten rekonstruieren. Zu der Disposition mangelnder Agency tragen die frequentierten Institutionen und die Arbeitsbeziehungen zu helfenden Professionellen zusätzlich bei. Die jungen Erwachsenen empfinden sich als Spielball und als handlungsunfähige Objekte im Kontext von Institutionen und deren Repräsentanten. Institutionell und gesellschaftlich gerahmte Strukturen werden seitens der jungen Wohnungslosen ausschließlich als begrenzend und nicht als ermöglichend oder beeinflussbar wahrgenommen. Die dritte Dimension von Agency, die praktisch-evaluative Dimension (Abschnitt 3.2.3), ist unter den jungen Wohnungslosen dieses Typs ebenfalls wenig ausgeprägt. Getroffene Entscheidungen müssen eigentlich in Anbetracht ihrer Ungewissheiten und Kontingenzen beurteilt und mitunter verworfen werden. Dies ist schlichtweg dadurch bedingt, dass die Wohnungslosen ohnehin keine zukünftigen Projekte entwerfen oder Ziele verfolgen, die erlernte Routinen konfrontieren könnten und somit kritisch evaluiert werden müssten. In ihrem Fatalismus gefangen besteht nicht der Bedarf an eben jener praktischen Evaluierung. Generell spielen signifikante Andere als zentrale Ereignisträger für diesen typischen Verlauf auch in Bezug auf die Handlungsfähigkeit eine wichtige Rolle. Soziale Akteure in den Biografien (innerhalb wie außerhalb der Familie) sind insofern für die Agency der Betroffenen relevant, da sie als (imaginierte) Opponenten und Antagonisten der Biografieträger empfunden werden. Die zentralen Ereignisträger können durchaus in Prozesse des Erleidens eingebunden sein, die schließlich so übermächtig werden können, dass das zunächst intentionale Handeln des Geschichtenträgers dahingehend verändert wird, dass lediglich noch ein Reagieren auf die äußeren Umstände verbleibt und die eigene biographische Planung aus der Aufmerksamkeit ausgeblendet wird (vgl. Glinka 2016, S. 56). In den entsprechenden Interviewstellen dominieren Passagen, in denen Andere die Handlungsfähigkeit der Biografieträger erodieren, indem sie den Plänen der jungen Erwachsenen im Weg stehen, deren Fähigkeiten anzweifeln, Vorhaben sabotieren oder ihre Unterstützung verweigern. Es ist zudem eine mögliche Verbindung von Vertrauen und Handeln (bzw. Aktionsradius, Handlungsspielraum) identifizierbar, die für die Handlungsmächtigkeit relevant ist; die „Unfähigkeit, Vertrauen zu erweisen, begrenzt auch [die] Möglichkeit, Vertrauen zu erwerben. Das Handlungspotential wächst, in dem Maße, als das Vertrauen wächst“ (Luhmann 2000, S. 49). Umgekehrt bedeutet dies, dass, mit dem Verlust von Vertrauen oder Aufbau von Misstrauen Handlungspotential eingeschränkt wird. Es gibt also zumindest in bestimmten Kontexten offenbar eine Verflechtung zwischen Vertrauen und Agency.
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6.2 Idealtyp II – Straße als Möglichkeitsraum verstehen Unter diesem Idealtyp werden zwei typische Wege gefasst, die aneinander anschließen und sich gegenseitig bedingen können, aber nicht zwingend müssen. Jene, die die Straße als Möglichkeitsraum entwerfen und jene, die sie als Möglichkeitsraum erleben. Das konstitutive Merkmal im ersten Fall ist eine positiv konnotierte, idealisierte Vorstellung von einem Leben auf der Straße, das Selbstverwirklichung, Freiheit und Abenteuer verspricht. Während im vorherigen Typ Krisen, familiäre Probleme und sich verfestigende Verlaufskurven als Push-Faktoren für die Wohnungslosigkeit der jungen Erwachsenen verantwortlich sind, wirkt hier die Straße selbst als starker Pull-Faktor mit der Verheißung alternativer Lebensstile und subkultureller Werte. Typisch für diesen Verlauf ist eine selbstgewählte Desintegration aus familiären Bezügen, die durch alternative Szenen ersetzt werden. Die Straßenszene verspricht Erlebnisreichtum, Erfahrungsdichte und Abgrenzung zu Menschen, die einen vermeintlich bürgerlichen Alltag leben. Auf der Suche nach Freiheit und alternativen Lebensstilen fliehen die jungen Erwachsenen vor den (empfundenen) Einschränkungen der bürgerlichen, konservativen oder auch prekären Lebenswelt ihres Elternhauses. Sie versuchen so auf rebellische Art ihre Unabhängigkeit und Emanzipation gegenüber ihrer Familie, aber auch der Gesellschaft, zu behaupten. Die jungen Erwachsenen dieses Typs inszenieren sich als ungebundene Abenteurer, Freigeiste und ‚Outlaws‘, die nach größtmöglicher Selbstverwirklichung und Autonomie streben. Die Zugehörigkeit zu entsprechenden Szenen ist für die jungen Erwachsenen untrennbar mit dem Stigma der sozialen Randständigkeit und Außenseitertum verbunden, was eine soziale Exklusion – die selber forciert wird – weiter verstärkt. Die jungen Wohnungslosen fühlen sich von alternativen Szenen und subkulturellen Werten angezogen. Dies bedeutet, Freunde und Bekannte, die einen sicheren, beständigen ‚Normallebenslauf‘ anstreben, verlieren nach und nach ihre Attraktivität und werden durch ‚Außenseiter‘ sowie Szenen ersetzt, in denen vermeintlich wahre Werte ausgelebt werden. Bis zu einem gewissen Maß ist delinquentes Verhalten unter den sozialen Kontakten erwünscht, um sich so von den bürgerlichen ‚Alltagsmenschen‘ abzugrenzen, sich als Outlaws zu inszenieren und subkulturelle Werte auszuleben. Mit Schütze gesprochen vollzieht sich ein Handlungsschema von biografischer Relevanz, durch die „systematisch geplanten und vollzogenen Loslösungen aus
6.2 Idealtyp II – Straße als Möglichkeitsraum verstehen
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sozialen Gruppen des angestammten Lebensmilieus“ (Schütze 1981, S. 70 f.). In diesem bestimmten Fall vollzieht sich das Handlungsschema jedoch ohne „die in Normalformerwartungen vorhandenen Schritte zu bewältigen“ (ebd., S. 71), also etwa das Sicherstellen eines Einkommens oder eines Rückzugsortes. Zentrales Handlungsziel besteht darin, aus konservativen, bürgerlichen, ‚normalen‘ Herkunftsmilieus auszubrechen, um in Phasen von Stagnation oder Desorientierung Handlungsfähigkeit zu behaupten. Die Straße und ein verändertes soziales Umfeld bieten einen neuartigen Möglichkeitsspielraum für biografisch relevante Ereignisse und Aktivitäten. Im Vergleich zu den anderen jungen Wohnungslosen besitzt dieser Typ entweder höhere und qualifiziertere Schulabschlüsse, die durchaus Perspektiven auf dem primären Arbeitsmarkt ermöglichen würden oder ihre Bildungsabschlüsse sind ähnlich prekär wie in den vorherigen Typen. Im ersten Fall stehen die jungen Erwachsenen dem Erwerbssystem als solches kritisch gegenüber und sind nicht bereit, Freiheit und Freizeit zugunsten von einer sicheren Beschäftigung aufzugeben. Dabei wird sowohl die mangelnde Autonomie und der Alltag der meisten Berufe, als auch das kapitalistische System kritisiert. Geregelten Arbeitszeiten zu folgen, um unternehmerische Gewinne zu maximieren, liegt nicht in ihrem Interesse. Stattdessen verfolgen sie idealisierte Vorstellungen, durch alternative Möglichkeiten, z. B. als Künstler oder Musiker für ein Einkommen zu sorgen. Dabei sind sie sich der Tatsache bewusst, dass ein solches Einkommen unregelmäßig, gering, wenig planbar ist und nur durch große Einschränkungen für ihren Lebensunterhalt sorgen kann. Im zweiten Fall von niedrigen (oder keinen) Bildungsabschlüssen wird die Straße als Alternative zu einem auf prekäre Beschäftigung beschränkten Leben in Betracht gezogen. Die Straße wird als Möglichkeitsraum imaginiert ohne durch gesellschaftliche Konventionen eingeschränkt zu werden. Ein Leben ohne diese Zwänge verheißt Freiheit und Abenteuer, ermöglicht das Ausleben von subkulturellen Lebensstilen und Werten, verspricht ein Dasein als Outlaw und Freigeist. Die Straße – oder vielmehr die idealisierten, romantisierten Vorstellungen von einem Leben auf der Straße – wirkt hier als eigenständiger Pull Faktor. Während in den anderen Typen die Straße möglichst vermieden wird (Hilfenetz nutzen) oder vorhandene Push Faktoren (Exklusion, Ärger mit (Stief-)Eltern, Lehrern, Mitarbeitern der Jugendhilfe, Gewalt und Missbrauchserfahrungen) dominieren oder fehlende Alternativen die jungen Wohnungslosen auf die Straße drängen (sukzessiv exkludiert werden sowie aus der Bahn geworfen werden), wird in diesem idealtypischen Weg die Straße als erstrebenswerte Lebenswelt konstruiert. Viele der idealisierten Vorstellungen eines Lebens auf der Straße erweisen sich für einen Teil der jungen Wohnungslosen dieses Typs nach einiger Zeit als
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eben das: idealisierte Vorstellungen. Sie stellen fest, dass sie die gesellschaftlichen Zwänge und Konventionen nur gegen andere Zwänge der Straße eingetauscht haben. Die Probleme, die sie vermeintlich hinter sich gelassen haben, werden durch jene ersetzt, die zwangsläufig mit einem solchen Leben einhergehen. Sie stellen des Weiteren fest, dass es auf der Straße keine kompromisslose Freiheit gibt und ihre Selbstverwirklichung durch die Alltagsbewältigung eingeschränkt wird. Zwar müssen sie nach keinem durch Erwerbsarbeit (bzw. Schuleoder Ausbildung) strukturierten Tagesablauf leben, stattdessen müssen sie Zeit und Energie aufwenden, um einen sicheren Schlafplatz zu finden und herzurichten, Essen, Trinken sowie rudimentäre Wasch-/ Hygienemöglichkeiten organisieren und für ein alternatives Einkommen zu sorgen. Die Ablehnung von gesellschaftlichen Normen, und Reevaluation von Werten, die sich nicht an Kategorien wie sozialer Erwünschtheit orientierten, führen dabei zur Reproduktion ihrer exkludierten Position und Verfestigung ihres Außenseiterstatus. Im zweiten Fall erleben die jungen Wohnungslosen die Straße als Möglichkeitsraum. Dies sind jene jungen Erwachsenen, die auf der Straße, losgelöst von empfunden Einschränkungen gesellschaftlicher Konventionen in den scheinbar begrenzenden Strukturen Chancen sehen oder schaffen. Die Straße wird für sie zu einem Ort kreativer Möglichkeiten, indem sie Lösungen finden, um den Widrigkeiten der Wohnungslosigkeit zu trotzen und ihre Handlungsfähigkeit zu behaupten. Im Gegensatz zum Fatalismus, der in den ersten Idealtypen mit der Straße zusammenhängt, oder dem Idealismus im ersten Teil dieses Typs, herrscht hier Pragmatismus auf der Straße. Mit eben jenem Pragmatismus und Einfallsreichtum schaffen es die jungen Wohnungslosen, ihren Alltag zu strukturieren und zu gestalten, indem sie z. B. non conventional buildings herrichten oder eine Einkommensquelle organisieren. Gelöst von den empfundenen Einschränkungen, Bevormundung oder Überwachung z. B. in Heimen, leben sie ihre Freiheit aus, testen und verfeinern – teilweise delinquente – Strategien zur Einkommensbeschaffung, (re-) aktivieren Ressourcen und beginnen, Netzwerke aufzubauen. Damit schaffen es die jungen Wohnungslosen, sich von ihrer Selbstwirksamkeit zu überzeugen und in der Szene soziale Anerkennung zu erhalten, auch wenn bestimmte Formen ihrer Handlungsfähigkeit aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive als destruktiv angesehen werden. Die praktisch-evaluative Dimension von Agency spielt für diesen idealtypischen Verlauf in beiden Ausprägungen eine besondere Rolle. Im ersten Fall, der Straße als imaginiertem Möglichkeitsraum, scheitern die projektiv entworfenen Zukunftspläne an den Bedingungen der realen Welt. Im Zuge der Problematisierung, stellen die jungen Wohnungslosen fest, dass ihre Situation mehrdeutig und unsicher ist. Die Realität ist nicht nur bis zu einem gewissen
6.2 Idealtyp II – Straße als Möglichkeitsraum verstehen
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Grad widerständig gegenüber einer unmittelbaren oder mühelosen Umsetzung ihres Projektes Freiheit auf der Straße, sie steht dem diametral entgegen. Verstärkt wird die Unsicherheit dadurch, dass keine iterative bzw. habituelle Aktivität die entstehenden Kontingenzen durch Routinen abfedern kann. Im zweiten Fall wird die Straße im Kontext der praktisch-evaluativen Dimension von Agency als Möglichkeitsraum erlebt. Mit zahlreichen Unsicherheiten und Kontingenzen konfrontiert, müssen die jungen Wohnungslosen Beurteilungen und Entscheidungen in Angesicht einer beachtlichen Ungewissheit vornehmen. Es stellen sich, in der ersten analytischen Komponente praktischer Evaluation, die Fragen nach sicherer Unterkunft, Formen der Unterstützung, (Re-)aktivierung von Ressourcen, dem Sicherstellen eines Einkommens. Diese durchaus anspruchsvolle, situative reflexive und interpretative Arbeit führt dazu, dass verschiedene Möglichkeiten der Straße, die mitunter unkonventionell sind, genutzt werden. Das kreative und effektive Nutzen von vorhandenen Ressourcen kann z. B. der Umbau eines verlassenen Wohnwagens zu einem ‚non conventional building‘ sein und ein Einkommen kann z. B. durch Einbrüche, Diebstähle, das Einsammeln von Pfand oder betteln gesichert werden. Während Projektivität als Prozess zwar immer gesellschaftlich und kulturell eingebettet – aber nicht dogmatisch an soziale Erwünschtheit, bzw. moralische Überlegenheit gekoppelt ist – zeigt insbesondere der zweite Fall, dass das Lösen von gesellschaftlich akzeptierten oder erwünschten Reaktionen auf Probleme auch in der praktisch-evaluativen Dimension handlungsermächtigend wirken kann. Wie bereits von Emirbayer und Mische erkannt und in den Abschnitten 3.2.1 bis 3.2.3 ausführlich erläutert, sind dies nicht immer glückliche Lösungen von Problemen, sondern häufig die Wahl des geringeren Übels. Selbst relativ unproblematisch erscheinende Handlungen können Rückkopplungseffekte initiieren, die wiederum neue Probleme für die Handlung bedeuten und die sich der Kontrolle der Akteure entziehen. Im Falle der jungen Wohnungslosen können dies Bewältigungsstrategien sein, die gesellschaftliche Exklusion weiter zementieren und/ oder weitere Stigmatisierungsprozesse in Gang setzen. Auch wenn die Straße auf den ersten Blick kaum Handlungsspielräume bietet, erleben sich die jungen Erwachsenen dieses Typs in der Wohnungslosigkeit als agentiv und selbstbestimmt, handelnd und handlungsmächtig. Im Gegensatz zu den vorangegangenen idealtypischen Wegen zeigt sich Agency hier insbesondere in seiner kreativen, rekonstruktiven, als auch praktisch-evaluativen Dimension. Die jungen Erwachsenen distanzieren sich von jenen Traditionen und Gewohnheiten, die soziale Identitäten sowie Institutionen begrenzen. Sie rekonstruieren Schemata in Übereinstimmung mit aufkommenden Sehnsüchten nach bedingungsloser Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung oder indem
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6 Idealtypen
die Straße als Möglichkeit erlebt wird, aus verlaufskurvenartigen Prozessen des Erleidens auszubrechen und Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen oder zu behaupten. Diese jungen Wohnungslosen bleiben nicht handlungsmächtig trotz, sondern wegen der Straße.
