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German Pages 216 Year 2014
Arthur Engelbert Global Images
Band 8
Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.
Arthur Engelbert habilitierte im Fachgebiet Medientheorie und Kunstwissenschaft und lehrt an der Fachhochschule Potsdam. Neben interdisziplinären Studien zur zeitgenössischen Kunst leitet er seit 1999 ein Forschungsprojekt, das kulturelle Transfers zwischen Kulturen und Künsten untersucht.
Arthur Engelbert
Global Images Eine Studie zur Praxis der Bilder. Mit einem Glossar zu Bildbegriffen
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Inhalt
Einleitung
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Global Images: Eine Studie zur Praxis der Bilder Zur Vorgehensweise Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität Konstruktion von Realität im Bild Das Experiment: Fiktion bezogen auf Realität und umgekehrt Zur Frage der Realitätskonstruktion: Das Medienereignis Die Zuverlässigkeit der Nachrichten Künstlerische Auseinandersetzungen mit 9/11 Die große Familie der Bilder Die multiplizierte Perspektive Austauschbewegungen im Internet Das zerlegte Bild, die durchbrochene Oberfläche Literatur und Abbildungsverzeichnis
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Versuch zur Wahrnehmung der Fotografie heute Global Images: Fotografie Bilder – Kontexte – Zeichen Literatur und Abbildungsverzeichnis
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen Hinweise zum Glossar Bilderbegriffe – Glossar
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Anhang II: Bibliographie zu Bildertheorien Vorbemerkung Bildertheorien Geschichte des Sehens Visuelle Phänomene
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Einleitung
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der Erste ist zugleich der Hauptteil. Er trägt den Titel „Global Images: Eine Studie zur Praxis der Bilder“. Er untersucht die Konsequenzen, die sich dadurch ergeben, dass wir in einer Zeit leben, in der die Generierung und Manipulierung bildlicher Prozesse scheinbar keine Grenzen mehr kennt. Mit dem Aufkommen der digitalen Visualisierung von Daten in den neunziger Jahren sind Bilder an kein bestimmtes Bildformat gebunden. Was hat sich dadurch bezogen auf tradierte Verbreitungs-, Archivierungsund Wahrnehmungsformen verändert? Wir gehen davon aus, dass sich im Gebrauch optischer Informationen Hinweise finden lassen, wie die unterschiedlichsten Bildereignisse in den verschiedensten Bildmedien in einem offenem Bildersystem miteinander verbunden sind. Zwar können wir deren dynamische Strukturen nicht völlig durchschauen, aber es ist möglich, anhand von Bildbeispielen herauszufinden, nach welchen Gesichtspunkten typologische und topologische Unterscheidungen von Bildern, und nicht nur diese, festgemacht werden können. Hatte die Kunstgeschichte durch die Stilgeschichte, Ikonographie und Ikonologie Instrumente und Kriterien zum Verständnis der Bilder geliefert, so verlangt eine interdisziplinäre, schwerpunktmäßig medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit allen möglichen Bildformaten und Visualisierungsprozessen heutzutage ebenfalls Kriterien für die Praxis der vielen Bildarten und Bildbezüge. Diese fassen wir unter dem Titel der „Global Images“ zusammen. Global Images sind vornehmlich technische Bilder. Seit der Erfindung der Fotografie vor bald 200 Jahren gibt es technische Bilder, die sich besonders durch die technologische Entwicklung von Visualisierungsprozessen in den letzten zwanzig Jahren stark verändert haben. Ging es anfangs noch um eine Abgrenzung von analogen und digitalen Bildern, von Bilderwelten offline und online, so steht gegenwärtig ein Wandel der computergenerierten und –manipulierten Bilder an, der durch diverse Formen technischer und nicht technischer Nutzung der Bilder geprägt ist. Vor diesem Hintergrund eines gravierenden Wandels im Verständnis von dem, was Bilder einmal waren und zukünftig sein werden, haben wir unseren Akzent in der Auseinandersetzung hinsichtlich der Einwicklung der Global
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Images auf die Fotografie gelegt. Dadurch soll eine Hauptlinie in den visuellen Argumentationen durchgängig gewahrt bleiben, auch wenn optische Referenzen zu anderen Bildformaten hergestellt werden. Da viele Bilder sehr einfach über das Internet aufgerufen werden können, haben wir die Auswahl der Beispiele auf das Notwendigste beschränkt. Unser Interesse an den technischen Bildern hat ein ganzes Bündel von Beweggründen, die wir in einem ersten Schritt in Anlehnung an die tradierte Bildwissenschaft schematisch umreißen wollen. Im Mittelpunkt unserer Studie steht nicht nur die Frage, wie Bilder generiert und manipuliert werden, sondern nach welchen Modellen sie konstruiert werden. Hierbei gehen wir davon aus, dass in der Konstruktion von Bildern auch Realitätskonstruktionen zu finden sind, zumal dann, wenn wir den Gebrauch visueller Informationen kritisch hinterfragen und wenn wir uns Oberflächenphänomene, die wir wahrnehmen, bewusst bzw. anhand von Bildern sichtbar machen. In einem globalen Medienereignis wie 9/11 kulminieren Visualisierungsformate, auf deren Praxis sich jeder Zeitgenosse mehr oder weniger einlässt, sich dessen aber nicht immer bewusst ist. Aus dem praktischen Bildergebrauch ergeben sich viele Fragen. Eine davon lautet: Erwächst aus Sichtbarkeitsmanipulation auch eine neue Sichtbarkeitsordnung? Wir werden dieser Frage in allen Verästelungen nachgehen. Wir möchten herausfinden, was es bedeutet, wenn an aufbrechenden Oberflächen der Bilder – hervorgerufen durch den Gebrauch, durch visuelle Techniken der Nutzung – eine Befähigung zu kultureller, medialer und politischer Manipulation erkennbar ist. Angenommen, wir können das im weiteren Verlauf plausibel machen, dann verweist der technische Umgang mit Bildern auf eine kulturelle Praxis und diese hat gesellschaftliche Implikationen: Im Gebrauch der globalen Bilder erhält die Gegenwart ‚eine optische Erkenntnisformel‘ für komplexe Zusammenhänge, ähnlich wie die Kubisten in den zehner Jahren des letzten Jahrhunderts einen Wahrnehmungswandel der westlichen Gesellschaften angezeigt hatten. Solche visuellen Erkenntnisse müssen allerdings ‚erarbeitet‘ werden; sie sind den Bildern selbst nicht (mehr) anzusehen. Dies erklärt auch, warum wir in dem Buch den linearen Verlauf immer dann verlassen, wenn wir durch einen Perspektivwechsel, d.h. durch ein Umschalten auf andere Diskurse die Argumentation bereichern können. Alle methodisch inhaltlichen Manöver werden dem Leser rechtzeitig angezeigt, damit er das analytische Potential optimal einschätzen kann. Dass wir hierbei technischen Paradigmen, wie dem der (Ver-)Schaltung oder wie dem des Ebenenwechsels durch Zapping und Clicks, folgen, liegt auf der Hand. Aufgrund der inhaltlichen Dynamik ist es jedoch ausgeschlossen, dass wir beim Sampling, dem fragmentarischen Stückwerk, stehen bleiben. Vielmehr interessiert uns gleich am Anfang in der Beschäftigung mit den Bildern zu 9/11, wie in der Verkettung der Argumente und der visuellen Fragmente sinnvolle Rahmungen, Protokolle und Bezüge entstehen. Der zweite Teil des Buches ist eine Vertiefung zum Schwerpunkt Fotografie. Er versteht sich als ein Versuch zur Wahrnehmung der Fotografie heute und widmet sich der Doppelrolle der Fotografie als ein Schlüssel- und Leitmedium. Da die Fotografie auf eine umfassende und zugleich verdichtende Weise über die Veränderungen informiert, die seit dem Ende des Kalten Krieges im Globa-
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lisierungsprozess ihren Verlauf genommen haben, hat sie als ein sichtbar machendes Medium eine Schlüsselfunktion. Zwar verzeichnet die Fotografie vor allem durch computergenerierte Bilder einen zunehmenden Bedeutungsverlust, den sie als ein Leitmedium für andere Bildmedien seit Ende der achtziger Jahre inne hatte, jedoch ‚dokumentiert‘ sie noch immer auf vielfältige Weise, was im Globalisierungsprozess politisch und ökonomisch geschieht, wenn sich im ständigen Anwachsen und in der weltweiten Ausbreitung die Kontexte und Formate der Bilder mischen. So wie die Bilderrahmen in der Geschichte des westlichen Gemäldes eine Abgrenzung vom Ort ihrer Wahrnehmung schmückend anzeigten, so fehlen gegenwärtig die Bezugs-Rahmen für dynamische Visualisierungsformen, wenn Kontexte der Bilder erschlossen, vermischt, Bildebenen kombiniert oder Verschaltungen protokolliert werden. Anhand von ausgewählten Beispielen werden die Grenzen der Fotografie als ein Schlüsselmedium eines Übergangs bzw. eines globalen Orientierungsprozesses aufgezeigt. Die Bewusstwerdung visueller Konstruktionen ist an die Praxis der Bilder gebunden und damit mit der Realität verknüpft, die sie repräsentiert und symbolisiert, aber auch mit der Realität, die sie praktisch ermöglicht. Im dritten Teil des Buches werden Ergänzungen angeboten, die vor allem im ersten Teil ausgeklammert werden mussten. Der Anhang „mit einem umfangreichen Glossar zu Bildbegriffen und einer systematischen Bibliographie zu Bildertheorien“ soll die Lücken schließen, die sich beim Lesen des Hauptteils immer wieder ergeben werden, wenn die vorgeschlagene Diskussionslinie verlassen wird und der Leser weitere Informationen wünscht. Durch das Glossar erhält der Leser einen Apparat mit Hinweisen zu wichtigen Quellen aus der Begriffsgeschichte des Bildes. So sollen diese vor allem dazu anregen, die methodisch und inhaltlich notwendigen Eingrenzungen, die in der Studie zu den Global Images gemacht werden mussten, zu erweitern und die Vielfältigkeit der visuellen Modelle und Theorien nicht aus dem Auge zu verlieren. Wir haben eine Auswahl von Bildbegriffen getroffen. Sie ist nicht vollständig. Sie ist auch problematisch – weil wir noch so viele Begriffe ins Glossar hätten hinein nehmen müssen; das ist uns bewusst. Es war unser Bestreben, Begriffe der alten Bildmedien einzubeziehen. Möglicherweise haben wir dadurch einige neuere Tendenzen zu kurz kommen lassen. Dies ist von vornherein einzugestehen. Das Augenmerk dieses Buches gilt der kritischen Bewusstwerdung einer kulturellen Praxis der Bilder. Wir gehen von einem allgemeinen Bildbegriff aus, wenn wir mit der Analyse der visuellen Wahrnehmung von medialen Ereignissen ansetzen. Es sind viele Disziplinen, die zu Wort kommen bzw. ihr Bildrecht beanspruchen. Das muss man konstatieren. Die fragmentarische Praxis der Bilder spiegelt sich in den sprunghaften Bezügen, die dem Leser durch die Einbeziehung anderer Sichtweisen angeboten werden. Jeder Teil des Buches wird eigens noch einmal eingeleitet, damit Voraussetzungen geklärt und die Ziele der Fragestellungen deutlich werden. Die Mannigfaltigkeit der Global Images ist durchschau- und bewertbar: In den visuellen Prozessen sind Vermittlungsformen und Strukturen zu erkennen, die individuell beobacht- und aneigbar sind.
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Zur Vorgehensweise Im Folgenden entwickeln wir eine Fragestellung zu Bildern in unserer Zeit. Hierbei kommen wir nicht umhin, Einschränkungen vorzunehmen, denn wir können nicht voraussetzungslos beginnen. Da der Gebrauch von Bildern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird, scheidet aus, dass wir eine Analyse ohne Bilder führen wollen oder dass wir einen Zustand der Bildlosigkeit favorisieren, der darauf hinaus liefe, dass wir uns von den Bildern zumindest zeitweise abwenden, was natürlich immer eine ernst zu nehmende Option ist. Durch die ständige Sehbereitschaft unseres visuellen Sinnes, der von einem visuellen Angebot zum nächsten eilt, sind wir mit der sichtbaren Welt im Wachzustand permanent verbunden. Der Umgang mit Bildern ist allerdings nicht nur auf Bilder beschränkt, das heißt, dass eine Analyse des Bildgebrauches nicht nur an Bildern festgemacht werden kann. Einerseits sind die Möglichkeiten des Mediums Sprache begrenzt, weil Bilder z.B. immer auch wortlos auf andere Bilder verweisen und weil nicht alle den Anschauungsprozess begleitenden Assoziationen, Ideen und Vorstellungen erfasst werden können. Andererseits lässt sich der konkrete Umgang mit Bildern nicht auf Bilder reduzieren, denn das die kritische Untersuchung führende Medium Sprache ist auch offen für andere Gattungen und Medien, die die Interessen und Motive des Bildgebrauches mitprägen. Doch bevor wir diese Aspekte des Bildgebrauches weiter verfolgen, bleibt festzuhalten: Ohne Bilder lässt sich nichts gegen oder für Bilder sagen, kann man nicht auf sie verweisen, ihnen eine Stelle einräumen, von der aus sie etwas zeigen und ist es nicht möglich, sie in Beziehung zu anderen Bildern zu setzen, sie zu erinnern oder in ihrer ständigen Präsenz zu ignorieren. Man kommt also nicht umhin festzustellen, dass sie einen jeden von uns im Alltag prägen und darüber hinaus in der Geschichte von Völkern und Gemeinschaften eine wichtige Rolle spielen, kurz: dass sie auf vielfältige Weise im Gebrauch sind. Diesen Gebrauch exemplarisch aufzuzeigen, ist der Versuch dieser Arbeit. Das muss man von vornherein deutlich machen, will man nicht mit den Instrumenten, die hier fachlich zur Verfügung stehen – Medientheorie und
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Kunstwissenschaft – falsche Erwartungen wecken. Eine genaue Analyse der Fragestellung, die sich dem Gebrauch der Bilder in unserer Zeit widmet, ist an Resultaten, an überprüfbaren Ergebnissen zu messen. Das soll in den nachfolgenden Ausführungen geschehen. Interessant ist folgende Beobachtung: Der Gegenstand der Untersuchung ist an keine einzelne Disziplin mehr gebunden, denn Interdisziplinarität und Transkulturalität in der Beschäftigung mit Bildern sind unvermeidlich und auch notwendig. Keines der wissenschaftlichen Gebiete hat im Wettbewerb der Disziplinen einen eindeutigen Vorteil oder Vorsprung gegenüber den anderen, noch ist eine neue universale Deutungsmacht in Sicht.1 Die „Bildwissenschaft“ muss auf universalistische Ansprüche zugunsten einer interdisziplinären Vielfalt verzichten. Das wäre zeitgemäß. Eine Leitwissenschaft von Bildern kann es nicht geben, es sei denn, sie wäre dem diskursiven Umbau der Bilderwissenschaften, z.B. in Richtung einer anthropologischen oder technologisch kritischen Richtung, verpflichtet. Das Potential einer kritischen Bilderwissenschaft liegt sowohl außerhalb der Wirkungsmechanismen der Bilder als auch innerhalb eines zu konstituierenden Arbeits- und Forschungsfeldes, in dem die interdisziplinäre Vielfalt in Bezug auf Bilder eingegrenzt bzw. differenziert werden muss. Das gegenwärtige Problem der Legitimierung einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildern liegt im Prozesscharakter ihres komplexen Gebrauches: Man kommt nicht umhin, von den Bildern selbst auszugehen und hierbei methodenbewusst zu reflektieren und in dem Prozess der Untersuchung zu berücksichtigen, was mit dem Gebrauch von Bildern jeweils gemeint ist. Es ist also beabsichtigt, fachübergreifend zu argumentieren und hierbei Fragen nach dem Gebrauch der Bilder auf Politik und Gesellschaft auszudehnen. Die zwischen den Disziplinen wandernde Analyse ist inhaltlich motiviert, d.h. es werden anhand der Bilder Fragestellungen entwickelt und diskutiert. Das kann sowohl eine Hinals auch eine Wegführung von den Bildern im engeren Sinne bedeuten, wenn es dem übergeordneten Verständnis einer Praxis der Bildgenerierung und Bildzirkulation dient. Themen und Fragen zu Bildern entstehen nicht nur in den Köpfen der Leute, die Bilder wahrnehmen, sondern betreffen auch visuelle Prozesse und Strukturen, die im Gebrauch von Bildern entstehen. Somit ist die Praxis der Bilder zugleich auch eine Frage nach den kulturellen und politischen Bedingungen von Bildern, die an keinen Ort und kein spezifisches Medium mehr gebunden sind.
Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität Rückblickend wie auch schon zu ihrer Zeit haben die Fotos und Filme vom 11. September 2001 einen merkwürdigen Effekt gehabt. Sie wirkten sehr ästhetisch. Zwar verwiesen sie auf die Ereignisse; zugleich aber erschienen sie wie künst1
Daniel Hornuff: Aus dem Blick verloren. Wie sich die aktuelle Bildwissenschaft von ihrem Gegenstand entfernt, in: Merkur, Heft 11, 62. Jg., Nov. 2008, S.1003.
Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität
lich arrangierte Reportagefotos unter wetterfreundlichen Aufnahmebedingungen. Man war sogleich versucht zu sagen, diese dem Fern-Zuschauer zugänglich gemachten Fotos und filmischen Endlosschleifen zusammenstürzender Hochhäuser seien visuell so ansprechend, als kämen sie aus einem Werbestudio oder als habe sie jemand gemacht, der nach einem fotografischen Prinzip vorgegangen sei, Realität blendend gut zu vermitteln. Wer mit der Entwicklung der Fotografie seit Ende der 80er Jahre vertraut ist, denkt unweigerlich an die simulierte und manipulierte Welt der Bilder, wie sie besonders Jeff Wall ästhetisch eindringlich und produktionstechnisch verschlüsselt zu einem Standard unserer reflektierten Wahrnehmung gemacht hat: Dinge und Menschen werden wie Schauspieler filmisch arrangiert und fotografisch dokumentiert. Prinzipiell können Dinge und Menschen in jedem Medium inszeniert und auf jeder Art von Bühne präsentiert werden. Besonders im Medium Fotografie treten Fiktion und Realität als austauschbares Double auf. Inszenierung bzw. Erfindung von Realität ist nichts anderes als die mediale Optimierung der Zurschaustellung und damit die endgültige Herrschaft der Massenmedien über Dinge und Menschen in unserer Zeit, eine perfekte Diktatur des Spektakels. Wir werden im weiteren Verlauf die Zusammensetzung und Rolle der einzelnen Medien differenzieren und dadurch von einer Pauschalisierung der Massenmedien Abstand nehmen. Künstlichkeit kann den Eindruck von Echtheit, die wir mit der Authentizität von Realität verbinden, sogar noch steigern. Gefallen daran zu haben, heißt nichts anderes, als die bildhafte Anschmiegsamkeit der Dinge und Menschen an ihre Zurschaustellung zu bemerken, gleichgültig, ob diese nun im Theater, in einer Ausstellung oder in einer Fernseh-Show anzutreffen sind. Selbst Horror ist nur noch ein Statist im Unternehmen medialer Aufbereitung. In die ästhetischen Inszenierungen hinein verlängert sich der bekannte Volksspruch: Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Obwohl uns eine „mediale Bannmeile“ von der physikalischen Realität faktisch trennt, schrumpft die emotionale Distanz zu uns selbst und anderen; die wirkliche Welt wird in einem übertragenen Sinne und auch buchstäblich flacher und die virtuelle Welt tiefer. Nur manchmal erkennen wir als soziale Lebewesen noch, dass wir unser Bewusstsein von Leben und Tod nicht allein den Agenten ästhetisch orientierter Vermittlung überlassen sollten. Die Bilder des 11. September 2001 haben zweierlei deutlich gemacht. Erstens gibt es eine physische und eine mediale Realität und zweitens können wir den Grad und die Art der Vermittlung von Realität unterscheiden und zwar dahingehend, dass wir zwischen einer faktischen und ästhetischen visuellen Vermittlung trennen. Man kann einen Eindruck aufgrund von Zahlen, Daten oder Statistiken erhalten oder man gewinnt diesen z.B. durch Bilder. Beide, die physische und die medial vermittelte Realität, sind so selbstverständlich gegeben, dass es uns schwerfällt, sie auseinanderzuhalten. Entweder konnte man die Zerstörung des World Trade Centers in New York aus eigener Anschauung erleben und deren Ausmaße ermessen oder man musste sie sich anhand der Fakten erschließen: Sich sozusagen selbst „ein Bild machen“. Was wirklich geschehen ist, ist sowohl von den Bildern, die das Ereignis abbilden, als auch von der Vorstellung, die verstehen will, zu unterscheiden. Die Zahl der Opfer und die gewaltige Masse an Zerstörung sprechen in Zahlen übersetzt eine klare
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Sprache. Es gibt eine Vielzahl von Dokumentationen, die im Internet abrufbar sind.2 Sie bilden den rationalen Kern der Umstände, die in eine Vorstellung, was diese bedeuten, übersetzt werden können. Würde es jedoch allein bei der bilanzierenden Auswertung bleiben, wäre Realität nur ein Zahlengerüst, eine faktische Bestandsaufnahme ihrer Daten. Was leistet in diesem Zusammenhang die sinnliche Wahrnehmung des Zuschauers? Dazu muss man die Bedingungen der Wahrnehmung kurz erläutern. Die Frage ist, inwieweit medial vermittelte Realität bewusst wahrgenommen und miterlebt wird. Auseinanderzuhalten sind nicht allein der sinnliche Eindruck und die Welt der Tatsachen, sondern auch die Filterung durch die mediale Vermittlung. So wenig wie Wirklichkeit pur wahrgenommen wird, so wenig gibt es eine direkte Hinzuschaltung durch laufende Kameras vor oder hinter dem Bildschirm. Die Auswertung sinnlicher Daten erzeugt erst die Welt, in der wir zwar leben, von der wir aber getrennt sind. Dreierlei gilt es dabei zu beachten: Die sinnliche Wahrnehmung und ihre Übersetzung in deutbare Zeichen, die Konstruktion von Welt, die uns umgibt, und die Eigenständigkeit der Gefühle, unabhängig von ihrer Dienstleistung für die Wahrnehmung. Die sinnliche Wahrnehmung ist, bezogen auf die mediale Berichterstattung, mit technisch produzierten Bildern und Tönen gekoppelt. Dies ist wichtig zu betonen, genauso wie der Umstand, dass die gefühlte Realität einen Fokus hat, der im Sinne der Aufmerksamkeit wandert und dadurch Realitätsfelder scannt. In diesem Fokus konzentriert sich die Wahrnehmung. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung in der Umwelt verhaftet. Das kann völlig zugunsten einer gelenkten Aufmerksamkeit in den Hintergrund treten. Diese gesteuerte Aufmerksamkeit kann die Wahrnehmung dominieren. Zeitweise kann die eigene aktive Wahrnehmung durch den Mitvollzug einer technisch vorfabrizierten ausgeschaltet oder völlig überblendet werden. Würden Emotionen sich allein in Stimmungsbildern erschöpfen, die sie im Brennpunkt der Aufmerksamkeit erzeugen bzw. reproduzieren, wäre das eine Einschränkung ihrer Funktion auf die gefühlte Wiedergabe eines Ausschnittes von Realität. Dagegen spricht aber die intelligente Wachsamkeit der Sinne, die den Hauptstrom der Wahrnehmung von Realität ständig begleitet, kommentiert und ahnungsvoll in andere Richtungen lenken kann. Widerständigkeit hat ein
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„Niemand wird die apokalyptischen Bilder wohl jemals vergessen können, die weltweit von den Fernsehsendern am 11. September 2001 übertragen werden. Fassungslos sitzt die Welt vor den Bildschirmen. Eine riesige Boeing 767 bohrt sich wie ein Projektil in den nördlichen 411 Meter hohen Tower des World Trade Center in New York und explodiert, 18 Minuten später schlägt eine weitere Boeing 767 in den südlichen Tower des WTC ein. Um 10.05 Uhr kollabiert der Südturm, um 10.28 Uhr sackt auch der Nordturm in sich zusammen http://www.spiegel.de/spiegelspecial/0,1518,435547,00.html http://www.bpb.de/themen/YIDWCA,0, mmen.“ http://www.lpb-bw.de/aktuell/terrorusa/11september.php http://de.wikipedia.org/wiki/Terroransch0,Der_11_September_2001_und_die_ Folgen.html http://www.youtube.com/watch?v=RvB9l_ta9fc http://www.zeit.de/themen/international/11-september/index etc. Zugriff am: 10.02.2009
Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität
sinnliches Fundament. Widerständigkeit formiert sich auch durch eine Gefühlsregung. Man nimmt z.B. etwas wahr, ohne dass sich gleich in Worten ausdrücken lässt, was es ist. Dem gewohnten und dem aufgezwungenen Mitvollzug etwas entgegensetzen zu können, ist sinnlich bereits gegeben. Man kann sich abwenden, braucht nicht hinzusehen, kann wegsehen oder weghören. Auf etwas aufmerksam werden heißt eben auch, solche inneren Regungen ernst zu nehmen. Erst in einem zweiten Schritt kann man dies verstandesmäßig kontrollieren. Es liegt mir daran, diese Auffassung sinnlicher Autonomie herauszustellen, auch wenn ich sie nicht beweisen, sondern nur plausibel machen kann. Überträgt man diese Annahmen auf den visuellen Sinn, kann man feststellen, dass dieser durch technische Bilder und Filme vieles erhält, was bereits vorfabriziert ist und von daher keine weitere Arbeit verlangt, um als Sehangebot transportiert zu werden. Geht man in dem hier kritisch modifizierten phänomenologischen Arbeitsfeld davon aus, dass der überwiegende Teil der Wahrnehmung vieler Menschen in einer Kopplung von technisch vermittelter und sinnlich erfasster, vorfabrizierter Welt aufgeht, kommt nicht nur eine erkennende, analytische Seite der Wahrnehmung nicht mehr zum Tragen, sondern fehlt auch eine die Realitätserfahrung bereichernde emotionale Intelligenz. Gesetzt den Fall, dass dies so ist, ist es für viele kaum möglich zu erkennen, dass in der sinnlich erfahrenen und vor allem medial vermittelten Realität Fakten manipuliert werden. Anders formuliert heißt das: Entgegen vielen Errungenschaften des technischen Fortschritts im massenhaften Einsatz optischer Geräte ist die Zunahme visueller Unmündigkeit der Zeitgenossen ein politisches Problem. Bilder lügen, aber nicht nur, und Medien verstellen die Realität, aber nicht nur. Dass das so ist, dürfte mittlerweile jeder Konsument von Massenmedien wissen und seine Schlüsse daraus ziehen. Während jedoch die kulturelle Konditionierung von sinnlicher Erfahrung eine kritische Perzeption von Welt hervorgebracht hat, steckt die mediale noch immer in den Anfängen und scheint von der Vorstellung einer unmittelbaren, technischen Wahrnehmung befangen zu sein – derart, als könnte der technisch-mediale Apparat direkt seine Informationen an den mentalen (psychischen) „Apparat“ weiterleiten. Es gibt also eine selbstverschuldete Illusion eines Direktanschlusses an eine global existierende, weitverzweigte Datenwelt in Echtzeit. Ein erstes Gegenargument für diese Sichtweise wäre, dass diese wahrnehmungstechnische Simplifizierung überhaupt erst mediengerechte Voraussetzungen schaffe, ja, dass man die symbolische Übersetzung komplexer Vorgänge in eine medial taugliche Sprache geradezu benötigt, um von den politischen Umfeldern, in dem sich die Entscheidungsträger der politischen und ökonomischen Macht bewegen und Realität gestalten, ein nachvollziehbares Angebot zu erhalten: „Durch die Verwendung politischer Symbole und symbolischer Handlungen wird das Publikum bei der Wahrnehmung und Verarbeitung komplexer Vorgänge entlastet. Stereotypen, Symbole und symbolische Handlungen fungieren somit als Steuerungs- und Ordnungselemente, um auch politische Prozesse einordnen und bewerten zu können.“3 Problematisch erscheint 3
Siehe Christian Schicha: Der 11. September 2001 – Symbolische Politikvermittlung in den Medien, in: Glaab, Sonja (Hg.): Medien und Terrorismus –
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mir hieran, dass man dadurch auf eine politische Vernunft hinter den medialen Oberflächen vertrauen soll, obwohl deren Vertreter unlogisch operieren und unvernünftig handeln. In dieser Kritik ist ein tief sitzendes Problem enthalten, nämlich, wie moderne Demokratien mit der medialen Entwicklung Schritt halten. Für diejenigen, die die mediale Realität produzieren bzw. sie informationsmäßig steuern, gibt es kein dahinter, weil sie medial komplizenhaft in dem eingebunden sind, was sie tun. Fatal wäre, wenn man sowieso davon ausgeht, dass die Medien lügen müssen, das aber auf unterhaltsame Weise. Es wäre deshalb fatal, weil es dann unter medialen Bedingungen, wie Realität inszeniert wird, nichts mehr gäbe, wovon man glauben kann, es sei wahr bzw. sei wirklich so und nicht anders: Man wäre also nicht nur unmündig, sondern wäre auch blöde, wenn man irgendeiner Form von Massenmedien Glauben schenkt. Die Überlegungen sind notwendig, um die Bilderwelt der Medien einzuschätzen, denn das Verständnis von Wirklichkeit lässt sich von medialer Vermittlung nicht mehr trennen. Außerdem gibt es neben der Referenz und Repräsentation sowie der Simulation und Manipulation von Realität auch die mediale Präsenz, das heißt, die medial konstituierte Wirklichkeit, die die Erfahrung der Ereignisse wie 9/11 bestimmt. Obwohl der heutige Zuschauer durch Katastrophenfilme, War Games und Kriegsbilder bereits in der Rezeption trainiert ist, die Sensation tatsächlicher oder virtueller Todesbilder informations- oder spieltechnisch zu meistern, hat das Ausmaß und die Symbolik des terroristischen Angriffes am 11. September 2001 alles andere in den Schatten gestellt. José Saramago hat dies eindringlich in Worte gefasst: „Die Geschehnisse in New York wirkten zu Beginn dagegen irreal, wie altbekannte Episoden eines Katastrophenfilms; beeindruckend durch die Kraft der cineastischen Spezialeffekte, aber frei von Röcheln, Blutlachen, zerfetztem Fleisch, zermalmten Knochen, Exkrementen. Das Grauen, das sich wie eine Bestie versteckt hielt, lauerte darauf, dass wir aus unserer Erstarrung herausfanden, um uns an die Gurgel zu fahren. Das Grauen sagte zum ersten Mal: ‚Hier bin ich‘, als die ersten Personen aus der Höhe ins Leere sprangen, als ob sie noch im letzten Moment ihre eigene Todesart wählen wollten.“4 Der Akt der Zerstörung und die mediale Verbreitung des Ereignisses fallen auseinander und gehören doch durch die Bezugnahme auf den realen Vorfall zusammen. Auf der einen Seite stürzen die beiden Türme des World Trade Center zusammen und begraben 3.478 Menschen mit sich, auf der anderen Seite wiederholen sich die Bilder, finden im Zielflug des terroristischen Angriffes scheinbar kein Ende, kulminieren in eine Ästhetik des Schreckens.5 Man kann darüber debattieren, ob man 9/11 in eine Reihe mit älteren Epochenereignissen wie dem Erdbeben von Lissabon (1755) oder dem Ausbruch des Vesuv (1779) Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2007 (Wissenschaft & Sicherheit Bd. 3), S.181. 4
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José Saramago: Im Namen Gottes ist das Schrecklichste erlaubt, in: Amis, Martin; Auster, Paul; Begley, Louis u.a.: Dienstag 11. September 2001, 2. Aufl., Hamburg: Rowohlt Verlag 2001, S.66. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Berlin: Ullstein Verlag 1983.
Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität
einordnen kann oder auch nicht. Es erscheint aber unangebracht, wenn allein aufgrund formaler Erwägungen die ästhetische Größenordnung des Ereignisses diskutiert wird: „[...] einerseits Bilder des Grauens, andererseits eine Orgie leuchtender Rottöne vor dem heiteren blauen Himmel [...].“ So gewinnt mediale Wirkungsmacht eine ungeheure und auch unangemessene Aufwertung. „Diese Ästhetik, die mit der Gefährdung des Individuums angesichts entfesselter Urgewalten operiert, hat einen Namen: das Erhabene.“6 Man kann der vermeintlichen Wucht und Größe, die in dieser postmodernen Version des Erhabenen angelegt ist, entgegenhalten, dass die Plötzlichkeit des Ereignisses durch eine lange Herkunft längst vorbereitet war, wie O.K. Werckmeister betont: „Die Bilder von Bombenanschlägen, Flugzeugabstürzen, zertrümmerten Gebäuden, Sicherheitspolizei, Rettungsmannschaften, Leichen und wieder Leichen haben die Ereignisse des 11. September seit langem vorstellbar gemacht. Nur ihr Ausmaß, ihre langfristig koordinierte Durchführung, ihre absolute Treffsicherheit und ihre anhaltende, weltweite Auswirkung kamen unerwartet.“7 Wenn von vielen Interpreten und Kommentatoren gesagt wird, dass man auf dieses Ereignis eingestellt gewesen war, wäre es konsequent, von einer „antizipierenden Ästhetik der Inszenierung“ zu sprechen. Mich überzeugt der Gedanke der Erwartung des Unerwarteten bzw. Unvorhergesehenen, den ich in diesem Buch anhand ganz unterschiedlicher Quellen und Autoren diskutiere, nur bedingt, denn es lassen sich zum einen ökonomische und politische Interessen anführen, die ganz handfest und erfolgreich das Geschäft mit der Angst in der Gegenwart betreiben (z.B. Katastrophenfilme). Zum anderen ist Antizipation stets erklärungsbedürftig, ansonsten würde man sich bloß in historische Horoskope verirren.8 Noch einmal unmissverständlich gesagt: Auch wenn ich mich an verschiedenen Stellen weiterhin damit auseinandersetze, dass viele Literaten, Kunsthistoriker, Politiker oder Konzernchefs etc. die Gegenwart als einen Katastrophenübungsplatz begreifen, um den unsichtbaren Gegner des Morgen auf dem Feld des Heute zu schlagen, glaube ich nicht, dass man diesen Strategen der Macht bzw. deren Vorstellung von Krisen- und Katastrophenmanagement als Ersatzhandlung oder Konzeptsurrogat folgen soll; insbesondere teile ich nicht eine lancierbare Ergebenheitshaltung gegenüber dem Eintreffen von Unerwartetem. Die eintreffende Wucht des Ereignisses spiegelt sich in dem all6
Joachim Buttler: Ästhetik des Terrors – Die Bilder des 11. September 2001, in: Beuthner, Michael; Buttler, Joachim; Fröhlich, Sandra; Niverla, Irene; Weichert, Stephan A. (Hg.): Bilder des Terrors – Terror der Bilder. Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003, S.39.
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Otto Karl Werckmeister: Ästhetik der Apokalypse, in: Brock, Bazon; Koschnik, Gerlinde (Hg.): Krieg und Kunst, München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S.195. Zur Aktualität von Angst und Terror siehe die Studie von Corey Robin, insbesondere den Abschnitt „Terror“: Corey Robin: Fear. The History of a Political Idea, Oxford, New York: Oxford University Press 2004, S.51-72. Siehe auch den Abschnitt „Kino der Angst: Verschwörer und Terroristen in Gottes eigenem Land“: Peter Bürger: Kino der Angst. Terror, Krieg und Staatskunst aus Hollywood, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2005, S.402-432.
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täglichen Verhalten der Beobachter und Akteure wider. Das möchte ich im Folgenden anhand eines Modells diskutieren. „Alle erinnern sich an das Geschehen und an den Ort, an dem sie sich befanden, als sie zum ersten Mal von dem Geschehen erfuhren.“9 Da wo die Türme standen, ist nichts mehr: ‚Ground Zero‘ gräbt sich als eine Generationen, Kulturen und Medien übergreifende Marke in das Gedächtnis ein. Jeder erinnert sich auch an das Medium, von dem man zuerst von dem Ereignis erfuhr. Heiner Mühlmann bringt die Struktur solcher epochalen Ereignisse kulturpsychologisch und evolutionsbiologisch auf eine Formel: „Maximal stress cooporation (MSC)“. Das lässt sich wie folgt auf den 11. September übertragen. Ist die Ungeheuerlichkeit der Aggression für die einen eine vorübergehende Störung (es gab für die Anhänger der Terroristen auch Genugtuung), bedeutet sie für die anderen eine singuläre, einzigartige Überproduktion von Abwehrkräften oder Resignation. Katastrophen hinterlassen weitreichende Spuren. Aus dem Konflikt, wie reagiert man darauf, entsteht ein Gefühl und Verständnis für Gemeinsamkeit. Das trennt Europäer von Amerikanern, das trennt New Yorker von anderen US-Amerikanern in Bezug auf 9/11. Gemäß dem strukturellen Zusammenhang (MSC, Mühlmann) steigert sich unter höchster Belastung das gesellschaftliche Potential von Kooperation. „Maximierter Stress heißt: Todesgefahr.“10 Entweder man zerbricht oder man geht aus dieser unbeabsichtigten Bewährungsprobe gestärkt hervor; natürlich kann man die Herausforderung auch unterlaufen bzw. ignorieren. Dass in das Modell (Reaktionsschema) von Konflikt und Kooperation biologische und kulturelle Ideologien des (kriegerischen) Ernstfalles, der Steigerung durch den Kampf ums Überleben eingehen, ist ganz offensichtlich und nach Mühlmann den Zeitgenossen, die diesbezüglich einen blinden Fleck haben, wiederum nicht sichtbar. Das leuchtet insoweit ein, als regelhafte Abläufe stets von ihrem Gegenteil bedroht oder ersetzt werden können. Die Katastrophe durchkreuzt das Gewohnte, d.h. das Selbstverständliche. Das biologische Warnsystem des Einzelnen geht auf ein medial vermitteltes von Gemeinschaften über. Todesnachrichten liefern den Massenmedien eine Art Existenzberechtigung, d.h. diese sichern ihren Einfluss, einer, der sich durch den jeweiligen technologischen Stand wandelt und damit die Schlüsselstellung von Medien im konkurrierenden Verhältnis untereinander verändert. Damit gewinnt die jederzeit abschaltbare Technik Macht über biologische Systeme. Mir scheint, dass das Modell (MSC) von Mühlmann einerseits besser geeignet ist als andere, die mehr oder weniger bekannte Struktur eines epochalen Ereignisses abzubilden, denn auch der Angriff der Terroristen war konventionell.11 Andererseits fehlt mir der differenzierte Umgang vor allem mit medialen und
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Heiner Mühlmann: MSC. Die Antriebskraft der Kulturen, Wien, New York: Springer Verlag 2005, S.26. Ebda., S.27. Heiner Mühlmann schreibt: „Die Generationen übergreifende Organisation ist das Funktionsprinzip von Kulturen. Sie gehört aber nicht zur Familie der horizontalen Konstrukte, die wahrnehmbar sind. Das vertikale MSC-Konstrukt ist das gemeinsame Auge, durch das alle Individuen einer Generation
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kulturellen Einflussgrößen, die am Beispiel von 9/11 abgeleitet werden können und die sich geradezu für die These anbieten, dass Gemeinschafen durch Kultur geprägt und nur dadurch überlebensfähig sind. Bereits vor 9/11 wurde diskutiert, ob die symbolische mit einer realen Zerstörung einhergeht. 1982 schreibt Jean Baudrillard: „Warum hat das World Trade Center in New York zwei Türme?“12 Und er beantwortet es so: „Damit das Zeichen rein ist, muß es sich selbst verdoppeln: erst die Verdoppelung des Zeichens macht dem, was es bezeichnet, ein Ende.“13 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Zeichen eine deutbare Macht anzeigen, die über die Herrschaft der realen Umstände, die sie hervorgebracht haben, hinausgeht bzw. unabhängig von diesen ist.14 Die beiden sich gegenseitig spiegelnden Türme deuten nach Baudrillard auf sich selbst: Sie verweisen im Zirkelschluss auf sich selbst und in einem übertragenen Sinne auf ein Ende der wirtschaftlichen Macht, die sie symbolisieren. Sie widersprechen also dem Prinzip kapitalistischer Konkurrenz, dass eine wirtschaftliche Macht durch eine andere ersetzt bzw. übertroffen werden müsste. War man in früheren Zeiten gegenüber Kulturtechniken wie der vorausseherischen Wahrsage anfällig, erfreuen sich heute methodisch geschulte Antizipationen großer Beliebtheit. Man möchte gern wissen, was als nächstes kommt, um sich darauf vor allem geschäftlich einzustellen. Darauf werden wir im Folgenden eingehen und feststellen, dass die einseitige Fixierung auf immaterielle Zeichen unzureichend ist, weil die materiellen Gegebenheiten unbegründeterweise ausgeblendet werden. Obwohl die Architektur des WTC schlicht und unbedeutend war, war es dennoch eine stolze, urbane Ikone des globalen Kapitalismus. So wie Rückgriffe auf biblische Schreckensbilder, wie die Apokalypse oder den Turmbau zu Babel, zur Einordnung der Besonderheit des Ereignisses quasi unvermeidlich sind, kann auch die Interpretation des Zusammenfalls der Türme als eine „demütigende“ Symbolzertrümmerung nicht ignoriert werden. Wichtig ist allein, hierbei Haupt- von Nebenwirkungen zu trennen. Der ikonische Kern solcher Zeichen wie des WTC ist offen für jede Art von Zuordnungen, von denen in der Folge der Ereignisse rege Gebrauch
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sehen, das aber selbst nicht gesehen wird. Wir wissen nicht, dass wir durch die vertikale Kohärenz der MSC gesteuert werden.“ Ebda., S.44. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz Verlag 1982, S.110 (Die französische Originalausgabe ist von 1976) Ebda., S.111. Tatsächlich schreibt Katharina Niemeyer über die Zwillingstürme in sinnergebener Anlehnung an Baudrillard: „Durch die Doppelhaftigkeit der Türme ist gleichzeitig die Doppelhaftigkeit des Systems selbst symbolisiert, denn die Perfektion der Vereinigten Staaten spiegelt sich im World Trade Center wider und so wie sich in der Verdopplung der Türme ihre Zerstörung, ihr ‚Selbstmord‘ (Baudrillard 2002b, 15) ankündigt, so kündigt sich auch der Selbstmord des Systems an. So wie der eine Turm den anderen anblickt, so blickt das System seinen Doppelgänger, den Terrorismus an, vermutet aber in ihm nicht das Ausmaß der Gefahr, die er potentiell darstellt.“ Katharina Niemeyer: Die Mediasphären des Terrorismus. Eine mediologische Betrachtung des 11. September, Berlin: Avinus Academia Verlag 2006, S.62.
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gemacht wurde, wodurch oft mehr die Phantasie als der analytische Verstand angeregt wurde. Dabei ging die kritische Distanz verloren, weil die verabsolutierenden Deutungen, paradoxen Metaphern und spekulativen Vergleiche die realen Gegebenheiten dieses Zeichens weitestgehend ignorierten. Man muss berücksichtigen, dass der Stellenwert des WTC in die Gegenwart fällt und sich an kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit messen kann. Jedes herausragende Monument ist grundsätzlich ambivalent und kann über die Gegenwart hinaus einen Anspruch repräsentieren. Es beeindruckt oder schüchtert ein. Es löst Bewunderung aus oder ruft Provokation hervor, je nachdem aus welcher Perspektive man es wahrnimmt bzw. lernt, es beispielsweise als städtebauliche Demonstration mit Übereinstimmung oder Ablehnung zu lesen. Warum sollten Monumente des industriellen und technologischen Fortschritts nicht unter diese strukturellen Bedingungen fallen? Warum sollten sie ein Stadium signalisieren, dessen Entwicklung überschritten ist und dessen unvermeidliches Ende bzw. Auslöschung markieren? Solange ökonomisch-technologische Entwicklungen sich fortsetzen, findet die lineare Logik der Steigerung kein Ende. Die Formen der Produktion und Konzentration der Macht wandeln und manifestieren sich real. Sie bringen kein abstraktes Gesetz hervor, wonach sich die Zeichen ihrer Entwicklung für die Kritik vergegenständlichen ließen. Die Instrumentalisierung von Zeichen wie dem WTC für ideologische Kritik halte ich für naiv. Man kann diskutieren, ob diese zeichenhaften Markierungen des Fortschritts und der Macht überhaupt auf der Höhe ihrer Zeit sind und ob sie nicht einem vergangenen Leistungsideal nacheifern. Aber es wäre irrig zu glauben, die Zeichen des gesellschaftlichen Fortschritts unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus wären ein sichtbarer Ausdruck ihrer Verhältnisse, die durch Auslöschung ihrer Zeichen bekämpft werden könnten und hier eine unsichtbare „historische Kraft“ am Werke sei. Gleichwohl wurden diese Symbole von den Verantwortlichen des Anschlages bewusst ausgewählt. Aber die Terroristen haben nicht allein diese Zeichen anvisiert, sondern deren materielle Voraussetzung, ansonsten hätten sie nur an einem Computerspiel teilgenommen. Ähnlich bedenklich erscheint mir, die mediale Perspektive um den 11. September zu verabsolutieren. Es ist richtig, die Katastrophe fand wirklich statt. Dass sie medial mitverfolgt werden konnte, berechtigt nicht zu dem Schluss, dass das, was im medialen Verlauf der Verbreitung geschah, unvermeidlich gewesen sei. Selbst bei literarisch von Anfang an feststehenden Ausgängen, wie sie beispielsweise in der erzählerischen Perspektive der Ilias von Homer angelegt wurden, sind die Geschicke und Taten von Göttern und Menschen sehr komplex. So wäre es zu einfach, alles auf den unvermeidlichen Entscheidungskampf zwischen Achilleus und Hektor zu reduzieren, auf den Kampf der beiden Helden, die sich im Kreis um die Mauern der Stadt Troja in Streitwagen verfolgen, bis schließlich Hektor von Achilleus am Boden besiegt wird und damit auch der Untergang von Troja für die Einwohner, die dieses Ereignis von den Stadtmauern aus verfolgen, unmittelbar bevorsteht. Vielmehr sind die Ereignisse von 9/11 das Ergebnis einer genau kalkulierten Planung unter realen Bedingungen, welche bis heute nicht aufgeklärt ist. Fasst man die beiden Extreme des amerikanischen Gesellschaftsbildes, wie es hier sehr verkürzt anhand der Symbolik des WTC diskutiert wurde, zusam-
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men, lässt sich Folgendes sagen: Fortschrittsoptimismus und Katastrophenbewusstsein sind die zwei Pole, die Szenarien aus der (amerikanisierten) Gegenwart mit Blick auf die Zukunft darstellen. Einerseits kann die Zukunft gemeistert werden, andererseits wirft sie bereits einen Schatten des Misslingens auf die Gegenwart. Glaube und Misstrauen, Zuversicht und Angst stehen sich wie zwei Wettkampf-Blöcke gegenüber. Sie erscheinen uns wie ein Gesellschaftsbild, wie eine Metapher der Zusammenhänge, die verborgen bleiben, aber durch die Analyse in diesem „Bild“ sichtbar werden. Man weiß aus der Sicht der Gegenwart nicht, wie es ausgeht. Erfolg oder Rückschlag sind möglich. Ein Dazwischen gibt es nicht. Und genau hier setzt die kritische Analyse an. Wenn die beiden Extreme im Dualismus im Sinne von „das ist steuerbar, das ist nicht steuerbar, alles wird besser bzw. das schreckliche Ende kommt bestimmt“ bezogen auf Szenarien der Gegenwart eintreffen können oder auch nicht, dann wird auch deutlich, dass diesem „amerikanischen“ Leitbild in Zeiten der Globalisierung etwas Entscheidendes fehlt: eine systemische Balance. Diesem hier pauschalisierten Gesellschaftsbild des Alles oder Nichts fehlt der Ausgleich. Wir können also zu recht behaupten: Das (amerikanische bzw. westliche) Modell von extremer Zukunftsbejahung auf der einen Seite und von extremer Zukunftsverneinung auf der anderen sind aus der Sicht der Gegenwart obsolet. Man sollte sie ad acta legen. Auch die mediale Läuterung durch Superereignisse ist gelinde gesagt komisch, nur noch ein Abglanz der oben genannten antiken Tradition. Glamour und Katharsis, Geldglück und bittere Armut, diese beiden Extreme sind ungeeignet, Antriebsfedern in einem globalen Wettbewerb zu sein, denn sie sabotieren die Kreativität des Ausgleichs zwischen den gesellschaftlichen und kulturellen Kräften. Anders gesagt: Wir können aus dieser Auseinandersetzung lernen, dass eine systemische Idee des Stiftens von Ausgleich eine aktuelle Aufgabe ist, der wir uns stellen sollten. Lokale Ereignisse wurden Gegenstand einer „medialen Instanz“, die zeitweise über globales Netzwerk verfügte. Dadurch gerieten diese Geschehnisse in den Zerrspiegel einer medialen Vergrößerung. Der Anschlag auf das ökonomische Zentrum der westlich orientierten Welt vollzog sich sozusagen vor den Augen und für die Augen der Weltöffentlichkeit, die sich durch dieses Ereignis in weiten Teilen als Weltgemeinschaft konstituierte, weshalb – nebenbei angemerkt – der amerikanische Alleingang im Irak-Krieg die falsche Konsequenz gewesen ist. Genau an dieser Stelle setzt die Fernsicht der Bilder vom 11. September, das Fern-Sehen an. Man konnte seinerzeit mitansehen und nachvollziehen, dass die anvisierten Ziele getroffen wurden, nicht aber die Grundlagen der zivilisierten Welt. Auf der einen Seite lässt sich eine Künstlichkeit feststellen, die der medialen Realität zugehört; andererseits wissen wir, dass diese mediale Welt, die solche Bilder erzeugt, nur inszeniert ist, aber der globalen Welt verfügbarer Informationen angehört. Von daher ist das mediale Ereignis ambivalent. Es beinhaltet die Freiheit der Auskunft über einen sinnlosen Schrecken, und es wirkt wie eine theatralische Inszenierung. Entkoppelt man einmal mediale Instanz und ästhetische Wirkung, überwiegt der sachliche Aspekt unter den Bedingungen westlich orientierter Massenmedien. Die ästhetische Wirkung der Bilder hat eine Ebene, die unabhängig von der terroristischen Aktion anzusiedeln ist.
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Man kann diese Ebene auch ganz anders bewerten und sagen, dass sie Distanzierung ermöglicht. Denn die Bilder wirkten nicht deshalb unangemessen, weil sie kein einfühlsames Bild der wirklichen Ereignisse lieferten, sondern weil sie z.B. auf der Ebene von Making-of-Fotos lagen; lediglich die loop-ähnlichen Endlosschleifen des Angriffs auf das WTC erschienen unmittelbar und medienspezifisch. Der Schock der Ereignisse war also in erster Linie ein medialer, als sei die inszenierte Welt allgemeingültig geworden. Die fotografische Ästhetik war für sich genommen schön anzusehen, so wie auch Schönheit in der bildenden Kunst seit jeher eine Qualität für etwas absolut Unfassbares und Schreckliches sein kann. Was künstlerisch an die Grenzen dessen geht, was mit den jeweiligen Mitteln darstellbar ist, ist nicht nur annehmbar und löst Wohlgefallen aus, sondern ist auch in höchstem Maße stimmig, also schön. Von dieser Art „stimmiger“ Schönheit muss man allerdings die Bilder vom 9/11 unterscheiden. Dass die mediale Bildberichterstattung dennoch eine Provokation ist, liegt nicht daran, dass sie antiästhetisch oder hässlich hätte sein müssen, um auch inhaltlich zu intervenieren, sondern daran, dass Menschen zu Tode gekommen sind. Wäre dem nicht so, müssten wir darüber nachdenken, ob auf medialer Ebene ein Ritual der Opferung inszeniert wurde. Das kann man zwar erwägen, aber ich halte das für unsinnig. Zu diesem Verständnis haben auch Bilder beigetragen, die uns den Unterschied und damit einen unauflösbaren Widerspruch der technischen Bilder unter den Bedingungen ihrer massenhaften Verbreitung gelehrt haben. Realität ist in einen Zustand der Vermittlung getreten, die am Beispiel der visuellen Dominanz ihre Grenzen anzeigt. Worauf weisen die Grenzziehungen hin? Dieser Frage werden wir in den nachfolgenden Ausführungen genauer nachgehen. Was ist der Rang der ästhetischen Inszenierung? Sie ist fragwürdig geworden, und vielleicht ist das auch ganz unbemerkt eine kulturelle Leistung, welche sich in der ambivalenten visuellen Wahrnehmung manifestiert. Im Ausdruck „Spektakel“ hat Guy Debord bereits eine mediale Bühne vorweggenommen, in der die Realität als Double fungiert. Seitdem hat sich das „Theatralische“, welches im Begriff der Inszenierung angelegt ist, verselbstständigt: „Die Sachlage einer Ästhetik der Inszenierung hat sich durch Fusionen der ‚handwerklichen‘ mit den ‚apparativen‘ Künsten [...] inzwischen so kompliziert, dass neben der Schärfung der Analyse des vielfältigen Zusammenspiels der medialen Ebenen um so deutlicher zwischen den authentischen und depravierten, innovativen und stereotypen Formen von Inszenierung zu unterscheiden wäre.“15 Obwohl der Komponist Karlheinz Stockhausen das Ereignis aus der FernSicht nicht selbst gesehen hatte,16 sondern nur von den Umständen gehört hat-
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Josef Früchtel und Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, in: Früchtel, Josef; Zimmermann, Jörg: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001, S.45.
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Siehe dazu: http://books.google.de/books?id=M7TAS1lcBcC&pg=PA201& lpg=PA201&dq=stockhausen+19.+september+2001&source=bl&ots=Jb8
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te, ließ er sich auf einer Pressekonferenz in Hamburg am 16.09.2001 dazu hinreißen, zu sagen, das Attentat in New York sei „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“. Ähnlich hat sich ein Jahr später der bildende Künstler Damian Hirst ausgedrückt, worauf wir nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Stockhausen zurückkommen werden. Wie ist die unmittelbare, Bewunderung suggerierende Äußerung von Stockhausen zu bewerten? Es lohnt sich genauer hinzuschauen; anhand dieser Äußerung lassen sich zwei Unterscheidungspaare diskutieren: Realität und Kunst sowie implizit auch Religion und Kunst. Eine Tonband-Abschrift des Interviews seitens des NDR liegt vor.17 Liest man den vollständigen Text, erkennt man, dass Stockhausen sich in zwei für ihn als Komponist und Künstler gültigen Kontexten bewegt. Das ist einmal ein Absolutheitsanspruch des Kunstwerks und zum anderen persönliche Adaptionen aus der Gnosis, in der das Leben auf dem Planeten Erde nur eine Zwischenstation im kosmischen Prozess darstellt. Die Ungeheuerlichkeit der Vernichtung von Menschen ist unter diesen Prämissen „nur“ ein Übergang zu einer Auferstehung, die Stockhausen künstlerisch in der Figur Luzifers, dessen Lichtstrahl die Dinge auslöscht, anstrebt. Deshalb ist er wahrscheinlich für einen Moment von dem terroristischen Anschlag als verabsolutierbare Wirkung geradezu wie elektrisiert und lässt sich zu einer spontanen Formulierung verleiten. Möglicherweise ist für ihn die Auslöschung von Leben mit einem erlösenden Übergang verbunden, den er selbst in seinem Zyklus „Licht“ als Künstler anstrebt. Es geht aus dem Zusammenhang des Interviews hervor, dass Stockhausen seine Welt als Künstler mit der realen Welt der terroristischen Aktion auf abstruse Weise vergleicht. Obwohl er zwischen Kunst und Verbrechen zu unterscheiden weiß, hält er seine künstlerische Sicht wie eine wahnsinnige Erleuchtung aufrecht. Kann man, nachdem die dpa-Meldung mit dem
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Gt_jHTh&sig=h8zCeyJ-gXEM2qpHOSInvccovlk&hl=de&ei=tvPASai_C9KX_ gbrwYSyDg&sa=X&oi=book_result&resnum=3&ct=result; Stand: 15.02.2009 Stockhausen äußerte sich wie folgt: „Was da geschehen ist, ist – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das grösste Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das grösste Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist: Da sind also Leute, die sind so konzentriert auf eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt, in einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten. Stellen Sie sich vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen und Sie wären nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen, Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil es einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch auch, über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir uns für eine andere Welt öffnen.“ Auf die Nachfrage, ob er etwa ein Verbrechen mit Kunst gleichsetze, meinte Stockhausen: „Ein Verbrechen ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das ‚Konzert‘ gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen niemand angekündigt, Ihr könntet dabei draufgehen. Was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal auch poco a poco in der Kunst. Oder sie ist nichts.“ http://www.swin.de/kuku/kammchor/stockhausenPK.htm, Stand 15.02.2009
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verknappten Vergleich hinsichtlich des „größten Kunstwerks“ über die Medien in die weltweite Öffentlichkeit geriet, überhaupt noch aus dem Kontext der Umstände argumentieren? Die Meldung war eine Sensation. Sie funktionierte nach dem üblichen Schema von Aufmerksamkeitssteigerung durch Kontextreduktion. Drei Tage nach dem Hamburger Konzert-Interview, am 19. September, hat Stockhausen auf seiner Homepage in einem englischsprachigen Statement dargelegt, wie die destruktiv-konstruktive Symbolik, personifiziert durch Luzifer, in seinem musikalischen Schaffen in Bezug zur Aktualität des Bösen im Terroranschlag steht. Indem er abschließend sein Mitgefühl für die Opfer zum Ausdruck bringt, distanziert er sich von dem terroristischen Anschlag.18 Eine etwas ausführlichere Erläuterung, bezogen auf sein künstlerisches Schaffen wäre möglicherweise zur Korrektur eines aus seinen Formulierungen zutage getretenen „Missverständnisses“ hilfreich gewesen. Einen Tag zuvor, am 18. September, wurde von der Kultursenatorin Christina Weiss eine Erklärung abgegeben, in dem die Konzerte von Stockhausen auf dem Hamburger Musikfestival 2001 ersatzlos gestrichen wurden. „Nach Ansicht der ZEIT-Stiftung und der Kulturbehörde ist aber trotz des Dementis ein Auftritt Stockhausens in Hamburg nicht mehr akzeptabel. [...] Angesichts des Leids und der Trauer in Amerika hat in diesen Tagen keiner Verständnis für verbale unbedachte Entgleisungen. Sätze wie die gesagten sind durch ein Dementi nicht aus der Welt zu schaffen.“19 Man fragt sich, was für die Absage des Konzertes letztlich ausschlaggebend war. Erstens: Erfolgte die Absage Stockhausens an dem Musikfest in Hamburg aufgrund politischer Vernunft oder war es schlicht und ergreifend die Abhängigkeit der Politik von der Meinungsmacht der Medien? Zweitens: Ist der ausschlaggebende Faktor, der das mediale Großereignis 9/11 und den lokalen Nebenschauplatz eines Interviews in Hamburg zusammenführt, auch darin zu suchen, dass die Weltfremdheit eines weltberühmten Komponisten in einer aufmerksamkeitsgeschulten Medienöffentlichkeit auf einmal Gehör findet? Die Reaktion in Hamburg steht nicht isoliert da. Familienangehörige,20 Künstlerkollegen und andere haben entweder auf den Realitätsverlust oder die Kunstideologie scharf reagiert. Es hat eine Diskussion gegeben, auf die hier nur 18
Message from Professor Karlheinz Stockhausen http://www.stockhausen.org/message_from_karlheinz.htm, Stand: 15.02.2009
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Stadt und Staat – Pressemitteilung vom 18.09.2001, Musikfest Hamburg 2001, Kultursenatorin Christina Weiss: „Keinerlei Verständnis für verbale Entgleisungen!“ http://fhh1.hamburg.de/fhh/aktuelle_meldungen/archiv_2001/september/ pe_2001_09_18_kb_02.htm; Stand: 15.02.2009 Majella Stockhausen-Riegelbauer, Tochter des Komponisten, sagte, sie wolle fortan den Namen ihres Vaters nicht mehr tragen. „Was mein Vater gesagt hat, hat faschistische Züge, denn hier werden Verbrechen und Kultur zusammengespannt“, begründete die Tochter ihre Wut. Auch Simon Stockhausen kritisierte seinen Vater. „Er hat jeden Bezug zur Realität verloren. Er sieht das Attentat rein als Musik, wie er alles in seinem Leben nur noch als Musiker sieht und analysiert.“ Mit dieser Äußerung habe er sein Lebenswerk zerstört, sagte Simon Stockhausen. http://www.nmz.de/nmz2/kiz/Forum1/HTML/002760.html; Stand: 15.02.2009
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sehr verkürzt hingewiesen werden kann. So hat Anthony Tommasini den Unterschied von Realität und Kunst in der New York Times herausgearbeitet und kommt zu dem Schluss: „Images of the blazing twin towers, however horrifically compelling, are not art.“21 Ihm antwortet der Bildhauer Richard Serra, indem er die Ästhetisierung des Terrors durch Stockhausen kritisiert.22 Entgegen dieser klaren Trennung von Kunst und Verbrechen gibt es auch Meinungen, die die ästhetische Wirkung analysieren. Klaus Theweleit besteht darauf, dass auch die Fernsehbilder von 9/11 Reales verkörperten. Er schreibt in der TAZ: „Es war deren kühl kalkulierte Eindringlichkeit, die überlegte und überlegene ‚Inszenierung‘ des Unvorstellbaren, die etwa Norman Mailer dazu brachte, dem Anschlag außer Monstrosität ‚Brillanz‘ zu attestieren; und die Karlheinz Stockhausen dazu verleitete, die Bilder vom Anflug und Einschlag der Flugzeuge gleich ganz als Kunstwerke aufzufassen und als solche zu bewundern. [...] Entsetzen und ungläubige Bewunderung für die bildliche Souveränität dieses Terrorakts, der in seiner medialen Hyperkonstruiertheit als Nie-Gesehenes in die Augen fuhr, ins Hirn sich einbrannte und ins Herz: im gleichzeitigen schneidenden Wissen, dass dort soeben tausende Menschen in der Schmelzhitze der Kerosinexplosion verglüht waren, eingeäschert.“23 Den gerade verfolgten Diskussionsstrang können wir unter zwei Gesichtspunkten bündeln. Einerseits können wir das Entsetzen über das Geschehene 21
Anthony Tommasini: Music; The Devil Made Him Do It, New York Times, 30. Sept. 2001 http://www.nytimes.com/2001/09/30/arts/music-the-devil-made-him-do-it. html; Stand: 15.02.2009
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Am 21. Oktober schreibt Richard Serra einen Leserbrief „STOCKHAUSEN; Aestheticizing Terror“ an die New York Times: In „The Devil Made Him Do It“ [Sept. 30], on Karlheinz Stockhausen’s remarks after the Sept. 11 attack on the World Trade Center, Anthony Tommasini writes, „It is important for artists to reclaim art from such reckless commentary.“ I think that is right. Why is Mr. Stockhausen postulating an equation between an art performance and mass murder, thereby transforming mass murder into an art spectacle? What mind-set does it take to completely lose the distinction between art and reality, leading to the preposterous and hypertrophic competition between an art performance and the annihilation of thousands of people? Mr. Stockhausen made us see the extreme of a not uncommon attitude, the aestheticization of reality; in this instance, the aestheticization of terror. Mr. Stockhausen’s ambition is to compete with the spectacle of destruction and its effect on its „audience,“ which he described as the necessity for all of us „to rearrange our brains. Mr. Stockhausens desire to compete with the horrendous effects of a terrorist act is a nihilistic distortion of the ethical imperatives to make art.“ http://www.nytimes.com/2001/10/21/arts/l-stockhausen-aestheticizingterror-718378.html?n=Top/Reference/Times%20Topics/People/S/Serra,%20 Richard; Stand: 15.02.2009 Klaus Theweleit: Bilder vom Einsturz der Welt. Über die Liveschaltungen der Fernsehkanäle stellten die Attentäter vom 11. September eine Verbindung zu den Hirnen der Zuschauer auf der ganzen Welt her. Der Ort des Anschlags war nicht allein New York – er geschah in unseren Wohnzimmern!, in: TAZ, 19.11.2002; http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2002/09/11/ a0108; Stand: 10.02. 2009
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und andererseits die Faszination über das Böse unterscheiden. Beginnen wir mit der Faszination: Die Faszination des Schreckens und die Macht, das (un) vorstellbar Böse wirklich zu tun, finden in Stockhausens gnostisch geprägtem Kunstwerkvergleich, in der Tradition des Erhabenen und in der Ausblendung des Verdrängten eine Bejahung, die unstatthaft ist.24 Wird sie öffentlich vertreten, löst sie einen Sturm moralischer Entrüstung aus. Jedoch ist die Grenze zwischen öffentlich und privat zunehmend fließend, weil die Spontaneität zwischen gedacht und gesagt kaum noch schalten kann, das einmal Ausgesprochene nicht mehr zurückgenommen werden kann, weil es kein schützendes Refugium und keinen Raum der Erprobung mehr gibt. Spontaneität sowie auch beobachtbare Intuition müssen mit der kritischen Selbst- und Fremdkontrolle rechnen, weil sowohl das kritisch aufmerksame Bewusstsein als auch permanent „eingeschaltete“ Massenmedien „reagieren“. Natürlich kann man dies strategisch auch nutzen und Spontaneität inszenieren bzw. Intuition simulieren. Ließe sich daraus ableiten, dass angesichts der riskant kritischen Beobachterperspektiven der persönliche Schutzraum sich verlagert? Aber wohin? Gibt es noch einen Freiraum? Spürt letztlich die „Scham“ nicht jeden Fehler oder jede Entdeckung in jedem Winkel, in dem der Einzelne sich zurückziehen könnte, von sich aus auf und zeigt „Schuld“ bzw. Fehlleistungen „automatisch“ im Nachhinein an? Kann man den Bildern des Schreckens eine Faszination wirklich absprechen? Ja, ich finde schon, aber dass viele dieser Bilder gut aussehen, kann man nicht in Abrede stellen. Der schon erwähnte britische Künstler Damian Hirst sagt dazu: „The thing about 9/11 is that it᾿s kind of an artwork in its own right. It was wicked, but it was devised in this way for this kind of impact. It was devised visually.“25 Es bleibt also zwei exponierten, künstlerischen Ich-Instanzen wie Stockhausen und Hirst vorbehalten, über die medial verbreitete Wirkungsmacht der Bilder des Terrors von 9/11 ein „künstlerisches“ bzw. „ästhetisches“ Urteil zu fällen, welches als Schlagzeile Verbreitung fand. Angesicht der Debatte, die hier aufgezeigt wurde, stellt sich die Frage, warum in diesem konkreten Fall künstlerische Selbsterhöhung, die an sich schon problematisch ist und dies um so mehr, wenn sie über ihren artistischen Wirkungskreis so unbedacht und überflüssig verlängert wird, mit medialer Überhöhung bzw. „Unfehlbarkeit“ kollidiert.26 Hierzu muss man die Perspektive wechseln. In die Tendenzen aktiver oder passiver Vereinheitlichung alter und neuer Massenmedien pas24
Siehe auch Christian Ruch: „...und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt“ – Der Stockhausen-Skandal und die Wiederkehr des Verdrängten, Infosekten, 16.10.2001; http://www.kath.ch/infosekten/text_detail. php?nemeid=6374; Stand: 15.02.2002
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Rebecca Allison: 9/11 wicked but a work of art, says Damien Hirst, The Guardian, 11. September 2002 http://www.guardian.co.uk/uk/2002/sep/11/arts.september11; Stand: 15.02.2009
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Künstler gratuliert Terroristen. „Ein optisch atemberaubendes Kunstwerk“, Spiegel Online 11.09.2002; http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,213502,00.html; Stand: 15.02.2009
Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität
sen keine Singularitäten. Nur Stars werden als marionettenhafte Ausnahme geduldet. Kommen wir nun auf die zweite Seite des „kaltblütigen“ Anschlages auf das WTC in New York zu sprechen, wobei mit Blick auf die Debatte, die gerade geführt wurde, einzuräumen ist, dass der Anschlag aus der Sicht der Täter auch „heißblütig“ gewesen sein kann. Dennoch ist festzustellen, und damit stimme ich überein: Das Ereignis erzeugt Entsetzen und Abscheu. Susan Neiman, die in ihrer Untersuchung „Das Böse denken“ darauf aufmerksam macht, dass 9/11 zwar die ständige Latenz einer unerwarteten Gefahrenquelle bewusst gemacht, nicht aber eine neue Form des Bösen hervorgebracht hat, da terroristische Anschläge ihrer Meinung nach willkürliche Naturschläge simulieren, schreibt: „Nichts entsetzt am 11. September so sehr wie die Tatsache, daß die Passagiere der ins World Trade Center einschlagenden Flugzeuge nicht nur aus dem Leben in den Tod gerissen wurden, sondern auch noch Teil der Explosionen waren, die Tausende andere töteten.“27 Dadurch, dass das Böse bis zum Äußersten durchdacht wird, kann es noch nicht abgewendet werden, aber die begriffliche Aufarbeitung des Bösen und die anthropologische Widerständigkeit kann Optionen erkennen oder entwerfen, die der überrumpelnden Lähmung oder der puren Faszination durch den Schrecken entgegenwirken. Hoffnung lässt sich damit nicht begründen, aber die Unabdingbarkeit und wesenhafte Verklärung des Bösen wird dadurch abgebaut. Das Problem ist, dass die Unmenschlichkeit in der Vernichtung von Menschen selbst wiederum ein beobachtbarer Vorgang ist, der den Medien ästhetische Macht verleiht. Eigentlich müsste die ästhetische Macht in Bezug auf Gewalt und Terror durch die Massenmedien domestiziert werden, wofür ich meine kritischen Instrumente gern einsetzen möchte. Indem jedoch gerade die dominanten oder sich neu formierenden Massenmedien mit allen modernen technischen Möglichkeiten den Kult des Schreckens zelebrieren, üben sie durch die Herrschaft des Spektakels eine zu überwindende Kontrolle über die Grenzen der Macht, über Leben und Tod aus und verhindern dadurch, mäßigend und abschreckend zu wirken. Meiner Meinung nach kommt Kritik nicht umhin, auch strategisch zu denken, jedoch nicht auf Kosten einer unnötigen Fixierung auf Dekonstruktion oder auf das Böse. So schön und interessant ist das Böse nun auch wieder nicht. Die Intelligenz des Bösen ist auf die Dauer nicht nur unerträglich, sondern in ihrer ausrechenbaren Penetranz auch langweilig. Der Kunstwerkvergleich von Stockhausen und das ästhetische Urteil von Hirst betreffen Massenmedien in ihrer Rolle als Vermittler und nicht den terroristischen Angriff. Wir können diesen Gedanken unter einem anderen Gesichtspunkt weiter vertiefen. Die arbeitsteilige Trennung von Gesellschaft auf der einen und den Künsten auf der anderen Seite bringt es mit sich, dass Grenzen, Normen und Werte sowohl eingehalten als auch überschritten werden können. Man kann das probeweise auf der Ebene eines Marquis de Sade ge27
Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S.420.
