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German Pages 344 [345] Year 2015
Martina Klausner Choreografien psychiatrischer Praxis
Band 22
Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR) und Allan Young (McGill University Montreal, CAN).
Martina Klausner arbeitet am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung.
Martina Klausner
Choreografien psychiatrischer Praxis Eine ethnografische Studie zum Alltag in der Psychiatrie
Gefördert durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 9 Einleitung | 11 Einführung in Feld, Theorie und Methodologie | 21
Erste Einblicke in das Feld sozialpsychiatrischer Versorgung in Berlin | 21 Psychiatrie als Alltagspraxis: Stabilisierung von Menschen, Dingen und Wissen | 33 Feldforschung und Kollaboration | 43 Wissensanthropologie und Lernen durch Erfahrung | 51 Diagnostizieren als Ko-Produktion von Standards und Skills | 65
Der Weg in die Klinik | 73 Auf der Station: Das Aufnahmegespräch | 76 Disziplinäre Affordanzen: Psychiatrische Standards und Skills im Diagnostizieren | 81 Vom Stellen der richtigen Fragen | 83 Vom Interpretieren von Äußerungen | 90 Der psychiatrische Blick | 96 Diagnostizieren als Versammeln | 102 Stabiles Wissen | 110 Fazit: Diagnostizieren im epistemischen Milieu | 118
Choreografien des Erfahrung-Machens: Vom verrückten Erleben zu einer Erfahrung | 121
Erfahrungen von Patienten als Ressource in der Gesundheitsversorgung | 123 Erfahrung als Konzept in der (Medizin-)Anthropologie | 128 Das stationäre „Erfahrungssetting“ | 136 Vom Bett auf die Couch in den Stuhlkreis: Behandlungsräume im Wandel | 138 Sprechen (und Zuhören) im Stuhlkreis | 141 Die Konfiguration von Erfahrung als Technologie des Selbst | 152 Abweichende Erfahrungen | 163 Fazit: Die soziomaterielle Konfiguration einer Erfahrung | 177 Leben mit und Arbeiten am Körper in der psychiatrischen Behandlung | 181
Abwesende Körper? | 181 Theoretische Perspektiven auf Körperlichkeit | 184 Wie sich psychische Erkrankungen körperlich anfühlen: Drei Erzählungen | 195 Wie man sich dem Körper widmen muss | 210 Sozialpsychiatrische Konzeptualisierungen des Biopsychosozialen | 214 Klinische Körperwidmungen | 222 Fazit: Kompliante Pfade | 244 Verschriebene Zeit und handlungsfähige Patienten: Von der Klinik in den poststationären Alltag | 247
Die Synchronisierung des Alltags | 254 Eine andere stationäre Zeitkultur | 266 Handlungsfähigkeit als Prozess | 270 Anleitung zur Eigenständigkeit | 278 Zwischenfazit: Choreografierte Handlungsfähigkeit | 285 Poststationäre Ökologien des Ver-Sorgens | 288 Fazit: Poststationäre Ko-Produktionen von stabiler Handlungsfähigkeit | 304
Schluss: Choreografien und Pfade als Stabilisierungsprozesse | 307
Sozialpsychiatrisches Choreografieren als „flexible Stabilisierung“ | 309 Die Hartnäckigkeit des Sozialen | 311 Eingesunkene Normen und die Pathologisierung des Sozialen | 312 Subjektivierungseffekte von Sorgepraktiken | 314 Die Ko-Produktion stabiler Pfade | 315 Literatur verzeichnis | 319
Danksagung
Für die vorliegende Arbeit habe ich mich in unterschiedlichen Lernkollektiven bewegt, die mir ermöglicht haben all das Folgende herauszuarbeiten. Allen, die mir im Laufe meiner Arbeit am Berliner Institut für Europäische Ethnologie, auf Tagungen, in Lesekreisen und Arbeitsgruppen begegnet sind und mit mir ihr Wissen geteilt haben, sei an dieser Stelle gedankt. Ganz besonders gilt mein Dank den Menschen, die mir in der Mittendamm-Klinik und darüber hinaus als Austauschpartnerinnen zur Verfügung standen. Ich hoffe, meine Arbeit spiegelt eure Geduld und euren Mut wider, mit denen ihr jeden Tag mit psychischen Erkrankungen lebt und arbeitet. Vor allem danke ich den drei Menschen, die mich für meine Forschung soweit in ihr Leben gelassen haben. Das Forschungsprojekt, in dem diese Arbeit entstand, hat entscheidend davon profitiert, dass es von Anfang an als Experimenterien mit unterschiedlichen Denkstilen gedacht und betrieben wurde. Zum Gelingen dieses Experiments trugen maßgeblich Sebastian von Peter und Manfred Zaumseil bei. Danke für diese einzigartige Ko-Laboration! Eine besondere Mischung an „learning by doing“ und intellektueller Herausforderung habe ich in der Betreuung meiner Arbeit durch Stefan Beck und Jörg Niewöhner erfahren. Bisweilen pragmatisch, aber in der Regel außerordentlich neugierig, aufmerksam und immer inspirierend haben sie mich auf meinem Weg begleitet. Wie wertvoll und besonders dieser intellektuelle Austausch war, wurde mir durch Stefans Tod bewusst. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Für den Lehrer, der niemals choreografiert, aber so vieles ermöglicht hat. Im weiteren Umkreis meines Schreibtisches waren darüber hinaus so viele beteiligt, dass ich nicht jedem namentlich danken kann. Auf besondere Weise haben Katrin Amelang und Milena Bister den Fortgang dieser Arbeit (und vieles darüber hinaus) unterstützt. Und zum Glück besteht das Leben nicht nur aus Forschen und Schreiben! Liebe Familie und Freunde, es ist geschafft!
Einleitung
An einem der ersten Tage meiner Feldforschung auf einer psychiatrischen Station ermöglicht mir eine Ärztin an einer Supervisionsgruppe für die jungen Assistenzärzte der psychiatrischen Klinik teilzunehmen. 1 In der Supervisionsgruppe ist sie an der Reihe, einen ihrer Patienten vorzustellen und diesen Fall mit der Klinikdirektorin und den anderen Stationsärztinnen zu diskutieren. Sie hatte sich kurzfristig für Herrn Friedrichs2 entschieden, nicht weil er diagnostisch so interessant wäre, wie sie ihren Kollegen erläutert, sondern weil der Fall sie aktuell sehr belaste. Sie stellt den Fall vor: Herr Friedrichs sei seit circa zehn Jahren immer wieder auf der Station 29 in psychiatrischer Behandlung, Diagnose: manisch-depressiv. Zur aktuellen Vorgeschichte: Von Januar bis Mai diesen Jahres habe Herr Friedrichs eine massive manische Phase gehabt, seine Lebensgefährtin habe mehrmals versucht, ihn in die Klinik einweisen zu lassen. Da er aber nicht freiwillig bleiben wollte und keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung zeigte, wurde er nicht aufgenommen. Der manischen Phase folgte die aktuelle massive depressive Phase, woraufhin er schließlich aufgrund von Suizidgedanken in die Klinik eingeliefert und nach BGB3 untergebracht wurde. Als es ihm in den letzten Wochen schließlich wieder besser ging, wurden ihm zehn Minuten Ausgang von der Station in Begleitung auf dem Klinikgelände gewährt. Letzten Freitag sei er dann, so sieht die Ärztin es rückblickend, auffal-
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In diesem Buch verwende ich die weibliche wie die männliche Funktionsbezeichnung gleichermaßen und in zufälliger Abfolge. Sofern nicht anders gekennzeichnet, meint dies alle Geschlechter.
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Alle Namen von Personen, mit denen ich im Laufe meiner Forschung zu tun hatte und die in dieser Arbeit erwähnt werden, wurden pseudonymisiert.
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BGB steht für Bürgerliches Gesetzbuch, in dem das Betreuungsrecht geregelt ist, nach dem in bestimmten Fällen Menschen gegen ihren Willen medizinisch behandelt werden können.