6.3 Idealtyp III – Aus der Bahn geworfen werden Das konstitutive Merkmal dieses idealtypischen Weges in die Wohnungslosigkeit stellt ein kritisches Lebensereignis dar, welches einen plötzlichen Kontroll- und Vertrauensverlust herbeiführt. Im Vergleich zum ersten Typus geschieht dies nicht durch sukzessive und sich aufschichtende Prozesse, die sich über einen längeren Zeitpunkt vollziehen Das Ereignis trifft die Biografieträger unmittelbar, unerwartet und unvorbereitet – und aus diesem Grund besonders schwer. In Abgrenzung zum ersten idealtypischen Weg in die Wohnungslosigkeit ist die Familiensituation der jungen Wohnungslosen in diesem Verlauf zunächst deutlich unproblematischer. Es gibt zwar, wie in jeder Familie, Konflikte und Spannungen, diese haben aber vermeintlich nicht das Potential, sich zu einer Verlaufskurve oder Krise zu entwickeln. Kennzeichnend für diesen Typ ist jedoch eine spontane Exklusion aus familiären Bezügen durch ein besonders kritisches, traumatisches Ereignis, welches nicht adäquat verarbeitet wird. Bei einem solchen plötzlichen, schwerwiegenden Ereignis, das die jungen Erwachsenen völlig unvorbereitet trifft und aus der Bahn wirft, kann es sich z. B. um den plötzlichen Tod einer wichtigen Bezugsperson, die Trennung des Lebenspartners oder die Diagnose einer schlimmen Krankheit handeln. Während sich im ersten Typ die Exklusion langsam aber stetig abzeichnet, geschieht dies in diesem idealtypischen Verlauf plötzlich und unerwartet. Die jungen Erwachsenen sind eigentlich in Freundeskreise integriert und verfügen über ein gutes Verhältnis zu gleichaltrigen Peers. Die Ereignisse, die ihre Biografien erschüttern, beeinflussen jedoch auch die Beziehungen zu ihren Freunden. Im Anschluss an die kritischen Lebensereignisse verfallen die jungen Erwachsenen in Lethargie, ziehen sich immer weiter aus ihren sozialen Netzen zurück. Sie können mitunter auf kurzzeitige Unterstützung ihrer ehemaligen Freunde und Bekannten zählen, in dem ihnen z. B. Übernachtungsmöglichkeiten gewährt werden, darüber hinaus werden ihre Probleme aber nicht gelöst und ihre soziale Isolation verfestigt sich. Hier wird deutlich, wie wirkmächtig soziale Kontakte als Ressource für Handlungsmächtigkeit sind. Einsamkeit und Isolation führen relativ schnell zu einer negativen Grundstimmung und die jungen Wohnungslosen beginnen ähnlich wie
6.3 Idealtyp III – Aus der Bahn geworfen werden
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im ersten Typ unter der Einsamkeit zu leiden und verfallen in Passivität sowie Lethargie. In Relation zum ersten Typ ist die Situation der jungen Erwachsenen dieses Verlaufs im Bildungs- und Erwerbsystem zunächst deutlich unproblematischer. Die Betroffenen befinden sich noch in ihrer schulischen oder beruflichen Ausbildung oder gehen bereits einer geregelten Tätigkeit nach. Die Exklusion aus dem Bildungs- oder Erwerbssystem geschieht im Anschluss an die kritischen Lebensereignisse vergleichsweise schnell. Die Passivität und Antriebslosigkeit ist nicht mit den Anforderungen im Arbeits- (Schul- oder Ausbildungs-) Leben vereinbar. Die jungen Erwachsenen sind außer Stande, regelmäßig und pünktlich ihren beruflichen (respektive schulischen) Verpflichtungen nachzukommen, sodass sie in letzter Konsequenz ihre Anstellung verlieren oder von der Schule verwiesen werden. Hier wird besonders die Rolle von Arbeit (bzw. Schule) als Medium von gesellschaftlicher Teilhabe deutlich. Außerdem zeigt sich, wie wirkmächtig verlässliche und verbindliche Strukturen sein können, indem der Verlust eben jener vorläufig zu einer Blockade der Handlungsmächtigkeit führen kann. Die jungen Wohnungslosen dieses Typs haben anfänglich keinen oder nur sporadischen Kontakt zum Hilfesystem, können somit auch noch keine positiven oder negativen Erfahrungen diesbezüglich gemacht haben. Die tragischen Lebensereignisse haben so einschneidenden Einfluss auf die Handlungsmächtigkeit der Betroffenen, dass diese in Zeiten der Krise nicht eigeninitiativ Hilfe aufsuchen und kein Kontakt zum Hilfesystem zustande kommt. Zusätzlich herrscht Unwissen über mögliche Unterstützungsangebote oder rechtliche Ansprüche und die jungen Erwachsenen sehen schlicht keinen Sinn darin, sich um Hilfe zu bemühen, da sie jegliche Selbstwirksamkeitserwartung verloren haben. Die kritischen Lebensereignisse erschüttern das Selbstverständnis massiv, indem sicher geglaubte Lebensumstände, wie Gesundheit oder verlässliche Bezugspersonen verloren gehen. Dadurch etabliert sich ein latentes Misstrauen gegenüber der Fähigkeit, seiner Biografie überhaupt Sinn verleihen oder diese durch Handlungen oder Entscheidungen beeinflussen zu können. Durch diesen Fatalismus sehen sie auch keinen Anlass, etwas zur Veränderung ihrer Situation beizutragen. Neue, unerwartete Ereignisse könnten schließlich alles Erreichte wieder zunichte machen. Die Bedeutung von Wohnungslosigkeit oder vielmehr die Bedeutung der Straße als Lebensraum ist insofern mit dem ersten Idealtyp vergleichbar, dass diese keinen Pull-Faktor darstellt. Die Straße und die Lebensverhältnisse auf der Straße werden ausschließlich negativ konnotiert und passiv erlitten. Die jungen Wohnungslosen dieses Typs, welche spontan wohnungslos werden, nutzen ebenfalls vornehmlich die Strategie Rausch, um die objektiven Widrigkeiten wie
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6 Idealtypen
Kälte, Nässe, Mangel an Rückzugsmöglichkeiten, Hunger und Durst zu ertragen, die subjektiven Scham- und Angstgefühle zu betäuben und darüber hinaus die kritischen Lebensereignisse zu bewältigen. Auf der Straße entwickeln die jungen Erwachsenen keine Eigeninitiative entweder ihre Situation zu verbessern oder Hilfe aufzusuchen. Dies hängt zum einen mit der passiven, lethargischen Haltung zusammen und der Überzeugung, jegliche Selbstwirksamkeit verloren zu haben. Und zum anderen herrscht schlicht und ergreifend Unwissen über Strukturen sowie Angebote des Hilfesystems oder rechtliche Ansprüche. Der Impuls, Kontakt zum Hilfesystem aufzusuchen muss von außen kommen. Da sie allerdings in ihrem Fatalismus gefangen sind und ihr Vertrauen gegenüber halbwegs gesicherten, konstanten Lebensumständen verloren haben, sehen die jungen Erwachsenen keinen sinnvollen Grund zum Handeln. In den Interviews, die diesem Typ zugeordnet werden können, muss erst extremer Leidensdruck herrschen, bevor sich die Betroffenen überhaupt auf Hilfeangebote eingelassen haben. In den spontanen Verlust von Vertrauen, der spontanen Exklusion aus sozialen Bezügen sowie dem Bildungs- bzw. Erwerbssystem reiht sich der unvermittelte Verlust von Handlungsmächtigkeit ein. Das unterschwellig vorhandene Verlaufskurvenpotential wird durch die kritischen Lebensereignisse plötzlich und unerwartet aktiviert und die jungen Wohnungslosen beschreiben sich ab dem Moment des Verlusts als handlungsohnmächtig und den äußeren Umständen ausgeliefert. Entgegen dem ersten idealtypischen Verlauf, in dem die jungen Erwachsenen die Kontrolle über ihre Biografie sukzessive und über einen langen Zeitraum verlieren, geschieht dies in diesem idealtypischen Verlauf völlig unvermittelt. Die fehlende Handlungsmächtigkeit ist bei diesem Typ eng mit dem durch den Vertrauensverlust etablierten Fatalismus verknüpft, überhaupt Kontrolle über ihre Biografie ausüben zu können. Des Weiteren wird jedwede Motivation, etwas an der eigenen Situation zu verbessern, durch die Furcht vor Versagen gehemmt. Emirbayer und Mische gehen davon aus, dass Individuen mit mehr oder weniger reliablem Wissen über Beziehungen ausgestattet sind, welches ihnen erlaubt vorherzusehen, was in der Zukunft geschehen wird (ebd., S. 980 f.). „These patterns of expectations give stability and continuity to action“ (ebd., S. 981). Mit dem unvorhergesehenen Verlust von signifikanten Anderen geht diese Fähigkeit („one’s expectations about the future can break down […] due to disruptions, misunderstandings, and changes in systems of relevance“ (ebd., S. 981)) und die damit verbundene Sicherheit verloren. Auch gewohnte Routinen und Schemata der iterativen Dimension von Agency liefern nicht länger Stabilität und Entlastung des Alltags.
6.4 Idealtyp IV – Das Hilfenetz nutzen
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6.4 Idealtyp IV – Das Hilfenetz nutzen Dieser typische Weg in die Wohnungslosigkeit ist durch die Inanspruchnahme und das aktive Nutzen von Hilfeangeboten – mit besonderem Fokus auf Unterkunft – gekennzeichnet. Die jungen Erwachsenen wenden sich bei eskalierenden Konflikten, aufkommenden Problemen wie dem Rauswurf aus dem Elternhaus oder dem (ungeplanten) Ende der Jugendhilfe an entsprechende Einrichtungen z. B. der Wohnungslosenhilfe, um die Straße zu vermeiden. Diskontinuitäten, familiäre Krisen und Konflikte der Eltern wie Scheidung, Sorgerechtsstreitigkeiten, psychische Probleme, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit bestimmen die Familiensituation der jungen Erwachsenen. Die Familien entstammen vornehmlich sozial benachteiligten Schichten. Es sind nur geringe finanzielle wie immaterielle Ressourcen vorhanden, die Eltern gehen prekären Beschäftigungen nach oder sind arbeitslos, die Wohnverhältnisse sind beengt und Miet- sowie andere Schulden verschärfen die Konflikte innerhalb der Familie zunehmend. Die kumulierten Probleme führen schließlich dazu, dass die jungen Erwachsenen rausgeworfen werden, oder vor den Zuständen im Elternhaus fliehen. In beiden Fällen erkundigen sie sich nach Möglichkeiten gesellschaftlicher Unterstützung, oder akzeptieren angebotene Hilfen. Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen idealtypischen Wegen in die Wohnungslosigkeit findet keine Exklusion aus dem, sondern vielmehr eine Integration in das Hilfesystem statt. Die jungen Wohnungslosen suchen in Zeiten von Krisen oder eskalierenden familiären Problemen den Kontakt zu entsprechenden Institutionen und nutzen entsprechende Angebote, um Zugang zu Hilfen – insbesondere bezüglich Unterkunft (Not-/ Übergangsunterkünfte) zu bekommen. Von dort aus und unterstützt durch die Professionellen versuchen sie den Kontakt zum Hilfesystem zu intensivieren bzw. weiterführende Angebote wie z. B. Schuldenhilfe, Suchtberatung, Wohnungssuche, Bewerbungshilfe, Hilfe bei Anträgen sowie Amtsgängen etc., in Anspruch zu nehmen. Die Integration ins Hilfesystem erfolgt dabei entweder wie geschildert in Eigeninitiative oder die jungen Erwachsenen akzeptieren und wertschätzen Hilfen im Rahmen eines paritätischen Entscheidungsprozesses zusammen mit ihren Bezugspersonen (falls vorhanden) oder Fachkräften. Das konstitutive Merkmal dieses typischen Weges in die Wohnungslosigkeit ist also, dass die Straße als Lebensraum durch die effektive Nutzung der Hilfen vermieden wird. Ein weiterer konstitutiver Unterschied zu dem ersten idealtypischen Weg in die Wohnungslosigkeit ist, dass unter den jungen Wohnungslosen dieses Typs ein ausgeprägtes Vertrauen – insbesondere in das Hilfesystem, in helfende
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6 Idealtypen
Professionelle, Institutionen und deren Vertreter vorhanden ist. Vertrauen wirkt für die Integration ins Hilfesystem als Interaktionsressource. Von den Fachkräften, denen von Seiten der jungen Erwachsenen dieses typischen Verlaufs ein Vertrauensvorschuss gewährt wird, wird erwartet, dass diese ihre Sachkenntnis sinnvoll nutzen, um den Hilfeprozess positiv zu gestalten. Dies steht auch damit im Zusammenhang, dass die Betroffenen in ihrer bisherigen Biografie eher positive Erfahrungen mit Fachkräften gemacht haben. Die Straße als Lebensraum hat für die Wohnungslosen dieses Typs keine besondere Bedeutung und wird durch die Inanspruchnahme von Hilfeangeboten vermieden. Wohnungslosenheime oder vergleichbare Einrichtungen werden nicht nur genutzt, um die Wohnsituation kurzfristig zu klären, sondern auch um Zugang zu weiteren Netzwerken an Hilfe- und Unterstützungsangeboten zu bekommen. Das vorhandene Hilfeangebote wird beim Aufkommen von Problemen oder bereits proaktiv, bevor sich eine Krise verfestigen kann, in Anspruch genommen. Die jungen Erwachsenen dieses Typs nutzen Hilfeangebote zur (Wieder-) Herstellung oder Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit. Durch entsprechende Unterstützung bleiben sie auch in Zeiten aufkommender Probleme oder eskalierender Konflikte handlungsfähig oder erlangen die Kontrolle über ihre Biografie zurück. Sie handeln nach eigenen Zielen oder reagieren adäquat und pragmatisch auf potentielle Krisen, indem sie entsprechende Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen. Entweder sie tun dies aus eigener Initiative, oder sie nehmen angebotene Hilfen unmittelbar an. Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung dieser jungen Wohnungslosen ist im Vergleich zu den anderen Typen ausgeprägt. Sie verfallen nicht in Lethargie, Passivität oder Resignation, sondern sind davon überzeugt, durch Hinwendung in ihrer bestimmten Situation (drohende Wohnungslosigkeit) an Fachkräfte, das erwünschte Ziel (passende Hilfen, Vermeidung von Wohnungslosigkeit) zu erreichen. Die sozialen Kontakte der jungen Erwachsenen dienen dabei auf verschiedene Weise als Ressource, ihre Handlungsfähigkeit zu behaupten. Sie dienen als Vermittler und unterstützen die jungen Erwachsenen, sich in Zeiten der Krise in einem komplizierten Hilfesystem zurecht zu finden. Außerdem helfen sie, sich von (potentiell suboptimalen) Routinen und Schemata (der iterativen Dimension von Agency) zu lösen und projektiv, reflexiv neue Problemlösungen zu entwerfen sowie diese in Angesicht ihrer Mehrdeutigkeit oder Ungewissheit in Konfliktlagen – zuweilen mit Unterstützung von Fachkräften oder Vertrauenspersonen – zu evaluieren. Während Institutionen und soziale Beziehungen im Verlauf des ersten Typs Handlungsmächtigkeit als (imaginierte) Opponenten einschränken, dienen sie in diesem typischen Weg als vielfältige Ressource. Institutionen und Hilfeeinrichtungen werden als nützlich und sinnvoll angesehen und entsprechende Angebote genutzt,
6.5 Idealtyp V – Durch das Hilfenetz fallen
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in deren Kontexte Agency ausgebildet wird, die über erlernte Schemata und Routinen (z. B. Eskapismus) hinausgehen. Der Einstieg in die Wohnungslosenhilfe dient hierbei als Türöffner zu dem gesamten Spektrum an möglichen Hilfen wie Sucht- oder Schuldnerberatung, bei der Wohnungs- oder Ausbildungssuche. Zwar finden sich auch in den entsprechenden Interviews Passagen, in denen sich die jungen Erwachsenen selbst keine aktive Rolle zuschreiben und die Agentivität in Anderen, etwa Vertrauenspersonen, Fachkräften aber auch Institutionen verorten. Durch die Verbindung von Vertrauen und Handeln (bzw. Aktionsradius, Handlungsspielraum), dient dies der Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit. Hier kann erneut auf den Zusammenhang von Vertrauen und Handlungsfähigkeit verwiesen werden, der im Rahmen des ersten Idealtyps angesprochen wurde. Die Verflechtung zwischen Vertrauen und Handlungsfähigkeit (bzw. Agency) besteht darin, dass den Autoritäten und Experten Vertrauen gewährt wird. So können die jungen Erwachsenen angesichts einer komplexen, ausdifferenzierten Sozialordnung und einem für sie undurchsichtigen Hilfesystem durch Unterstützung handlungsfähig bleiben.