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danklich durchspielen. Indem de Sade die Befriedigung der Sexualität auf das Objekt der Begierde richtet und damit auch das mitfühlende Band zwischen Menschen als Lebewesen thematisiert, markiert er eine Grenze, wo Lust und Verlangen in pure Macht umschlagen. Um diese zu erreichen, durchkreuzt de Sade die Freiheit des Gefühls und den Anspruch des Verlangens mit einer maschinenartig perfekten Gewalt, die vor nichts mehr Halt macht. Die finalisierende Befriedigung geht letztlich von einem durchorganisierten Spiel der Lust in inszenierten Mord über.28 Dies wäre, vereinfacht gesagt, die logische Struktur, die dem Triebverlangen als individuell soziale Dynamik inne wohnt und die es gilt, zivilisatorisch abzuwenden und kulturell zu domestizieren. Aber es geht nicht nur um die Orgien des maschinellen Verlangens, wie sie bereits Roland Barthes analysierte, sondern auch um das Verhältnis von Sex und Geld; es geht also um die gesellschaftlichen Bedingungen von Reichtum und Armut, die in den Grenzen des Glücks oder des Unglücks in ihr Gegenteil umschlagen. Oder anders gesagt: Unterdrückung bzw. Ausbeutung schlägt in das Gegenteil um, wenn gerechtere Verhältnisse unter Berufung auf das Recht auf Gewalt begründet werden. Greift man die Konsequenz von Opfer und Geisel auf und überträgt sie auf den hier diskutierten terroristischen Anschlag 9/11, wäre die terroristische Aktion die Durchsetzung politischer Ziele, die das Recht auf Gewalt in den Grenzen der Freiheit, dies zu tun, verlässt bzw. überschreitet, indem Menschen auf Objekte und Zeichen reduziert werden. Man sieht an dieser Stelle der Argumentation auch, dass die Ausklammerung des In-derWelt-Seins tradierte Grenzziehungen und Legitimierungen wie den Ernstfall oder den Ausnahmezustand außer Kraft setzen. Das ist die Logik des Terrors, der über die Entgrenzung des Miteinanders bei de Sade hinausgeht. Das ist aber nur eine Seite der Logik. Diese betrifft allein die zeichenhafte Innovation terroristischer Gewalt, die man konstatieren muss. Die Durchführung selbst war sehr konventionell. Letztlich hätte auch eine atomare Kettenreaktion auf dem Plan stehen können, worin die Logik der Auslöschung des Gegners gipfelt. Es ging um Vernichtung, die vor nichts Halt macht und damit ein Danach nicht kennt. Folgt man der Unterscheidung von Freund und Feind oder von Zivilisten und Soldaten, fallen Terroristen aus diesem klassischen Unterscheidungsschema. Sie werden als eine Art irreguläre und unkalkulierbare Feinde wahrgenommen, die sich die Freiheit nehmen, mit jedem Mittel alles zu erreichen. Das wäre die äußere Wahrnehmung, denn die innere Einstellung der vermeintlichen Terroristen sieht anders aus. Sie haben in der Regel eine religiös-politische Motivation. Auf der äußeren Wahrnehmungsebene erscheint die terroristische 28
Roland Barthes erkennt in der mathematischen Genauigkeit des baumartig verzweigten Verbrechens, mit der de Sade in den 120 Tagen vorgeht, grammatische Regeln, die er mit Vollständigkeit und Wechselseitigkeit in der Kombinatorik und Komposition umschreibt. Ist es nun konsequent oder seltsam, dass Barthes die Finalisierung der Sexspiele nur dort ‚kritisch‘ durchbricht, indem er konstatiert: „Reichtum ist notwendig, um das Unglück zu inszenieren.“ Roland Barthes: Sade. Fourier. Loylola, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1974, S.30 und S.36f.
Das mediale Ereignis oder visuelle Vermittlung von Realität
Aktion ähnlich autonom und singulär wie eine künstlerische. Dennoch muss man die künstlerische Intervention, sei es die im Surrealismus, sei es die im Situationismus oder die im Aktionismus der Sechziger Jahre, von der terroristischen Aktion trennen, denn diese ist militärisch orientiert. Radikal gesprochen ist der terroristische Anschlag in New York eine konsequent „terroristische“ Operation gewesen, welche erst durch mediale Berichterstattungen eine ästhetische Aufladung erfuhr. Das terroristische Kalkül bestand darin, größtmögliche mediale Aufmerksamkeit zu erreichen. Indem nun diese mediale Aufmerksamkeit zustande kam, erschienen die Bilder und Endlosschleifen mit den beiden Zielflügen zugleich authentisch und künstlich, wirkten und wirken ähnlich inszeniert wie die Realität und Fiktion vermischenden Fotografien von Jeff Wall – Großdias in Leuchtkästen – oder wie Katastrophenszenarien aus bereits vorher bekannten Hollywoodfilmen. Davon abzugrenzen ist der Terrorakt selbst, der in Mord und Zerstörung gipfelte. Er war ganz sicher kein Kunstwerk. Die medialen Bedingungen, wie Bilder erzeugt und verbreitet werden, lassen erkennen: Hier gibt es die Realität und dort eine Welt medialer Inszenierung – beide sind miteinander verbunden. Der terroristische Anschlag des 11. September hatte stellvertretend die amerikanische Gesellschaft zum Ziel und hat gleichzeitig und unbeabsichtigt die ungeheure Macht der Massenmedien als Partizipation der Weltöffentlichkeit vorgeführt. Es geht also insbesondere beim 11. September nicht bloß um die Wirkung oder Verführung von Bildern, sondern auch um Informationsfreiheit, um die Grenzen der medialen Macht und um die Frage, wer über die Massenmedien herrscht. So gesehen stellt 9/11 eine Zäsur dar. Über dieses einschneidende „Bild-Ereignis“ ist viel geschrieben worden: für die einen ein Bild-Sieg, für die anderen eine Bild-Niederlage und für wieder andere einfach ein gravierender Riss im Verständnis von Bildkultur, das mit aller Wucht die erreicht, die über Bildkultur nachdenken und natürlich diejenigen bestätigt haben, die wie Benjamin, Adorno oder Debord eine mediale und politische Kritik des Visuellen entwickelt haben. Tom Holert fordert konsequenterweise ein Umdenken hinsichtlich des tradierten Analyse-Instrumentariums: „Ein auf den Sehsinn und kognitive Verstehensprozesse reduzierter Bildbegriff erfasst hier nur einen Bruchteil dessen, was für eine dichte und innovative Beschreibung der Prozesse und Netzwerke, in denen Bilder zirkulieren und Bild-Ereignisse entstehen, notwendig wäre.“29 Dem ist ohne Wenn und Aber zuzustimmen. Demokratische Gesellschaften müssen darüber entscheiden können, wo mediale Gewalt, die Freiheit der Information und die Herrschaft über die Massenmedien ihre Grenzen haben. Dazu bedarf es eines öffentlichen, politischen Bewusstseins unter den Bedingungen globaler Massenmedien. Wo aber ist der öffentliche Raum für ein solches Bewusstsein? Wer sind die Träger eines solchen Bewusstseins – angesichts um sich greifender medialer Apathie oder Narkose? Der 11. September ist ein Beispiel dafür, dass im Stadium der globalen Massenkultur auch das visuelle Bewusstsein geschärft werden muss. Das öffentliche Bewusstsein, welches durch die Ereignisse ästhetisch geprägt
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Tom Holert: Regieren im Bildraum, Berlin: b_books, 2008, S.16.
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Global Images: Eine Studie zur Praxis der Bilder
wurde, hat daraus gelernt und sich selbst erstmals in diesem Umfang30 als globales Bewusstsein erfahren. Die Voraussetzungen dieser globalen Relevanz gehen auf den Golfkrieg von 1991 zurück, in dem die Live-Bild-Übertragung des amerikanischen Nachrichtensenders CNN angesichts der nachts fliegenden Bomber folgenden Eindruck erweckte: Der Krieg ist „grün“. Ein diffuser optischer Eindruck reicht aus zu legitimieren, worum es scheinbar geht, um die Macht der Massenmedien „ins richtige Bild zu setzen“; eine Metapher des Ungefähren genügt, ohne dass es noch eines erklärenden Zusammenhanges bedürfte, der die politischen Absichten benennt oder eines Bildes, das zeigt, was ist. „Die Macht arbeitet mit Graphiken, Illustrationen, Piktogrammen und Schaubildern. Man könnte auch sagen: Jedes Bild mutiert hier zum Schau-Bild, zu einer instrumentellen Anordnung, die keine Brüche zulässt. Das Bild des bombardierten Bagdad im grünlichen Licht der Nachtsichtkameras oder des sterbenden Vogels in der Ölkatastrophe zirkuliert als ‚Logo‘, das gelesen wird und nicht mehr gesehen.“31 Dieses globale Bewusstsein setzt sich aus technisch vermittelten Realitätssplittern zusammen. Welche Rolle spielen hierbei die Bilder? In vielen Hollywoodfilmen sind die Möglichkeiten des „Anschlags“ bereits durchgespielt worden, einschließlich der Sprengung der beiden Zwillingstürme in New York,32 wobei der Zuschauer zwischen Filmszenen und realem Geschehen, zwischen Kunst-Wirklichkeit und Alltagswirklichkeit gelernt haben müsste zu unterscheiden.33 Dazu ist anzumerken, dass es auch nicht das erste Mal war, dass ein Flugzeug scheinbar Kurs auf einen Wolkenkratzer in Manhattan genommen hatte: Am 28. Juli 1945 schlug ein B-25-Bomber durch ein tragisches Versehen in der Nordfassade in Höhe der 79. Etage des Empire-StateBuildings ein. 14 Menschen starben, 26 wurden verletzt.34 30
„Rund 80 Millionen Amerikaner verfolgten die Inflation der in Endlosschleifen immer wieder ausgestrahlten Schreckensbilder vom ‚Weltereignis‘ des Terroranschlags live im Fernsehen mit; ...“ Siehe Christian Schicha: Der 11. September 2001 – Symbolische Politikvermittlung in den Medien, in: Glaab, Sonja (Hg.): Medien und Terrorismus – Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag Berlin 2007, S.175.
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Peter Zimmermann: Flow, mit einem Text von Tom Holert. Moral, Programm, Verkennung: Bildung des Subjekts, Kunstverein Heilbronn, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2001, S.69. Eine exemplarische Filmliste, die sich hierzu aufstellen ließe, reicht von „Black Sunday“ (1976), „King Kong“ (1976), „Siege“ (1988), „Independence Day“ (1989), „Outbreak“ (1995), „Twelve Monkeys“ (1995), „Fight Club“ (1999), „Spider Man“ (2001) bis zu der „Der Anschlag“ (2001). Siehe Oliver Jahraus und Bernd Scheffer: Wie im Film: Zur Analyse populärer Medienereignisse, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2004, S.16 -18
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Siehe ebda., S.32. „Im Krieg hatte das Empire State Building als Beobachtungsposten zur Ortung auffälliger gegnerischer Flugzeuge gedient. Doch der zweimotorige B-25-Bomber, der am 28. Juli 1945 morgens um 9 Uhr 50 das Gebäude attackierte, war keine Feindmaschine. Lieutenant Colonel William Smith, ein hochdekorierter Pilot, hatte sich auf seinem Flug von Bedford Field bei Boston zum Newark Airport südwestlich von Manhattan im Nieselregen in
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„Wir alle wussten, dass dies geschehen könnte.“ So schrieb Paul Auster bezogen auf die Ereignisse des 11. September.35 Wir werden diese Aussage im Folgenden zum Anlass nehmen, eine Diskussion zu führen, die der Frage nachgeht, wie verbindlich bzw. relativ Realitätskonstruktionen sind. Hierbei interessiert uns ganz besonders das Wechselverhältnis von Bild und Realität.
Konstruktion von Realität im Bild Dass etwas geschehen kann, was nicht vorhersehbar ist, ist ein durchgängiges Bildthema bei Jeff Wall. „The Stumbling Block“ von 1991 zeigt eine ungewöhnliche Straßenszene mit Passanten im Vorder- und spiegelnden Hochhausfassaden im Hintergrund. Man kann sie ganz allgemein identifizieren: Es kann irgendwo in Nordamerika und mit Einschränkungen auch an anderen Orten der Welt mit einem westlich geprägten Stadtbild sein. Dargestellt ist, wie eine Frau über einem auf dem Bürgersteig liegenden Eishockeyspieler zu Fall kommt. Ein Zurückschauender scheint die Stürzende zu bemerken, während der auf der Mauer sitzende Skateboarder vorn links davon nichts zu bemerken scheint, wie auch ein Fahrradfahrer weiter hinten, der seinen Blick nach links abwendet. Allein der auf die Szene zugehende Mann im Mittelgrund müsste den Vorfall sehen, ebenso wie die farbige Passantin rechts neben ihm und ebenso vielleicht auch der behelmte Fahrradfahrer noch weiter rechts. Der Skateboarder sowie der Fahrradfahrer gehören scheinbar ins Stadtbild. Irritierend ist, dass der Sitzende im Anzug mit einer Aktentasche zwischen den Beinen zwar in nächster Nähe platziert ist, aber im Sinne der Anteilnahme sich eher ganz woanders befindet. Der Sturz ist inszeniert: Er bricht ins alltägliche Geschehen ein; man ist nicht darauf vorbereitet. Oder anders gesagt: Nur die Stürzende selbst und der Eishockeyspieler sind direkt betroffen, zeigen selbst aber keine situationsgerechte mimische Reaktion. Noch ist der Sturz nicht ganz zu Ende. Aber es ist unabsehbar, dass die Frau, deren Hände leicht unscharf sind, auf den Boden Hochhausdschungel verirrt. Smith hatte Flakfeuer und deutsche Messerschmitts überlebt, aber nun war er wirklich in Schwierigkeiten. Ein letzter warnender Funkspruch des La Guardia Tower, die Spitze des Empire State Building sei nicht mehr zu sehen – dann donnerte er mit seiner neun Tonnen schweren Maschine auf der Höhe des 79. Stockwerkes in die Nordfassade, just in die Büros der Catholic War Relief Services. Im Feuerinferno kamen 14 Personen ums Leben, 26 wurden verletzt. Augenzeugen meinten, es handle sich um eine von Hitlers ferngesteuerten Wunderwaffen oder einen japanischen Kamikaze-Angriff. Das Empire State Building erschauerte kurz. Das Loch maß 5,4 mal 6 Meter.“ Peter Haffner: Der Drang nach oben. Im Mikrokosmos des Empire State Buildings, NZZ Folio 08/98. http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/ showarticle/cf512ace-0147-416d-b5d7-4f5ae030f369.aspx; Stand: 15.5.2009 35
Paul Auster: Jetzt beginnt das 21. Jahrhundert, in: Amis, Martin; Auster, Paul; Begley, Louis u.a.: Dienstag 11. September 2001, 2. Aufl., Hamburg: Rowohlt Verlag 2001, S.14.
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den fallen wird. Bildlich gedeutet, scheint die Frau in den leeren Abgrund des Vordergrunds zu stürzen. Nicht weiter schlimm, wird man denken und annehmen, dass diese Leute auf der Straße genau in diesem Augenblick aufeinander treffen; dies läge in der Logik von Fotos und könnte einen glauben lassen, dass Passanten so reagieren müssten bzw. sich ähnlich zu verhalten hätten. Man ist also in der Lage, sich solche Konstellationen im öffentlichen Raum vorzustellen und zu akzeptieren, denn der innerstädtische Ort ist nachvollziehbar vorgeben und die Personen sind bezogen auf das lokale Ambiente notwendig, anonym und damit austauschbar. So wie der Vordergrund – suggeriert durch die Stürzende – nach vorn offen ist, ist der Hintergrund von links nach rechts mit einander anschließenden Bürohochhäusern, spiegelnden Fassaden und eingeschobenen Blendwänden nach hinten hin optisch „abgedichtet“. Während also der Sturz sich ins bildlich Leere zu vollziehen scheint, ist das urbane Ambiente nach hinten wie durch eine blickundurchlässige Mauer abgeriegelt. In der Mitte dieses von rechts vorn nach links oben abknickenden, mit PKW’s befahrbaren Gebietes steht ein Mast, der diverse Stromleitungen in mehrere, auch in den Vordergrund weisende Richtungen bündelt.
32 1. Jeff Wall, The Stumbling Block, 229 x 337 cm, Leuchtkasten, 1991
Die Motive, die die Leute an diesen Ort gebracht haben, sind nicht bekannt; sie liegen in der Hand einer Regie, wenn man das Geschehen filmisch bewertet. Vielleicht sind sie willkürlich, möglicherweise sind die dargestellten Typen eines der Resultate einer Realitätsstudie, oder sie sind frei aus der Phantasie entworfen. Das wissen die das Bild Anschauenden nicht. Wir, die Zuschauenden, bleiben auf Vermutungen angewiesen. Jedoch können wir die realistisch anmutende Straßenszene unmöglich für authentisch halten, denn zu viele Fragen erschüttern nach und nach die Bezugnahme auf Umstände, die tatsächlich stattgefunden haben. Auf der einen Seite gibt es die bildliche Glaubwürdigkeit
Konstruktion von Realität im Bild
mit stimmigen Momenten und Situationen, und auf der anderen die Referenz zur fotografierten Realität, die unwahrscheinlich ist. Realität und Fiktion scheinen unentwirrbar miteinander verwoben, bleiben aber im Modus des Bildes gefangen. Eine Überprüfung ist nicht möglich, wie bei einem fingierten polizeilichen Gegenüberstellungsfoto ist der Beobachter gefordert, sich zu erinnern, zu vergleichen und zu identifizieren. Jeff Wall hat die Spuren verwischt oder kennt wer den Ort, der die Kulisse für dieses inszenierte Foto geliefert hat? Normalerweise würde man das, was plötzlich aus den gewohnten Bahnen gerät, wie diese Versammlung von Leuten, überhaupt nicht bemerken, nun aber, in dieser faktisch unwahrscheinlichen Konstellation, geschieht etwas: Ein in alltägliche Abläufe eingefügtes Ereignis wird sichtbar. Ist das Unvorhergesehene des einen neben dem anderen etwas Strukturelles? Dass man etwas sieht, das wie ein Unfall aussieht, bedeutet nicht, dass dieser Umstand auch sichtbar ist bzw. sichtbar gemacht werden kann. In der Anordnung sind narrative, „stumme“ Momente montiert. Man kann deren Woher und Wohin nur vermuten. Ist Zufall im Spiel? Nichts ist dem Zufall überlassen, denn in der Fotografie hat alles eine bildlich notwendige Stelle. Für den Sturz erhält der Betrachter optisch lesbare Gründe: Das wären die vermeintliche Unachtsamkeit der Frau und ein im Weg liegender Eishockeyspieler. Also scheint der Sturz bildlich plausibel. Jedoch fragt man sich, warum es zu dieser Verkettung von zwei Passanten kommt, wobei der auf dem Boden Liegende nur notwendig ist, um diesen Sturz zu veranlassen. Michael Wetzel interpretiert den Sturz der Frau, d.h. ihren frei schwebenden Fall zum Boden, als einen eingefrorenen Augenblick. Er leitet seine Analyse der Bildzeiten mit einem Hinweis auf Yves Kleins berühmtes Foto „Sprung ins Leere“ ein und fährt fort: „Auf jeden Fall erstarrt die im Augenblick angehaltene Zeit zu einer Dauer, die das, was als flüchtiges Ereignis in seinem Vorübergehen unbemerkt bleibt, ausstellbar macht. Die Pluralität der Zeichen deutet aber auch – wie die Unvermitteltheit der ‚Ausbrüche‘ – auf die Isoliertheit der Personen, die jede wie in ihrer eigenen Welt lebt und genauso gut aus verschiedenen Aufnahmen herausgenommen und in die gemeinsame Szene nachträglich hineinkopiert sein könnte.“36 Nach Wetzel greifen mehrere Zeitmuster ineinander. Ruhe, Dauer und verschiedene Augenblicke können unterschieden werden. Alle Einzelheiten sind für den Betrachter um einen dramatischen, bildlichen Zeitpunkt herum angeordnet, der allen anderen ihre je eigene Existenz verleiht. Die Vielheit der Details und der Momente bilden eine bildliche Erfindung. So könnte es sein – wenn man wüsste, welche der Einzelheiten in Bezug zueinander stehen bzw. welchen Verlauf sie nehmen. Man muss ganz einfach erkennen, dass die bildliche Bühne den Akteuren ihren Auftritt ermöglicht. Die hier Abgebildeten sind bloß ein Vorwand für einen Realitätsbezug, der inszeniert wird. Ob die dargestellten Akteure planvoll handeln, weiß man nicht, es ist aber zu vermuten. Anders gefragt: Hat Realität einen Plan, dessen Ziel in sich selbst begründet ist (Entelechie) und der sich wie in einem Schauspiel beobachten lässt? Ist die Realität hier ein Vorwand für die Darstellung eines Unglücks? Eines Unfalls? Von etwas Unvorhergesehenem? Die Fragen 36
Michael Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei, München: Fink Verlag 1997, S.233.
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lassen sich abstrakter fassen: Man möchte gern wissen, was geschieht, dies vorhersagen oder durch politische und ökonomische Zielvorgaben steuern bzw. kontrollieren. Dies werde ich auch an anderen Stellen dieses Buches besprechen und bezogen auf die jeweiligen Kontexte folgende These modifizieren: Während das Verhältnis von Bildern zur Realität sich durch deren Gebrauch bestimmt und regelt, ist die Frage nach dem, was sichtbar wird, nicht mehr unbedingt an Bilder gebunden, denn die sich aus und mit Bildern zusammensetzende sowie entziehende Visibilität ist brüchig, bruchstückhaft und sprunghaft. Bilder beschreiben nur noch ein metaphorisches Verhältnis zu sich selbst, zur Realität, zur Imagination und zur Virtualität. Trotz der vielen, vielleicht allzu vielen Bilder leben wir – widersprüchlich gesagt – in einer eher bilderlosen Welt, in einer Welt der Zeichen und Metaphern. Doch wieder zurück zum „Bild“: Alle dargestellten Passanten nehmen im Verhältnis zueinander eine Stellung im Bild ein, die man nicht verrücken kann. Wenn das dargestellte Ereignis das Ergebnis einer bildlichen Regieleistung für Platzanweisung ist, erscheint die dadurch thematisierte alltägliche Situation bedrohlich. Etwas kann den urbanen Rhythmus durchkreuzen. Nicht alles, was geschieht, verläuft immer nach Plan. Das weiß jeder Großstadtmensch. Mit einem Unfall oder Unglück muss man rechnen. Man muss darauf gefasst sein, dass es geschieht. Und weil man die Dinge in einem vernünftigen Licht glaubt, traut man auch dem, was in der Regel, also gewöhnlich vonstatten geht. Geht etwas schief, ist es meistens der Zufall, der zur Erklärung angeführt wird. Nur kann der Zufall selbst nichts erklären. Besser gesagt, es gibt eine rationale Sicht auf den Zufall, und es gibt eine irrationale. Wall greift beide Versionen auf, indem er einerseits den Zufall geradezu als Unfall beobachtbar und indem er anderseits den Zufall als Ursache unsichtbar macht. Paul Auster, der darauf hinweist, dass man das Unerwartete paradoxerweise erwartet, kann an dieser Stelle wieder in die Überlegungen miteinbezogen werden. Wie kommt er dazu, so etwas zu behaupten? Meint er gar: Ich habe es so kommen sehen? Dann würde er die Perspektive „Yo lo ví“ (Ich habe es gesehen), die Francisco Goya als Zeitzeuge des spanischen Unabhängigkeitskrieges eingenommen hat, zugunsten einer vorhergesehenen Zukunft verlassen.37 Ich nehme an, Auster widerspricht der Auffassung, dass eine isolierende Aneinanderreihung von Handlungen und Bewegungen der Dinge im Raum die Vielfalt des Zugleich erfassen kann. Diese Perspektive nimmt jedoch der Einzelne gewöhnlich ein. Wir müssen an dieser Stelle zwischen Zuschauer und Akteur im Bild unterscheiden. Beide Perspektiven sind für den Betrachter des Bildes thematisch. Er kann die beiden Positionen einnehmen und reflektieren. Der Zuschauer erkennt, dass es eine korrespondierende Gemeinschaft der Dinge 37
„Ich habe es gesehen“ hat Goya das „los Desastre della guerra“ Nr. 44 betitelt, das eine fliehende Menschenmenge zeigt. Zuvorderst rennen ein fetter Pfaffe und ein sich an ihn klammernder verängstigter Bourgeois davon, daneben dreht sich eine Frau nach ihren zwei Kindern um. Hell und dunkel – die sorgende Mutter und das feige Männerduo – sind in diesem Blatt klar verteilt. Die Botschaft ist unmissverständlich: Der Klerus und die Privilegierten haben sich aus dem Staub gemacht und das wehrlose Volk seinem Schicksal überlassen.
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gibt, die das, was gerade geschieht, regelt. Der Akteur kann nicht voraussehen, was um ihn herum geschieht, sondern ist diesem Zusammenwirken seiner und anderer Handlungen, dem Zusammenspiel vieler Faktoren in einer Situation ausgeliefert; er muss damit rechnen, dass es auch anders kommen kann als beabsichtigt, z.B. wenn etwas dazwischen kommt, was nicht in der Reichweite seiner Voraussicht lag. Man muss das noch anders wenden und Bedingungen der Zeit und des Raumes einbeziehen. Der Zuschauer hat den Vorteil der Simultanität eines Ereignishorizontes: Er kann u.a. sehen, was zugleich und in der Abfolge geschieht. Sichtbarkeit ist dadurch beobachtbar und bestimmte Ereignisse sind vorhersehbar. Das ist vor allem ökonomisch und militärisch interessant. Der Faktor Zeit ist für das gegenwärtige Sichtbarkeitsmodell also entscheidend. Um zu erkennen, was geschieht bzw. geschehen wird, muss etwas sichtbar gemacht werden, damit es sich dem herrschenden Ordnungsmodell von Visibilität fügt. Je mehr die Zuschauer und die Akteure in diesem Sichtbarkeitsmodell über Strategien, Szenarien und Perspektiven verfügen, um Sichtbares und Sichtbarwerdendes zu erkennen und zu steuern, um so berechenbarer und kontrollierbarer werden alle Sichtbarkeitsereignisse. Damit ist eine Tendenz angesprochen, die die Verfügbarkeit von Visibilität kritisch fasst. Die Zweckmäßigkeit einer Optik, die die Welt perspektivisch im Horizont des Sichtbaren erschließt, steigert die Funktionalität von Sichtbarkeit. Dass diese Tendenz im Zusammenspiel aller Dinge, die sich sichtbar in Raum und Zeit bewegen oder in Bildern momentweise angehalten werden, eine technische Zielsetzung mit sich führt, ist klar. Die Lebenszeit der Zuschauer und Akteure, die ihre Situationen schauend erfahren, schließt sich immer enger an die technische Zeit der eingeschalteten oder zugeschalteten Kommunikationstechnologien an. Deshalb muss man den Status des Zuschauers und Akteurs auf die Verknüpfung bzw. Verschaltung mit technischen Operationen beziehen. Erst dann wird deutlich, welches rigide Ausmaß in der visuellen Verfügbarkeit der Dinge und Menschen liegt. Es ist die Herrschaft der technischen Zeit, die die biologische und gesellschaftliche zunehmend erfasst. Demzufolge erscheinen die Leuchtkastenbilder von Jeff Wall wie visuelle Anordnungen, die eine technisch in ihren Abläufen erfasste Welt anzeigen: Wir sehen das, was sich in dem technisch erschlossenen Raum gerade ereignet. Visibilität ist zunehmend nur noch eine Funktion der technischen Zeit. 9/11 ist ein „sichtbarer Ausdruck“ dafür. Damit sind Zuschauer und Akteur so effizient wie blind gegenüber dem, was geschieht. Der Zielflug der Terroristen auf das WTC zerstörte unter diesem Vorzeichen gedacht nur ein altes Modell der Sichtbarkeitsordnung ohne zu wissen, dass ein neues begann. Man muss also von einer Zäsur sprechen. Während die terroristischen Akteure ein Ziel anvisierten, um einen Punkt der kybernetischen Regelung von ökonomischer Macht zu treffen, sah der Zuschauer den zweiten Anschlag live und in Europa leicht zeitversetzt und damit ein technologisches Regime erstarken, das in loop-ähnlichen Wiederholungsschleifen der massenhaft verbreiteten Bilder Protokoll führte.
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Das Experiment: Fiktion bezogen auf Realität und umgekehrt Auster ist ein Meister in der Vermischung von Realität und Fiktion. Seine Romanfiguren durchziehen die urbane Realität wie altbiblische Nomaden. Sie folgen einem scheinbar detektivisch verwobenen Muster von Bezügen, die sich nicht auflösen lassen. Der Leser glaubt, dass ihre überraschend sprunghaften Lebensgeschichten oder Tagesabläufe einem unabänderlichen Schicksal folgen, das der Autor selbst nicht zu kennen scheint. Dies schließt sich an die Filmstills einer Realität an, die Jeff Wall konstruiert. Er zeigt Zeitgeschichte aus der Perspektive von Historienbildern, die jedoch nicht Vergangenes rekonstruieren, sondern eine hybride Gegenwart suggerieren. Jeff Wall und Paul Auster ist gemeinsam, dass sie Welten simulieren, die ihre politische Ordnung mit einer Mischung von Durchschaubarkeit, Rätselhaftigkeit, Herrschaft über andere und Angst vor dem Ende der Macht verbinden, ohne dass das explizit dargestellt wird. Beide simulieren Realität, die das Drama und die Tragödie des Lebens in urbanen Räumen ästhetisieren. Beide üben damit die ideologische Funktion aus, die tatsächlichen Verhältnisse ihrer Voraussetzungen zu entpolitisieren. Problematisch ist, dass Konstruktionen von Realität sichtbar werden, die Zwangsläufigkeit suggerieren. Wir werden aber im weiteren Verlauf noch se-
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2. Thomas Hoepker, Blick von Williamsburg, Brooklyn auf Manhattan, 2001
hen, dass die Rekonstruktion von Wirklichkeit im Bild in mehrfacher Hinsicht wahr oder falsch, zutreffend oder manipuliert sein kann. Und dies sowohl in Bezug auf die visuell vermittelte Realität als auch retrospektiv auf die Bilder, die Realität konstruiert haben. Zur Erläuterung der Realitätsebenen möchte ich an dieser Stelle einen Aspekt hervorheben: In der Rekonstruktion ist nicht nur alles möglich oder rätselhaft genau so und nicht anders, sondern es ist auch möglich, dass bereits bekannte visuelle Rekonstruktionen kritisch reflektiert werden und
Das Experiment: Fiktion bezogen auf Realität und umgekehrt
damit das entworfene Bild von Realität korrigiert wird. Kurz: Man ist der Erprobung gleich Simulation und der Fiktion gleich Manipulation zwar ausgeliefert, zeitweise auch zwangsläufig, aber nicht endgültig. Und das ist gut zu wissen. Thomas Hoepker, der in New York lebende deutsche Fotojournalist und Präsident der Fotoagentur Magnum, hat am 11. September auf dem Weg zu seinem Büro ein Foto gemacht, das er mit Rücksicht auf nicht einschätzbare Reaktionen erst viereinhalb Jahre später veröffentlichte, also so lange unter Selbstzensur stellte. Es ist zeitgleich zu den Ereignissen entstanden, bringt aber eine völlig andere Beobachterperspektive zum Ausdruck.38 Vom Hintergrund der Skyline Manhattans reichen die Rauchfahnen des gerade zerstörten WTC bis in den Vordergrund, wo fünf Personen an diesem „wunderschönen“ Tag zusammengekommen sind. Um diese Szene zu entschlüsseln, muss man wissen, warum die Leute diesen Ort aufgesucht haben und worüber sie gesprochen haben.39 Dass das Foto irritiert und befremdet, ist nach der Veröffentlichung bemerkt und kommentiert worden und zwar dahingehend, dass die „jungen Leute“ unbeteiligt an dem Geschehen ein Picknick 38
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I live on the Upper East Side of Manhattan and, being a seasoned photojournalist, I followed my professional instinct, trying hard to get as close as possible to the horrendous event. When I heard that the subway had stopped running I took out the car, only to get stuck immediately in traffic on Second Avenue. I took my chances by crossing the Queensborough Bridge. Then, turning south into Queens and Brooklyn, I stayed close to the East River, stopping here and there to shoot views of the distant catastrophe, which unfolded on the horizon to my right. The car radio provided horrific news, nonstop. The second tower of the World Trade Center had just imploded; estimates of more than 20,000 deaths were quoted and later discredited.“ Thomas Hoepker: I took that 9/11 Photo http://www.slate.com/id/2149675/, Stand: 30.08.2008 „Thomas Hoepker took a photograph of my girlfriend and me sitting and talking with strangers against the backdrop of the smoking ruin of the World Trade Center on September 11th. Earlier, she and I had watched the buildings collapse from my rooftop in Brooklyn and had made our way down to the waterfront. The Williamsburg Bridge was filled with hundreds of people, covered in dust, helping one another make their way onto the street. It was clear that people who ordinarily would not have spoken two words to each other were suddenly bound together, which I suppose must be a fairly common occurrence in the aftermath of a catastrophe. We were in a profound state of shock and disbelief, like everyone else we encountered that day. Thomas Hoepker did not ask permission to photograph us nor did he make any attempt to ascertain our state of mind before concluding five years later that, „It’s possible they lost people and cared, but they were not stirred by it.“ Had Hoepker walked fifty feet over to introduce himself he would have discovered a bunch of New Yorkers in the middle of an animated discussion about what had just happened. He instead chose to publish the photograph that allowed him to draw the conclusions he wished to draw, conclusions that also led Frank Rich to write, „The young people in Mr. Hoepker’s photo aren’t necessarily callous. They’re just American.“ A more honest conclusion might start by acknowledging just how easily a photograph can be manipulated, especially in the advancement of one’s own biases or in the service of one’s own career.“ Slate: It’s Me in That 9/11 Photo http://www.slate.com/id/2149578/; Stand: 30.08.2008
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am Wasser veranstalten. Das war aber nicht der Fall, wie sich herausstellte. Die auf dem Foto abgebildeten Personen haben sich gemeldet und ihre Sicht der Auseinandersetzung mitgeteilt. Sie waren von den Ereignissen schockiert und haben sich an diesem Ort darüber ausgetauscht. Das Foto suggeriert eine Lesart, die nicht auf der medialen Vermittlungsachse der Medien liegt. Es verhält sich asymmetrisch zu dem Ereignis. Erst, wenn man weiß, dass die Gruppe im Vordergrund an der sichtbaren Katastrophe im Hintergrund ganz bewusst partizipiert, kann man den ersten, oberflächlichen Sofort-Eindruck, der genau das Gegenteil besagt, korrigieren. Der Fotograf Hoepker hat ein Motiv entdeckt, einen Schnappschuss gemacht. Daraus kann man ihm keinen Vorwurf machen. Das ist sein Beruf. Er wollte dokumentieren, was der Sache nach an diesem Ort der Fall war. Jedoch liegt das fotografische Ergebnis auf der Ebene geschäftstüchtiger Wirklichkeitsmanipulation, denn eigentlich hätte der Fotograf auch „sehen“ müssen, mit was für einer Situation er es zu tun hatte und Zweifel an der vermeintlichen Idylle der Gruppe im Vordergrund haben können. Das Problem hat im ersten Augenblick auch der Betrachter. Glaubt man den Aussagen der abgebildeten Leute, ist hier eine visuelle Vermittlung von Realität am Werk, die mit den Ansätzen des Fotojournalismus nicht zu fassen ist. Dass es zu diesem Zeitpunkt in New York Menschen gegeben haben könnte, die dieses Ereignis nicht existentiell tangierte, kann man zwar nicht ganz ausschließen, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Das Foto selbst dokumentiert, indem es eine scheinbar unbeteiligte Personengruppe im Kontrast zur Katastrophe zeigt, eine kulturell konditionierte Bildsicht, die beispielsweise Erinnerungen an das „Frühstück im Freien“ von Edouard Manet evoziert und weniger dazu beiträgt, das Ereignis visuell verständlich zu machen. Während Jeff Wall die Inszenierung von Realität befragt und deren ästhetische Konstruktion vor Augen führt, wird von Thomas Hoepker die Realität fotografisch ästhetisiert, ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt, also eine Lesart erfunden, die nur bildlich existiert. Mehrere Aspekte von lokalen Bedingungen und Besonderheiten einerseits sowie allgemeinen Merkmalen und vergleichbaren Topologien andererseits greifen ineinander. Gerade der fotografische Augenblick von Hoepker zeigt ein spezifisches lokales Ambiente und ist deshalb auf Anhieb nicht verständlich, während bei Jeff Wall die angehaltene Zeit wie eine eingefrorene Standbildrealität lokal nachvollziehbar erscheint, auch wenn man nicht erkennen kann, wo das ist und warum das so ist. Beide Fotos sind Global Images. Sie tragen zum Verständnis bei, wie Weltbilder alltäglich unter den Bedingungen ihrer massenhaften Verbreitung funktionieren. Hoepker macht dies auf zufällige Weise, dabei aber entschlüsselnd und mit Nachdruck deutlich. Wall zeigt exemplarisch, was in Weltbildern, die sich im täglichen Gebrauch abschleifen, uneinsichtig ist. Wir unterscheiden hier die Praxis in der Verwendung und Wahrnehmung von Bildern von den Annahmen, die wir von Bildern haben bzw. durch den ständigen Gebrauch setzen.40 Die visuelle Konstruktion fingierter Realität ist bei Jeff Wall 40
Der Gebrauch der Bilder – wie er hier analysiert wird – wendet sich gegen eine vordergründige Unterscheidung von Gebrauchs- und Kunstbildern. Vgl. Stefan Majetschak: Sichtvermerke. Über Unterschiede zwischen Kunst-
Zur Frage der Realitätskonstruktion: Das Medienereignis
ein Beleg dafür, dass es nur Bilder, eben Global Images mit lokalen Besonderheiten, aber kein Bild von diesen globalen Zusammenhängen gibt. Indirekt machen die visuellen Studien von Jeff Wall und die narrativen Experimente von Paul Auster deutlich, dass es etwas nicht gibt oder etwas sich nicht einfinden will, was der Konstruktion der Bilder ihren Bauplan verleiht: Die Realität.
Zur Frage der Realitätskonstruktion: Das Medienereignis Die Rezeption setzte bereits während des Ereignisses ein.41 Nachrichtensender wie NBC reagierten schnell und präzise, sie verfügten über die Macht der Bilder. Nicht alle Fernsehsender waren prompt zur Stelle und andere Medien – wie Radio oder Printmedien – reagierten eher langsam und oft auch hilflos. Das Medienereignis hatte eine intermediale Dimension: Was ist das geeignete Medium, das schnellere Medium? Die Frage beantwortet sich vor allem inhaltlich, denn nur wenige Nachrichtensender verfügen über Kompetenzen, ihren Gegenstand selbst zu thematisieren. Es war eine Tragödie in medial ungleichen Echtzeiten, unzähligen Live-Berichterstattungen, die oft von vornherein gegenüber dem Ereignis selbst mit Zeitverzögerung oder lokal bedingter Zeitverschiebung einhergingen, d.h. nicht „live“ waren. Erst nach schier unglaublicher Zeitverzögerung, die sich über Stunden, Tage, Wochen hinzog, nachdem also alle möglichen Medien wieder ihr alltägliches Geschäft betrieben, wurden die Bilder nach und nach wieder in Geschichten, die um sie herum erfunden wurden, medial integriert und damit auch neutralisiert. Radiosender taten sich besonders schwer, auf aktuelle Sonderberichterstattung umzuschalten. Dauerpräsenz heißt eben nicht automatisch, die Sendung unterbrechen zu können bzw. die Einförmigkeit mit Botschaften zu durchbrechen und zu sagen, was gerade geschieht. Dazu muss man auch eine Meinung entwickeln und über eine entsprechende Haltung verfügen. Nur allzu leicht übersieht man, dass der tradierte Zuschauer und Leser nicht nur auf diese Rolle festzulegen ist, wenn er mit den Informationen medientechnisch umgeht. Wie realisiert und verarbeitet beispielsweise der Nutzer im Internet Informationen? Inwieweit ist er auch Akteur? Man darf vermuten, dass er nicht nur ein passiver Konsument ist, sondern dass er medientechnisch mehr aus seiner Rolle macht, indem er zwischen den Medien schaltet, die vielschichtige Kommunikationstechnologie zu nutzen weiß, anderen einen Kommentar auf einem Webblog hinterlässt oder spontan eine SMS schickt, die weiter verlinkt wird und nebenher wie sonst in Zeitungen und Zeitschriften
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und Gebrauchsbildern, in: Majetschuk, Stefan: Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S.111. Aus der Vielzahl der Analysen möchte ich nur eine herausgreifen: Stephan Alexander Weichert: Von der Live-Katastrophe zum Mediendenkmal, in: Beuthner, Michael; Buttler, Joachim; Fröhlich, Sandra; Niverla, Irene; Weichert, Stephan A. (Hg.): Bilder des Terrors – Terror der Bilder. Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003, S.74-102.
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blättert und das Gespräch mit anderen sucht. Über die intelligente Mehrfachnutzung wissen wir noch nicht viel, außer, dass wir bezogen auf das Medienereignis 9/11 subsumieren können, dass eine Festlegung auf die Rolle des Mediennutzers durch das Fernsehen zu einseitig ist. Erstens: Tendenziell dürfte das Internet dem Massenmedium Fernsehen den Rang abgelaufen haben, wenn es um die Nachhaltigkeit der Information geht, sogar wenn man berücksichtigen muss, dass überaus professionelle Nachrichtensender wie CNN auch im Internet präsent sind. Zweitens löste 9/11 eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Online-Tagebücher der Weblogs aus, die schon seit Mitte der 90er Jahre existieren und damit eine der wichtigsten Säulen des Web2.0 darstellen. Das Mitteilungsinteresse vieler New Yorker, aber auch vieler Amerikaner aus anderen Städten, die ihre Meinungen, Augenzeugenberichte und Aufklärungen in Form von internetspezifischen Tagebüchern, bestückt mit Fotos, Sound und oft eigenen Videos selbst veröffentlichen wollten, hat dieser Entwicklung ganz sicher einen Schub gegeben, ohne dass man das im Nachhinein noch beweisen kann. Dass daraus eine ungeahnte Welle kommentierfähiger Content Management Systems hervorgehen würde, kann man nur vermuten. Auf jeden Fall sind die kommentierfähigen Weblogs eine wesentliche Voraussetzung für die rasante Zunahme von Social Communities im Internet. Technisch gesehen sind die Tools der Social Communities im Internet neutral, ihr Gebrauch hängt davon ab, für welchen Zweck sie eingesetzt werden.42
Die Zuverlässigkeit der Nachrichten
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In den Mitteilungen dominanter Medien der westlichen Gesellschaften überwiegt eine Tendenz: „Bemerkenswert bei all dem ist zunächst, daß das Verbrechen in den Ordnungsrahmen der Heilsgeschichte (‚good versus evil‘) und nicht in den des Rechts eingeordnet wird, der Anschlag damit gegen die Welt-, nicht gegen die Rechtsordnung verstößt.“43 Unter diesem Diktum kommt es zu einer erschreckenden Bilanz hinsichtlich der Unabhängigkeit und des journalistischen Bewusstseins in den westlichen Demokratien. In einer Mischung aus Endzeit-, Untergangs-, und Kriegsphantasien, die uralte Klischees von Angst und Bedrohung bedienen, werden ungeprüft Pressemitteilungen gesendet, kommentiert und somit ein sensationsgeschürtes Meinungsklima und ein diffuses Wertegefühl erzeugt, die Redlichkeit vermissen lassen. Vor allem die Regel der Unschuldsvermutung, die Verdachtsmomente erst ausspricht, wenn sie überprüft sind, wurde auf fahrlässige Weise missachtet. Zwar haben die Massenmedien die Ereignisse zunächst nur vermittelt und nicht kreiert, jedoch dabei Einfluss genommen.44 42
Siehe hierzu auch Gert Lovink: Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S.17f.
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Marie L. Bernreuther: Made in USA: Realitätskonstruktionen nach dem 11. September, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2004, S.34. Tod und Angst haben an Unterhaltungswert im amerikanischen Fernsehen gewonnen und hier vor allem in den filmisch teilweise sehr innovativen
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Die Zuverlässigkeit der Nachrichten
An der Tatsache, dass mit der Haupttendenz von Pauschalverdacht und Vorabverurteilungen auch „Fakten“ geschaffen wurden, die die Wahrnehmung vieler Menschen regulierten, kommt man allerdings nicht vorbei. Oder anders gesagt: Wenn der Konformitätsdruck auf ein gemeinsames Feindbild darauf hinaus läuft, Appelle an demokratische Gemeinschaften zu erzwingen, Annahmen zuzulassen, ohne dass diese überprüft werden, ist damit auch die Glaubwürdigkeit eines großen Teils der global operierenden Massenmedien diskreditiert. Auf eine rechtsstaatliche, transnationale Perspektive zu setzen, ist die einzige Möglichkeit, die nicht nur ein medial mündiger Weltbürger hat, um politischen Missbrauch geltender Gesetze zu erkennen und dagegen vorgehen zu können. Anzumerken ist hier, dass die rechtsstaatliche Perspektive, die ich bevorzuge, jedoch nicht umhin kommt, die rechtsverletzenden Motive des Terrorismus einerseits den rechtsbegründenden und rechtserhaltenden Voraussetzungen von Macht und Gewalt, dessen Monopol Gemeinschaften auf den Staat übertragen, andererseits gegenüberzustellen: „Der Staat hat das Monopol des Politischen, zu entscheiden, wer der Feind ist, und kann rückwirkend, sozusagen bei der Staatsgründung, die Gewalt rechtfertigen. Der Terrorismus macht das vorauswirkend. Wenn er dann gewinnt, kann er rückwirkend sich genauso wie der Staat bestätigen. [...] Das ausstehende Recht rechtfertigt rückwirkend die Gewalt. Erst die Zukunft erzeugt die Deutbarkeit der Gewalt, die rückwirkende Lektion der Gewalt, ob sie z.B. von Terroristen oder Freiheitskämpfern stammt.“45 Journalistische Sorgfaltspflicht weicht einem Zwang zu atemloser Aktualität, die auch im Nachhinein keine Scham erzeugt. Man muss es in aller Deutlichkeit festhalten: „Der Großteil der Rezipienten wird lediglich mit Bruchstücken, vorselektierten Facetten der politischen Wirklichkeit konfrontiert; es handelt sich dabei durchgehend um Nachrichtenwerte, von denen man sich die höchste Aufmerksamkeit und eine ungeteilt positive Publikumsresonanz verspricht, wobei allerdings die Schnittmenge zwischen Realität und medial konstruierter Realität relativ klein ist. Dem Publikum, das an diese Selektion und Präsentation politischer Berichterstattung seit langem gewöhnt ist, wird dieses Defizit weitgehend nicht bewußt.“46 Gemessen an journalistischer Redlichkeit, kritischer Distanz und überprüfbarer Informiertheit ist die Medienberichterstattung zu 9/11 einerseits ein Skandal, der bis heute noch nicht ausreichend aufgearbeitet und verstanden Serien von HBO: „After 9/11, death was displaced into entertainment, refigured in TV series, what Freud calls an ‚endopsychic perception‘. No television season has had more graphic representations of death, multilated corpses, and crimes of brutality than that of 2002/2003.“ Patricia Mellencamp: Fearful Thoughts: US Television Post-9/11 and the Wars in Iraq, in: Urricchio, William; Kinnebrock, Susanne (Hg.): Media Cultures, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S.263. 45
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Peter Weibel: Theorien zur Gewalt, in: Katalog Berlin: Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Austellung, hg. von Klaus Biesenbach, KW Institut for Contemporary Art, 2 Bde., Göttingen, Berlin: Steidl Verlag 2005, Bd. 2, S.54-55. Marie L. Bernreuther: Made in USA: Realitätskonstruktionen nach dem 11. September, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2004, S.57.
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ist: „Against all odds we still believe in the truth of media images, while there exists simultaneously an acute awareness that the media are there to picture our dominant beliefs.“47 Andererseits ist dieser Skandal auch ein Produkt der seit gut zweihundert Jahren immer effizienter werdenden Kommerzialisierung der öffentlichen Meinung, womit wir uns eingestehen, dass wir es mit einem Phänomen der Popkultur zu tun haben. Die ernüchternde Formel dazu lautet: „Pop wäre ohne die enge Verflechtung von Kommunikationstechnik und Kriegsführung, ohne die gigantischen Technisierungsschübe des ‚Vaters aller Dinge‘ nicht möglich gewesen. Pop ist Abfallprodukt und Waffe des Krieges zugleich.“48 Eine in dieser Schärfe oder Wortwahl möglicherweise überspitzt erscheinende These, die aber auf kritischer Analyse von Massenmedien fußt. So müsste Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe, nach gut einem halbem Jahrhundert formelhaft so lauten: Es gibt keine richtige in der falschen Medienkultur. Um das zu demonstrieren kann man die Stimme der Entrüstung anführen, die Susan Sontag als kritisches Gewissen medialer Öffentlichkeit eingenommen hat: „Die Einstimmigkeit der frömmlerischen, realitätsverzerrenden Rhetorik fast aller Politiker und Kommentatoren in den Medien in diesen letzten Tagen ist einer Demokratie unwürdig.“49 Dass diese Sicht der Dinge zwar noch richtig ist, aber nur noch bedingt stimmt, ist darauf zurückzuführen, dass sie sich „Gott sei Dank“, möchte man hinzufügen, fast von allein erledigt, d.h. relativiert hat, denn der Teufel steckt im Detail komplexer Zusammenhänge. Das Schema von absoluter Gewissheit, die sich verleugnet, um das Wahre und Ganze in der Verneinung denken zu können, kann aufgegeben werden. Wenn entscheidende Probleme entdeckt, aufgezeigt und zugegeben werden, sind sie sehr kleinteilig, verdreht, versteckt und – in bestimmten Momenten – hochgradig gefährlich. Für jeden, der unkritisch mitmacht. „Es kann jeden erwischen.“ Kritik heutzutage kann also die Verabsolutierung in der Negation getrost aufgeben. Der kritisch gute Partner, der Teufel, steckt in Fakten, die ans Licht ihrer verdrehten, abgewandten Seite treten können. Diese herauszuarbeiten, lässt auf kurze Zeit das ganze System medialer Macht durcheinander purzeln oder schamhafte Abbitte tun, etwa wenn der frühere amerikanische Außenminister Colin Powell der globalen Öffentlichkeit eingestehen muss, unter „falschen“ informationspolitischen Vor-
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Bärbel Tischleder: Plump with Fuel, Ripe to Explode: Media Aesthetics after 9/11, in: Urricchio, William; Kinnebrock, Susanne (Hg.): Media Cultures, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S.272.
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Dazu ist anzumerken: Dieses Zitat bezieht sich auf die historische Entwicklung von Militär- und Unterhaltungsmusik und auf die Beziehung von Formen der Massenunterhaltung und Kriegstechnik. Von daher passt es in den hier diskutierten Zusammenhang. Susan Witt-Stahl: Beats für die Heimatfront: ‚Let’s Get Loud‘, in: Helms, Dietrich; Phleps, Thomas: 9/11 – The world’s all out of tune. Populäre Musik nach dem 11. September 2001, Bielefeld: transcript Verlag 2004, S.35.
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Susan Sontag: Feige waren die Mörder nicht, in: Amis, Martin; Auster, Paul; Begley, Louis u.a.: Dienstag 11. September 2001, 2. Aufl., Hamburg: Rowohlt Verlag 2001, S.35.
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aussetzungen den Krieg im Irak begonnen zu haben. Damit wurde im Nachhinein eine zentrale (völkerrechtliche) Legitimierung für den Krieg, dass der Irak über chemische und biologische Waffen verfügt habe, hinfällig.50 In dem hier diskutierten Zusammenhang interessiert vor allem die visuelle Vermittlung von Realität. Wenn die Haupttendenz der Medien darin besteht, eine mediale Realität auf der Grundlage von Vermittlungs- und Darstellungsebenen zu konstruieren, ist man darstellungstechnisch fast auf dem gleichen Niveau wie bei der fotografisch konstruierten Bildrealität von Jeff Wall. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied. Während man die Interessen und Motive, die ein unzureichendes und auch „falsches“ Bild von Realität in der Weltöffentlichkeit ergaben und ergeben, analysieren, kritisieren und rückblickend auch korrigieren kann, lässt sich in dem hier besprochenen Bild von Jeff Wall das Drehbuch zu einem Vorfall studieren, der wie ein militärisches Planspiel ein Votum für eine so und nicht anders ausfallende Konstellation vorschlägt. Bildliche Realität dient somit als Kriegsschauplatz des Schicksals. Man darf das noch etwas weiter fassen: Man möchte das Schicksal, sprich das Zusammentreffen der Dinge und Leute in diesem Moment so global wie das Wetter erforschen, um lokal zutreffende Aussagen machen zu können. In diesem fingierten Realitätsverständnis kündigt sich ein Wandel an. Die Konstruktion von Realität löst sich von linearen Linien kausaler Geschichte(n), und weil es noch nicht so weit ist, zirkuläre, prozessuale Verbindungen sichtbar zu machen, verirrt es sich in zwangsläufigen Kombinationen. Die visuelle Rekonstruktion von Realität, die Jeff Wall vorschlägt, gehört einer Zeit an, die darauf wartet, von anderen Weltbildern abgelöst zu werden.