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lend ruhig gewesen. Er habe sie nach der Gruppenvisite gefragt, ob er Ausgang bekäme. Sie habe eingewilligt, sich aber kurz gewundert, warum er sie nach Ausgang fragte, da dieser bereits abgestimmt worden war. Er sei daraufhin am späten Nachmittag in Begleitung einer Bekannten in das Klinik-Café gegangen. Von einem Toilettengang dort kam er jedoch nicht mehr zurück und blieb verschwunden. Es sei sofort eine Fahndung eingeleitet worden, aber erst am Samstagabend sei er nach einem schweren Suizidversuch in letzter Sekunde aufgefunden worden. Mittlerweile sei er von der Intensivstation wieder auf die Station verlegt worden. Sie habe das ganze Wochenende versucht, sich abzulenken, doch es sei ihr nicht wirklich gelungen. Sie fände es momentan schwierig, mit ihm weiter zu arbeiten. Zunächst sei sie unglaublich wütend auf ihn gewesen; mittlerweile, das betont sie in der Sitzung mehrmals, habe sie eine andere Sicht darauf und könne durchaus sehen, dass der Suizidversuch ein verzweifelter Hilferuf war. Dennoch: sie fühle sich schuldig, habe das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben. Er habe sie am Freitag quasi um Erlaubnis für den Suizid gefragt und sie habe es nicht richtig eingeschätzt. Im weiteren Verlauf der Sitzung wird ihr von verschiedenen Seiten versichert, dass sie keinen Fehler gemacht habe. Ihre Schuldgefühle seien eine typische Reaktion auf ein solch traumatisches Ereignis. Es sei trotz alledem wichtig, dass sie dem Patienten wieder vertraue. Man dürfe sich durch diese Unsicherheit nicht in der therapeutischen Beziehung mit dem Patienten beeinträchtigen lassen. Ein Ereignis wie dieses könne man nicht vorhersehen. In einem psychiatrischen Krankenhaus werden Menschen behandelt, die wie Herr Friedrichs in eine massive akute psychische Krise geraten sind. Diese Krisen werden von den Betroffenen selbst, von ihren Angehörigen, Betreuern oder niedergelassenen Behandlerinnen als so schwerwiegend eingeschätzt, dass eine ambulante Versorgung oder andere Hilfsangebote keine ausreichende Alternative mehr bieten. Was jeweils als eine schwere psychische Krise verstanden wird, ist vielfältig und – das zeigt die Einstiegssequenz – oftmals nicht eindeutig und in seinem Verlauf nicht vorhersehbar. In der Regel bedeutet es, dass ein Mensch in seinem gewohnten sozialen Umfeld, sei es in seiner eigenen Wohnung, in seiner Familie, in seinem Wohnheim, nicht mehr wie bisher weitermachen kann oder will. Auf der psychiatrischen Station in einem Berliner Bezirkskrankenhaus, auf der ich über einen Zeitraum von vier Jahren mehrere mehrmonatige Feldforschungen durchgeführt habe, hatten diese Krisenzustände sehr unterschiedliche Vorgeschichten, die von existenziellen Zweifeln am Leben zu wiederkehrenden Phasen der Unsicherheit reichten, in denen ein Mensch den Alltag nicht mehr alleine bewältigt. Stefanie Büchner beispielsweise, eine junge
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Patientin, die ich im Laufe meiner Forschung mehrmals auf der Station traf, kam nach einem Suizidversuch und einer kurzen Behandlung auf der Intensivstation auf die psychiatrische Station. Es war nicht ihr erster Versuch, wieder hatte sie nicht mehr gewusst, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Liselotte Fischer, eine Patientin Mitte siebzig, wurde von ihrem Hausarzt in die Klinik überwiesen. Sie hatte sich an ihn gewandt, weil sie sich verfolgt und in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr sicher fühlte. Auch war sie überzeugt davon, todkrank zu sein. Olaf Mattes, ein Mann Mitte vierzig mit jahrelanger Psychiatrie-Erfahrung, wurde von seinem Wohnbetreuer in die Klinik gebracht, nachdem er über Wochen die Wohnung und das Bett nicht mehr verlassen und angedeutet hatte, sterben zu wollen. Bei Martin Lehmann war es der behandelnde Psychiater der Psychiatrischen Institutsambulanz, der den Eindruck hatte, bei dem jungen Mann bahne sich ein Rückfall an und eine stationäre Behandlung wäre angebracht. Angelika Siebert wiederum, Anfang vierzig und seit einigen Jahren in einem Wohnheim für chronisch psychisch Kranke lebend, wurde von einem guten Freund in die Klinik begleitet, der nicht mehr mitansehen konnte, wie sie sich in ihrem Zimmer verkroch und keinen Schritt mehr alleine machen konnte. Gemein ist diesen Menschen, dass sie selbst oder ihre sozialen wie professionellen Bezugspersonen die Psychiatrie als notwendige institutionelle Ressource ansehen, die ein spezifisches Wissen bereithält, um mit diesen Krisen umzugehen. Wie die Eingangssequenz andeutet und ich im Laufe dieser Arbeit ausführlich herausarbeiten werde, ist dieses professionelle Wissen selbst keineswegs „robust“ und eindeutig, sondern Ergebnis komplexer Aushandlungs- und Interpretationsprozesse. In meiner Arbeit gehe ich der Frage nach, wie versucht wird, Menschen, die tief in die Krise geraten sind, durch die in der Klinik eingesetzten Praktiken der Behandlung so weit zu stabilisieren, dass sie wieder in ihre Lebenswelt außerhalb der Institution zurückkehren können. Was wird als psychische Krise interpretiert und welche Behandlungspraktiken gelten als legitim? In der Kultur- und Sozialanthropologie gibt es eine lange Tradition, sich mit Menschen in Krisen oder Situationen grundlegender Unsicherheit auseinanderzusetzen, von den frühen Arbeiten wie Evans-Pritchards Studie zu Unglück und Verantwortlichkeit bei den Azande (Evans-Pritchard 1937) oder Victor Turners Untersuchungen zum sozialen Drama und Liminalität (Turner 1969, 1974) hin zu neueren Arbeiten wie Veena Das’ Forschungen zu Gewalterfahrung im gegenwärtigen Indien (Das 2007) oder Susan Whytes Ethnografie über den Umgang mit Schicksalsschlägen und Unsicherheiten im ländlichen Uganda (Whyte 1997). Diese ethnografischen Arbeiten zeigen, wie Menschen und Gemeinschaften in unsicheren Zeiten und Krisen Taktiken und Strategien anwen-
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den, um ein gewisses Maß an Kontrolle und Stabilität zu erreichen.4 Sie machen deutlich, dass in verschiedenen Gesellschaften und Gemeinschaften unterschiedliche soziale Institutionen zur Bewältigung von Krisen autorisiert sind. Bei Krisen aufgrund körperlicher oder seelischer Erkrankung wird in den meisten Gesellschaften die Medizin als eine zentrale Autorität im Krisen-Management angesehen. Medizinanthropologische Untersuchungen haben sich in den letzten Jahrzehnten ausführlich den Betroffenen, ihren Krankheitserfahrungen und ihrer Nutzung des Gesundheitssystems gewidmet. (Biehl 2005; Good et al. 1994; Jenkins und Barrett 2004; Martin 2007; Scheper-Hughes 1979) Dabei wurde insbesondere für das Feld der Psychiatrie herausgearbeitet, dass psychiatrische Krankheitsverständnisse sowohl der Patienten wie der Heilerinnen in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten teilweise gravierend variieren. (Cohen 2000; Good und Subandi 2004; Kleinman 1980; Zaumseil et al. 1998) Was als psychische Krise verstanden wird und wer auf welche Weise in deren Bewältigung eingreifen soll, ist also immer in einem konkreten Kontext herauszuarbeiten. Gleichzeitig wurde Medizin, ihre Institutionen wie ihre epistemischen Grundlagen, in den letzten Jahrzehnten einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht. Zum einen wurden die sozialen und kulturellen Implikationen westlicher Medizin in den Vordergrund gerückt und die Konsequenzen medizinischer Intervention in der Gesellschaft kritisch reflektiert. (Kleinman 1980, 1995; Lupton 2003; Young 1982a) Zum anderen, und die Übergänge sind hier fließend, wurde „die westliche Medizin“ selbst als kulturelle Praxis und insbesondere als medizinische Kulturen differenziert. (Beck 2007; Burri und Dumit 2007; Lock et al. 2000; Lock und Gordon 1988; Mol und Berg 1998) Medizin, so eine Erkenntnis aus diesen Diskussionen, muss kontinuierlich daran arbeiten, stabiles, sicheres Wissen zu produzieren, und ist in ihren Alltagspraktiken eher als lokale, soziomaterielle Aushandlung zu verstehen.5 Medizinische Praxis betreibt damit Krisenmanagement im doppelten Sinn: sowohl des eigenen instabilen Wissens wie auch der instabilen Patienten. Dabei wirkt nicht einseitig Medizin in Kultur oder in Gesellschaft in lokale Krankheitsverständnisse ein, sondern steht mit ihren sozialen und kulturellen Kon-
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Wie die Europäischen Ethnologen Stefan Beck und Michi Knecht herausarbeiten, waren Krisen-Phänomene zentrales Thema in der Fachgeschichte der ethnologischen Fächer, wurden aber als theoretisches Problem und Begriff kaum dezidiert ausgearbeitet. (Beck und Knecht 2012)
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Diese konstruktivistische Sicht auf wissenschaftliches Wissen ist dabei nicht auf das Feld der Medizin begrenzt, sondern wird im Feld der Science and Technology Studies als zentrale Perspektive auf die Herstellung wissenschaftlichen Wissens verstanden.