6.5 Idealtyp V – Durch das Hilfenetz fallen Dieser Weg in die Wohnungslosigkeit stellt gewissermaßen das Gegenstück zum vorherigen Typ Hilfenetz nutzen dar. Die jungen Erwachsenen wenden sich bei aufkommenden oder eskalierenden Konflikten an entsprechende Stellen, die Hilfen werden jedoch aus systemimmanenten Gründen wie rechtliche Bedingungen, bestimmte Problemkonstellation oder Ermessensspielraum der Fachkräfte, verwehrt, infolgedessen die Betroffenen auf der Straße landen. Die Familiensituation ist weitestgehend mit der des ersten Idealtyps vergleichbar. Die Verhältnisse sind vornehmlich unbeständig, chaotisch und von Marginalisierungserfahrungen sowie Konflikten geprägt. Die Lebensverhältnisse im Elternhaus sind prekär und durch Armut, Arbeitslosigkeit, Schulden gekennzeichnet. Mitunter verschärfen Drogen- und Alkoholsucht oder psychische Erkrankungen die Problemkonstellation weiter. Sind Stiefeltern involviert, wirken diese durch die stereotype schlechte Beziehung zu den jungen Erwachsenen als zusätzlicher Verstärker der innerfamiliären Probleme. Die Situation verschlechtert sich stetig, bis die jungen Erwachsenen entweder entscheiden, vor den Zuständen im Elternhaus durch Flucht zu Bekannten bzw. auf die Straße zu entkommen, oder von ihren Familien rausgeworfen werden.
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6 Idealtypen
Verlässliche und dauerhafte Sozialbeziehungen sind auch für diese jungen Erwachsenen eher selten. Zwar verfügen sie über unverfängliche Bekanntschaften, die zeitweise Übernachtungsmöglichkeiten bieten, sind darüber hinaus aber nicht in einen festen, vertrauten Freundeskreis integriert. Die jungen Erwachsenen dieses Typs verfügen vorwiegend über niedrige Bildungsabschlüsse und machen in Schulsituationen häufig Exklusionserfahrungen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt ihnen aufgrund der geringen Qualifikation verwehrt oder ist auf prekäre Beschäftigungen, z. B. Aushilfstätigkeiten, beschränkt. Das Fehlen eines sozial normierten Lebenslaufs aus Schule, Ausbildung oder Studium und anschließender Erwerbsarbeit disqualifiziert sie langfristig für attraktive Stellen des primären Arbeitsmarkts. Die konstitutiven Merkmale dieses idealtypischen Weges sind systemimmanente Hindernisse, die eine Inanspruchnahme von Hilfen bzw. Leistungen durch die jungen Wohnungslosen verhindern. Die jungen Erwachsenen suchen in Phasen der Wohnungslosigkeit oder aufkommenden Konflikten nach institutioneller Hilfe, die ihnen jedoch aufgrund bestimmter Rechtsnormen oder Ablehnung durch Fachkräfte verwehrt wird. Dies kann z. B. das Auszugsverbot für unter 25-Jährige im Rahmen des § 22 (5) SGB II sein. Generell werden für unter 25-Jährige keine eigenen Bedarfe für Unterkunft und Heizung übernommen, da die Verantwortlichen das Elternhaus in der Pflicht sehen. Zwar gibt es Ausnahmen in Fällen, in denen „die oder der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann“ (§ 22 (5) SGB II), diesen Nachweis zu erbringen ist für die jungen Erwachsenen mitunter schwierig. Werden sie nun mit Verweis auf die entsprechende Rechtsnorm zurück zu ihren Eltern geschickt, wo Konflikte bis hin zu Gewalt und Missbrauch drohen, entscheiden sich viele dafür, sich alleine und ohne Ansprüche auf Leistungen oder abgesicherten Wohnraum durchzuschlagen. Die jungen Erwachsenen landen dann nicht selten in Abhängigkeiten oder auf der Straße. Hier zeigt sich die Paradoxie im System: Leben die Betroffenen eine Zeit lang auf der Straße, sind die Mitarbeiter der Jobcenter eher geneigt schwerwiegende soziale Gründe anzuerkennen und letztlich Leistungen zu bewilligen. Die jungen Erwachsenen werden in einigen Fällen in äußerst prekäre Lebenssituationen gedrängt, um ihren Bedarf an Grundsicherung zu beweisen. Die bestimmte Konstruktion der Hilfe verhindert in diesem typischen Verlauf den effektiven Zugang zu denselben. Durch die Erfahrung, in Zeiten der Not von Fachkräften abgewiesen zu werden, wird das Vertrauen in das Hilfesystem und Fachkräfte stetig untergraben. Den jungen Wohnungslosen wird suggeriert, ihre Probleme seien nichtig, unglaubwürdig, sie seien es nicht wert, Hilfe zu bekommen oder es ginge ihnen noch nicht schlecht genug. Dadurch entstehen Zweifel hinsichtlich der Legitimi-
6.5 Idealtyp V – Durch das Hilfenetz fallen
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tät, Effektivität sowie Zuverlässigkeit des Hilfesystems und der Kompetenz der Fachkräfte. Das Vertrauen in das Funktionieren von Institutionen und deren Leitideen geht ebenso verloren, wie die Grundannahme, deren Vertreter würden ihre Stellung und Expertise zur Verbesserung der Situation der Hilfebedürftigen einsetzen. Statt Sicherheit und Unterstützung erleben sie Zurückweisung und Schuldzuschreibungen, was sich weitestgehend mit ihren Erfahrungen aus anderen, sozialen Kontexten deckt. Ihre Beziehungen sind dadurch gekennzeichnet, dass entgegengebrachtes Vertrauen vornehmlich enttäuscht wurde, bis sich partiell fehlendes Vertrauen gegenüber anderen zu tatsächlichem Misstrauen entwickelt hat. Die Straße ist in diesem typischen Weg negativ konnotiert und die Betroffenen versuchen durch Inanspruchnahme von verschiedenen Leistungen, die der Sozialstaat eigentlich vorsieht, ihre Grundbedürfnisse sicherzustellen. Durch systemimmanente Gründe werden diese Hilfen jedoch blockiert. Episoden auf der Straße können dabei als letzte Möglichkeit dienen, gegenüber den verantwortlichen Fachkräften die Notwendigkeit der Hilfe aufzuzeigen. Im Gegensatz zum ersten idealtypischen Verlauf, in dem Institutionen als beschränkend empfunden werden, scheitert die Handlung des ‚Hilfe-suchens‘ hier tatsächlich an institutionellen oder rechtlichen Vorgaben. „Die Erfahrungen, die individuelle Akteure in Statuspassagen, in Arbeitssituationen und Familiensettings, beim Nutzen von Handlungsspielräumen und mit Experten und ‚gate keeper‘ machen, bestimmen ihr Vertrauen in die Überbrückbarkeit von Diskontinuitäten mit Hilfe von Institutionen ebenso wie das Ausmaß, in dem sie Zutrauen zu den eigenen Handlungsstrategien entwickeln“ (Heinz/ Behrens 1991, S. 13).
Es besteht die Gefahr, dass konstantes Scheitern an gate keepern oder auch Institutionen, dazu führt, dass sich Lebensverläufe, denen eigentlich ein dominant biografisches Handlungsschema immanent war, verlaufskurvenartig weiterentwickeln. Menschen sind mit mehr oder weniger reliablem Wissen über soziale Verhältnisse ausgestattet, welches Erwartungsmuster in der Zukunft beeinflusst. Emirbayer und Mische bezeichnen dies als Aufrechterhaltung von Erwartungen im Kontext der iterativen Dimension von Agency (siehe Abschnitt 3.2.1). Diese Disposition kann dazu führen, dass das Vertrauen der jungen Erwachsenen stetig erodiert wird, bis sich Misstrauen, ähnlich dem ersten Idealtyp, etabliert und die Betroffenen sich aus dem Hilfesystem zurückziehen.
7
Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
Im folgenden Kapitel werden die Erkenntnisse dieser Untersuchung mit dem Diskurs zur Wohnungslosigkeit bei jungen Erwachsenen in Verbindung gebracht, Rückbezüge zur theoretischen Rahmung dieser Arbeit durch Agency geschlossen und die Ergebnisse mit den Studien aus Abschnitt 2.5 diskutiert, bevor im anschließenden Kapitel über Folgerungen für Sozialpolitik, sozialpädagogische Praxis und Wissenschaft reflektiert wird.
7.1 Junge Erwachsene, Straße und Übergänge Die Interviews mit den jungen Wohnungslosen offenbaren, dass ihre Lebensläufe außerordentlich übergangslastig sind. Die vermeintlich normalen Herausforderungen des Erwachsenenwerdens wie Partnerschaftskonzepte zu entwickeln, stabile Partnerschaften zu etablieren, sich von den Eltern emanzipieren und den Übergang in Erwerbsarbeit, mitunter Elternschaft zu meistern, stellen sich ebenso, wie zusätzliche Schwierigkeiten ihrer spezifischen Lebenssituation. Etwa das anstehende oder ungeplante Ende der Jugendhilfe und damit der Übergang von einer Rechtsnorm in eine andere, deren Logiken ähnlich widersprüchlich sind, wie die Anforderungen an junge Erwachsene generell (vgl. Abschnitt 2.7). Nicht nur, dass sich zusätzliche Probleme eröffnen, den jungen Wohnungslosen stehen außerdem vergleichsweise wenige Ressourcen zur Verfügung, eben jene zu bewältigen. Walther identifiziert Vertrauen als Faktor für gelingende Übergänge. Ratschläge von Vertrauenspersonen werden angesichts der Kontingenz und Optionenvielfalt genutzt, um z. B. äußere Anforderungen mit eigenen Interessen zu vereinbaren (vgl. Walther 2008, S. 20). In den Interviews
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_7
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7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
dominieren jedoch – mit Ausnahme jener, die das Hilfenetz nutzen – eher Motive von Einsamkeit und Misstrauen. Außerdem bestätigen sie die von Thomas erhobenen Exklusionserfahrungen von Jugendlichen in prekären Lebenssituationen. Die Familien der jungen Wohnungslosen sind nicht in der Lage, für ein behütetes und sicheres Lern-, Sozialisations- und Entwicklungsfeld zu sorgen, „in dem die Bedürftigkeit des heranwachsenden Kindes aufgehoben ist und die lernenden und aneignenden Schritte bis zur Eigenständigkeit begleitet werden“ (Thomas 2010, S. 59). Die vornehmlich prekäre finanzielle Situation fördert innerfamiliäre Spannungen, da „Lebensansprüche der Kinder den Entfaltungsmöglichkeiten der Eltern entgegenstehen“ (ebd.) können. Ebenso ist es den Eltern aufgrund „formaler Bildung, praktischen Erfahrungswissens und der sozialen Position nicht möglich, ihre Kinder über den engen Erfahrungshorizont ihrer marginalen Lebenssituation hinaus zu begleiten und für eine ausreichende gesellschaftliche Integration zu sorgen“ (ebd., S. 60). In zahlreichen Übergängen können die Eltern der jungen Erwachsenen keine Unterstützung leisten, da es entweder an Ressourcen mangelt oder praktisches Umgangswissen fehlt. Sei es bei den Bemühungen um einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, adäquates Vorgehen bei der Wohnungsbewerbung oder bürokratische Hürden bei der Beantragung von Leistungen auf einem Amt. Bei den jungen befragten Erwachsenen mit Jugendhilfeerfahrung sind die Arbeitsbeziehungen zu helfenden Professionellen ebenfalls hauptsächlich von Vertrauensverlusten geprägt. Das generalisierte Misstrauen und insbesondere Misstrauen in Fachkräfte stehen somit einer Orientierung an Vertrauenspersonen diametral entgegen. In wichtigen Entscheidungen fühlen sich die jungen Wohnungslosen auf sich alleine gestellt. Verschiedene Studien zeigen, dass Arbeit für junge Menschen sowohl aus instrumenteller, extrinsischer Sicht, als auch im intrinsischen Sinn von Selbstverwirklichung, Zugehörigkeit und Anerkennung wichtig ist (vgl. ebd., S. 17). Die Positionierungen im Erwerbssystem durch die vornehmlich niedrigen Bildungsabschlüsse der jungen Wohnungslosen offenbaren einen weiteren Marginalisierungsprozess im „erwerbsarbeitszentrierten Übergangsregime“ (ebd., S. 25). Besonders im Hinblick auf ein übergangslastiges Bildungssystem und einer Arbeitswelt, in der beruflicher Erfolg und Einkommen stark mit Bildung korrelieren, hat die Exklusion aus dem Bildungssystem weitreichende Folgen. Die Wege der jungen Wohnungslosen beinhalten typischerweise, schulische Probleme sowie unterdurchschnittliche Schulabschlüsse. Hier zeigt sich der immer wieder in ähnlichen Zusammenhängen beschriebene umgekehrte Matthäus Effekt. Jene, die auf die Verbesserung ihrer Lebenslage am ehesten angewiesen wären, sind in der Konkurrenz um Bildung und sozialen Status am stärksten benachteiligt.