Künstlerische Auseinandersetzungen mit 9/11 Hans Haacke hat den bildhaften Kern des WTC als Zeichen herausgearbeitet.51 Zwei Rechtecksäulen als Schablone reichen bei seinen Plakataktionen in den belebten Straßen New Yorks aus, um auf andere Bilder einen identifizierbaren „Schatten“ der Silhouette des WTC zu werfen. „Ikon“ nennt Charles Sanders Peirce solche visuellen Merkmale. Sie sind in seiner semiotischen Theorie ein Aspekt des Zeichens, welcher durch die Gegenstandsähnlichkeit des jeweiligen Zeichens zu dem von ihm bezeichneten Objekt charakterisiert wird. Die bildhafte Anwesenheit zweier Rechtecksäulen verweist auf die sichtbare Existenz 50
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,283464,00.html
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„Anfang Oktober 2001 lud Creative Time, eine gemeinnützige Organisation zur Förderung von Kunst im öffentlichen Raum, dazu ein, Plakat-Vorschläge zur Erinnerung an den Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September einzureichen. [...] Im März 2002 [...] produzierte Creative Time das Plakat. An etwa 110 Plakatwänden in Manhattan wurden diese ausgestanzten Papiere über bereits existierende Plakate geklebt, deren Laufzeit überschritten war.“ Siehe Katalog Hamburg: Hans Haacke. Wirklich. Werke 1959-2006, hg. von Matthias Flügge und Robert Fleck, Deichtorhallen Hamburg, Akademie der Künste Berlin, 2006-2007, S.233.
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eines kulturell erworbenen Zeichens und damit auch auf die Erinnerung z.B. der Passanten, die dieses dekodieren und die Sache visuell erkennend weiter benennen. Ohne die konkrete Benennung ist der bildhafte Kern unvollständig. Auch andere Dinge könnten so aussehen. Im März 2000, d.h. eineinhalb Jahre vor dem Anschlag, öffnete die Künstlergruppe Gelatin eine geschlossene Fensterfront in einem Büro im 91. Stockwerk des WTC und brachte dort für eine kurze Zeit einen Balkon an, auf den man heraustreten konnte, wie eine fotografische Dokumentation und Videos belegen und damit auch demonstrieren, was man trotz vieler Einschränkungen und Sicherheitsvorschriften machen konnte, um diesen beiden Hochhäusern eine andere Sichtweise zu eröffnen, sozusagen ein Trotzdem der Phantasie gegenüber dem Gleichlauf von Wirklichkeit.52 Ein Blick von dem eher winzigen Balkon – befestigt an einem der beiden riesigen Türme über Manhattan – war sicherlich ungewöhnlich und in der verschwiegenen Projektdurchführung auch riskant, auf jeden Fall unbemerkt möglich. Wenn man Piereangelo Maset folgen will, stellt die Künstlergruppe Gelatin der Monumentalform der Türme eine minimale, architekturkritische Intervention gegenüber.53 In der künstlerischen Intervention wird etwas sicht3. Zwei Balken, Montage des Verfassers bar: Monumentalität ist schwach und angreifbar. Wusste man das nicht vorher auch schon? Goliath fällt durch David. Wenn die Signifikationsmacht auf subversive Weise unterminiert wurde, ist das kein Beweis für die Anfälligkeit von Monumentalität und wirtschaftlicher 52
„the work of gelatin evolves from desires about situations we miss and we want to be in. the project balcony has been developed from a very strong desire to step outsite a window on 91. floor. [...] the balcony is a prefabricated construction, made by gelatin. [...] one window will be taken out. [...] sunday morning has been chosen as the date, because of being less populated on the streets and inside the building. [...] one gelatin at a time will step out on the balcony. balcony will be pulled back in at 06.25. am. window will be put in. balcony will be dismanteld.“ Gelatin: The B-Thing, Text von Rubinowitz, Fotos von Maria Zieglböck u.a., Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2001, o.S. Siehe auch Dokumentation mit Fotos und Skizzen u.a. im Internet: http://wtc.window.to/
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Pierangelo Maset: Die Kunst und der 11. September 2001, in: Lorenz, Matthias N. (Hg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S.187. (Film – Medium – Diskurs, Band 4).
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Macht, sondern in erster Linie ein Hinweis darauf, dass Realität in medialen Alarmzustand versetzt werden kann und Sicherheit monumentale Ausmaße angenommen hat. Es wäre schön, wenn die künstlerische Intervention zeigen könnte, wie die schwerfällige Kontrolle des Systems dazu führt, dass dieses in sich zusammen stürzen wird. Doch warum? Was wäre dadurch gewonnen? Wird Realität nicht konstruiert, sondern bildlich rekonstruiert, verschiebt sich der Blick auf Vorhandenes ganz entscheidend. Und zwar deshalb, weil gemeinhin eine Rekonstruktion von Realität eine Einschränkung von etwas Geschehenem voraussetzt. Man kann noch weiter folgern: Konstruktion und erst recht Rekonstruktion von Realität verfügen über Zeit, die in inszenierten, fingierten, erfundenen oder dokumentierten Situationen sich ereignet, unabhängig davon, ob sie eintrifft, eingetroffen ist oder eintreffen wird. Zu überlegen wäre, inwieweit die Verfügung, d.h. Konfektionierung konservierbarer Zeit, den existentiellen Augenblick negiert. Über die vermittelten Ausschnitte von Realität fällt ein medialer Filter, der die Zeit seiner Entstehungsbedingungen nie abschütteln kann. Es gibt also keine ungefilterte Realität, wenn diese vermittelt wird. Diese die Zeit zwar absorbierenden Filter altern wiederum sehr schnell. Sie generieren Umstände, unter denen Bilder den Verlauf der Vermittlung nehmen. Daraus folgt, dass man mitbedenken müsste, was in Vermittlungsprozessen ausgeklammert wird, sofern das überhaupt im Nachhinein noch feststellbar ist. Das soll im Folgenden näher untersucht werden. Jeff Wall hat 1992 einen in seiner Arbeit folgenschweren Schritt vollzogen, indem er mit Schauspielern ein Bild wie ein Kriegsfoto inszenierte: „Dead Troops Talk“. Es nimmt Bezug auf den damaligen Afghanistan-Krieg. Prinzipiell funktioniert dieses Foto wie alle Arbeiten von Jeff Wall. Auf Anhieb kann man nicht sehen und sagen, was genau geschehen ist. Nur, für diese Art der Rekonstruktion hat Wall männliche Modelle in einem landschaftlichen Ambiente postiert, wodurch eine augenscheinliche Nähe zur Kriegsfotografie suggeriert wird. Jeff Wall arbeitet also ähnlich wie ein Historienmaler aus dem 19. Jahrhundert, um einen Vorfall aus der Zeitgeschichte darzustellen. Dieser immanente Bezug auf die Geschichte der Malerei, auf Historiengemälde etwa von Eduard Manet, ist beabsichtigt. Zeitgeschichte erscheint sozusagen im Modus des Historienbildes. Man kann unschwer erkennen, dass man es mit einer fiktiven Rekonstruktion zu tun hat. Das, was dargestellt ist, hat nicht stattgefunden, hätte aber und könnte dann möglicherweise so aussehen, wie in dem arrangierten Foto von Jeff Wall. Auch in Kriegsfilmen werden Situationen so simuliert bzw. arrangiert, wie es das Drehbuch vorgibt und mitunter so realitätsnah wie möglich inszeniert, weil originale Requisiten vom Militär für die Filmaufnahmen ausgeliehen werden. Hier jedoch ist eine Distanz durch das tradierte Bildgenre angezeigt. Man kann diskutieren, ob Jeff Walls Arbeit auf der Ebene von Historienbildern liegt oder nicht.54 Die Antwort fällt für mich klar aus, denn es ist in erster Linie eine Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte anhand medial verbreiteter Fotos zum Krieg in Afghanistan. Und wenn das mit Mitteln des Historienbildes formuliert 54
Georg Imdahl: Wenn die Zombies leuchten. Die Rätselbilder des Kanadiers Jeff Wall, FAZ, 22.04.1995.
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wird, lässt sich dagegen nichts einwenden. Aber dadurch, dass die Rekonstruktion unbestimmt gegenüber dem Zeitpunkt ist, an dem es sich ereignet, ist es auch ein Vorgriff auf etwas, was zu jeder Zeit eintreffen kann. Die Fiktion wird hier für den Betrachter, der in die Zeitgeschichte involviert ist, zu einem Problem. Hält man sich an den Bildtitel „Dead Troops Talk“, möchte man wissen, worüber die „toten Kämpfer“ reden. Der Widerspruch ist klar: Der Tod schweigt, und es klagen allein die Lebenden, die Überlebenden über den Verlust. Jeff Wall versucht etwas Merkwürdiges; es ist nicht auf Anhieb deutlich. In nachfolgenden Ausführungen möchte ich deshalb diese ungewöhnliche Bilderzählung – wie sie der Bildttitel nahe legt – dekonstruieren. Es ist das Ziel des Krieges, im Tod über den Feind auch das Ende des Krieges zu erreichen, den Gegner zu besiegen. Das ist der Zweck des Krieges. Im Kriegszustand wird die Macht der Vernichtung real. Als Todesmaschine erscheint sie als ein notwendiges Ziel, um etwas mit Gewalt zu erreichen, d.h. Leben zu beenden. Irritierend ist, wenn die Notwendigkeit der Durchsetzung von Macht mittels Gewalt bzw. die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit Mitteln des Krieges, die in den Grundgesetzen der Völkergemeinschaften zivilisationstechnisch einen Rahmen erhalten haben, aufgehoben werden und Kämpfer, die „tot“ sein müssen, reden.
4. Jeff Wall, Dead Troops Talk, 229 x 417 cm, Leuchtkasten, 1992
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Die Bildidee ist nicht nur gut gemeint. Sie macht den Tausch von Leben und Tod im Krieg obsolet. Damit rührt der Bildinhalt an die Bedingungen von Rekonstruktion: Nicht nur, was ist geschehen, sondern eben auch, nach welchem Schema geschieht hier was? So verstanden, ist Jeff Walls Bild ein sowohl realistischer als auch symbolischer Beitrag zu der Frage nach der Machbarkeit von Realität, die man sich und anderen aufzwingt: „Soldaten“, hier sind es klassische Krieger, die mit dem Einsatz ihres Lebens kämpfen, sollten reden, das heißt, sie sollten leben, dann könnten Feindbilder in Freundbilder umschlagen. „Helden“ wären sie erst dann, wenn sie den sinnlosen Tod und nicht den Gegner besiegen. Ist das nicht naiv, wird man einwenden und darauf hinlenken, dass so lange geredet wurde, bis keine andere Wahl mehr bestand, als zu den Waffen zu greifen? Im ständigen Gebrauch von Bildern, die ihnen den Krieg zeigen, sie immerfort auf die Unvermeidlichkeit des Krieges hinweisen, re-
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den Menschen im Wissen davon, was sie widersprüchlich gesagt voneinander trennt und nicht, was sie im Verhältnis zu anderen verbindet. Es geht an dieser Stelle nicht darum, die begrenzten Möglichkeiten des stummen Bildes zu erkennen, sondern vielmehr die Beredtsamtkeit einer finalisierten Konstruktion von Realität zu begreifen, die rekonstruiert ist. Das „Bild“, das wir uns mittels Bildern von Realität machen, aber nicht sehen, ist gefährlich, es ritualisiert die Erwartung des Todes, die Vernichtung des bloßen Lebens. Darüber kann man sprechen und dadurch wird etwas sichtbar: Man kann sich mit einem widerständigen Nachfragen einmischen. Will man eine solche Widerständigkeit bildlos verankern, liefe das darauf hinaus, eine strukturelle Idee festzulegen, die ein Recht auf Widerständigkeit der Person, die redet, begründet. Die Begründung selbst kann nur sein, dass die, die eigentlich nicht mehr reden können, ihre Stimme erheben. Gestatten aber möchte man es auch den Lebenden als immer schon Toten. Möglicherweise ließe sich so auch eine Antwort auf die Voraussetzungen von Recht und Gewalt einkreisenden Fragen finden. Der oft missbrauchte und leicht missverständliche Begriff der Widerständigkeit wäre im Denkhorizont europäischer Grundlagen eine Chance, vielleicht kann er die Notwendigkeit eines Einspruchs jeder Person vor dem Recht, das immer nur festlegen kann, was wie im Leben der Lebenden geschehen soll, aussprechen. Das Projekt Mensch hat einen Haken, den Peter Weibel diskutiert: „Es stellt sich daher die Frage, wieso die Demokratie versagt hat, dass sie nicht in der Lage ist, den Menschen als Subjekt des Rechts vor den Zugriffen von Autorität und von Gewalt verteidigen zu können. Die Antwort muss lauten, dass eine Kritik der Gewalt nur erfolgreich sein kann, wenn ein System gefunden wird, in dem nicht der Mensch, sondern das Individuum, das Subjekt, das Rechtssubjekt gegen den Zugriff von Gewalt verteidigt werden kann.“55 Entgegen Weibel ließe sich sagen, es ist gut, dass dieses Projekt Mensch oder auch Projekt Moderne nicht nur einen Haken hat. Man muss dieses Verhaktsein in Widersprüchen auch fühlen können. Widerständigkeit wäre also ein Sagen bezogen auf Rekonstruktion von Realität, wenn die toten Soldaten in den Bildern als noch lebende Personen ihr Verhaktsein in Widersprüchen mitteilen würden. Was würden sie sagen? Das wissen wir nicht, denn wir sind nicht angesprochen; müssten es aber sein, denn wir, die Lebenden, können den Mund aufmachen und reden, bevor es zu spät ist. Wir sehen mittels Bildern (und Texten) darüber hinweg und erkennen damit anhand dieser Ausführungen, dass die Grenzen der zeithistorischen Bildmontage dort liegen, wo wir anfangen müssten zu reden. Wir suchen die Stütze gesellschaftlich vernünftigen Lebens im Recht. Dass der Buchstabe des Gesetzes, dem ein Recht auf Gewalt innewohnt, tötet, weiß man als Akteur im Leben und als Zuschauer der Geschichte, und man weiß es als Konsument der Massenmedien. Und man weiß auch um die Schaulust, die niemandem wehtut und den herrschenden Verhältnissen dient. Wie aber 55
Peter Weibel: Theorien zur Gewalt, in: Katalog Berlin: Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Austellung, hg. von Klaus Biesenbach, KW Institut for Contemporary Art, 2 Bde., Göttingen, Berlin: Steidl Verlag 2005, Bd. 2, S.55.
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will man eine Erfahrung als Zeitgenosse vermeiden, die darauf angelegt ist, in die Falle ihrer Bestätigung zu laufen? Widerständigkeit wäre so gewendet kein begrifflicher Haken, an dem sich eine andere, neue Figur von Gemeinschaften befestigen ließe, sondern eine Form künstlicher Atmung, die man lernen muss, wenn man einmal die Perspektive toter Soldaten einnimmt. Widerständigkeit wäre sogar dort notwendig, wo scheinbar keine mehr möglich ist: „Lasst alle Hoffnung fahren“, hat Dante an die Eingangspforte des Infernos geschrieben. „Der Dichter steht unter dem Zwang, etwas zu verstehen, was sich dem menschlichen Verstand verschließt – die Natur der unendlichen Negativität, die ihren Schatten über sein Leben geworfen hat.“56 Dantes Beschreibung des trichterförmigen Abstiegs in die Hölle hat der Renaissance-Künstler Botticelli in einer fast filmisch zu nennenden Verkettung von Bildfolgen illustriert.57 Seitdem ist Dantes Version der Hölle auch bildlich vorstellbar, aber es war undenkbar, dass die Hölle einmal Wirklichkeit werden würde, bis der Holocaust das Gegenteil bewies. Das Schreckliche ist nicht dadurch abschreckend, dass es vorstellbar ist. Vier Fotos von Auschwitz aus dem Jahr 1944, die Häftlinge aufgenommen und angefertigt haben, sind überliefert.58 Didi-Huberman ist allen denkbaren und wahrnehmbaren Bezügen dieser Fotos nachgegangen und hat die Frage gestellt, welches Recht diese Fotos haben, wodurch sich Bilder legitimieren. Aus seinem Buch „Bilder trotz allem“, folgt nun eine Passage, die das hier diskutierte Wechselverhältnis von Fiktion und Realität durch eine Grenzfrage erweitert. „Wie ungenau das Bild der Hölle auch sein mag, der Wahrheit von Auschwitz gehört es dennoch an. Nicht nur die aufmerksamsten Kommentatoren des Phänomens der Konzentrationslager haben es verwendet 59, es durchzieht auch die Berichte der Opfer. Beinahe alle Überlebenden haben den Ort, dem sie entkommen konnten, als Hölle beschrieben.60 Die ‚SchiffbrüPeter Sloterdijk: Globen, Sphären. Makrosphärologie, Bd. II, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001, S.608.
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Siehe Katalog Berlin: Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie, eine Ausstellung des Kupferstichkabinetts Berlin, in Zusammenarbeit mit der Biblioteca Apostolica Vaticana, Vatikanstadt, der Agenzia Romana per la Preparazione del Giubileo, Rom und der Royal Academy, London, Ostfildern-Ruit: Cantz Verlag 2000, S.32. Siehe Abb. in: Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.28-31. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72 Vgl. vor allem F. Neumann, Behemot. The Structure and Practice of National Socialism, oxford-New-York 1942. H. Arendt, „Das Bild der Hölle“, a.a.O., S. 51 sowie E. Treverso, L’histoire déchirée, a.a.O., S. 71-99 u. S. 219-223. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72. Vgl. vor allem E. Kogon, Der SS-Staat, a.a.O., S.48-49, P. Levi, Ist das ein Mensch, a.a.O., S.20, É. Wiesel, Die Nacht, S. 56, C. Delbo, Auschwitz et après, II. Une connaissance inutile, Paris 1970, S.33-34, F. Müller, Sonderbe-
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chigen‘ selbst haben dieses Bild in all seinen Facetten bemüht. Bis hin zur Berufung auf Dante, wie einige Zitate in den Rollen von Auschwitz zeigen: Lewenthal nennt diese ‚Hölle‘ ein ‚Gemälde, dessen Anblick unerträglich ist.‘61 Gradowski hat in seinem Manuskript immer wieder Formulierungen verwendet, die mehr oder weniger direkt der Divina Comedia entstammen.62 Auf einer Mauer der Zelle 8 im Block II von Auschwitz hat ein polnischer Gefangener vor seiner Erschießung – eigenhändig in seiner Muttersprache – die berühmte Inschrift der Danteschen Höllenpforte eingeritzt: Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.63 In diesem Sinne gehört Dantes Hölle, dieser Höhepunkt abendländischer Einbildungskraft, auch der Realität von Auschwitz an: Sie geistert in den Gedanken zahlreicher Häftlinge umher und wurde selbst noch auf Wände gekritzelt. Primo Levi beschreibt sie immer wieder als einen ‚so menschlichen, so notwendigen und doch unerwarteten Anachronismus‘64. Zugleich erscheint sie selbst in den Aufzeichnungen der Henker: Wenn sie schlaflos waren oder das von ihnen organisierte Entsetzen sie ermüdete, ließen sich auch manche der verantwortlichen Nazis von der Danteschen Metaphorik tragen.65 Was bedeutet diese verwirrende Einstimmigkeit? Dass der Rückgriff auf das Bild unangemessen, lückenhaft und grundsätzlich unzulänglich ist? Mit Sicherheit. Also muss man ein weiteres Mal hervorheben, dass Auschwitz
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handlung, a.a.O., S.193, M. Buber-Neumann, Als Gefangene bei Stalin und Hitler, Köln 1952, sowie V. Pozner, Descente aux enfers. Récits de déportés et de SS d’Auschwitz, Paris 1980. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72. Zit. N. B. Mark, Des voix dans la nuit, a.a.O. S.266-267 u. 302-304. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72. B. Mark, des voix dans la nuit, a.a.O., S.191-240. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72. Dieses Graffiti ist abgebildet in: J.-P. Czarnecki, last traces, a.a.O., S.95. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72. P. Levi, a.a.O., S. 111 (sowie allgemein S.27 und S.108-111). Vgl. auch P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, S.141-142. Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.73. ‚Dantes Hölle ist hier zur Wirklichkeit geworden‘ (so äußerte sich der Kommandant Irmfried Eberl überTreblinka), zit. N. L. Paliakow, Auschwitz, a.a.O., S.150: ‚Heute denke ich, dass niemand, und sei es nur wegen der Tatsache, dass es ein Auschwitz gegeben hat, in unseren Tagen noch von Vorsehung sprechen dürfte; doch ist gewiß, dass in jener Stunde die Erinnerung an die biblischen Errettungen aus höchster Gefahr wie ein Windhauch alle Gemüter streifte.“
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undarstellbar ist? Mit Sicherheit nicht. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Auschwitz ist ausschließlich vorstellbar. Wir sind auf das Bild angewiesen, wir müssen den Versuch einer fundamentalen Kritik unternehmen, um die zwingende Notwendigkeit und die unvermeidliche Lückenhaftigkeit des Bildes zu begreifen. Wenn man etwas über das Innenleben des Lagers erfahren will, wird man der Macht der Bilder früher oder später Beachtung schenken müssen. Man wird versuchen müssen, die Notwendigkeit der Bilder zu verstehen, auch wenn es ihre Bestimmung ist, immer im Unrecht zu sein.66 Betrachten wir noch einmal die vier Fotografien, die im August 1944 der Hölle entrissen wurden. Unterliegt die erste Sequenz (Abb. 3-4) nicht einem Mangel an Information? Ringsherum Dunkelheit, dichte Baumreihen, Rauch: Hier ist wenig vom Ausmaß des Massakers, von den Details der Anlagen, selbst von der Arbeit des Sonderkommandos ‚dokumentiert‘.“ 67
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Es wird deutlich: Die Fotos zeigen nicht das, was sie nicht zeigen können. Sie sind Bilder bezogen auf den Holocaust; sie dokumentieren bloß, worüber man schreiben und reden kann. Wenn man den Fotos bescheinigt, dass sie die Zustände, die sie abbilden, dokumentieren, dokumentieren sie wiederum nicht das, was wir in ihnen sehen. Uns ist der Blick genommen, der in diesen Fotos angelegt ist. Es ist ein toter Blick der toten Technik. Die Fotos schauen uns an. Das Schreckliche, die perfekte Auslöschung des Lebens und derjenigen, die das vermitteln, sind nicht präsent. Man müsste mit den Toten reden; die Technik, die das vermittelt, haben wir schon. Nicht nur Jeff Wall hat mit „Dead Troops Talk“ eine problematische Nähe zur Zeitgeschichte unter den Bedingungen des Historienbildes überraschend offen thematisiert, sondern auch viele andere Künstler haben ebenfalls bekannte Vorfälle aus der jüngeren Geschichte aufgegriffen und rekonstruiert. Sie haben hierbei vor allem die medialen Bedingungen thematisiert. Bevor wir diesen Aspekt der Medialisierung von konstruierbarer und rekonstruierbarer Realität systematisch unter Hinzuziehung weiterer Künstler bedenken, soll zunächst noch ein weiteres Beispiel einer problematischen Rekonstruktion ausführlich vorgestellt werden. In dem Zyklus „10. Oktober 1977“ hat sich Gerhard Richter mit einem Ereignis aus der jüngeren deutschen Vergangenheit beschäftigt, indem er im wesentlichen Pressefotos zur terroristischen Eskalation aus dieser Zeit auf Leinwand malte. Anders gesagt, er übersetzte bereits publizierte und gesendete Bilder der Baader-Meinhof-Gruppe, der deutschen Roten Armee Fraktion, in SchwarzWeiß-Malerei. Für den Betrachter damals und heute ist somit eine formale Distanz zur Zeitgeschichte durch das Medium Malerei angezeigt. Die Malerei verhält sich neutral und gleichgültig zu den Vorfällen. Es sind schöne wie unschöne
Hier handelt sich es um eine Quelle aus der ausführlich zitierten Passage des Buches von Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.73. Vgl. P. Levi, Ist das ein Mensch?, a.a.O., S.150. 67
Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S.72f.
Künstlerische Auseinandersetzungen mit 9/11
Bilder der Täter, die dem Betrachter eine Wiederaneignung der Geschehnisse erlauben können, die er nur vermittelt und in der Regel unzulänglich genau kennt. Im Folgenden gebe ich eine komprimierte Zusammenfassung mir wichtig erscheinender Aspekte im Zyklus von Richter, die vom Leser hier auch übersprungen werden können (weiter auf S. 54), denn sie gehen mehr in Richtung einer Vertiefung schon angedeuteter Bildmotive.
5. Gerhard Richter, Beerdigung, 200 x 320 cm, Öl auf Leinwand, 1988
Zunächst einmal fällt auf, dass die Bilder auf formalem Weg eine Geschichte „erzählen“. Sie haben einen Verlauf. Darin wahren sie den Bezug zum Titel der Reihe, dem 18. Oktober 1977. Der Bildtitel der Reihe ist ein Datum. Dieses Datum gibt die Endphase terroristischer Eskalation in der BRD an. Bemerkenswert ist zweierlei: Erstens hat Richter Ulrike Meinhof, die zu den führenden Köpfen der RAF zählte, in seinem Zyklus abgebildet, während Hanns Martin Schleyer, der Arbeitgeberpräsident, nicht berücksichtigt wurde. Richter hat auf die (Abbildung der) Opfer der Terroristenanschläge verzichtet. Allein die Konfrontationsseite der Terroristen ist thematisch. Zweitens ist ersichtlich, dass Richter den 18.10.1977 zwar als Titel seines Zyklus gewählt hat, der Tag selbst jedoch nicht in seinen Bildern vorkommt. Dieser Tag im Kampf um Sieg oder Niederlage staatlich sanktionierter und garantierter Rechte ist denn auch kein zeitlicher Fixationspunkt, sondern ein gedanklich einzuholender Extrempunkt, der die Perspektive für jedes Einzelbild angibt. Die Bilder umfassen also mehr als einen historischen Zeitpunkt. Sie berichten auch von einem Davor und einem Danach. Eines ist „Jugendbildnis“ genannt, zwei berichten über die „Festnahme“, drei lauten „Gegenüberstellung“. Das wäre sozusagen die Vorgeschichte in sechs Bildern. Weiter geht es mit der „Zelle“ und dem „Plattenspieler“; es folgen die Todesbilder, die „Erhängte“, zweimal der „Erschossene“ und dreimal die „Tote“. Die Chronologie der Bilder endet mit der „Beerdigung“.
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Global Images: Eine Studie zur Praxis der Bilder
Der Zyklus Die 15 Gemälde bilden zunächst einmal einen chronologisch geschlossenen Zyklus. Diese chronologische Geschlossenheit resultiert aus den gewählten Malvorlagen. Sie gehen dem Prozess der malerischen Aneignung voran. Man findet in den unterschiedlichen Bildmotiven Genres: Interieur und Stillleben (Nahaufnahme), Portrait und Panoramabild (Fernsicht). Ihre Aufgabe hat die thematische Auseinandersetzung erst mit Beginn der malerischen erfüllt.68 Mit der chronologischen Geschlossenheit ist eine zweite, nämlich die ästhetische, verbunden. Indem die Malweise die fotografische Vorlage durch Abänderung der Schärfe, des Formates und Wiederholungen variiert, entsteht eine ästhetische Geschlossenheit. Das zeichnet den Zyklus insgesamt aus, macht die ausgewählten Motive untereinander vergleichbar. Verhältnis von Malerei und Fotografie Richters unscharfe Schwarz-Weiß-Gemälde überführen die fotografische Berichterstattung, d.h. die Dokumente des Bildjournalismus, die wiederum den polizeilichen Ermittlungsstand zitieren, in die Malerei. Der Transfer hat Folgen. Aus Sensationsbildern der Informationsgesellschaft werden Gegenstände unter den Bedingungen der Malerei. Das auf die Leinwand gemalte Bild unterscheidet sich durch die individuelle Aneignung von dem mechanischen Foto, auf das es sich als Abbild bezieht. Die Fotos erzählen, geben Aufschluss über einen politischen Vorgang, dokumentieren polizeiliche Ermittlungen, zeigen auch eine persönliche Geschichte, die vom „Jugendbildnis“ bis zur „Beerdigung“ reicht. Gegenüber den abgebildeten Informationen ist das Foto vermeintlich neutral.69 Diese Vorüberlegung ist notwendig, damit in den Bildern von Richter nicht die politischen Implikationen gesucht werden, die die Fotos der Sache nach haben.70 Die Frage ist, ob man der Malerei oder den fotografischen Vorlagen, die bekannt oder erschließbar sind, folgt. Die Reaktionen zu den ausgestellten Bildern in der Presse sind Zeugnisse des gesellschaftspolitischen Weiterwirkens der der Malerei zugrundeliegenden Fotos.71 Richter thematisiert nicht den Verbreitungseffekt des Fotos. Besonders das reproduzierte Massenbild führt die allgemeine Tendenz mit sich, das techni-
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In diesem Zusammenhang sind Richters Aussagen über den Status von Fotografie und Malerei beachtenswert. „Fotos sind doch fast Natur.“ Jan Thorn-Prikker und Gerhard Richter: Gespräch über den Zyklus ‚18. Oktober 1977‘, in: Presseberichte zu Gerhard Richter ‚18. Oktober 1977‘, hg. vom Museum für moderne Kunst und Portikus, Frankfurt am Main 1982, S.24. Kein Medium verhält sich neutral zum Gegenstand, den es wiedergibt.
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Mit Bezug auf die Herleitung der Fotografie als Waffe zum Sehen schreibt Norbert Bolz: „Erkennungsdienst statt Erkennungsbild – das ist die schlichte Wirklichkeit der photographischen Praxis ...“ Norbert Bolz: Theorie der Neuen Medien, München: Raben Verlag 1990, S.81.
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Siehe Presseberichte zu Gerhard Richter „18. Oktober 1977“, hg. vom Museum für Moderne Kunst und Portikus Frankfurt am Main, Köln: Buchhandlung Walther König 1989.
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sche Bild in das kollektive Gedächtnis zu heben bzw. dort zu verankern.72 Seine Malerei spielt weniger auf den massenhaften als vielmehr auf den individuellen Aneignungsprozess an.73 Der Versöhnungsgedanke Das grundsätzliche Problem des Gemäldezyklus scheint mir zu sein, die Betrachtung der Bilder durch gesellschaftspolitische Erwartungen zu überfordern. Problematisch ist die Dimension des Politischen schlechthin. Der Terrorismus dokumentiert das Scheitern einer politischen Haltung, die den Ernstfall wirklich durchführte. André Breton schrieb 1929: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe.“74 Richters Bilder annoncieren Leid. Seine Bilder sind ‚gelungen‘, weil sie dem Hervorbringen und Verbreiten von Bildern nicht den Prozess machen, sondern den Prozess des Bildes reklamieren; sie versöhnen in ganz unerhörtem Sinn durch das Nichtgelingenkönnen, sprich das fatale Ende der Bildgeschichten, die der Maler und der Betrachter kennen. Kann Kunst zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft vermitteln?
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Buchloh, der dem kunsthistorischen Aspekt der Historienmalerei im Stammheim-Zyklus nachgegangen ist, schreibt: „Unsere Behauptung, daß Richters Bilder 18. Oktober 1977 malerisch Widerstand leisten gegen die Gewalt der Polizeiphotographie und der kollektiven Verfolgung, ließe sich denn auch umkehren in der Behauptung, daß es gerade die Präzision der von Richter ausgewählten Photographien ist, die diese Bilder als spezifische Akte der Erinnerung gegen die allgemein herrschende Verdrängung wirksam werden lässt. Mehr noch: gerade indem sich diese Bilder an die gegenwärtig real operierende kollektive Verdrängung wenden, gewinnen sie eine historische und politische Dimension, die weit über die komfortable Willkür der GratisErinnerungen der gegenwärtigen Geschichtsmaler hinausgehen läßt.“ Benjamin H.D. Buchloh: Gerhard Richter: 18. Oktober 1977, in: Katalog Krefeld, Frankfurt am Main: Gerhard Richter 18. Oktober 1977, Museum Haus Esthers Krefeld und Portikus Frankfurt am Main, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König Köln 1989, S.58.
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Das Abbild stiftet Übereinstimmung und zwar dahingehend, dass vom Einzelnen vor den Augen der Anderen ein verbindlicher Wiedererkennungsnachweis abgelegt wird. Die malerische Verindividualisierung klopft an das Nichtidentische des technischen Bildes. Anders gesagt: Mit dem Aufkommen der Fotografie hat der Staat die Mittel erhalten, alle seine Mitbürger abzubilden, jedes Individuum in einem mechanischen Verfahren abzulichten bzw. jedem Staatsbürger einen Nachweis über sein Aussehen in die Hand zu geben. Eine vollständige Bilddatei im Besitz des Staates erreicht durch die elektronischen Medien einen neuen Stand des Schutzes, der Kontrolle und der Überwachung.
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André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek: Rowohlt Verlag 1980, S.56.
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Sowohl Wall als auch Richter beziehen sich auf Zeitbilder, deren Vermittlungsstrategien obsolet werden können, wenn der Betrachter sich auf die Frage der Rekonstruktion von Realität und damit auf deren zeitgeschichtliche Einordnung einlässt, kann etwas deutlich werden, was über die neutrale und theatralische Wirkung hinausgeht. Der Bildinhalt von Jeff Wall liefert von sich aus Anstöße allgemeiner Art, die der Betrachter aufgreifen kann. Die museale Distanz bei Richter reicht nicht aus, die Bilder in ihren Kontexten zu verorten. Unter den Bedingungen der Kunstausstellung war die Präsentation der Gemälde ein viel beachtetes Ereignis, worüber in den Medien berichtet wurde und damit auch eine Rückübersetzung in die mediale Welt, auf die Richter mit seinem Zyklus Bezug nimmt. Erst auf dieser Ebene des medialen Transfers gewinnen die Bilder die Distanz, die sie auch der Sache nach benötigen. Dass auch im Ausstellungsraum des Museums Zeitgeschichte rekonstruiert werden kann, zeigt die Berliner Ausstellung „Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF“ von 2005.75 Klaus Biesenbach ordnet die Ausstellung wie folgt ein: „Die KW widmeten das Jahr 2000/2001 einer Ausstellungsreihe, die den Titel Medienrealitäten trug. Zentrale These dieser Veranstaltungsreihe war die Beobachtung, dass die Medien die Wahrnehmung der Realität radikal beeinflussen und zu ersetzen scheinen, dass die Bilder und die Sicht der Medien oft die Sicht auf die reale Welt verstellen und verdrängen.“76 Indem im Ausstellungsraum bekannte und immer wieder verwandte Bilder von Tätern und Opfern sowie begleitenden Umständen mit Kommentaren verbunden und auf eine Zeitleiste bezogen werden, werden sie auch überprüfbar. Es ist so einfach wie schwierig zugleich, wenn die Ausstellung versucht, im Medium des Ausstellungsraumes einen Mediendiskurs zu führen. Die Vereinheitlichung der Bild-Text-Informationen auf gleichgroßen Zeit-Tafeln verschafft Vergleichsmöglichkeiten zwischen den diversen Quellen; sie eröffnet fernerhin eine Distanz zu den diversen Formaten und liefert somit eine Vorbedingung dafür, eine kritische Informationspolitik – wie sie Aby Warburg mit seinen Bildertafeln initiierte – vorzunehmen. Es gelingt, Unterschiede und wiederkehrende Gemeinsamkeiten von Bildern und Texten in parallel existierenden Medien zu beobachten. Hier ist ein guter Anfang, der weiter geführt werden muss, wobei natürlich einzugestehen ist, dass ohne zusätzliche Beschäftigung mit einschlägigen Büchern auch die konstruktiven Anregungen des durch die Ausstellung geschaffenen Informationsraumes unzureichend bleiben. Rekonstruktionen erzählen somit auch die Vermittlungsgeschichte durch Bilder. Sie verweisen darauf, wie Fakten, Quellen und Kontexte in Bezug auf Realität recherchiert, ungeprüft oder geprüft übernommen, manipuliert und neu erfunden werden. Realität existiert also nicht nur in dem Ausschnitt, in dem sie von den Zeitgenossen wahrgenommen wird, sondern auch in dem Zuschnitt, in 75
Katalog Berlin: Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Austellung, hg. von Klaus Biesenbach, KW Institut for Contemporary Art, 2 Bde., Göttingen, Berlin: Steidl Verlag 2005.
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Klaus Biesenbach: Engel der Geschichte oder Den Schrecken anderer betrachten oder Bilder in Zeiten des Terrors, in: Katalog Berlin: Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Austellung, hg. von Klaus Biesenbach, KW Institut for Contemporary Art, 2 Bde., Göttingen, Berlin: Steidl Verlag 2005, Bd. 1, S.9.
Künstlerische Auseinandersetzungen mit 9/11
dem sie vermittelt und persönlich sowie kollektiv erinnert wird. Kurz: Die Realität ist ein gesellschaftlicher Prüfstein ihrer Bedingungen. Sie kann nicht einfach vorausgesetzt werden, denn sie nimmt das Bild an, welches von ihr konstruiert und rekonstruiert wird. Manchmal bedarf es eines Anstoßes, damit Bilder der Erinnerung sich bemerkbar machen oder sich in der Öffentlichkeit als Ablagerungen des kollektiven Gedächtnisses zeigen. Man kann den Bildern nachsinnen, ihnen Fallen stellen oder ihnen als Nachbilder sozusagen auf die Sprünge helfen.77 Dies lässt sich durch zwei weitere Beispiele demonstrieren. Für die Dreharbeiten zu dem Film „Der Pianist“ hielt sich Roman Polanski an bekannte Archivaufnahmen des Warschauer Ghettos, in dem der Film größtenteils spielt. Folgt man dieser Vorgehensweise, symbolisieren die nach filmischen Dokumentationen und Fotos entworfenen Requisiten und Kameraeinstellungen historische Bezüge, die bereits dokumentiert sind.78 „Auch andere, allgemein bekannte Bildzitate – zum Beispiel aus dem häufig in den verschiedenen Medien unzählige Male verwerteten „Stroop-Bericht“ – hat Polanski in seinem Film nachinszeniert. Weitere, vielfach verwendete Filmsequenzen werden ebenfalls in dem Film quasi nachgestellt: etwa das Verladen von Deportierten in Güterwaggons mit dem Absperren der Türen und dem während der Abfahrt des anfahrenden Zuges diesen besteigenden Begleitpersonal.“79 Nur dann also, wenn man Kontexte und Quellen miteinbezieht, die im Kontinuum des Films Stück für Stück ausgeblendet werden, damit die filmische Erfindung des Ghettos und die Story funktionieren, erhält man auch einen Eindruck von den historischen Umständen, die gerade in Bezug auf den Holocaust niemals ausgeblendet werden dürften. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zuschauer des „Pianisten“ die Simulation der Ereignisse für sich „realisiert“, jedoch auf der Ebene der inszenierten Rekonstruktion ist er dem Kitsch des Kinos ausgeliefert. Ist die Rekonstruktion von Roman Polanski problematisch und irreführend, so zeigen die Arbeiten des Berliner Fotografen Demand einen anderen Weg der Wiederaneignung vermittelter Realität auf. Demand bildet im Modell nach, was auf tradierten, bekannten und aktuellen Medienbildern zu sehen ist, nur Dinge im Raum – ohne Menschen. „Raum“ von 1994 (183,5 x 270 cm) ist ein Foto von einem Papier-Modell, das Demand nach der Fotografie des 1944 beim
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„Was geschehen ist, ist geschehen, doch die Formen der Vergegenwärtigung können je nach Gruppierung, Zeitpunkt, Ort und Kontext des Erinnerns das Geschehene verschieden gewichten, darstellen oder gar vollkommen von ihm abweichen.“ Peter Friese: Nach-Bilder als Bildstörungen, in: Katalog Bremen: After Images. Kunst als soziales Gedächtnis, Neues Museum Weserburg Bremen 2004, S.65.
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Alle späteren Reportagen und Filme beziehen sich auf die wahrscheinlich einzige überlieferte filmische Dokumentation über das „Warschauer Ghetto“. Edgar Lersch: „Immer die gleichen Bilder?“ Der Beitrag der Mediendokumentation und Medienarchive zur Formung eines audiovisuellen kollektiven Gedächtnisses, in: http://www.mediendaten.de/fileadmin/Texte/Lersch03.pdf; Stand: 11.11.2008, S.117f.
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Anschlag auf Hitler zerstörten Führerhauptquartiers angefertigt hat.80 Jedes Detail ist schematisch korrekt nachgebildet. Es kommt Demand nicht auf eine abbildhafte Genauigkeit an, vielmehr reduziert er die Einzelheiten systematisch auf ein Level seiner Modellschärfe und erreicht so, dass dieses rekonstruierte Double die Frage nach seinem Original stellt. Man muss bei Demand die Erinnerung vermittelter Realität ins Bewusstsein rufen, um dann die gleichförmige Wiedervorlage mit dem „Original“ zu vergleichen. Was war das eigentlich genau? So wenig wie Polanski ein Archivar ist, so wenig ist Demand ein Archäologe der fotografischen Vermittlung von Realität. Seine Arbeiten sind faszinierend, aber auch nichtssagend problematisch und von daher unbefriedigend.81 Es ist nahe liegend, an dieser Stelle auf die filmische Rekonstruktion von 9/11 mit den Mitteln des Hollywood-Kinos einzugehen. Das soll hier nur sehr allgemein geschehen, denn zu diesem Thema gibt es bereits eine umfangreiche Literatur. Da die filmische Auseinandersetzung unter den Bedingungen des Erzählkinos bleibt, komplettieren die narrativen Muster die Vorstellung des Zeitgenossen hinsichtlich der Unvorstellbarkeit des Desasters. Insgesamt jedoch strebt das nacherzählende Kino letztlich eine fiktive „Wiederholung“ an und unterminiert somit die Möglichkeiten einer zweiten reflektierten Beobachtung, die mediale Ersterfahrung zu problematisieren. In den Filmen zu 9/11 kann das Kino allenfalls seine Produktionsbedingungen reflektieren und zeigen, ob es überhaupt eine relevante Verarbeitungsinstanz zeitgeschichtlicher oder historischer Ereignisse im Vergleich mit anderen medialen Bedingungen einnimmt. Zu den Möglichkeiten des Kinos schreibt Thomas Waltz: „Es muss die Ebene seiner medialen Involviertheit in das Ereignis reflektieren und zwar um den Preis, dass es das Ereignis in seinem politischen Kontext selbst, wenn schon nicht ausblendet, dann doch transkribiert.“82 Rekonstruktionen sind auf einen Nenner gebracht Wiederaneignungen und Reinszenierungen historischer Ereignisse, die meist durch Massenmedien vermittelt und bekannt geworden sind. Sie laufen auf eine kritische Korrektur einer zur Disposition stehenden Wirklichkeit hinaus.83 Das „Re“ hat Konjunktur; es konkurriert mit der zeitgleichen Inflation von Historie, dem Gütestempel von Ereignissen, die eine besondere Aufmerksamkeit erhalten, bevor sie wieder im Strom der Daten verschwinden. Sein Prinzip lässt sich auch auf wissen.
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Katalog New York: Thomas Demand, hg. von Roxana Marcoci, Museum of Modern Art, New York 2005, Abb. S.44f. Vgl. Niklas Maak: „In den Kulissen unseres Bewusstseins. Das New Yorker MoMa feiert in seiner ersten Einzelausstellung nach der Neueröffnung den Berliner Künstler Thomas Demand, in: FAZ, 15.03.2005, S.39. Thomas Waltz: Die Frage der Bilder. 9/11 als filmisch Abwesendes, in: Poppe, Sandra; Schüller Thorsten; Seiler, Sascha (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript Verlag 2009, S.230. Siehe hierzu Reformulierung als Wiederaneignung und Wiederverwendung von Begriffen, die wie z.B. der Begriff Utopie durch den Gebrauch verstellt oder belastet sind. Arthur Engelbert: Normalkultur. Kulturen im Dialog, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S.11.
Künstlerische Auseinandersetzungen mit 9/11
schaftliche Räume übertragen: Im Noch-einmal der Durchsicht zu den wissenschaftlichen Grundlagen sollen die Wechselbeziehungen der Disziplinen, die Wanderung ihrer Bezüge, gemeinsamer oder sich ergänzender Quellen aufgezeigt werden bzw. in der Wiedervorlage sollen „historische“ Voraussetzungen der Arbeitsfelder reaktualisiert und überprüft werden.84 „In der zeitgenössischen bildenden (Medien-)Kunst der letzten Jahre lässt sich eine auffällige Häufung künstlerischer Reenactments, also Re-Inszenierungen historischer Situationen und Ereignisse, beobachten. Ein Grund für die fast unheimliche Lust an der performativen Wiederholung scheint darin zu liegen, dass Welterfahrung, ob geschichtlich oder aktuell, immer weniger auf direkter Anschauung beruht, sondern heute fast ausschließlich medial, also über Bilder oder anderweitige Aufzeichnungen von (historischen) Ereignissen funktioniert. Geschichte scheint zu jeder Zeit und an jedem Ort präsent zu sein, gleichzeitig rückt aber auch jegliche Form von Authentizität durch diese permanente Verfügbarkeit medialer Repräsentation in weite Entfernung. In der heutigen Situation des potenzierten Spektakels herrscht eine zunehmende Verunsicherung darüber, was die Bilder bedeuten.“85 Eine dieser Wiederaneignungen im Kontext der Ausstellung „History will repeat itself “ ist das Milgram Re-enactment von 2002, basierend auf einem Experiment, das 1962 Stanley Milgram an der Universität von Yale in Connecticut durchführte, um anhand von Testpersonen sozialpsychologisch die Bedingungen nationalsozialistischer Verbrechen zu untersuchen. „Ein weiß gekleideter Wissenschaftler forderte die Testperson auf, einer dritten Person im Nebenraum bei fehlerhaften Antworten Elektroschocks zu geben, deren Stärke im Verlauf des Experiments zunahm (Das Elektroschockgerät wies eine Skala von 15 bis 450 Volt auf). [...] Trotz der aus dem Nebenzimmer zu hörenden Protestund Schmerzensschreie, die von einem Tonband eingespielt wurden, waren zwei Drittel der Versuchspersonen bereit, Stromschläge bis zum (tödlichen) Schock von maximal 450 Volt zu geben.“86 Die Wiederholung ist nicht nur eine Kopie ihrer Vorgabe, vielmehr überführt sie in diesem Falle die Zuschauer dazu, die Rolle der Testpersonen zu überprüfen. Das kann man auf der systemischen Ebene reflektieren: Die Diffe84
„Bei der Konferenz re:place 2007 präsentieren rund 50 Wissenschaftler und Künstler aus aller Welt ihre Forschung zu den historischen Interferenzen zwischen Technologie-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte. Unter dem Motto „re:place“ bildet die Verortung und die Migration von Wissen und Wissensproduktion im zwanzigsten Jahrhundert einen Schwerpunkt der Konferenz.“ http://www.hkw.de/de/ressourcen/archiv2007/replace/projekt-detail_3.php; Stand: 11.11.2008
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Inke Arns: History will repeat itself, in: Katalog Dortmund, Berlin, Warschau : History will repeat itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien)Kunst, hg. von Inke Arns und Gabriele Horn, Hardware Medienkunstverein (HMKV) Dortmund und KW Institut for Contemporary Art Berlin, Frankfurt am Main: Revolver – Archiv für aktuelle Kunst 2007, S.42.
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History will repeat itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien)Kunst, hg. von Inke Arns und Gabriele Horn, Hardware Medienkunstverein (HMKV) Dortmund und KW Institut for Contemporary Art, Berlin 2007/2008, S.94.
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renz liegt sozusagen auf der Ebene des Beobachters zweiter Ordnung, der nach Niklas Luhmann erkennt, was der Akteur im gehorsamen Vollzug der Aufforderung des Testleiters übersieht, nämlich, dass die Situation, in der er auf Befehl handelt, die Grundlagen gesellschaftlicher Regeln verletzt und damit auch den Rahmen der Situation, in der die Testperson sich befindet, überschreitet. Aber reicht das aus, um die Wiederholung des Experiments zu legitimieren? Entweder werden Experimente bestätigt oder widerlegt. Die Wiederholung einer Versuchsanordnung allein überzeugt nicht. Wahrscheinlich wäre es besser, auch die Voraussetzungen des Experiments, in diesem Fall der sich wandelnde Kontext der Testpersonen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit medialer Ereignisse erhalten in der Konfrontation mit dem re-inszenierten Gleichen eine Differenz, die die gleichförmige Vermittlung von Ereignissen (noch) nicht zulässt. Damit würde sich die Mediatisierung als historisch lernfähig erweisen, nicht im Sinne von „wie es einmal war“, sondern wie es unter Hinzuziehung anderer Perspektiven erst wirklich erscheint. Die Blindheit des Mediums, zumal des dominanten, hier des Fernsehens, erhielte so eine kritische Aneignung durch sich selbst, vergleichbar einem Historiker, der die Quellen einer vergangenen Epoche studiert, um den Verlauf z.B. politischer Handlungen von Einzelnen und Völkern so anzuordnen, dass sie lesbar werden. Allerdings verlangen Wiederaneignungen einen Schauplatz, der eine Differenz stiftet. Druckt z.B. die „Tageszeitung“ jeden Tag auch eine Seite von vor genau zehn Jahren oder sendet die „Tagesschau“ jeden Tag auch im Fernsehen eine Nachrichtensendung von vor zehn Jahren, ist dadurch allein noch keine mediale Differenz angezeigt. Die Wiederholung im Ritus der Wiederholung zu erleben, führt zu nicht viel, trotz der Versicherung von Gertrude Stein: Etwas anderes ist es, wenn die medialen Bedingungen im Raum einer Ausstellung sich verschieben und der Beobachter seinen Standort erkennen kann. Überprüfen lässt sich nicht, ob es zu einer Differenz kommt, und noch weniger scheint es eine Gewähr zu geben, dass es eine mediale Selbsterziehung gibt. Ohne die Texte, die zum medialen Gebrauch von Bildern, Ereignissen und Situationen geschrieben werden, kann ich mir keine faktisch verlässliche Diskussion zu diesen Versuchen bzw. Rekonstruktionen vorstellen. Wodurch sollten sie denn sonst überprüfbar sein? Es bedarf schon Geduld und Zutrauen, sich in der Informationsmenge nicht zu verirren bzw. viele Informationswege zuzulassen. Abschließen möchte ich die Diskussion über aktuelle Formen von Rekonstruktion mit dem Hinweis auf andere Arten der Bezugnahme. So ließe sich das Experiment der historischen Bezugnahme auch als Fortschreibung, Überschreibung oder Wiedervorlage dessen, was bis zu einem bestimmten Punkt schon einmal konstruiert und geplant wurde, konstruktiv abstrahieren. So würde die Geschichte von der Gegenwart lernen. Jüngstes Beispiel dazu hat Alexander Kluge mit seinem Projekt zu Sergej Eisenstein geliefert, der einen Film über „Das Kapital“ von Karl Marx beabsichtigte, aber nicht durchfühte.87 87
Alexander Kluge: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital, filmedition suhrkamp: Frankfurt am Main 2008.
Die große Familie der Bilder
Mir scheint, dass sich hier ein kritisch kreatives Feld der Bezugnahme auftut, in dem Fiktion und Realität mehrfach gegeneinander gewendet und getestet werden können.
Die große Familie der Bilder In der 1955 von Edward Steichen für das Museum of Modern Art in New York konzipierten Ausstellung „Family of Man“, die bis 1963 als Wanderausstellung in Europa und dem mittleren Osten ein großes Publikum erreichte, vielleicht die massenwirksamste Ausstellung (38 Länder, 91 Stationen) überhaupt, lässt sich die Tendenz der inhaltlichen Vereinheitlichung studieren. 1996 wurde „Family of Man“ als Dauerausstellung in dem Schloss „Chateau de Clervaux“ in der Nähe von Luxemburg ‚rekonstruiert‘.88 Dreierlei ist an dieser Ausstellung bemerkenswert: Erstens ist die Auswahl und Inszenierung der Fotos auf theatralische Wirkung hin angelegt. Der Besucher wurde affektiv angesprochen, thematisch einbezogen und medial integriert. Er war der Adressat dieser visuellen Inhalte, die er miteinander verknüpfte. Dazu brauchte er nur den Hinweistafeln oder der Appellstruktur der Inszenierung zu folgen. Zweitens ist die ideologische Agitation der Ausstellung eine doppelte. Sie vermittelt gesellschaftliche Werte des amerikanischen Lebensstils und propagiert diese als allgemein verbindlichen Humanismus unter den politischen Bedingungen des Kalten Krieges. Drittens ist die Ausstellung eine Reaktion auf die Schrecken des 2. Weltkrieges und den Abwurf der Atombomben in Japan 1945, die sich ins Bildbewusstsein der Nachkriegsgeneration eingeprägt haben. Der fotografierte „Atompilz“ gehörte zum Inszenierungskonzept von „Family of Man“. Das Gefühl in einer gemeinsamen Welt zu leben, in der es Bedrohung, Krieg, Geselligkeit und eine Zukunft in Wohlstand gibt, steht im Vordergrund und lässt über vieles andere hinweg sehen. Roland Barthes, der die Ausstellung 1957 in Paris aufgesucht hat, schreibt: „Hier zielt alles, Bildinhalt und Bildwirkung sowie die sie rechtfertigende Erklärung, darauf ab, das determinierende Gewicht der Geschichte aufzuheben. [...] Das Scheitern der Photographie scheint mir hier flagrant. Den Tod oder die Geburt noch einmal sagen, lehrt wörtlich gar nichts. Damit diese natürlichen Fakten zu einer wirklichen Sprache gelangen, müssen sie in eine Ordnung des Wissens eingefügt werden, das heißt: muß postuliert werden, daß man sie verwandeln kann, daß man gerade ihre Natürlichkeit unserer menschlichen Kritik
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Siehe hierzu auch die Ausführungen von Allan Sekula, der sich mit ‚Family of Man“ schon früh auseinandergesetzt hat. Allan Sekula: Zwischen dem Netz und dem tiefen, blauen Ozean. Den fotografischen Bilderverkehr neu überdenken, Between the Net and the Deep Blue Sea. Rethinking the Traffic in Photographs, in: Back, Jean; SchmidtLinsenhof, Viktoria (Hg.): „The Family of Man 1955-2001“. Humanismus und Postmoderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg: Jonas Verlag 2004, S.172,174.
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unterwerfen kann.“89 Während Barthes die Sprachlosigkeit eines vordergründig Allgemeinen kritisiert, erkennt Viktoria Schmidt-Linsenhoff gut ein halbes Jahrhundert nach Barthes einen Subtext, den die ausgewählten Fotos transportieren, weil sie die Schreckensbilder des Holocaust ausblenden, aber dadurch das Trauma, nach Auschwitz weiterleben zu wollen, deutlich macht: „Meine These ist, dass die opulenten Bildkaskaden, die die kulturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern der globalen Menschheitsfamilie nur entfalten, um deren wesenhafte Gleichartigkeit zu beweisen, keineswegs bedeutungslos-leere Signifikantenketten bilden. Sie sind vielmehr als eine ‚historische Schrift‘ zu lesen, die von dem Weiterleben nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz handelt.“90 Der Gegensatz in der Kritik von Barthes und Schmidt-Linsenhoff ist hier konstruiert. Einmal zeigen die Fotos weniger, ein anderes Mal sagen sie mehr. Beide Male ist es ein negatives Argument gegenüber dem, was fehlt bzw. im Mangel gerade zugestanden wird. Einerseits reicht ihre „Sprache“ nicht aus, andererseits verdecken sie höchst offensichtlich eine an6. Here is New York, Beispiel aus der dere. Ich erachte Schmidt-Linsenhoffs Menge der vielen eingesendeten Fotos, Argument für nachvollziehbar, aber die von Einwohnern der Stadt am 11. nicht für konsequent, denn ich erkenSeptember 2001 gemacht wurden. ne nicht, dass sich eine traumatische Erfahrung manifestiert, es sei denn, man stimmt der Autorin zu, dass im Ausblenden der Schreckensbilder auch die Leugnung des Holocaust latent enthalten ist. Die Trivialität der fotografischen Inszenierung lässt Schreckensbilder zu, jedoch nur auf der ganz banalen Ebene einer Ästhetik des Schreckens. Vergleicht man die Rezeption von „Family of Man“ aus dem Jahre 1955 mit der Ausstellung „Here is New York“ von 2002,91 die sich unmittelbar auf die Ereignisse des 11. September bezieht, können wir den oben angeführten Gesichtspunkt, dass Fotos als technische Bilder in ein thematisches Bezugsfeld eingebunden werden können, noch einmal aufgreifen. „Here is New York“ ist eine Initiative, so viele Fotos wie möglich von jedermann zu 9/11 zuzulassen und in einer Ausstellung für jeden ungerahmt und unbeschriftet zu präsentieren. Gleichgültig, ob von Profis oder Amateuren, ist nicht zu erkennen, wer sie gemacht hat.
89
Roland Barthes: Die große Familie der Menschen, in: ders.: Mythen des Alltags, 3. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1974, S.17f.
90
Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Verleugnete Bilder. The Family of Man und die Shoa, in: Back, Jean; Schmidt-Linsenhof, Viktoria (Hg.): „The Family of Man 1955-2001“. Humanismus und Postmoderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg: Jonas Verlag 2004, S.80.
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Siehe: http://hereisnewyork.org; Stand: 20.03.2009 Katalog New York: here is New York. A Democracy of Photographs, Conceived & Organized, by Alice Rose George, Gilles Peress, Michael Shulan & Charles Traub, Zürch, New York: Scalo Publisher 2001.
Die große Familie der Bilder
Es sei bei der hier ausgewählten Fotografie nur angemerkt, dass wir auch hier einen Bezug zur künstlerischen Bilderpraxis herstellen. Ähnlich wie Jeff Wall die visuelle Konstruktion der Welt im Bild in die Rezeptionsgeschichte des Bildersehens eingeschrieben hat, lässt sich die Inszenierung medialer Bildmuster im Sinne von Cindy Sherman auf dieses Beispiel übertragen. Der Wechselbezug zwischen Realität und konstruierter Bildwelt ist offensichtlich. Man verwechselt zwar nicht die Realität mit der bildlichen Rezeptionsweise, aber man erkennt, dass Wahrnehmung von Realität bildgeleitet ist. Weil die eingereichten Fotos anonym und gleichrangig bleiben, versteht sich „Here is New York“ als ein demokratisches Ausstellungskonzept. Die Ausstellung war in elf amerikanischen und acht europäischen Städten sowie in Tokio zu sehen.92 Im Medium der Ausstellung erhält die Vielzahl und die Vielfalt der eingereichten Fotos eine Dimension, die konträr zu den medial verbreiteten Bildern zu 9/11 steht. Aus der Menge der singulären visuellen Inhalte, die die Ausstellung zusammenfasst, resultiert aber keine gemeinsame, allgemeine Bildsprache. Die Motive variieren von Foto zu Foto, während die Motivierung der Fotografen, warum sie aufgenommen wurden, gleich bleibt. Wird etwas Gemeinsames sichtbar? Zunächst einmal ist die Ausstellung ein politisches Instrument der Wirkung. Sie will möglichst vielen Menschen weltweit zeigen, was die Leute erfuhren, die diese Aufnahmen gemacht haben: Dass die beiden Türme des WTC in Schutt und Asche liegen, sie ein Stück ihrer Welt verloren haben. Die, die auf den Fotos in der Ausstellung zu sehen sind, haben etwas mit denen zu tun, die den Fotoapparat bedienten. Insofern ist „Here is New York“ ein Gegenbeispiel zu „Family of Man“. „Die globale Familie“ basiert auf lokalen Nutzergemeinschaften, die einen gemeinsamen Bezug der fotografierbaren Realität zum Ausdruck bringen. „Die Initiativgruppe wollte dem irrealisierenden Effekt der globalen Fernsehbilder eine lokale Fotografie entgegensetzen, um sich der Realität der ‚Tragödie‘ zu vergewissern – eine Vergewisserung, die sich aber gleichwohl in Bilder verwandeln musste, um sie ästhetisch zu distanzieren und dadurch erträglich zu machen.“93 Denkbar ist, dass die Fotos und nicht nur diese, die ausgestellt wurden, auch im Internet sowie z.B. über Bestellaktionen die Runde zu Leuten gemacht haben, die diese Bilder anschauen, aufbewahren oder weiter reichen: Ein Bildgebrauch, der in dieser Dimension von Aneignung und Wiederaneignung kaum vorstellbar oder dokumentierbar und deshalb so faszinierend ist, selbst wenn die Qualität der Fotos und deren Inszenierung oft zu wünschen übrig lässt. Letzteres ist hier sekundär. Eines jedoch hat diese symptomatische Gemeinschaft des Bildgebrauchs nicht erreichen können, dass die singulären visuellen Bildinhalte eine gemeinsame Bildsprache hervorgebracht hätten. Und an dieser 92
Es gab folgende Stationen von „Here is New York“: New York, Washington D.C., Louisville KY, Troy NY, Houston TX, Marietta OH, San Diego CA, Tampa FL, Chicago Il, Boca Raton FL, Ponoma NJ und Berlin, Stuttgart, Zürich, Dublin, Dresden, Düsseldorf, London, Tokio, Paris.
93
Jean Back und Viktoria Schmidt-Linsenhof (Hg.): „The Family of Man 19552001“. Humanismus und Postmoderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg: Jonas Verlag 2004, S.13.
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Stelle erkennt man auch, dass das gar nicht notwendig ist. Der universelle Gebrauch der Bilder kommt auch ohne eine allgemeine Bildersprache aus. Viele Bilder sind in der Summe noch kein Gesamtbild.