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texten in einem dynamischen „Looping-Verhältnis“. (Beck 2009b; Kontopodis et al. 2011; Martin 1998) Diesen dynamischen Prozess hat der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking in seiner historischen Tiefe herausgearbeitet, indem er zeigte, dass die Wissenschaften vom Menschen, und dazu zählt er insbesondere auch die Psychiatrie, es mit instabilen und sich verändernden wissenschaftlichen Objekten, mit moving targets zu tun haben: Durch die Interaktion mit den Untersuchungsobjekten verändern sich diese und konstituieren dadurch auch neues wissenschaftliches Wissen und andere Problematisierungen. (Hacking 1995, 1998, 2007) Die Geschichte der Psychiatrie kann gewissermaßen als ein kontinuierlicher Versuch beschrieben werden, das Wissen um psychische Erkrankungen und deren Ursachen und Behandlungen zu stabilisieren. Nach wie vor sind die Antworten vielfältig. Einig scheint man sich zumindest darüber zu sein, dass es (noch) keine allgemein gültigen und eindeutigen Antworten bezüglich der Ursachen psychischer Erkrankungen gibt; und auch die Behandlungsansätze werden kontrovers diskutiert und verweisen auf grundlegend verschiedene Paradigmen innerhalb „der Psychiatrie“. Diese Uneindeutigkeit und Ambivalenz psychiatrischen Wissens nehme ich als Ausgangspunkt, um in meiner Arbeit zu fragen, wie in einem klinischen Setting psychiatrische Expertise praktiziert wird. Welches Wissen wird hier als legitim herangezogen, und wie wird Psychiatrie alltäglich praktiziert? Woher (und wie) speisen sich die lokalen Verständnisse von psychischer Erkrankung und die implementierten therapeutischen Angebote in dieser Einrichtung? Wie wird „Psychiatrie-Machen“ in der Klinik gelehrt und gelernt, und welche Konzeptionen von medizinisch-psychiatrischem Wissen lassen sich herausarbeiten? In meiner Forschung bewege ich mich in einer psychiatrischen Versorgungseinrichtung, die sich selbst als „sozialpsychiatrisch“ definiert. Diese Ausrichtung psychiatrischer Expertise steht in einer Tradition, die sich seit der PsychiatrieEnquête 1975 und den damit verbundenen Umstrukturierungen des deutschen psychiatrischen Versorgungssystems nicht mehr als vorrangig medizinisch definiert, sondern sich als Komplex gemeindeintegrierter, stationärer wie ambulanter, rehabilitativer wie psychiatrisch-therapeutischer Angebote versteht. Im Fokus sozialpsychiatrischer Expertise steht der „Mensch mit seinen Beziehungen in seinem Lebensumfeld, in seinen Interaktionen mit der Umwelt“6. Dabei positioniert sich dieses lokale sozialpsychiatrische epistemische Milieu dezidiert in Opposition zu einer als Mainstream verstandenen Psychiatrie, die zunehmend biologisch argumentiert. Ziel der sozialpsychiatrischen Behandlung und Versor-
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Dieses Zitat entstammt einer Selbstdarstellung der Klinik. Siehe auch Fußnote 1 im folgenden Kapitel.
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gung ist die Stabilisierung der Patientin in ihrem sozialen Umfeld. In meiner Arbeit geht es also zum einen um die Frage, welche diagnostischen wie therapeutischen Ansätze lokal als legitim gelten und wie hier trotz und mit der Instabilität von Patienten und Behandlungskonzepten gearbeitet wird. Gleichzeitig frage ich nach den beabsichtigten wie unbeabsichtigten Effekten, die sich hier beobachten lassen. Wie werden aus „Menschen in Krisen“ Menschen, die (wieder) stabil in ihren Alltagen agieren? Und was bedeutet es in diesem Zusammenhang, wenn Krisen sich nicht einfach als akut und dann bewältigt, sondern als dauerhaftes oder zumindest wiederkehrendes Erleben zeigen? Der analytische Fokus liegt damit auf den alltäglichen Praktiken von Betroffenen und Professionellen innerhalb psychiatrischer Institutionen sowie auf den „poststationären Pfaden“ von einigen Patienten und Patientinnen, die ich nach ihrer stationären Behandlung in ihren privaten Alltagen über einen längeren Zeitraum getroffen habe. Ein Großteil dieser Menschen war auch nach der Entlassung aus der Klinik in Institutionen des psychiatrischen Versorgungssystems eingebunden. Das psychiatrische Versorgungssystem stellt für mich dabei ein Beispiel dar, wie in unserer Gesellschaft – in Deutschland, in einem westlichen, modernen Staat – Institutionen, die autorisiert sind, soziale Phänomene zu bearbeiten, mit ihrem Wissen auf Menschen einwirken und diese verändern. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie Menschen in diesen Prozessen lernen, wie sie durch dieses Wissen positioniert werden und sich selbst positionieren. Wie wirkt also Expertise auf Menschen in ihren alltäglichen Praktiken ein, wie positioniert, mobilisiert, transformiert, limitiert dieses Wissen? Der Alltag in einer psychiatrischen Klinik ist dabei kein Feld, in dem man primär neue Wissensproduktion oder neuartige Phänomene untersuchen kann, wie es oftmals im Feld der empirischen Wissenschaftsforschung im Vordergrund steht. In diesem „banalen“ Alltag wird vielmehr tagtäglich daran gearbeitet, Praktiken stabil zu halten. „Stabilisierung“ ist ein zentraler Begriff in der alltäglichen Arbeit auf der Station – sowohl für die Mitarbeitenden wie auch für die Patientinnen. Der Alltag auf einer psychiatrischen Station ist durchzogen von menschlichen Dramen und von absurden und außergewöhnlichen Ereignissen. Damit eine gewisse Routine beibehalten werden kann, müssen Praktiken ein hohes Maß an Flexibilität aufweisen. Eine Frage dieser Arbeit wird sein, wie Praktiken in diesem Alltag stabil gehalten werden können und welche Praktiken dabei überhaupt als legitim verstanden werden. Um dies herauszuarbeiten, verbinde ich neben Ansätzen aus der Medizinanthropologie praxistheoretische Ansätze aus der empirischen Wissenschaftsforschung (Science and Technology Studies, Social Anthropology of Science and Technology) mit anthropologischen Konzepten von Wissen und Lernen.