7.1 Junge Erwachsene, Straße und Übergänge
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Der eigentlich typische institutionell gerahmte Biografieverlauf, der über Schule und Ausbildung, bzw. Studium auf die Integration in den primären Arbeitsmarkt zielt, wird schon während des ersten Abschnitts erodiert. Das niedrige Bildungsniveau der jungen Wohnungslosen beeinträchtigt die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt maßgeblich. Ohne, oder nur mit schlechtem Schulabschluss und zahlreichen Schulwechseln sind zukunftsträchtige, attraktive Beschäftigungsperspektiven unwahrscheinlich und es droht Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigung. Legt man die von Walther et al. postulierten Übergangsverlaufsmuster (vgl. Walther et al. 2007, S. 104) auf die idealtypischen Wege in die Wohnungslosigkeit finden sich keine glatten, oder aufsteigende Übergangsverläufe ohne Brüche entlang institutioneller normalbiografischer Vorgaben. Die Übergänge derer, die das Hilfenetz nutzen werden institutionell repariert, indem intervenierende Maßnahmen bei Brüchen eingreifen bzw. angenommen werden, die den Lebenslauf annähernd in Entsprechung zu institutionellen, normalbiografischen Vorgaben korrigieren. Das absteigende Übergangsverlaufsmuster beschreibt die Schemata des ersten Idealtyps treffend. In verschiedenen Lebensbereichen verstärken sich Benachteiligung und Ausgrenzungsrisiken gegenseitig und werden durch prekäre Bewältigungsstrategien intensiviert (Tabelle 7.1).
Tabelle 7.1 Übergangsverlaufsmuster (Walther 2008, S. 15; vgl. auch: Walther et al. 2007, S. 104) Glatt
Ohne Brüche entlang institutioneller normalbiografischer Vorgaben
Aufsteigend
Aufstocken von Bildungsabschlüssen
Alternativ
Ausstieg aus formal vorgegebenen Karrieren zugunsten selbst gewählter Lebensentwürfe (z. B. Selbstständigkeit)
Institutionell repariert
Nach Brüchen mithilfe von intervenierenden Maßnahmen wieder in Entsprechung zu institutionellen normalbiografischen Vorgaben
Stagnierend
Zahlreiche Ein- und Ausstiege ohne Qualifikations- und Statusgewinn, strukturelle Benachteiligung und Motivationsverlust verstärken sich gegenseitig
Absteigend
Benachteiligung und Ausgrenzungsrisiken in verschiedenen Lebensbereichen werden durch prekäre Bewältigungsstrategien wechselseitig verstärkt
242
7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
Die Auseinandersetzungen mit Übergängen ergeben einige Implikationen für die agencytheoretische Rahmung, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. „Die Handlungen von AkteurInnen müssen analytisch detailliert betrachtet werden, um Veränderungen erfassen und verstehen zu können und damit Einblick in die Formen und Ausprägungen von Agency sowie dessen Bedingtheit durch und ihren Einfluss auf strukturelle Kontexte, zu erhalten. Es müssen Bedingungen untersucht werden, welchen (sic) Akteuren ermöglichen, auf kreative Art ihre Handlungsfähigkeit auszuüben und sich von gewohnheitsmäßigen Handlungsschemata zu lösen“ (Geiger 2016, S. 57).
Wie bereits von Walther et al. postuliert folgt das Verhältnis zwischen Struktur und Handeln in den Übergängen junger Erwachsener weder allgemeinen Gesetzmäßigkeiten noch bestimmt nur die Struktur das Handeln, auch wenn wirkmächtige Strukturen Handlungsspielräume erheblich einengen können (vgl. Walther et al. 2007, S. 126). Wohnungslosigkeit scheint vor allem durch massive Einschränkungen, Fremdbestimmung und geringen Handlungsspielräumen zur Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebens gekennzeichnet zu sein. Wie der Idealtyp Straße als Möglichkeitsraum verstehen gezeigt hat, tritt das subjektive Gefühl von „Selbstwirksamkeit, das heißt der Erwartung ein Ziel durch eigenes Handeln erreichen zu können“ (Walther 2008, S. 17), allerdings stellenweise auch auf der Straße auf und steht dann im Kontrast du zu Erfahrungen in der stationären Jugendhilfe, in deren Kontext sich die jungen Erwachsenen häufig als bevormundete, passive Objekte erlebt haben. Die Straße steht in diesem Fall als Gegenentwurf für Freiheit, Selbstermächtigung und dem Wiedererlangen von eben jener, vermeintlich abhanden gekommenen Handlungsfähigkeit.
7.2 Junge Erwachsene, Straße und Agency Wie in Abschnitt 3.2 unter Referenz auf Emirbayer und Mische verdeutlicht wurde, ist Agency mehr als eine individuelle Eigenschaft. Agency verändert sich, geht verloren, wird behauptet oder wiedererlangt und zwar in einem zeitlich eingebetteten, situativ-relational hervorgebrachten Zustand. Wenn Agency nun in sozialen Prozessen über die Zeit verortet und das Ergebnis von Handlungen eines Akteurs in Interaktion mit anderen ist, stellt sich die Frage, in welchen sozialen Bezügen und Konstellationen, welche Formen von Agency hervorgebracht werden (vgl. Karl et al. i. E., S. 7). In Bezug auf die vorliegende Arbeit stellt sich darüber hinaus die Frage, welche Rolle die Straße – als Akteur und als Struktur – in diesem Prozess einnimmt.
7.2 Junge Erwachsene, Straße und Agency
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Zunächst kann nach Analyse der Interviews festgehalten werden, dass es vorschnell wäre, die Straße als determinierende oder einschränkende Struktur zu verstehen. Die Straße scheint mit all ihren Widrigkeiten und Einschränkungen für einige junge Menschen ein Kontext zu liefern, eine imaginative Distanz zu erlernten und habitualisierten Mustern zu schaffen und zu einer Reformulierung von Schemata, als auch Normen und Wertvorstellungen beizutragen. Die auf den ersten Blick vermeintlich offensichtlichen Beschränkungen der Straße erweisen sich bei genauerer Betrachtung zumindest für einige der jungen Wohnungslosen als Möglichkeitsraum. Die Straße kann zudem selbst Agency trächtiger Akteur sein, indem sie mit Bedeutung und Sinn, als Utopie von Freiheit, Autonomie, Abenteuer und Outlawdasein aufgeladen wird. Die Kategorie der sozialen Erwünscht- bzw. moralischer Überlegenheit wird von Emirbayer und Mische im Kontext der projektiven Dimension von Agency explizit als nicht zwingend relevant aufgeführt. Das empirische Material dieser Untersuchung zeigt, besonders deutlich am Fall Hamid, dass moralische Überlegenheit zudemin der praktisch-evaluativen Dimension von Agency keine zwingende Größe darstellt. Beurteilungen und Entscheidungen, die auf Anforderungen und Möglichkeiten der Gegenwart heruntergebrochen werden, orientieren sich nicht zwangsläufig an sozialer Erwünschtheit. Wer sich, z. B. ohne Netzwerke, Unterstützung und Ressourcen auf der Straße wiederfindet, muss gar nicht projektiv die Möglichkeit einer kriminellen Karriere als Einkommensmöglichkeit entwerfen. Diebstahl oder andere Delikte können schlicht eine Option sein, den Lebensunterhalt unter gegebenen Voraussetzungen im hier und jetzt sicherzustellen. Dies kann anschließend zu kohärenten antizipatorischen Identifikationen der projektiven Dimension von Agency führen. Der möglichen Struktur der Zukunft werden neue (‚moralisch‘ wie praktisch angemessene) Perspektiven hinzugefügt und diese im Lichte des mehrdimensionalen Charakters menschlicher Motivationen kontinuierlich neu bewertet. Gepaart mit der Erlangung von neuem, alltagspraktischen Wissens (z. B. der Verfeinerung bestimmter krimineller Techniken, im Fall von Hamid, der Fähigkeit, Autoradios auszubauen, bzw. Autos zu stehlen), kann dies schließlich in die weiteren dominanten Töne der projektiven Dimension von Agency, der symbolischen Rekomposition und den hypothetischen Entschluss, überführt werden. „Soziale Regeln etablieren […] einen unklar umgrenzten Möglichkeitsraum, der bestimmte Aktionen ermöglicht und eingrenzt, ohne das festgelegt wird, was in diesem Möglichkeitsraum geschieht“ (Scherr 2012, S. 116). Also beugen die jungen Erwachsenen beschränkende gesellschaftliche Konventionen, und finden kreative Wege, unterzukommen oder für ein Einkommen zu sorgen. Während sie im Hilfesystem oder konventionellen gesellschaftlichen Bezügen handlungsohnmächtig waren und als passive Objekte hin und hergeschoben wurden, der
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7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
Willkür und Fremdbestimmung ausgesetzt waren, erlangen sie auf der Straße ihre Handlungsmächtigkeit wieder. Auf der Straße herrschen andere soziale Regeln, milieuspezifische Erfahrungen und Wertigkeiten, die gesellschaftliche Imperative herausfordern. Folgendes soll hier betont werden: Während die Kategorie der moralischen Überlegenheit bei Emirbayer und Mische explizit und ausschließlich im Zuge der projektiven Dimension angesprochen wird, können die damit einhergehenden Überlegungen – also, dass sich Menschen nicht zwingend an eben jener orientieren – ebenfalls auf die weiteren Dimensionen übersetzt werden. Auch dort werden Orientierungen wie moralische Überlegenheit oder soziale Erwünschtheit z. B. aufgrund gegenwärtiger Anforderungen oder bestimmten milieuspezifischen Erfahrungen gebeugt, ignoriert oder rekonstruiert. Signifikante Andere spielen in Emirbayer und Misches Konzeptualisierung von Agency implizit in der iterativen Dimension eine Rolle. Soziale Erfahrungen führen dazu, mehr oder weniger selbstverständliche Handlungsschemata abzurufen, auszuwählen und anzuwenden. Der formgebende Einfluss von Anderen ist durch habitualisierte Muster, das Wiedererkennen von Typen, die kategorische Verortung und die Aufrechterhaltungen von Erwartungen (vgl. Abschnitt 3.2.1) bei Emirbayer und Mische immanent. Sie umreißen weiter wichtige Prozesse, welche bei der Projektion zukünftiger Handlung involviert sind und auch dort treten signifikante Andere lediglich implizit, z. B. durch das Verlangen nach Anerkennung, Solidarität oder unverbindliche soziale Interaktionen, bzw. durch die Kontextualisierung über soziale Erfahrung in kommunikativen, transaktionalen Prozessen, etwa durch das Abwägen mit Anderen auf (vgl. Abschnitt 3.2.2). Die vorliegende Arbeit legt eine hohe Relevanz von signifikanten Anderen in Bezug auf verschiedene Dimension von Agency nahe. Signifikante Andere sind im empirischen Material als zentrale Ereignisträger in Prozesse des Erleidens eingebunden und damit unmittelbar an Veränderungen in Bezug auf Agency involviert. Mit ihnen gehen sicher geglaubte Verhältnisse und Stabilität verloren und entworfene Projekte scheitern am Verlust von ihnen. Menschen entwerfen darüber hinaus ihre Lebenspläne und Projekte nicht losgelöst von sozialen Bezügen. Sie planen ihr Leben mit und um Freunde, Lebenspartner und Familie als „linked lives“ (Heinz/ Krüger 2001, S. 43). Neben kulturellen Standards, Institutionen, Möglichkeiten, Strukturen usw. kann die Agency von Individuen nicht losgelöst von anderen Menschen gedacht werden. „Daher sind auch primäre Bezugspersonen […], also Personen im sozialen Nahraum, entscheidende Impulsgeber dafür, ob und in welchem Maße sich Personen als handlungswirksam erfahren“ (Grundmann 2017, S. 260). Unter diesem Gesichtspunkt wird deutlich, welche Relevanz Vertrauen als Ressource von Handlungsmächtigkeit hat. In komplexen, mitunter über-
7.2 Junge Erwachsene, Straße und Agency
245
fordernden Situationen kann es Vertrauen in signifikante Andere oder in Fachkräfte vorauszusetzen, Handlungsfähigkeit zu behaupten. Umgekehrt bedeutet dies, dass mit dem Verlust von Vertrauen oder Aufbau von Misstrauen Handlungspotential eingeschränkt wird. Die jungen Wohnungslosen dieses Sample empfinden sich im Kontext von Institutionen vornehmlich handungsohnmächtig und als Spielball anderer. In der Schule entwickeln sie die Disposition, Underachiever zu sein und keinen oder nur geringen Einfluss auf ihre Leistungen zu haben, da diese durch die Bewertungsnormen der Lehrer vorentschieden wären. Dies führt zu einer bekannten Reproduktion empfundener Handlungsohnmächtigkeit, da sich bildungsarme Bevölkerungsgruppen deutlich seltener als handlungswirksam einschätzen und erleben (vgl. ebd., S. 263). Dass solche eigenen wie fremden Zuschreibungen von Handlungsunfähigkeit den tatsächlichen Handlungsbefähigungen der jungen Wohnungslosen nicht gerecht werden, zeigt insbesondere der Idealtyp Straße als Möglichkeitsraum verstehen. Die jungen Erwachsenen finden kreative Lösungen, mit restriktiven Lebensverhältnissen und den Widrigkeiten der Straße umzugehen. Dies soll allerdings – wie ebenfalls von Grundmann bemerkt – nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „Kumulation von Restriktionen und Ohnmachtserfahrungen die Optionen einer selbstbestimmten Lebensführung und die Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation massiv beeinträchtigen“ (ebd.). Seiner daraus resultierenden Schlussfolgerung, dass die „Umwelt- beziehungsweise Kontextbedingungen ins Zentrum der Analyse […] von Agency“ (ebd.) rücken, kann hier nicht geteilt werden. Zwar ist die beispielhafte Frage, wie Akteure selbst unter restriktiven Bedingungen Agency ausbilden auch im Kontext dieser Arbeit relevant, überbetont jedoch den in Abschnitt 3.2 kritisierten Fokus sozialstruktureller Bedingungen. Seine weitere Analyse, dass die Einschätzung und Bewertung von situationsspezifischer Handlungsbefähigungen durch Bezugspersonen oder Institutionen üblicherweise zunächst politischen und ökonomischen Imperativen bzw. Normalitätsvorstellungen folgt (vgl. ebd., S. 264) ist gleichermaßen zutreffend wie hinterfragenswert. Im Kontext von Jugendhilfe fühlen sich die interviewten jungen Erwachsenen vielfach bevormundet, nicht ernst genommen und eingeschränkt. Dies deckt sich weitestgehend mit Grundmanns Annahmen, dass sich Kinder und Jugendliche in anregungsarmen, restriktiven und verunsichernden lebensweltlichen Kontexten eher geringe Handlungspotentiale attestieren (vgl. ebd., S. 262) und kann darüber hinaus auf die iterative Dimension von Agency bei Emirbayer und Mische rückbezogen werden. Die Rolle von signifikanten Anderen und Institutionen in Bezug auf empfundene Handlungsmächtigkeit offenbart die Verflechtung zwischen Ver-
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7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
trauen und Agency. Eine entsprechende Ausarbeitung der Verwobenheit könnte den Agencydiskurs sicher bereichern. Die Straße ist somit in mehrfacher Hinsicht unter einer agencytheretischen Betrachtung interessant. Zunächst kann Straße selbst Agency trächtiger Akteur sein, indem sie mit Bedeutung aufgeladen wird. Die jungen Wohnungslosen schreiben ihr den Sinn von Freiheit, Autonomie, Abenteuer und Outlawdasein zu. Gleichzeitig begrenzt die Straße, als Manifestation des Erleidens und Dystopie von Passivität und mit vielfältigen Zwängen und Widrigkeiten Handlungsfähigkeit. In anderen Kontexten wirkt die Straße wiederum ermächtigend und als Möglichkeitsraum verstanden und genutzt. Die Straße steht somit neben persönlichen und habituellen Dispositionen, sozialen Kontakten sowie Ressourcen als wirkmächtige Entität eines Netzwerkes, indem Agency hergestellt, erodiert und ausgehandelt wird.