Die multiplizierte Perspektive
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Das bislang diskutierte Bild-Realitäts-Verhältnis folgt dem Modell der Perspektive als technisches Darstellungsverfahren. Dadurch ist das Bild-Realitäts-Verhältnis richtungsbezogen. Es legt einen spezifischen Schnittpunkt der vertikalen und horizontalen Raumachsen zu einem bestimmten Zeitpunkt fest. Die Fotografie basiert auf dem optischen Prinzip des dreidimensionalen Darstellungsverfahrens. Im Nullpunkt des Aug- und Fluchtpunktes fließen die sich schneidenden Raumachsen zusammen. Das ist hinlänglich bekannt, aber es ist für die nachfolgenden Überlegungen wichtig zu betonen, dass die fotografische Schnittfläche erstens ein geometrisches Raummodell sanktioniert und zweitens hierbei stets einen konkreten perspektivischen Standort, eine Richtung und meistens auch einen erkennbaren Zeitpunkt festlegt. Wenn technische Bilder bezogen auf die Analogie zur wiedererkennbaren Welt inszeniert, konstruiert oder rekonstruiert werden, kann dieses Beziehungsverhältnis zur Realität begrifflich sowie anschaulich reflektiert und durch den medialen Gebrauch praktisch beobachtet werden. Man kann die Realität dem Bild anpassen und umgekehrt. Es kann im Bild-Realitäts-Verhältnis etwas sichtbar werden, was über die Wiedererkennbarkeit hinausgeht. Zwar kann man die Sehrichtung im Koordinatenkreuz beliebig variieren, durch den Wechsel Standorte und durch die Verschiebung der Blickachsen überallhin mit Hilfe optischer Apparate und virtueller 3-D-Animination schauen, also im direkten oder übertragenen Sinne jeden Standort eines fiktiven, virtuellen und physikalischen Raumes einnehmen und hierbei sogar im Rückspiegel erfassen, was in Gegenrichtung geschieht, aber die Sehrichtung folgt dem Gesetz des unumkehrbaren Raum-Zeit-Pfeiles. Kurz: Man kann zwar die Sehrichtungen durch Blickbewegung beliebig verändern, nicht jedoch die Richtung der Perspektive umkehren. Wenn beispielsweise Pavel Florenski von der „umgekehrten Perspektive“ spricht, diskutiert er ein aus der russischen Ikonenmalerei abgeleitetes Raummodell, in dem Bilder zurückblicken. Aus der Geschichte des Sehens weiß man, dass der Verlauf der Sehstrahlen in der Vergangenheit auch in Gegenrichtung – vom Auge ausgehend zu den Dingen gelangend – für möglich erachtet wurde. Nur, solche Vorstellungen haben sich durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Raumzeit und der Neurophysiologie im letzten Jahrhundert erübrigt. Nicht erledigt hat sich die Umkehrung und Manipulation der Richtungen im Bild-Realitäts-Verhältnis. Es ist nicht nur möglich, die Realität als Oberfläche für Bilder, auf denen sich wiederum weitere Bilder überlagern können, zu nutzen, sondern es ist darüber hinaus möglich, mit dem Fotoapparat sozusagen in Gegenrichtung Bilder auf die Realität zu „schießen“. Damit kehrt sich das Prinzip der Fotokamera von einem Aufnahme- zu einem Sendeappa-
Die multiplizierte Perspektive
rat um. Dazu ein Beispiel: Der Berliner Künstler Julius von Bismarck hat einen „Image Fulgator“ erfunden, mit dem er Bilder oder Zeichen aus seiner analogen Spiegelreflexkamera auf beliebige Objekte der Wirklichkeit momentweise applizieren kann.94 An der Stelle, wo in einer normalen analogen Fotokamera das Negativ auf die Belichtung durch den Auslöser „wartet“, befindet sich in der umgebauten Kamera eine Schablone mit Bildmotiven, die durch ein Blitzlicht projiziert werden – vergleichbar mit einem LCD-Projektor.
7. Julius von Bismarck, Barack Obama während seiner Rede am 24. Juli 2008 in Berlin
Der Witz hierbei ist folgender: Im „Image Fulgator“ ist ein Sensor integriert, der auf Blitzlichter anderer Fotografen reagiert und somit den Auslöser „bedient“. Da die Realität während sie abgelichtet wird, mit einem hinzugefügten Bildmotiv gekoppelt wird, kommentiert der Kamera-Projektor die manipulierbaren Bedingungen der Fotografie und eine obsolete Praxis des Fotografierens. In den vorangegangenen Überlegungen wurden die Grundlagen des BildRealitäts-Verhältnisses anhand der Perspektive als Darstellungsverfahren und der Fotografie diskutiert. Im Folgenden knüpfen wir daran an und fragen danach, was geschieht, wenn die Vervielfachung der Perspektive durch eine veränderte Praxis der Bilder gegenwärtig eine neue Dimension erhält. Wie ist dieser Prozess zu verstehen? Ständig wird überall fotografiert: Diese Bildpraxis ist derart dominant, dass Platon, würde er heute leben, sein Höhlengleichnis umschreiben müsste. Ein Update wäre nicht schlecht: Die sichtbare Welt würde – so vermuten wir einmal – in eine Falle einer Abbild-Schleife gelaufen sein: Die vor der Höhlenwand gefesselten Zuschauer kennen nur eine Richtung. Sie schauen auf die Bildprojektion der Höhlenwand, so wie Platon sie im 10. Buch des Staates be94
Siehe: www.juliusvonbismarck.com; Stand: 01.04.2009
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schreibt. Heutzutage müssten die Gefesselten von diesen „Fesseln“ befreit werden und stattdessen Fotoapparate in ihren Händen halten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Fotos von den Abbildern machen, die vor ihnen auf der Höhlenwand, hervorgerufen durch eine hinter ihrem Rücken stattfindende Projektion, erscheinen. Dass Fesselung respektive „Entfesselung“ nicht nur in einem übertragenen Sinne, sondern auch ganz handfest funktioniert, zeigt eine bei dieser Umschreibung des Höhlengleichnisses noch einzufügende Modifikation. Einige könnten auch anstelle des Fotoapparates eine Playstation Portable in ihren Händen halten und sich dadurch den Blick auf die Höhlenwand ersparen. Auch sie wären im Tun und im Schauen wie gefesselt von dem, was sie auf dem kleinen Bildschirm beobachten und gleichzeitig steuern. Alternativ dazu wäre die Fesselung durch den gebannten Blick auf die Textseiten eines Buches denkbar, in dem man z.B. die Geschichte des Höhlengleichnisses lesen könnte etc. Einige halten also ihre Fotoapparate, um alles Mögliche bildlich festzuhalten, was in ihren Blick gerät. Andere, die „Bild-Ignoranten“, die sich von der Höhlenwand abgewandt und ihrer Spielkonsole zugewandt haben, sind in der Einschätzung der Fotografen zu sehr von den Games gefesselt und wirken wie entrückt von der Abbild-Realität der Höhle. Denn mit den beiden Händen, mit denen sie die Spielkonsole anfassen und bedienen, schließen sie einen Kreis vom Gesichtsfeld zum Bildschirm. Fassen wir diesen kleinen metaphorischen Exkurs über Fesselung und Entfesselung durch die technischen Bilder zusammen und schreiten in unserer Argumentation weiter voran. Alle möglichen Situationen sind nicht nur fotografier-, sondern auch speicher- und kommunizierbar. Sie stehen auf vielfältige Weise zur Verfügung und werden je nach Interesse und Motivation zugänglich gemacht, vorausgesetzt die Fotos finden Eingang in private und öffentliche Sammlungen, Archive und Bildnetzwerke im Internet. Die Bildpraxis basiert auf der Entwicklung von Technologien. Wer ein Bild braucht, kann es beispielsweise über google oder flickr downloaden oder bei Bildagenturen für geschäftliche Zwecke anfordern. Mobiltelefone mit Flatrates ermöglichen einen permanenten Zugriff auf das Web. Man braucht nur Bilder oder Videos über die vielen neuen Web2.0 Dienste wie twitpic eingeben oder gleich zu Online-Schaufenstern wie flickr, myspace und twitter weiterleiten. Wichtig ist allein, die eigenen Motive zu benennen, zu verschlagworten oder andere Motive nach einem wieder auffindbaren Kanon zu suchen, was allerdings noch schwierig ist, denn die Verschlagwortung von digitalen Bildern ist weder national noch international genormt. Bislang ist die gigantisch angestiegene Produktion von Bildern an ebenso rasant anwachsende Listen, Inhaltsverzeichnisse und Schlagworte (Tags) gebunden, wodurch das Finden von Bildern nicht gerade erleichtert wird. Das ist aber nur ein Aspekt der Vervielfältigung der Perspektive. Je unspezifischer ein Foto eine Sache zeigt, um so mehr ist es geeignet, eine Situation visuell zu illustrieren, sei es in den Printmedien oder den elektronischen Massenmedien oder dem digitalen Internet. Überall kursieren also Bilder. Vor allem Fotos entstehen überall und wandern von hier nach da. Wohin denn nun?
Die multiplizierte Perspektive
Da ist auf einmal das Foto von meinem Freund auf einer Seite von TUI auf Korfu. Oder ich sehe das Foto meines Lieblingsfeindes auf einem Fotostream bei flickr. Nur sind beide längst tot und mir als Lebenden ist dieser Umstand verborgen geblieben. Die Bilder gehen über meinen Kopf hinweg, nehmen ihren Weg. Ein Schock, der mich erfasst. Diese Verluste schmerzen, weil sie real sind. Mein Bewusstsein vom Tod findet eine Grenze, die ein Tabu rekonstruiert: Dass gerade jetzt Menschen sterben, geboren oder getötet werden, kann ich sozusagen abrufen. Zufällig vielleicht sehe ich der Veröffentlichung einer Hausgeburt bei einer laufenden web-cam zu. Aber ich muss nicht zusehen! Die Anonymität der anderen scheint sich aufzuheben und ins Gegenteil delikater Nähe zu verkehren. Soll ich zusehen, wie jemand live im Internet stirbt, gefoltert wird oder sich gar selbst umbringt? Die technologische Gleichzeitigkeit weltweiter Vernetzung überfordert die gewohnten Muster von kulturell konditionierter Nähe und Ferne der Lebenden. Vertrautheit und Anonymität kippen um in ihr Gegenteil, weil die sozial verbindlichen Schranken entfallen und eine technisch-biologische Gleichgültigkeit dazu tendiert, die Dauer des Lebens zu negieren. Mitgefühl ist 8. Menschen auf der Straße, 2008 überfordert, es steht zur Disposition: Egal, ob nah oder fern, alles ist gleichberechtigt nebeneinander wichtig, geht mich an. Ein schier unglaublicher Druck, der durch coole Teilnahmslosigkeit unterlaufen oder durch eine aufmerksame Politik der Bilder und Informationen begleitet werden kann. Neue Schutzfilter entstehen unter den Bedingungen von Semantic Web, aber man kann noch nicht sagen, welche genau sich durchsetzen werden. Die unvorstellbar vielen anderen, die auch da sind, können nicht ignoriert werden, kein Selbstmanagement ist so gerissen, ständig davon abzusehen, dass nur die persönliche Umgebung zählt, einen verbindlichen Platz anzugeben, wenn man um „seine“ Katze trauert. Mit wie vielen Leuten der Globus teilbar ist, wissen wir, aber wir können es uns weder Online noch Offline so recht vorstellen, machen aber kommunikationstechnische, visuell basierte Erfahrungen, die noch keine Generation auf diesem Planeten kannte. Teilbarkeit und Mitteilbarkeit erhalten gegenwärtig eine neue soziale Dimension; dies ist auch in den Ereignisketten der wandernden Bilder zu beobachten. Gruppen oder einzelne Individuen können solche Ereignisketten produzieren und im verkettenden Gestrüpp der Ereignisse sich und anderen folgen. Wer aber folgt wem? Bleiben die Bilder von Kontext zu Kontext, von Situation zu Situation immer die gleichen? Bilder mischen sich im Gebrauch vor allem durch die Kommunikationstechnologien unter andere Bilder. Es entstehen visuelle Ereignisketten. Das kann man unter dem Gesichtspunkt der Global Images strukturell als einen Prozess von visuellen Austauschbewegungen begreifen, als Verschleifung und Verknüpfung von Bildern, die erscheinen und verschwinden, die zirkulieren
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Global Images: Eine Studie zur Praxis der Bilder
oder einen festen Platz finden. Für Mitchell sind diese Bildwanderungen durch die Metapher eines „metapicture“ angezeigt.95 Global Images wären demzufolge global verfügbar und lokal verankert. Beispielsweise kann man jedem Foto seine Koordinaten von Google Earth zuordnen. Dennoch scheinen die Lokalisierungen des wandernden Bildes, „Migrating Images“, eher das Gegenteil zu bewirken: „The transcultural image then is neither a local/particular nor a global/general image: it is a dislocated image – provided we understand that dislocation here refers neither to a delocalization of the image nor to parochialization of the image, but rather to mutations of the local captured in the image.“96 Was sind also Bilderwanderungen? Sie haben etwas mit Handlungen von Menschen und dem Gebrauch von Bildern zu tun: Global Images befinden sich in permanenter Veränderung. Während Mitchell die strukturelle Seite der Migration betont, erkennt Haustein die allgemeinen Aspekte in kulturellen Differenzen: Global Icons. Bildgebrauch kommt nicht umhin, die Praxis, in der er beobachtet ist, einzubeziehen, um die wahrnehmbaren Vorgänge zu unterscheiden, voneinander zu trennen, Einzelnes im Fluss der Bilder festzuhalten, im Wechsel der Bilder in Bezug aufeinander innezuhalten, also Momente herauszugreifen, um dadurch die Praxis des Bildgebrauchs zu klassifizieren.97 Da es viele Ebenen sind, die die Praxis des Bildgebrauches ausmachen, sind Zusammenfassungen dann überzeugend, wenn ein Aspekt der Bildverbreitung, des Bildaustausches oder Bildgebrauches hervorgehoben wird. Matthias Bruhn hat mit dem Fokus auf den wirtschaftlichen Faktor die Verwobenheit der Ebenen herausgearbeitet.
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William J. T. Mitchell: Migrating Imaging – Totemism, Fetishism, Idolatry, in: Stegmann. Petra; C. Seel, Peter (Hg.): Migrating Images.producing.reading. transporting.translating, Berlin: Haus der Kulturen der Welt 2004, S.14.
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Ackbar Abbas: Framing the city trough cinema, in: Stegmann. Petra; C. Seel, Peter (Hg.): Migrating Images ... producing... reading... transporting... translating, Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2004, S.112. Siehe das Video von Ackbar Abbas: „Framing the city trough cinema“, Das Wissen der Bilder im Rahmen der Konferenz „MIGRATING IMAGES“, hkw (Haus der Kulturen der Welt), Stand: 07.09.2003 http://netzspannung.org/index_flash.html. In einem anderen Zusammenhang (der Ethnologie) spricht Pierre Bourdieu von einer Ordnung schaffenden Praktik in der Wahrnehmung, die solange funktioniert, wie sie nicht zugleich auch die ständige Kontrolle inne haben will: „In der Mehrzahl unserer alltäglichen Verhaltensweisen sind wir durch praktisches Schemata geleitet, das heißt durch ‚Prinzipien, die dem Handeln Ordnung auferlegen‘ [...], durch Informationsschemata. Dies sind Klassifikationsprinzipien, Prinzipien der Hierarchisierung und Teilung und, in eins damit, der Weltsicht, kurz: alles das, was jedem von uns erlaubt, Dinge auseinanderzuhalten, die von anderen vermischt werden, ein diacrisis zu vollziehen, ein Unterscheidungsurteil zu treffen.“ Die Logik dieser Ordnung ist wiederum kein Instrument, um das zu kontrollieren, was im praktischen Gebrauch des Ordnens geschieht. Piere Bourdieu: Kode und Kodifizierung, in: Hofbauer, Johanna; Prabitz, Gerald; Wallmannsberger, Joseph (Hg.): Bilder, Symbole, Metaphern. Visualisierung und Informierung in der Moderne, Wien: Passagen Verlag 1995, S.226.
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„Durch systematische Produktion ästhetischer Güter werden nicht nur Traditionen des Sehens und Abbildens weitergetragen oder weiterentwickelt, also beispielsweise europäische und amerikanische Sehmuster in andere Teile der Welt exportiert, sondern dem jeweiligen Produkt auch die unsichtbaren Praktiken der Verwaltung und Verwertung und Bewertung beigefügt. Während in diesem Realitätsgemisch immer unklarer wird, was ein Bild ist, in welchem Kulturraum es welchen Stellenwert hat, was die Vorzüge von Fotografie und Handzeichnung sind, wo der Unterschied von Original und Reproduktion liegt oder was eine Bildkomposition wertvoll macht, gibt es zugleich einen globalen Bilderhandel, den sich Fotografen, Agenturen, Zeitschriften, Programmierer, Verwertungsgesellschaften teilen und welcher durch seine Praxis ein Material definiert, das sich in Honoraren und Tantiemen, in Urheberrechten und Lieferzeiten, in Dateiformaten und Datenbankarchitekturen ausdrückt und ungeachtet der technischen Entwicklungen jede beliebige Reproduktion oder digitale Pixelmenge auf den bezahlbaren Bildgehalt hin betrachtet.“98 Folgerichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang angesichts der schwer fassbaren, expansiven Ausbreitung und dem interkulturellen Austausch zwischen bzw. mittels Bildern von ‚Imagetransfers‘ zu sprechen, wie es Christian Höller vorschlägt. Er unterscheidet drei Aspekte der globalisierten Popkultur: „Erstens geschieht dies auf der subjektiven Ebene der Individuierung durch Popbilder, und zwar weitgehend unabhängig vom sozialen Status und vom geografischen Ort, an dem sich das betreffende Subjekt befindet. [...] Zweitens geht es um die – eher institutionell beziehungsweise feldmäßig relevanten – Austauschbeziehungen zwischen Popkultur und der sie ergänzenden, aber auch mitkonstituierenden Batterie von Sport, Mode, Spielfilm, Kunst, Computerkultur und vielem anderen mehr. [...] Drittens meint Imagetransfer jene Übertragungs- und Verschiebungsprozesse, die zwischen verschiedenen oder sich nur teilweise überlappenden kulturellen Kontexten stattfinden.“99 Diese grundsätzlichen Einteilungen sind wesentlich eher dazu geeignet, den Prozess sich wechselseitig bedingender Austauschbewegungen von Bildern zu erschließen, als es die etwas zu einfache Idee der Migrating Images vermag: Viele Bilder in Bewegung erbringen in der Summe noch kein „Gesamtbild“, noch lassen sie darauf schließen, dass Bilder selbst die Praxis der Bilder regeln. Also muss man sich von der Idee verabschieden, dass Metaphern wie Leitbild, Schlüsselbild oder metapicture die Praxis von Bildern heute versinnbildlichen können, ebenso sollte man sich von der Vorstellung lösen, dass im Zusammenschluss aller Gattungen, eines Gesamtkunstwerkes oder in der Herausstellung eines Super-Mediums, dem Hypermedium, ein medialer Ansatz für ein „Gesamtbild“ gegeben wäre. In Teilbereichen der Praxis der Bilder kann man mit diesen Metaphern arbeiten, mehr auch nicht. Aus den Bildwanderungen und Austauschprozessen von Bildern resultiert auch kein isolierbares, 98
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Matthias Bruhn: Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2003, S.12. Christian Höller: Pop Unlimited? Imagetransfers in der aktuellen Popkultur, Wien: Turia + Kant 2001, S.15 und S.21.
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verallgemeinerbares Kollektivbild. Diese Beobachtungen sind bezogen auf die Entwicklung des Bildes der europäischen Tradition (wieder) interessant. Das westliche Einzelbild war zweierlei: Es eröffnete eine „universale“ Allgemeinverbindlichkeit und erprobte diese an der Besonderheit des Individuellen – sowohl in der Produktion als auch Rezeption. Dieses Einzelbild zeigt eine ‚ikonische Differenz‘ im Verhältnis zu anderen Bildern auf. Dadurch fand es seinen Platz in der kulturellen Praxis der Wertschätzung und darauf basierte seine internationale Verbreitung und Macht, seine Dominanz vor allem in musealen Kontexten. Dass diese Kontexte auch institutionelle Netzwerke sind, darf man nicht vergessen: „Das Szenarium, in dem sich heute Kunst in anderen Kulturen bewegt, ist schon allein dadurch gekennzeichnet, dass ihr dort alle die Institutionen fehlen, die ihr Terrain in der westlichen Gesellschaft bilden. Zwar schießen überall auf der Welt derzeit die Biennalen wie Pilze aus dem Boden, doch gelingt es ihnen nicht, die regionale Kunstproduktion jener marktkonformen Professionalität zu unterwerfen, die wir als den wichtigsten Standard von Kunst (Kunst als Neuerung in einer Kunstgeschichte, auf die sie sich gleichwohl bezieht) fordern.“100 Die internationale Karriere der Bilder ist machbar. Sie folgt dem weltweiten Bildtourismus, wenn auch nicht immer gleich auf dem Niveau von Kitsch, das heißt, der Wiederholung von visuellen Erwartungen: Kollektivbild, Nivellierungsbild, Lieblingsbild. „Oftmals entwickelt sich die Beschäftigung mit kulturellen Differenzen über verschiedene Formen von Translokationen. Diese können zum einen aus den erwähnten freiwilligen und (wirtschaftlich, politisch) erzwungenen (sic) Migrationsbewegungen resultieren. Zum andern sind diese Auseinandersetzungen das Ergebnis temporärer Aufenthalte in fremden Kulturen, die aus dem privilegierten Status des Reisens entstehen.“101 Man muss zwischen einem kollidierenden und einem Ausgleich stiftenden, also nivellierenden Austausch zwischen Bildern unterscheiden. Das wirft eine interessante Frage nach dem Rang visueller Standards, Klischees und Vereinheitlichungen auf, denn die naive Bildzugewandtheit oder die visuellen Favoriten, wie sie sich in dem scheinbar niveaulosen Bildergebrauch vieler Leute in vielen Kulturen und zu allen Zeiten beobachten lässt, ist auch ein Indiz für die Angleichung von Motiven bzw. bildlichen Sehnsüchten, von Lieblingsbildern. „Es drängt sich der Verdacht auf, daß das jeweilige statistische Mittel die Differenzen nivelliert, die zwischen einzelnen Ländern bestehen. Und repräsentieren Mittelwerte nicht ohnehin höchstens den Geschmack einer Minderheit, während alle profilierteren und extremeren Auffassungen im Durchschnitt
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Hans Belting: Hybride Kunst? Ein Blick hinter die globale Fassade, in: Katalog Köln: Kunst – Welten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart, hg. von Marc Scheps, Yilmaz Dziewior, Babara M. Thiemann, Museum Ludwig, Köln: DuMont Verlag 2000, S.329.
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Yilmaz Dziewior: On the Move. Interkulturelle Tendenzen in der aktuellen Kunst, in: Katalog Köln: Kunst – Welten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart, hg. von Marc Scheps, Yilmaz Dziewior, Babara M. Thiemann, Museum Ludwig, Köln: DuMont Verlag 2000, S.348.
Austauschbewegungen im Internet
nicht mehr in Erscheinung treten?“102 Durchschnittsbilder oder besser Lieblingsbilder wie ein Bergmotiv eines Kunstmalers bei früheren Generationen im Wohnraum oder ein Strandmotiv auf einem Plakat von Ikea bei heutigen Generationen vermitteln eine überdeutliche Botschaft: Geschmack ähnelt sich und in diesem Geschmacksumfeld ordnet man sich gern ein. Gegenüber der globalen Konsumfolklore, die sich in Ikonen der Popkultur oder schlicht in Form von Lieblingsbildern manifestiert, setzt sich das gebildete Publikum mit Highlights ab, die aus einer über das Netz musealer Einrichtungen sanktionierten, vermeintlichen „Weltsprache der Kunst der Moderne“ resultieren und die früher beispielsweise in der qualitätssuggerierenden Zuordnungsgewissheit „das ist ein Pablo Picasso“ gipfelten (abstrakte Malerei als Weltsprache) oder die in unserer Zeit ein kokettierendes Understatement „das ist ein Jeff Koons“ auslösen. Die Differenz zwischen Kunst und Kitsch ist fließend, wie es ja bereits Jeff Koons in seinen Bildmotiven exemplarisch thematisiert. Wenn jedoch weiterhin Unterschiede zwischen Durchschnitts- und Ausnahmebildern bestehen, so berührt das weniger das Bildungsniveau zwischen Lieblings- und Kunstbildern oder die mediale Frage zwischen Reproduktion und Original, als vielmehr die Frage nach dem reflektierten Gebrauch von Bildern und den Bezug zur Realität, wenn er intendiert ist. Anders gesagt, die ‚ikonische Differenz‘ von Bildern lässt sich nicht mehr allein aus dem tradierten Anspruch von Kunst lösen. Er ist komplexer geworden, weil Bilder in Bezug zu divergierenden Bilderwelten stehen und diese Bilderwelten in ihrem medialen Verhältnis zueinander sich auf kaum zu durchschauende Weise ausdifferenzieren.
Austauschbewegungen im Internet Ein Sektor, der im Sinne der Austauschbewegungen für sich steht, aber alle anderen integriert, sind die Dienste des Internets. Zumal die jüngste Entwicklung des Semantic Web setzt neue Akzente, wie Inhalte partizipiert werden können. Die Automatisierung der Aufzeichnung von urbanen Bewegungen, die Personen im Stadtraum hinterlassen, ist technologisch fortgeschritten.103 Ein Beispiel dafür sind GPS-Drawings. Sie dokumentieren individuelle Ortswanderungen. Beliebig viele lokale Stationen lassen sich bei einem Rundgang, z.B. bei einem Sound Walk durch eine Stadt aufzeichnen. Alles, was Menschen wahrnehmen und protokollieren, ist nicht erst durch die Verwobenheit von Online und Offline mittels mobiler Interfaces thematisch, sondern hat Vorbilder in der Konzeptkunst und Minimal Art. Hat der Künstler On Kawara in einer bestimmten Phase seines Schaffens protokolliert, wen er getroffen, was er 102
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Wolfgang Ullrich: Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2006, S.96. Erinnert sei hier nur an die Psychogeographie der Situationisten um Guy Debord, die eine individuelle, emotionale Karte der Stadt (Paris, 1957) durch das Umherschweifen (dérive) thematisierten. Demgegenüber sind die GPSStandards (Drawings) jüngster Zeit bloß eine technologische Vorgabe, die sich aber nutzen ließe.
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geschrieben und gelesen hat und welches Datumsbild er jeweils täglich malte, so rechnet Hanne Darboven oft bekannte kulturelle Zeugnisse „durch“, indem sie „ihre“ Wahrnehmung oder Denkleistung in Listen, Zahlen und Zeichen penibel überführt.104 Man muss die Markierungen und wofür sie stehen, von der systemischen Durchführung, dies anzuzeigen, auseinander halten. Automatische, serielle oder mechanische Formen der Registrierung greifen hier ineinander, veräußern damit Funktionsabläufe, die dem Individuum in seiner gesellschaftlichen Funktionstüchtigkeit vorgeschrieben sind. Diese Beispiele widersprüchlicher Aneignung von Ent-Individualisierungsformen ließen sich erweitern. An dieser Stelle sollte lediglich daran erinnert werden, dass der gesellschaftliche Wahrnehmungshorizont als künstlerische Folie für die Schnittstelle Mensch hinlänglich bekannt ist, wenn es darum geht, die technologische Aufrechnung im Gebrauch zu verstehen, wie sie in GPS-Drawings schon angezeigt ist. Anhand des MyLifeBits-Projektes von Gordon Bell ist dies nachzuvollziehen, der eine technisch praktikable Aufzeichnungsmethode benutzt, um alle Arten von Tätigkeiten, die er tagtäglich verrichtet, digital zu protokollieren und zu archivieren.105 Zum einen macht dieses Projekt deutlich, dass die permanente Archivierung persönlicher Daten wahrscheinlich nicht aufzuhalten ist. Zum anderen erkennt man hieran die 9. Beispiel für eine GPS-Zeichnung Bedeutung, die das Vergessen bzw. http://www.gpsdrawing.com/index.htm das Wegwerfen und Löschen hat. Eine Langzeitarchivierung für jeden wird es wahrscheinlich sowieso nicht geben, weil ständige Änderung von Datenformaten und Hardwarebedingungen ebenfalls archiviert werden müssen. Gibt es Bilder, die diese Techno-Egomanie unterstützen oder auslösen? Bezogen auf die Diskussion der Bildertransfers und Bildwanderungen kann die technologische Kopplung mit den mobilen Inter-
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Siehe Katalog Hamburg: Hanne Darboven. Die geflügelte Erde. Requiem, Deichtorhallen Hamburg, Ostfildern: Edition Cantz 1991. Siehe: http://research.microsoft.com/barc/MediaPresence/MyLifeBits.aspx, 11.11.2008 und siehe auch: http://www.spektrum.de/artikel/869379, 11.11.2008
Austauschbewegungen im Internet
faces darauf hinweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Technologie gibt. Doch wie sollte dieser beschaffen sein? Global Images lassen sich dahingehend unterscheiden, von wem sie für welche Zwecke eingesetzt und wahrgenommen werden. Technische, gebrauchsorientierte oder ästhetische Aspekte geben in der Regel den Ton an. Durch Bekanntheit und Standardisierung haben beispielsweise Icons auf unterschiedlichen Ebenen den Rang von allgemeingültiger Verbindlichkeit erlangt. Man kann mit ihnen auch Emotionen signalisieren: -. Durch die Verwendung von Bildzeichen in Chats oder auf Plattformen, global icons, sind simple Kunstformen entstanden. Solche Zeichenbilder sind Zusammensetzungen von gleichen Elementen zu einer Gesamtfigur. Es ist zu konstatieren, dass technische Bilder aufgrund ihrer Austauschbeziehungen den Status einer zeichenhaften und gebrauchsorientierten Weltsprache erlangt haben. Diese These ist widersprüchlich, denn am Beispiel der Entwicklung der Fotografie in den letzten zehn Jahren kann man nicht sagen, dass Fotografien eine Weltsprache bilden, aber man kann die universalistische Tendenz des technischen Bildes, wozu die Fotografie als vielleicht noch letztes der alten Medien zu zählen ist, nicht leugnen. Vor allem durch die Digitalisierung und die weitestgehende Unabhängigkeit des Formates erhalten technische Bilder eine fließende Austauschbarkeit, die der des Geldes verwandt ist. Fassen wir die hier diskutierten Beispiele zu den Austauschformen und -beziehungen zusammen: Global Images tendieren zu technisch bedingten Mischformen, die an kein spezifisches Medium gebunden sind. Durch die Digitalisierung ergeben sich hybride Formen. Der Freibrief für die scheinbar unbegrenzte Montierbarkeit heißt: Alles ist nicht nur mit allem verknüpf–, sondern auch mit allem kombinierbar. Remix heißt eine solche Anwendungspraxis. Mit Hilfe entsprechender Tools kann jeder aus vorhandenem Material (online und offline) visuell oder akustisch mixen. Die Kombination sowie Montage nicht nur visueller Zeichen ist spielerisch, manchmal auch kreativ, aber so gut wie nie künstlerisch.106 Deshalb ist die Frage zu stellen, ob sich durch Zei- 10. Sichtbar ablesbarer Code data: Global Images ecc level: M version: 0 size: 3 chenbilder oder Graphic Writing neue Mitteilungsformen ergeben. Tatsache ist, dass es einen Boom von ‚kulturellen Nutzungsformen‘ einerseits und eine Abstinenz von ‚künstlerischen Arbeitsformen‘ etc. andererseits gibt. Gemeinsame Arbeitsprozesse auf Internetplattformen – worauf die vielen Varianten der remix-culture hindeuten – sind zwar ein erster Ansatz für netzadäquate Produktionsformen. Aber man muss das sofort einschränken und sagen, dass diese nicht auf das Netz beschränkt sein müssen, noch dies jemals waren, wenn man die Vorgeschichte der Montage oder Collage in den bildenden Künsten hinzunimmt. Es wäre falsch, die spielerische Partizipation zu diskreditieren. 106
Hinsichtlich der hier zu nennenden Zeichenbilder, in denen die Elemente ein Gesamtbild ergeben, sei hier auf die Arbeit des Frankfurter Künstlers Thomas Beyerle verwiesen.
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Global Images: Eine Studie zur Praxis der Bilder
Hierarchien und Heterarchien gehören meiner Meinung nach in Bezug auf die weitere Entwicklung hybrider Bilder zusammen. Qualitäten, Individualitäten und Hierarchien haben eindeutig Vorteile, nämlich Perspektiven und Dynamiken, die den derzeit „vorherrschenden“ Quantitäten, Gemeinschaften/ Multituden und Heterarchien schlicht fehlen. Mir schlicht fehlen. Mir scheint, dass die Auseinandersetzung mit den vielen Spielarten, die in der globalen __ __ Verbreitung und technischen Stan,;::\::\ dardisierung von Global Images an,‘/‘ `/‘`/ _\,: ‚.,-‘.-‘:. zutreffen sind, nicht erkennen lässt, -./“‘ : : :\/, ob es eine sich überschneidende Zu::. ,:____;__; :sammenführung dilettantischer und :“ ( .`-*‘o*‘,); \.. ` `---‘`‘ / professioneller Kreativität geben `:._..- _.‘ wird. Gegen diese (wie von selbst sich ,; . `. /“‘| | \ aktivierende) Sperre, Barriere oder ::. ) : : Asymmetrie hilft meiner Meinung |“ ( \ | :.(_, : ; nach weder das Mitmachen der Vie\‘`-‘_/ / len oder das Vormachen Einzelner, `... , _,‘ sondern der Diskurs, d.h., wie in ge|,| : | |`| | | meinschaftlich organisierten Bezie|,| | | hungsfeldern „Muster“ und „Struk,--.;`| | ‚..--. /;‘ „‘ ; ‚..--. )) turen“ entstehen, die unterscheidbar \:.___(___ ) ))‘ und bewertbar sind: Wenn die manSSt`-‘nigfaltigen Spielarten der Nutzung 11. Beispiel für Zeichenbilder, heterarchisch sind, hat das nach der anonym, 2009 Geschmacksdiktatur der Moderne und Postmoderne einen emanzipatorischen Effekt. Hierarchien werden sich schon einstellen, wenn man den Wert und das globale Phänomen dieser kulturellen und gemeinschaftsbildenden Nutzungsformen zu schätzen lernt: Qualität ist ein Bildungsprozess – so denke ich – und das stimmt mich gegenüber der oft so erschreckend nivellierenden Optik technischer Bilder zuversichtlich.
Das zerlegte Bild, die durchbrochene Oberfläche 72 Im Prinzip erlaubt die Foto- oder Filmkamera den technischen Blick aus jedem und auf jeden Blickwinkel in jedem Augenblick. Das ist eine Seite der technischen Verfügbarkeit. Sie kulminiert in eine permanente Totalität des technischen Bildes. Alles ist immerzu fotografierbar, seien es die privaten Schnappschüsse, die auf vielfältige Weise im Gebrauch sind oder seien es die öffentlich eingerichteten Livecams oder Überwachungskameras; so kann man kaum einen Schritt tun, ohne von einem technischen Auge observiert und gespeichert zu werden. Viel entscheidender jedoch ist der Übergang von der Fotografie zum digitalisierbaren, technischen Bild: Produktion und Reproduktion von Bildern sind im Stadium der Digitalisierung jeglicher visueller Informationen längst über das Verbreitungsmonopol des Mediums Fotografie hinaus gewachsen. Das technische Bild hat die bildkonforme Dimension der Manipulation
Das zerlegte Bild, die durchbrochene Oberfläche
respektive Reproduzierbarkeit überschritten, die die Fotografie als Bildfläche noch gewahrt hat. Die Atomisierung und Synthetisierung geht über den Zerfall oder die Zusammensetzung der physikalischen Bestandteile von Pixel oder Vektoren hinaus. Technisch gesehen lassen sich Oberflächen digital beliebig zusammensetzen, z.B. durch die globale Verbreitung von Bildbearbeitungssoftware. Dies ist Allgemeingut geworden. Die Oberflächen können gerendert oder gescannt werden. Die Künstlichkeit virtueller Oberflächen hat ein veristisches Stadium erreicht, das die Flächenkunst älterer Kunstgattungen noch nicht kannte. Was heißt das nun genau? Ist damit die Dichte und Geschlossenheit der Bildebene gemeint? Meiner Meinung nach muss man hier zwei Fragen auseinanderhalten. Die eine betrifft die Mehrdimensionalität von Flächen, die viele Zuordnungen und Kombinationen erlauben und von daher nicht mehr an eine dreidimensionale, geometrische Ordnung gebunden sind. Es ist zwar eine anthropologische Tatsache, dass wir nur Oberflächen und Kanten sehen können, denn um Objekte voneinander zu unterscheiden, werden diese als geschlossene Körper wahrgenommen, auch wenn sie durchsichtig oder fließend wie Wolken sind. Wie wir wissen, bedeutet die Wahrnehmung von Oberflächen nicht, dass Sehen zweidimensional wäre. Einmal ist der eigene Leib dreidimensional mitansichtig bzw. Gegenstand körperlicher räumlicher Erfahrung. Zum anderen ist zweiäugiges Sehen eine Verschränkung zweier Informationsfelder im Gehirn, welches entlang von Oberflächen Grenzlinien und Kanten ‚berechnet‘, wodurch die wahrnehmbaren Dinge in ihrem räumlichen Abstand zueinander lokalisiert werden und somit der Eindruck von Nähe und Ferne oder von flach und tief entsteht. Diese physiologischen Wahrnehmungsbedingungen im Gesichtsfeld betreffen die Genauigkeit und Schärfe, mit der die Dinge von einem bestimmten Abstand aus oberflächlich erkannt werden. So werden die Dinge wahrnehmungstechnisch konstruiert, sozusagen im Gehirn ‚gerendert‘. Wir unterscheiden zwischen dem Sehvorgang (Prozess) und dem Seheindruck (Produkt) und sind uns heute der Tatsache bewusst, dass wir nicht wie eine eingeschaltete Filmkamera oder wie eine Fotokamera die Dinge um uns herum aufnehmen, sondern dass das ‚Sehen von Bildern‘ eine Leistung des Gehirns in Abgleich mit Lichtinformationen im Bereich der Retina darstellt.107 Seit den Anfängen der perspektivischen Bilder sind auch optische Vergrößerungen oder Verkleinerungen bekannt. Sie haben die Abstraktion des dreidimensionalen Raummo-
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Wir müssen zwischen dem Prozess und dem Produkt des Sehens unterscheiden: „Die Prozesse der Wahrnehmung sind unzugänglich; allein die Produkte sind bewußt, und natürlich sind es die Produkte, die notwendig sind. Die beiden allgemeinen Tatsachen – erstens, daß ich des Zustandekommens jener Bilder, die ich bewußt sehe, nicht bewußt bin, und zweitens, daß ich in diesen unbewußten Prozessen eine ganze Spannweite von Voraussetzungen verwende, die in das fertige Bild eingebaut sind – stehen für mich am Anfang einer empirischen Erkenntnistheorie.“ Gregory Bateson: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987, S.43.
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dells bereichert und erweitert. Man kann an jeder Stelle anhand von Bildern die Perspektive von nah und fern wechseln und auch jeden beliebigen Ort einnehmen. Man kann mit dem technischen Verständnis des perspektivischen Bildes Räume besetzen, erobern und z.B. kolonisieren.108 Gerade die technische Ausweitung des Sehens und die Erweiterung des Blicks über die physiologischen Grenzen hinaus, sind Gegenstand medialer und künstlerischer Untersuchungen. Der technische Blick und das technische Sehen sind nicht mehr an die natürlichen Bedingungen des menschlichen Sehfeldes gebunden. Das eröffnet scheinbar ganz selbstverständlich neue Dimensionen des Sichtbaren. Jedoch muss man die Problematik der Übertragung bzw. Übersetzung konstruierter Oberflächen kritisch bewerten. Woher können wir wissen, wie etwas aussieht, das wir so niemals werden sehen können? Gegenüber den Übertragungen aus nicht sichtbaren physikalischen Bereichen unter dem Vorzeichen wissenschaftlicher Entdeckungen ist also Vorsicht geboten. Das ‚forschende Auge‘ ist nur dann überzeugend,109 wenn es technisches Sehen nicht einfach illustriert und hierbei auf allzu bekannte Schemata und Muster von Oberflächen zurückgreift und somit in naturwissenschaftlich orientierte Oberflächen-Klischees abdriftet, wie sie nicht nur in populär-wissenschaftlichen Zeitschriften gern benutzt werden. So sind wissenschaftliche Bilder, beispielsweise neue Sternen- oder ‚Nano‘-Bilder, oft pure visuelle Erfindungen; eigentlich noch nicht einmal das. Eine Kritik des wissenschaftlichen Bildes steht noch aus.110 „Formen und Akte“ von Sichtbarmachung
„Flächen und Linien“ als Modell und Rahmenhandlung
Ordnung, Setzung
Beziehung, Verknüpfung, ...
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Man kann hier einen Gedanken von Martin Heidegger paraphrasieren, dass im Bildentwurf schon ein Vorgriff auf Weltbesitz gegeben ist und sich darüber hinaus fragen, worin die kulturelle Macht der Kunstmuseen in den westlichen Metropolen liegt oder lag, wenn sie zeigen und zugleich verdecken, worin das Eigene gegenüber dem Fremden besteht. Orientalismus oder Primitivismus u.a. lauten hierzu die Stichworte.
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Auch „das forschende Auge“ des Wissenschaftlers bewegt sich in dem Rahmen einer vorausgesetzten Sichtbarkeitsordnung, die aber nicht unumschränkt gültig, also objektiv ist: „Wir überlassen die Leitung unserer organischen Funktionen gerne dem automatischen Piloten und brauchen nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn da irgendetwas nicht stimmt und eine ungewohnte Empfindung unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Auch die äußere Wahrnehmung verhält sich meist ähnlich. Dem Regelhaften und Erwarteten schenken wir keine Beachtung, und dadurch werden unsere Sinne frei, das Unerwartete und Überraschende zu prüfen.“ Ernst H. Gombrich: Das forschende Auge. Kunstbetrachtung und Naturnachahmung, Frankfurt am Main: Campus Verlag 1994, S.30. Vgl. Vögtli, Alexander; Ernst, Beat: Wissenschaftliche Bilder. Eine Bildkritik, Basel: Schwabe Verlag 2007. Diedrich Diederichsen: Kritik des Auges – Auge der Kritik, in: Katalog Zürich: The Expandet Eye. Sehen – entgrenzt und verflüssigt – von Dali bis Huyghe, hg. von Bice Curiger, Kunsthaus Zürich, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2006, S.67.
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Das zerlegte Bild, die durchbrochene Oberfläche
Planung, Entwurf
Konzept, Programm, ...
Verdichtung, Durchdringung
Prozess, Struktur, Zirkulation, ...
Speicherung, Wiedergabe
Protokoll, Linearität, ...
Erscheinung, Präsens
Simultaneität, Sukzessivität, Fokussierung, Evokation, (Eigen-) Bewegung, Mitvollzug ...
Schema zur Verschränkung bzw. Verschaltung von „natürlicher“ und technischer Wahrnehmung visueller Phänomene
Durch die digitalisierbaren, technischen Bilder ist eine Situation entstanden, die über die bildliche Verfügung und die visuelle Produktion hinausgeht. Die veränderte Situation betrifft den Vorgang der visuellen Konstruktion selbst, die Ordnung, wie Oberflächen hergestellt und dynamisch in Beziehung gesetzt werden; das, was wir also ohne Bild tun, wenn wir z.B. lernen, eine Schleife mit Schnürbändern zu machen oder wenn wir Funktionen von technischen Geräten oder Maschinen mit unseren Händen und Füßen automatisch koordinieren, so kombinieren wir Einzelbilder, Karten, Diagramme, geschichtete Bildebenen, Bewegtbilder, Zeichen etc. Das heißt, wir üben im Gebrauch der technischen Bilder Verschaltungen und Berechnungen von Sichtbarkeitsverweisen ein, die uns eine visuelle, taktile, sensorische Ordnung offeriert, die mit der Ordnung des tradierten Bildraumes längst nicht mehr zu fassen ist. Beispiele für das Tun ohne Bild, sprich für den technischen Bildergebrauch sind: Das Zappen, das Browsen und das Zoomen. Dies sind oft taktil gesteuerte Handlungen, die Bilder- und Kontextwechsel oder Detailansichten unterstützen. So wie man eine Sprache oder ein Verkehrsmittel lernt zu steuern, so lernt man auch den Gebrauch von Menus oder sonstiger computergestützter Oberflächenbedienung. Man folgt ganz selbstverständlich den Aufforderungen und Anweisungen: Enter, Return, Login, Link, Edit, Create, Follow, Order, Accept, Browse, Read, Submit, Tag, Reply, Blog etc. und findet dazu in der vernetzten Architektur des Web, des Internets (zunehmend) vorgegebene Informationswege, springt zu Stellen, die auch noch mitzunehmen sind und erreicht Ebenen, zu denen man geleitet wird. Offensichtlich braucht man katastrophale Brüche, die – wie bereits erwähnt – in Analogie zur unberechenbaren Unvermeidlichkeit von Naturkatastrophen stehen, um die animierte Verschaltungspolitik von beispielsweise Menuoberflächen überhaupt in ihrer ganzen Tragweite begreifen zu können. Auch aus diesem Grund ist 9/11 ein Anstoß gewesen, sonst nicht erkennbare Zusammenhänge verschalteter Oberflächen herauszuarbeiten. Tom Holert schreibt dazu: „Eine visuelle Benutzeroberfläche ist noch immer das ‚intuitivste‘ Interface mit der Wirklichkeit: Diese quasi-theologische Annahme liegt einem Großteil der Kommunikationen in der Aufmerksamkeits- und Verführungsökonomie zugrunde, wo Aussehen und Ansehen in den neuen Typologien und Looks und Profilen verschwimmen. Die Amalgame von Bild und Politik, von Visualität und Subjektivität sind der Stoff des Regierens in den Bildräumen der Gegenwart. Diese reichen über das Bild hinaus, dringen in die kollektiven und in-
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dividuellen Körper, in das Bewusstsein, in das Unbewusste vor, wo sie nicht dieselben bleiben. Die konstitutive Instabilität und Offenheit dieser Amalgame bedingt aber auch die unaufhörliche Bewegung der Grenzen der Bildräume. Mit CNN, Al Jazeera, BBC, Nintendo, PlayStation, DVD, iPod, Google, YouTube, MySpace, Digitalkameras, Mobiltelefonen und den jeweils nächsten Plattformen und Formaten der Netzwerktechnologie wird das Ineinanderfallen von Bild- und Leibräumen, von Darstellungs- und Affekträumen technologisch kontrolliert, aber zugleich außerordentlich mobilisiert und beunruhigt.“111 Die oberflächlichen Verschaltungen geschehen auf Befehl, und es stellen sich durch den Gebrauch Ahnungen ein, wie man am besten mit Informationsverknüpfungen zurechtkommt. Möglicherweise ergibt sich aus diesen individuell differierenden Gebrauchsspuren in der Anwendung eine Art technisch bedingte Abstraktion und Intuition, die die verteilte Rolle des Users, des Zuschauers von Filmen und Theaterstücken, des Verkehrteilnehmers oder Sprechers in einer Gruppe tangieren, überlagern und durchkreuzen. Zumindest ist zu vermuten, dass sich die meisten Bewegungen in den verschalteten Ebenen und Assoziationsketten für den Nutzer und Beobachter auch anfühlen lassen, schließlich „klickt“ der User immerzu und punktet dergestalt Emotionen. Auch wenn dieser technische Prozess des sprunghaften Schaltens, Verlinkens etc. selbst nicht sichtbar ist, kann er doch als Verlauf prinzipiell gespeichert werden, also zurückverfolgt und korrigiert werden, auch wenn das praktisch nur beschränkt möglich bzw. sinnvoll ist. Gibt die technische Verschaltung den Rhythmus bzw. das Tempo und die Optionen vor, fügt sich die mentale Bewegung diesen Rahmenbedingungen. Dann gibt es keine Differenz zwischen dem technischen und dem mentalen Prozess. Das technische Gefüge kann ähnlich geschlossen sein, wie das Paradigma einer geschlossen Oberfläche. Es führt an dieser Stelle zu weit, diesen Aspekt eingehender zu diskutieren, aber zumindest ein Hinweis auf das Begriffsverhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit erscheint mir nicht unwichtig für den weiteren Diskussionsverlauf. Zu fragen ist, ob die Determinierung durch Technik und Technologien die Kategorie der Möglichkeit aufhebt. Da die mentale Tätigkeit technische Konstruktionen z. B. durch spielerische Strategien sowohl annehmen als auch verlassen kann, ist es zumindest denkbar, die Eingebundenheit in technische Abläufe zu unterbrechen und durch andere zu ersetzen bzw. zu erweitern. Die Anwendbarkeit des Möglichen als reale Strategie („technischer Wille“) und damit die Kalkulierbarkeit des Noch-nicht-Möglichen würde allerdings die Kategorie des Möglichen aufheben, weil das Trennende des Möglichen in Bezug auf das Reale dadurch überbrückt wäre. Im Zusammenwirken der verschiedenen Rollen, die durch den medialen Gebrauch vorgegeben sind, konditioniert sich eine technisch formierte Person, ein technisch vermitteltes Individuum, ergibt sich mit Foucault gesprochen eine oberflächliche Technologie des Selbst. Rekapitulieren wir kurz den Grundgedanken der aufgeworfenen Fragestellung: Kann man wirklich von einem Aufbrechen „geschlossener“ Oberflächen ausgehen? Sprechen nicht die natürlichen Bedingungen der Wahrnehmung da111
Tom Holert: Regieren im Bildraum, Berlin: b_books. Reihe PoLYpeN 2008, S.44.
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gegen? Aufgrund der alltäglichen Praxis der Wahrnehmung erscheinen uns die Gegenstände, die wir wahrnehmen, als Dinge mit festen bzw. geschlossenen Grenzen. Und diese Grenzen sind meist geschlossene Oberflächen. Das ist so selbstverständlich, dass wir das gar nicht in Frage stellen würden. Indem unsere Wahrnehmung zwischen dem wahrnehmenden Körper selbst und der wahrgenommenen Umgebung trennt, ziehen wir eine Körpergrenze zu anderen Dingen im Raum bzw. der Umgebung, die wir erkennen. Unsere Haut als Körpergrenze ist eine Voraussetzung, die wir an uns selbst und an anderen Gegenständen ertasten können. In der visuellen Distanz erscheinen uns Oberflächen als Körpergrenzen von Dingen oder Flächen, die wir als Spiegel, Ummantelungen, Krusten, Verpackungen, Monitore, Bilder und Displays einordnen. Letzteres weist auf Techniken der Wahrnehmung, die Dinge einerseits und Informationen anderseits unterscheiden kann. Wir können zwischen realen Dingen und Daten, die diese realen Dinge abbilden oder symbolisieren und Daten, die ohne reale Vorbilder sind, unterscheiden. Es gibt also Dinge, die wir nur aus Daten bzw. Informationen erschließen, und es gibt nach wie vor die Dinge, die für uns eine physikalische Erscheinung im Raum einnehmen. Die Konstruktion von realen und durch Daten zusammengesetzten Oberflächen ist komplex, und sie ist dabei, über das tradierte Schema von anfassbarer Nahund visueller Ferngrenze hinauszugehen. Man kann wie folgt formulieren, dass das Paradigma der geschlossenen Oberfläche nicht mehr ausreicht, die natürlichen und technischen Wahrnehmungsbedingungen und -grenzen anschaulich und metaphorisch zu fassen. Das Ordnungsgefüge realer und fiktiver Dinge ist nicht mehr allein auf die Anschauungsbedingungen von Raum und Zeit beschränkt. Raum und Zeit treten selbst als Akteure in einem dynamischen Ordnungsgefüge auf. Um die Annahme einer Veränderung der Wahrnehmung und der Konstruktion von Realität am Beispiel der „aufbrechenden Oberfläche“ auszubauen bzw. zu stärken, sollen Überlegungen zum Blick und zum „Durchblicken“ hinzugezogen werden. Die sinnlich basierte Wahrnehmung ist ein Vermittlungsprozess von hier und dort, nah und fern, indem der Blick weder tote Geometrie noch lebendigen Organismus projiziert. Aufgrund der physiologischen Bedingungen liegt der Variationsbereich der natürlichen Sehschärfe in einem festgelegten Spektrum des Lichtes. Innerhalb dieses Frequenzspektrums nehmen wir die Dinge um uns herum wahr, sehen wir mehr oder weniger deutlich, was nah oder weit entfernt ist. Wollen wir noch näher oder noch weiter, müssen wir optische Hilfsmittel benutzen. In diesem Fall verlassen wir die mit den Augen fokussierbare, sichtbare Welt und durchbrechen die Ebene des Gesichtsfeldes. Unser Gesichtseindruck verlangt aber auch für den Mikro- und Makrokosmos eine geschlossene Fläche oder einen kontinuierlichen Raum. Das geschieht automatisch. Der lebendige Blick bewegt sich in einem dichten Sehfeld, das lükkenlos konstruiert wird. Lückenlos bedeutet so viel wie, dass der lebendige, organische Blick keine Aussetzer duldet, er will heil bleiben, vollständig, und er ist irritiert, alarmiert, wenn z.B. eine technische Panne passiert. Die visuelle Wahrnehmung, die Konstruktion des lebendigen Blicks ist systemisch gewendet auf Selbsthervorbringung und Selbsterhaltung angelegt. Störungen müssen
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vermieden werden, ebenso wie Trugbilder. Das ist eine Erwartungshaltung, die auch gegenüber der vermeintlich perfekten Technik erwartet wird: Technische Bilder müssen funktionieren, und gehen sie einmal kaputt, müssen sie wieder heile gemacht, also repariert werden. Es ist so, als wäre unser Gesichtsfeld eine Maske, die wir auf die Dinge, die wir sehen können, übertragen, als würden wir diese Maske kontinuierlich sozusagen allen Dingen überziehen, auf die Dinge legen und erst dadurch diese sehen. Mit Google-Earth – ein aktuelles Beispiel dazu – ist eine virtuelle Geo-Oberfläche, eine zweite technische „Haut“ entstanden. Würde man die „durchgängige Maske“ des lebendigen Sehfeldes wie bei einem Tischtuch den Dingen wegreißen, würden die Dinge vor unseren Augen verschwinden. Auf diese Idee würde man gegenwärtig aber kaum kommen. Wahrscheinlich würden wir dann noch nicht einmal ein Gittermodell der wahrgenommenen Welt sehen. Denn wir wissen nicht, ob die geschlossenen Oberflächen im Kontinuum des natürlichen Sehfeldes in Analogie zur Technik des Renderns oder zu Modellen der theoretischen Physik stehen. Hier wäre die Frage, wie eine abtastende Wahrnehmung und das Konstrukt der hervorgebrachten Umwelt im Gehirn in funktionale Beziehung zu setzen sind. Aus der „Sicht“ der Blinden ändert sich an der Existenz der physikalischen Welt in diesem Gedankenexperiment überhaupt nichts. Die Oberflächen (hier ist die englische Wortbedeutung von „surface“ einmal mitzudenken), die wir wahrnehmen, bezeichnen ein Körperverhältnis: Oberflächen, Bildflächen, auch Bildschirme sind abstrahierte Häute, eine Art Überzug der wahrnehmbaren Dinge um uns herum. Oberflächen sind Grenzenflächen, die anorganische und organische Körper umschließen und umhüllen. Didier Anzieu, der u.a. in Anlehnung an Sigmund Freund die psychischen Bedingungen und Funktionen des „Haut-Ichs“ herausgearbeitet hat, stellt fest, dass die neuzeitliche Erkenntnis auf seziermesserscharfe Durchdringung von Phänomenen und auf die Zertrümmerung fester Gegenstände, z.B. von Zellkernen, ausgerichtet ist und dass – mittels der Kultur Schmerz- und Lustgrenzen an den Oberflächen der Dinge und Menschen angezeigt und erprobt werden.112 „Hat nicht das Denken genausoviel mit der Haut wie mit dem Gehirn zu tun? Und hat nicht das Ich, jetzt als Haut-Ich definiert, nicht die Struktur einer Hülle?“113 Und weiter heißt es: „Die Haut schützt unser inneres Milieu vor Störungen von außen. In ihrer Ausformung, Oberflächenbeschaffenheit, ihrer Färbung sowie ihren Narben trägt sie die Zeichen dieser Störungen. In gewisser Weise entblößt die Haut diesen inneren Zustand, den sie zu schützen vorgibt. Für Außenstehende wird über die Haut unser Gesundheitszustand und unsere Seelenlage widergespiegelt.“114 Hieran schließen sich eine Vielzahl tiefenpsychologischer Analysen an, die zeitkritische Beobachtungen zur individuellen und kollektiven Überforderung, z.B. bewusstseinsmäßigen Entgrenzung der Haut 112
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Siehe Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991, S.20. Ebda., S.21. Ebda., S.30.
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in die Untersuchung einbeziehen. Anzieu versteht die Haut als Membran, die Körperfunktionen als Einheit umschließt und auf durchlässige Weise zwischen dem Ich und seiner Umwelt vermittelt. Trotz zutreffender Beobachtungen von Anzieu wäre dennoch die Frage, ob nicht eine mehr evolutionäre Fragestellung mit Blick auf das Zustandekommen von komplexen Organismen mit diversen Organen nicht dazu führen könnte, körpernotwendige Grenzflächen und biologische Grenzlinien zu abstrahieren, um geistige Prozesse und Strukturen besser zu verstehen. Können wir nur Oberflächen wahrnehmen? Müssen wir Oberflächen konstruieren? Während wir Dinge ertasten und auch dreidimensionale Dinge wahrnehmen,115 ist Sehen selbst auf das Erkennen und Berechnen, der Kanten und Grenzlinien von visuellen Objekten angelegt, auf die Unterscheidung von Oberflächen und deren Abstände zueinander, also auf die Kunst der Fläche beschränkt. Man kann diese in den vorangegangen Überlegungen nach verschiedenen Seiten hin beleuchtete Frage noch erweitern, sie auf tradierte Wahrnehmungsmodelle beziehen und versuchen herauszufinden, ob solche Modelle der umund abgrenzenden Oberflächen noch in allen Belangen unserer Erfahrung und unserem Erkenntnisstand entsprechen. Mit dem tradierten Wahrnehmungsmodell ist die Vorstellung eines anschaulichen Gültigkeitsfeldes gegeben. Verlässt man die Gültigkeitsbedingungen des dreidimensionalen Newton’schen Raumes, stellt sich die Frage, ob wir jemals anders als vermittelt durch den Newton’schen Raum Dinge bzw. Gegenstände erfahren können. So wie wir einen Gegenstand heben, wenn er nicht zu schwer oder zu leicht ist und anfassen, wenn er nicht zu kalt oder zu heiß ist, scheinen wir immer eine Grenzfläche zu benötigen, um von einem Raum und von einem Gegenstand zum nächsten wahrnehmungstechnisch zu schalten. Anders gesagt: Solange räumliches Sehen auf die Unterscheidung von diskreten Dingen im physikalischen Raum fixiert ist, werden Oberflächen wahrgenommen und abstrahiert auf eine z.B. ausgegrenzte Bildoberfläche (abgegrenzte Bildfläche) bezogen. Das Sehfeld ist konstant durch die Tätigkeit des Gehirns gegeben, das den visuellen Umgebungsraum unablässig konstruiert, wohingegen der Blick „frei“ ist, zwischen den Sehobjekten wandert und sozusagen sprunghaft Beziehungen herstellt. Während motivierte Sehbewegungen eigens hergestellt werden müssen, werden Veränderungen im Sehfeld automatisch registriert. Körper- und Denkbewegungen lassen sich beobachten, rekonstruieren und mechanisch oder sonst wie technisch nachbauen. Dass physikalische von mentalen und diese von technischen Bewegungen zu unterscheiden sind, ist das Ergebnis von Beobachtungsprozessen und technischen Anwendungen, die aufeinander aufbauen. Demzufolge schlägt sich die Trennung von mentalen und technischen Seh- und Denkbewegungen in Erfindungen von Sehinstrumenten und Bildmaschinen nieder, in denen Sehbewegungen immer 115
Man könnte an dieser Stelle mit einem immersiven Farbraum argumentieren, um deutlich zu machen, dass ohne geometrische Koordinaten (und Schwerkraft) nur diffuse Ausdehnung, aber keine Flächen wahrgenommen würden.
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wieder analysiert und simuliert sowie Beobachtungsvorgänge technisch modifiziert in einem bislang offenen Zirkulationsprozess zurückgeführt werden. Dinge, die wir als feste, „ummantelte“ Gegenstände im Raum unterscheiden, sind die ‚Arbeit des lebendigen Blicks‘. Sie sind das Ergebnis unserer Wahrnehmung. Dieses Konstrukt kann sich verändern, wenn das Rahmenmodell der Wahrnehmung sich hin zu einem Prozess von Vermittlung wandelt. Die Natur der Dinge schlägt in technischen Vermittlungsformen sozusagen ihre Augen auf, gleichwohl in aller Form medialer Eingebunden- und Versunkenheit, die bekanntlich narkotisch ist. Wir wissen also nicht, wohin uns der lebendige Blick führen wird, wenn er ‚Strukturen eines geistigen Auges‘ besitzt. Außerdem kann dieses Rahmenmodell durch den mechanisierten Blick, durch optische Geräte erweitert bzw. technisch unterstützt und vermittelt werden. Das ist praktisch der Fall. Angenommen, es verhält sich so, dass es eine Zusammenarbeit von dem lebendigen und dem technischen Blick gibt, möchte man das Modell beschreiben, innerhalb dessen Sehen funktioniert, sich der Blick verändert, d.h., man möchte herausfinden, wie sich die anthropologischen Konstanten auf veränderte Wahrnehmungsakte und -inhalte einstellen. Was sich ständig verändert, sind die technischen und technologischen Möglichkeiten, die das Gesichtsfeld ausdehnen bzw. Bereiche jenseits der natürlichen, lokalzeitlichen Beschränkungen eines Beobachters vermitteln. Einerseits muss das Gesichtsfeld überschaubar sein. Anderseits ist es nicht überschaubar genug. Das ist widersprüchlich. Es ist in sich geschlossen, um Einzelheiten ausreichend zu unterscheiden. Und es ist offen, die Geschlossenheit aufzugeben. Für die Geschlossenheit ist das geometrisch perspektivische Modell verantwortlich, mit dem wir das Gesichtsfeld strukturieren. Der geometrisch konstruierte Raum der Wahrnehmung definiert das Gesichtsfeld als einen immersiven Raum, der von Oberflächen distinkter Dinge gebildet ist; es ist möglich, das Sehfeld als ein Rechteck zu abstrahieren. Das Gesichtsfeld ist die „Arbeit des Blicks“: Interessant ist, dass das Modell der Fläche von dem organischen Blick, der unruhig und tastend die visuellen Daten ordnet und erfasst, konstruiert wird. Organisches Sehen und kulturell erworbenes, perspektivisches Sehen greifen ineinander. Weiterhin fragt man sich, ob die sichtbare Grenze, das ist die Beschränkung der natürlichen Konstanten durch Ausdehnung oder Übertragung auf nicht sichtbare Bereiche, sich bloß erweitert oder verschiebt. Wir sehen zwar durch die technische Vermittlung der Hinzuschaltung anderer Bereiche zu unserem natürlichen Sehfeld immer mehr. Ist aber dadurch die Grenze des Sichtbaren wirklich erweitert? Quantitativ gesehen, gibt es eine Zunahme bzw. Ausdehnung. Also kann die Frage hinsichtlich der Quantität mit Ja beantwortet werden. Aber qualitativ betrachtet gibt es keine Veränderung der Grenze selbst. Also muss, qualitativ gewendet, die Frage verneint werden. Ein großes Thema der Moderne der bildenden Künste war die Frage nach dem Nicht-Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Formelhaft hieß es, die Kunst mache das Nicht-Sichtbare bzw. Unsichtbare sichtbar. Hier muss man genauer werden. Erstens: Dass Kunst etwas sichtbar macht, weil dadurch etwas aufgedeckt bzw. ansichtig und einsichtig gemacht, also nachvollziehbar gezeigt wird, ist eine Leistung, die nach wie vor erbracht
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werden kann. Zweitens: Aber dass Kunst etwas Unsichtbares sichtbar machen kann, ist ein Wunschtraum, der nicht in Erfüllung gehen kann. Da allerdings solche Wunschträume scheinbar unverwüstlich sind, leben sie jetzt in technologischen Phantasien fort. Nicht unwichtig ist, wer über die Sichtbarkeitsgrenze qualitativ entscheidet. Liegt diese Frage noch in den Untersuchungsfeldern etwa der Malerei, wie einst bei dem Maler Paul Cézanne und wie eventuell heute bei den abstrakten, digitalen Bildstudien des Fotografen Wolfgang Tilmanns? Muss man nicht zugeben, dass sich die Erkenntnisse der modernen Physik und Astronomie nur mathematisch darstellen lassen? Sind die Visualisierungen physikalischer Modelle nicht bloß Illustrationen innerhalb visueller Konventionen? Gemeinhin machen solche Illustrationen noch nicht einmal etwas sichtbar. Ich nehme an, dass aber über eine Kritik des wissenschaftlichen Bildes auch eine Thematisierung der Sichtbarkeitsgrenze (wieder) möglich ist. Einen Gesichtspunkt, der hierbei noch nicht zur Sprache gekommen ist, möchte ich noch kurz anführen. Er betrifft die Bestimmung der Grenze. Man kann das sichtbare Feld geograpfisch oder topologisch bestimmen. Dann endet das sichtbare Feld an Grenzlinien. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das sichtbare Feld als Grenzfläche zu definieren. Die sichtbare Oberfläche ist eine Grenzfläche. Sie gibt an, bis wohin der Sehsinn reicht. Auf Bildoberflächen kann das reflektiert werden. Die Bildoberfläche ist ein Stellvertreter für die Grenzfläche. Gemeinhin ist das nicht thematisch. Ganz im Gegenteil, denn in der Geschichte des Bildes ist die Bildoberfläche bzw. Bildebene, die sozusagen optisch die Tür oder ein Fenster öffnet, eher ein Ausblick und ein Durchblick. ‚Finestra aperta‘ nannte Alberti das perspektivisch konstruierte Bild. Diese Durchlässigkeit ist aber auch nicht endlos, sondern auf die Reichweite z.B. eines illusionistischen Raumeindrucks beschränkt. Ein monochromes Bild hat einen Farbauftrag, der eine räumliche Tiefe evoziert. Hier kann die Grenzfläche optisch unbestimmt oder vage sein. Die Diskussion der Oberfläche als Grenzfläche lässt sich noch auf einen anderen Bereich überführen. Versteht man die Oberfläche als eine Seite einer Grenze, die beobachtet wird, ist zu überlegen, ob es ‚eine‘ andere Seite gibt und wie diese beschaffen ist. Man kann eine Vorder- von einer Rückseite unterscheiden. Das ist bei Bildern oder Spiegeln enttäuschend, denn die Rückseite zeigt nichts. Gibt es nur eine Richtung, die beobachtbar ist? Ist im zeitlichen Nacheinander ein Positionswechsel der Beobachtung möglich? Denkbar ist, dass die Grenzflächen sich austauschen, ständig hin und her kippen. Oder der Kippzustand wird permanent unterdrückt, wie das im ständigen Wechsel filmischer Bilder genutzt wird. Gegenüber den faktischen Beschränkungen der Grenzfläche im geometrischen Raum ist die Vorstellung eines Durchgangs zu etwas anderem hin eine Erweiterung. Die Metapher der Grenzfläche als Übergang ist in vielerlei Hinsicht modifizierbar, angefangen von der Trennwand bis zum Durchlass einer nicht sichtbaren, verborgenen Seite: danach, dahinter oder jenseits. Man kann diese ‚spekulative Seite‘ der Grenzfläche auf verschiedene Bereiche ausdehnen. Einen davon möchte ich abschließend noch nennen: Grenzflächen zwischen kulturellen Räumen.