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Praxistheoretische Ansätze ermöglichen mir, Prozesse der Stabilisierung als Zusammenspiel sozialer, disziplinärer wie materieller Dimensionen in der Analyse zu diskutieren. Durch die psychiatrischen „stabilisierenden“ Choreografien sollen Menschen nicht nur lernen, ihren Alltag aktiv zu gestalten, sondern auch eine Zukunft zu imaginieren, um Schritt für Schritt an einer Weiterentwicklung zu arbeiten. In meiner Arbeit spielt daher Zeitlichkeit sowohl als Diachronisieren als auch als Synchronisieren eine Rolle. Neben der Frage, wie Praktiken stabil gehalten werden, geht es in meiner Arbeit gleichzeitig auch um die Frage, wie Menschen angesichts psychischer Krisen lernen, stabil zu werden. Stabilität meint hier, dass sie die besondere Ressource Klinik für die Bewältigung ihres alltäglichen Lebens nicht mehr in Anspruch nehmen müssen. Zumindest bis zur nächsten Krise. Im folgenden ersten Kapitel werde ich einige generelle Aspekte der Institution und des Alltags auf der Station beschreiben und daran anschließend in die relevanten historischen Prozesse einführen, die als Kontext für das Verständnis der Alltagspraktiken relevant sind. Im Anschluss werde ich meine theoretische Bricolage aus praxistheoretischen wie wissensanthropologischen Ansätzen herausarbeiten. Diese Theoretisierung ist aus meiner analytischen Arbeit heraus entstanden, also nicht als vorgängig zu meinen empirischen Analysen zu verstehen. Diesem ersten Kapitel folgen insgesamt vier empirische Kapitel: Im zweiten Kapitel steht die Frage im Zentrum, wie die Professionellen im stationären Alltag psychische Störungen diagnostizieren. Im sozialpsychiatrischen Arbeiten in der Klinik, in der ich meine Feldforschung gemacht habe, wird professionelles Wissen vor allem als Erfahrungswissen verstanden und sich gegenüber standardisiertem Wissen kritisch positioniert. Am Beispiel eines Aufnahmegesprächs und der daraus produzierten Dokumentationen arbeite ich heraus, wie diagnostische Standards und diagnostische Skills, die in einer „community of practice“ (Lave und Wenger 1991) gelernt werden, das alltägliche Diagnostizieren ko-produzieren. Problematisieren (medizin-)anthropologische Arbeiten insbesondere die Stabilisierung von Fällen anhand universeller, als reduktionistisch verstandener Klassifikationen, wird an meinem Beispiel deutlich, dass das psychiatrische Team als „community of practice“ Informationen über einen Patienten nicht nur „versammelt“, sondern auch auf spezifische Weise kontinuierlich reproduziert und stabilisiert. Während dieses erste empirische Kapitel vornehmlich Praktiken des Diagnostizierens beschreibt, diskutieren die anderen empirischen Kapitel verschiedene Aspekte psychiatrischen Behandelns, wobei ich immer wieder zeigen werde, dass sich im statio-
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nären Alltag zwischen Diagnostizieren und Therapieren nicht scharf trennen lässt. Das dritte Kapitel widmet sich den Choreografien des „Erfahrung-Machens“ im stationären Alltag. Mit dem Konzept der Choreografie arbeite ich heraus, wie psychiatrische Expertise Patienten im Rahmen eines spezifischen Sets von Praktiken behandelt und versorgt. Sozialpsychiatrisches Choreografieren zielt darauf ab, durch einen gesteuerten Lernprozess Menschen aus der Krise auf stabile Pfade zu bringen. Durch diesen Lernprozess soll den Patientinnen zunehmend Handlungsfähigkeit und ein selbständiges Selbst-Management gerade auch außerhalb der Klinik ermöglicht werden. Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, werden Patienten im stationären Alltag kontinuierlich aufgefordert, ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen zu artikulieren und in der Gruppe mit anderen Patienten und Therapeuten zu interpretieren. Aus ver-rückten Erlebnissen sollen Bedeutungen herausgearbeitet und diese zu einer Erfahrung verarbeitet werden. Hier zeigt sich ein wichtiges Merkmal sozialpsychiatrischen Choreografierens: Menschen werden nicht primär instruiert, sondern kontinuierlich aufgefordert, sich zu reflektieren und zu lernen, einen eigenen Umgang mit ihrem Krankheitserleben zu finden. Eine kritische Auseinandersetzung mit anthropologischen Konzeptualisierungen von Erfahrung macht deutlich, dass dabei Erfahrung immer als Ergebnis eines Herstellungsprozesses zu verstehen ist. Gerade anhand von Beispielen, in denen das kollektive Herstellen einer Erfahrung scheitert, wird zudem die Normativität sozialpsychiatrischen Choreografierens sichtbar. Das vierte Kapitel setzt sich mit dem Thema Körperlichkeit in psychiatrischer Behandlung auseinander. Körperlichkeit ist einerseits in gesellschaftlichen wie auch gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen mit psychischen Erkrankungen auffallend abwesend, andererseits in den Erzählungen der Betroffenen und im klinischen Behandeln ebenso auffallend präsent. Ich nutze diese merkwürdige An-/Abwesenheit des Körpers, um danach zu fragen, wie psychische Erkrankungen körperlich wahrnehmbar sind und wie der Patient durch pharmakotherapeutische Interventionen lernen muss, den eigenen Körper neu wahrzunehmen und kontinuierlich zu managen. Während im sozialpsychiatrischen Verständnis Medikamente psychosoziale Interventionen ermöglichen sollen, insbesondere indem sie die Symptome reduzieren, produzieren sie in vielen Fällen Effekte, die gerade das „Selbstverständlich-Werden“ von Körperlichkeit verhindern. Sozialpsychiatrisches Choreografieren zielt dabei auf eine kontinuierliche „education of attention“ (Ingold 2000: 37), die von gemeinsamem Aushandeln bis hin zu Zwangsbehandlung reicht. Im letzten empirischen Kapitel, dem fünften Kapitel, gehe ich einem zentralen sozialpsychiatrischen Anspruch nach: den Menschen als soziales
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Wesen in den Mittelpunkt zu stellen und ihn zu befähigen, möglichst eigenständig in sein soziales Umfeld zurückzukehren. Im sozialpsychiatrischen Verständnis ist die psychiatrische Station eine Art „Übergangs-Raum“, in dem Alltagskompetenzen eingeübt werden, die dem Patienten ermöglichen, wieder in die Gemeinde (re-) integriert zu werden. Zum einen soll der Patient sich wieder in einen strukturierten Alltag und übliche Routinen eingliedern, zum anderen wird er im Behandlungsalltag kontinuierlich aufgefordert, eigene Ziele zu artikulieren und an deren Umsetzung aktiv mitzuarbeiten. Mit Blick auf die Entlassung und den poststationären Verlauf wird an einer kollektiven Herstellung von Handlungsfähigkeit gearbeitet, die dem Betroffenen die Teilhabe an der Gemeinde ermöglichen soll. Wie ich zeigen werde, reproduziert gerade diese Fokussierung auf „das Soziale“ Standards von (sozialer) Normalität, an denen viele Betroffene scheitern. Im Schlusskapitel werde ich zentrale Argumentationsstränge meiner Arbeit zu Choreografien und Pfade sozialpsychiatrischer Versorgung zusammenführen und abschließend diskutieren.
Einführung in Feld, Theorie und Methodologie
E RSTE E INBLICKE IN DAS F ELD V ERSORGUNG IN B ERLIN
SOZIALPSYCHIATRISCHER
Die Geschichte der Klinik, in der ich meine Feldforschungen durchführte und die ich in meiner Arbeit Mittendamm-Klinik nenne,1 ist eng verbunden mit den bundesrepublikanischen Psychiatriereformen der 1970er Jahre.2 Ähnlich wie in vielen anderen, vornehmlich westlichen Gesellschaften waren in den Jahren zuvor innerhalb wie außerhalb der Psychiatrie kritische Stimmen laut geworden, die eine grundlegende Umstrukturierung und ein Umdenken in der Behandlung psychisch Kranker für längst überfällig hielten. (Thom und Wulff 1990) Auf den Weg gebracht wurden die Reformen durch eine umfassende Bestandsaufnahme der psychiatrischen Versorgung, die so genannte Psychiatrie-Enquête, die 1971 von der Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde. Vier Jahre lang dauerte die Arbeit der Sachverständigenkommission, die 1975 mit ihrem „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ der bundesrepublikanischen psychiatrischen Versorgung einen dringend reformbedürftigen Zustand bescheinigte. (Enquêtekommission der Bundesregierung 1975) In dem 1
Nicht nur die Namen der Menschen, mit denen ich im Laufe meiner Forschung zu tun hatte und die in dieser Arbeit genannt werden, wurden pseudonymisiert, auch die Klinik hat in dieser Arbeit einen fiktiven Namen erhalten. Dabei ist es vermutlich für alle, die sich in Berlin mit der psychiatrischen Landschaft auskennen, möglich herauszulesen, um welche Einrichtung es sich handelt. Die Pseudonymisierung soll signalisieren, dass es mir nicht um konkrete Personen oder um eine Beschreibung dieser einen konkreten Klinik geht, sondern dass diese beispielhaft für eine Auseinandersetzung mit Praktiken psychiatrischer Versorgung und ihren Effekten stehen.