7.3 Die Ergebnisse im Kontext der Wohnungslosenforschung Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Erhebung mit dem Fachdiskurs, insbesondere aus den Abschnitten 2.1 bis 2.7 in Bezug gesetzt. Als Einstieg liefert die Studie von Mallet et al. (2010) eine Folie, vor deren Hintergrund die hier gebildeten idealtypischen Wege in die Wohnungslosigkeit diskutiert werden können. Dabei ist zu beachten, dass Mallet et al. ihre typischen ‚pathways in and through homelessness‘ anhand verschiedener Formen von Wohnungslosigkeit sortieren und ihre Probanden darüber hinaus auch in der Zeit im Anschluss an die Wohnungslosigkeit weiter begleitet haben. Dies führt dazu, dass innerhalb der einzelnen pathways völlig unterschiedliche Prozessstrukturen zu typischen Pfaden zusammengefasst werden, die im Rahmen dieser Studie, entsprechend der forschungsleitenden Metapher nach Wegen in die Wohnungslosigkeit, als konstitutive Merkmale im Fokus der Betrachtung stehen. Mit wenigen Ausnahmen und typenübergreifend lassen sich in allen Interviews Formen von couch surfing finden. Die Kategorie ‚in and out of home‘, die Mallet et al. als durch fluide Wechsel zwischen Wohnformen bei den Eltern, bei Freunden und Verwandten gekennzeichnet und als eigenständigen Pfad beschreiben (siehe Abschnitt 2.5.1), ist vor dem Hintergrund des empirischen Materials dieser Studie wenig zielführend. Couch surfen scheint nicht konstitutives Merkmal bestimmter Prozessstrukturen zu sein, sondern vielmehr eine facettenreiche Überlebensstrategie in ganz unterschiedlichen Settings. Egal ob die jungen Wohnungslosen selbstbestimmt handeln, sich als passive Objekte
7.3 Die Ergebnisse im Kontext der Wohnungslosenforschung
247
empfinden, rausgeworfen werden oder selber ihre Familien bzw. Hilfesettings verlassen, unabhängig davon finden sich Episoden des couch surfens. Unter dem ‚going home‘ pathway subsumieren Mallet et al. jene jungen Erwachsenen, die nach einigen Tagen auf der Straße wieder in ihrer Familie oder in anderen sicheren Arrangements leben. Ein solcher Verlauf findet sich nicht unter den hier erhobenen Interviews, ist angesichts der Annahmen aus Abschnitt 2.4 jedoch plausibel. Jugendliche oder junge Erwachsene, die die Straße nur in Form von kleinen Fluchten frequentieren und ohne dass sich eine tatsächliche bzw. länger anhaltende Form von Wohnungslosigkeit etabliert, wurden durch das Samplingverfahren im Rahmen dieser Studie nicht erreicht. Die Herangehensweise über Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, macht es unwahrscheinlich, solche Verläufe zu identifizieren, da die Betroffenen primär nicht in Wohnungslosenheimen anzutreffen sind. Die Verläufe ‚using the system‘ bzw. Hilfenetz nutzen zeichnen sich, wie die Bezeichnungen schon suggerieren, vornehmlich durch Gemeinsamkeiten aus. Kennzeichnendes Merkmal ist in beiden Fällen die Inanspruchnahme von Hilfen. Die jungen Erwachsenen beanspruchen Formen gesellschaftlicher Unterstützung, um ihre Unterkunft sicherzustellen und darüber hinaus Zugang zu weiterführenden Angeboten zu bekommen. Ähnliche Prozesse identifiziert Mücher, allerdings reduziert auf die „Jugendhilfe als Nutzung einer zweiten Chance“ (Mücher 2010, S. 185), ohne Angebote außerhalb der Jugendhilfe. Weitere Ähnlichkeiten zu dem im Rahmen dieser Arbeit beschriebenen Idealtyp Hilfenetz nutzen finden sich in Müchers Verlaufsweg „Wohnungslosigkeit als zeitlich begrenzte Krise“ (ebd. 174). Das institutionelle Hilfesystem wird seitens der Wohnungslosen als Versuch genutzt, die verlorengegangene Normalität wiederherzustellen. Die Probleme werden zielstrebig sowie rational angegangen und Unterstützungsangebote werden ohne Skepsis akzeptiert. Mit dem Pfad ‚on the streets‘ beschreiben Mallet et al. jene jungen Wohnungslosen, die eine längere Phase ‚rough‘ auf der Straße gelebt haben. Dabei unterscheiden die Autoren erst innerhalb des Typs mit den Unterkategorien ‚kicked out – fleeing abuse‘ sowie ‚dropped out – seeking independence‘, verschiedene Verläufe und Hintergründe. Erstere umfasst jene jungen Erwachsenen, die vor Marginalisierungen und Missbrauch in ihren Familien auf die Straße geflohen sind oder rausgeworfen wurden, letztere sind die jungen Erwachsenen, die ihre Familien auf der Suche nach Freiheit verlassen haben. Unter einer agencytheoretischen Perspektive handelt es sich dabei um fundamental unterschiedliche Prozesse, weshalb beide Wege im Rahmen dieser Arbeit getrennt betrachtet wurden. Interessant ist, dass die bei Mallet et al. sehr starke und plausible Kategorie ‚fleeing abuse‘ im empirischen Material der vorliegenden
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7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
Studie nicht so explizit immanent ist. Zwar finden sich auch Verläufe, in denen die jungen Erwachsenen vor Konflikten oder Marginalisierungen fliehen, allerdings auch Fälle, in denen die Betroffenen Leid und Missbrauch so lange ertragen, bis sie fremdbestimmt rausgeworfen werden. Hingegen wird die bei Mallet et al. eher schwache Kategorie ‚seeking independence‘, in dieser Arbeit stärker fokussiert und durch Idealtyp Straße als Möglichkeitsraum verstehen abgebildet. Dass entsprechende Prozessstrukturen von besonderem Interesse für die Forschungsfrage sind, ist auf die agencytheoretische Rahmung zurückzuführen. Unter dem sensibilisierten Blick können feine Unterschiede zwischen den verschiedenen sowie innerhalb einzelner Idealtypen deutlich gemacht werden – unabhängig davon, ob die Episoden auf der Straße eher kurz oder lang waren. Merkmale, die Ähnlichkeiten zum Idealtyp durch das Hilfenetz fallen aufweisen, finden sich insofern, dass partiell typenübergreifend Misstrauen gegenüber Hilfeangeboten beschrieben werden. Systemimmanente Hindernisse oder Gründe für Wohnungslosigkeit des australischen Hilfesystems werden von Seiten der Autoren nicht genannt. Stattdessen findet sich mit dem Pfad ‚going home‘ eine längsschnitthafte Betrachtung der jungen Erwachsenen, die nach einer kurzen Phase der Wohnungslosigkeit wieder zurück in ihre Familien integriert wurden. Dies offenbart eine Grenze der vorliegenden Arbeit, da die jungen Erwachsenen nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, während ihrer Wohnungslosigkeit interviewt wurden. Längsschnitthafte Beobachtungen über die Zeit danach fehlen und in Abschnitt 7.4 wird ein entsprechendes Forschungsdesiderat formuliert. Das Ergebnis von Mücher, der konstatiert, dass die jungen Wohnungslosen über ausgeprägte Vorerfahrungen mit unterschiedlichen Einrichtungen des Hilfesystems verfügen (vgl. Mücher 2010, S. 204) und sich durch ein weitreichendes Misstrauen gegenüber Maßnahmen der Jugendhilfe auszeichnen (vgl. ebd., S. 206), kann teilweise untermauert werden. Seine Zusammenfassung, dass in „fast allen Fallgeschichten biographische Muster gefunden werden [konnten], in denen Angebote und Maßnahmen der Jugendhilfe von den Jugendlichen deutlich negativ konnotiert wurden“ (ebd., S. 216), scheint in vielen Fällen zutreffend. Eine Ausnahme bildet der Idealtyp Hilfenetz nutzen, in dem sich die jungen Wohnungslosen unvoreingenommen hilfesuchend an Fachkräfte wenden. Einige der jungen Erwachsenen, die im Verlauf durch das Hilfenetz fallen, vertrauen zunächst ebenfalls auf institutionalisierte Formen gesellschaftlicher Hilfe, die ihnen jedoch aus systemimmanenten Gründen verwehrt bleiben. Dadurch erfolgen negative Erfahrungen mit dem Hilfesystem. Müchers Annahme kann um den Zusatz erweitert werden, dass unter jungen Wohnungslosen – mit den zwei angesprochenen Ausnahmen – ein generelles Misstrauen gegenüber Institutionen
7.3 Die Ergebnisse im Kontext der Wohnungslosenforschung
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sowie deren Mitarbeiter vorherrscht. Dabei ist es von nachrangiger Bedeutung, ob es sich um Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, psychiatrische oder Bildungsanstalten handelt. Die jugendlichen und jungen erwachsenen Wohnungslosen haben nicht selten durch entsprechende biografische Erfahrungen eine ablehnende, negative Haltung gegenüber Hilfsangeboten kultiviert, dass sie sich nicht aus eigenem Anlass, oder nur in absoluten Ausnahmefällen als ultima ratio an entsprechende Einrichtungen wenden. Pädagogische Bezugspersonen werden vornehmlich durch Peers in der Szene ersetzt, deren informelle Unterstützungsleistungen, wie das Gewähren von Schutz, das zur Verfügung stellen von Suchtmitteln sowie Anleiten von Überlebensstrategien, ein Leben auf der Straße eher zementiert. Werden diese Erkenntnisse ernst genommen, stellt sich die Frage nach einer angemessenen Reaktion des Hilfesystems. Es scheint somit die Aufgabe der entsprechenden Fachkräfte zu sein, zunächst das erodierte Vertrauen wiederherzustellen und den jungen Wohnungslosen positive Gegenerfahrungen zu ihren biografisch eher negativen Erlebnissen mit Institutionen zu vermitteln. Für die jungen Erwachsenen, die vielfältige Exklusionserfahrungen innerhalb der Familie, sowie dem Bildungs- (bzw. Erwerbs-)system gemacht haben und nicht dem Bild des aktiven oder angepassten Adressaten entsprechen, besteht die Gefahr, dass die jungen Wohnungslosen ähnliche Erfahrungen im Hilfesystem machen. Da sie in wachsendem Maß von Hilfesystemen unter dem Aspekt ihrer zukünftigen Integrationsfähig- oder Willigkeit betrachtet werden und somit sukzessiv auch aus dem Hilfesystem ausgeschlossen werden. Die Fachkräfte stehen dadurch vor der paradoxen Aufgabe, die Wohnungslosen in ein Hilfesystem integrieren zu müssen, welches ihre Adressaten zum Teil systematisch ausschließt. Whitbeck konstatiert in seiner 2009 erschienenen Studie zum Gesundheitszustand von Wohnungslosen vielfältige Korrelationen zwischen Wohnungslosigkeit, psychischen Erkrankungen und Substanzmissbrauch. Insgesamt scheinen seine Probanden in einem Teufelskreis aus riskantem Verhalten, Opfererfahrungen und Depressionen gefangen zu sein. „Risky behaviors result in victimization, and victimization increases the likelihood of depressive symptoms. In turn, depressive symptoms may lead to self-medication with drugs and alcohol, which promote risky behaviors and risk of victimization“ (ebd., S. 76). Zwei Drittel der befragten Wohnungslosen wurden darüber hinaus Opfer physischer Gewalt durch ihre Erziehungsberechtigten. Das im Rahmen dieser Arbeit erhobene empirische Material bestätigt die Beobachtung vielfältiger Gewalterfahrungen in familiären Kontexten. Wie bereits mehrfach angesprochen und ebenfalls in Übereinstimmung mit Whitbecks Erkenntnissen, spielen Alkohol und Drogen für Wohnungs-
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7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
lose eine wichtige Rolle. Rausch wird als Bewältigungsstrategie genutzt, die widrigen Umstände der Straße zu ertragen. Whitbecks beobachtet bei jungen Wohnungslosen außerdem häufig selbstverletzendes Verhalten (vgl. ebd., S. 154) und suizidale Tendenzen (vgl. ebd., S. 157). Das empirische Material liefert auch diesbezüglich eindeutige Hinweise, die jedoch nicht in den Fokus der Idealtypenbildung gerückt wurden. In einigen Interviews finden sich Passagen zu Psychiatrieaufenthalten, tatsächlichen Diagnosen und Selbsteinschätzungen, die entsprechende Korrelationen nahelegen. Zu den Zusammenhängen zwischen psychischen Erkrankungen und Wohnungslosigkeit kann somit ein weiteres Forschungsdesiderat begründet werden. Das Projekt „Disconnected Youth“ (Mögling et al. 2015) hält fest, dass die individuellen Lebensverläufe entkoppelter Jugendlicher, vergleichen mit gleichaltrigen Peers, von einer relativ hohen Anzahl von wechselnden Stationen im Bezug auf Wohn-, Bildungs- und Beschäftigungsstatus geprägt sind (vgl. ebd., S. 18). Auch diese Annahme scheint für junge Wohnungslose typisch. Unstete Lebensverhältnisse, zahlreiche Umzüge, Schul- und Einrichtungswechsel finden sich typenübergreifend in fast allen Interviews dieser Studie. Zahlreiche Studien (exemplarisch: Bassuk et al. 1997, S. 246; Mögling et al. 2015, S. 37 ff.; Penzerro 2003, S. 229; Piliavin 1996, S. 37; Zugazaga 2004, S. 650) zeigen länderübergreifend Zusammenhänge zwischen dem Verlassen von Formen der Jugendhilfe und Wohnungslosigkeit. Junge Menschen, die Einrichtungen der Jugendhilfe verlassen, unterliegen einem hohen Risiko, wohnungslos zu werden. Mücher identifiziert mit dem „[g]escheiterte[n] Übergang nach Beendigung der Jugendhilfe“ (Mücher 2010, S. 147) ebenfalls einen typischen Verlauf wohnungsloser Jugendlicher in dieser Argumentationslinie. Dabei handelt es sich um eine weitere Annahme, die durch das empirische Material dieser Studie bestätigt und insbesondere anhand des Idealtyps I veranschaulicht werden kann. Sich immer wiederholende Exklusionsprozesse aus Formen institutionalisierter Hilfen führen zu Verläufen, in denen die jungen Erwachsenen von Heim zu Heim geschoben werden, bis sich entweder keine Einrichtung mehr findet oder die Hilfen nach SGB VIII, z. B. mit erreichen der Volljährigkeit entzogen werden, obwohl mitunter Ansprüche weiterbestehen. Hait et al. identifizieren weitere Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit einer ‚disconnectedness‘ und damit das Risiko der Wohnungslosigkeit erhöhen. Die Familienstruktur sowie ein niedriges Haushaltseinkommen scheinen massiven Einfluss auf dieses Risiko zu haben (vgl. Hair et al. 2009, S. 3 ff.). DiPaolo, plädiert ebenfalls dafür, die familiären Hintergründe hervorzuheben. „They leave home whether by force or reluctant choice, because of the disturbing conditions
7.4 Forschungsdesiderate und Wissenslücken
251
within families“ (DiPaolo 1999, S. 3). Das empirische Material dieser Studie liefert keine gegenteiligen Anhaltspunkte. Unstete, prekäre Lebensverhältnisse in den Herkunftsfamilien und Konflikte mit (Stief-)eltern werden immer wieder als Ursachen für die spätere Wohnungslosigkeit angeführt. Was die hier aufgezählten Studien wenig in den Blick nehmen, sind Formen von – mehr oder weniger – freiwilliger Wohnungslosigkeit, auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit. Und auch wenn das Material darauf hindeutet, dass Push- gegenüber Pullfaktoren in den meisten Verläufen zu überwiegen scheinen, gibt es demnach Fälle, in denen die Straße mit idealisierten Vorstellungen von Freiheit oder dem Ausbruch von Bevormundung bzw. bürgerlichem Alltag als eigenständiger Pull-Faktor wirkt. Die jungen Wohnungslosen stellen mitunter zwar fest, dass die Straße mit eigenen Zwängen und Widrigkeiten nicht grenzenloser Möglichkeitsraum ist, in anderen Fällen erlangen sie, losgelöst von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen und durch kreative Möglichkeiten, ihre vermeintlich restriktiven Lebensumstände zu gestalten, ihre Handlungsfähigkeit zurück. Die Rolle der Straße selber ist wenig erforscht und sie wird tendenziell als beschränkende Struktur beschrieben und verstanden. Der theoretisch sensibilisierte Blick durch Agency offenbart (siehe Abschnitt 7.2), dass die Straße neben persönlichen und habituellen Dispositionen, sozialen Kontakten sowie Ressourcen als wirkmächtige Entität eines Netzwerkes wirkt, indem Agency hergestellt, erodiert und ausgehandelt wird und somit selber als Forschungsgegenstand für weitere Untersuchungen in Frage kommt.