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Die kulturelle Praxis operiert in Sehfeldern, die begrenzt und vertraut sind. Es gibt also kulturelle Grenzflächen, die erworben werden und die anzeigen, wo meine Kultur endet und eine andere beginnt. Man lernt aus der strukturellen Analyse, dass Übergänge und Vermischungen kultureller Räume fließend sind, aber nur dann, wenn kulturelle Grenzen auch überschritten werden, ansonsten bleibt man an der Oberfläche eines kulturellen Raumes, der allenfalls Bilder von anderen Kulturen innerhalb der eigenen entwirft. Das Modell hybrider Kulturen, seien diese weit zerstreut oder lokal überlagert, relativiert die Idee des kulturellen Raumes, macht ihn dafür aber auch interessanter, wenn mindestens eine kulturelle Grenzfläche bewusst ausgeprägt ist, damit Unterschiede wahrgenommen werden können. Grenzflächen hybrider Kulturen dürfen nicht ganz verwischen, ansonsten wird die Vielfalt von Kulturen unterschlagen. Wahrscheinlich war die Grenzfläche des westlichen Bildes so einseitig, wie sie über einen langen Zeitraum hinweg christlich monotheistisch geprägt war, während gegenwärtig die Grenzflächen mehrseitig, fast vielfältig gefordert sind und dadurch auch ein Indiz für das Aufbrechen der Oberflächen darstellen. Damit möchte ich an dieser Stelle die Diskussion der Grenzflächen abschließen und wieder auf Fragen der Bildpraxis und deren Sichtbarkeitsgrenzen zurückkommen. Dadurch, dass wir nur Oberflächen sehen (können), erscheinen uns die Dinge getrennt voneinander im Raum. Die Oberfläche ist hilfreich und nicht bloß „oberflächlich“, sondern sie passt gut mit der gängigen Auffassung von Tiefe oder Vertiefung zusammen, eben Zusammenhänge zu stellen oder zu durchbrechen. Die Frage nach der Sichtbarkeitsgrenze fiel bislang aufgrund der phänomenologischen Bedingungen sichtbarer Oberflächen in das Gebiet der bildenden Kunst, in die Flächenkunst. Was hat diese in Bezug auf das tradierte Bild einschließlich der Moderne geleistet? Was ist daran heute noch interessant? Wenn die Bildoberfläche eine Ebene darstellt, in der die faktischen Gegebenheiten – z.B. einer Farbfläche – zum Gegenstand der (malerischen) Sichtbarkeitsuntersuchung werden, ist dadurch auch eine subjektiv erfahrbare Grenze für den Beobachter angezeigt. Man kann im Akt der Bildwahrnehmung sozusagen zusehen, dass sich die Farbe dort auf dem Bild bewegt. Beispielsweise wurde in der „konkreten Malerei“ die Farbe als Oberflächenphänomen auf vielfältige Weise getestet mit dem Ergebnis, dass es elementare Grenzen der visuellen Erfahrung gibt. Gegenüber diesen Studien zur Sichtbarkeitsgrenze und zur Sichtbarkeitsordnung stellen die aufbrechenden und sich generierenden Oberflächen technischer Bilder und visueller Prozesse einen Quantensprung dar: Die fixierbare bzw. nicht fixierbare Grenze der Bildebene verschwindet. Aber wohin? Was ist durch das verschaltete Aufbrechen der Oberflächen von Bildern gewonnen? Zunächst einmal möchte ich an zwei berühmte Grenzfälle aus der bildenden Kunst erinnern. Seit Luis Bunuels und Salvador Dalís Rasiermesserschnitt durch ein Kuhauge in dem Film „Der Andalusische Hund“ von 1929 kennt der Zuschauer die schmerzhafte Verletzlichkeit des Blicks. Und seit Lucio Fontanas Messerschnitten in monochrome Leinwände ab 1958 kennt der Betrachter die Bildoberfläche auch als einen dreidimensionalen Gegenstand, der Schatten wirft.
Das zerlegte Bild, die durchbrochene Oberfläche
Vergleicht man die gegenwärtige Situation mit der Montage-Technik in der Fotografie, Bildmontage und dem Avantgarde-Film der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, ergeben sich durch Kombinationen von Elementen zu neuen visuellen Einheiten Ähnlichkeiten. So können die Oberflächen von Papierfotos zerschnitten und wieder zusammen geklebt werden. Von Kurt Schwitters bis Robert Rauschenberg stellt die Bildmontage ein Prinzip dar, diverse visuelle Elemente oder Gegenstände, die aus unterschiedlichen, mitunter alltäglichen Verwendungskontexten von Bildern stammen können, auf einem Bildfeld sinnvoll anzuordnen, so dass dadurch ein formaler oder narrativer anderer, neuer Gesichtspunkt entsteht. Es liegt also bereits mit der Montage oder auch der Collage ein Prinzip des Trennens und Fügens zu Grunde, um Bildoberflächen zu de- und remontieren. Die Fragmentierung der Bezüge lenkt die visuelle Aufmerksamkeit auf eine andere Beziehung der Teile auf der Fläche und den hier zu findenden, visuellen Gegenständen. Eine veränderte Sicht auf die Teile ergibt ein so nicht bekanntes Ganzes. Durch die assoziative Fügung bzw. bildlich geknüpfte Verfügung werden die Übergänge unterschiedlicher Oberflächen bzw. Elemente sozusagen verfugt, optisch angebunden und auf eine Gesamtansicht einer Oberfläche hin lesbar: Die Montagetechnik gewährt einen gestaltenden Blick auf eine Montagefläche. Dies entspricht durchaus der industriellen Fertigung von Gütern, die eine Ware oder Maschine aus Einzelteilen zusammensetzen. Während die handgemachte und mechanisierte Montagetechnik noch dazu tendiert, die Idee des Einzelbildes auf den Zusammenschluss vieler einzelner Komponenten zu übertragen, ist die aufbrechende Oberfläche der technischen Bilder automatisierbar und an kein Einzelbild mehr gebunden. Wenn diese Veränderungen im Folgenden genauer betrachtet werden, muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Automatisierung aufbrechender Oberflächen sich sowohl auf die montageartige Zusammensetzung als auch die Verschaltung zwischen Bildern oder Details von visuellen Informationen bezieht. Einerseits gibt es im Gebrauch der technischen Verschaltung eine „manuell“ gesteuerte Verknüpfung im Tun und Sehen, andererseits sind durch Algorithmen Oberflächen metamorphosenartig manipulierbar. Man kann sich diese „Arbeitsteilung“ ganz gut anhand von DJ’s und VJ’s (und LJ’s) auf der einen Seite und softwarebasierter Veränderungen in jede Art von Bild- und Toninformation in Echtzeit auf der anderen Seite deutlich machen. Das erste wäre ein Spiel mit mosaikartig sich austauschenden Flächen im Rhythmus von Musik. Das zweite ist der Austausch von Bild- und Tonelementen auf einer sichtbaren Oberfläche bzw. Soundmappings oder die Überlappung von diversen Fotos nacheinander oder zum Beispiel die automatisierte Manipulation von Personenportraits während einer Liveshow. Automatisierbare Bildeffekte und visuelle Metamorphosen können für jeden Zweck überall eingesetzt werden. Es gibt hinsichtlich der Kreativität von Formen der Oberflächenmanipulation keine Grenzen. Die Praxis der technischen Bilder hat eine Dimension erreicht, in der das Machbare und das Vorstellbare konkurrieren. Das wirft Fragen nach einer Politik des Bildergebrauches auf, die hier nur indirekt angesprochen werden können. Nach wie vor ist unumgänglich, den bildlichen Austauschprozess auf Oberflächen, die ihre Konsistenz verlieren, hin zu ana-
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lysieren und zu zeigen, welche Strukturen in vollständigen oder zerstückelten Bildwanderungen anzutreffen sind. Die kritische Betrachtung kommt ohne die formale Analyse nicht weiter. Darauf soll also die weitere Auseinandersetzung hinauslaufen, die herrschende Bilderpraxis auf ihre möglichen Strukturen hin zu befragen. Herkömmlicherweise finden wir Bilderwanderungen anhand der Zusammenstellung von einzelnen Bildern in Reihen. Beispielsweise werden Fotostrecken erstellt und dabei Sprünge zwischen den Details dieser Fotos, aber auch anderen denkbaren Bildern impliziert. Damit wird die vermeintliche Ruhe und Konzentration der stillen Bilder oder des Kontinuums von Bilderfolgen verlassen. An deren Stelle tritt der interaktive Verlauf einer Technik des Montierens. Für das Verständnis eines gerichteten, ungerichteten oder geschlossenen Verlaufs als auch für die Frage nach dem Stand der Technik gibt es Deutungsmuster. Während im Verständnis von taktiler Interaktivität sowie bewegter oder statischer Verschaltung noch ein begrifflicher Rest von Mechanik mitschwingt, scheint das Unabänderliche des Verlaufs nur metaphorisch als „flow“,116 als Fluss, (Bewusstseins-)Strom, Zyklus oder als funktionsbedingte Schleife, Loop, Schaltkreis fassbar. Die interessanten Deutungsmuster liegen im Verständnis dynamischer Techniken, die erklären, wie Schalt- und Regelkreis oder autopoetische Systeme visuell funktionieren. Man kommt – wie schon Heidegger in der Frage nach dem Technischen gezeigt hat117 – nicht weiter, wenn man die Bedingungen und Logik des Technischen nicht auf eine Politik und Ordnung von Sichtbarkeit bezieht, die ressourcenmäßig geborgen und zugleich unerkannt verborgen bleibt. Die Eingebundenheit des Einzelnen in die visuellen Schleifen ist die eigentliche Frage. Anhand dieser Frage lassen sich auch die Analogien von technischen, gesellschaftlichen und psychischen Apparaten oder von Assoziationsmaschinen bis hin zu sozialen und technologischen Netzwerken diskutieren. Bringt man diese Beobachtungen auf einen Nenner, erkennt man, dass die Frage nach der Durchdringung und Durchwobenheit der Oberfläche von dem tradierten, stehenden und bewegten Bild wegführt. Aber wohin geht es in der Schichtung und dem Zusammenspiel von Unter-, Ober-, Neben- und Zwischenflächen und sich entfaltenden Bezügen? Technische Bilder sind im Vollzug dynamisch. Sie durchlaufen beliebige Zustände, mal ruhig, mal bewegt; sie komprimieren Raum und beschleunigen die Zeit. Ihr struktureller Effekt, d.h. ihr Prozesscharakter mündet nicht wieder in „ein Bild“, sondern allenfalls in ein Protokoll des tätigen Blicks. Wie soll man diese Tätigkeit des Blicks beschreiben? Der verschaltete Blick ist eine Herausforderung für den wahrnehmenden, bodenständigen Körper, dem es sozusagen im ‚Freistil der Verknüpfungen‘ ‚schwindlig‘ wird, weil die leibhafte Bindung in den vielen Metamorphosen, zeitweise 116
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Raymund Williams: Television. Technology and Cultural Form, hg. von Ederyn Williams, London: Routledge 1990, S.91. Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: Die Künste im technischen Zeitalter, hg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Technische Hochschule München, München: R. Oldenbourg Verlag 1954, S.91.
Das zerlegte Bild, die durchbrochene Oberfläche
mal hier und dort zu sein, aufgehoben wird. Meiner Meinung nach bleibt der lebendige, technisch sich verschaltende Blick aktiv; er schwebt nicht einfach regungslos wie im freien Fall dahin, sondern er stößt sich sozusagen von Bezug zu Bezug unermüdlich ab. In die ‚eingefalteten‘ Ebenen, in die verschachtelte, geknickte Ordnung der Oberflächen greifen technisches Tun und Sehen wie Suchbewegungen eines Käufers in einem riesigen Warenlager ein, um das an die aktuelle Oberfläche zu holen, was aus den geschichtet verzweigten „Stellflächen“ herausgelöst und „aufgerufen“, d.h. herbeigeordert wird. Es ist also richtig, anstelle von Oberflächen besser von Schaltflächen bzw. Montageflächen zu sprechen, um die Hinzuschaltung, Übersetzung und Transformation von Vorgängen zu kennzeichnen. Dies entspricht dem Gebrauch technischer Bilder, deren technologischer Standard seit ein paar Jahrzehnten im ständigen Wandel begriffen ist. Durch die permanente Bereitstellung technischer Vermittlung hat sich das Verhältnis von Realität und Virtualität verändert. Durch die räumliche Orientierung der Perspektive auf etwas hin, was man als Bild vorab entwerfen oder bewegen kann, hat sich das Bewusstsein lokaler Beschränktheit des Körpers gewandelt. Man kann zwischen zeichenhaften Stellvertretern und Dinglichkeit abstrahieren und dies konkret für die anwesende oder abwesende Präsenz des Körpers (des Leibes) nutzen. Somit gewinnt heutzutage die permanente Bereitstellung von Kommunikationstechnologien einen appellativen Charakter. Anders gesagt: Durch den Prozess der technologischen Formung und Anpassung verändert sich auch das Subjekt in der Moderne. Es bricht an den Oberflächen seines Projektes auf, es fängt immer wieder an, aber es verfängt sich dabei im Gestrüpp seines Umherirrens. Es ist zunehmend von Gebrauchsspuren gekennzeichnet, die im individuellen Verhalten und in Gewohnheiten auffindbar sind. Man altert in der Gegenwart mit dem technischen Standard, den man kennt, dem man unbewusst folgt oder glaubt zu beherrschen. Zwischen Realität und Virtualität arbeitet ein subjektiver Prozess, ein technisches Imago, welches durch die permanente Bereitstellung vor allem der omnipräsenten Kommunikationstechnologien zur Disposition steht. Dass dieser Prozess in Zeiten der Industrialisierung mit dem Begriff des „Gestells“ nach Heidegger oder in Zeiten der bio-technologischen Durchdringung mit dem Begriff des „Dispositivs“ nach Foucault umschrieben werden kann,118 zeigt an, wie die Rahmenbedingungen des Subjektes diskutiert wurden. Dieses Subjekt – so muss man hinzufügen – hat gegenwärtig ein Imago, von dem es nur im Gebrauch weiß. Es hat kein perspektivisches Bild mehr, auf das es sich entwerfend zugehen müsste. Mit Vilém Flusser gesprochen richtet es sich auf und entfaltet sich in technischem Tun und Sehen. Was hat das zur Folge? Im Grunde ist es schon gesagt: Das Imago des Subjektes ist kein Bauplan seiner selbst mehr. Die nachträgliche Visibilität,119 die 118
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Siehe auch Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin: diaphanes Verlag 2008. Hans Blumenberg: Variationen der Visibilität, in: ders.: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006, S.871 und S.881.
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nachträgliche Ankunft des Gegebenen scheint sich – hoffentlich für immer – zu verabschieden. Wie wir an der politisch-medialen Zäsur von 9/11 gezeigt haben: Wir alle sollen auf das gewartet haben, was eintrat, so lautete die Meinung vieler, die wir hier kritisch diskutierten. Niemand hat aber gewusst, dass durch die gleichzeitige Wahrnehmung eines medial vermittelten Wirklichkeitsausschnittes die mediale Konstruktion von Realität sichtbar gemacht werden kann – trotz der ästhetischen Wirkung der Bilder: Das, was geschieht, ist meistens relativ, nicht aber im Ernstfall einer Katastrophe, zu der man sich nicht gleichgültig verhalten kann. Dadurch wächst der Druck, diese Wirklichkeit hier und jetzt mit anderen zu vergleichen und ihre Legitimität zu überprüfen. Möglicherweise ist das der wirkliche Vorteil der gegenwärtigen Situation, dass die Abarbeitung des Subjektes im vorauseilenden Entwurf einer sich selbst erfindenden Gegenwart kritischer erscheint. Das Subjekt könnte viel direkter etwas mit sich selbst anstellen und die „Projektion“ von Realität aufgeben, welche allzu sehr sein „Selbstbild“, sein „Spiegelbild“, sein Gegenüber im Werk der Arbeit gesucht hat. Das vernetzte Subjekt lernt auf der Stelle, sein Imago zu testen: Sichtbarmachung durchbricht das identifizierende, bildhafte Gefüge geschlossener Oberflächen und kann damit eine andere Sichtbarkeitsordnung herstellen.
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Versuch zur Wahrnehmung der Fotografie heute „Every lost moment is the life“ Don LeLillo1
Global Images: Fotografie In diesem Abschnitt des Buches wollen wir der Frage nachgehen, welche Bedeutung die Fotografie unter den globalen Bedingungen der Zugänglichkeit visueller Information haben kann. Die Fotografie ist ein technisches, digitalisierbares Bild. Eine Schlüsselstellung, wie es in den neunziger Jahren noch der Fall war, hat die Fotografie als technisches Bild nicht mehr. Das wurde bereits deutlich gemacht. Unter dem technischen Bild subsumieren wir gegenwärtig ein digitales Manipulations-Setting. Diese technologisch basierte Kombination aus Aufnahme, Verarbeitung und Veröffentlichung kann jedes Bildmedium erfassen und geht über den Prozess der fotografischen Aufnahme längst hinaus. Es wird dauernd und überall immer mehr geknipst (und gefilmt). Dadurch ist jeder, der davon Gebrauch macht in der Lage, visuell zu kommunizieren. Die Spannbreite der dabei entstehenden optischen Resultate ist immens. Einige Fotos (oder Clips) erreichen über private oder öffentliche Entstehungshintergründe hinaus einen Rang, Interesse auch für andere zu wecken. Die vielen zirkulierenden Ebenen, auf denen gleichzeitig Bilder gemacht und ausgetauscht werden, stehen in einem offenen Wettbewerb zueinander, der qualitativ bzw. quantitativ durch die Massenmedien bzw. durch die Künste reguliert wird. Wer (ständig) fotografiert und sich der Bewertung und den Kommentaren von anderen stellt, kann dadurch lernen, sich optimaler durch technische Bilder auszudrücken. So wie man einzelne Bilder und deren Intention gleich welcher Art beurteilen bzw. verstehen kann, so kann man sicherlich auch die Vielfalt der Mitteilungsbedürfnisse und Abbildungsinteressen durch künstlerische Beobachtungen reflektieren. Jedoch zeichnet sich meiner Meinung nach ab, dass tradierte und aktuelle künstlerische Instanzen in diesem Regulierungsprozess sich anders legitimieren und positionieren müssen als bisher. Jedes Foto gibt über sich auf vielschichtige Weise Auskunft. Schon während des digitalen Aufnahmeprozesses werden Fakten wie Datum, Zeit oder Bildgröße oder die geografischen Koordinaten des Aufnahmeortes gespeichert. 1
Don DeLillo: Point Omega, London: Picador 2010, S.63.
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Versuch zur Wahrnehmung der Fotografie heute
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Damit verfügt die digitale Fotografie über Entstehungsdaten, die bereits auf der Datenebene – ohne gesehen werden zu müssen – manipuliert werden können. „Punktum“ nannte Roland Barthes die Inschrift der Realität im fotografierten Blick der analogen Fotografie. Dieses „Punktum“ kann nach wie vor auf den Entstehungsprozess eines eingefangenen Wirklichkeitsausschnittes zu einem bestimmten Augenblick an einem spezifischen Ort verweisen, muss aber nicht mehr zwingend auf den fotografischen Aufnahmeprozess reduziert werden. Der vielfältige Gebrauch technischer Bilder, wozu die Fotografie zählt, hebt die „heilige“ Erstarrung der Realität im fotografierten Blick auf und zeigt einen technisch nüchternen Umgang, einen „profanisierten“ Kult mit visuellen Informationen. Die verfügbaren Daten digitalisierter Bilder verdeutlichen einen ähnlichen Wechsel in der Bildgeschichte, wie das Aufkommen des beweglichen Tafelbildes im 14. Jahrhundert in Europa. Im Datenfluss digitaler Bilder, die prinzipiell in alle denkbaren Richtungen manipuliert und vervielfältigt werden können, lässt sich ein vergleichbarer Wandel wie durch die Einführung des beweglichen und somit transportablen Bildes (quattro riportato) erkennen. Nur ist jetzt nicht mehr der materielle Träger, sondern die immaterielle Information frei verfügbar, variabel und „beweglich“ für diverse Zwecke. Dieser Wandel geht einher mit der weltweiten Durchdringung standardisierter Produktionsbedingungen von Waren und Informationen, der globalen Vernetzung von physikalischen und virtuellen Transportwegen und -mitteln sowie der rasanten Entwicklung der Kommunikationstechnologien. Unterschiede in den weltweit vernetzten Kommunikationsindustrien und -technologien treten dort zutage, wo die kulturellen Rahmenbedingungen voneinander abweichen. Noch weist die aktuelle Bilderproduktion z.B. in Indien, China oder Nordamerika oder Mitteleuropa aufgrund unterschiedlicher Traditionen und Bildungssysteme lokale bzw. regionale Unterschiede auf. Sie prägen den Bedarf und die Lesart der technischen Bilder. Dem stehen die technologische Standardisierung (und die tendenzielle Sprachvereinheitlichung) gegenüber. Technische Bilder sind nicht mehr an einen einzigen Adressatenkreis gebunden. Sie sind unabhängig vom Ort und Kontext ihrer Entstehung nutzbar. Einschränkend wirken hier tradierte Formen der Autorschaft oder des Eigentums, obwohl das mehr eine Frage der Perspektive ist, die man hierbei einnehmen kann. Denn die technischen Fakten und Protokolle stehen für sich. Sie geben zunächst einmal keine Auskunft über den Autor oder die benutzten Quellen etc. So schützt beispielsweise das (deutsche) Urheberrecht geistiges Eigentum, aber man könnte es in der derzeitigen Phase auch als eine Behinderung der freien Verwertung u.a. von Bildmaterial und damit als eine Einschränkung technologischer Entwicklungen ansehen. Eine praktische Zwischenlösung für den frei verfügbaren Umgang mit visuellen Informationen stellt das „globale Fotoalbum“ flickr dar. Denn hier haben alle Nutzer die gleichen Optionen (Rechte), wie sie ihre Bilder veröffentlichen. Was sich hieraus in der Praxis weiter entwickelt, wird sich zeigen. Als Referenzmedium für andere Bildmedien taugt die Fotografie aber immer noch. Im Folgenden werden wir anhand von zwei fotografischen Strategien exemplarisch diskutieren, welche Rolle die Fotografie als Global Image
Global Images: Fotografie
in verschiedenen kulturellen Kontexten spielt. Die Wahl ist einmal auf den amerikanischen Fotografen Allan Sekula und zum anderen das schweizerische Künstlerduo Peter Fischli und David Weiss gefallen. Allan Sekula hat für einen bestimmten Zeitraum den sogenannten Globalisierungsprozess begleitet, indem er den Verlagerungen von Produktionsorten der Stahlindustrie „nachreiste“ und indem er den Veränderungen des Warentransportes in den großen Häfen folgte.2 Seine Fotografien zeigen die Entwicklung bzw. Veränderung von Landschaften, Orten und Menschen auf vielen Kontinenten auf; sie dokumentieren den vereinheitlichten Warentransport in Containern und die Automation in den großen Häfen der Welt. Man erfährt anhand seiner Fotoreihen etwas über die Geschichte des industriellen und technologischen Wandels. Man sieht, wie „Standorte der Produktion“ sich verändern und global „wandern“. Allan Sekula ist ein Chronist und genauer Beobachter und Erzähler, der über politische Zusammenhänge nachdenkt. Aber er ist nicht nur jemand, der die Verschiebungen im globalen Gefüge von Produktion und Macht reflektiert, sondern auch jemand, der den Dingen selbst leidenschaftlich verbunden ist und dies intelligent in Fotos und Texten zu präsentieren weiß. Das Meer ist seine Obsession: Wie die Weite der Meere gibt es Kräfte und Mächte, die noch nicht vollständig instrumentalisiert sind. Stellvertretend für andere Stellen aus den Texten Sekulas dazu ein Zitat: „Das Meer kehrt – oft in einem schaurigen Gewand – wieder, gleichzeitig erinnert und vergessen, immer in Verbindung mit dem Tod, aber auf eine seltsam körperlose Weise.“3 Fischli und Weiss gehen einen anderen Weg.4 Sie folgen den Bildern bzw. die Bilder folgen ihnen. Sie schlagen dazu eine formale Richtung in ihren visuellen Studien ein. Die Welt ist ein Labor für ihre Untersuchungen, der Globus ist eine Summe von Motiven, die sich von Bild zu Bild und zwischen den Bildern selbst fortsetzt. Alles ist da und in Bewegung. Ein solches Labor ist voll mit Wunschbildern eingerichtet, der Globus wird von Bildern bewohnt. Und die Fotografie ist ihr liebster Agent. Ganz eng wird es im globalen Raum durch die dramatische Zunahme der Weltbevölkerung und der Massenbilder. Wie lässt sich das unter künstlerischen Prämissen beobachten? Fischli und Weiss schauen auf das, was alle sehen, wenn Bilder, die als Bilder funktionieren, angeschaut werden. Vielleicht wollen wir alle mit unseren Wünschen, Ideen und Zielen woandershin schauen und uns
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„Für die Fotoaufnahmen zu Fish Story (1989-95) oder Freeway to China (1998-99), besuchte Sekula zahlreiche große Häfen auf der ganzen Welt und hielt sich lange Zeit auf Schleppern und anderen Hafenarbeitsschiffen auf. Für Fish Story und TITANIC’S Wake (1998-2000) reiste er sogar über viele Tage auf Lastschiffen mit.“ Sabine Breitwieser: Fotografie zwischen Dokumentation und Theatralität: In, entlang von und durch Fotografien sprechen, in: Katalog: Allan Sekula. Performance under working conditions, hg. von Sabine Breitwieser, Generali Foundation Wien, Ostfildern: Cantz Verlag 2003, S.18.
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Allan Sekuala: TITANIC’S Wake, hg. von David Barriet, David Benassayag, Beatrice Didier, Graz: Camera Austria 2003, S.20. Hierbei beziehe ich mich auf dokumentierte Werkverläufe. Siehe hierzu u.a.: Katalog Barcelona: Sichtbare Welt, Museo d’Art Comtemporari de Barcelona, 15.6.-11.9.2000, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000.
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der Realität, die durch Bilder verstellt ist, abwenden? Anders gesagt: Kann man das, was sich in den vielen Bildern sozusagen wie von allein mitteilt, sinnvoll anordnen bzw. zuordnen? Das wäre eine Frage, die unabhängig vom Gebrauch nach den formalen Bedingungen fragt, die aus dem Transport und der Verwendung herausgearbeitet werden können: ästhetische Beziehungen, Strukturen und Muster, die über die einzelnen Bilder hinausgehen. Um Bilder so zu sehen, als sprächen sie aufgrund bestimmter formaler Eigenschaften, d.h. optisch-inhaltlicher Verwandtschaften oder ganz einfach Korrespondenzen miteinander, braucht man also einen Filter, eine Methode, um solche Beziehungen zu bestimmen: Das ist die Auswahl, der Vergleich und die Wiederholung. Man muss Gruppen finden, die für formale Verwandtschaften bzw. Motivstudien geeignet sind. Das heißt, man muss einem thematischen, in Gruppen gefassten Gebiet soweit nachgehen, dass man sicher ist, es fast vollständig erfasst zu haben, dann kann die Auswahl zeigen, wie Bilder auf Bilder Bezug nehmen. Während Allan Sekula eine individuelle Ordnung des Globalisierungsprozesses auf einer bestimmten Ebene nachvollziehbar dokumentiert, erfinden und finden Fischli und Weiss formale Strukturen oder optische Verwandtschaften, die dem gleichförmigen Kosmos der globalisierten Bilderproduktion innewohnen. Man muss also wieder eine bildliche Sichtweise entwickeln, um herauszufinden, was die technischen Bilder in diesem Labor leisten, bevor man ihnen einen Wunsch abschaut, den sie auf eine verfügbare Realität bezogen ständig liefern. Bleibt man auf der Ebene der exemplarischen Analyse, betreibt Sekula eine Realitätsstudie mittels der Fotografie und des Textes. Rückblickend hält Sekula fest: „Ich suchte nach den Gründungsmythen und Antinomien des institutionellen Fotografiediskures, ganz ähnlich wie ich versucht hatte, die widersprüchlichen Legitimations- und Selbstrechtfertigungsmuster innerhalb des Familienlebens aufzudecken: die realistischen und symbolistischen ‚Populärmythen‘ über die Fotografie und die Volksmärchen über die Familie.“5 Die Fotografie ist Teil eines soziologischen, politischen und persönlichen Konzepts, das Sekula mit Bezug auf die fotografische Tradition der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts auch „dokumentarischen Sozialismus“ genannt hat. Aber das ist nicht alles; Buchloh ergründet im Gespräch mit Sekula die theoretischen Grundzüge seines Werkes: „Ich würde fast sagen, dass die neuen Arbeiten ab Fish Story die traditionellen Reportage- und Erzählmodelle sogar noch stärker zulassen. [...] Und, am wichtigsten vielleicht, wie unterscheiden sich die Arbeiten von den anderen Praktiken der letzten zwanzig Jahre, die auf ganz andere Weise ebenfalls wieder Erzählformen eingeführt haben? Das scheint mir eine der Schlüsselfragen der postkonzeptuellen Kunst überhaupt zu sein, ob die fotografische Repräsentation in Wirklichkeit lediglich ein Bedürfnis nach Repräsentation und Erzählung erteilt.“6 Sekula ist sich des Problems bewusst, dass
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Allan Sekula: Gespräch zwischen Allan Sekula und Benjamin H.D. Buchloh, in Katalog: Allan Sekula. Performance under working conditions, hg. von Sabine Breitwieser, Generali Foundation Wien, Ostfildern: Cantz Verlag 2003, S.27.
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Benjamin H.D. Buchloh: Gespräch zwischen Allan Sekula und Benjamin H.D. Buchloh, in Katalog: Allan Sekula. Performance under working conditions,
Global Images: Fotografie
fotografische Repräsentation sowohl im Kunstsystem als auch in der Wirklichkeit funktionieren muss. Jedoch ist für ihn die Öffnung zur Realität ein Prozess, der für ganz unterschiedliche politische Manifestationen arbeiten kann, d.h. diese Öffnung zur Realität hin ist nicht methodisch festgelegt. Für ihn sind Formen von sozialer Partizipation, Intervention und Kreativität, die sich immer wieder aufs Neue bewähren müssen, entscheidend. Somit arbeitet er an einer reflektierten Kunstpraxis, die sich von den Gesetzen des Kunstmarktes löst, ohne diese letztlich ganz zu verlassen. Die Frage ist, was durch diese konzeptuelle Praxis visuell erreicht wird. Zweifellos zeigt Sekula eine andere Bildgeschichte der Globalisierung auf und widersetzt sich der herrschenden, restaurativen Bildpolitik. Diese andere Globalisierung bedarf der komplettierenden, prozessbegleitenden Studien, der Texte und der Aktionen. Man muss verstehen, was man nicht sieht, wenn man Container, Hafen- und Industriearbeiter anschaut. Teilweise sind die Details aus den Fabriken faszinierend oder beeindrucken wie die mächtig nüchternen Containerschiffe. Aber man fragt sich auch, was 12. Allan Sekula, Fish Story, Los Angeles geschieht hier? Wer ist dargestellt? Harbor San Pedro, 63 x 146 cm , Nov. 1992 Warum ist diese Aufnahme gemacht worden? Es geht hier nicht um visuelles Kontextwissen, das man durch Erfahrungen, Vergleiche oder Anlesen erwerben kann, sondern um Gründe für Zusammenhänge. Was wäre, wenn Sekula über die Dinge, die er beobachtet, nur schreiben würde? Sind die Fotos notwendig? Sekula schreibt über andere Räume, über Foucaults Heterotopien, über Schiffe, das Meer und die Häfen, die Arbeiter und durchbricht die Regeln des Protokolls einer Zeit, die keinen blinden Passagier, keinen selbsternannten Chronisten mehr benötigt. So setzt er den Brillo-Schachteln von Andy Warhol das gleichzeitige Aufkommen der Transportschachtel in Gestalt des Containers entgegen und schreibt: „Angesichts der zunehmenden Allgegenwart des Transportcontainers in den sechziger Jahren muß man sich fragen, warum diese neue Form keine Beachtung bei jenen Künstlern fand, die sich am ehesten dafür hätten interessieren müssen: den Künstlern, die man mit der Pop Art, dem Minimalismus und der Concept Art in Verbindung bringt. Ein Grund ist natürlich darin zu suchen, daß Container weder im Hafen noch in den Straßen von Manhattan zu sehen waren. Der Containerhafen wurde in Elizabeth, New Jersey, angelegt. [...] Ich schlage ein provisorischeres Begräbnis vor. Wenn überhaupt, dann findet sich die angemessene Metapher in Marx’ Begriff der in den Waren eingebetteten ‚toten Arbeit‘. Wenn es ein einzelnes Objektgibt, hg. von Sabine Breitwieser, Generali Foundation Wien, Ostfildern: Cantz Verlag 2003, S.43.
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von dem sich sagen ließe, es verkörpere die Leugnung, die der transnationalen bürgerlichen Phantasie von einer Welt des Wohlstands ohne Arbeiter, einer Welt ungehinderter Ströme innewohnt, dann ist es das: der Container, der Sarg der fernen Arbeitskraft. Und wie der Tisch in Marx’ Erläuterung des Fetischcharakters der Ware hat der Sarg zu tanzen gelernt.“7
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Sind kleine visuelle Entdeckungen, wenn sie auch keine anschaulichen Offenbarungen sind, anschauliche Beweise für eine Welt, die sonst so nicht abgebildet wird? Man denkt an Gegenbilder oder besser gesagt an gegenläufige Dokumentationen und Geschichten. Wovon setzen sie sich ab? Ich bin der Auffassung, dass die Fotos von Sekula den visuellen common sense tangieren und subjektiv korrigieren. Dazu möchte ich folgende Überlegung anführen: Wenn in dem permanenten visuellen Informationsprozess, offiziell und auch privat, eine Haupttendenz enthalten ist, der alle folgen, weil alle ähnlichen Verblendungen unterliegen, sehen die bildlichen Produkte gleich aus. Denn in ihnen wird das abgebildet und mehr oder weniger das gesehen, wovon man annimmt, dass es die Wirklichkeit zeigt. Ich bin mir sicher, dass es Klischees der Globalisierung gibt, und gebe nur die Suchworte für Shanghai bei google ein, um bestätigt zu werden. Überträgt man das wieder auf die Arbeit von Sekula, erkennt man, dass er die historische, ideologische und kunsttheoretische Auseinandersetzung permanent führen muss, um in den Fotoreihen, die er zusammenstellt, eine Sichtweise zu entwickeln, die dem herrschenden Diskurs des wirklichkeitsnahen Bildes eine Differenz abgewinnt. In den beiden Werkgruppen „Sichtbare Welt“ (1987-2000)8 und „Sonne, Mond und Sterne“ (2008)9 reflektieren Peter Fischli und David Weiss strukturelle Merkmale bildlicher Oberflächen, die sie thematisch in Tableaus zusammenfassen, ausstellen und publizieren. Kurz gefasst, geht es hierbei darum: Einmal durch alle Gegenden der Welt zu reisen und einen globalisierten Durchschnitt dessen zeigen, was sich fotografieren lässt. Einmal ein Album mit einem Querschnitt des globalisierten Konsums aus allen Bereichen des Lebens und der Arbeit zusammenzutragen. Die übersichtsartige Ordnung bringt Bildwelten zur Ansicht, die, losgelöst vom konkreten Gebrauch und Zweck, erfahrbar sind. Dadurch ist eine Wahrnehmung möglich, die den zeitlich quantitativen Prozess des Bildgebrauchs in einen räumlich qualitativen überführt. Besonders in den raumfüllenden Installationen (Diatische, Schautische) der Ausstellungen, aber auch in publizierten Tafeln der Kataloge (doppelseitige Ansichten, paarweise zugeordnet bei „Sonne, Mond und Sterne“ kann man beobachten, dass durch die räumliche Anord7
Katalog Kassel u.a.: Allan Sekula. Semannsgarn, im englischen Original: Fish Story (1995), Documenta 11 Kassel, Düsseldorf: Richter Verlag 2002, S.136/137, 137/138.
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Katalog Barcelona: Sichtbare Welt, Museo d’Art Comtemporari de Barcelona, 15.6.-11.9.2000, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000.
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Katalog Zürich: „Sonne, Mond und Sterne“, Sammlung von Anzeigen über mit acht Monate hinweg aus ca. hundert internationalen Zeitschriften und Magazinen zur Gestaltung des Geschäftsberichts der Ringier AG 2007, verlegt von JRP Ringier AG, Zürich 2008.
Global Images: Fotografie
nung formale Bezüge gebildet werden können. Die These hier lautet, dass in technischen Bildern typologische Aspekte, visuelle Assoziationen, Geschichten und motivische Korrespondenzen auffindbar sind, die im Alltag ihrer Verbreitung bzw. Ausbreitung unbemerkt bleiben. Pointiert man diese These, sind die massenhaft verbreiteten, technischen Bilder weniger einfältig als man glaubt, vorausgesetzt, sie werden intelligent strukturiert. Dies widerspricht einem gängigen Vorurteil. Das wäre die feuilletonistische Kritik an der weltweiten Bilderflut, die dieser Verdummung vorwirft. Was an der hier unterstellten These überrascht, ist die Umkehrung einer fest eingesessenen Sichtweise. Durch die Aktivierung formaler Prinzipien und inhaltlicher Querverbindungen entzieht man sich der passiven Duldung im Gebrauch massenhaft verbreiteter Bilder: Sichtbar wird, dass der kollektive, gesellschaftliche Prozess bildlicher Aneignung und Verarbeitung alles Sichtbaren – „Sonne, Mond und Sterne“ – nur einen zweiten Blick durch die künstlerische Vermittlung bzw. Wiederaneignung verlangt. Dazu ein Beispiel: Ich schlage den Katalog von Fischli und Weiss auf. Links und rechts Werbeanzeigen in gleicher Größe, paarweise zugeordnet, mit wechselnden Inhalten. Es gibt keine Seitenzahlen. Man blättert, hält inne, vergleicht, stellt Beziehungen her, erkennt Ähnlichkeiten, man arbeitet mit Signalen der Wiedererkennung, wodurch eine identifizierende Festschreibung möglich ist, blättert weiter und stößt auf Unähnliches und Unbekanntes, auf Kontexte, die fremd sind, Sprachen und Gesichter, die man nicht kennt. Zwischen den vielen, all zu vielen Fotos, kommen überraschende Einsichten, spontane, stumme Kommentare: Das finde ich witzig! Das ist aber interessant! Im visuellen Spiel ist beides, ein Überschuss an kleinen Geschichten, die formal erzählt werden und eine Reduktion auf ikonische Relationen, anderes als das, was sich im Gebrauch der Bilder normalerweise einstellt, stillsteht, eben der Sache nach feststeht. Die optischen Verbindungen zwischen den Bildern sind Sehbewegungen, die nicht feststehen, sondern so sprunghaft von diesem zum nächsten Rot, von einer Andeutung weicher Haut zu einem flauschigen Stoff weitergehen, sich nicht an einer 13. Lippenstiftwerbung aus Indien und Stelle aufhalten, weil keine verstehenDeutschland, Montage vom Verfasser de Ruhe, keine nützlich fixierende Bedeutung die abtastende Unruhe stört. Genau das Gegenteil erfährt man, wenn man ein minimalistisches Kunstwerk anschaut, bei dem die Reduktion auf die beschränkte Gegebenheit von Form und Material eine Irritation bewirkt. Obwohl man beispielsweise nur eine Reihe seriell hergestellter, gleichfarbiger Quadrate auf dem Boden sieht, schreiben die geometrischen Grundformen und die Einfarbigkeit eine ‚unerbittliche, zwanghafte‘ Relation vor zwischen den Teilen und dem Gesamten. Das Auge ist ein unruhiger Gast, der auf Blickfang geht und dabei auch selbst eingefangen werden kann. Das Prinzip der ausgelegten bzw. zur Schau gestellten Dinge ist uralt: Markt, Basar, Schaufenster, Werbesendung. Und wie-
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der genau das Gegenteil stellt sich beim Betrachten der vereinheitlichten und thematisch gruppierten Werbefotografien des Kataloges ein. Nicht die Blickfalle des Wunsches geht auf. Vielmehr zeigt sich, was die Wünsche nur verhüllen.10 Eine augenzwinkernde Erkenntnis. Trotzdem frage ich mich beim Blättern in dem Katalog „Sonne, Mond und Sterne“, ob so viele Bilder nötig sind, diese Beziehungsmuster zu demonstrieren? Müsste Quantität nicht nebensächlich sein? Reicht es nicht aus, mit einigen Zusammenstellungen exemplarisch vorzugehen? Offensichtlich ist die Menge der Bilder nicht unwichtig. Ich nehme an, sie ist notwendig zur räumlichen Verdichtung der formalen Grundmuster. Sie treten sozusagen den Beweis dafür an, dass sich Relationen nacheinander einstellen, die sich im ikonischen Verknüpfen, durch die sprunghaften Bewegungen des Auges von genau diesen zu jenen anderen Teilen dort ergeben, als gelte es ein Muster zu verfolgen, eine nie ganz deutliche Spur zu einer verdeckten, selbst nicht sichtbaren Matrix zu bilden.11 Mag sein, dass solche Erfahrungen auch unabhängig von der Angebots-Installation von Fischli und Weiss auftreten können,12 jedoch erst aufgrund der überprüfbaren Anordnung werden mir Grundzüge einer visuellen Erfahrung der Massenbilder allmählich bewusst, ganz spontan bin ich erleichtert bzw. erfreut: Die schwergewichtige Menge der ca. 700 publizierten Bilder in den Händen haltend, eile ich nicht ständig von einem zum nächsten fort, sondern gewinne in den Relationen zwischen den einzelnen, fotografischen Einheiten eine Kette von Bezügen, die dem vermeintlichen Fluss der Oberflächen eine „tiefere“ Schicht zubilligt, d.h. die bewegten Muster kristallisieren sich sozusagen als Wasserzeichen im Strom der Bilder heraus. Ohne die Dichte, das Gedränge, das die massenhaft verbreiteten Bilder untereinander ausüben, würde ich deren ikonische Frage gar nicht verstehen. Warum es nicht zugeben: Dieses freie Spiel geordneter Verknüpfungen ist ungeheuer faszinierend und löst Heiterkeit aus. Als gestresster Zeitgenosse erkenne ich eine Form von Macht und Schönheit in den analysierten Grundmustern der Werbefotos und bin frei, mich von deren Oberflächen, die ich überflüssigerweise als Botschaften erfahre, zu lösen.
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Man muss an dieser Stelle zwischen Glück und Wunsch unterscheiden. Dadurch dass ein Wunsch in Erfüllung geht, ist erstens nicht gesagt, dass das Gewünschte auch der Wunsch ist, den man nun besitzt und zweitens ist der Wunsch als Ziel keine Garantie auf eine befriedigende Erfüllung, wie ein Nebensatz von Goethe aus „Hermann und Dorothea“ dies illustriert: „...denn die Wünsche verhüllen uns nur das Gewünschte.“
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In dem Film Koyaanisqatsi von Godfrey Reggio aus dem Jahr 1982 werden Mikround Makroaufnahmen von Städten, Landschaften, Gesichtern, Leiterbahnen etc. thematisch gruppiert und mal schneller mal langsamer werdend sowohl filmisch als auch durch die Musik von Philip Glass musikalisch rhythmisiert. Anhand von Kamerafahrten und Schnittfolgen werden organische und anorganische Strukturen aus fotografischen Bildern abgeleitet, werden formale Referenzen der sichtbaren Welt herausgearbeitet, um eine abstrakte Lesart zu ermöglichen.
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Hier ist das 1954 in Venedig gegründete, seit 1956 jährlich in Cannes ausgerichtete und bis heute bestehende Werbefilm-Festival (Cannes Lions International Advertising Festival) zu nennen. Siehe: http://www.canneslions.com/, Stand: 01.06.2009
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Das, was zwischen den vielen visuellen Details sinnvoll assoziiert wird, ist eine intelligente Leistung, die prinzipiell durch jeden Beobachter vorgenommen werden kann, denn dieses Verknüpfungswerk basiert auf „lesbaren Informationsbahnen“, die den sichtbaren Oberflächen sozusagen eingeschrieben sind.13 Globale Bilder, wie sie in diesem Spektrum der Verbreitung untersucht werden, haben also eine (differenzierbare) beobachtbare Ordnung, liefern Erzählstoff, wenn sie auf eine Weise zur Ansicht gebracht werden, indem sie eine Stelle, einen individuellen Platz im Kontext ihrer Wahrnehmbarkeit erhalten. Globale Bilder üben eine differenzierte Gemeinsamkeit ein, die – und das ist wichtig zu betonen – über das jeweilige Kontextwissen bzw. den Realitätsausschnitt des Zeitgenossen hinausgehen. Oder anders gesagt, in den visuellen Informationen kursieren formale und narrative Bezüge, kristallisieren sich Grundmuster in der linearen Reihung heraus, die für den Einzelnen oder Gemeinschaften nur latent vorhanden sind. Die Frage ist, ob diese Grundmuster eine Entwicklung durchlaufen, ob hierbei kulturelle Unterschiede feststellbar sind? Fischli und Weiss haben Schemata der Oberflächen im Prozess des globalisierten Bildes aufgedeckt und ganz nebenbei Sympathie für die technische Avantgarde in den Werbeagenturen, Modehäusern und Musikverlagen geweckt.
Bilder – Kontexte – Zeichen Wie wir gesehen haben, geben Global Images Auskunft über den Prozess ihrer Entstehung und Verbreitung. Sie sind also ‚lesbar‘. Am Beispiel fotografischer Projekte von Sekula und Fischli/Weiss konnte demonstriert werden, dass, wenn das Wahrnehmungsinteresse entweder mehr inhaltlich oder mehr formal ausfällt, sich auch der Kontext der Bilder ändert. Damit steht die Grundlage fotografischer Wahrnehmung fest: Der Kontext ändert sich und damit verschiebt sich auch die Perspektive auf Darstellungsinhalte und es treten andere kulturelle Filter in Erscheinung, die regeln, wie diese Darstellungsinhalte codiert werden. Entscheidend aber ist die Feststellung der Kontextverschiebung an sich. Sie hängt von dem Interesse derjenigen ab, die Bilder herstellen oder Bilder beobachten. Diese Praxis ist komplex und fließend. Sie ist in den bildenden Künsten oft thematisiert und reflektiert worden. Befragt man dazu die Kontextforschung, erhält man nicht eine, sondern viele Antworten. Eine historische von Peter Weibel, der den Kontextfragen in den bildenden Künsten systematisch nachgegangen ist, lautet: „Was heute Kontext und Diskurs heißt,
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Der Ausdruck „Informationsbahnen“ wurde hier aufgegriffen, weil er die organische Übertragung bzw. „Mitteilung“ visueller Tatsachen, die Bildern materiell eingeschrieben sind, umschreibt. Vgl. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1985, S.592f.
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hieß früher „frame“ (Rahmen, Referenzrahmen).“14 In der Tat ist die Selbstauskunft von Bildern nicht erst heutzutage ein Problem. Aber es fällt gegenwärtig mehr auf als in den Zeiten immanenter Selbstbezüglichkeit von Einzelbildern. Im Begriff des Kontextes ist eine sprachliche Beziehung von Text und Kontext enthalten. Dieses Verhältnis, bezogen auf Bilder und deren Kontexte, lässt sich auf vielfältige Weise beschreiben, je nachdem, welche Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsmodelle (z.B. ein konstruktivistisches) zugrunde gelegt werden. Da die linguistischen Bezüge von Text und Kontext bezogen auf Bilder schon aufgearbeitet sind,15 möchte ich die gegenwärtige Frage nach den Einflüssen von lokalen und globalen Referenzrahmen akzentuieren. Der Grund ist ganz einfach, dass mich bei den Kontextverschiebungen die Frage beschäftigt, welche Rolle der Beobachter praktisch einnimmt und welche kulturellen Voraussetzungen dabei im Spiel sind. Dazu habe ich noch einmal zwei fotografische Positionen herausgegriffen, die die Frage des schon behandelten Wahrnehmungsinteresses durch den noch zu bestimmenden Wahrnehmungszusammenhang beleuchten können. Da ist einmal Martin Parr mit seinen Fotografien zu nennen, der auf den ersten Blick den gängigen Vorstellungen von Global Images nahe kommt, und da ist zum anderen die Gruppe Endcommercial anzuführen, die scheinbar die gängige Vorstellung lokal gebundener Zeichenhaftigkeit thematisiert. Parr ist ein Fotograf, der mit viel Sympathie für seine Opfer Leute fotografiert, die ein konventionelles Bild abgeben oder die gerade dabei sind, ein solches zu machen.16 Man sieht auf den Bildern von Parr oft, dass fotografiert wird oder dass sich Leute ins Bild rükken oder eine Ansicht gefunden wird, die bekannt ist. Das gemeinsame sind 14. Martin Parr, The Gambia, die Klischees, die globalen Standards, Africa, Serie 1987-1994 die ein Licht auf die jeweilige Situation und den Ort werfen. Bezogen auf unser Bildbeispiel heißt das: Vier nur teilweise zu sehende Touristen sitzen im hinteren Teil eines Jeeps; ein schwarzer, stehender Mann hält sich an der Reling des Daches fest. Fünf kleine Jungs folgen ihnen. Details: Eine Hand mit einer Kamera, ein junges Mädchen trägt ein überall kaufbares, weißes T-Shirt mit einer Sphinx. Kurz: eine schöne Safari, jedoch zumindest für die Kinder, die da abgehängt werden, ist es eine triste Welt, die durch Wunschbilder und Klischees erkauft und aufrechterhalten 14
Siehe Katalog Graz: Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, hg. von Peter Weibel, anlässlich der Ausstellung ‚Trigon 93’, veranstaltet von der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum Graz, Steirischer Herbst ’93, Köln: DuMont Verlag 1994, S.49.
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Ebda., siehe den Beitrag von Peter Weibel: Kontextkunst. Zur sozialen Konstruktion von Kunst, S.1-68. Dies demonstriert ganz gut folgende Publikation: Val Williams: Martin Parr, Berlin: Phaidon Verlag 2004.
Bilder – Kontexte – Zeichen
wird. Möglicherweise ist aber alles ganz anders, weil wir auf Vermutungen im Lesen von Standards angewiesen sind, die „wirklichen“ Umstände jedoch nicht kennen. Müssen wir sie kennen? Ist die Szenerie nicht noch viel trauriger, als es das vermeintliche „Urlaubsfoto“ zu erkennen gibt? Korrespondiert die Armseligkeit des Klischees mit der Realität, die zeitweise ausgeblendet wird? Wer hat das Foto eigentlich gemacht? Wer schaut da so genau zu? Bei Parr erreichen die Klischees der Global Images den Status von Metabildern, der sich in dem oberflächlichen Gebrauch, den sie indirekt reflektieren, zeigt. Liegt dann ein Widerspruch vor, wenn Parrs Fotografien zu Illustrationszwecken für den globalen Tourismus verwendet werden? Ich glaube nicht. Man sieht anhand seiner Fotos, die genauso gut einen Artikel in einer Zeitung illustrieren können, um welche Kontexte es sich handelt. Oder man sieht die mittlerweile sehr populären Fotos im Kontext einer Kunstausstellung und reflektiert, dass Kontexte Klischees sind. Trivial, so könnte man einwenden. Ja, Global Images sind trivial. Sie bedienen Klischees, die nur selten aufgehoben werden. Die Kontexte wechseln mit dem Gebrauch, sie werden entweder automatisch vom Betrachter mit vollzogen oder unter Umständen reflektiert. Die lokalen Besonderheiten verschwinden in Kontextverschiebungen und -überlagerungen, aber nie restlos. Es gibt immer auch Lesarten, die durch spezielles Kontextwissen geprägt sind, d.h. es gibt die eigenen und die fremden Blicke, die sich in den kursierenden Bildern kreuzen, erweitern und nivellieren. Angenommen, man wüsste alles über ein einzelnes Bild, so wäre man doch machtlos gegenüber den variablen Bildinhalten, die verfügbarer sind. Die visuellen Elemente führen sozusagen ein Eigenleben. Der individuelle Blick ist prinzipiell zwar immer vorhanden. Er ist der Wahrnehmung eingeschrieben, aber er wird von den Globalen Images permanent überlagert, wie ein Kinobesuch, so „individuell“ packend ist das Erlebnis einer Safari. Das wäre die Botschaft der Fotos von Martin Parr, der ich noch Folgendes hinzufügen möchte: Ich verstehe die visuellen Klischees als Markenzeichen gesellschaftlicher Korruption. Es ist unerlässlich, dass in der Logo-Welt des Konsums und des Reisens sublimierte, zivilisierte und finanzierbare Exzesse einen Ort der Befriedigung haben, denn gegenüber den die Natur beschwörenden Riten von Stammeskulturen sind sie eine „Weiterentwicklung“. Man darf bei allem Wohlwollen – wie man heute gut versorgt leben kann - nicht darüber „hinwegsehen“, dass die Riten der Logo-Pop-Kultur ein von den meisten Zeitgenossen akzeptiertes, vordergründiges Geschäft nicht nur mit einlösbaren Versprechen, sondern auch mit Angst, Dummheit und Faulheit sind. Aus diesem selbstverschuldeten Zustand führt nicht die Welt des Spektakels, sondern nur eine „aufgeklärte“ Sicht heraus, eben nicht eine hinschauende, sondern wegschauende Sicht; das wäre eine bilderlose Sicht, um die eigene, individuelle Welt bewusster zu erleben. Wir gehen nun zu einer systematischen Betrachtungsweise über, um die lokalen Kontextbezüge weiter zu untersuchen. Für unsere Auseinandersetzung aufschlussreich ist ein seit 1997 bestehendes fotografisches Projekt der Künstlergruppe Endcommercial. Die Gruppe ist durch Ausstellungen in Berlin, München, New York, Rom und Paris bekannt geworden.17 Ich verfolge die 17
http://www.endcommercial.com/press/ecmain.html, Stand: 01.06.2009
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Arbeiten seit 2002, weil sie auf ganz vorbildliche Weise das visuelle Gebilde der Stadt systemisch durch baumartig vernetzte Kategorien (System, Order, Identity an oberster Stelle) erschließen. Mittlerweile verfügt Endcommercial über ein Archiv von ca. 60.000 Bildern. Bemerkenswert ist, wie dadurch eine Stadt wie New York als Bilderatlas erschlossen wird. Dazu habe ich ein Foto aus dem New Yorker Straßenleben ausgewählt. Dieses Foto hat einen Platz im System der Stadtbilder erhalten. Es wurde unter „Service Screen“ eingeordnet, wie auf dem hier zu sehenden Screenshot demonstriert wird. Durch diese systematische Erschließung erhalten die lokalen Bildinformationen eine zweite Ebene, die die Stadt als visuellen Text ordnet und vergleichbar macht. Mittels der technischen Bilder kann nicht nur buchstäblich alles visualisiert werden, sondern jedes Bild bzw. Foto kann so auch zum Zeichen, und dadurch operativ für andere Zwecke eingesetzt werden. Während herkömmlicher15. Florian Böhm, Lucca Pizzaroni, weise Fotos alle möglichen urbanen Wolfgang Scheppe, Endcommercial Aspekte über die Funktionen der Reading the City 04, 2002 Stadt und über das Stadtleben zeigen können, ist hier ein Zusammenhang entstanden, der sich prinzipiell von der ästhetisierbaren Oberfläche abhebt. Wir erhalten so die Vorstellung von einer visuellen Ordnung, die auf einem individuell sich legitimierenden Konzept er-
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16. Florian Böhm, Lucca Pizzaroni, Wolfgang Scheppe, Endcommercial – Reading the City 23, Screenshot 2002
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wachsen ist. Die Entästhetisierung ist zweifellos ein Gewinn, denn sie erlaubt im Umkehrschluss eine unspekulative Betrachtung der Fotografien. Ferner ermöglicht sie eine Analyse der Oberflächenphänomene, die dem ästhetischen Imperativ technischer Bilder etwas entgegen setzen kann. In dem System von Endcommercial erkenne ich eine Kontextdurchdringung, die wir mit der schon angesprochenen Kontextüberlagerung bzw. Kontextverschiebung zusammen denken müssen. Global Images wandern in diesen Kontexten, erhalten ihren Platz; sie sind austauschbar. Überträgt man die Idee der Archetypen oder Urbilder von C.G. Jung auf die Präformierung von Grundmustern in visuellen Prozessen, erkennt man die dynamische Systematik von Global Images heute; zumindest ist sie beschreibbar. Bild, Schirm, Haut und die Oberflächen der technischen Bilder sind Körperbilder. Dieser ‚kollektive‘ Körper ist eine Annahme. Er erlaubt uns, technisch-technologische Schemata in Bezug auf Körperbilder zu diskutieren. Da wir nur fragmentiert und zerstückelt auf Zusammenhänge reagieren bzw. diese anteilmäßig selbst hervorbringen können, reichen weder die Einzelwahrnehmung noch die vielen Einzelbilder, z.B. Fotografien, aus, die Prozesse insgesamt zu erfassen, die wir generieren und wahrnehmen. Es spricht also vieles dafür, auf den Gedanken der Präformierung von Grundmustern zurückzugreifen und diesen hinsichtlich technisch-technologischer Schemata zu erweitern. Ich bin der Auffassung, dass diese allgemeinen, visuellen Bezüge bzw. geistigen Prozesse selbst bildlos zu verstehen sind.
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Versuch zur Wahrnehmung der Fotografie heute
Literatur BATESON, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1985. BÖHM, Florian; Pizzaroni, Luca; Scheppe, Wolfgang: Endcommercial: reading the city. A case study by SBA/Scheppe Böhm Associates, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2002. KATALOG Barcelona: Sichtbare Welt, Museo d’Art Comtemporari de Barcelona, 15.6.-11.9.2000, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000. KATALOG Graz: Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, hg. von Peter Weibel, anlässlich der Ausstellung ‚Trigon 93‘, veranstaltet von der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum Graz, Steirischer Herbst ’93, Köln: DuMont Verlag 1994. KATALOG Wien: Allan Sekula. Performance under working conditions, hg. von Sabine Breitwieser, Generali Foundation Wien, Ostfildern: Cantz Verlag 2003. KATALOG Zürich: „Sonne, Mond und Sterne“, Sammlung von Anzeigen über acht Monate hinweg aus ca. hundert internationalen Zeitschriften und Magazinen zur Gestaltung des Geschäftsberichts der Ringier AG 2007, verlegt von JRP Ringier AG, Zürich 2008. OBRIST, Hans Ulrich: Fischli & Weiss, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2007. SEKULA, Allan: Seemannsgarn, Düsseldorf: Richter Verlag 2002. SEKULA, Allan: Titanic’s Wake, hg. von David Barriet, David Ben Assayag, Beatrice Didier, Graz: Camera Austria 2003. SEKULA, Allan: Gespräch zwischen Allan Sekula und Benjamin H.D. Buchloh, in Katalog Wien: Allan Sekula. Performance under working conditions, hg. von Sabine Breitwieser, Generali Foundation Wien, Ostfildern: Cantz Verlag 2003, S.21-55. WILLLIAMS, Val: Martin Parr, Berlin: Phaidon Verlag 2004
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Abbildungsverzeichnis 12. Allan Sekula, Fish Story, Los Angeles Harbor San Pedro, 63 x 146 cm, Fotografie, Nov. 1992. 13. Lippenstiftwerbung aus Indien und Deutschland, Montage des Verfassers. 14. Martin Parr, The Gambia, Africa, aus der Serie „Small World“, 1987-1994. 15. Florian Böhm, Lucca Pizzaroni, Wolfgang Scheppe, Endcommercial - Reading the City 12, Fotografie, 2002. 16. Florian Böhm, Lucca Pizzaroni, Wolfgang Scheppe, Endcommercial - Reading the City 23, Screenshot, 2002.
Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Hinweise zum Glossar Eine Vielzahl von Begriffen konkurriert um das Verständnis von Bildern, seitdem diese von Menschenhand gemacht worden sind. Ob die Höhlenbilder in Chauvet oder Lascaux nur Bilder waren oder auch benannt wurden, wissen wir nicht. Wahrscheinlich gab es einen zeichenhaft rituellen Gebrauch dieser Bilder, über den wir nur mutmaßen können. Wenn wir den Akzent heute auf den Gebrauch von Bildern setzen, sind wir ebenfalls oft sprachlos, suchen nach Worten für die vielfältigen Verwendungen von Bildern. Es gibt neben diesem offenen Verständnis handfeste Erkenntnisinteressen und wissenschaftliche Motive, die im Wettbewerb der Deutungshoheit stehen bzw. einmal gestanden haben, die zu kennen für die Beschäftigung mit der Frage nach dem Verständnis der Bilder unerlässlich sind. Da es jedoch unmöglich ist, alle visuellen Erkenntnisse zu überblicken und umfassend darzustellen, haben wir uns dafür entschieden, eine Auswahl zu treffen, die einmal jede Herkunft in Form einer schriftlichen Quelle angibt, sofern nicht eine eigene Darlegung bevorzugt wurde und zum anderen die Vielfältigkeit aller möglichen Bildbestimmungen belässt. Aus diesem Grund ist das Glossar entstanden. Es sollte anfangs den Schwerpunkt nur auf tradierte Vorstellungen zu Bildern legen. Dagegen sprachen aber die vielen aktuellen Entwicklungen, die oft Bezug zu älteren Ansätzen erkennen lassen. Deshalb haben wir versucht, bekannte ältere Bildwelten und jüngere Entwicklungen in eine gleichförmige Ordnung zu bringen. Liegt der Vorteil der alphabetischen Ordnung des Glossars in der Gleichrangigkeit der Begriffe, die einen Begriffsreader ergeben, so ist doch der Nachteil, dass es keine Einordnung gibt, die zumindest eine tabellarische Chronologie erlaubt hätte. Aus diesem Grund möchten wir dem Glossar auch ein paar historisch-modellartige Hinweise voranstellen, um die heterogene Begriffsvielfalt lesbarer zu machen. Genau gesagt möchten wir durch den Verweis auf „Schlüsselbilder“ die Heterogenität anschaulich belegen. Der „Schlüsselgedanke“ dabei ist, dass visuelle Erkenntnisse eine aktuelle Herausforderung darstellen, über diverse Kompetenzen im Umgang mit Bildern zu verfügen. Diese Kompetenzen können nicht mehr in einer einzigen Disziplin
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
liegen, von daher wäre eine interdisziplinäre und intermediale Allgemeinbildung wünschenswert. Und zwar allein schon deshalb, weil sie notwendig für das Verständnis aktueller Debatten sind. Das Postulat von Allgemeinbildung verstehen wir nicht normativ, sondern offen für transkulturelle Ausdifferenzierungen. Die visuelle Praxis, die kulturelle Unterschiede in Bezug der Kulturen zueinander und in Bezug auf deren Traditionsverhältnisse aufweist, basiert sozusagen auf der medialen Verbreitung und der Verwendung technologisch standardisierter Formen und auf dem Diskurs der Vermittlung von Bildern durch Bilder. Dieser Diskurs hat prominente, materielle Orte wie die Museen, aber zunehmend immaterielle Orte des Zeigens. Die Begriffe, die dazu im Glossar zu finden sind, wären in jeder Hinsicht leer, würden sie nicht auf die Ordnung einer visuellen Praxis bezogen werden, die durch Bilder entsteht und in der Bilder etwas sichtbar machen können.
Bilder in der Mehrzahl und das Bild in der Einzahl – Vielheit und Singularität
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Die Frage ist, ob die Vielzahl der Bilder heute die Singularität des Einzelbildes überflüssig machen oder ob gerade die Vielzahl der Bilder das einzelne Bild als Halt im Fluss der Bilder notwendig machen. Um diesen Fragen nachzugehen, muss man die Logik des Bildes im Stadium seiner massenhaften Verbreitung und medialen Omnipräsenz überdenken und danach fragen, was einzelne Bilder, wenn sie in besonderer Weise Aufschluss auch über andere Bilder bzw. andere Bildkontexte geben können, auszeichnet bzw. wie sie im Unterschied zum tradierten Einzelbild definiert werden können. Das Einzelbild ist in der westlich-europäischen Tradition durch das Tafelbild definiert. Dieses ist singulär, es steht für sich, es ist ein individuelles Ding mit einer Dignität; es verfügt über einen besonderen Status unter allen hergestellten Dingen. Aus dieser Tatsache ist die Verallgemeinerung der Singularität des Tafelbildes in der Kunst hervorgegangen. Ein einzelnes Bild, sprich der Typus des Tafelbildes, kann vom Status her ein Kunstwerk sein, wenn es eine artifizielle Differenz gegenüber anderen einbringt und sich dadurch legitimiert. Weiterhin: Ein einzelnes Bild ist in sich abgeschlossen oder auf sich bezogen, bildet eine Welt für sich mit dem Anspruch, jeden Aspekt von Welt darzustellen, zu repräsentieren oder unbekannte Aspekte aufzuzeigen, d.h. ansichtig bzw. vorstellbar zu machen. Welt ist bereits eine Singularität, denn der Begriff suggeriert die Summe aller Phänomene, die bezogen auf Bilder sichtbar sind oder sichtbar gemacht werden können. In diesem Anspruch von Welt steckt eine Totalität, denn die Sichtbarmachung oder Sichtbarwerdung geht in Richtung einer Idee von Welt, in dem die Welt im Sehfeld des Bildes zur Erscheinung kommt. Bilder zeigen etwas Daseiendes. Das Bild zeigt nicht nur auf sich selbst, sondern zeigt auch auf etwas hin; es zeigt etwas auf oder etwas an. Es steht also für einen Weltbezug, der in der Verallgemeinerung heißen kann, dass die Welt als Summe aller Tatsachen oder Phänomene im Bild in Erscheinung tritt. Das Bild wäre demzufolge das Medium eines Weltbezuges. Emphatisch ist die-
Hinweise zum Glossar
ser Weltbezug durch das Bild eine Vergewisserung der Erkennbarkeit von Welt. Bilder sind also Erkenntnisobjekte und die Verallgemeinerung der Singularität des Bildes verweist auf eine spezifische Form der Erkennbarkeit von Welt. Bilder dienen dem Nachweis eines Gegenstandes von Philosophie, der gesetzt oder wahrgenommen werden kann.
Bildtransport und Bildwanderung Seit den Anfängen des Tafelbildes im 14. Jahrhundert ist das Einzelbild bezogen auf den Bildträger und Bildstandort mobil (quadro riportato). Die Bedingungen, unter denen das Einzelbild wahrgenommen wird, werden als in sich abgeschlossen und auf sich rückbezogen, still und mitunter kontemplativ empfunden, aber die visuelle Tätigkeit selbst ist aktiv, sie bemerkt und verarbeitet eine mehr oder weniger große Anzahl optischer Reize. Aber auch das kann in Frage gestellt werden. Man kann von dem retinalen Bezug des Bildes, sprich der visuellen Tätigkeit, absehen, bis nur noch der bildliche Verweis auf etwas bestehen bleibt. Folgt man dem Vorschlag von Duchamp, wäre dies ein Angebot, einen Bildraum zusammenzusetzen. Wie auch immer die Konstruktion des Bildes vonstatten geht, wie auch immer die Definition von Bildern zustande kommt bzw. ausfallen mag, an einer Tatsache kommt man nicht vorbei: Das Einzelbild hat seine selbstbezügliche Kraft zwar nicht verloren, aber einzelne Bilder sind nur noch dann von Interesse, wenn sie einen Zusammenhang, in dem sie fungieren, anzeigen. Das Einzelbild stiftet einen Verweis auf einen Zusammenhang, in dem Bilder untereinander bzw. miteinander stehen. Schlüsselbilder ließen sich dahingehend definieren, dass sie solche Zusammenhänge aufzeigen. Der Zusammenhang selbst ist also bildlos.
Das Experiment: Bild und Realität Die Erfolgsgeschichte des europäischen Bildes beginnt mit einem Experiment. Filippo Brunelleschi führte wahrscheinlich ab 1413 Bildexperimente durch. Dabei sind wir auf Vermutungen angewiesen. Es ist möglich, das BrunelleschiExperiment zu rekonstruieren.1 An diesen Rekonstruktionen ist weniger wichtig, ob Brunelleschi der Entdecker perspektivischer Konstruktion gewesen ist, als vielmehr der Gedanke, dass eine wissenschaftliche Versuchsanordnung den Ausschlag für die Akzeptanz gab, dass ein Ausschnitt die Realität abbilden kann und dass nach diesem Prinzip jede Abbildung der Welt, ob man sie nun kennt oder nicht, ob sie bloß vorgestellt oder tatsächlich anzutreffen ist, nun 1
Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, München: Wilhelm Fink Verlag 2002. Und vgl. auch Martin Kemp: Der Blick hinter die Bilder. Text und Kunst in der italienischen Renaissance, Ostfildern: DuMont Verlag 1997.
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
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auch darstellbar wird. Folgt man diesem Gedankengang, hat den Anstoß für die Karriere des Bildes eine Methode der Überprüfung geliefert, die jederzeit und an jeder Stelle wiederholbar ist. Der visuelle Beweis liegt im Vergleich des Sehfeldes und des damit übereinstimmenden Bildes, das zusätzlich mit Hilfe eines Spiegels überprüfbar ist. Der damalige Zeitgenosse hätte demnach überprüfen können, dass Bild und Realität optisch übereinstimmen: Die perspektivische Konstruktion bezieht sich auf den tatsächlichen Standort, den man einnehmen kann. Dabei schaut man durch ein Loch des Bildes und sieht das Baptisterium dahinter. Im nächsten Schritt schiebt man mit der anderen Hand, die nicht das Bild, sondern einen Spiegel hält, diesen vor die Blickachse, so dass man nicht mehr den Platz mit den Baptisterium sieht, sondern das, was der Spiegel zeigt. Der Spiegel zeigt, wenn alles im richtigen Abstand mit den Händen ausgeführt wird, die Vorderseite des Bildes und darauf ist genau der Ausschnitt abgebildet, den man vorher gesehen hat. Dieser Vorgang kann prinzipiell wiederholt werden. Die Plausibilität des Bildes als Abbild von dem, was man gleichzeitig auch in der Realität des Sehfeldes wahrnimmt, muss schlagend gewesen sein. Entscheidend ist, dass perspektivische Konstruktionen der Überprüfung des dargestellten Gegenstandes mit der Realität standhalten. Wahrscheinlich konnte man solche strategischen Manöver auch unaufwendiger durch kleine optische Abbildungen vornehmen, die letztlich die gleichen Argumente lieferten. Wichtig ist die Erkenntnis, dass der Raum auf die Fläche projiziert werden kann und dass diese mediale Abstraktion von Raum und Fläche eine Rekonstruktion der Perspektive voraussetzt, die nicht nur die Bedingungen des Renaissance-Bildes geprägt hat, die in der Folgezeit modifiziert wurden, bis der abbildhafte Gegenstand in dem Dogma der reinen Malerei der Moderne selbst von der Bildfläche verschwand. Immer dann, so die These, wenn das Realitätsmodell eine mediale Veränderung erfährt, verändern sich auch die Prämissen des Bildes, das Verhältnis von Fläche und Raum und von Bild und Realität. Angezeigt wird das durch Bilder selbst. „Étant Donnés“ von Marcel Duchamp überprüft die Voraussetzungen des Renaissance-Bildes in zweierlei Hinsicht.2 Erstens sind seine Gebrauchsanweisungen für die Konstruktion eines Bildes „Gegeben sei“ an keinen bestimmten Raum gebunden,3 zweitens thematisiert er durch seine vorgegebene Bauanleitung den Blick, der Bilder fängt, empfängt und triebhaft sucht, um das Sehobjekt mit Lust aufzuspüren. Ein Blick des Betrachters durch ein Loch in einer verschlossenen Tür im Philadelphia Museum of Art zeigt eine Szenerie, die wie ein Bildkrimi angelegt ist: Eine tote, nackte Frau liegt eine Gaslampe haltend umgeben von einigen Indizien im Vordergrund einer Landschaft. Die Kritik ist, formal bezogen auf desillusionierte Bildfläche und inszenierten Raum, klar, aber auf der Ebene der Rekonstruktion des Blicks schwer in Worte zu fassen. Man muss sozusagen hindurchblicken durch das, was Bilder verstellen. Weitere Beispiele, die die Voraussetzungen des Renaissance-Bildes tangieren, ließen sich sicherlich zu Genüge anführen. Bild und Wand haben bezogen 2
3
Siehe Marcel Duchamp: „Étant Donnés“, hg. vom Philadelphia Museum of Art, Wisbech: Balding & Mansell, England 1987. Siehe Marcel Duchamp: Von der Erscheinung zur Konzeption, Köln 1962.
Hinweise zum Glossar
auf die Fundamentalkritik von Duchamp ein Bildgefängnis erzeugt, in dem der Täter-Blick seinen Opfern lustvoll und narkotisch gebannt nachstellt. Um das mit den von Duchamp eröffneten Möglichkeiten zu diskutieren, möchten wir noch auf drei weitere, raumbezogene Grenzfälle des Bildes hinweisen: Erstens Goyas zweistöckiges Haus vor den Toren der Stadt, das er mit Phantasieerkundungen und Schreckensvisionen ausgemalt hat, zweitens das Lackkabinett von Oskar Schlemmer4 und drittens das Prinzip der Cave, in der Wände und Decke eines Raumes durch die Projektion perspektivischer Illusionsräume in alle Richtungen aufgehoben werden können. Goya konstruiert sozusagen sein individuelles Haus mit Bildern in den Grenzen eines öffentlich gewordenen Bildbewusstseins. Schlemmer zeigt die dem Betrachter zugewandte Raumgrenze mittels der Wandfarbe und das Prinzip der Cave schließlich negiert die Wände des physikalischen Raumes, um den immateriellen Bildraum zu erzeugen.5 Das Wechselverhältnis von Fläche und Raum hat in der Tendenz eine technische Entwicklung und technologische Umdeutung seines Prinzips erfahren. Die Cave ist die Krise des Bildes schlechthin. Um das zu verstehen, müsste man das technische Bild, wie es Vilém Flusser umrissen hat, aufgreifen und diskutieren. Wahrscheinlich ist das technische Bild, das seine Voraussetzungen nicht mehr im Renaissance-Bild hat, eine erste Antwort auf die Krise des europäischen Bildes, jedoch mit dem Zusatz, dass diese Antwort noch nicht richtig verstanden ist, denn die technischen Bilder verlangen keinen marionettenhaften Betrachter – der Betrachter, der sich im Raum mit Bildern bewegt, sondern sie definieren mentale und physikalische Bewegungen neu. Das Andere des technischen Bildes liegt in der Durchdringung der Oberfläche, metaphorisch gesagt wird der Körper mit allen Sinnen anschlussfähig an die dichte Durchwobenheit der Oberfläche. Sehen ist keine Vergewisserung der Grenze der Fläche, der Faszination der Erscheinung von etwas, das sich im Sinne von Figur und Grund bewegt und damit zeigt. Man sollte Sehen als Überprüfung begreifen, die das stehende Bild nur noch in Bezug auf andere Bilder und den Wechsel der Medien vermag. Das Urbild der technischen Bilder ist die spiegellose Schnittstelle, womit das alte Wechselverhältnis von Fläche und Raum eine andere Dimension erfährt.
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4
5
Katalog Düsseldorf: Oskar Schlemmer. Das Lackkabinett, hg. von Jiri Svestak, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf : Wiegelmann Verlag1987. Vgl. Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin: Reimer Verlag 2001, S.126f.
Bilderbegriffe – Glossar
Abbild Das Abbild ist nur ein Bild von etwas, worauf es sich bezieht. Das Abbild ist also selbst nicht das, was es als Zeichen zeigt oder als Gegenstand darstellt bzw. repräsentiert. Es gibt ein Beziehungsverhältnis an und markiert eine Trennung zu etwas anderem. Es kann etwas abbilden, etwas so zeigen, wie es dem Anspruch nach sein soll oder auch nur dem Anschein nach etwas wiedergeben. Die Beziehung von Abbild und dem, wovon es „Bild“ ist, hängt davon ab, was überhaupt Gegenstand von Abbildung sein kann. Damit ist die Frage nach dem Abbild eine grundsätzliche, die die bildliche Wiedergabe als Stellvertreter von etwas anderem betrifft. Stellt das Abbild etwas reales, ideales oder virtuelles dar? Auf diese grundsätzlichen Fragen nach dem Abbildungsverhältnis, wie z.B. von Abbild und Idee oder von Abbild und Realität, fallen die Antworten verschieden aus, vor allem dann, wenn die erkenntnistheoretische Seite von dem, worauf sich das Abbild bezieht, gewichtet wird. Zwei Positionen stehen sich gegenüber: Auf der einen Seite wird die Bezugnahme auf einen Gegenstand verlagert, der sich gar nicht abbilden lässt und auf der anderen Seite wird das Abbild als getreuliche oder kritische Wiedergabe von Realität geradezu gefordert. Im Grunde genommen hängt der Geschichte des europäischen Bildes die Frage nach der Abbildhaftigkeit von Welt an. Platon hat bekanntermaßen die Verfertigung von Bildern nicht sehr hoch eingeschätzt, denn es kann keine Abbilder von Ideen geben, die allen Erscheinungen von Dingen in der Welt vorausgehen. Das ist der eine Pol, der andere geht von einer materialistischen Weltsicht aus und behauptet nicht nur die Wiedergabe von Dingen, die in der Welt aufgrund der physikalischen Gegebenheiten vorauszusetzen sind, sondern verbindet damit auch ein Stück von Wirklichkeitsaneignung als Überprüfung und Wirklichkeitsgewinn. Die Differenz von Abbild und Welt als Gegenstand der Aneignung fällt verschieden aus, je nachdem, wie die Überprüfung und der Gewinn abbildungstechnisch aufgefasst werden. So steht das materialistische Abbild in einer historischen Linie mit der erprobenden Simulation, die Wirklichkeit als Wirklichkeit hervorbringt. Diese Leistung von Realitätsgewinn darf nicht mit
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
deren Leugnung, also der Scheinhaftigkeit des Abbildes oder der Kopie von etwas verwechselt werden. „Der Dichter als Nachbildner hat weder Erkenntnis noch auch nur richtige Meinung von dem, was er nachbildet“. (S.292) PLATON: Phaidon. Politeia, in: Otto, Walter F.; Grassi, Ernesto; Plamböck, Gert (Hg.): Platon. Sämtliche Werke. Bd. 3, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1958. „Kunst ist sowenig Abbild wie Erkenntnis eines Gegenständlichen [...]. Vielmehr greift Kunst gestisch nach der Realität, um an der Berührung zurückzuzucken. Ihre Lettern sind Male dieser Bewegung.“ (S.425) ADORNO, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1973.
Actual act, factual fact Die Unterscheidung der sinnlichen Seite Actual Act und der konstruktiven Seite Factual Fact bezieht sich auf Gegebenheiten im Bild und die Wahrnehmung dieser durch den Betrachter. Bezogen zum Beispiel auf die physikalischen Gegebenheiten einer konkreten Farbschicht auf einer Leinwand und deren Wahrnehmung durch einen Betrachter ist eine überprüfbare Trennung von den faktischen Bedingungen (factual fact) und der sinnlichen Präsenz der Farbe (actual act) vorzunehmen. Der Beobachter hat einen blinden Fleck, er sieht nicht, was er nicht sieht. Das Aktuelle ist die Farbbewegung, deren sinnliche Erscheinung, die Versuchsanordnung und sinnliche Erkenntnis.
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„Historically seen, the task of eduction – human devolopment – has remained constant, while responding to the evolution of human mentality, in emphasis and method: in its content, from belief to knowledge; in this attitude, from a spiritual to an intellectual level. In my own terminology it has moved from ‚actual‘ facts to ‚factual‘ facts, and from human relatedness, submitting mutual obligations, to forced and exalted individualization if not lawless individualization.“ (S.15) ALBERS, Josef: Serch versus Reserch. Three Lectures by Joseph Albers at Trinity College, Hartford/ Connecticut: Trinity College Press April 1965.
Bewegtbild Entgegen dem Einzelbild ist das Bewegtbild eine technische Leistung. Die Unterschiede vieler Einzelbilder in einer Folge sind als kontinuierliche Bewegung zu erfahren. Im Medium des Films ist die Zeit eine konstante Erfahrung der Kontinuität des technisch konstruierten Bildraumes. Die Möglichkeiten und
Bilderbegriffe – Glossar
Grenzen des Bewegtbildes können an dem für sich allein stehenden Einzelbild sowie an dem aus einer verketteten Abfolge herausgelöstem Einzelbild (Filmstill) reflektiert werden. Denn die wahrnehmungstechnischen Bedingungen können zwischen der animierten Verkettung „bewegter Bilder“ im filmischen Apparat und der ruhenden Fixierung auf Einzelbilder hin und her schalten. Filmischer Apparat und menschlicher Sehapparat können kurzgeschlossen werden. 1. Bewegungsbild: Deleuze unterscheidet drei Spielarten des Bewegungsbildes: Wahrnehmungsbild, Aktionsbild, Affektbild. Siehe DELEUZE, Gilles: Das Bewegungs-Bild (Kino 1), 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997.
2. Bewegtbild-Formate (Auswahl) DVB-t, DVB-s; (terrestisch, Satelit) IPTV, (Internet Protocol Television) Analog (Fernsehen, Video, im PAL oder NTSC Format) und digital (web-tv)
Bild-Anthropologie Die Bild-Anthropologie ist der kulturelle, auf den Menschen bezogene Ansatz und untersucht den kulturellen Prozess der Wechselbeziehung von Mensch und Bild, mentalem und physischem Bild. „Neue Bilder verdrängen alte Bilder nicht nur an der Wand, sondern auch in den Köpfen, und es ist nicht einmal eindeutig, wann das eine und wann das andere geschieht und wie das eine in das andere übergreift. Das Bild im Kopf ist von dem Bild an der Wand nicht so klar zu unterscheiden, wie es das dualistische Schema nahelegt. Träume, Visionen und Erinnerungen sind nur äußere Symptome für dieses unausschöpfliche Wechselverhältnis. Das Medium spielt in dieser Frage schon deshalb eine Schlüsselrolle, weil es uns einen Begriff liefert, um das Bild an der Wand nicht mit einem Ding zu verwechseln. Aber schon der Sprachgebrauch ist nicht eindeutig. Sollte es uns einfallen, das Verhältnis von Bild und Medium räumlich aufzufassen, so tritt das Medium ja keineswegs zwischen uns und das Bild dort draußen. Eher ist es umgekehrt und wird das Bild im Akt der Betrachtung zwischen dem Medium und uns ausgetauscht. Das Medium bleibt dort, während das Bild gleichsam zu uns kommt. Wieder erweist sich, wie schwer der Inhalt des Bildbegriffs festzulegen ist. Das gilt endlich auch für den metaphorischen Bildbegriff (ein Bild von etwas oder ein Bild für etwas) und sein Verhältnis zum verdinglichten Bild mit seiner Produktionsform und seiner Zeitform. [...] Eine ‚Geschichte des Bildes‘ findet in den Medien und Techniken des Bildes zwar ihre plausibelste Zeitform. Und doch wird eine Anthropologie nicht in den Irrtum fallen, die Bilder allein in ihrer Produktionsgeschichte aufsuchen zu wollen. Gerade die Mediendiskussion ist dazu geeignet, einen Bildbegriff zu entwickeln, der nicht in technischen Zusammenhängen aufgeht. Alle Bilder tragen eine Zeitform in sich,
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
aber sie führen auch zeitlose Fragen mit sich, für welche die Menschen schon immer Bilder erfunden haben. Selbst wenn man die Geschichtlichkeit der Bilder im kollektiven Imaginären sucht, so bleibt die anthropologische Frage nach dem Bild immer noch offen.“ (S.54 f.) BELTING, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink Verlag 2001.
Bild Das Bild ist ein allgemeiner Ausdruck für visuelle Darstellungen und subsumiert Zusammensetzungen von Höhlenbildern bis Weltbild. Es ist ein globaler, unspezifischer Ausdruck, der seine Vorteile der Verwendung erst im Kontext findet. Etymologisch aus dem mittelhochdeutschen „billen“ (hauen, meißeln) entsprungen, steht Bild für das Gestaltete, Geschaffene überhaupt. Im alltäglichen Gebrauch bezieht sich Bild auf eine Vorstellung oder Darstellung eines Gegenstandes oder auch Zustandes, Sachverhaltes. Der Bildbegriff unterlag und unterliegt einer vielfachen Deutung und hat historisch insbesondere in der Philosophie und Erkenntnistheorie seit Platons Bestimmung von Urbild und →Abbild Abwandlungen erfahren.
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„Aus mehr als einem Grund wäre es unklug, eine philosophische Untersuchung des Bildbegriffs auf den Sonderfall von Bildern einzuschränken, wie sie in Museen und Galerien hängen. Bei Kunstwerken kommen eine Reihe von Besonderheiten ins Spiel, denen gegenüber der Bild- und Darstellungscharakter zurücktreten kann. Manche Haltungen gegenüber Bildkunstwerken können leicht den Blick dafür verstellen, daß Bilder eine Fülle verschiedener Verwendungen, Funktionen und Zwecke haben und auf vielfältige Weise in unser Leben eingreifen. Eine Beschränkung auf künstlerische Bilder droht, zu Einseitigkeiten in der Bildtheorie zu führen. Auf der anderen Seite wäre es verkehrt, nun künstlerische Bilder vollkommen aus der Betrachtung auszuschließen. Nun achten wir, wenn wir sie heranziehen, ausschließlich auf ihren Bildcharakter und sehen von ihren künstlerischen oder ästhetischen Qualitäten ab.“ (S.9f.) „Diese Auffassung, so verführerisch sie auch sein mag, stößt auf eine ganze Reihe grundlegender, selbst begrifflicher, Schwierigkeiten. Nicht nur ihre empirische Plausibilität, sondern vor allem ihre begriffliche Stimmigkeit und ihr methodischer Wert stehen in Frage. Verhältnismäßig schwach ist der Einwand, im Gehirn, in welchen die Vorstellerei stattfinden soll, seien keine Bilder zu finden. Es trifft zwar zu, daß der Hirnanatom nicht auf gerahmte Gemälde, Photos oder Filmrollen stößt. Wie wir früher bemerkt haben, können Bilder jedoch aus allen möglichen Materialien bestehen, in allen möglichen Stoffen fundiert sein; auch, was die Größe anbelangt, ist keine prinzipielle Grenze anzugeben. So betrachtet, schließt nichts aus, daß es im Geist beziehungsweise im Gehirn Elemente geben könnte, die zu einem syntaktisch dichten, analogen
Bilderbegriffe – Glossar
etc. System gehören. Die wirklichen Schwierigkeiten treten hervor, wenn wir an die Gebrauchs- und Interpretationsabhängigkeit von Bildern und Bildsystemen denken. Kein Gebilde ist aus sich heraus ein Zeichen oder eine Repräsentation. Nur wenn es in bestimmter Weise gebraucht und verstanden wird, dient es als Zeichen; und nur wenn ein bestimmtes Interpretationssystem zugrundegelegt wird, fungiert es als Bild.“ (S.180) SCHOLZ, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung, Freiburg, München: Karl Alber Verlag 1991.
Bildanalyse Verschiedene Methoden können zur Bildinterpretation herangezogen werden. Zwei klassische Methoden sind die hermeneutische Bilddeutung nach Panofsky und die Bildanalyse nach Arnheim: 1. Hermeneutische Bilddeutung nach Panofsky. Er hat die Unterscheidung von Ikonographie und Ikonologie eingeführt: „Die Ikonographie ist der Zweig der Kunstgeschichte, der sich mit dem Sujet (Bildgegenstand) oder der Bedeutung von Kunstwerken im Gegensatz zu ihrer Form beschäftigt.“ (S.36) „Ikonologie ist mithin eine Interpretationsmethode, die aus der Synthese, nicht aus der Analyse hervorgeht. Und wie die korrekte Feststellung von Motiven die Voraussetzung ihrer korrekten ikonographischen Analyse ist, so ist die korrekte Analyse von Bildern, Anekdoten und Allegorien die Voraussetzung für ihre korrekte ikonologische Interpretation.“ (S.42) „Im Fall einer vorikonographischen Beschreibung, die sich im Rahmen der Motivwelt hält, scheint die Angelegenheit recht einfach zu sein. Die Objekte und Ereignisse, deren Darstellung durch Linien, Farben und Volumen die Motivwelt bildet, lassen sich, wie wir gesehen haben, auf der Grundlage unserer praktischen Erfahrung identifizieren.“ (S.43) PANOFSKY, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont Verlag 1978. Siehe auch Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie. In: E. Kaemmerling (Hrsg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. Bd.I. Ikonographie und Ikonologie: Theorien, Entwicklung, Probleme. Köln 1979, S.207-225. Siehe auch die ikonische Bildanalyse von Max Imdahl, der über Panofsky dahingehend hinausgeht, dass er u.a. auf die vorikonografischen Bedingungen von visuellem Gegenstandssehen im Gefüge der Bildkomposition aufmerksam macht. IMDAHL, Max: Giotto, Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik, München: Wilhelm Fink 1980. → Ikonik
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
2. Bildanalyse nach Arnheim. Arnheim hat einen empirischen Zugang entwikkelt, welcher sich auf psychologische Untersuchungen stützt. Die Erkenntnis hieraus ist eine, die im Sinne der Überprüfbarkeit durch Experimente legitimiert ist. Der Sehakt wird aus der individuellen Vereinzelung herausgenommen und damit allgemein. Somit wird er beschreibungsfähig für alle kognitiven Prozesse, bei denen es darum geht, Sehen im Sinne der künstlichen Intelligenz zu rekonstruieren. Dabei sind empirische Untersuchungen eine notwendige Voraussetzung. Gerade im Sinne der Automaten- und Roboterentwicklung, der technologischen Entwicklung, wo das Sehen nachgebaut wird, ist dies eine Notwendigkeit, da beim mechanisch gesteuerten Blick die Sehvorgänge im Gehirn analysiert und nachvollziehbar sein müssen. Die Studien nach Arnheim sind ein Beitrag zu einer Bildwissenschaft auf der Basis der Naturwissenschaft. „Die Bedeutung dieser Erkenntnisse für die Theorie und Praxis der Kunst sind offensichtlich. Wir können im künstlerischen Schaffen keine eigenständige Tätigkeit mehr sehen, auf geheimnisvolle Weise von oben inspiriert, mit anderen menschlichen Tätigkeiten nicht in Beziehung stehend und nicht in Beziehung zu bringen. Statt dessen erkennen wir im verfeinerten Sehen, dass zur Schöpfung großer Kunstwerke führt, eine Weiterentwicklung der bescheideneren und allgemeineren Sehtätigkeit im täglichen Leben.“ (S.6) ARNHEIM, Rudolf: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin, New York: Walter de Gruyter Verlag 1978.
Bildbewusstsein
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Das Bildbewusstsein ist ein Konstrukt, d.h. eine Hervorbringung der visuellen Aufmerksamkeit und der Erinnerung. Der Begriff setzt voraus, dass Bilder Gegenstand der anschaulichen Tätigkeit sind: Im ständigen Austausch und Vergleich der anschaulichen Tätigkeit werden Gegenstände unterschieden, als bekannt oder unbekannt erfahren, reflektiert und durch Beobachtungskriterien als visuelle Akte, bis hin zu Bildern bewusst. Es ist etwas anderes zu sehen oder durch den Aufmerksamkeitskegel des Bewusstseins eine Sichtbarkeitszone sozusagen zu fokussieren, und andererseits die in diesem Bewusstseinsfeld liegenden visuellen Merkmale auf einer Ebene ihrer bildlichen Konstruktion zu erkennen. Das Bildbewusstsein setzt eine Differenz von Bild und Sichtbarkeit, die eine Fähigkeit im Unterscheiden von etwas darstellt, ohne dass dazu ein Begriff notwendig wäre, so lange dies in der Tätigkeit des Bewusstseins – also im Vollzug – festzustellt wird. Die visuelle Tätigkeit, die eine bildliche Differenz erfahren kann, ist eine Grundtatsache der Phänomenologie. „Das aktuell Wahrgenommene, das mehr oder minder klar Mitgegenwärtige und Bestimmte (oder mindestens einigermaßen Bestimmte) ist teils durchsetzt, teils umgeben von einem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit. Ich kann Strahlen des aufhellenden Blickes der Aufmerksamkeit in ihn hineinsenden, mit wechselndem Erfolge. Bestimmende, erst dunkle und dann
Bilderbegriffe – Glossar
sich verlebendigende Vergegenwärtigungen holen mir etwas heraus, eine Kette von solchen Erinnerungen schließt sich zusammen, der Kreis der Bestimmtheit erweitert sich immer mehr und ev. so weit, daß der Zusammenhang mit dem aktuellen Wahrnehmungsfelde, als der zentralen Umgebung, hergestellt ist. Im allgemeinen ist der Erfolg aber ein anderer: ein leerer Nebel der dunklen Unbestimmtheit bevölkert sich mit anschaulichen Möglichkeiten oder Vermutlichkeiten, und nur die ‚Form‘ der Welt, eben als ‚Welt‘, ist vorgezeichnet. Die unbestimmte Umgebung ist im übrigen unendlich. Der nebelhafte und nie voll zu bestimmende Horizont ist notwendig da.“ (S.57) HUSSERL, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 5, Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: ders.: Ges. Schriften, hg. von Elisabeth Ströker, 8 Bde., Hamburg: Meiner Verlag 1992.
Bilderstreit Wir unterscheiden zwischen dem Streit um Bilder und dem Streit mit Bildern. Abzugrenzen ist der Bilderstreit vom Bilderverbot (Ikonoklasmus). Der Bilderstreit trägt auch ideologische Züge, z.B. im Kampf um das freie oder unfreie, um das reine oder unreine Bild der Moderne, in der Systemfrage freier bzw. realistischer Kunst, insbesondere im Sinne der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde, im Sinne Sozialismus gegen die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung der Völker zur Zeit des Kalten Krieges. Hier war der Bilderstreit eine verdeckte Auseinandersetzung hinsichtlich der Richtigkeit der Systeme. „Das Paradox, das wir heute erleben, liegt in einem Streit ohne Bilder. Ein neuer Streit ist um die Moderne ausgebrochen, aber er wird nicht als Bilderstreit ausgetragen. Der Streit um die Postmoderne geht darum, ob wir noch in der Moderne oder schon in der Zeit nach der Moderne leben. Ich beeile mich, hinzuzufügen, dass der Streit natürlich auch um ein „Bild“ geht, dass man von der Moderne besitzt, und darum, ob es auf die Gegenwart noch passt oder nicht. Man muß die Moderne erst einmal definieren, bevor man sich zur Postmoderne äußern kann. Philosophen, Historiker und Literaten streiten um den verbindlichen „Diskurs“ über die „großen Themen“ und um die „Aufklärung“ als Funktion der Kultur. Es sind „gedankliche Bilder“, die für eine kollektive Identität im Sinne einer gemeinsamen Moderne stehen oder dies nicht mehr tun. Aber diese „Bilder“ finden in der Kunst nicht mehr die passenden Symbole, die früher den Streit auf sich zogen und ihn damit anschaulich machten. Der Streit ist abstrakter geworden. Die Kunst verwaltet nur den ihr eingeräumten, spezialisierten Bereich, in dem ihre Konjunktur alle Rekorde schlägt. Aber sie bietet nicht einmal mehr die Chance zu Verweigerung, folglich auch nicht jene des Symbols.“ (S.26f.) BELTING, Hans: Bilderstreit – ein Streit um die Moderne, in: Katalog Köln: Bilderstreit. Widerspruch, Einheit und Fragment in der Kunst seit 1960, hg.
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
von Johannes Gachnang und Siegfried Gohr, Museum Ludwig Köln in den Rheinhallen der Kölner Messe, Köln: DuMont Verlag 1989. Siehe auch: GACHNANG, Johannes: Im Bilderstreit. Vorträge und Aufsätze zur zeitgenössischen Kunst, Wien: Sonderzahl Verlag 1993.
Bilderstrom, Bilderfluss, Bilderkette oder Verkettung von Bildern Allen diesen Ausdrücken ist gemeinsam, dass eine Verbindung von Bildern zu Bildern unterstellt wird. Wir müssen die Verknüpfung von Bildern im Bewusstsein und die Erinnerung des tätigen Bewusstseins von dem Gebrauch und Einsatz von Bildern als kulturelle Tätigkeit und von der technischen Kopplung von Bildern durch technische Apparaturen unterscheiden. Es gibt also einen prozessualen Zusammenhang zwischen dem ABildbewusstsein, der kulturellen Konditionierung durch Bilder und dem jeweiligen technischen Stand der Hervorbringung, Verbreitung, Verarbeitung und Speicherung von Bildern. Eine isolierte Analyse von Bildverwendung und Bilderwanderung bzw. dem Fluss oder der Verkettung von Bildern ist unter den gegenwärtigen bildertheoretischen Erkenntnissen unangemessen, aber bezogen auf die Konkretisierung problematisch. Denn das Nacheinander, das viele Nebeneinander und Beieinander von Bildern an unterschiedlichen Stellen ihrer Lagerung und Verbreitung sowie ihres Erscheinens an flüchtigen medienspezifischen Orten sowie ihr Zeigenkönnen an fixierten, lang währenden musealen Ausstellungsorten ist komplex und bedarf methodischer Vereinfachungen, um überhaupt erkannt und beschrieben werden zu können. Dazu zählen bereits bildhafte Begriffe, die eine Struktur dieses Zusammenhangs anzeigen wollen: Verkettung, Zirkulation und Verknüpfung von Bildern untereinander oder das Dazwischensetzen, das Anhalten und Weiterführen des Transportes bzw. der Wanderung von Bildern.
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Bilderwissen Bilderwissen ist der Versuch einer naturwissenschaftlichen Bestimmung im Einsatz und dem Gebrauch von Bildern und damit nicht nur im Rahmen der Kunst. „Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass die Sprache der modernen Wissenschaft für ihre erklärten Ziele zu reich an Metaphern und Analogien ist und das in einem Ausmaß, wie es die Verfasser dieser trockenen Prosa kaum zuzugeben bereit wären. Die in die Wissenschaftssprache eingebetteten Figuren reichen von anschaulich deskriptiven Bildern bis zu Metaphern, in denen eine Ehrfurcht zum Ausdruck kommt, wie sie im Zeitalter der Romantik für die Wissenschaft charakteristisch war.“ (S.14)
Bilderbegriffe – Glossar
KEMP, Martin: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln: Dumont 2003.
Bildinhalt Nicht allein das Medium, sondern der Inhalt, das sichtbare, erschließbare Anliegen, die medienspezifische Bedingung, was jeweils Bild gattungsmäßig ist, schließt nicht aus, dass Bilder auch Inhalte mediengerecht mit ganzer Wucht transportieren. „Welcher Bildinhalt einem Bild zugeschrieben wird, kann nicht durch das Ähnlichkeitskriterium allein geklärt werden. Ähnlichkeit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur Bestimmung des Bildinhalts. Neben Ähnlichkeit gehen in den Bildinhalt der Bildkotext, der Bildkontext sowie die Typikalität der dargestellten Eigenschaften in. Die kotextuelle Determination des Bildinhaltes erfolgt wesentlich über die Gestaltgesetze. Im Sinne einer Verwendungsumgebung liefert der Kontext einen Interpretationshorizont. Typikalitätsstandards sind schließlich mental repräsentiert und individuell wie kulturell variabel.“ (S.176f.) SACHS-HOMBACH, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003.
Bildlosigkeit Bildlosigkeit ist eine radikale Form der Bildkritik. Sie hat einen Traditionsbezug. Dieser geht davon aus, dass jede anschauliche Leistung, das physikalische Sehen von Gegenständen, auch das Sehen von Bildern zwar ausreicht, Bilder zu sehen, aber nicht dazu, etwas zu sehen, was man mit Rilke gesprochen auch künstlerisch „einsehen“ könnte, anstelle es in seiner Gegebenheit und seinem Kontext wissend zu „durchschauen“. Bildern, auf denen etwas zu sehen ist, wie ja überhaupt fast immer etwas im tätigen Sehen zu sehen ist, fehlt etwas. Was ist das Defizit der Bilder? Bilder als Bilder sind bildlos, solange sie nicht auch etwas anderes sind als nur Bilder. Diese negative Seite von Bildern ist gemeint, wenn Bilder daran „gemessen“ werden, nicht nur Gegenstände der sichtbaren Welt, sondern der Kunst zu sein. Unterstellt wird hierbei, dass es einen „einsehbaren“ Grund gibt, den nur Kunst mittels Bildern zeigt bzw. offen legt. Mit Bezug auf Rilkes Wort vom „Tun ohne Bild“ (8. Duineser Elegien) ist eine solche negative Abgrenzung gemeint. Heidegger nannte dies mit Bezug auf Rilke: „Das rechnende Herstellen ist ein ‚Tun ohne Bild‘.“ (S.146) Das Defizit der Bilder, also ihre Bildlosigkeit, ist sowohl im Herstellen als auch im Anschauen feststellbar und betrifft sowohl den Künstler als auch den Betrachter, den Macher wie den Zuschauer. Die Bildlosigkeit von Bildern verweist auf eine Erbschaft der Bilder, als künstlerische Zeugnisse etwas zu sein, was Bilder oder sonstwie sichtbare
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Dinge der Welt nicht zeigen. Aus dem Verständnis der Tradition ist Bildlosigkeit auch eine positive Bestimmung von Bildern, nämlich etwas sichtbar zu machen, was in der Bildlosigkeit von Bildern gemeinhin nicht vorkommt. GLASER, Gerhard: Das Tun ohne Bild. Zur Technikdeutung Heideggers und Rilkes, München: Mäander Verlag 1983 (Kunsterfahrung und Zeitkritik, Bd. 5).
Bildpragmatik Wege des praktischen Umgangs mit Bildern kommen in der breit angelegten Auseinandersetzung etwas zu kurz. Zwar kann man den Zugang von dem Umgang mit Bildern trennen und hierbei auch jeweils praktische gegenüber theoretische Aspekte den Vorzug gaben, aber wichtig ist hierbei zu erkennen, dass eine Isolierung eines einziges Aspektes in Bezug auf die Vielfalt der Bilderprogrammatik unbefriedigend bleiben muss. Eine Lücke im Verständnis schließt die Bildpragmatik. Sie umfasst das Spektrum von der Herstellung und vom Umgang mit Bildern: das kulturelle und interkulturelle Verständnis im Bildgebrauch. „Während die Bildsemantik vor allem die wahrnehmungsbasierten Aspekte der Bildbedeutung untersucht, betrachtet die Bildpragmatik den Einsatz von Bildern als eine spezielle Form des kommunikativen Handelns. Auf allgemeinster Ebene beschreibt sie die Handlungs- und Rezeptionszusammenhänge, die den Bildstatus konstituieren. [...] Eine Bildpragmatik im engeren Sinn untersucht die semantisch relevanten externen wie internen kontextuellen Vorgaben, die sich aus den konkreten Bildtypen und -medien, aus den jeweiligen Bildfunktionen und -umgebungen sowie aus den spezifischen kognitiven Kompetenzen ergeben.“ (S.163f.) SACHS-HOMBACH, Klaus : Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Halem Verlag 2003.
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Bildrauschen Unabhängig davon, ob es sich um akustische oder optische Signale handelt, können die zu übertragenden Informationen durch Rauschen gestört werden. Bildrauschen bezeichnet die Störungen, die keinen Bezug zum Bildinhalt haben: z.B. abweichende, störende Pixel bei einer digitalen Fotografie. „ [...] Informationstheoretisch würde man sagen, daß, wo die pro Zeiteinheit übertragbaren Bit die Kanalkapazität bestimmen, diese durch Rauschen begrenzt ist. [...] der Fortschritt kann hier gemessen werden, und zwar immer am Grad der Unterdrückung des Rauschens. Anders in der Ästhetik: [...] Mit dem „modernen Leben“ im Sinne Baudelaires beginnt eine Entwicklung, in
Bilderbegriffe – Glossar
der das Klassisch-Lineare, eindeutig und fest Gefügte mehr oder weniger ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Auf verschiedenen Ebenen wird eine Fülle von Verfahren entwickelt, bei denen „ein Schleier die Botschaft umgibt“, bzw. Rauschen zu ihrem Bestandteil wird. Der Betrachter steht vor der Wahl, dies als Störung zu empfinden oder sich auf Mehrdeutigkeiten einzulassen.“ (S.153) ASENDORF, Christoph: Optisches Rauschen. Von Unschärfen und Uneindeutigkeiten in den Künsten. in: Hiepko, Andreas; Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann 2001. „Visuelle Medien leiden in ihrer Qualität unter solchen Problemen des Rauschens, das bei der Kombination mehrere Medien exponentiell ansteigt. Eine Photographie ist nur so gut, so differenziert in den Grauwerten und so scharf, wie es ihre Kornstruktur zuläßt. Eine gedruckte Fotografie wird obendrein gerastert, mehr oder minder grob, mit entsprechendem Effekt. Und das Fernsehbild wird auf der Mattscheibe hinter einer recht grob in Dreiergruppen aufgeteilten Rasterfolie abgebildet.“ (S.140) SACHSSE, Rolf: Pink Noise, in: Sturm, Hermann (Hg.): Der verzeichnete Prometheus. Kunst, Design, Technik. Zeichen verändern die Wirklichkeit, Berlin: D. Nishen Verlag 1988.
Bildschlüssel Diesem Begriff liegt eine Aufwertung bewusster Tätigkeit zugrunde. Gemeint sind Schlüsselerlebnisse, welche auf visuelle Eingebung, Idee oder anderen kreativ sinnlichen Akten basieren: Es sind entscheidende visuelle Erfahrungen und Schlüsselbilder, die das ausmachen. „239. ‚Der Gedanke stand in diesem Augenblick vor meiner Seele‘ - Und wie? ‚Ich hatte dieses Bild.‘ - So war das Bild der Gedanke? Nein; denn hätte ich Einem bloß das Bild mitgeteilt, so hätte er nicht den Gedanken erhalten.“ (S.326) „240. Das Bild war der Schlüssel. Oder es erschien doch als Schlüssel.“ (S.326) „241. Denken wir uns eine Bildergeschichte in schematischen Bildern, also ähnlicher der Erzählung in einer Sprache, als eine Folge realistischer Bilder. Man könnte in so einer Bildsprache etwa insbesondere den Gang von Schlachten festgehalten haben. (Sprachspiel.) Und ein Satz unserer Wortsprache kommt so einem Bild dieser Bildersprache viel näher als man meint.“ (S.326) WITTGENSTEIN, Ludwig: Über Gewißheit: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999.
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Bildsteuerung Dies betrifft die doppelte Nutzung von Zeichen als Icons und virtuellen Steuerknöpfen, Buttons. Neu ist die Auslösefunktion von Bildzeichen, die taktile Kopplung und Fernbedienung auf einer Oberfläche. „Die virtuellen Bilder unterstellen keine Realität mehr, die sie bloß optisch repräsentieren, sondern simulieren auf elektronische Weise eine eigene, nicht-vorgängige Realität. Das synthetische Bild bricht mit der klassischen Verbindung, die Bild, Subjekt und Objekt ins Verhältnis gesetzt hatte, indem es sich auf die Schnittstelle zwischen Subjekt und Objekt setzt und diese von einer nicht-imaginären Wirklichkeit aus transformiert. Merkwürdigerweise deformiert und denaturiert also jenes Bild, das mit einem Bild potenziert wird, durch seinen absoluten Mangel an Bezüglichkeit zu physischen oder energetischen Daten, bzw. zu einer Art imaginärer Proto-Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Subjekts sowohl als die des Objekts; es setzt das Bild, das jenes Verhältnis geregelt hatte, außer Kraft, so daß es zu einem Verhältnis außerhalb des Bildes (hors–image), ohne Bild wird.“ (S.7f.) „Auch wenn die Notwendigkeit, eine spezielle ‚numerische Kunst‘ anzunehmen, bestritten werden darf, geben die virtuellen Bilder dennoch Anlaß sowohl zu einer Reformulierung von Kunst und Philosophie als auch zu einer Wiederentdeckung der Substanzialität ihrer Verschwisterung, wobei die Frage, die sich beide gestellt hatten - ‚Was ist ein Bild?‘ - anders gewendet werden müßte, nämlich eher so: ‚wie entstehen welche Bilder und welche neuen Kombinationen sind zugleich mit ihnen möglich?‘“ (S.10) SAMSONOW, Elisabeth von; ALLIEZ, Éric: Einleitung, in: dies. (Hg.): Telenoia: Kritik der virtuellen Bilder, Wien: Turia + Kant Verlag 1999, S.7-27.
Bildstörung
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„Während [...] die Alltagskommunikation danach trachtet, jede Störung möglichst perfekt und vollkommen auszuschalten, um die Aufmerksamkeit des Beobachters auf das nicht Anwesende zu bündeln, benutzt die Kunst oftmals den Einbau von Störungen, um diese Fixierung auf das Dargestellte zu brechen, zu irritieren und dadurch auf ihre eigene Präsenz aufmerksam zu machen. [...] In künstlerischer Medienkommunikation finden wir oftmals an der einen oder anderen Stelle den gezielten Einbau von Störungen, um die Aufmerksamkeit zwischen den Abwesenden und den Anwesenden, zwischen Absenz und Präsenz, gezielt hin und her wechseln zu lassen - und eben dadurch zu irritieren und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.“ HUBER, Hans-Dieter: Bildstörung. in: Weibel, Peter (Hg.): Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren. ZKM / Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2001, S.125-137. Siehe auch A Bildrauschen
Bilderbegriffe – Glossar
Bildverlust Bildverlust meint das Leben in einer Zeit ohne Bilder, obwohl wir von Bildern umgeben sind. Der Mangel, das Defizit aus literarischer Sicht, ist eine Kritik der Phantasie und Kreativität: eine individuelle Verlustanzeige einer visuellen Mitteilung. „Der Bildverlust der Bilder ist der schmerzlichste Verlust. Es bedeutet den Weltverlust. Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: die Wahrnehmung gleitet ab von jeder möglichen Konstellation. Es bedeutet: es gibt keine Konstellation mehr. Wir werden vorderhand ohne das Bild auskommen müssen. – Vorderhand. Aber ist andererseits nicht gerade solch ein Verlust begleitet von Energie, auch wenn diese, vorderhand, blind ist? –Cuerpo del mundo. Körper der Welt. Wir die Verdammten, voll Leidenschaft.“ (S.746) „Auch einzelne Wörter können aus der Zeit- und Raumferne als Bilder ankommen. Und vielleicht kein durchschlagenderes und innigeres Bild als so ein reines Wortbild.“ (S.213) HANDKE, Peter: Der Bildverlust, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002.
Bildzeichen Eine ältere Bezeichnung für einen bildlichen Bezug, für ein bildliches Zeichen, welches vor allem durch visuelle Analogie symbolisch auf einen bestimmten Sachverhalt oder auf andere Bildzeichen verweist. Demgegenüber gibt es eine neue Diskussion um Bild-Zeichen, einen disziplinübergreifenden Ansatz, der Sichtbarkeitsphänomene und die Bildleistung des Sichtbarmachens von etwas auf eine allgemeine Grundlage stellt, die allen Bildzeichen zuzusprechen wäre, gleichgültig, ob sie wissenschaftlich, ästhetisch, künstlerisch oder durch den profanen Gebrauch bestimmt sind. Vgl. hierzu: MAJETSCHAK, Stefan (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München: Wilhelm Fink Verlag 2005. SACHS-HOMBACH, Klaus (Hg.): Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag 2006. Siehe auch AIkon, AIsotype, APiktogramm
Das große stehende Bild Hier sind die tradierten Bestimmungen des beweglichen Wandbildes (quadro riportato) vom stummen, stehenden Einzelbild auseinanderzuhalten und von Stillleben (natura morta) abzugrenzen:
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
„Es liegt nahe anzunehmen, daß erst in der industrialisierten Welt Stille zum Thema wurde; aber von den römischen Satirikern bis zu Goethe beklagten Bewohner der vorindustriellen Zeitalter den Verlust der Stille. [...] Das Verlangen nach den großen stillen Bildern aktiviert zur Abwehr des täglichen Trommelfeuers von Aufmerksamkeitsappellen die Autorität der Stille. Im Schweigen der Bilder gelingt es dem Betrachter, sich dem Zwang zu entziehen, immer bloß auf die Wahrnehmungsgebote reagieren zu müssen. Die Bilder werden zu Echos der Gespräche, die der Betrachter mit sich selber führt. Diese inneren Dialoge überschreiten die Privatheit, sobald sie zur Parallelbewegung von Allegorisierung und Symbolisierung führen – soweit sich also die typisierten Anschauungen entleeren und die konventionalisierten Begriffen erblinden.“ (S.249) „In der Stille als der Vergegenwärtigung des Abwesenden und der Abschattung des penetrant Gegenwärtigen entkoppeln sich Anschauungsnormen und Begrifflichkeiten – ein mentales Training der Entleerung, ein Freiräumen der Wahrnehmungsfelder. In dieser stillen Leere gewinnt der Betrachter Freiheit, die ihm nur Bilder gewähren: die Freiheit wegzusehen.“ (S.256) BROCK, Bazon: Dramaturgie der Sprachlosigkeit im großen stillen Bild. Oder: Die Freiheit wegzusehen, in: Bolz, Norbert; Rüffer, Ulrich (Hg.): Das große stille Bild, München: 1996, S.248-256.
Denotierte/konnotierte Botschaft
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Roland Barthes‘ semiotische Untersuchungen der Fotografie aus den 60er Jahren basieren auf Anbindungen aus der Linguistik, v.a. Saussures Zeichentheorie. Barthes ordnet Fotografie als ein symbolisches Kommunikationsverfahren ein und untersucht die Rhetorik, die Botschaft von Bildern. Da Fotografie einen Ausschnitt der sichtbaren Realität analog abbildet, verfügt sie eigentlich über keinen Code. Da Fotografie jedoch als Kommunikationsmedium genutzt wird, erscheint Barthes‘ Methode, den Code der Sprache auf sie zu übertragen, plausibel. Anhand eines Beispiels aus der Werbefotografie (in dem Essay „Rhetorik des Bildes“ S.28-46) stellt Barthes die These auf, dass der fotografische Signifikant zwei verschiedene Botschaften transportiert: Durch das sogenannte Analogon zur sichtbaren Realität lässt sich das Sichtbare eines Fotos auf einfache Weise sprachlich beschreiben bzw. decodieren (auch effét de réel bzw. Realitätseffekt genannt). Dies ist die denotierte Botschaft. Der zweite Aspekt der fotografischen Botschaft, die konnotierte Botschaft, sorgt jedoch dafür, dass Fotografie nicht als universelle Sprache erachtet werden kann. Die konnotierte Botschaft ist eine vom Autor (und vom Rezipienten) dem Bild mitgegebene, subjektive Bedeutung, die von der jeweiligen Kultur und Zeit abhängig ist. In seinem letzten Buch „Die helle Kammer“ verwirft Barthes die semiotische Herangehensweise an die Fotografie. Grund dafür ist eine stärkere Berücksichtigung der subjektiven emotionalen, affektiven Wirkung von Fotos.
Bilderbegriffe – Glossar
BARTHES, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1986. BARTHES, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990.
Diagramme Diagramme sind bildgebende Verfahren, die Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit sind. Sie liegen vor, wenn die empirische Ermittlung und optische Referenzierung von Daten überprüfbar und wenn hierfür passende grafisch basierte Methoden angewandt werden. Entsprechend den praktischen Erkenntniszwecken haben sich in den verschiedenen Disziplinen Diagrammtypen herausgebildet (beispielsweise: Physik – Minkowski-Diagramm; Finanzwesen – Tabellenkalkulations-, Kosten-Fortschritt-Diagramm; Informatik – Fluss- und Strukturdiagramm, Statistik – Histogramm), deren optisch deutbare Verfahren auch in anderen Disziplinen Verwendung finden können. Demzufolge handelt es sich bei Diagrammen, aus dem griechischen διάγραμμα (diágramma) entlehnt, in der Regel um allgemeingültige, interdisziplinär nutzbare Darstellungstechniken, in denen geometrische Umrisse bzw. grafische Figuren aussagefähig, meist eindeutig kalkulierbar sind. Diese faktisch basierten, visuellen Referenzen informieren über Sachverhalte z.B. in Form eines Schaubildes. Eine der ältesten Methoden ist die hierarchische Verästelung. Man kennt sie in zahlreichen Versionen; eine bekannte und einflussreiche Darstellung hierzu ist z.B. das Diagramm zur Stilentwicklung der Moderne (Cubism and Abstract Art, 1890-1935) von Alfred H. Barr aus dem Jahre 1936, weil es Erneuerer anstelle von Ahnen auf einer Tafel darstellt, also das Neue gegenüber dem Tradierten dynamisch mit Pfleilen und Verästelungen herleitet. Fasst man die diversen grafischen Muster-, Strukturphänomene von Diagrammen zusammen, ergibt sich ein weitreichendes Anwendungsfeld in Form von: Tableaus, Tabellen, Reihungen, Rhizomen, „Bämen“, Clustern, Plateaus, Netzen, Balken, “Flüssen”, Kurven/ Linienverläufen, Kreisen, Kegeln, Pyramyden, Ringen, Punkten, Stäben, Säulen, Zylindern, “Blasen” oder konkreten Zahlen sowie abbildhaften Figuren usw. Diagramme werden oft nach ihren Erfindern benannt: z.B. Gantt, Pareto, und Ishikawa. Zunehmend werden Diagramme durch Standardsoftware (Kalkulationstabellen/Excel) generiert. Eine Typologie aller Darstellungsformen, die wiederum grafisch ist, ist prinzipiell möglich, wäre aber völlig unübersichtlich, ebenso wie eine Zusammenfassung aller Darstellungsinhalte als Wissensmodell scheitern muss. Diagramme gibt es im Plural und ein übergeordnetes Schema im Singular ist weder visuell noch begrifflich sinnvoll. Denn die Verschiedenheit von Fluss-, Wirk- und Funktionsschaubildern, Prozess- und Systemdiagrammen ist zu groß, als dass hieraus ein universelles Prinzip ableitbar wäre. Es ist schon allein schwierig genug, Definitionen innerhalb der Vielfalt von Diagrammen zu finden. Erst recht ist es nicht einfach, Abgrenzungen zu Programmierungsar-
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
chitekturen, Notationen oder thematischen Karten vorzunehmen. Hier stößt man an die Grenzen eines praktisch funktionierenden, visuellen Beziehungsgefüges und Übersichtsdenkens, einer allumfassenden Kontexterschließung und damit an die Problematik, Empirie durch Theorie zu setzen. (Dieser Glossarbeitrag wurde zusammen mit Winfried Gerling verfasst.)
„Die graphische Konstruktion ist ein Diagramm, wenn die Beziehung zwischen allen Elementen einer Komponente und allen Elementen einer anderen Komponente in der Ebene zum Ausdruck kommt.“ (S.201) BERTIN, Jacques: Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1974. Siehe auch folgende Literatur: BRUHN, Matthias: Das Bild. Theorie – Geschichte – Praxis, Berlin: Akademie Verlag 2009. ENGELHARDT, Yuri: The Language of Graphics. A framework for the analysis of syntax and meaning in maps, charts and diagrams, Diss., Universiteit van Amsterdam, Amsterdam 2002. MÜLLER, Katrin: Visuelle Weltaneignung: astronomische und kosmologische Diagramme in Handschriften des Mittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. SCHMIDT-BURKHARDT, Astrit: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin: Akademie-Verlag 2005. SICK, Andrea: Kastenmuster. Bilder und Wissenschaft in der Kartografie, Diss., Universität Hamburg, 2003. http://www.asa.de/research/kontext/; Stand: 16.03.2010
Eidolon
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In der Antike lassen sich drei Vorstellungen unterscheiden, welche Eidolon als Abbildung äußerer Merkmale beschreiben: 1. Ablösung der Schatten vom sterbenden Körper und deren Bewahrung bei Homer. Das Abbild steht hier für die nach dem Tod im Schattenreich fortexistierende Seele, welche die äußerlichen Merkmale des Körpers übernimmt und somit abbildet. 2. Eine von Gegenständen permanente Loslösung von „gehäuteten“ Oberflächen, welche aus Atomen bestehen, durch die Luft fliegen und einer fortwährenden Verformung unterliegen, treffen auf das menschliche Auge und rufen so die bildliche Vorstellung vom Gegenstand hervor (Leukipp, Demokrit und Epikur). Das Auftreffen solcher Abbilder ist grundlegend für die antike Erkenntnistheorie. Auch Aristoteles erklärt die Wahrnehmung von Gegenständen durch das Auftreffen von Abbildern auf das Auge des Betrachters. 3. Die Wahrnehmungstheorie Platons orientiert sich am Modell einer Wachstafel. Das Eidolon steht hier für Abdruck, welcher im Bewusstsein (wie in einer Wachstafel) durch den wahrgenommen Gegenstand hinterlassen wird. Das Wiedererkennen des Gegenstands ist durch den Abdruck möglich. Auch in Platons Kunsttheorie ist der Begriff des Eidolon eine Grundkategorie. Kunst ist hier generell als Nachahmung verstanden, welche nicht Wahr-
Bilderbegriffe – Glossar
heit, sondern Schein vermittelt, da sie nicht dem Wissen um den Sachverhalt entstammen, sondern Abbild der äußeren Erscheinung sind. „Bei Theokrit verdichtet sich nun aber der Stimmungszauber der Landschaft hin und wieder so, daß keiner der älteren Dichter an ihn heranreicht. [...] Es gibt in diesen kleinen Gebilden keine ernstlichen Probleme, kaum eine nennenswerte Handlung. Zustände breiten sich vor uns aus, in denen alles, was nach Bewegung aussieht, nichts zu bedeuten hat und einzig dazu dient, eine sprachliche Mitteilung zu ermöglichen, wo es näher läge, nach dem Pinsel zu greifen und alle die lieblichen Dinge und Menschen in der Natur zu malen. Vermutlich nicht Theokrit, aber doch schon antike Gelehrte haben diese Gedichte als ‚Idyllen‘ bezeichnet. Der Name scheint unübertrefflich zu sein, dann nämlich, wenn man das Wort eidyllion mit ‚Bildchen‘ übersetzt. [...] Das ist communis opinio, ein fruchtbarer Irrtum [...]. Eydillion heißt nämlich gar nicht ‚Bildchen‘. Es ist die Verkleinerungsform von eidos, was etwa soviel wie ‚äußeres Aussehen‘ [...] meint.“ (S.18f.) ANDRESEN, Carl; GIGON, Olof u.a.: Einleitung. in: Andresen, Carl; Gigon, Olof u.a. (Hg.): Theokrit. Die echten Gedichte. Zürich: Artemis Verlag 1970. Vgl. das Triptychon von Cy Twombly „Thyrsis“ (1977). Im Mittelteil des dreiteiligen Bildes steht der Satz: „I am Thyrsis of Etna blessed with a tuneful voice“. Twomby zitiert hier aus der ersten Idylle des „Thyrsis“ von Theokrit, einem Dialog zwischen dem Schäfer Thyrsis und einem Geißhirt. Der Geißhirt verspricht Thyrsis die schönsten Geschenke, wenn er ihm die Geschichte vorsingt, die er im Wettgesang mit dem Libyer Chromis vortrug. Twombly schreibt auf die mittlere, 3 mal 4 Meter große Leinwand den Anfang des Gesangs von Thyrsis über den Mythos von Daphne. Wie es weitergeht, ist in dem Triptychon bloß zu erahnen, eben in der Auflösung der Linien des Schreibens in verdichtenden Flecken des Malens, die keine identifizierbare Zuordnung erlauben. KATALOG Berlin: Joseph Beuys, Robert Rauschenberg, Cy Twombly, Andy Warhol. Sammlung Marx, Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, 2. März 1982 - 12. April 1982, hg. von Heiner Bastian, München, Berlin: Prestel Verlag 1982, Abb. S.140, 141.