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Auf die bereits etwas früher einsetzenden Psychiatriereformen in der DDR gehe ich in meiner Arbeit nicht ein.
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über vierhundert Seiten starken Abschlussbericht wurde die bis dahin kaum entwickelte Struktur ambulanter und komplementärer Angebote ebenso bemängelt wie die übliche Unterbringung von psychisch Kranken in gesonderten psychiatrischen Fachkrankenhäusern mit oftmals über tausend Betten. Die großen Fachkrankenhäuser waren in der Regel Aufbewahrungsanstalten, in denen insbesondere chronisch kranke Patienten mit dem Notwendigsten versorgt wurden, Therapie fand kaum statt. Zentrales Anliegen der Psychiatriereformen, die in den folgenden Jahren umgesetzt wurden, war die schrittweise Abschaffung der zum Teil menschenunwürdigen Verhältnisse in den Heil- und Pflegeanstalten sowie die Einrichtung von eigenständigen psychiatrischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern, die möglichst wohnortnah für die Patienten die Versorgung eines Sektors übernehmen sollten. Ein entscheidender Schritt war dabei die Forderung nach der Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker, die in denselben Allgemeinkrankenhäusern in psychiatrischen Fachabteilungen behandelt werden sollten. Hinzu kam in den Jahren nach der Veröffentlichung des Berichts der massive Auf- und Ausbau des komplementären Sektors mit einer großen Bandbreite von Betreuungs- und Beratungsangeboten in der Gemeinde. Für die damals dreizehn West-Berliner Bezirke waren vor den Reformen insgesamt drei große Nervenkliniken zuständig, die – wie es in der bundesrepublikanischen Versorgung üblich war – teilweise über bis zu tausend Betten verfügten. Anfang der 1980er Jahre beschloss die Berliner Landesregierung entsprechend der in der Enquête geforderten Reformen den Aufbau einer dezentralen psychiatrischen Versorgung, die dem Prinzip der Gleichstellung psychisch und körperlich Kranker und der engen Vernetzung klinischer wie extramuraler, gemeindenaher Versorgung folgen sollte.3 In der Folge wurden an den bestehenden Bezirkskrankenhäusern Fachabteilungen für Psychiatrie aufgebaut. Wie der erste Direktor der Psychiatrie der Mittendamm-Klinik rückblickend beschreibt, war es dabei nicht einfach, die Verantwortlichen im Senat davon zu überzeugen, die psychiatrische Fachabteilung tatsächlich auf dem Gelände des Allgemeinkrankenhauses des entsprechenden Bezirks einzurichten. Für den institutionellen Aufbau einer eigenständigen psychiatrischen Abteilung in der MittendammKlinik, die Mitte der 1980er Jahre ihre Arbeit aufnahm, waren aus Sicht des
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Informationen zur Umstrukturierung der Berliner Psychiatrie-Landschaft finden sich unter anderem im Berliner Psychiatrie-Bericht Teil I (Senatsverwaltung für Gesundheit 1994); eine hilfreiche Zusammenschau findet sich in Zaumseil et al. 2007.
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damaligen Direktors drei Grundsätze ausschlaggebend.4 Erstens sollte durch eine „Heterogenität in der Stationsbelegung“ (also keine auf Diagnosen zugeschnittenen Spezialstationen) und „Offene Stationstüren“ (im Gegensatz zu den üblicherweise geschlossenen Akut-Stationen) „so viel Normalität wie möglich“ erreicht werden. Das zweite Prinzip war die „Beziehungskonstanz“, d.h. dass innerhalb der Klinik keine Verlegung stattfinden sollte, dass man eine integrierte Institutsambulanz aufbaute, die die Patienten nach deren Entlassung ambulant weiterversorgte, und dass man sich bemühte, Menschen bei einer Wiederaufnahme in die Klinik auf ihrer so genannten Heimatstation zu behandeln. Das Einbeziehen der Angehörigen in die Behandlung war das dritte Prinzip, das die Klinik von Beginn ihrer Arbeit an begleitete. Diese Grundprinzipien der Behandlung der „Anfangszeit“ prägen bis heute den klinischen Alltag, wie ich im Folgenden ausführlicher zeigen werde. „So viel Normalität wie möglich“: Alltag auf einer psychiatrischen Station Die psychiatrischen Stationen der Mittendamm-Klinik befinden sich auf demselben Gelände wie das Hauptgebäude des Bezirkskrankenhauses mit seinen verschiedenen somatischen Stationen und der Rettungsstelle, sind aber durch ein Parkgelände getrennt in einem eigenen Gebäudekomplex untergebracht. Neben den sechs psychiatrischen Stationen gibt es in diesem Gebäudekomplex mehrere Gemeinschaftsräume, in denen verschiedene therapeutische Angebote (Musiktherapie, Gruppentherapie, Ergotherapie in eigenem Werkraum u.v.m) stattfinden, sowie verschiedene Büros und Besprechungszimmer. Die MittendammKlinik verfolgt bis heute das Konzept der offenen Stationstüren. Das bedeutet, dass die Eingangstüren zur jeweiligen Station in der Regel nicht verschlossen sind. Patienten, die als selbst- oder fremdgefährdend eingestuft werden (also eine mögliche Gefahr für sich selbst – beispielsweise durch Suizidtendenzen – oder andere darstellen) und die daher gesetzlich untergebracht sind,5 dürfen die Station alleine nicht verlassen. Grundsätzlich wird versucht, diese Regel gemeinsam mit den Patientinnen zu vereinbaren. Wenn diese nicht absprachefähig sind bzw. sich nicht auf diese „Vereinbarung“ einlassen, werden die Stationstüren
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Dieser Rückblick findet sich als persönliches Resümee in einer Festschrift der Klinik. Da ich mich für eine Pseudonymisierung der Klinik entschieden habe, kann ich hier keine konkrete Quelle angeben.
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In 2009 betraf dies beispielsweise 7,5 % aller Patienten; zwei Drittel dieser Patienten waren kurzfristig nach dem Psychisch Kranken Gesetz untergebracht.