7.4 Forschungsdesiderate und Wissenslücken Es können im Anschluss an die Forderungen einige Forschungsdesiderate formuliert werden. Zunächst fehlt es an fundierten, quantitativen Daten zum Thema Wohnungslosigkeit in Deutschland. Die Schätzungen der BAG W geben zwar Anhaltspunkte, über deren Genauigkeit lässt sich letztendlich nur spekulieren. Die jährlichen Stichtagserhebungen und Schätzungen müssten durch eine bundesweite, amtliche Statistik zur Wohnungslosigkeit ersetzt werden, um einen seriösen Überblick über die quantitative Situation zu ermöglichen. Die Bundesregierung prüft zwar in Abstimmung mit den Ländern wie gegebenenfalls durch eine gesetzliche Regelung eine solche amtliche Statistik entwickelt werden kann (vgl. BMAS 2017, S. XXXVII), bisher ist allerdings kein Fortschritt diesbezüglich zu verzeichnen.
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7 Die Untersuchungsergebnisse im Diskurs
Mehrfach wurde in der Arbeit das erhöhte Risiko von Care Leavern thematisiert, im Anschluss an Hilfekarrieren wohnungslos zu werden. Hier kann ein Forschungsdesiderat auf die Statuspassage des Leaving Care formuliert werden; systematische Forschung, z. B. Längsschnittstudien, die den Verbleib von Care Leavern beobachten, sind gefordert. Dies gilt ebenso für Studien zum Verbleib ehemaliger junger Wohnungsloser und deren Wegen, aus der Wohnungslosigkeit heraus. Im gesamten Themenkomplex ist die Frage nach einer erfolgreichen Rückkehr, also einer „successful transition out of homelessness“ (Kidd et al. 2013, S. 1035) wenig beleuchtet. Auch im internationalen Diskurs ist diese Fragestellung bisher kaum beachtet worden. „[V]ery little is known about how youth navigate pathways out of homelessness“ (ebd.). Zu den wenigen Arbeiten zählt die Studie „Wege aus der Wohnungslosigkeit“ (Gerull 2016). Diese kann als Anfang gelesen werden, die Überwindung von Wohnungslosigkeit zu untersuchen. Die Studie ist allerdings nicht in der Lage, alle relevanten Aspekte in den Blick zu nehmen. Eine Grenze der vorliegenden Untersuchung stellt das Samplingverfahren dar, welches nur eine bestimmte Gruppe junger Wohnungsloser zu einem konkreten Zeitpunkt erreicht. Durch die Rekrutierung über Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wurden nur jene jungen Menschen erreicht, die zumindest niedrigschwellig Kontakt zur Wohnungslosenhilfe haben. Neben Menschen ohne Kontakt zum Hilfesystem, fehlen im Sample auch wohnungslose Frauen. Beide Perspektiven werden in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt und hier können entsprechende Forschungsdesiderate bekräftigt werden. Es besteht dringender Bedarf an geschlechtersensibler und geschlechterspezifischer Forschung. Des Weiteren könnten Evaluationsstudien zu verschiedenen Interventionsmöglichkeiten in Jugend- und Wohnungslosenhilfe offenbaren, welche Ansätze nachhaltige Erfolge zeigen, welche Angebote scheitern und wo Verbesserungsbedarf besteht. In den Interviews wurde auch deutlich, dass die jungen Wohnungslosen vielfach nichts von Hilfeangeboten in den Städten wussten. Eine Frage könnte lauten, ob und wie Hilfeangebote ihre Adressaten erreichen, ob Zugangswege und Informationspolitik erleichtert und verbessert werden können. Darüber hinaus müssten Präventionsprogramme und solche für frühe Interventionen, wie Sie von Chamberlain und MacKenzie (1998) formuliert werden, gründlich in Augenschein genommen und für die deutsche Hilfelandschaft ausbuchstabiert werden. Schließlich wurden im empirischen Material Schnittstellen zu Themenkomplexen deutlich, die hier nicht originär fokussiert wurden, die jedoch Potential für weitere Fragestellungen haben. Dabei handelt es sich um die
7.4 Forschungsdesiderate und Wissenslücken
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Zusammenhänge zwischen Wohnungslosigkeit, Sucht sowie psychischen Erkrankungen und somit um Komplexe, die medizinische Fachdisziplinen als weitere Akteure in der Wohnungslosenhilfe tangieren. Die Straße wurde bisher vornehmlich als beschränkende denn ermöglichende Struktur beschrieben und verstanden. Der theoretisch sensibilisierte Blick mittels Agency entdeckt sie neben persönlichen und habituellen Dispositionen, sozialen Kontakten und Ressourcen als weitere, wirkmächtige Entität eines Netzwerkes, in dem Handlungsfähigkeit hergestellt, erodiert und ausgehandelt wird. Die Straße selbst könnte somit selbst als Forschungsgegenstand für weitere Untersuchungen interessant sein.
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Was hilft? Folgerungen und Vorschläge für Sozialpolitik sowie sozialpädagogische Praxis
Die Auseinandersetzung mit jungen Erwachsenen und ihren Wegen in die Wohnungslosigkeit offenbart einige Schwachstellen und Ansatzpunkte für Sozialpolitik, sozialpädagogische Praxis und Wissenschaft, über die im Folgenden reflektiert werden soll.
8.1 Übergangsgestaltung nach Verlassen der Jugendhilfe und Vernetzung der Akteure Das Hilfesystem steht durch die Konfrontation mit jungen Menschen auf der Straße vor bestimmten Herausforderungen. Junge volljährige Wohnungslose befinden sich an der Schnittstelle zwischen Jugend- und Wohnungslosenhilfe (SGB VIII vs. SGB XII), bzw. der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). Eine ganzheitliche und kontinuierliche Förderung der jungen Wohnungslosen, bei der alle Zuständigen vor Ort zusammenarbeiten wäre zielführend. Dies wird jedoch dadurch erschwert, dass die Möglichkeiten der Förderung und die Zuständigkeiten in drei Rechtskreisen verankert sind, die in wesentlichen Punkten inkompatibel sind und sich in ihren Logiken teilweise widersprechen (vgl. Gerdes et al. 2016, S. 133): „Im SGB VIII ist im §13 die Jugendsozialarbeit mit dem Ziel der ganzheitlichen Förderung benannt, im §41 sind die Hilfen für Volljährige und für Nachbetreuung verortet. Das SGB XII beinhaltet die Hilfen zum Lebensunterhalt und zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, z.B. auch Obdachlosigkeit. Aber auch das SGB II ist relevant. Hier handelt es sich um ein Leistungsgesetz, das neben dem ‚Fordern und Fördern‘ auch Sanktionen und das Auszugsverbot von Jugendlichen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, vorsieht. Häufig entstehen hier Zuständigkeitsstreitereien, bei denen junge Menschen durch alle Raster fallen. Die Schnitt© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_8
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8 Was hilft? Folgerungen und Vorschläge …
stellen der verschiedenen SGB bilden – insbesondere für junge Erwachsene – ein problematisches Dreieck“ (ebd.).
Nicht nur die individuellen Übergänge im Rahmen ihrer Biografie und zwischen einzelnen Lebensphasen sind für die jungen Erwachsenen relevant. Parallel dazu erfolgt – häufig unzureichend vorbereitet – der Übergang von einem, dem Leitbild nach, fürsorglichen Gesetzbuch mit erzieherischem Anspruch, dem SGB VIII, in das sanktionslastige SGB II mit dem Primat der Integration in den Arbeitsmarkt. Dieser Übergang vollzieht sich dabei weitestgehend ungestaltet und die jungen Erwachsenen müssen diesen alleine bewältigen. Rosenbauer führt aus, warum ein solcher Wechsel, mit dem auch ein Austausch der verantwortlichen Personen einhergeht, für die jungen Erwachsenen schwierig ist: „Als begünstigend für die Entwicklung von Selbständigkeit gelten für alle Sozialisationsfelder solche Bedingungen wie Stabilität und Kontinuität in relevanten Beziehungen, Berechenbarkeit der Lebensbedingungen sowie das Vorhandensein von Optionen zur Gestaltung des Lebensfeldes. Folgt man einem relationalen Verständnis, gerät der potentielle Anteil der Jugendhilfe selbst an einer Überforderungssituation der jungen Menschen selbst in den Blick, wenn z.B. ein Wechsel fachlich nicht adäquat geplant, vorbereitet und hinreichend begleitet wird oder die Beendigung der Hilfe im Kontext struktureller, organisatorischer oder finanzieller Gründe (beispielsweise aufgrund der Volljährigkeit) erzwungen wird oder abrupt erfolgt“ (Rosenbauer 2008, S. 163 f.).
Mit dem Übergang aus dem SGB VIII z. B. das SGB II geht die Berechenbarkeit der Lebensbedingung weitestgehend verloren und die jungen Erwachsenen müssen sich plötzlich auf neue Verantwortliche oder Bezugspersonen einlassen, die bisweilen völlig anderen Leitbildern und Systemlogiken (‚Fordern und Fördern‘ vs. ‚Benachteiligungen vermeiden‘ und ‚positive Lebensbedingungen schaffen‘) folgen. Der Paragraf 41 SGB VIII erlaubt zwar die Nachbetreuung von jungen Volljährigen, jedoch „in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres“ (§ 41 SGB VIII). Der häufige Wechsel von Bezugspersonen und die damit entstehenden Probleme verdeutlichen, welche Rolle verlässliche Ansprechpartner und Vertrauenspersonen spielen. „Die Erfahrung, die individuelle Akteure in Statuspassagen, in Arbeitssituationen und Familiensettings, beim Nutzen von Handlungsspielräumen und mit Experten und ‚gate keeper‘ machen, bestimmen ihr Vertrauen in die Überbrückbarkeit von Diskontinuitäten mit Hilfe von Institutionen ebenso wie das Ausmaß, in dem sie Zutrauen zu den eigenen Handlungsstrategien entwickeln“ (Heinz/ Behrens 1991, S. 13).
8.1 Übergangsgestaltung nach Verlassen der Jugendhilfe …
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Es fehlt häufig eine zwischen niedrigschwelliger Notversorgung und den Jobcentern vermittelnden Instanz, mit kontinuierlichen Bezugspersonen, die die jungen Wohnungslosen berät und unterstützt. Sievers weist ebenfalls die „Hilfe-, Betreuungs- und Beziehungskontinuität als einen wesentlichen Faktor für gelingende Hilfen“ (Sievers 2019, S. 22) aus. Positive Bildungsverläufe und formale Qualifikationen sind wichtige Voraussetzungen für Perspektiven auf dem primären Arbeitsmarkt und damit für die Sicherung des Lebensunterhalts und gesellschaftlicher wie kultureller Teilhabe. Angesichts dieser Vorannahme kann das Primat der Integration in den Arbeitsmarkt im Rahmen des SGB II plausibel hinterfragt werden. Die Möglichkeit von Sanktionen kann die jungen Erwachsenen dazu drängen, sich zuungunsten von Qualifizierung, einen beliebigen Job zu suchen, der mitunter keine dauerhafte Perspektive bietet und auf langfristige prekäre Beschäftigung hinführt. Die beschriebenen idealtypischen Wege in die Wohnungslosigkeit haben in weitestgehender Übereinstimmung mit verschiedenen Studien noch einmal verdeutlicht, wie sehr Familienprobleme und Exklusion miteinander zusammenhängen. Dadurch wird offensichtlich, dass professionell betreute Sozialisationsfelder für eine Kompensation des Verlusts von signifikanten Anderen und den Aufbau von stabilen Sozialbeziehungen sorgen müssen. Es zeigt sich auch, dass besonders Care Leaver, die professionell betreute Sozialisationsfelder verlassen, einem erhöhten Risiko der Prekarisierung ihrer Lebenssituation bis hin zur Wohnungslosigkeit ausgesetzt sind. Es müssen folglich Möglichkeiten geschaffen werden, eine notwendige Kontinuität und Stabilität bei Bezugspersonen zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Dies stellt eine Grundvoraussetzung dar, um Beziehungsfähigkeit weiterentwickeln zu können. Die Hoffnung auf Stabilität kann die Jugendhilfe jedoch häufig nicht einlösen (vgl. Sievers 2019a, S. 15). Im Durchschnitt erfolgt der Auszug aus dem Elternhaus von Männern in Deutschland mit 24,4 Jahren (vgl. statista.com 2018). Hier kann die Frage gestellt werden, wie sinnvoll es ist, von Care Leavern oder jungen Menschen in prekären Lebenslagen im Vergleich mit ihren Peers drei bis sechs Jahre früher ein solches Maß an Selbstständigkeit zu erwarten. Dies ist für die Betroffenen insbesondere vor dem Hintergrund von geringerer beruflicher Qualifizierung, weniger materieller wie immaterieller Ressourcen und mit deutlich kleineren und weniger verlässlichen sozialen Netzwerke (vgl. Abschnitt 2.7.6) eine schwer zu bewältigende Herausforderung. Es ist fraglich, ob die eigentlich erforderliche Stabilität und Kontinuität bei derzeitiger Rechtslage (durch unbestimmte Rechtsbegriffe und teilweise großen Handlungsspielraum der Entscheidungsträger) gewährleistet werden kann, oder ob die prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten
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8 Was hilft? Folgerungen und Vorschläge …
der Nachbetreuung, die Verlängerung der Nachbetreuung über das 21. Lebensjahr hinaus (vgl. SGB VIII (1)) sowie die notwenige Beratung und Unterstützung nach Beendigung der Hilfe (vgl. § 41 (3) SGB VIII) in der Praxis umgesetzt werden. In Deutschland wird in der Gewährung von Hilfen für junge Volljährige kaum die sozialisatorische Bedeutung des jungen Erwachsenenalters berücksichtigt, obwohl Studien (ausführlicher: Abschnitt 2.7) im Bereich Übergänge ins Erwachsenenalter und Erwerbsleben auf eine Entgrenzung dieser Lebensphase verweisen (vgl. Sievers et al. 2015, S. 20). Öffentliche wie freie Träger der Jugendhilfe fordern eine bessere Begleitung und Gestaltung der Übergänge in ein selbstständiges Leben auch über verschiedene Sozialleistungssysteme hinweg (vgl. Trede 2011, S. 51 f.) und über das 18. Lebensjahr hinaus (vgl. Graßl 2011, S. 61). Die Absicherung des Übergangs in andere Leistungssysteme sollte stets gewährt sein und Hilfemaßnahmen sollten erst dann beendet werden, wenn andere Stellen tatsächlich Leistungen erbringen (vgl. Sievers 2019, S. 60). Die erhobenen Interviews sowie die Auseinandersetzung mit Care Leavern in Abschnitt 2.7.6 haben gezeigt, dass offensichtlich Defizite bestehen. Junge Menschen werden von Einrichtung zu Einrichtung geschoben und sukzessive aus Schule, Jugendhilfe und Psychiatrie exkludiert, bis sie schließlich auf der Straße oder in prekären Verhältnissen leben, obwohl mitunter Rechtsansprüche nach dem SGB VIII bestehen. Bereitstehende, rechtliche Möglichkeiten werden angesichts des kommunalen Kostendrucks auf Jugendämter nicht immer ausgeschöpft. Scheitert der Übergang, ist die Wohnungslosenhilfe gefordert, die Jugendlichen, bzw. jungen Erwachsenen in adäquate Maßnahmen zu vermitteln und bei der Reintegration in die Jugendhilfe, bzw. Integration in weiterführende Hilfen zu unterstützen. Welche Rolle die Wohnungslosenhilfe dabei spielen kann, verdeutlicht der Fall von Laith, in dem erst ein Wohnungslosenheim als Instanz gegenüber dem Jobcenter die Bewilligung von Leistungen erwirken konnte. Sievers fordert, jungen Erwachsenen mit Jugendhilfeerfahrungen angesichts des weiterbestehenden Hilfebedarfs im Anschluss an die Hilfe, Rückkehroptionen offen zu halten, Offenheit zu vermitteln und mögliche Ansprechpartner zu nennen, auch wenn sie diese im Moment nicht brauchen oder möchten (vgl. Sievers 2019, S. 41). Alle relevanten Akteure sollten in einem Verbundsystem gemäß § 4 SGB XII zusammenarbeiten. So unterschiedlich die Lebenslagen der jungen Wohnungslosen sind, so ausdifferenziert und den unterschiedlichen Aspekten des Hilfebarfs sollte auch das Angebotsspektrum angepasst sein. Abgrenzungsprobleme bei der Entwicklung von Hilfen zwischen unterschiedlichen gesetzlichen Aufträgen des SGB II, SGB VIII und SGB XII sind von Anfang an in den Kommunen im Rahmen von Sozial- und Jugendhilfeplanung zu berücksichtigen (vgl.