Elektronische Bildbearbeitung Bildbearbeitung, Bildgenerierung und Bildmanipulation haben eine lange Geschichte. Sie geben auch den jeweiligen technologischen Stand der visuellen Kultur an. Ganz allgemein ist die Konstruktion geistiger Bilder auf etwas real Gegebenes beziehbar, aber nicht festgelegt. Die Unabhängigkeit vom Vorhandenen bewegt sich in abstraktem Bereichen, die ihrerseits wiederum geistigwissenschaftlich realisiert und vermittelt werden. Man kann hierbei auf das Sichtbarmachen von Gedanken und Strukturen abheben, einerseits als Darstel-
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
lung von nicht Sag- und Schreibbarem wie andererseits für das ‚menschliche Auge‘ nicht sichtbaren Phänomen. Bildverarbeitung folgt visuellen Modellen, die nur als Theorien existieren. Wurden auf dem Gebiet der Anatomie, der Botanik und Zoologie traditionell „Illustrationen“ benutzt, traten im 19. Jahrhundert v.a. in der Physiologie und Medizin optische und andere Aufzeichnungsgeräte hinzu, deren „mechanisch erzeugte Datenspuren“ als empirische Basis die klassische Beobachtung ersetzten. Visuelle Veranschaulichung in Form von Schaubildern, Diagrammen, Graphen u. a. dienen bis heute der Datenverdichtung und Komplexitätsreduktion. Als Quellen mathematischer Analysen z.B. von Verteilungsfragen (Tabellen, Normalverteilung) bilden sie die Grundlagen moderner statistischer Verfahren und spielen insbesondere in der probabilistischen Sozialforschung eine entscheidende Rolle.
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„Eine Ausweitung ihrer Möglichkeiten erfuhr die Bildverarbeitung seit der Entwicklung leistungsfähiger elektronischen Rechner. Mit ihrer Hilfe lassen sich aus Daten (Signale, Impulse) technische ›Datenbilder‹ erstellen, die keine empirische Basis besitzen, sondern eine digitale Aufbereitung theoretischer Annahmen darstellen. Angewandt werden diese Verfahren auf Messdaten in den Naturwissischenschaften und der Medizin, auf theoretischen Modelldaten z.B. in der Molekulardynamik, den Wirtschaftswissenschaften, der Materialforschung, dem Produktdesign, der Architektur sowie im Bereich von Kunst und Unterhaltung (z. B. CAD, Animationen, Filmtricks; Computergrafik, Multimedia). ›Molecular Modeling‹ ist z. B. eine Methode der Pharmakologie, mit der die Wirksamkeit eines Heilmittels durch Simulation und Variation molekularer Strukturen noch vor der Synthetisierung in gewissen Grenzen berechnet werden kann. Visuelle Modelle prüfen dabei die Passgenauigkeit molekularer Reaktionen nach dem Prinzip von Schlüssel und Schloss. In der Medizin erlauben bildgebende Verfahren (Computer- und Kernspintomographie, Ultraschalldiagnostik) zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken Schnittdarstellungen von Körperteilen (z. B. Gehirn, innere Organe), die sogar zu räumlichen Darstellungen verknüpft werden können (Human Picturing Project). Die Neurologie nutzt funktionelle Resonanz-Bildgebungen zur Lokalisierung neuronaler Aktivitäten, um Pathologien oder Verletzungen zu erkennen. Von den jüngeren Disziplinen kann v.a. die Nanowissenschaft als eine genuin visuelle Disziplin angesehen werden, weil ihre Objekte ausschließlich auf Methoden der Bilderzeugung unter Ausnutzung von Tunneleffekten der Quantenphysik basieren (Rastertunnelmikroskopie). Ein Beispiel für die Bildverarbeitung selbst abstrakter mathematischer Strukturen ist die computergrafische Darstellung von Fraktalen (Fraktalgeometrie). Gemeinsam ist ihnen die Generierung von Bildern aus Algorithmen, die nichtvisuelle Daten in visuelle Konzepte transferieren, worin eine Reihe von Vermittlungsschritten zwischen Datenerhebungen in Form von Messprozessen, Digitalisierung, geometrischer Modellierung und Glättungs- und Filterungsmethoden (z.B. nichtlineare Diffusion, Monto-Carlo-Methode) eingehen. Kritisch diskutiert wird insbesondere die Frage nach dem Geltungsanspruch bzw. dem epistemischen Status solcher „visuellen Konstrukte“, da sie keine ausgewiesene Referenz besitzen und sich nicht dem Auge erschließen, son-
Bilderbegriffe – Glossar
dern „gelesen“ werden müssen, was besondere Ausbildungen erfordert und hohe Anforderungen an die wissenschaftliche Bildkompetenz stellt. Ein besonderes Problem bereitet die automatische Erstellung und Auswertung von Bildern durch Computerverfahren jenseits des Eingriffs und der Kontrolle durch menschlichen Interpretation. Als wichtiger Bestandteil der öffentlichen Diskussion um Durchsetzung und Legitimation wissenschaftlicher Forschung nimmt die Bildverarbeitung nicht selten direkten wissenschaftspolitischen Einfluss. Dabei spielt die Ästhetik der Bilder sowie die Anknüpfung an Sehgewohnheiten eine große Rolle. Durch die Möglichkeiten zur Optimierung von Forschung, Planung und Produktion, aber auch durch die kommerzielle Verwertbarkeit verschiedenster Visualisierungstechniken im Medien-, Unterhaltungs- und Freizeitbereich (z. B. DVD, Camcorders, bei Anwendungssoftware, Computerspielen, Fahr- und Flugsimulatoren) kommt der elektronjschen Visualisierung eine hohe ökonomische Bedeutung zu. Eingesetzt wird sie darüber hinaus zur Überwachung öffentlicher Räume und zur Entwicklung effektiver, selbststeuernder Waffen in der Kriegstechnologie.“ Elektronische Bildbearbeitung mit Bezug auf Visualisierung, gekürzter Beitrag von MERSCH, Dieter in: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bde., 21. Aufl. 20052006, u.a. mit Bezug auf folgende Literatur: EARNSHAW, Rai A.; WISEMAN, Norbert.: An introductory guide to scientific visualization, Berlin: Springer Verlag 1992.
Global Icons Der Kunsthistorikerin Lydia Haustein geht es bei dem Begriff ‚Global Icons‘ um ‚Ikonen des globalen Bildverkehrs‘. Nicht nur wegen der Erstellung eines ‚Atlas der digitalen Bilder‘ (Siehe: www.global-icons.de, Benutzerlizenz notwendig) steht sie damit dezidiert in der Tradition Aby Warburgs. Haustein überträgt Warburgs Forschungsansatz, mit kunstwissenschaftlichen Methoden die Kunstgeschichte zur Bildwissenschaft zu erweitern, auf die Gegenwart. Das Wort ‚Icon‘ bezieht sich bei ‚Global Icons‘ nicht auf ein spezielles Bild an sich oder auf die Ikone im klassischen Sinne, noch in zwingender Weise auf ein digitales Bild, sondern beschreibt ein Objekt, dessen bildliche Darstellung durch ausgeprägten ikonischen, emotional aufgeladenen Charakter gekennzeichnet ist (z.B. das brennende WTC oder der Kopf Osama Bin Ladens). Das Objekt an sich wird durch seine massenhafte Verbreitung als Medienbild zur Ikone. Ausgangspunkt von Hausteins Ansatz ist die Hypothese, dass die Globalisierung eine hybride, transkulturelle Bildkultur – vor allem in Form globaler Medienbilder – hervorbringt. Deren Verflechtungen sind trotz einer tendenziellen euro-amerikanischen Dominanz komplex und nicht auf eine westliche bildkulturelle Hegemonie zu reduzieren. Haustein beschreibt das Prinzip der Etablierung globaler Ikonen: Verflachung plus auratische Aufladung. Um die Machtverhältnisse der globalen Bildkultur zu analysieren, untersucht Haustein, wie einst Warburg, die kunsthistorischen Muster und Vorbilder in
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
globalen Medienbildern. Ziel ihres kunstwissenschaftlichen Ansatzes ist es, über die Bezugnahme auf Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst ein aktives und kritisches Sehen und mehr Bildkompetenz einzufordern, um sich der demagogischen Kraft der Bilder, die sich auf deren affektiver und emotionaler Wirkung begründet, besser bewusst zu werden und darauf mit einem veränderten, kritischeren und produktiveren Bildgebrauch zu reagieren. Vgl. folgende Projekte bzw. Publikationen von HAUSTEIN, Lydia: Globale Ikonen; http://www.scienceandfiction.de/en/04/pdf/016Haustein.pdf; Stand vom: 17.11.08. HAUSTEIN, Lydia: Global Icons. Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität, Göttingen: Wallstein Verlag 2008. HAUSTEIN, Lydia: Die Asymmetrie des Globalen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 53/2004, Heft 1, S.34-37.
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Die Bezeichnung „Icon“ steht in Bezug auf den Computer für digital verfügbare Symbole oder Metaphern, die z.B. eine Referenz in Menüs für eine Datei darstellen, um diese wiedererkennbar zu unterscheiden und nach Bedarf aufzurufen und somit eine standardisierte Übersichtlichkeit für die Navigation auf der Bildschirmoberfläche zu ermöglichen. Icons können, müssen aber nicht (ab)bildhaft sein. Sie signalisieren eine Form der Vermittlung, das heißt, sie beschreiben eine Seite des Interfaces (zwischen Mensch und Computer) auf dem Desktop, die dem Benutzer zugewandt ist. Sie sind nicht nur Zeichen von Funktionen bzw. Verknüpfungen, sondern sie sind zugleich auch konkret, weil sie Funktionen auslösen können. Als Zeichen sind sie virtuell, aber in der Situation ihres Gebrauches, z.B. im Anklicken sind sie konkret. Icons sind also reale, interaktive Verbindungsglieder: sie machen aus dem Betrachter einen Anwender (User) und umgekehrt, dabei bleibt aber die dem Nutzer nicht zugewandte Seite der Icons unsichtbar. Obwohl prinzipiell alles, was auf einer anklickbaren Bildschirmoberfläche (clickable surface) markierbar ist, als Icons genutzt werden kann, unterliegen Icons dem Gesetz ihres Gebrauches, das bestimmt, wie oft und von wie vielen sie genutzt werden: Der prozessuale Zusammenhang ihres Gebrauchs, der ihr Aussehen und ihre Platzierung reguliert, ist also entscheidend und man kann Icons so wenig davon abstrahieren, wie Peirce dies für den prozessualen Zeichengebrauch realer Prozesse herausgearbeitet hat. „Ikons“ nach Peirce „verkörpern“ einen bildhaften Kern von Zeichen, der unabhängig von dem ist, worauf diese bildhaft Bezug nehmen können. Umso mehr gilt das für virtuelle, digitale Icons; sie sind konkret und letztlich bildlich indifferent. AIkon und APiktogramm.
Bilderbegriffe – Glossar
Iconoclash Aktuelle Auseinandersetzung mit einer alten Thematik, dem Ikonoklasmus. Iconoclash dagegen ist nach Peter Weibel und Bruno Latour eine neue Begrifflichkeit in der Diskussion um die Bilderstürme. Der Unterschied bzw. das Novum sind: „Bei einem Ikonoklasmus, einem Bildersturm wissen wir, was im Akt des Zertrümmerns geschieht und was die Motivationen sind für ein klares und deutliches Zerstörungswerk; um Iconoclash dagegen handelt es sich, wenn wir es nicht wissen, wenn wir zögern, von einer Aktion verstört sind, von der sich ohne weitergehende Untersuchung nicht genau sagen lässt, ob sie konstruktiv oder destruktiv ist.“ (S.8) LATOUR, Bruno: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin: Merve Verlag 2002.
Iconologia Der von Caesare Ripa (um 1560 - vor 1625) entworfene Begriff der „Iconologia“ ist von dem modernen, von Panofsky geprägten Verständnisses des Begriffs „Ikonologie“ abzugrenzen. Im Sinne Ripas ist eine Ikonologie eine Sammlung von Begriffen, welche allegorisch dargestellt werden; es ist, anders als bei Panofsky, kein Analyseverfahren der Bedeutung bildlicher Darstellungen. Ripas 1593 erstmals erschienene, in der zweiten Auflage von 1603 bebilderte „Iconologia“ war bis ins 19. Jahrhundert einflussreich, vor allem in ihrer Anwendung als systematisierendes Nachschlagewerk barocker Darstellungen. Die „Iconologia“ übte somit auf barocke Darstellungen auch eine kanonisierende und vereinheitlichende Wirkung aus. Dies war jedoch nicht Ripas Intention: Ripa ging es nicht primär um bestimmte Bilder, nicht um Kunst und auch nicht um die Erstellung eines Nachschlagewerks, sondern um eine Methode, Wissen anschaulich zu vermitteln und damit - in Anbetracht von Ripas Zeitumständen - Wissen einer größeren Bevölkerungsmasse als den alphabetisierten Eliten zugänglich zu machen. Die Darstellungen der Iconologia sind als Sinnbilder einzustufen, als Lern- und Verständnishilfen, welche Denken weniger allein von der Sprache abhängig und abstrakt machen. Bilder ergänzen hier die Sprache, Ripa strebte keineswegs eine Bildsprache an. Für ein Beispiel einer nach dem Konzept Ripas erstellten Iconologia siehe: WIRTH, Ilse (Hg.): Des berühmten italiänischen Ritters Caesaris Ripae allerley Künsten und Wissenschaften dienliche Sinnbilder und Gedanken, verlegt bei Georg Hertel in Augsburg. Nachdruck versehen mit einer Einleitung, Legenden zu den Tafeln und mit einem Register von Ilse Wirth. München: Fink Verlag, 1970. „‚Iconologia‘ enthält nach Ripas eigenen Worten Darstellungen für Dinge, die man eigentlich nicht sehen, sondern nur wissen kann. Diese Dinge nennt
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
er ‚concetti‘, Begriffe, wobei er allerdings den Terminus ‚Begriff‘ recht weit faßt und auch Gewohnheiten und Handlungen einschließt, die aus den Begriffen - im strengen, philosophischen Sinn des Wortes gebraucht - entstehen können. Wichtig ist für Ripa nur, daß es sich um etwas handelt, das sich mit Worten ausdrücken und definieren läßt, es muß essentiell zum Menschen gehören oder ihm doch sehr nahe stehen. Es darf nicht - wie bei einer Imprese z.B. - auf eine bestimmte Person, sondern muß auf den Menschen schlechthin zu beziehen sein.“ (S.11) „Mit diesen Regeln erstrebte Ripa keineswegs einen festen Kanon von Bildern. Der Begriff soll zwar hinreichend verdeutlicht werden, es ist aber nicht erforderlich, ja nicht einmal immer erwünscht, sämtliche Punkte der Definition zu verbildlichen, damit nicht die Darstellung überladen und der Betrachter überfordert werde. Man soll und kann Akzente setzen; dabei ermöglicht vor allem die Verschiedenheit der causae, die Bilder zu variieren. So entstehen immer neue Darstellungen, von denen jede nach der Definition richtig ist. Ziel Ripas ist es nicht, eine allgemein verständliche Bildersprache zu schaffen, es soll auch nicht der Begriff, der im Bilde dargestellt ist, erraten werden; dies wären nach Ripas Meinung triviale Darstellungen. Ripas Ziel liegt in der Mitte, der Betrachter des Bildes soll darüber nachdenken, warum der Begriff gerade auf diese Weise dargestellt wurde. Damit veranlaßt man ihn, über den Begriff nachzudenken und so seine Erkenntnis zu vertiefen. Selbstverständlich bildet ein umfassendes literarisches Wissen die Voraussetzung für ein tiefer gehendes Verständnis solcher Darstellungen, nur der Gebildete kann die Feinheiten einer solchen Komposition erfassen. Jedoch anders als bei philosophischen Abhandlungen zieht die künstlerische Form auch die Aufmerksamkeit des Unwissenden auf sich und schafft so den ersten Anstoß für das Nachdenken. Ripa verfolgt mit seinem Buch erzieherische Absichten [...]. Für Ripa soll eine Personifikation die mit sprachlichen Mitteln festgelegte Begriffsdefinition in sichtbare Formen und Farben umsetzen.“ (S.13) WERNER, Gerlind: Ripa’s Iconologia. Quellen – Methoden – Ziele, Utrecht: Haentjens Dekker & Gumbert 1977.
136 Ikon Das „Ikon“ ist für Charles Sanders Peirce ein Aspekt der Dreiheit des Zeichens, der durch die Gegenstandsähnlichkeit des jeweiligen Zeichens zu dem von ihm bezeichneten Objekt charakterisiert wird. Semiotisch betrachtet, ist Ikonizität die Eigenschaft eines Zeichens (Ikon im Unterschied zu Index und Symbol), sein Objekt ikonisch zu bezeichnen. Ein Ikon ist ein meist bildliches Zeichen (sprachliche Metaphern lassen sich auch als Ikons einordnen). Weitere Beispiele für Ikons sind z.B. (gegenständliche) Bilder oder Diagramme. Ikons können die Grundlage für die Entstehung von Symbolen sein. Wichtig ist es, den
Bilderbegriffe – Glossar
Prozess der Zeichenbildung zu erkennen: erst im dreifachen Gebrauch werden Zeichen als Zeichen hervorgebracht. Ikonizität ist nicht objektiv messbar, was zur Kritik dieses Konzepts und zur Weiterentwicklung z.B. bei Morris und Eco geführt hat. Aber bezogen auf Bildwerke, ist die Peirce’sche Unterscheidung des Ikonischen in abnehmender Folge bei Bildern, Diagrammen und Metaphern nach wie vor einleuchtend, wenn genuin bildliche Eigenschaften wie z.B. Farben, Linien, Flächen dadurch gekennzeichnet und thematisiert werden. Man sollte die Bestimmung des Ikonischen als Ähnlichkeit weniger im referenziellen Verweis zu etwas anderem, sondern mehr als etwas Selbstbezügliches erkennen. Unter dieser Voraussetzung ist Ikonizität, als visuelle Seite des Ikons (Erstheit), nach wie vor interessant und für die ikonische Bestimmung des digitalen Bildes äußerst hilfreich. „Ein Ikon ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit seine Erstheit ist, daß heißt, das es unabhängig davon ist, ob es in einer existentiellen Beziehung zu seinem Objekt steht, das durchaus nicht existieren kann.“ (S.64) PAPE, Helmut (Hg.): Charles Sanders Peirce. Phänomen und Logik der Zeichen, hg. von Helmut Pape, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993. Vgl. hierzu ECO, Umberto: Einführung in die Semiotik. München: Wilhelm Fink Verlag 1972, S.213.
Ikonik Gegenüber dem Ineinandergreifen von Ikonographie und Ikonologie in der Warburg-Schule (Erwin Panofsky) versucht Ikonik die Bildleistungen und Bildintelligenz plausibel zu machen. Der Hintergrund ist die Thematisierung des Sehenden gegenüber dem wiedererkennenden Sehen in der sogenannten Bochumer Schule. „Fiedlers und Panofskys Definitionen von Form und Komposition sind in Hinsicht auf die Bilder Giottos zu kritisieren, insofern sie jeweils nicht erfassen, was die eigentliche ikonische Qualität oder die ikonische Sinnstruktur des Bildes ausmacht. Diese ikonische Sinnstruktur erschließt sich einer entsprechenden ikonischen Betrachtungsweise, die man auch ‚Ikonik‘ nennen kann (Ikonik zu Eikon wie Logik zu Logos oder Ethik zu Ethos). Die Ikonik radikalisiert das Bild weder zum Phänomen eines sehenden Sehens, noch schließt sie - anders als die ikonographisch-ikonologische Interpretationsmethode – das sehende Sehen als ein sinnstiftendes Moment der ikonischen Ausdrucksmacht des Bildes aus. Unterschiedlich zur ikonographisch-ikonologischen Interpretationsmethode nimmt die Ikonik in den ‚natürlich-gegenständlichen‘, das heißt wieder erkennbaren figürlichen und dinglichen Bildwerten formale Relationen sowie bloße Linien und Richtungen jenseits des mitgebrachten Sinns aller gegenständlichen Trägerschichten wahr. Der ikonischen Betrachtungsweise oder der Ikonik wird das Bild zugänglich als ein Phänomen, in welchem gegen-
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ständliches, wieder erkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung sowohl einschließenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität.“ (S.92f) IMDAHL, Max: Giotto, Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik, München: Wilhelm Fink Verlag 1980.
Ikonische Codes „Auch die Erkennungscodes (wie die Wahrnehmungscodes) ziehen also relevante Aspekte in Betracht (was bei jedem Code geschieht). Von der Selektion dieser Aspekte hängt die Erkennbarkeit des ikonischen Zeichens ab. Aber die relevanten Züge müssen kommuniziert werden. Es gibt also einen ikonischen Code, der die Äquivalenz zwischen einem bestimmten graphischen Zeichen und einem relevanten Zug des Erkennungscodes festlegt.“ (S.206) „Der ikonische Code stellt so die semantische Beziehung zwischen einem graphischen Zeichenträger und einer schon codierten Wahrnehmungsbedeutung her. Die Beziehung besteht zwischen einer relevanten Einheit des graphischen Systems und einer relevanten Einheit des semantischen Systems, das von einer vorhergehenden Codifizierung von Wahrnehmungserfahrung abhängt.“ (S.208f.) ECO, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: Wilhelm Fink Verlag 1972.
Ikonische Differenz
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„Das Bild etabliert einen wahrnehmbaren Kontrast zwischen der Fläche und den darauf erkennbaren Eigenschaften, zwischen einem ‚Nacheinander‘ und einem ‚Aufeinmal‘, das anders als in Texten oder Musikstücken, seine Präsenz im Nu enthüllt (solange man sich auch in das Studium von Details versenken mag). Die logische Struktur des Bildes basiert auf einer nur visuell erschließbaren, einer ikonischen Differenz. Deren historischer Gestaltwandel kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß bildlicher Sinn und sprachlicher Sinn sich auf verschiedene Weise manifestieren.“ (S.30) „Was Bilder in aller historischen Vielfalt als Bilder ‚sind‘, was sie ‚zeigen‘, was sie ‚sagen‘, verdankt sich mithin einem visuellen Grundkontrast, der zugleich der Geburtsort jedes bildlichen Sinnes genannt werden kann. Was auch immer ein Bildkünstler darstellen wollte, im dämmrigen Dunkel prähistorischer Höhlen, im sakralen Kontext der Ikonenmalerei, im inspirierten Raum des modernen Ateliers, es verdankt seine Existenz, seine Nachvollziehbarkeit und Wirkungsstätte der jeweiligen Optimierung dessen, was wir die ‚ikonische Differenz‘ nennen. Sie markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit,
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welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet. Das stupende Phänomen, dass ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann, lässt sich aus der Logik des Kontrastes erläutern, vermittels derer etwas ansichtig wird. Was der Satz (der ‚Logos‘) kann, das muß auch dem bildnerischen Werke zu Gebote stehen, freilich auf seine Weise. Das tertium beider, zwischen Sprachbildern (als Metaphern) und dem Bild im Sinne der bildenden Kunst, repräsentiert, wie wir sahen, die Struktur des Kontrastes.“ (S.31f.) BOEHM, Gottfried; PFOTENHAUER, Helmut: Bildbeschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Wilhem Fink Verlag 1995 (Bild und Text). Siehe auch: BOEHM, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild?, München: Wilhem Verlag 1994. Eine Paraphrasierung/Neubestimmung der „ikonischen Differenz“ findet sich bei Axel Müller: „Die ikonische Differenz ist – gegenständlich betrachtet – unauffindbar. Sie geht nie in bildliche Anwesenheit von etwas als etwas über. [...] Die ikonische Differenz ist gegenüber ihren materiellen Darstellungsbedingungen (z.B. Linie, Farbe, Helligkeit, Licht und Schatten, Fläche und Tiefe, Opazität und Transparenz) keine unabhängige Größe, identisch mit ihnen ist sie aber nicht. Daß diese Differenz dabei eine ikonische genannt wird, bedeutet, das bisher Gesagte zusammenfassend, daß sie sich gegenüber einem terminologischen Anspruch in dem Sinne als absolut resistent erweist, insofern sie nicht in reflektierende Begrifflichkeit aufgelöst werden kann, sondern einzig im Modus der Anschauung lebt. Man kann deshalb sagen, dass der Begriff der ikonischen Differenz so etwas wie ein strategischer Begriff ist, weil keine außerhalb des Werkes (z.B. des visuellen Gevierts des Bildes) gegenwärtige und verfügbare Wahrheit aus ihrer Kontrastvielfalt entspringenden, ‚sinnlich organisierter Sinn‘ (Boehm) beherrscht; strategisch deshalb, weil keine Begrifflichkeit, deren Telos und Defizit zumeist in der Reduktion des Anschaulichen, der Fundierung der Wahrnehmung im Gegenständlichen liegt, ihre Prozessualität beherrscht.“ (S.20f.) MÜLLER, Axel: Die ikonische Differenz. Das Kunstwerk als Augenblick, München: Fink Verlag 1997.
I konischer Rest (iconic residue) Die Kodifizierung von ikonischen Zeichen stößt in der zeitgenössischen Kunst, in der abstrakten und informellen Malerei an ihre Grenzen. Der ikonische Rest steht also einmal für die Unüberführbarkeit von Bildzeichen auf Codes und zum andern für die Qualität der bildlichen Phänomene (genuin ikonische Zeichen), die für sich selbst „sprechen“.
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Semiotisch gesehen sind damit Probleme verbunden, die Umberto Eco herausgearbeitet hat, wenn er fragt: „Wenn die ikonischen Zeichen auf sehr subtilen Codifizierungsprozessen basieren, entziehen sich dann die anikonischen visuellen Konfigurationen jeder Codifizierung?“ (S.262) ECO, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: Wilhelm Fink Verlag 1972.
Ikonographie/Ikonologie Die Ikonographie ist der Zweig der Kunstgeschichte, der sich mit dem Sujet (Bildgegenstand) oder der Bedeutung von Kunstwerken im Gegensatz zu ihrer Form beschäftigt. Ikonographie und Ikonologie sind die beiden zusammenhängenden, kunsthistorischen Verfahren, um die Bedeutung einer bildlichen Darstellung zu ermitteln. Ursprünglich beschäftigte sich die Ikonographie v.a. mit christlicher Sakralkunst und wurde im Zuge der Erweiterung der Kunstgeschichte zur Bildwissenschaft im 20. Jahrhundert zu einer allgemeinen bildanalytischen Methode ausgebaut. 1932 formulierte Erwin Panofsky aus den Ideen Aby Warburgs die Methode der Ikonologie, die sich als ein Verfahren erwies, das auf alle Kunstobjekte gleichermaßen anwendbar wurde und die Werke als Dokumente ihrer Zeit verstand. Das Kunstwerk wird als Zeichensystem aufgefasst. Panofsky entwickelte ein dreistufiges Analyseverfahren: 1. Vor-ikonographische Analyse: Formale Identifikation des Dargestellten. Was ist zu sehen? 2. Ikonographische Analyse: Deskriptive Klassifizierung des Dargestellten unter Berücksichtigung der sekundären, symbolischen Bedeutungen der sichtbaren Elemente. 3. Ikonologische Interpretation: Deutung der Symbole auf Basis kunstwissenschaftlicher Erkenntnisse. Das Objekt wird so auf seine jeweilige Zeit und Kultur, seine Entstehungsbedingungen zurückgeführt, in Bezug zu seiner Umwelt gesetzt.
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Vgl. PANOFSKY, Erwin: Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont Verlag 1978. „[...] Indem wir so reine Formen, Motive, Bilder, Anekdoten und Allegorien als Manifestationen zugrunde liegender Prinzipien auffassen, interpretieren wir alle diese Elemente als etwas, das Ernst Cassirer ‚symbolische‘ Werte genannt hat. Solange wir uns auf die Aussage beschränken, Leonardo da Vincis berühmtes Fresko zeige eine Gruppe von 13 Männern rings um eine Speisetafel und diese Gruppe von Männern stelle das letzte Abendmahl dar, befassen wir uns mit dem Kunstwerk als solchem, und wir interpretieren seine kompositionellen und ikonographischen Züge als seine eigenen Eigenschaften oder Merkmale. Suchen wir jedoch das Fresko als ein Dokument der Persönlichkeit Leonardos oder der Kultur der italienischen Hochrenaissance oder einer bestimmten religiösen Einstellung zu verstehen, beschäftigen wir uns mit dem Kunst-
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werk als einem Symptom von etwas anderem, das sich in einer unabsehbaren Vielfalt anderer Symptome artikuliert, und wir interpretieren seine kompositionellen und ikonographischen Züge als spezifischere Zeugnisse für dieses ‚andere‘. Die Entdeckung und die Interpretation dieser ‚symbolischen‘ Werte (die dem Künstler selber häufig unbekannt sind und die sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewußt auszudrücken suchte) ist der Gegenstand dessen, was wir, im Gegensatz zur ‚Ikonographie‘, ‚Ikonologie‘ nennen können. [...] Das Suffix ‚graphie‘ leitet sich vom griechischen Verb graphein (schreiben) ab; es impliziert eine rein deskriptive, häufig sogar statistische Verfahrensweise. Die Ikonographie ist daher ebenso eine Beschreibung und Klassifizierung von Bildern (images), wie die Ethnographie eine Beschreibung und Klassifizierung menschlicher Rassen ist: Sie ist eine begrenzte und gewissermaßen dienende Disziplin, die uns darüber informiert, wann und wo bestimmte Themen durch bestimmte Motive sichtbar gemacht wurden.“ (S.36f.) „Daher verstehe ich Ikonologie als eine ins Interpretatorische gewandte Ikonographie, die damit zum integralen Bestandteil der Kunstwissenschaft wird, statt auf die Rolle eines vorbereitenden statistischen Überblicks beschränkt zu sein. [...] Ikonologie ist mithin eine Interpretationsmethode, die aus der Synthese, nicht aus der Analyse hervorgeht. Und wie die korrekte Feststellung von Motiven die Voraussetzung ihrer korrekten ikonographischen Analyse ist, so ist die korrekte Analyse von Bildern, Anekdoten und Allegorien die Voraussetzung für ihre korrekte ikonologische Interpretation [...].“ (S.42) DIDI-HUBERMANN, Georges: Vor einem Bild, München: Hanser Verlag 2000.
Imagination Image, Imago, Imagination und das Imaginäre: Obwohl die lateinische Wurzel des Begriffes in allen Bezeichnungen als ein kollektives Imago von etwas sozusagen mitschwingt, muss man die weit auseinander fallenden Begriffswelten unterscheiden. Imago ist ein Ausdruck des römischen Totenbildnisses einerseits sowie dessen Freudsche und Lacan’sche Adaption als bildhafte Ersteinwirkung und Weiterwirkung (imago der Mutter, des Vaters) im Unterbewussten andererseits. Das heute gebräuchliche, englische Wort für Bild „Image“ ist von der bildlichen Vorstellungskraft, der Imagination sowie dem Imaginären als philosophischer Sammelbegriff für alles Bildliche auseinanderzuhalten. Das Trennende der Ausdrücke überwiegt, jedoch fällt auf, dass sich trotz aller Unterschiede eine kollektive Spur für etwas Bildhaftes im Bewusstsein bzw. Unterbewusstsein des Einzelnen ergibt. Imagination ist ein Vorstellungsbild, mithin trügerisch, phantastisch, halluzinatorisch. Aber das Imaginäre lenkt auch auf die Macht des Bildes hin, verdeutlicht eine dominante Tendenz des Visuellen, die sich gegenwärtig im massenhaften Gebrauch der Images zeigt: „global images, mental images, migration images, global icons und iconic turn“: Zu Erinnerung an die römische Herkunft: Imago (lat. = Bild, Abbild; Mehrz. Imagines) ist eine ältere Bezeichnung für das plastische Bildnis eines Vorfah-
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ren. Es wurde im Atrium des römischen Hauses aufbewahrt und bei Begräbnissen mitgeführt. Es war der Wachsabguss vom Kopf des verehrten Toten, dessen bildlicher Realismus einen Einfluss auf das römische Bildnis, insbesondere Portraitbüsten hatte. „So repräsentiert das Imaginäre in jedem Augenblick den impliziten Sinn des Realen. Der eigentliche vorstellende Akt besteht darin, das Imaginäre für sich zu setzen, dass heißt diesen Sinn zu explizieren [...] aber diese spezifische Setzung des Imaginären wird von einem Zusammenbruch von Welt begleitet, die dann nur noch der genichtete Hintergrund des Irrealen ist. Und wenn die Negation das unbedingte Prinzip jeder Imagination ist, kann sie sich umgekehrt immer nur in einem und durch einen Imaginationsakt realisieren. [...] So muß das Objekt einer Negation als imaginär gesetzt werden. Und das gilt für die logischen Formen der Negation (den Zweifel, die Einschränkung, usw.) wie für ihre aktiven und affektiven Formen (das Verbot, das Bewußtsein von Machtlosigkeit, von Mangel, usw.).“ (S.291) SARTRE, Jean-Paul: Das Imaginäre, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1994. „Auch wenn die Eltern schon längst tot sind und alle Bedeutung verloren haben könnten und sollten, indem sich die Lebenslage der Kranken seither vielleicht total verändert hat, so sind sie dem Patienten doch noch irgendwie gegenwärtig und bedeutsam, wie wenn sie noch am Leben wären. Die Liebe und Verehrung, der Widerstand, die Abneigung, der Haß und die Auflehnung der Kranken kleben noch an ihnen durch Gunst oder Mißgunst entstellten Abbildern, die öfters mit der einstmaligen Wirklichkeit nicht mehr viel Ähnlichkeit haben. Diese Tatsache hat mich dazu gedrängt, nicht mehr von Vater und Mutter direkt zu sprechen, sondern dafür den Terminus ‚Imago‘ von Vater und Mutter zu gebrauchen, indem es sich in solchen Fällen nicht mehr eigentlich um Vater und Mutter handelt, sondern bloß um deren subjektive und öfters gänzlich entstellte Imagines, die im Geiste des Kranken ein zwar schemenhaftes, aber einflußreiches Dasein führen.“ (S.159f.) JUNG, Carl Gustav: Gesammelte Werke, Bd. 4: Freud und die Psychoanalyse. Kap. IX: „Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie“, Düsseldorf: Walter-Verlag 1995.
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„Für die Imagines – wir haben des Vorrecht, zu sehen, wie ihre verschleierten Gesichter in unserer alltäglichen Erfahrung und im Halbschatten der symbolischen Wirksamkeit Konturen gewinnen – scheint das Spiegelbild die Schwelle der sichtbaren Welt zu sein, falls wir uns der spiegelartigen Anordnung überlassen, welche die Imago des eigenen Körpers in der Halluzination und im Traum darbietet – handle es sich nun um seine individuelle (sic) Züge, seine Gebrechen oder seine Projektionen auf ein Objekt –, oder falls wir die Rolle des spiegelnden Apparates in den Erscheinungsweisen des Doppelgängers entdecken, in denen sich psychische Realitäten manifestieren, die im übrigen sehr verschiedenartig sein können.“ (S.65)
Bilderbegriffe – Glossar
LACAN, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: Schriften I, ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg im Breisgau: WalterVerlag 1973.
Index Der Index ist ein Begriff aus der Peirce’schen Semiotik, welche (neben Icon und Symbol) ein Zeichen in seiner Beziehung zum Objekt beschreibt. Beim Index sind Zeichen und Objekt physisch miteinander verbunden, z.B. die Pfütze, welche direkt auf den vorangegangenen Regen verweist. Dabei behauptet ein Indexzeichen nichts über sein Objekt, sondern es lenkt lediglich die Aufmerksamkeit auf dieses Objekt. Ferner kann ein Index dem Benutzer nie etwas Neues vermitteln. Es kann nur auf etwas hinweisen, das schon vorher bekannt war. Somit ist ein Index etwas, das die Aufmerksamkeit auf den angezeigten Gegenstand mittels eines Impulses lenkt.
Instrumente des Sehens Jede Kultur bzw. Epoche hat Techniken der Bildherstellung hervorgebracht. Gegenwärtige Techniken der Bildgenerierung basieren auf historischen Zäsuren, die um 1600 ansetzen und sich im ersten und letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts fortsetzen. Mit der Erfindung des Fernrohres und des Mikroskops beginnt eine einschneidende kulturelleVeränderung, weil hiermit optische Geräte entwickelt wurden, die die Beschränkungen und Grenzen des menschlichen Sehfeldes gravierend erweitert haben. In dem Paradigmenwechsel von natürlicher zu technisch erweiterter Sichtschärfe greifen seit der Verbreitung der Entdeckungen der Optik (Alhazan 965–1040) und perspektivischer Darstellungsverfahren (Leon Battista Alberti, de pictura 1435) mehrere Disziplinen ineinander, um ins verborgene Kleine oder Große vorzustoßen. Dadurch verändern sich die Bedingungen in der Beobachtung wahrnehmbarer, darstellbarer und studierbarer Gegenstände. Manipulierbare Nähe und Ferne sind auf einmal technische Herausforderungen, die Vergrößerung und Verkleinerung noch weiter zu treiben, vergleichbar den Erfolgen der Komprimierung von Daten und Beschleunigung der Rechenprozesse im letzten Drittel des 20. Jahrhundert. Für das beginnende Zeitalter der Entdeckungen in Mikro- und Makrobereich war die Entdeckung der Lichtmikroskopie ein großer qualitativer Sprung, z.B. das „Occiolino“ von Galileo Galilei aus dem Jahr 1609 oder z.B. die verbesserte Optik im Mikroskop durch Christiaan Huygens (Zwei-Linsen-Okularsystem), die weniger Farbfehler durch achromatische Korrektur ermöglichten. Die Grenze lag bei 50facher Vergrößerung, danach traten Abbildungsfehler im Objektiv und Okular auf.
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Antoni van Leeuwenhoek eröffnet eine bis zu 270fache Vergrößerung durch brilliant geschliffene Linsen in einem Ein-Linsen-Mikroskop, aber erst ca. 160 Jahre später erreichen zusammengesetzte Mikroskope die Vergrößerung des einfachen Leeuwenhoek Mikroskops. Ernst Abbe entdeckt die optische Grenze der Vergrößerung und Verkleinerung (Gesetz der „Numerischen Apertur“). Eine qualitative Zäsur bezogen auf Ferne ist durch das Prinzip des astronomischen Fernrohrs mit zwei konvexen Linsen erreicht, welches Johannes Kepler 1597 („Keplersches Fernrohr“) konstruiert. Ganz neue Möglichkeiten eröffnet das Fixieren des fotografischen Bildes mittels der Heliografie durch Nicéphore Niépce 1822. Mit diesem Verfahren ist eine Zäsur markiert, weil dadurch die technische Autonomie des Bildes einsetzt. Das Lichtbild von Niépce und die damit einsetzende weitere Entwicklung des fotografischen Bild stellt eine ungeheure Zäsur dar. Das somit technisch autonom gewordene Bild ist ein neuartiges Instrument des Sehens, welches nicht nur für gewerbliche Zwecke z.B. des Portraits genutzt wird, sondern in naturwissenschaftlichen Bereichen Einzug findet, teilweise auch in der Malerei (Edgar Degas) oder in den naturwissenschaftlichen Bewegungsstudien von Étienne-Jules Marey (Chronofotografie, 1882) und Eadweard Muybridge (Animal Location, 1897; The Human Figure in Motion, 1901), die die Grenzen des sichtbar Bekannten verschieben. Robert Kochs Microfotografie von 1882 bezeugt u.a. diese neue Qualität, nach der das fotografische Verfahren das abbildet, was bewiesener, d.h. überprüfbarerweise sichtbar ist. Nicht uninteressant ist, dass Sigmund Freund für psychologische Studien naturwissenschaftliche Vorgänge im Gehirn einbezieht und sichtbar macht, in dem er für das Einfärben von Präparaten in der Mikroskopie die Goldimprägnation eingeführt hat. Eine ganz besondere Umwälzung stellt das Durchleuchten von (menschlichen) Körpern mittels elektromagnetischer Strahlung dar, die Wilhelm Conrad Röntgen (1895) in der nach ihm benannten Röntgenaufnahme (X-Strahlen) erfand. Durch die Kopplung mit der Fotografie wird dadurch bislang nicht Sichtbares als Lichtreflexbild fixiert und in der Medizin angewandt. Während Marey Bewegungsabläufe menschlicher und tierischer Körper zerlegt und damit sichtbar gemacht hat (Chronofotografie), trug seine Erfindung der Bildtelegrafie von 1902 dazu bei, Daten zu übertragen und als Bild zusammenzusetzen, womit er als Vorläufer des Fax oder auch des Elektroenzophalogramms (Hirnaktivität, EEG 1924) von Hans Berger angesehen werden kann. Seit der Konstruktion des Elektronenmikroskops durch Ernst Ruschka und Max Koll (1931) verändert sich noch einmal das Paradigma des optischen Instruments. Elektronenmikroskope lassen sich in zwei Typen der Bilderzeugung unterscheiden. Einmal erzeugt ein elektronenoptisches System ein ‚Raster‘ (REM), zum anderen ermöglicht die Transmission nach dem schnellen Objekte-Durchgang ein ‚Ruhebild‘ (TEM). Entscheidend ist, dass Messdaten, teilweise in Echtzeit, visualisiert werden. Die Elektronen- und Teilchenbeschleunigung wird am CERN weiter in Richtung Lichtgeschwindigkeit forciert und für die Zusammensetzung der Materie, der Entstehung des Kosmos und der Gewinnung neuer Teilchen eingesetzt. Die Grenze der Beschleunigung scheint vorerst durch die (fast) Erzielung von Lichtgeschwindigkeit und durch
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das Prinzip der Verkleinerung (in den Maßeinheiten von Mikro, Nano, Tano Temto, Atto, Zepto, Yokto=Quadrillionstel) erreicht, wobei der Nachweis der Experimente optisch erfolgt. Grundsätzlich ist die Vergrößerung in der Astrophysik ähnlich strukturiert. Fazit: Problematisch ist die Trennung von Materie (Gegenstand) und Information, denn Materie-Teilchen und Information ‚verhalten‘ sich paradox, wie das optisch nachweisbare ‚Verhalten eines Elektrons“ in der Quantenphysik zeigt, kann zwei Eigenschaften annehmen, wobei jeweils nur eine experimentell nachgewiesen werden können. Eine praktisch folgenreiche Erfindung ist die Rastertunnelmikrokospie von ca. 1980, die es erlaubt, dreidimensionale Darstellungen von Messdaten (Instrument und Probe; Beispiel Kohlenstoffmännchen) vorzunehmen. Ausblick: Durch die Rechenleistungen des Computers sind prinzipiell alle Arten von Daten visualisierbar. „Alles“ ist visualisierbar, womit eine kritische Korrespondenz von den Instrumenten des Sehens zu dem Nicht-Sichtbaren hergestellt wird. Siehe auch folgende Literatur: BREDEKAMP, Horst; SCHNEIDER, Birgit; DÜNKEL, Vera (Hg.): Das technische Bild: Kompendium für eine Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin: Akademie Verlag 2008. HIEBEL, Hans H.; HIEBLER, Heinz; KOGLER, Karl; WALITSCH, Herwig: Große Medienchronik, München: Wilhelm Fink Verlag 1999 (Kap. „Optische Medien”, S.283-539). WERNER, Gabriele: Das technische Bild – aus ästhetischer Sicht betrachtet, in: Heintz, Bettina; Huber, Jörg: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien, New York: Springer Verlag 2001, S.367-328. HENNIG, Jochen: Vom Experiment zur Utopie: Bilder in der Nanotechnologie, in: Bildwelten des Wissens. Instrumente des Sehens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2,2, Berlin: Akademie Verlag 2004. S.9-18. ZOHLEN, Gerwin: Fernrohrblick, in: Buddensieg, Tilmann; Rogge, Henning (Hg.): Die nützlichen Künste, Berlin: 1981, S.300-305.
Isotype Isotype steht als Abkürzung für „International System of Typographical Picture Education“ und wurde ab den 20er Jahren vom Ökonomen und Pädagogen Otto Neurath entwickelt, zuerst „Bilderstatistik nach Wiener Methode“ und ab 1934 Isotype genannt. Ausgangspunkt der Entstehung von Isotype war Neuraths Kritik an der traditionellen, von Metaphern geprägten Sprache der vorgeblich rationalistischen Wissenschaften. Neuraths Logischer Empirismus strebte ein Mehr an Rationalität (gegen jegliche Metaphysik und Theologie), eine Einheitswissenschaft an, basierend auf der Schaffung einer objektiveren und global einheitlichen Wissenschaftssprache. Diese musste möglichst leicht verständlich sein, da Neurath mittels derer v.a. eine einfachere, gesamtgesellschaftliche Zugänglichkeit von Wissen zu verwirklichen suchte - daher ist Isotype eine Bildersprache bzw., genauer gesagt, eine Bildschrift. Allerdings sollte Isotype keineswegs Laut- und Buchstabensprache ersetzen, sondern auf wissenschaftli-
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
cher Grundlage begleitend als Hilfssprache an ihre Seite treten. Neurath wollte einen Bereich jenseits von Schriftsprache besetzen, um abstrakte Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich zu machen. Isotype umfasst über 2000 Zeichen und greift auf standardisierte Piktogramme zurück, die analog den Worten in einer Schriftsprache funktionieren. Das Bild wird dabei, als eine Art „Sachbild“, auf seine Zeichenfunktion reduziert, das eigentlich Ikonische fällt weg. Daher greift Isotype z.B. auch nicht auf Fotos zurück. Ziffern werden verbildlicht, zu „statistischen Hieroglyphen“, z.B. in Form der bekannten Reihen von Männchen zur Darstellung von Mengen. Die Zeichen von Isotype sind schwarze, an Scherenschnitte erinnernde gedruckte Figuren. Diese verweisen symbolisch, als Ikons bzw. Bildzeichen mit hoher Ikonizität, welches andererseits den Symbolgehalt gering hält, auf den bezeichneten Sachverhalt bzw. das Objekt. Neurath wusste jedoch, dass eine universelle Sprache nicht möglich ist. Jede Sprache ist auch kulturell codiert. Isotype übt noch heute v.a. auf Design und die Vermittlung von Lehrinhalten große Wirkung aus, auch wenn Neuraths idealistischer Anspruch kaum noch eine Rolle spielt. „Die Pädagogik der Sozialwissenschaften ist noch unterentwickelt, insbesondere fehlt eine Systematik der optischen Darstellungsweisen. Immer häufiger stößt man auf Versuche, Kurven und Bänder den wissenschaftlichen Werken zu entlehnen, um sie bunter und gröber zu gestalten. Derlei erweist sich als zu schwierig, solche abstrakten Figuren schrecken ab. Also: Bilder! Aber diese Einsicht genügt nicht, man muß wissen, wie man Bilder richtig anwendet.“ (Zitat von Otto Neurath, S.26) „Der gewöhnliche Bürger sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann. Es gibt kein Gebiet, für das Humanisierung des Wissens durch das Auge nicht möglich wäre.“ (Zitat von Otto Neurath, S.28) HARTMANN, Frank; BAUER, Erich K.: Bildersprache. Otto Neurath. Visualisierungen, Wien: Wiener Universitätsverlag 2002.
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Karten Karten visualisieren geografische und thematische Daten (Vermessung, Referenzierung, Sammeln) in Form von visuellen Modellen mit einem Zweck (Darstellung, Eroberung und Kontrolle von Raum oder Wissenslandschaften). Darstellungstechnisch ist die Karte zunächst einmal ein Modell räumlicher Information – in der Regel auf einer Fläche projiziert. Wie Alexander Humboldts „Geographie der Pflanze“ von 1807 exemplarisch zeigt, sind Karten nicht auf geografische Referenzen begrenzt, sondern durch die Kombination mit anderen Darstellungsformen (thematischen Schaubilder, abstrakten Diagrammen, begrifflichen Konkordanzen) thematisch erweiterbar: Humboldts Karte ist eine sich selbst erklärende ‚Wissenschaftslandschaft‘. Ebenfalls bahnbrechend ist die Karte zum Rußlandfeldzug von Charles Mi-
Bilderbegriffe – Glossar
nard, in denen sowohl der Zeitverlauf als auch verschiednen historische Fakten dieses Kontextes abgebildet werden und damit auch schon ins Gebiet der Diagramme gehören. Ganz allgemein fördert die Verbindung verschiedener Methoden der Datenvisualisierung die Entwicklung anderer Darstellungstechniken (Navigationssysteme) bis in unsere Zeit hinein. Eine topografische Karte für sich genommen ist auf eine maßstabgebundene Darstellung der Erde (Weltkarte) bzw. eine Wiedergabe von Teilen der Erdoberfläche beschränkt. Sie stellt sichtbare Phänomene der Erdoberfläche, vermessen und lagerichtig kartiert, im Grundriss und zum Teil durch Schrift erläutert dar. Die visuelle Referenz der Daten und Markierungen betrifft Orte bzw. Stellen mit Bezug auf Länder und Gegenden/Gelände der Erde sowie von Planeten oder Sternen. Inwieweit diese visuelle Referenz abbildhaft eindeutig, symbolisch oder abstrakt erfolgt, liegt an den Konventionen und Kontexten, in den Karten Verwendung finden. Es können in den jeweiligen Modellen Standardisierungen von ikonischen Elementen, geo- und kosmologische Referenz festgelegt oder Abstrahierungsstufen vereinbart und für solche Gültigkeitsbereiche Karten eingeschränkt definiert werden. Eine allgemein verbindliche Definition von Karten, die alle visuelle Referenzen (See-, Land, Straßenkarte oder Stadt-, Metroplan etc.) erfasst, ist nicht möglich, denn die Darstellungstechniken und Darstellungsformen unterliegen historischen Wandlungen: a) Raum- und Zeitbegriffen, b) visueller Erkenntnis (was ist sichtbar), c) technischer Stand der Mobilität, d) religiöser, politischer und sozialer Legitimation für Expansion, e) Strategien für militärische und zivile Planungen, f) Festlegung von Grenzen und Abgrenzungen von Territorien (Herrschaftsräume, kulturelle und ‚staatliche‘ Identität). Im Gebrauch der Karten lassen sich historische Prozesse erkennen, deren wissenschaftspolitische Prinzipien u.a. Bruno Latour herausgearbeitet hat: Durch die Generierung, Akkumulation, Zirkulation von Informationen verdichten Karten Wissen. Man kann die geo- und kosmologische Referenz von Karten auch umkehren und wie Sybille Krämer davon sprechen, dass Raum durch topologische Einteilungen und z.B. richtungsbezogene Unterscheidungen überhaupt erst geschaffen wird. (Dieser Glossarbeitrag wurde zusammen mit Winfried Gerling verfasst.) Wichtige Einzelbeispiele zur Geschichte der Karten: Tabula Peutingeriana (Römische Straßenkarte), ca. Ende 4. Jh. Ebstorfer Weltkarte, ca. 1300 Portolankarten, ab 14. Jh. Erdapfel (Globus), Martin Behaim, ca. 1492 Rompilger-Karte, Erhard Etzlaub, 1500 Seefahrerkarte, Geradus Mercator, 1569 Topographia Germaniae, Matthäus Merian, 1642-54 Geographie der Pflanzen, Alexander von Humboldt, 1807 Stadtplan London, Christopher Greenwood, 1827 Londoner U-Bahnkarte, Harry Beck, 1931 Multivariate Verfahren (Russlandfeldzug), Charles Minard, 1861
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Dymaxion Weltkarte, Buckminster Fuller, 1946 Erste Karten zu Computernetzwerken, ab 1969 Google Earth, (GPS, 1985) „Jede Zeit hat ihre eigene Kartenvorstellung, ihre eigene kartographische Rhetorik, ihr eigenes kartographisches Narrativ. Es gibt nichts, was sich nicht kartographisch abbilden ließe: Krieg, Belagerung, Flucht, Pilgerwege, imperiale Herrschaft, der Geltungsbereich kultureller Werte. Aber der größte Vorzug kartographischer Repräsentation – die Abbildung des Nebeneinander und der Gleichzeitigkeit – ist offenbar auch deren Schranke: Karten bleiben statisch, können Bewegung höchsten andeuten, nicht abbilden. Karten bilden nicht nur ab, sondern konstruieren und projektieren Räume und machen so aus Räumen erst Territorien.“ (S.12f.) SCHLÖGEL, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2009. Weitere Literatur: ASENDORF, Christoph: Bewegliche Fluchtpunkte – Der Blick von oben und die moderne Raumanschauung, in: Maar, Christa; Burda, Hubert (Hg.): Iconic Worlds, Köln: DuMont 2006, S.19-49. LATOUR, Bruno: Die Logistik der immutable mobiles, in: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie, Bielefeld: Transcript 2009, S.111-144.
Leitbild
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Leitbild ist ein Ausdruck für die Überhöhung und Übermacht von Bildern, die alle Bereiche erfasst haben. Die Begründung nach der Notwendigkeit von Leitbildern ist kritisch zu hinterfragen. Gibt es eine Legitimierung durch Vorteile von Leitbildern oder gibt es wirklich Leitbilder als einzelne Bilder, die man nennen kann? In Abgrenzung zum Vorbild, beschreibt der Begriff „Leitbild“ eine nicht an bestimmte Personen gebundene Vorstellung von Verhaltensrichtlinien und -idealen von Menschen. Er bezieht sich nicht notwendigerweise auf etwas Visuelles. Der Begriff wird v.a. in ideologisch-politischer Hinsicht und im ökonomischen Bereich (v.a. in Management-Theorien) verwendet und betont eine handlungsbezogene und zielgerichtete Einstellung. Leitbilder sind Kontinuität, Wiedererkennung und Zusammenhang stiftende Rahmenwerke. Vom Begriff Leitbild lässt sich eine Analogie zu dem aus der klassischen (Programm-)Musik stammenden Begriff des Leitmotivs herstellen. Ein Leitmotiv ist eine wiederholt auftretende Tonstruktur mit symbolischer Bedeutung, die dazu dient, die Handlung zu verdeutlichen, zu strukturieren und zu kommentieren (z.B. um Personen zu charakterisieren). Leitmotive sind dominante Grundthemen, welche Musikstücken Einheit verleihen und eine steuernde Wirkung auf den Rezipienten ausüben. Leitmotive haben einen stärker illustrativen Charakter (in Bezug auf einen Sachverhalt) als die auf konkretes Handeln bezogenen Leitbilder.
Bilderbegriffe – Glossar
Diese Rolle, die dem Leitbild zuteil wird, resultiert aus den Umständen, in denen es funktioniert. Um aber dieser Rolle des Bildes als Leitbild kritisch zu begegnen und sich diesen nicht ohnmächtig auszuliefern, ist eine genaue Kenntnis und Überprüfung der Umstände, aus denen solche Bilder hervorgehen und Verwendung finden, nötig. Man kann diese Überlegungen zum Leitbild als eine Herausforderung verstehen, den Bildgebrauch kritisch zu reflektieren und damit auch eine Fähigkeit zu gewinnen, die den Bezug von Bild und Realität fähig ist zu erkennen. Diese Sicht auf das Bild als Leitbild dient zur Überprüfung und Festigung eines Realitätsmodells, das keine Realität außer sich zulässt, die dann nicht als solche z.B. mittels Bildern unterscheidbar wäre. Realität ist hier im Singular gedacht. Mehrere Realitäten kann es demzufolge nicht geben, denn entweder sind sie wirklich verschieden oder aber bloß dem Anschein nach. In diesem Realitätsdogma schwingt eine Verankerung mit, ein harter Kern, von dem aus alle Eingriffe und Modifikationen ihre Bestimmung haben. Der Clou dieses Realitätsmodells ist, wirkliche von unwirklichen, d.h. scheinhaften, Eingriffen bzw. Modifikationen zu unterscheiden. Letztlich kann bei diesen Voraussetzungen nur die Probe aufs Exempel gemacht werden, um Wirkliches vom Unwirklichen zu unterscheiden oder Materielles nicht mit Immateriellem zu verwechseln. Nicht möglich aber ist, zu bestimmen, was Realität als Kern ist. Dies muss als nicht hinterfragbare Annahme vorausgesetzt werden. Bilder, zumal die Leitbilder der Wissenschaft, sind daraufhin zu überprüfen. So lautet das Credo dieses, Bilder in ihren Gebrauch kritisch einbeziehenden Realitätsmodells. Daran sind Leitbilder messbar. „Mit dem Aufstieg des Bildes zum Leitbild sind Philosopheme wiedergekehrt, die seit der Aufklärung überwunden schienen.“ (S.225) „Seit Platon, Kant und Heisenberg ist bekannt, daß die Wirklichkeit der Wirklichkeit ein Problem ist. Wenn die ‚Realtiät‘ dennoch in einem pragmatischen Sinn anzusprechen ist, dann als Gegengewicht zur Hypertrophie des radikalen, alle objektive Erkenntnis negierenden Konstruktivismus und als Antidotum gegen eine Medientheorie, die Sein und Schein zusammenfallen läßt, im Rücken ihres absoluten Relativismus aber neuen Gottheiten, in diesem Fall dem Götzen eidolon, huldigt. Unsere Weltsicht ist konstruiert, aber dies geschieht in permanenter Überprüfung der Angemessenheit des jeweils vorgegebenen, mentalen Orientierungsmodells mit der Objektwelt außerhalb unseres Selbst. Daher gehört die Differenzbildung von Schein und Sein, Vorstellung und Wirklichkeit stärker als in früheren, eher wortgeprägten Epochen zur unabdingbaren Voraussetzung jeder gedanklichen Anstrengung.“ (S.230) BREDEKAMP, Horst: Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus, in: Hoffmann, Ute, Joerges, Bernward, Severin, Ingrid (Hg.): LogIcons. Bilder zwischen Theorie und Anschauung, Berlin: Edition Sigma 1997.
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Mentales Bild - mental image Mental Images bzw. geistige Bilder beziehen sich auf visuelle Vorstellunsakte. Die Betonung von geistigen, virtuellen Bildprozessen erfolgt sowohl in Abgrenzung also auch unter Einbeziehung von visuellen Materialisierungen bzw. von Maschinen erzeugten, errechneten Bildern. Mentale Bilder allein auf Vorstellungsakte ohne greifbare Veräußerlichungen zu reduzieren, ist jedoch eine unnötige Einschränkung, weil alles, was vor dem geistigen Auge in Erscheinung tritt, prinzipiell auch sichbar gemacht werden kann – wenig weiß man über spirituelle (Ent–)Visualisierungen, die z.B. durch Meditationsbilder (Mantras) ausgelöst werden können. Vergleiche hierzu die Unterscheidung von externen und internen Bildern: „Vom Begriff externer Bilder ist der Begriff interner oder mentaler Bilder zu unterscheiden. Vermutlich lassen sich alle Bildphänomene auf einen dieser beiden Begriffe zurückführen. Der Begriff des Vorbildes oder des Idealbildes etwa, mit denen bestimmte Personen charakterisiert werden, kann aus dem Begriff des externen Bildes abgeleitet werden; die Rede vom sprachlichen Bild ist dagegen vermutlich eher in den Zusammenhang des Begriffs interner Bilder zu stellen, da es hier um die evozierten imaginativen Prozesse geht.“ (S.37) SACHS-HOMBACH, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Halem Verlag 2003.