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vorübergehend abgeschlossen. Generell gilt für alle Patientinnen der Station, dass sie ihren Ausgang mit der Ärztin abklären und sich bei der Pflege abmelden müssen. Viele der Patienten haben – je nach Gesundheitszustand – begrenzten Ausgang, den sie beim Verlassen und Zurückkommen auf die Station im Ausgangspass quittieren lassen müssen. Die Station 29, auf der ich forschte, hat Betten für achtundzwanzig Menschen. Anders als in vielen psychiatrischen Kliniken werden in der MittendammKlinik die Patientinnen dabei nicht nach Diagnosen auf verschiedene Stationen aufgeteilt. Dem Konzept der „Heterogenität der Stationsbelegung“ folgend leben hier Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und Gesundheitszustands (also von akuter Krise bis zur Entlassung) zusammen, deren Diagnosen ebenfalls vielfältig sind – anders als in vielen Krankenhäusern, wo es beispielsweise Aufnahmestationen gibt, auf denen die Patienten für die erste akute Phase verbleiben. Einzige Ausnahme in der Mittendamm-Klinik ist die Spezialstation für Suchtkranke. Aber auch auf den anderen Stationen werden Suchtkranke (oft als Zweitdiagnose) behandelt, ebenso Menschen mit Depressionen, bipolaren Störungen, psychotischen Störungen, Belastungsstörungen, Angst-, Persönlichkeits-, Ess-, Borderline-Störungen, ältere Menschen mit demenziellen Erkrankungen und auch Patientinnen mit mehreren Diagnosen zugleich. Durch diese Heterogenität solle, so die Selbstbeschreibung der Klinik, die „Heterogenität der Gesellschaft“ widergespiegelt und ein von „Selbsthilfe und Solidarität“ geprägtes therapeutisches Milieu geschaffen werden. Das professionelle Team der Station setzt sich zusammen aus drei Stationsärzten und Stationsärztinnen sowie Pflegekräften, von denen in der Regel tagsüber drei und nachts zwei anwesend sind. Zudem gibt es eine Stationspflegeleitung, die neben der Pflegearbeit vor allem administrative Aufgaben für den Bereich der Pflege übernimmt. Neben den Mitarbeiterinnen, die nur auf dieser Station arbeiten, gibt es einen weiteren Kreis, der ebenfalls auf der Station präsent, aber auch stationsübergreifend tätig ist. Dazu gehören die Sozialarbeiterin, die ein Büro auf der Station hat, ein Psychologe, ein Musik- und ein Ergotherapeut, die die Patienten in verschiedenen klinikweiten Angeboten betreuen, aber auch Angebote nur auf der Station machen, sowie eine Oberärztin, die zu festen Teambesprechungen, aber auch „zwischendurch“ auf der Station präsent ist. Das Team arbeitet – soweit möglich – eng mit den Angehörigen der Patientinnen zusammen und kooperiert mit verschiedenen komplementären Einrichtungen außerhalb der Klinik. Für die Angehörigen gibt es regelmäßige Angehörigenvisite, wobei sie darüber hinaus mit den Professionellen Termine vereinbaren können. Über die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) sowie die Tageskliniken besteht die Möglichkeit der kontinuierlichen (poststationären)
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Versorgung der Patienten aus der Klinik heraus. Die Patienten haben zudem auch nach der stationären Behandlung die Möglichkeit, am therapeutischen Programm der Klinik teilzunehmen (z.B. an verschiedenen Gesprächsgruppen). Kommt ein Patient wieder zurück in die Klinik, gilt – wie bereits erwähnt – das Prinzip der „Heimatstation“, d.h. so es möglich ist, wird der Patient wieder auf derselben Station wie beim vorherigen Aufenthalt behandelt. Für den klinischen Alltag bedeutet dies, dass in vielen Fällen eine teilweise langjährige Beziehung zwischen den Professionellen und den Patienten einer Station sowie den Angehörigen besteht. In der morgendlichen Ärztebesprechung, wo unter anderem die Neuzugänge der letzten Nacht vorgestellt und besprochen werden, heißt es entsprechend oft: „Patientin bekannt“. Bei meiner zweiten Feldforschung auf „meiner Heimatstation“ kannte ich im Durchschnitt sechs bis sieben von durchschnittlich achtundzwanzig Patienten von meiner ersten Feldforschung ein Jahr zuvor. Bei meiner dritten Feldforschung waren es mehr als die Hälfte der Patientinnen. Der Bezirk, für den die Mittendamm-Klinik die Pflichtversorgung hält, wird als „schwer versorgbarer Bezirk“ beschrieben, weil hier eine spezifische Mischung aus hoher Arbeitslosigkeit und anderen sozialen Problemlagen zusammenkommt. Aus Sicht der Mitarbeitenden führt dies zu einem besonders hohen Ausmaß an potentieller Gewalttätigkeit, Suchtproblematiken und sozialer Perspektivlosigkeit, die man in anderen Berliner Bezirken mit einer weniger problematischen Bevölkerungskonstellation nicht antreffen würde. Therapeutisch gesehen kommen in der Mittendamm-Klinik die üblichen psychiatrischen Angebote zum Einsatz: Die Stationsärzte führen regelmäßig Einzelgespräche mit den Patienten durch, unterstützt von einem Psychologen, der noch für eine weitere Station zuständig ist. Die Patientinnen werden zudem psychopharmakotherapeutisch behandelt. Viele der Patienten kommen bereits mit einer medikamentösen Vorbehandlung auf die Station, die überprüft, neu eingestellt oder fortgesetzt wird. Die Mittendamm-Klinik verfolgt dabei das Ziel, Psychopharmaka so wenig bzw. niedrig dosiert wie aus ihrer Sicht möglich einzusetzen. Über den Tag verteilt nehmen die Patientinnen an verschiedenen therapeutischen Angeboten auf der Station sowie an Angeboten, die stationsübergreifend stattfinden, teil. Dazu zählen ergotherapeutische Gruppen wie die Back- oder die Kochgruppe. Angeboten werden außerdem musiktherapeutische Einzel- und Gruppentermine. Es gibt einen Patientenclub, dazu werden Ausflüge organisiert oder auch eine Patienten-Disco. Eine Besonderheit der Klinik sind psychotherapeutische Gruppenangebote, die sich an Diagnosegruppen orientieren: die Depressionsgruppe, die Angstbewältigungsgruppe, die Stabilisierungsgruppe und die Psychosegruppe. Aus Sicht der Professionellen ist vor allem entscheidend, dass letztendlich jegliche Interaktion mit den Patienten als
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therapeutisch relevant verstanden wird. So wird insbesondere das Pflegepersonal explizit als therapeutisches Personal wahrgenommen, das durch vielzählige alltägliche Interaktionen an der Beziehungsgestaltung mit den Patienten arbeitet. Beziehungsgestaltung ist dabei eines der Schlüsselwörter in der stationären Behandlung. Damit Therapie gelingen kann, muss aus Sicht der Professionellen zuallererst eine stabile therapeutische Beziehung mit der Patientin aufgebaut werden. Darüber hinaus werden Patienten aufgefordert, sich aktiv in den Stationsalltag einzubringen. In der mittwochs stattfindenden Stationsvollversammlung werden neben dem Besprechen von Problemen im Stationsalltag auch die so genannten Patientenämter vergeben. Einkaufen für die Ergo-Gruppe oder das Aufräumen des Raucherraumes, das Stellen der Stühle für die Gruppensitzungen oder die Betreuung des Frühstückbuffets gehören hier zu den Aufgaben, die ein Patient für jeweils eine Woche übernehmen kann und soll. Neben dieser Arbeit am Alltag auf der Station wird mit dem Patienten vom Tag der Aufnahme an auf die Entlassung in sein soziales Umfeld hingearbeitet. Das kann die Zusammenarbeit mit Angehörigen bedeuten, die Unterstützung bei Behörden durch eine Sozialarbeiterin oder die Vermittlung von Hilfs- und Therapieangeboten bis hin zur Suche nach einer geeigneten betreuten Wohnform oder der Beantragung eines gesetzlichen Betreuers. Das soziale Umfeld der Patientin ist im klinischen Alltag auf unterschiedliche Weise präsent und wird als Aufgabenfeld sozialpsychiatrischen Arbeitens verstanden. Wie die Klinikdirektorin in einer Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Abteilung in der Mittendamm-Klinik schreibt: „Sozialpsychiatrie hieß immer schon: Nicht ein isoliertes Individuum als biologisches Wesen allein betrachten, sondern den Menschen mit seinen Beziehungen in seinem Lebensumfeld, in seinen Interaktionen mit der Umwelt zu betrachten und in diesem Feld zu wirken“.6 In diesem Zitat wird eine Positionierung gegenüber einer als biomedizinisch orientiert und zunehmend standardisiert arbeitend wahrgenommenen deutschen Psychiatrielandschaft angedeutet. Auch wenn mittlerweile in der Psychiatrie allgemein bei den meisten Krankheitsbildern von einem bio-psycho-sozialen Zusammenspiel ausgegangen wird, d.h. ein Zusammenwirken sowohl biologisch bedingter Dispositionen wie auch psychischer Belastungen und sozialer Faktoren als krankheitsverursachend verstanden wird, gibt es nach wie vor divergierende Einschätzungen, wie und mit welcher psychiatrischen Ausrichtung Diagnose und Behandlung praktiziert werden sollten. In der Mittendamm-Klinik drückt sich das sozialpsychiatrische Selbstverständnis – neben der erwähnten engen Zusammenarbeit mit Angehörigen und dem kom-
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Siehe Fußnote 4.