8.2 Novellierung der Sonderregelungen für unter 25-Jährige
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Specht 2019, S. 8). Hierzu ist es notwendig, dass ein Gesamtkonzept inklusive der Finanzierung entwickelt wird und klare Vereinbarungen auf den Ebenen aller beteiligter Fachdienste, der Kostenträger und der Kommunalverwaltung abgesprochen werden. Durch Kooperationsverträge zwischen Sozialhilfe, Jobcentern und Jugendhilfe können Entscheidungswege optimiert und angemessene Lösungen gefunden werden (vgl. ebd.).
8.2 Novellierung der Sonderregelungen für unter 25-Jährige Bei der Betrachtung relevanter Gesetzbücher1 muss außerdem die Sanktionierungspraxis und insbesondere die Möglichkeit zur Totalsanktion sowie das Auszugsverbot bei unter 25-Jährigen im Rahmen des SGB II mit Nachdruck kritisiert werden. Bezugnehmend auf Abschnitt 2.3.3 und durch den Idealtyp durch das Hilfenetz fallen verdeutlicht, wird offensichtlich, dass diese Praxis die Aufgabe, die Grundsicherung der auf Leistungen Angewiesenen zu gewährleisten, in einigen Fällen ad absurdum führt. Wie im genannten Kapitel aufgeführt, werden unter 25-Jährige im Vergleich zu Älteren tatsächlich besonders häufig und intensiv sanktioniert. Sanktionen führen eher zu einem Rückzug aus dem Erwerbsleben, zu deutlichen Einschränkungen der Lebensqualität und können, z. B. im Falle einer Totalsanktionierung dazu führen, dass junge Erwachsene nicht in der Lage sind, das soziokulturelle Existenzminimum zu erhalten. Da die jungen Erwachsenen über keine Ersparnisse verfügen, denn solche würden Leistungen nach dem SGB II verhindern, bedeutet die Einstellung der Leistungen für Unterkunft und Heizung die Aufnahme von Schulden, das Drängen in Abhängigkeiten oder im schlimmsten Fall die Räumungsklage und Wohnungslosigkeit.
1Wie
bereits in Abschnitt 2.3.3 angesprochen verhandelt das Bundesverfassungsgericht seit dem 15.01.2019 über die Zulässigkeit von Sanktionen im Rahmen des SGB II. Die folgenden Vorderungen beziehen sich auf die momentane Rechtslage, die sich möglicherweise in den kommenden Monaten ändern wird. Bei der Abschaffung oder Novellierung von Sanktionsmöglichkeiten wird der Typ ‚durch das Hilfenetz fallen‘ nicht automatisch obsolet, es bliebe abzuwarten und zu beobachten, ob sich neue systemimmanente Hindernisse etablieren.
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Hier muss die bereits vielfach und von verschiedenen Akteuren der Wohnungslosenhilfe, Wissenschaftlern, Vereinen und Parteien gestellte Forderung unterstützt werden, dass Sanktionssondersystem für unter 25-jährige erwerbsfähige Leistungsberechtigte (§ 31 und § 31a SGB II) aufzuheben oder zu novellieren, um so die vollständige Sicherung des verfassungsgerichtlich anerkannten menschenwürdigen Existenzminimums zu garantieren2. Nach Einschätzung der BAG W hat die Regelung zur Streichung von Unterhaltskosten als Sanktion im SGB II „maßgeblich zu vermehrten Wohnungsverlusten in dieser Gruppe [der unter 25-Jährigen] beigetragen“ (bagw.de 2010). Stephens et al. kritisieren ebenfalls die möglichen Sanktionen in Folge der Hartz Reformierung: „Unemployed young people have been particularly affected by the Hartz reforms. They are no longer supported to move out from the family home, and this was considered a ‘high risk’ strategy by some German interviewees (see also Benjaminsen and Busch-Geertsema, 2009). Vulnerable young people who nonetheless leave home are said to be reduced to, sometimes highly risky, forms of self-help under the threat of benefits sanctions. […] And this then directly leads into prostitution, begging all forms of exploitation and mattress hopping. These young people are then very difficult to access“ (Stephens et al. 2010, S. 218 f.).
Sanktionen haben direkte wie indirekte negative Folgen für die jungen Erwachsenen: Eine generelle Verschärfung der sozialen Situation bis an den Rand des soziokulturellen Existenzminimums, ein weiterer Rückzug aus Bildungsinstitutionen bzw. dem Erwerbsystem und mitunter riskante Kompensationsstrategien, die ihre gesellschaftliche Exklusion weiter zementieren. Im Sozialrecht gibt es neben den Sanktionsmöglichkeiten weitere Regelungen, die junge Menschen unter 25 Jahren massiv benachteiligt. Die eben genannte Kritik am SGB II kann um die Forderung ergänzt werden, dass die Einbeziehung erwachsener junger Menschen in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern im Rahmen des § 22 (5) SGB II aufgehoben werden sollte.
2Diese
Formulierung wurde aus einem Antrag verschiedener Abgeordneter sowie der Fraktion der Linken zur Abschaffung der Hartz-IV-Sonderregelungen für unter 25-Jährige übernommen (bundestag.de 2012) und steht exemplarisch für zahlreiche Akteure der Wohnungslosenhilfe, von Vereienen, Personen und Parteien, die seit Jahren ähnliche Forderungen stellen.
8.3 Bezahlbaren Wohnraum schaffen
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Diese Regelung erschwert zum einen die Verselbstständigung der Betroffenen und kann zum anderen dazu führen, dass junge Erwachsene entweder aus Notwendigkeit unter prekären Bedingungen in ihren Familien leben, Marginalisierungen bis hin zu Missbrauch im Elternhaus ertragen, oder ohne Ansprüche wahrzunehmen von Zuhause weglaufen, in Abhängigkeiten geraten und auf der Straße enden. Den Nachweis über schwerwiegende soziale Gründe zu erbringen, die eine Ausnahme des Auszugsverbotes ermöglichen würde, kann für die jungen Erwachsenen mitunter schwierig sein und sie sind darauf angewiesen, dass ihnen in entsprechenden Instanzen geglaubt wird, oder überhaupt die Möglichkeit eingeräumt wird, diese vorzutragen. Hier wird die Rolle der Entscheidungsträger in den Jobcentern über Bewilligung oder Ablehnung von Hilfen nach SGB II als gatekeeper sichtbar. Wie bereits in Abschnitt 2.3.3 gezeigt, bewerten selbst Fachkräfte aus Vermittlung und Fallmanagement die Möglichkeit zur Totalsanktion kritisch (vgl. Koch et al. 2009, S. 124) und es kann insgesamt ein unsystematischer Zusammenhang zwischen Sanktionsgrund und Ausmaß der Sanktionen im Kontext des SGB II festgestellt werden (vgl. ebd., S. 123). Auf eine kleine Anfrage hat der Deutsche Bundestag ebenfalls konstatiert, dass Sanktionen im Rahmen des SGB II eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität und (zumindest vorläufig) einen weiteren Rückzug aus dem Erwerbsleben zur Folge haben (vgl. Deutscher Bundestag 2014, S. 6). In Kapitel 6. wird deutlich, dass das Bildungssystem eine relevante Kategorie für Wege in die Wohnungslosigkeit darstellt und dass bei vielen jungen Wohnungslosen Bildungsdefizite vorliegen. Durch das Sanktionsregime des SGB II besteht indirekt die Gefahr, dass sich die prekäre Bildungssituation reproduziert, indem von Sanktionen bedrohte junge Erwachsene irgendeinen Job annehmen und ihre Qualifizierung vernachlässigen (vgl. Schreyer/ Götz 2010, S. 82). Wie bereits in Abschnitt 2.3.3 genannt, wird momentan über die Zulässigkeit von Sanktionen im Rahmen des SGB II verhandelt, das Ergebnis dieser Verhandlungen wird in einigen Monaten erwartet. Bei der Abschaffung bzw. Novellierung der Sanktionsparagraphen bliebe die anschließende Entwicklung abzuwarten, ob sich neue systemimmanente Schwierigkeiten etablieren.
8.3 Bezahlbaren Wohnraum schaffen Neue Ansätze, wie ‚Housing First‘ scheinen überaus wirksame Ansätze zu sein, um Personen mit komplexem Unterstützungsbedarf zum Ausstieg aus Wohnungslosigkeit zu verhelfen. In mehreren europäischen Staaten wurde dabei eine
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Wohnstabilität von 90 % erreicht (vgl. Europäische Kommission 2013, S. 7). Daraus lässt sich ableiten, dass unabhängige Wohnungen in verstreuten Lagen, kombiniert mit intensiver begleitender Unterstützung für junge Wohnungslose ein adäquates Interventionsmuster darstellen, auch wenn für diese Gruppe einige methodische Feinabstimmungen notwendig sind, um die Wirksamkeit zu optimieren (vgl. ebd., S. 8). Es darf dabei nicht übersehen werden, dass eine Kombination aus Wohnraumversorgung und Unterstützung zwar überzeugende Erfolge für einen dauerhaften Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit aufzuweisen hat, „damit aber im Leben von Menschen mit einer langen Vergangenheit in Obdachlosigkeit und Marginalisierung nicht alle Probleme gelöst sind“ (ebd.). In den meisten Fällen wird es weiterer, umfassender Interventionen und Hilfemaßnahmen bedürfen, um die soziale (Re-) Integration und Lebensqualität der Betroffenen zu fördern. Der Hauptunterschied von ‚Housing First‘ zu klassischen Unterstützungen ist die Entkopplung von Wohnraum und sozialarbeiterischer Unterstützung, die eine Hilfeplanung nicht ausschließt. Wohnungslose ohne Unterstützungsbedarf müssten keine Hilfe ‚ertragen‘, die sie entweder nicht benötigen oder aus anderen Gründen nicht annehmen möchten (vgl. Gerull 2016, S. 39 f.). Damit ‚Housing First‘ überhaupt zu einer Alternative herkömmlicher Unterstützung werden kann, besteht als erste Herausforderung, genügend bezahlbaren Wohnraum zu finden, was in Anbetracht der aktuellen Lage (vgl. Abschnitt 2.3.2) utopisch erscheint. Bei großer Konkurrenz insbesondere in Städten, haben junge Wohnungslose aufgrund ihrer spezifischen Situation nur geringe Chancen auf eine Wohnung. Selbst bei Sozialwohnungen sind mitunter andere Zielgruppen festgelegt, oder die Nachfrage übersteigt schlichtweg das Angebot. Es bedarf massiver, sozialpolitisch motivierter Eingriffe in den Wohnungsmarkt, z. B. durch den Ausbau des Sozialwohnbaukontingentes. Sozialer Wohnungsbau hat zudem neben unmittelbaren Effekten auch preisdämpfende Wirkung auf untere und mittlere Mieten. Hierbei offenbaren sich zwei weitere Probleme: Im Rahmen der Föderalismusreform I im Jahr 2006 wurde die Zuständigkeit für die Gesetzgebung zur sozialen Wohnraumreform vom Bund auf die Länder übertragen. Neben dem Recht zur Gesetzgebung in diesem Bereich obliegt den Ländern nunmehr auch die Finanzierung der sozialen Wohnraumförderung (vgl. bmi.bund.de 2019). Entsprechende Ressourcen werden mittels fixer Schlüssel verteilt und orientieren sich nicht an der tatsächlichen Lage in den einzelnen Bundesländern. Außerdem – und das ist angesichts knapper Länderhaushalte besonders kritisch – laufen die gewährten Kompensationszahlungen 2019 aus und der Bund ist ab dem Jahr 2020 aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mehr befugt, weitere Zahlungen in diesem Kontext an die Länder zu leisten
8.4 Spezifisches Wissen und Herausforderungen der Fachkräfte
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(vgl. ebd.). Wohnraumförderung müsste zunächst zurück in die Zuständigkeit des Bundes delegiert werden, um beide Probleme adäquat adressieren zu können. Sorgfältige Wohnungsakquise kann Leerbestand aufdecken sowie verfügbar machen und gehört somit ebenfalls zur Verantwortung von Politik und Verwaltung. Die DJI Studie zu entkoppelten Jugendlichen fordert zudem Unterstützung junger Volljähriger zur Überwindung formaler Hürden (z. B. bei SCHUFA Einträgen) bei der Erlangung eignen Wohnraums in Form von Wohnraumbürgschaften kommunaler Träger (vgl. Mögling et al. 2015, S. 50).