Metapher
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(von griechisch metapherein = übertragen), ein Wirklichkeit konstituierender Bestandteil der Sprache. Eine Metapher ist eine Art Wortbild, eine begriffliche Beschreibung eines Objekts, welche auf die Herstellung einer bildlichen Analogie zurückgreift. Eine in die Sprache übertragene bildliche Vorstellung, welche auch die Bildhaftigkeit von Denken und Sprache belegt. Nietzsche, und darauf aufbauend Hans Blumenberg, weisen nach, dass alle Begriffe ursprünglich metaphorisch sind. Das Wesen der Dinge, die Welt an sich, ist dem Menschen prinzipiell unzugänglich. In „Paradigmen einer Metaphorologie“ zeigt Blumenberg, wie man Metaphern reflektieren und auf ihren Ursprung zurückführen kann. Sogenannte „absolute“ Metaphern wie z.B. das Licht lassen sich jedoch nicht weiter vom Begriff auf ein Bild zurückführen. Sie sind Grundbestände der Sprache. Das heißt auch, dass unsere Wahrnehmung an Bilder und deren Interpretation gebunden bleibt. „Nach Nietzsche bedeutet Metaphorisierung, [...] etwas als gleich behandeln, was man als ähnlich erkannt hat.“ (Band III-4, S.86) „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und unverbindlich dünken:
Bilderbegriffe – Glossar
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlos kraftlos geworden sind [...].“ (Band III-2, S.374f.) COLLI, Giorgio; MONTINARI, Mazzino; DE GRUYTER, Walter (Hg.): Friedrich Nietzsche. Kritische Gesamtausgabe, Berlin, New York: Verlag Walter de Gruyter 1978. „Was bleibt dem Menschen? Nicht die ‚Klarheit‘ des Gegebenen, sondern die des von ihm selbst Erzeugten: die Welt seiner Bilder und Gebilde, seiner Konjekturen und Projektionen, seiner ‚Phantasie‘ in dem neuen produktiven Sinne, den die Antike nicht gekannt hatte. [...] Diese historischen Überlegungen zur ‚Verborgenheit‘ der Metapher führen uns zu der grundsätzlichen Frage, unter welchen Voraussetzungen Metaphern in der philosophischen Sprache Legitimität haben könnten. Zunächst können Metaphern Restbestände sein, Rudimente auf dem Wege ‚vom Mythos zum Logos‘ [...] Dann aber können Metaphern, zunächst rein hypothetisch, auch Grundbestände der philosophischen Sprache sein, ‚Übertragungen‘, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen. Wenn sich zeigen läßt, daß es solche Übertragungen gibt, die man absolute Metaphern nennen müsste, dann wäre die Feststellung und Analyse ihrer begrifflich nicht ablösbaren Aussagefunktion ein essentielles Stück der Begriffsgeschichte. [...] Der Aufweis absoluter Metaphern müßte uns wohl überhaupt veranlassen, das Verhältnis zwischen Phantasie und Logos neu zu durchdenken, und zwar in dem Sinne, den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen – wobei sozusagen Element für Element aufgearbeitet und umgewandelt werden könnte bis zum Aufbrauch des Bildervorrats –, sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren.“ (S.8-10) BLUMENBERG, Hans: Paradigmen einer Metaphorologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997.
Metapher-Bild-Gleichnis Die Bestimmung des Bildes als das Bildliche zwischen Metapher und Gleichnis: „Zwischen Metapher auf der einen und Gleichnis auf der anderen Seite kann man das Bild setzen. Denn es hat mit der Metapher so genaue Verwandtschaft, daß es eigentlich nur eine ausführliche Metapher ist – welche dadurch nun auch wieder mit der Vergleichung große Ähnlichkeit erhält, jedoch mit dem Unterschiede, daß beim Bildlichen als solchem die Bedeutung nicht für sich selbst heraus- und der mit ihr ausdrücklich verglichenen konkreten Äußerlichkeit gegenübergestellt ist. Das Bild findet besonders statt, wenn zwei – für sich genommen mehr selbstständige – Erscheinungen oder Zustände in eine gesetzt werden, so daß der eine Zustand die Bedeu-
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
tung abgibt, welche durch das Bild des anderen faßbar gemacht wird. Das erst, die Grundbestimmung, macht hier also das Fürsichsein, die Absonderung der verschiedenen Sphären aus, denen die Bedeutung und ihr Bild genommen ist; und das Gemeinschaftliche, die Eigenschaften, Verhältnisse usf. sind nicht, wie im Symbol, das unbestimmte Allgemeine und Substantielle selbst, sondern die festbestimmte konkrete Existenz auf der einen wie auf der anderen Seite.“ (S.397) HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik, nach der zweiten Ausgabe von Heinrich Gustav Hothos [1842] redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge, 4. Aufl., 2 Bde., Westberlin: verlag das europäische buch 1985, Bd. 1. In neueren Forschungsansätzen zur Metapherntheorie wird die Stellung der Metapher zwischen Kunst und Kognition analysiert und dabei zwischen ‚konzeptueller, poetischer und rhetorischer Metapher‘ unterschieden. Siehe dazu: ERNST, Christoph: Die Metapher als Supplement zwischen Kunst und Kognition, in: Bauer, Matthias; Liptay, Fabienne; Marschall, Susanne (Hg.): Kunst und Kognition. Interdisziplinäre Studien zur Erzeugung von Bildsinn, München: Wilhelm Fink Verlag 2008, S.245-259.
Pictorial Turn Der Chicagoer Sprach-, Literatur- und Bildwissenschaftler William J. T. Mitchell prägte in den 90er Jahren den Begriff vom „pictorial turn“, welcher ähnlich wie der von Gottfried Boehm geprägte Begriff des „iconic turn“ eine Hinwendung vom Text zum Bild in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts konstatiert, worauf bildwissenschaftliche Disziplinen hiermit reagieren.
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„Die Kulturgeschichte ist in gewisser Hinsicht die Geschichte eines zähen Ringens um die Vorherrschaft zwischen bildlichen und sprachlichen Zeichen, die beide gewisse Eigentumsrechte an einer nur ihnen zugänglichen ‚Natur‘ geltend machen. [...] Das Bild ist das Zeichen, das den Anspruch erhebt, kein Zeichen zu sein, und sich als natürliche Unmittelbarkeit und Gegebenheit maskiert (bzw. diese Kriterien für den, der ihm glaubt, auch wirklich erfüllt). Das Wort ist dann das ‚Andere‘ des Bildes, eine künstliche, willkürliche Hervorbringung des menschlichen Willens, die das natürlich gegebene durch die Einführung so unnatürlicher Elemente wie Zeit, Bewußtsein und Geschichte und das Einschalten einer symbolischen Vermittlung mit ihrer entfremdenden Wirkung zertrümmert. [...] Wie sollen wir uns in diesem Interessenkonflikt zwischen sprachlicher und bildlicher Repräsentation verhalten? Ich schlage vor, wir historisieren ihn und behandeln ihn nicht als eine Auseinandersetzung, die unter der Schirmherrschaft einer allumfassenden Zeichentheorie friedlich beizulegen ist, sondern als einen Kampf, der die fundamentalen Widersprüche unserer Kultur auch innerhalb des theoretischen Diskurses aufbrechen läßt. Dann kann es nämlich nicht mehr darum gehen, die Spaltung
Bilderbegriffe – Glossar
zwischen Wörtern und Bildern zu heilen, sondern man muß sich anschauen, welchen Interessen sie nützt und welche Kräfte sich ihrer bedienen. [...] Die Erkenntnis, daß diese ‚Abbilder‘, die Wittgenstein in der Sprache beheimatet fand, nicht natürlicher, automatischer oder notwendiger sind als irgendeine andere Art von Bildern, die wir hervorbringen, versetzt uns in die Lage, von ihnen auf eine weniger verwirrte Weise Gebrauch zu machen. In erster Linie läßt sie einerseits den Respekt vor der Beredtheit der Bilder wiederaufleben und erneuert andererseits das Vertrauen in die Klarheit und Verständlichkeit der Sprache, in das Gefühl, daß der Diskurs Welten und Sachverhalte projiziert, von denen man sich ein konkretes Bild machen kann und die man an anderen Darstellungen überprüfen kann. Vielleicht läßt sich die Einbildungskraft zurückgewinnen, indem man die Tatsache akzeptiert, daß wir einen großen Teil unserer Welt aus dem Dialog zwischen sprachlichen und bildlichen Darstellungen erschaffen und daß es nicht darum geht, diesen Dialog zugunsten eines direkten Zugriffs auf die Natur aufzugeben, sondern zu sehen, daß die Natur bereits beide Seiten des Dialogs durchdringt.“ (S.1376-1379) MITCHELL, William J. T.: Bild und Wort, in: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Band 2 1940-1991, hg. von Charles Harrison; Paul Wood, Ostfildern: Hatje Verlag 1998. Siehe auch: Mitchell, William J. T.: Der Pictorial Turn, in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S.15-41.
Polyfokalität Der Kunsthistoriker Werner Hofmann zeigt anhand der Kunst der Moderne Tendenzen der Auflösung der (monofokalen) Zentralperspektive der Renaissance auf, welche die Geschichte des Bildes in Westeuropa dominiert hat. Polyfokalität bezeichnet diese Mehransichtigkeit. Sie bedeutet eine Redefinition des Verhältnisses zwischen Bild und dem Betrachter, dessen Position und Zugang zum Bild durch die Zentralperspektive klar und einfach geregelt war und gleichzeitig Bild und Betrachter klar voneinander getrennt hat. „Cézanne erzielt diese enge Verklammerung, wie wir seit Fritz Novotnys grundlegender Untersuchung über seine Kunst und das ‚Ende der wissenschaftlichen Perspektive‘ wissen, durch ‚verschiedene Blickachsen‘, die er simultan in- und gegeneinander führt, überdies mit Hilfe übersteigerter Draufsicht die Fluchtachsenbewegung verlangsamend oder unterdrückend, so dass kein Fokus in Gestalt eines ‚Bildhauptakzents‘ auszumachen ist. Novotny registriert Gewinn und Verlust dieser subtilen und mühsamen erarbeiteten Mehransichtigkeit. Zum einen schuf Cézanne eine ‚neue Realität der Bildfläche‘, zum andern wurde ‚die Einfühlungsmöglichkeit in den Illusionsraum negiert oder zumindest [...] erschwert‘. Der Verzicht des Malers, dem Betrachter das Bildgeschehen perspektivisch zu erschließen, bringt dem
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
zweidimensionalen Flächengewebe einen schwebenden ‚Gebildecharakter‘ ein. Demnach äußert sich Cézannes Polyfokalität weniger in den divergierenden Blickachsen als vielmehr in der Aufforderung an den Betrachter, ständig zwischen Form- und Sachinhalten zu wählen, vom autonomen ‚Gebildecharakter‘ farbigen Leinwand auf die darin eingelagerte Abbildlichkeit zu schließen – und umgekehrt. Ihr ‚Gebildecharakter‘ macht diese Gemälde selbstgenügsam. Novotny sprach von einer außermenschlichen Anschauungsund Gestaltungsart. Abgeschieden und menschenfern, unterdrücken die Leinwände den von der Zentralperspektive so bequem hergestellten Betrachterbezug. Die Komposition weist kein Entgegenkommen auf.“ (S.258) HOFMANN, Werner: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München: C. H. Beck Verlag 1998.
Sachbild Ein gutes Sachbild soll einen Tatbestand allgemeinverständlich zu Bewusstsein bringen, sei dies nun eine Wohnung, eine Maschine, ein Haus, ein Tier, eine Stadt, die soziale Gliederung eines Volkes, die wirtschaftliche Struktur der Welt oder sonst etwas, das sich bildhaft darstellen lässt. Ein Sachbild kann man neben ein anderes hängen; sie wollen einander nicht stören. Sachbilder sind grundsätzlich anders zu beurteilen als Reklamebilder; auch Sachbilder müssen bestimmte Dinge besonders hervorheben, aber immer innerhalb eines gegebenen Rahmens, während die Reklamebilder eine solche Eingliederung nicht kennen. Darüber hinaus arbeitet Neurath mit dem Begriff des „Mengenbildes“, welcher ebenfalls ein Sachbild bezeichnet, welches soziologische Mengenangaben vergleichend bildlich darstellt. „Sachbilder sind ein bildpädagogisches Instrument, eine Art Info-Grafik, mit dem Otto Neurath praktisch arbeitete, z.B. bei den Ausstellungen des Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftmuseums. Es sind Schaubilder, wo piktografische IsotypeZeichen mit Text zur Vermittlung eines Sachverhalts kombiniert werden.“ (S.153)
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NEURATH, Otto: Das Sachbild, in: Haller, Rudolf; Kinnross, Robin: Otto Neurath. Band 3. Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky 1991. AIsotype
Schlagbild Der Begriff des Schlagbildes ist in den 20er Jahren von dem Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg geprägt worden. Er steht im Rahmen eines erweiterten, interdisziplinären Forschungsanspruchs der Kunstgeschichte als Bildwissenschaft, den Warburg als Reaktion auf die steigende Produkti-
Bilderbegriffe – Glossar
on und Vermittlung von Bildern durch die (Massen-)Medien zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorantrieb. Darüber hinaus deutet seine Annahme, über Schlagbilder auf die Kultur einer Zeit schließen zu können, auf einen sich ankündigenden „iconic turn“ in den Kulturwissenschaften, welcher das Bild gegenüber der Sprache stärker in den Blick nimmt. Warburg reagiert auf den Verlust der Dominanz der Kunst über die Bildproduktion und nimmt sich den neuen, öffentlichen und massenhaft verbreiteten (Einzel-)Bildern an, welche zu medialen Inszenierungen von Realität führen. Hiermit führt Warburgs umfassender, bildhistorischer Ansatz auch direkt zu einer Kritik der damaligen, und aus heutiger Sicht auch der gegenwärtigen Machtverhältnisse, indem das Verhältnis der Bildgebrauchs zum demokratischen Anspruch der Gesellschaft problematisiert wird. Mit dem Begriff des Schlagbildes sensibilisiert Warburg die Wahrnehmung für den gesteigerten emotionalen Gehalt von Bildern und für die Prägnanz und Eindrücklichkeit des Visuellen. Im historischen Kontext der damaligen Zeitumstände des ersten Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit stehend, verweist der Begriff, ähnlich wie Stich- und Schlagwort oder Schlagzeile, auf eine gewisse Angriffslust. Warburg hebt dabei die außerordentliche Fähigkeit von Bildern, zur Erinnerung beizutragen (Mnemonik), hervor. Dass Bilder eine Schnittstelle, ein Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind, visualisiert Warburg in seinem fragmentarisch gebliebenen Bilderatlas „Mnemosyne“, einer exemplarischen Zusammenstellung eines europäischen Bildgedächtnisses. Warburg zeigt damit, wie eine von der Kunst geprägte Bildkultur, ein von der Kunst geprägtes Sehen, umfassende kulturelle Wirkung und Kontinuität erlangt hat. Der zeitgenössische Kunsthistoriker Michael Diers überträgt die erst in den Siebziger und Achtziger Jahren wieder „entdeckten“ Ansätze und Methoden Warburgs auf die heutige medialisierte Gesellschaft. Warburg erweist sich hier als nach wie vor zeitgemäß, eine kritische politische Ikonographie der Gegenwart zu vollziehen. Schlagbilder werden zu Schlagbildern durch ihre Kraft, prägnant auf etwas außerhalb des Bildes zu verweisen. Der Terminus ist ein politischer und reflektiert die Konstituierung einer Realität sui generis durch Bilder. Die heutigen Schlagbilder sind jedoch kaum noch Einzelbilder, wie noch zu Warburgs Zeiten, sie sind durchweg Medienbilder, keine Bildschöpfungen der Kunst. „Dem Schlagwort, das nicht selten eine Zeit oder Zeitströmung auf einen stimmigen, mitunter auch polemischen Begriff zu bringen vermag und in aller Munde ist, antwortet mit dem Schlagbild in ähnlicher Funktion eine ubiquitäre, ganz auf Wirkung verlegte, eindrückliche Darstellung, seien es z.B. Spott-, Reklame- oder Pressebilder. [...] Mag die Prägung Schlagbild, die sich über Wendungen wie Anschlagbild oder Bildschlagzeile leichterdings dem vielseitigen Gebrauch empfiehlt, angesichts des schier unerschöpflichen Bilderkosmos unserer Tage mit der Supposition des Einzelbildes vielleicht etwas verstaubt erscheinen, so genügt ein Blick historisch zurück und ein anderer voraus, um die Tragfähigkeit des Konzeptes, das mit dem Begriff „Schlagbild“ aufgerufen ist, zu erweisen.“ (S.7f.)
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
DIERS, Michael: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt/ M.: S. Fischer Verlag 1997. Vgl. auch DIERS, Michael: Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg, in: Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Memoria als Kultur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, S.79-95.
Schlüsselbild(er)
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Der Begriff lässt sich auf vielfache Weise gebrauchen. So kann man ein Schlüsselbild im übertragenen Sinne verstehen, um ganz allgemein eine Gruppe von Bildern zusammenzufassen. Das Schlüsselbild kennzeichnet dann als ein besonderes Ausnahmebild andere Bilder oder es ragt als ein einzelnes Bild aus der Vielheit anderer Bilder heraus, nimmt somit eine Schlüsselstellung ein. Durch die nicht immer eindeutige Verwendung des Begrifs Schlüsselbild werden strukturelle Merkmale wie motivische oder szenische Verwandtschaften suggeriert oder Mengenverhältnisse von Bildern untereinander durch die Schlüsselrolle von Einzelbildern bewertet. Oder man verwendet den Begriff fachgebunden, wie z.B. in den Filmwissenschaften, wo er zur Filmanalyse benutzt wird. Davon zu unterscheiden ist weiterhin die technische Verwendung von einem Schlüsselbild (engl. Keyframe) als ein für eine ganze Reihe eingefügtes Einzelbild, welches eine animierbare Folge von Bildern erlaubt (z.B. in der Software ‚Flash‘ von Adobe). Der Medienwissenschafter Peter Ludes nutzt den Begriff des Schlüsselbildes für eine Analyse von im Kontext von Nachrichten verbreiteter Bilder visueller Kommunikationsmedien auf ihre Botschaft und deren Vermittlung hin (im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs 240 „Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildmedien“). Ein Schlüsselbild ist hier, ähnlich dem zeitgenössischen Gebrauch des Warburgschen Begriffs des Schlagbildes durch Michael Diers, eine Art visuelles Stereotyp, welches eine möglichst hohe, eindeutige und einprägsame Wirkung erzielen will. Anders als bei Warburg ist das Schlüsselbild jedoch nicht an ein bestimmtes Einzelbild gebunden. In dieser Hinsicht decken sich Ludes‘ Definition des Schlüsselbildes und Hausteins Definition der „Global Icons“: Es existieren verschiedene Darstellungen des zum Schlüsselbild werdenden Sachverhalts. Entscheidend ist der Sachverhalt des visuellen Stereotyps. Auch die Werbung arbeitet stark mit Schlüsselbild-Strategien. Schlüsselbilder sollen eine Aussage konzentrieren, eine Essenz zeigen. „Seit Ende des 19. Jahrhunderts läßt sich dementsprechend zumindest quantitativ eine enorme Steigerung des Weltmarktes der Bilder verschiedener Verbreitungsmedien feststellen. In den klassischen Bildmedien und den neueren Bildschirmmedien konzentrieren sich professionelle KommunikatorInnen kontinuierlich darauf, Bildmaterial nach ästhetischen und kommerziellen Kriterien auszuwählen, zu stilisieren und zu dramatisieren. Diese professionelle Auswahl von Bildmotiven und -material durch Kom-
Bilderbegriffe – Glossar
munikatorInnen und die mehr oder weniger bewusste Auswahl durch unterschiedliche, teilweise sehr kleine Publika oder IndividualnutzerInnen läßt sich meines Ermessens als die Entwicklung von „Schlüsselbildern“ interpretieren. [...] Im Unterschied zu den kunsthistorischen Untersuchungen öffentlicher Bilder und Schlagbilder konzentrieren sich Erforschungen von Schlüsselbildern nicht auf künstlerisch besonders wertvolle und strategisch eingesetzte Einzelbilder, sondern gerade auf langfristige Kommunikationsprozesse, die in erster Linie über Bilder und nicht über gesprochene oder geschriebene Texte Anschlussfähigkeit herstellen, ja institutionelle Kontinuität sichern.“ (S.7-8) LUDES, Peter (Hg.): Schlüsselbilder von Staatsoberhäuptern. Pressefotos, Spielfilme, Fernsehnachrichten, CD-ROMs und World Wide Web, Siegen: Universität Siegen 1998 (Arbeitshefte Bildschirmmedien 72).
Sichzeigen „Eine nichtaufzeichenbare Spur geht der Aufzeichnung voraus und weist der Symbolisierung den Ort ihrer Anwesenheit zu; so ist mit der Thematik von Materialität, Präsenz und Ereignis ein Unberechenbares, mithin auch Unausmeßbares angeschnitten, das sich – und dies nennt die eigentliche These – in die Zeichen und ihre Ordnungen störend, widerspenstig und unberechenbar einmischt, das Gefüge des Symbolischen umstürzt oder modifiziert mit dem Sinn seine eigenen Spiele spielt.“ (S.19) Ähnliches gilt zudem für die ‚neuen‘ Medien: „Die Aufzeichnung der ‚Spur‘, die digitale Codierung, denn das Graphem oder die binäre Ziffer bleiben nur solange von ihrer materiellen Konstitution, von Raum und Zeit befreit, wie sie auf ihre reinen Programmschritte, ihre algorithmischen Formen beschränkt bleiben. Kommt jedoch die Materialität der Maschine ins Spiel, werden Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Codierung und Encodierung relevant, ihre jeweiligen Kapazitätsgrenzen und Verzögerungen, die sich nicht bis ins Unendliche hinein optimieren lassen, sowie die Art des ‚Outputs‘, der Darstellung. Sie bilden das Fundament, vermöge dessen wir aufmerken, die Marken, Abdrücke oder Resultate gewahren und damit auch erinnern und aufbewahren.“ (S.17 f.) Beiden, Materialität und Performanz, haftet eine spezifische Ereignishaftigkeit an. Im Prozess der Zeichen kommen daher Präsenz und Präsentation zusammen, die ihre Effekte in der Geschichte ihrer Systeme und Strukturen eintragen. Demnach geht der Begriff des Ereignisses dem der Performativität noch vorweg, bildet dessen Kondition. „An den Zeichen haftet deshalb eine nicht zu tilgende Präsenz. Sie ist mit ihrer Anwesenheit, ihrem ‚ersten‘ Mal bereits gegeben.“ (S.27)
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Ausdruck und Körpersprache „So wäre denn in die Semiotik des Körpers eine Duplizität einzutragen: Lesbarkeit eines kulturell überformten und abgerichteten Ausdrucks, aber auch ein ausdrucksloses Enthüllen, das dem entspringt, was ihm als materielles Korrelat stets vorgängig bleibt.“ (S.59) „Die Differenz zwischen Sichzeigen und etwas zeigen ist so die Unterscheidung zwischen Intentionalität und Nicht-Intentionalität, Sinn und Ereignis immanent. Dieses geht jenem vorweg: Das intentionale Zeigen geschieht allererst auf der Basis solchen Sichzeigens; daher wurzelt alles besondere Zeigen in der Reflexivität des Selbstverweises, der gleichwohl für den Zeigenden beständig uneinholbar im Rücken bleibt.“ (S.65) MERSCH, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Wilhelm Fink Verlag 2002.
Simulation Baudrillards Theorem der Simulation fußt gleichsam auf zwei Fundamenten: einem medientheoretischen und einem politisch-ökonomischen. Der Kern des Konzeptes ist, dass die Einflüsse von Gesellschaft auf Medien und umgekehrt in der Hyperrealität und Simulation kulminieren und die Modelle der Realität, die sie beschreiben, vorausgehen. Die Zeichen sind referenzlos geworden und das philosophische Prinzip von Wahrheit und Realität scheint aufgehoben.
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„Kunst ist daher überall, denn das Künstliche steht im Zentrum der Realität. Die Kunst ist daher tot, nicht nur weil ihre kritische Transzendenz tot ist, sondern weil die Realität selbst – vollständig von einer Ästhetik geprägt, die von ihrer eigenen Strukturalität abhängt – mit ihrem eigenen Bild verschmolzen ist.“ (S.119) „Im ästhetischen Stadium der politischen Ökonomie, das dasjenige einer zwecklosen Zweckhaftigkeit der Produktion ist, bricht der ethische und asketische Mythos der Akkumulation und der Arbeit zusammen. Das Kapital, das Gefahr läuft, in dieser Verflüssigung der Werte zugrunde zu gehen, blickt daher nostalgisch auf seine große ethische Zeit zurück, in der das Produzieren noch einen Sinn hatte, auf das goldene Zeitalter des Mangels und der Entwicklung der Produktivkräfte. Um die Zweckbestimmungen wiederaufzurichten, um das Prinzip der politischen Ökonomie wiederzubeleben, muß man auch den Mangel wiederherstellen.“ (S.57) BAUDRILLARD, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz Verlag 1982.
Bilderbegriffe – Glossar
Sinnbild Bildlich dargestellte Metaphern bzw. Allegorien, welche einen Begriff figurativ illustrieren (z.B. die Bilder in Ripas „Iconologia“). A Iconologia
Spektakel Bilder stehen hier für die Behauptung des Scheins. Das gesellschaftliche Verhältnis, Welt, wird durch Bilder vermittelt. „Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einem gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudowelt, Gegenstand der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Welt des Bildes wieder, in dem sich das Verlogene selbst belogen hat.“ (S.13f.) „Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens. Das Spektakel als Tendenz, durch verschiedene spezialisierte Vermittlungen die nicht unmittelbar greifbare Welt zur Schau zu stellen, findet normalerweise im Sehen den bevorzugten menschlichen Sinn [...].“ (S.19) DEBORD, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Edition Tiamat: Berlin 1996.
Sprachbilder → Metapher
159 Studium und Punctum Von Roland Barthes in seinem letzten Buch „Die helle Kammer“ entwickelte, sehr subjektive und vom Betrachter ausgehende Analyse- bzw. besser gesagt, Beschreibungsmethode von Fotografien. Das „studium“ ist kulturell codiert und kann sprachlich beschrieben werden. „[...]: es ist das studium, was nicht bedeutet, jedenfalls nicht in erster Linie, „Studium“ bedeutet, sondern die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit. [...] Das studium ist eine Art Erziehung (Wissen und Wohl-
Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
verhalten), die es mir gestattet, den „operator“ wiederzufinden, die Absichten nachzuvollziehen, die seine Vorgehensweise begründen und befruchten, sie jedoch in gewisser Weise in der Umkehrung erfahren, gemäß meinem Willen als „spectator.“ (S.21 f.) Das studium kann durch das punctum aus dem Gleichgewicht gebracht werden, ein vom Fotografen Nicht-Gemeintes, nicht intendiertes: „Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin es nicht ich, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewusstsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. [...] Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; den punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt - und Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ (S.22f.) BARTHES, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1989.
Symptom
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„Gelegentlich haben sich Kunsthistoriker bemüht, nach kantianischer oder neukantianischer Art die Ausdehnung und die Grenzen ihrer eigenen Disziplin zu kritisieren. Doch haben sie sich dabei in jeder Weise - und immer noch nach neukantianischer Art - selber ins Behelfszentrum des Wissens, das sie produzierten, gerückt. Zwar haben sie ihre Augen geschärft, ihrer Praxis zu einem ‚Bewußtsein‘ verholfen, alle Naivitäten - sagen wir: fast alle Naivitäten widerlegt. In Bildern der Kunst haben sie nach Zeichen, Symbolen oder der Erscheinung stilistischer Numina gesucht, aber selten nur haben sie das Symptom angeblickt, weil der Anblick des Symptoms bedeutet hätte, daß sie ihre Augen im zentralen Riß der Bilder, jener unheimlichen Wirkungskraft, aufs Spiel setzen.“ (S.167) DIDI-HUBERMANN, Georges: Vor einem Bild, München: Hanser Verlag 2000.
Techniken des Bildes „Die Erfindung von Kupferstich und Lithografie für die Reproduktion von Bildern in Büchern sowie v.a. von Fotografie und Film als Speichermedien im 19. Jh. bedeutete einen entscheidenden Schritt zur Technisierung der Visualisierung. Sie übte einen großen Einfluss auf die Verbreitung u. Objektivierung des Wissens in Massenmedien aus. Das Bedürfnis nach einer ‚Plastizität‘ des Kommunikationsmediums, das von Sprache und Schrift nur wenig erfüllt
Bilderbegriffe – Glossar
werden kann, sowie nach einer international verständlichen Zeichensprache führte auch zu weltweit verbreiteten Formen von Bildschriften wie Icons, Piktogrammen u. visuellen Symbolen. Die Entwicklung der elektronischen Technologien (Fernsehen, Video- und Computertechnik) im 20. Jh. eröffnete der Bildkommunikation bislang nicht gekannte Übertragungs- und Vervielfältigungsmöglichkeiten (Massenmedien). Digitale Bildtechniken (digitale Fotografie, CCD) haben darüber hinaus eine neue Phase der V. eingeleitet. Die Fülle daran anschließender visueller Technologien, wie sie besonders für die Wissenschaften und Künste relevant sind, tendieren dabei zur Konvergenz, wie sich auch Film, Fernsehen und Computer zu einem einzigen Medium zu vereinheitlichen beginnen. Insbesondere führt die Digitalisierung zur Auflösung der Unterscheidung von Original und Kopie sowie zur Entgrenzung von Raum und Zeit bis hin zu einer Verschmelzung von wahrnehmendem Subjekt (Betrachter) und wahrgenommenem Objekt im Bildraum ‚virtueller Wirklichkeiten‘ (virtuelle Realität). Die grundlegenden Erweiterungen und Veränderungen menschlichen Sehens durch die Technik geben entsprechend Anlass zu philosophisch-ästhetischen Betrachtungen und praktisch-ethischen Erwägungen über Bedeutung und Verwendung der technischen Möglichkeiten durch den handelnden Menschen.“ Dieter Mersch, Literaturangabe siehe Visualisierung.
Technisches Sehen Sehen ist technisch bedingt und über anschauliche Prozesse der Bildorganisation kulturell geprägt. Man sieht genau das, was die jeweiligen technischen Bedingungen der Bilderzeugung und Bilderverbreitung zulassen. Technisches Sehen wird gemeinhin mit der perspektivischen Konstruktion dreidimensionaler Objekte auf der Bildfläche verbunden. Das ist aber eine unzulässige Verkürzung, vor allem dann, wenn technisches und perspektivisches Sehen nicht nur gleichgesetzt werden, sondern dabei die naive Auffassung vorherrscht, dass hierdurch ein lang andauernder, aber absehbarer finaler Prozess räumlich perfektiver Illusion angezeigt sei. Technisches Sehen ist aber nicht allein auf den historischen Stand von visuellen Darstellungsverfahren (z.B. der Perspektive) reduzierbar, denn was gesehen wird, folgt Prinzipien, Ordnungen und Strukturen, die im gesellschaftlichen Leben und Handeln der Akteure eingebunden sind. Das, was in Bezug von Bildfläche und Bildraum sichtbar ist, weist auf eine Sichtbarkeitsordnung zurück, die im praktischen Leben erworben und genutzt wird. Seit der spätrömischen Kulturindustrie sind die technischen Verfahren auf gesellschaftliche Prozesse bezogen. Fasst man die Rahmenbedingung der Fläche, auf der optische Phänomene erkennbar sind, abstrakter, lassen sich im historischen Wandel der technischen Nutzung der Bildfläche gleichbleibende Ausgangsbedingungen erkennen: Die sichtbare Oberfläche verändert sich mit den technischen Methoden und den geistigen Modellen nur dem Grad nach, nicht abso-
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
lut. Technisches Sehen verkörpert eine Kulturgeschichte von Schnittstellen mit ganz unterschiedlichen Bildträgern wie Felswänden, geputzten Wände, grundierten Holztafeln, belichtetem Papier, Kadrierung, Projektionsflächen, Flachbildschirmen etc., die alle auf die Kunst und Technik der Fläche bezogen sind. Die Geschichte der Flächenkunst wird erst in der jüngsten Gegenwart bewusst, weil die Operationalität von Bildebenen, visuellen Schichten und das beliebige Versetzen von Frames (Menüs, Icons, Buttons, Clous etc.) eine ungeheure Dynamik im technischen Sehen hervorgebracht hat. Technisches Sehen ist im hohen Grade komplex, wenn heutzutage zwischen Bildebenen, Bildprozessen und Bildordnungen geschaltet wird. So wie wahrscheinlich die Entstehung und Ausbreitung der Fotografie nicht ohne geistige Schaltbilder wie „Nachbilder“ oder nicht ohne den gesellschaftlichen Darstellungsbedarf von Portrait entstanden ist, so ist das gegenwärtige, technische Sehen nicht die ohne gesteigerte Fähigkeit des Umschaltenkönnen denkbar. Wahrscheinlich deutet der gegenwärtige kulturelle Prozess auf anderes Verständnis von Technik und Bildfläche, so dass man annehmen kann, dass die Logik des verknüpfenden Sehens und die Virtuosität im Umschaltenkönnen sich nicht im Anschauen von Displays erschöpfen wird, sondern auf eine geistige Ordnung hinausweist, die noch nicht begriffen ist. Die überkommene und sich oft gewandelte Kunst der Fläche bis hin zu den Schnittstellen und Displays ist – so scheint mir – in ein Stadium der Zerrissenheit und Gerissenheit ihrer Nutzer eingetreten. Siehe hierzu u.a.: BUSCHOR, Ernst: Technisches Sehen, Festrede – gehalten in der öffentlichen Sitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München am 28. Oktober 1949, München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in Kommission bei der C.H. Beck’schen Verlagsbuchhandlung 1952. CRARY, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden: Verlag der Kunst 1996. REICHLE, Ingeborg; SIEGEL, Steffen; SPELTEN, Achim: Visuelle Modelle, München: Wilhelm Fink Verlag 2008.
Trugbild 162
Trugbilder wollen ‚trügen‘, daran hängt mittlerweile eine ganze Industrie illusionistischer Bildmedien. Der Vorteil der Trugbilder kann sogar sein, dass sie sich auf besonders wirklichkeitsnahe Weise täuschen und dadurch eine Referenz zur Wirklichkeit als Wirklichkeit erlauben. Dies muss man allerdings bei allen illusionistischen Täuschungen und Trugbildern in Kauf nehmen und abwägen, ob sie, weil sie ‚trügen‘ und ‚manipulieren‘, den Bezug zu den faktischen Gegebenheiten verändern: Trugbilder sind als willkommene Verführungen durchschaubar, Betrugsbilder aber entstellen den referenten Bezug bewusst. Edmund Husserl berichtet 1905/05 von einem irritierenden Erlebnis in Berlin, indem er eine ‚Geste einer Person‘ in einem Berliner Panoptikum falsch gedeutet habe:
Bilderbegriffe – Glossar
„Werden wir uns plötzlich der Täuschung bewusst, dann tritt das Bildlichkeitsbewußtsein ein. Aber in diesen Fällen will es sich nicht auf die Dauer durchsetzen. Die Wachsfigur gleicht mit ihren wirklichen Kleidern, Haaren usw., ja selbst in den durch mechanische Vorrichtung künstlich nachgeahmten Bewegungen so sehr dem natürlichen Menschen, dass sich momentan immer wieder das Wahrnehmungsbewusstsein durchsetzt. Die imaginative Auffassung fällt weg. Wir ‚wissen‘ zwar, dass es Schein sei, aber wir können uns nicht helfen, wir sehen einen Menschen. Das begleitende begriffliche Urteil, es handle sich um ein blosses Bild, wird wirkungslos gegenüber dem Wahrnehmungsschein, und die Neigung, ihn für die Wirklichkeit zu nehmen, ist so gross, dass ‚wir‘ für Momente sogar glauben möchten. [...] Wachsfiguren, aufs genaueste die Wirklichkeit nachahmend, mit wirklichen Kleidern behängt, mit echten Haaren ausgestattet usw. geben Wahrnehmungserscheinungen von Menschen, die sich mit den abgebildeten so vollkommen decken, dass die Momente der Differenz ein reinliches und klares Differenzbewusstsein, d.h. ein sicheres Bildlichkeitsbewußtsein nicht erzeugen können. Dies aber ist das wesentliche Fundament für die Möglichkeit ästhetischen Fühlens in der bildenden Kunst. Ohne Bild keine bildende Kunst. Und das Bild muss sich klar von der Wirklichkeit scheiden, d.h. rein intuitiv, ohne alle Beihilfe von indirekten Gedanken.“ (S.40f.) HUSSERL, Edmund: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung: zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898-1925), hg. von Eduard Marbach, Dordrecht: Kluwer Verlag 1980 Husserliana, Bd. 23. „Husserl wußte, als er das Panoptikum aufsuchte, daß er eine auf Täuschung berechnete Welt betrat. Dennoch möchte er ein täuschungsfreies Bildbewusstsein gewahrt sehen. Offensichtlich stört ihn, dass das Trugbild eine Wirkung erreicht hat, die in der Lebenswelt ihren Platz hat. Husserl hebt jedoch nicht auf die medialen Unterschiede ab, sondern auf das in beiden Bereichen gleichbleibende Bewusstsein, das in der Lage ist, die bilderzeugenden Vorgänge zu unterscheiden. Der naïve Wechsel von Alltag und Panoptikum bleibt versagt bzw. findet für den Philosophen, der immer im Dienst ist, nicht statt.“ (S.140f.) ENGELBERT, Arthur: Von Eleusis nach Las Vegas. Anmerkungen zur Phänomenologie des Sehens, in: Ernst, Karl, „Understanding Machines II – Platons Höhle“, Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen: 1995.
Urbild – Urtümliches Bild – Archetpus Innerhalb der seit Anfang des 20. Jahrhunderts sich zu einer eigenständigen Wissenschaft ausbildenden Psychologie als Tiefenpsychologie gebraucht C.G. Jung in Anlehnung an Jacob Burckhardt u.a. die Wendung ‚urtümliches Bild‘. Interessant sind Jungs Überlegungen zum Urbild bzw. Archetypus bis heute, weil sie erlauben, die Migration von Formen in visuellen Prozessen zu diskutieren und zu erkennen, wie im Gebrauch von Bildern Grundmuster enthalten
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
sind, warum diese auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten weiter gereicht werden und warum sie als Grundmuster variabel bzw. modifizierbar sind. Jung unterscheidet ‚Urbild‘, ‚Urgedanke‘ (Adolf Bastian), ‚Archetypus‘ (Corpus Hermeticum, 3. Jh.) und ‚Idee‘ (Plato) als Präfigurationen der Vorstellungen: „‚Archetypus‘ ist nun nichts anderes als ein schon in der Antike vorkommender Ausdruck, welcher mit ‚Idee‘ im Platonischen Sinne synonym ist.“ (S.91) „Da alles Psychische präformiert ist, so sind es auch die dessen einzelne Funktionen, insbesondere jene, welche Unmittelbar aus unbewußten Bereitschaften hervorgehen. Dazu gehört vor allem die schöpferische Phantasie. In den Produkten der Phantasie werden die ‚Urbilder‘ sichtbar, und hier findet der Begriff des Archetypus seine spezifische Anwendung.“ (S.94) „Ich begegne immer wieder dem Mißverständnis, daß die Archetypen inhaltlich bestimmt, das heißt eine Art unbewußter ‚Vorstellungen‘ seien. Es muß deshalb nochmals hervorgehoben werden, daß die Archetypen nicht inhaltlich, sondern bloß formal bestimmt sind, und letzteres in nur sehr bedingter Weise. Inhaltlich ist ein Urbild nachweisbar nur, wenn es bewußt und daher mit dem Material bewußter Erfahrung ausgesfüllt ist. Seine Form dagegen ist, wie ich andernorts erklärt habe, etwa dem Achsensystem eines Kristalls zu vergleichen, welches die Kristallbildung in der Mutterlauge gewissermaßen präformiert, ohne selber eine stoffliche Existenz zu besitzen. Letztere erscheint erst in der Art und Weise des Anschließens der Ionen und dann der Moleküle. Der Archetypus ist ein an sich leeres, formales Element, das nichts anderes ist als eine ‚facultas praeformandi‘, eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform.“ (S.95) JUNG, C. G.: Gesammelte Werke und andere Schriften, Bd. 9/I: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, 8. Aufl., Olten: Walter Verlag (Patmos Verlagshaus seit 2007) 1992.
Verfolgte Objekte
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„Beobachtet man ein wenig vorausschauend die Entwicklung neuer Bildstandards, so scheint in der näheren Zukunft eine erstaunliche Begegnung bevorzustehen: Gesichter werden Namen haben und die Namen lassen sich als Objekte verfolgen. Die beiden involvierten Techniken heißen „Object Tracking“ und „Face Recognition“. Die eine erlaubt es, Objekte in Bildern zu verfolgen, die andere erkennt Gesichter. Mit verschärften Sicherheitsanforderungen ist der Bedarf an Verfahren zur Gesichtserkennung sprunghaft gestiegen. [...] Der Verfolgung von Subjekten in Bildern steht die Verfolgung von Objekten gegenüber. „Object Tracking“ heißt eine Technik, bewegte Dinge in bewegten Bildern zu markieren, um sie dann als Links auf andere Daten einzusetzen. Die Methode der Hypertext Markup Language HTML, der Standard, der 1994 begonnen hat, das Internet zu erobern, wird damit auf bewegte Bilder ausgedehnt. [...] Wenn dem Bild eines Gesichtes in Zukunft der Name abgelesen werden kann, und wenn bewegliche Bildobjekte symbolisch zu adressieren sind, er-
Bilderbegriffe – Glossar
reichen zwei Vorboten einer epochalen Wende die visuellen Oberflächen. Die vertraute Trennung zwischen Lesen und Sehen, zwischen einem diskreten Code und einem kontinuierlichen Raum von Ähnlichkeiten wird geschleift und zwar dort, wo der Mensch im Bild auftaucht. Welche Kulturtechniken, welche Exzesse der Kontrolle und des Spiels damit die Oberflächen der Bilder erreichen werden, lässt sich kaum prognostizieren und wird sich wohl einmal mehr nach der nun schon vertrauten Methode von trial and error herausstellen, die alle medientechnischen Innovationen der Gegenwart begleitet. Zu viele bislang getrennt laufende Datenflüsse werden von neuen Einheiten Objekt und Adresse, von Name und Gesicht kurzgeschlossen, als dass man die über ihnen entstehenden Oberflächen vorausahnen könnte.“ (S.95-99) HEIDENREICH, Stefan: Verfolgte Objekte, in: Neue Rundschau, 4, 2002.
Visiotype Der Freiburger Sprach- und Medienwissenschaftler Uwe Pörksen prägt den Begriff „Visiotyp“. Dieser bezeichnet für ihn einerseits einen „Denkstil“ und andererseits ein „global wirksames Zeichen“. Pörksen untersucht die an Macht gewinnende und zunehmend standardisierte Form der visuellen Vermittlung von Realität durch technische Bilder. Dabei geht es Pörksen nicht um das eigentlich Ikonische des Bildes, keineswegs um Kunst: Visiotype sind v.a. in der Wissenschaft und den Medien verwendete Bilder, häufig grafische Kombinationen von Bild, Schrift und Zahl (z.B. die seit den 90er Jahren in den Medien viel verwendeten sogenannten Info-Grafiken). Pörksens Ansatz ist kein bildwissenschaftlicher Ansatz an sich; er berührt und kritisiert v.a. Aspekte des Bildgebrauchs. Mit dem Begriff ‚Visiotyp‘ kritisiert Pörksen eine Vermittlung, Formung und Manipulation der Realität durch suggestive, massenhaft verbreitete technische Bilder. An Foucaults Untersuchungen zur Verbindung von Wissen und Macht anlehnend, werden hier Veränderungen der visuellen Kultur analysiert und kritisiert. „Auf der einen Seite denke ich an eine bestimmte Art des visuellen Zugriffs auf die Realität, an einen Typus standardisierter Veranschaulichung. Es gibt eine breite Skala von typischen Formen, Zahlenbilder, Instrumentenbilder und Figuren zu präsentieren: Visiotype im allgemeineren Sinn. Daneben aber gibt es einzelne herausragende universelle Visiotype wie die ‚exponentielle Weltbevölkerungskurve‘, die ‚Doppel-Helix‘ oder den ‚Blauen Planeten‘; man könnte sie auch globale visuelle Idole nennen. Aber die Wörter wie ‚Idol‘, ‚Emblem‘, ‚Symbol‘, ‚Icon‘ sind in unserer Sprache geschichtlich stark vorgeprägt. Daher bevorzuge ich den Kunstausdruck.“ (S.10f.) „Visiotypie [...] ist der Hang zur Veranschaulichung. Ich gebrauche das Wort ‚Visiotyp‘ parallel zu ‚Stereotyp‘ und meine zunächst diesen allgemein zu beobachtenden, durch die Entwicklung der Informationstechnik begünstigten Typus sich rasch standardisierender Visualisierung. Es ist eine durchgesetzte Form der Wahrnehmung und Darstellung, des Zugriffs auf ‚die Wirklichkeit‘.
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
Aus dem Meer typisierender Veranschaulichungen erheben sich aber immer wieder einzelne Visiotype, die wiederkehren und kanonisiert werden, zu öffentlichen Sinnbildern avancieren, zu Signalen der Drohung oder Verheißung, internationalen Schlüsselbildern. [...] Wir sind umgeben von solchen Zeichen, sie sind die großen Stimmungsmacher der Epoche. Denn wichtiger als die Schlagwörter sind inzwischen die Schlagbilder, faszinierender als die Schlüsselbegriffe, diese Schlüsselreize des Bewusstseins. [...] Die globalen visuellen Zeichen sind strahlkräftige Stereotype: Schlüsselbilder. Sie sind umgeben von einem starken Assoziationshof von Gefühlen und Wertungen, sind ‚konnotatstark‘, wie man sprachwissenschaftlich sagen könnte. [...] Diese Mädchen für alles sind in sprachwissenschaftlicher Ausdrucksweise strahlkräftige, ‚konnotative Stereotype‘, die globalen visuellen Zeichen wären in vergleichbarer Weise ‚konnotative (eben nicht verbale, sondern visuelle) Stereotype‘.“ (S.27ff.) PÖRKSEN, Uwe: Der Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart: Klett-Cotta 1997.
Visualisierung Der Begriff umfasst alle Arten visueller Repräsentation und Sichtbarmachung. In jüngster Zeit hat der Begriff eine Erweiterung erfahren, indem ebenfalls die Gestaltung von Dingen und Oberflächen sowie visuelles Wissen und Forschen mit einbezogen wird.
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„Im 20. Jahrhundert erfuhr die Visualisierung ebenfalls Zustimmung wie Ablehnung. Bertold Brecht erkannte die Manipulierbarkeit durch Bilder und sah ›die Fotografie in den Händen der Bourgeoisie zu einer furchtbaren Waffe gegen die Wahrheit‹ werden. W. Benjamin feierte dagegen mit dem Film das Aufkommen einer neuen politischen Kunstform für das Proletariat. Ähnlich sah Kurt Tucholsky in der Bildpresse ein Mittel zu Bildung und Welterfahrung. In diesem Sinne gilt seine Aussage: ›Ein Bild sagt mehr als tausend Worte‹, mit der er die hohe Informationsdichte opt. Wahrnehmung anspricht, die schnell nachvollziehbar ist und mit dem Eindruck, die Dinge mit eigenen Augen sehen und miterleben zu können, Glaubwürdigkeit vermittelt. Der Vorrang von Sprache und Textualität hat allerdings bes. in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Abwertung des Visuellen geführt, v.a. durch die Dominanz des Konstruktivismus in den Naturwissenschaften und des Strukturalismus in den Geisteswissenschaften bis hin zu einem alleinigen Interesse an Textualität Schriftlichkeit durch den französischen Philosophen Jacques Derrida (* 1930). Der französische Soziologe Jean Baudrillard (* 1929) spricht mit Bezug auf die audiovisuellen elektronischen Medien von der endlosen Angleichung des Menschen an sich selbst, indem der Betrachter sich auf dem Fernsehbildschirm in der anonymen Masse allseits vervielfacht findet und dabei doch stets nur bei sich selbst bleibt. Das Sehen ist nicht mehr ›organisches Berühren‹ wie die Wahrnehmung der umgebenden Welt, sondern ›digitales Abtasten‹, ›hautnahes Aufeinanderstoßen‹ von
Bilderbegriffe – Glossar
Auge und Bild, das sich paradoxerweise zugleich in einer unüberwindbaren Entfernung befindet. Auch der französische Urbanist Paul Virilio (* 1932) hebt kritisch die Fremdbestimmtheit des Menschen durch die neuen Medien hervor. Ursprüngliche Empfindungen und eigenes Entdecken werden zunichte gemacht; die optische Täuschung wird zur Wahrheit des Lebens, zum Surrogat, das aktuelle Wirklichkeit (wie Leid und Elend) vergessen lässt und umgekehrt zu einer „Überbelichtung“ oder „Blendung“ durch die Bilder führt. Dagegen prognostiziert der tschechisch-brasilianische Medientheoretiker Vilém Flusser nach einer primären Bildlichkeit archaischer Kulturen und deren Ablösung durch den „alphanumerischen Code“ der europäischen Schriftkultur im Computerzeitalter eine Hinwendung zu neuer Vorherrschaft von visuellen Formen, die jedoch nicht mehr „Abbilder“, sondern „Vorbilder“ seien. Der Ausdruck Visualisierung gewinnt dabei einen durchweg konstruktiven Sinn. – Allgemein sehen Kulturpessimisten den Bedeutungsrückgang von Schrift und Sprache als Dilemma der gegenwärtigen Kultur an und führen den wachsenden Sekundäranalphabetismus in hoch entwickelten Industrienationen auf die Verbreitung audiovisueller Medien zurück. Überhaupt hat die Entwicklung der Wissenschaften im 20. Jahrhundert von der Visualisierung und der Einführung neuer visueller Techniken profitiert (z.B. Röntgenologie, Elektronenmikroskopie, MRT). Erkenntnisse der Atomphysik, der Molekularbiologie und Genetik und anderer Naturwissenschaften verdanken sich in hohem Maße den unterschiedlichsten Verfahren visueller Modellierung. Diese erweisen sich als unverzichtbar zur Herstellung, Konstruktion und Vermittlung wissenschaftlicher Fakten. Zahlreiche Bilder avancierten dabei zu öffentlichen Ikonen wie das Atommodell, die Mandelbrotmenge oder die DNA und trugen so zur Popularisierung und Ästhetisierung des allgemeinen Wissens bei. In dieser Hinsicht kann heute von einer „Piktoralisierung“ der Wissenschaften und ihrer öffentlichen Rezeption gesprochen werden. Eine wichtige kulturwissenschaftliche Ausweiterung hat der Begriff Visualisierung in letzter Zeit durch das Konzept der „Visuellen Kultur“ (visual culture) v.a. im angloamerikanischen Raum erfahren (Nicholas Mirzoeff). Danach kommt dem Visuellen eine konstitutive Funktion nicht nur für Wissenschaft und Kunst zu, sondern für die gesamte Alltagskultur. Abgelöst wird die Vorstellung von der Kultur als Text oder Diskurssystem im Sinne des für Philosophie und Kulturtheorie des 20. Jh. maßgeblichen „lingustic turn“ (Richard Rorty) durch einen „pictorial“ bzw. „iconic turn“ (William J. T. Mitchell, Gottfried Boehm). Untersucht wird neben der Globalisierung von Bildkonzepten und der Bildmigration die visuelle Durchdringung der Wirklichkeit als Kennzeichen „postmoderner Kulturen“. Gemeint ist die Verbreitung von „Weltbildern“, Klischees und Images sowie ihr Konsum, ihre unbewusste Wirkung, ihr Einfluss auf kulturelle Gedächtnisse, auf Literatur, Sprache und soziale Selbst- und Fremdbeschreibungen. Ihre Erforschung bedarf allerdings neuer Methoden wie die visuelle Alltagsethnologie oder die Sammlung und Archivierung des Bildwissens unterschiedlicher Kulturen. Folgt dabei die technologische Entwicklung der Visualisierung
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
der Maßgabe und Funktion technischen Innovationen, muss umgekehrt nach dem Einfluss globaler „Bilderfluten“ und dem Umgang mit ihnen gefragt werden. Es scheint sich die Notwendigkeit abzuzeichnen, v.a. in Anbetracht der Unüberschaubarkeit der opt. Informationen aus den verschiedensten Medien, kompensatorische Methoden ihrer Verarbeitung, d.h. eines eigentlichen ›Sehens‹, zu entwickeln.“ Visualisierung, gekürzter und leicht veränderter Beitrag von Dieter MERSCH, in: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bde., 21. Aufl. 2006-2006, u.a. mit Bezug auf folgende Literatur: BAUDRILLARD, Jean: Das Andere selbst. Habilitation, 2. Aufl., Wien: Passagen Verlag 1994. VIRILIO, Paul: Die Sehmaschine, 1989. BELTING, Hans: Bild und Kult, München 1990. DOMSICH, Johannes: Visualisierung – Ein kulturelles Defizit? Der Konflikt von Sprache, Schrift und Bild, u. a. Wien: Böhlau Verlag 1991. MÜLLER, Karl H.: Symbole, Statistik, computer design. Otto Neuraths Bildpädagogik im Computerzeitalter, Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky 1991. HOFBAUER, Johanna; PRABITZ, Gerald; WALLMANNSBERGER, Josef: Bilder, Symbole, Metaphern. Visualisierung und Informierung in der Moderne, Wien: Passagen Verlag 1995. GOODMAN, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, 5. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997. GALISON, Peter: Image and Logic, Chicago: University of Chicago Press 1997. MIRZOEFF, Nicholas: An introduction to visual culture, London, New York 1999. HEINTZ, Bettina; HUBER, Jörg (Hg.): Mit dem Auge denken, Zürich 2001. GEIMER, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002.
Visuelles Denken – Anschauliches Denken/ Gedankenbilder/ Gedächtnisbilder
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Der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim lieferte u.a. mit seinem Buch „Anschauliches Denken“ (erstmals erschienen 1969) wichtige Forschungsergebnisse über visuelle Wahrnehmung und deren Wirkung auf das Denken. Grundsätzlich untersucht Arnheim die Verflechtung von Sinneswahrnehmung und Denken. Er konzentriert sich dabei auf den wohl einflussreichsten menschlichen Sinn, das Sehen, und damit auf die Bildhaftigkeit des Denkens. Er widerlegt zu seiner Zeit einflussreiche Auffassungen, dass menschliches Denken grundlegend an Sprache gebunden sei, d.h. der Mensch mehr oder weniger in Begriffen denken würde. Arnheims Studien bereiten daher auch den späteren „iconic turn“ der Kulturwissenschaften vor. Mit der Formel vom „anschaulichen“ oder „visuellen Denken“ macht Arnheim die Macht optischer Eindrücke auf das menschliche Denken deutlich. Dafür führt er Begriffe wie Gedanken- oder Gedächtnisbilder ein (Siehe S.99f.). Visuelles Denken umfasst assoziative Verknüpfungen, ohne auf Begriffe angewiesen zu sein. Assoziativ heißt, dass die Verknüpfungen frei von logischen und strukturellen Beziehungsmustern sind. Es ist durchaus möglich, die nachvollziehbare
Bilderbegriffe – Glossar
Stringenz im Sinne von visuellen Argumentationsmustern hervorzu heben, von daher kann man beim visuellen Denken auch von einem Denken in Bildern „sprechen“. Siehe ARNHEIM, Rudolf: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln: DuMont Verlag 1972.
Vorfabriziertes Sehen „Indem zwischen Techniken der Verbildlichung, Techniken des Sehens, Techniken der Beschreibung und Techniken in der Technologisierung unterschieden wird, ist es möglich, die formalen Mittel auch inhaltlich zu bewerten. Nur so ist eine Kritik gegenüber dem Vollzugszwang der Technik und den Nivellierungen durch Standards möglich. Mit anderen Worten: Es ist eine neue Perspektive auf bildliche Leistungen gegeben, wenn sie als erworbene Techniken des Bildes von dem historischen Stand der jeweiligen Kulturtechnik unterschieden werden.“ ENGELBERT, Arthur: Bildanalyse und technologischer Standard – ein kritischer Rückblick auf Multimedia, in: zeitenblicke 2, Digitale und digitalisierte Kunstgeschichte: Perspektiven einer Geisteswissenschaft im Zeitalter der Virtualität, hg. von Katja Kwastek und Hubertus Kohle, Nr. 1, 2003, http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/engelbert/index.html; Stand: August 2004.
Weltkunst Luhmann prägt diesen Begriff in Anlehnung an Goethes Begriff der Weltliteratur, indem er systemtheoretisch beschreibt, was Kunst ist und was Kunst macht: Kunst ist eine bestimmte Beobachtungsweise der Welt, welche die Welt sowohl erster als auch zweiter Ordnung beobachten kann. Da die Welt an sich unbeobachtbar ist, ist ihre Beobachtung nur durch Beobachtungen von Beobachtern möglich. Weltkunst ist in keinerlei kunstpraktischem, geograpfischem oder universellem Sinn zu verstehen; der Begriff zeigt an, dass Kunst die Welt beobachtet – durch Beobachtungen in der Welt und von der Welt. „Nach allem, was gesagt worden ist, kann es in der Kunst also nicht darum gehen, die Welt besser zu beobachten, als dies auf andere Weise, etwa wissenschaftlich, möglich ist. Jede solche Auffassung müßte sich zur Ontologie einer vorhandenen Welt bekennen, die mit einem zweiwertigen, sei es logischen, sei es ästhetischen Schematismus beobachtet wird, wobei der Negativwert des Schematismus nur dazu dient, die Beobachtung auf Fehlleistungen hin zu kontrollieren und zu verbessern. Wir verstehen unter „Weltkunst“ nicht eine Kunst, die die Welt beim Beobachtetwerden beobachtet
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Anhang I: Glossar zu Bilderbegriffen
und dabei auf Unterscheidungen achtet, von denen abhängt, was gesehen und was nicht gesehen werden kann.“ (S.40) LUHMANN, Niklas: Weltkunst, in: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt: über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux Verlag 1990.
Wunschbilder Der Bezug von Wunsch und Bild führt ins Reich der Phantasie, der Triebkräfte und der Vorstellung: „In diesem Dazwischen, das im Zwischenraum der Abstraktion und Konkretisierung, in der Zwischenzeit zwischen dem Noch-Nicht und dem Nicht-Mehr und im Zwischen-uns, in der sozialen Konfiguration zwischen Niemand und Jemand, angesiedelt ist, findet der Wunsch die Welterfindung und erzeugt die geschaffene Wirklichkeit den Wunsch, sie erneut zu verändern.“ (S.10) NOWOTNY, Helga: Die Erfindung der Zwischenwelt: Zwischenräume, Zwischenzeiten, Zwischen Niemand und Jemand, in: Katalog Wien: Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 19. Jahrhundert, hg. von Brigitte Felderer, Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1999.
Wissenschaftliche Bilder
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Nicht nur das, was vorstell- oder beschreibbar ist, sondern ebenso auch das, worüber Daten und Fakten in Form von Zahlen mit Bezug auf „Objekte“ oder Prozesse unterschiedlichster Art informieren, ist visualisierbar. Letzteres ist eine Perspektive, die in der wissenschaftlichen Generierung von Bildern eingenommen wird. Das Objekt der Beobachtung und die Information über das Objekt können voneinander geschieden werden. Das führt letztlich in der Erfindung visueller Welten zu einer Annäherung von künstlerischer Phantasie und wissenschaftlicher Vorstellung. Wenn man sich ein Bild von einer Idee, einem Objekt oder einem Sachverhalt machen kann, entstehen visuelle Festlegungen, die gemeinhin subjektiv oder objektiv legitimiert werden können. Im Ausschöpfen des anschaulichen Spielraumes reklamieren bekanntlich die visuellen Künste einen Vorrang gegenüber den exakten (Natur-)Wissenschaften, die Daten und Informationen über Objekte oder Sachverhalte in unterschiedlichen Bildtypen veranschaulichen. Visualisierungen haben in wissenschaftlichen Prozessen ein weites Anwendungsfeld. „Wissenschaftliche Bilder“ begleiten in vieler Hinsicht den gesamten Arbeitsprozess von der Ideenfindung bis zur Öffentlichkeitsarbeit. Neben Illustrationen oder Demonstrationen des Arbeitsprozesses können „Wissenschaftliche Bilder“ z.B. im Nanobereich ohne Referenzen auskommen; sie si-
Bilderbegriffe – Glossar
mulieren mitunter nur noch die Grammatik des Verfahrens. Damit kommen sich künstlerische Phantasie und wissenschaftliche Manipulation von Daten näher, jedoch mit dem Unterschied, dass wissenschaftliche Bildgenerierungen letztlich einem überprüfbaren Zweck folgen. Kunst und Wissenschaft treten in ein neues Stadium ihres Verhältnisses zueinander. In dem offenen Austausch liegen Chancen einer subjektkritischen Kreativität einerseits und einer nicht mehr nur wissenschaftlichen Objektivität andererseits, die erst in Ansätzen begreifbar werden. Vgl. BREDEKAMP, Horst; WERNER; Gabriele (Hg.): Bilder in Prozessen, Berlin: Akademie Verlag 2003. Vgl. BREDEKAMP, Horst; Bild, Beschleunigung und das Gebot der Hermeneutik, in: Katalog Berlin: Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin. hg. von Jochen Henning und Udo Andraschke, eine Ausstellung im MartinGropius-Bau Berlin, München: Hirmer Verlag 2010, s.50-65.
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Anhang II: Bibliographie zu Bildertheorien
Vorbemerkung Die folgende Bibliographie hat drei Schwerpunkte: Bildertheorien, Geschichte des Sehens, Visuelle Phänomene. Eine widerspruchsfreie, geschweige denn halbwegs plausible Zuordnung der drei Schwerpunkte kann es nicht geben. Bilder, Sehen und deren Theorie und Geschichte sind die drei Rubriken, die für die Aufteilung stehen. Die Dreiteilung soll eigentlich nur das komplexe Problem verdeutlichen, um das es hierbei geht. Denn es gibt zu Bildertheorien, zur Frage nach dem Sehen bzw. zur visuellen Wahrnehmung, von metaphorischen bis hin zu technischen Augenbewegungen, den Überlegungen zum Blick und dem Beobachter ein unüberschaubar weites Feld von Veröffentlichungen, aus dem hier eine Auswahl zusammengestellt wurde, in der verschiedene Disziplinen mit unterschiedlichen Interessen nebeneinander stehen. Vollständigkeit ist also ebenso ausgeschlossen wie eine widerspruchsfreie Einordnung. So ist die Rubrik „Bildertheorien“ kein Monopol der Kunstgeschichte, denn das Bild als Medium oder als Begriffsgegenstand wird beispielsweise von der Philosophie oder den Medienwissenschaften ebenso mit fachlichen Akzentsetzungen behandelt. „Sehen“ kann als Vorgang der visuellen Tätigkeit einerseits sehr weit oder andererseits technisch bzw. naturwissenschaftlich sehr eng gefasst sein. Dies kommt in den vielen Beiträgen aus dem Bereich der Psychologie zum Ausdruck, die mit den technischen Konstruktionen von Sehen und Blick wenig zu tun haben. Die „Geschichte der Bildertheorien“ bzw. die „Geschichte des Sehens“ erscheinen – verglichen mit den beiden anderen Rubriken – als ein eher übersichtlicher, kulturwissenschaftlicher Bereich.
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Anhang II: Bibliographie zu Bildertheorien
Bildertheorien
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Anhang II: Bibliographie zu Bildertheorien
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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Gertrud Lehnert (Hg.) Raum und Gefühl Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung Januar 2011, 370 Seiten, kart., zahl. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1404-6
Dagmar Venohr medium macht mode Zur Ikonotextualität der Modezeitschrift November 2010, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1451-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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