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plementären Sektor – in einer als systemisch beschriebenen Behandlungsorientierung aus. In der Therapie und in der Einschätzung des Krankheitszustands und -verlaufs werden immer auch die sozialen Kontexte der Patienten als zentral wahrgenommen. Viele Professionelle der Klinik orientieren sich in ihrer Arbeit zudem an Therapiemodellen, die als emanzipatorisch verstanden werden. In der therapeutischen Arbeit versucht man zunehmend dialogische Ansätze zu verwirklichen, die sich an skandinavischen Modellen orientieren und die Rolle des Patienten als aktiven Gestalter und Partner im Behandlungsprozess in den Vordergrund stellen. Auf diese verschiedenen Aspekte werde ich im Laufe meiner Arbeit ausführlich eingehen. An dieser Stelle ist entscheidend, dass sich die Mittendamm-Klinik selbst als sozialpsychiatrisch definiert. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Rückblick in die zeitgenössische Psychiatriegeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, um einige Entwicklungslinien der heutigen Sozialpsychiatrie nachzuzeichnen.7 Ein Rückblick in die Entwicklung der heutigen Sozialpsychiatrie Die Geschichte der Psychiatrie ist seit ihrer Entstehung zum Ende des 18. Jahrhunderts im europäischen Kontext geprägt von konträren und sich verändernden Wahrheitsdiskursen und Autoritätsansprüchen. Als Teil der Medizin und damit als akademische Disziplin konnte sich die Psychiatrie in Deutschland erst um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert etablieren. (Schmiedebach und Priebe 2004) Die daraus resultierende Trennung zwischen Anstaltspsychiatrie, die in Asylen vor allem chronisch psychisch Kranke betreute, und Universitätspsychiatrie, die in der Regel keine Pflichtversorgung innehatte und
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„Soziale Psychiatrie“ gab es als Begriff seit Anfang des 20. Jahrhunderts; als psychiatrisches Konzept erlebte die Soziale Psychiatrie in den 1920er Jahren eine kurze Blütezeit mit verschiedenen Versuchen, den Begriff des „Sozialen“ sowohl für die akademische Positionierung der Psychiatrie nutzbar zu machen als auch neue Versorgungsmodelle zu implementieren. Da der Begriff aber zunehmend im Sinne einer Sozialhygiene verstanden wurde und mit Rassenideologien und der Ermordung hunderttausender Menschen in Verbindung steht, sind entscheidende Brüche entstanden und komplexe Verbindungslinien, die in diese Anfangszeit zurückführen. Ich lasse daher für diesen Rückblick die frühe Vorgeschichte der deutschen Sozialen Psychiatrie außer Acht und konzentriere mich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Einen guten Überblick über diese frühen Konnotationen, Modelle und Konzepte geben beispielsweise Schmiedebach und Priebe 2004 sowie Priebe und Finzen 2002.
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damit mit dem Großteil der psychisch Kranken nur begrenzt Berührungspunkte hatte, blieb in Deutschland bis in die 1970er Jahre bestehen. Dabei war es gerade die Kritik an der Versorgung in den großen Anstalten, insbesondere an den menschenunwürdigen Verhältnissen, die dort herrschten, die die Psychiatrie in Bewegung brachte und zu den oben beschriebenen Reformen führte. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren gab es Versuche einiger weniger Psychiater in Deutschland, die Behandlung und Versorgung psychisch Kranker zu verändern, die auch durch die Beispiele von kritischen Bewegungen und Reformen in anderen Ländern inspiriert waren. (Schmiedbach und Priebe 2004) Es war in deren Umfeld, in dem das Konzept einer „Sozialen Psychiatrie“ an Kontur gewann, wenngleich die psychiatrische Reformbewegung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern erst spät einsetzte. (Hoffmann-Richter et al. 1997) In Großbritannien erging bereits im Jahr 1959 der Mental Health Act, der erste strukturelle Veränderungen im Anstaltssystem einleitete. (Schott und Tölle 2006: 306ff.) In den USA wurden in den 1960er Jahren ähnliche Reformen einer gemeindenahen Psychiatrie eingeleitet. Auch wenn in diesen Jahren die kritische Einflussnahme der Soziologie wichtige Impulse gab (von Psychiatern wird meist Erving Goffmans Asyle aus dem Jahr 1961 als ein wichtiger Auslöser in den Deinstitutionalisierungsprozessen der US-amerikanischen Anstaltspsychiatrie genannt), waren es in den 1960er Jahren auch Psychiater selbst, die den Wahrheits- und Autoritätsanspruch der eigenen Disziplin demontierten und an alternativen Behandlungsstrukturen mitwirkten.8 Geprägt waren diese psychia-
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Die zentralen Figuren der internationalen Psychiatriereformen im Überblick: Franco Basaglia war italienischer Psychiater und zentraler Akteur in der Deinstitutionalisierungsbewegung in Italien in den 1970er Jahren. Er war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die italienische Regierung Ende der 1970er Jahre die Auflösung der psychiatrischen Anstalten in die Wege leitete. Thomas Sasz war US-amerikanischer Psychiater und wie Basaglia grundlegender Kritiker der psychiatrischen Institutionen. Bereits 1961 veröffentlichte Szasz sein Buch „The Myth of Mental Illness“, in dem er sich nicht nur vehement gegen die Zwangspsychiatrie wandte, sondern auch psychische Krankheiten als Konstrukte demontierte. (Szasz 1961) Robert Laing und David Cooper wiederum waren britische Psychiater, die in verschiedenen Projekten versuchten, alternative therapeutische Konzepte und Behandlungssettings umzusetzen. (Laing 1967) Laing gründete die bekannte antipsychiatrische Wohngemeinschaft Kingsley Hall in London. (siehe auch Pickering 2010: 183-211) Mit unterschiedlicher Radikalität kritisierten diese und andere Psychiater in den 1960er und 1970er Jahren die psychiatrische Disziplin und ihre Institutionen von innen und arbeiteten an alternativen Versorgungsansätzen.
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triekritischen bis dezidiert antipsychiatrischen Bewegungen durch das soziale Klima der 1960er Jahre, in dem gesellschaftliche Emanzipation und Gleichberechtigung unterdrückter Minderheiten auch in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten. Wie Schmiedebach und Priebe feststellen, war der breite Erfolg sozialpsychiatrischer Reformen in Deutschland durch das veränderte gesellschaftliche Klima in den 1960er Jahren und das Interesse der Massenmedien an sozialpolitischen Themen mit in Gang gesetzt worden. (Schmiedebach und Priebe 2004) Anfang der 1970er Jahre formierten sich innerhalb in der Psychiatrie verschiedene sozialpsychiatrische Interessengruppen, deren Anliegen gesellschaftspolitisch motiviert waren. (Bauer 2003; Kersting 2003) Liest man die Dokumente der damals aktiv involvierten Professionellen, so wird deutlich, dass in der kritischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie eine moralische Verpflichtung zur Veränderung der Versorgungsstrukturen gesehen wurde. (Dörner 1995 [1972], 1999; Finzen und Schädle-Deininger 1979) Zwar wurde Sozialpsychiatrie bzw. Soziale Psychiatrie 9 als kritische Positionierung gegenüber einer konservativen, biologisch orientierten Psychiatrie verstanden, aber bereits in den frühen Schriften wurde ein integrativer Ansatz eingefordert. Radikale Infragestellungen der Grundlagen psychiatrischen Arbeitens oder der Psychiatrie als Wissenschaft, wie es beispielsweise in Großbritannien von Ronald Laing oder in den USA von Thomas Sasz vorangetrieben wurde, wurden nicht laut.10 Sozialpsychiatrie wurde in Deutschland als politische und soziale Reformbewegung verstanden, die zu einer Inklusion der Schwächsten der Gesellschaft führen sollte. Einer der zentralen Wegbegleiter der Psychiatriereformen und Autor zahlreicher historischer, gesellschaftskritischer Arbeiten und Lehrbücher, der Psychiater Klaus Dörner, formulierte auf einem der ersten wegbereitenden sozialpsychiatrischen Kongresse 1970 als zentrale Thesen der Sozialpsychiatrie unter anderem „die Chancengleichheit aller Angehörigen der Gesellschaft“, eine Abkehr von Zwang und eine Orientierung an Rehabilitation und Prävention. Er forderte einen Bruch mit dem „vorherrschenden Krankheitsbegriff“ und ein
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Bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie im Jahr 1971 entschied man sich gegen den Begriff Sozialpsychiatrie, da er diese als Subdisziplin der Psychiatrie nahelege; Soziale Psychiatrie sollte deutlich machen, dass es sich um eine Veränderung der gesamten Psychiatrie handeln sollte. Klaus Dörner, der in seinen Texten durchaus den Begriff der Sozialpsychiatrie verwendet, schrieb den vielzitierten Satz: „Psychiatrie ist entweder Soziale Psychiatrie oder sie ist keine Psychiatrie.“ (Dörner und Plog 1972: 8)