8.4 Spezifisches Wissen und Herausforderungen der Fachkräfte Spezifisches Wissen über biografische Prozesse kann, nicht nur innerhalb von Forschung, sondern auch für Experten und Fachkräfte in der praktischen sozialen Arbeit Möglichkeiten eröffnen. Biografie gibt Auskunft darüber, auf welche Art und Weise „die Unterstützungs- und Begleitangebote – gerade auch die der Krisenintervention – vom Betroffenen interpretiert werden und mit welcher Bedeutungszuschreibung sie in dessen Erlebnisgrammatik abgespeichert werden“ (Glinka 2008, S. 157). Durch den Zugang über Biografie erfahren Fachkräfte von Bedingungsrahmen, innerhalb derer sich Kooperationsbereitschaft entfalten kann oder auch unmöglich bleibt. Sie können erfahren, welche Mechanismen vor dem Hintergrund posttraumatischen Erlebens mit Blick auf funktionierende soziale Strukturen und Reziprozitätsstrukturen ihre Wirkung entfalten, wie Strukturen verloren gehen und welche zentrale Bedeutung signifikante Andere zugeschrieben würden, wenn sie in dieser Funktion für die Betroffenen erkennbar wären. Außerdem würden die professionellen Helfer erfahren, durch welche Ressourcen der Wohnungslose an der Reformulierung seiner biografischen Zukunft und seiner Identität arbeitet und welche Relevanz die Krisenintervention in diesem Bearbeitungsprozess seitens des Betroffenen zugeschrieben wird (vgl. ebd.). Innerhalb der Sozialen Arbeit, die sich genau an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft befindet wird auch das analytische Potential von Agency deutlich. Die Fachkräfte begleiten ihre Adressaten, „dass diese in die Lage versetzt werden, innerhalb einer (sozial-) politisch gesetzten und geforderten historisch-gesellschaftlichen Normalitätskonstruktion als handlungsfähige Subjekte agieren können“ (Grundmann 2017, S. 265). Somit gilt es für sie, die subjektiven Sinnkonstruktionen, Deutungsmuster und Bewältigungsstrategien wie die konkreten Lebensverhältnisse, in denen die jungen Wohnungslosen eingebunden sind, in ihrer wechselseitigen Verwobenheit zu erkunden.
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Die Fachkräfte müssen darüber hinaus in der Lage sein, positive Gegenerfahrungen zu den bisherigen (Negativ-) Erfahrungen mit Hilfesystemen zu vermitteln. Wenn das Vertrauen der jungen Wohnungslosen in das Hilfesystem über viele Jahre erodiert wurde, muss dieses schrittweise wiederaufgebaut werden. Außerdem müssen die Fachkräfte darüber reflektieren, inwiefern die Straße aus der Perspektive einiger junger Erwachsener Sinn macht – und zwar aufgrund des Strebens nach subjektiver Handlungsfähigkeit, bzw. dem Versuch, diese wiederzuerlangen. Die Straße bedeutet für einige junge Wohnungslose Selbstwert, soziale Anerkennung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung, häufig im Anschluss an eine lange Institutionskarriere in dessen Kontext sie sich vornehmlich als fremdbestimmt, bevormundet und passives Objekt empfunden haben.
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Fazit und Ausblick
Die forschungsleitende Frage, welche Wege junge Volljährige in Deutschland in die Wohnungslosigkeit führen, wurde in dieser Arbeit mittels sechs prototypischer Fälle exemplarisch beantwortet. Es scheint in den Biografien der jungen Erwachsenen bestimmte Prozessstrukturen zu geben, die für ihre Wohnungslosigkeit relevant sind und die sich zu fünf Idealtypen abstrahieren lassen. Das im Diskurs gezeichnete Bild des vielseitig exkludierten jungen Erwachsenen, Care Leavers, der Systeme sprengt und aus allen gesellschaftlichen Bezügen entkoppelt ist, scheint in der Tat ein typischer Verlauf zu sein. Dieser Idealtyp, sukzessiv exkludiert zu werden, ist durch die schrittweise Exklusion aus den Strukturierungen des Lebenslaufs, der Familie sowie dem Bildungs- bzw. Erwerbssystem gekennzeichnet. Weitere Merkmale sind die fehlgeschlagene Integration in institutionalisierte Hilfen, ein massiver Vertrauensverlust gegenüber Anderen, fehlende, stabile soziale Netzwerke und die schließlich entwickelte Disposition, lediglich handlungsohnmächtiges Objekt zu sein. Die Straße ist in diesem Typ ausschließlich negativ konnotiert und stellt gewissermaßen die Manifestation des Erleidens sowie die Dystopie ihrer blockierten, erodierten und verloren geglaubter Handlungsunfähigkeit dar. Ein weiterer idealtypischer Weg unterscheidet sich davon insofern, dass sich die langsamen, aufschichtenden Prozesse der Exklusion, stattdessen spontan und unerwartet vollziehen. Die Ursachen sind besonders kritische Lebensereignisse und traumatische Erfahrungen, welche jene Bezüge erodieren, die Stabilität und Kontinuität gewährleistet haben. Im empirischen Material treten Trennungen und Todesfälle, also der Verlust von signifikanten Anderen sowie schwerwiegende Erkrankungen als solche, Agency blockierende, Wendepunkte auf. Besonders spannend ist unter agencytheoretischer Betrachtung der Idealtyp Straße als Möglichkeitsraum verstehen. Dieser fasst jene Prozessstrukturen,
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Annen, Agency auf der Straße, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30762-2_9
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in denen die Wohnungslosigkeit entgegen aller Vorurteile als wirkmächtige, ermöglichende Struktur imaginiert bzw. erlebt wird. In diesem Verlauf fungiert die Straße mit idealisierten Vorstellungen von Freiheit, Selbstverwirklichung und Autonomie als eigenständiger Pull-Faktor und die Flucht auf die Straße ist der Versuch der Aufrechterhaltung von Agency. Eine weitere Facette dieses Weges in die Wohnungslosigkeit verdeutlichen jene jungen Erwachsenen, die lange Zeit in verlaufskurvenartigen Prozessen des Erleidens gefangen waren und durch die Anforderungen der Straße ihre Handlungsfähigkeit wiederentdecken. Sie entwickeln im Zuge einer praktischen Evaluation ihrer Situation, kreative Strategien, um den Widrigkeiten der Straße zu trotzen. Schließlich verbleiben die Idealtypen Hilfenetz nutzen und durch das Hilfenetz fallen. Bei Erstem nutzen die jungen Erwachsenen die Möglichkeiten gesellschaftlicher Unterstützung in Phasen der Krise oder drohender Wohnungslosigkeit, um die Straße durch die Inanspruchnahme von Hilfen zu vermeiden. Sie vertrauen auf die Expertise und das Wissen der helfenden Professionellen, um sich in einem komplexen und bürokratischen System zurecht zu finden. Die Wohnungslosenhilfe fungiert dabei als Gatekeeper zu weiteren Hilfeangeboten wie Sucht- und Schuldnerberatung, Unterstützung bei der Wohnungs-, Ausbildungs- oder Arbeitssuche. Das konstitutive Merkmal des letzten Idealtyps durch das Hilfenetz fallen, sind systemimmanente Hindernisse, die eben genannte Hilfen ausschließen oder zumindest verzögern, sodass die jungen Wohnungslosen ohne jegliche Unterstützung auf der Straße leben. Bei diesen Hindernissen kann es sich z. B. um rechtliche Rahmenbedingungen, wie das ‚Auszugsverbot‘ für unter 25-Jährige im Rahmen des § 22 (5) SGB II, die Sanktionsmöglichkeiten nach § 31a SGB II bis zur Totalsanktion des § 31 a (2) SGB II handeln oder es führen unklare Zuständigkeiten in einem Geflecht aus SGB II, SGB VIII und SGB XII dazu, dass die jungen Wohnungslosen zwischen den einzelnen Rechtskreisen hin- und hergeschoben werden. Diese fünf Idealtypen verdeutlichen, dass dem Phänomen Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen nicht gerecht werden kann, indem einseitig auf ungünstige strukturelle Bedingungen oder individuelle Dispositionen geblickt wird. Mittels der theoretischen Rahmung durch Agency konnten jene Ambivalenzen zwischen sozialer Bestimmtheit und individueller Selbstbestimmung sowie dem Wechselspiel zwischen Struktur und Agency sowie feine Unterschiede zwischen und innerhalb der Idealtypen sichtbar gemacht werden. So konnte gezeigt werden, dass Menschen wie Hamid selbst unter widrigen Umständen ihre Handlungsfähigkeit behaupten, bzw. wiedererlangen können. Da sich Agency nicht an Normen, moralischer Überlegenheit oder sozialer Erwünschtheit orientiert, wäre es ein vorschnelles Urteil, der Straße ausschließlich beschränkende Strukturen
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zuzuschreiben. Diese jungen Erwachsenen sind betont wegen der Straße und nicht trotz der Straße handlungsfähig und finden kreative Möglichkeiten, den Anforderungen ihres Alltags zu begegnen. In dem dazu kontrastiven Idealtyp der sukzessiven Exklusion aus den strukturierenden Instanzen des Lebenslaufs, zeigt sich die Straße hingegen als Symptom einer längeren Verkettung von Ereignissen und sukzessiven Erosion von Vertrauen, Netzwerken sowie Handlungsmächtigkeit. In diesem Fall ist die Straße das Paradigma einer prekären Lebenssituation, die durch Passivität, Lethargie und Erleiden gekennzeichnet ist. Eine Lebenssituation, in der vermeintlich alle Optionen verschlossen sind, die Flucht in Rausch verbleibt, um die Widrigkeiten der Straße ertragen zu können und in der das alltägliche Überleben jegliche Projektivität ersetzt. Das empirische Material zeigt auch, dass Menschen wie Laith an Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen scheitern. Dass es Konstellationen gibt, in denen die Hilfen (in diesem konkreten Fall Grundsicherung für Arbeitssuchende im Rahmen des SGB II) den jungen Menschen paradoxerweise so lange verwehrt bleibt, bis sie in Verhältnissen leben, die ein sozialkulturelles und menschenwürdiges Existenzminimum eindeutig unterschreiten. In anderen Fällen scheint das Hilfesystem – respektive die Wohnungslosenhilfe – als Gatekeeper zu weiteren Hilfen wie Schulden oder Suchtberatung zu fungieren und unterstützt bei bürokratischen Hürden, Wohnungs- sowie Ausbildungs- oder Arbeitssuche. In den Abschnitten 8.1 bis 8.4 wurden Möglichkeiten verschiedener Akteure genannt, das Phänomen Wohnungslosigkeit – insbesondere bei jungen Erwachsenen – besser zu verstehen, zu verhindern oder junge Wohnungslose in ihren prekären Situationen zu unterstützen. Es bedarf zunächst massiver, sozialpolitisch motivierter Eingriffe in den Wohnungsmarkt, um genügend Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Aufgrund ihrer Lebensumstände haben junge Erwachsene in prekären Lebenssituationen durch die große Konkurrenz um günstigen Wohnraum kaum Chancen auf eine Wohnung. Des Weiteren richtet sich die Forderung nach einer Novellierung der Sonderregelungen für unter 25-Jährige im Rahmen des SGB II an die Sozialpolitik. Sanktionen können zu einer Verschärfung der sozialen Situation bis an den Rand des soziokulturellen Existenzminimums, einem weiteren Rückzug aus Bildungsinstitutionen bzw. dem Erwerbssystem, sowie zu mitunter riskanten Kompensationsstrategien, die gesellschaftliche Exklusion weiter zementiert, führen. Das Auszugsverbot erschwert zum einen die Verselbstständigung der Betroffenen und kann zum anderen dazu führen, dass junge Erwachsene aus Alternativlosigkeit unter prekären Bedingungen in ihren Familien leben, Marginalisierungen bis hin zu Missbrauch im Elternhaus ertragen, oder ohne
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Ansprüche wahrzunehmen ohne jegliche Form der Unterstützung auf der Straße leben. Die von Chamberlain und MacKenzie formulierten Vorschläge zu frühen Interventionen sowie zur Prävention (siehe Abschnitt 2.4.5) scheinen Potential zu haben, Wohnungslosenkarrieren von jungen Menschen zu verhindern, auch wenn die genauen Bedingungen der Präventivarbeit unter den Voraussetzungen des deutschen Hilfesystems noch dezidiert ausbuchstabiert werden müssen. Die Fachkräfte stehen vor der Herausforderung, dass die Hilfen in drei Rechtskreisen (SGB II, VIII und XII), an der Schnittstelle zwischen Jugend- und Wohnungslosenhilfe, mit jeweils eigenen Logiken verankert sind, die zum Teil inkompatibel sind. Eine ganzheitliche und kontinuierliche Förderung, bei der alle Akteure in einem Verbundsystem, mit klaren Absprachen der involvierten Teilsysteme, zusammenarbeiten, könnte zu schnellen Entscheidungen und optimierten Lösungen führen. Außerdem wird selten die sozialisatorische Bedeutung des jungen Erwachsenenalters berücksichtigt, obwohl Studien auf eine Entgrenzung dieser Lebensphase hindeuten. Care Leaver müssen als Risikogruppe besonders in den Blick genommen werden. Aufgrund des kommunalen Kostendrucks auf Jugendämter werden Leistungen eingestellt, obwohl mitunter Ansprüche nach SGB VIII bestehen. Die Absicherung des Übergangs in andere Leistungssysteme sollte stets gewährt sein und Hilfemaßnahmen sollten erst dann beendet werden, wenn andere Stellen tatsächlich Leistungen erbringen. Des Weiteren gibt es massive Wissensdefizite über die tatsächliche quantitative Situation in Deutschland. Die jährlichen Stichtagserhebungen und Schätzungen müssten durch eine amtliche, bundesweite Statistik zur Wohnungslosigkeit ersetzt werden, um einen seriösen Überblick über die Situation und die Ausmaße des Phänomens zu ermöglichen. Längsschnittstudien zur Statuspassage des Leaving Care, derjenigen, die im Anschluss an die Hilfen in prekären Situationen leben, stehen bisher aus. Eine empirische Studie kann immer nur einen spezifischen Ausschnitt beleuchten und nicht alle Fragen zu einem bestimmten Kontext klären. Es bleiben offene Fragen und Ansatzpunkte, die zu weiteren Untersuchungen und Fragestellungen anregen. Eine interessante Fragestellung erschließt sich aus den Vorschlägen und Forderungen im Abschnitt 7.4 und Kapitel 8. Evaluationsstudien zu verschiedenen Interventionsmöglichkeiten in Jugend- und Wohnungslosenhilfe können offenbaren, welche Ansätze nachhaltige Erfolge zeigen, welche Angebote scheitern und wo Verbesserungsbedarf steht. Welche Hilfen funktionieren und welche Wege führen aus der Wohnungslosigkeit? Auch wenn dieser Aspekt nicht im Vordergrund dieser Studie stand, scheinen Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und Wohnungslosigkeit
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zu existieren. So berichten die Probanden von entsprechenden Diagnosen oder Selbsteinschätzungen und verweisen auf Aufenthalte in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen. Die Auseinandersetzungen in den Abschnitten 2.5 und 2.6.1 lassen ähnliche Schlussfolgerungen zu. Hier kann die Frage wiederholt werden, ob Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht eigentlich auch psychiatrische Einrichtungen seien, die die schwierigsten und kränksten Patienten unter schlechten Bedingungen und mit geringen Ressourcen betreuen müssten? Dieses Themengebiet offenbart zahlreiche mögliche Fragestellungen zu Zugangswegen psychiatrischer Hilfen, Exklusion von unangepassten Klienten oder zur (Nicht-)Versorgung bestimmter Adressatengruppen. Eine Perspektive auf die Rolle der Straße ergibt sich aus dem theoretisch sensibilisierten Blick mittels Agency. Bisher wurde die Straße tendenziell als beschränkende Struktur beschrieben und verstanden. Sie scheint jedoch, neben persönlichen und habituellen Dispositionen, sozialen Kontakten sowie Ressourcen als wirkmächtige Entität eines Netzwerkes zu wirken, indem Agency hergestellt, erodiert und ausgehandelt wird und ist somit selber als Forschungsgegenstand für weitere Untersuchungen interessant.
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