10 Für eine ausführliche Auseinandersetzung insbesondere mit den Ansätzen von Laing und Szasz siehe Finzen 1995.
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neues Verständnis von Krankheit, das von einem „naturwissenschaftlich nicht abgrenzbaren Spektrum psychisch-sozialen Leidens“ ausgeht (Dörner und Plog 1972: 8ff.). Aber, so Dörner, „Sozialpsychiatrie behauptet nicht – im Gegensatz zu dem wohl weit verbreiteten Vorwurf gegen sie – die soziale Verursachung allen psychischen Leidens“, sondern sie berücksichtigt „die gesamte Bedingungskonstellation eines Leidens“ (ebd.: 10f.). Die soziale Dimension psychischen Leidens sollte stärker berücksichtigt werden, sowohl im präventiven Sinn als Vermeidung schädlicher sozialer, gesellschaftlicher Einflüsse auf den Menschen als auch im rehabilitativen Sinn durch Reintegration und Akzeptanz psychisch Kranker in der Gesellschaft. Für Dörner wie für viele andere deutsche Sozialpsychiater bedeutete Sozialpsychiatrie zu betreiben, eine selbstkritische Haltung einzunehmen. Sozialpsychiatrie, wie sie seit den 1970er Jahren in Deutschland vertreten wird, ist also kein singulär therapeutisches Konzept oder ein Spezialfeld innerhalb der Psychiatrie, sondern geht mit Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen einher. Die mit der Psychiatrie-Enquête in Gang gesetzten massiven Umstrukturierungen der psychiatrischen Versorgung wurden unter dem Einfluss dieses wachsenden sozialpsychiatrischen Selbstverständnisses unter den psychiatrisch Tätigen in Deutschland in die Wege geleitet und waren in ihren Zielsetzungen im Kern sozialpsychiatrisch. Dabei kommen in der deutschen Sozialpsychiatrie diverse Konnotationen des „Sozialen“ zum Tragen. (Schmiedebach und Priebe 2004) Da diese unterschiedlichen Bedeutungen des Sozialen in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen werden, skizziere ich im Folgenden einen knappen Überblick, der sich auf die zentrale sozialpsychiatrische Literatur bezieht. (Bock und Weigand 1991; Bock et al. 1995; Dörner und Plog 1972, 1999, 2002; Elgeti 2010; Finzen und HoffmannRichter 1995; Häfner 1995 [1968]; Heinze 2005; Kisker 1995 [1967]; Priebe und Finzen 2002; Schmiedebach und Priebe 2004; von Cranach und Finzen 1972) Erstens wird Sozialpsychiatrie als die wissenschaftliche Erforschung und klinische Betonung sozialer Faktoren in der Entstehung und im Verlauf von psychischen Erkrankungen beschrieben, die medizinisch-biologischen Ansätzen soziale Indikatoren in der Ätiologie und der Behandlung hinzufügen. (von Cranach und Finzen 1972) Das Soziale wird hier als die Bandbreite externer Einflüsse (Lebensstil, Sozialisation, Umweltbedingungen) verstanden, die auf das Individuum krankheitsfördernd, aber auch krankheitslindernd beziehungsweise protektiv wirken (können). Wie Eikelmann in seinem Lehrbuch Sozialpsychiatrisches Basiswissen betont, würde der sozialpsychiatrische Denkansatz immer die „psychisch kranke Person und sozialen Kontext in ihrer Wechselwirkung“ betrachten (Eikelmann 1997: 2; Herv.i.O.). Besonders in Bezug auf
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eine positive Wirkung auf den Verlauf von psychischen Erkrankungen wird hier „das Soziale“ oftmals mit „der Gemeinde“ gleichgesetzt. (Haselbeck 1995 [1993]; Priebe und Finzen 2002) Der Ausbau und die Verbesserung gemeindepsychiatrischer Angebote, die eine längerfristige Hospitalisierung eines psychisch Kranken verhindern und eine Integration in die Gemeinde ermöglichen sollen, standen entsprechend im Zentrum der sozialpsychiatrisch geprägten Psychiatrie-Reformen ab den 1970er Jahren. Diese Betonung gemeindepsychiatrischer Versorgung verweist auf ein zweites Verständnis von Sozialpsychiatrie und das dabei implizite Verständnis des Sozialen. Sozialpsychiatrie fokussiert in der Praxis nicht ausschließlich auf den Bereich der stationären Versorgung, sondern begreift die stationäre Arbeit als einen Bestandteil des „gemeindepsychiatrischen Verbunds“11 . Sozialpsychiatrie sei immer sowohl dem individuellen psychisch kranken Menschen als auch der Gesellschaft verpflichtet. (Dörner und Plog 1972; Dörner et al. 2002; Engelmeier 1995 [1969]; Kisker 1995 [1967]) Sozialpsychiatrische Forderungen zielten insgesamt auf eine Gleichberechtigung psychisch kranker Menschen und deren Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Als gesundheitspolitische Bewegung, so Elgeti, „streitet Sozialpsychiatrie für die Rücknahme sozialer Ausgrenzungsprozesse gegenüber psychisch kranker Menschen und greift damit weit über den fachlichen Rahmen psychiatrischen Handelns hinaus“ (Elgeti 2010: 34). Soziale Psychiatrie, oftmals mit dem Zusatz „kritische“ Sozialpsychiatrie versehen (Haselbeck 1995 [1993]), wird hier als gesellschaftspolitische Verantwortung für die psychisch kranken Mitglieder der Gesellschaft verstanden. Diese Vorstellung einer Verantwortung für den Patienten prägte die Zeiten des Umbruchs, in denen in weitreichenden Reformen die Langzeitpatienten der großen psychiatrischen Anstalten im Fokus sozialpsychiatrischer Auseinandersetzungen waren. Drittens wird Sozialpsychiatrie als eine therapeutische Haltung beschrieben, der ein spezifisches Menschen- und Gesellschaftsbild zugrunde liegt. Der psychisch kranke Mensch wird als soziales Wesen verstanden, der als Teil eines sozialen Gefüges zu behandeln ist. Wie Dörner es (mit Verweis auf den kanadischen Sozialpsychiater Alexander Leighton) ausdrückt: „Sozialpsychiatrie bezieht sich auf den Menschen im Plural“ (Dörner 1975: 19). Sozial steht hier für
11 Die Expertenkommission der Bundesregierung hat in ihrem Bericht 1988 den Gemeindespsychiatrischen Verbund als ideale Organisationsstruktur vorgeschlagen, der sowohl die stationäre wie ambulante Versorgung umfassen sollte. (Expertenkommission zur Reform der Versorgung im Psychiatrischen und PsychotherapeutischPsychosomatischen Bereich 1988; siehe auch Eikelmann 1997: 68)
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die Interaktion zwischen Individuen, für ein intersubjektives Verständnis von Krankheit und Heilung. Als Grundlagen der Behandlung werden entsprechend die therapeutische Beziehung wie auch gruppendynamische Prozesse verstanden, wie sie beispielsweise in dem Konzept der therapeutischen Gemeinschaft12 formuliert werden. (Dörner et al. 2002: 553 ff.; Eikelmann 1997: 118ff.) Nicht zuletzt durch die Arbeit der verschiedenen Betroffenenverbände hat sich dieses Verständnis seit den 1990er Jahren verändert und weiterentwickelt: Stand mit den Psychiatrie-Reformen noch ein verantwortliches Handeln der Professionellen für den Patienten im Vordergrund, steht mittlerweile die aktive Beteiligung von Betroffenen auch als Form der Selbstermächtigung in der eigenen Behandlung und zunehmend auch als „Experten durch Erfahrung“ im Zentrum sozialpsychiatrischer Behandlungsansätze. (Bock et al. 2009; Knuf 2007) Offiziell eingefordert wurde die stärkere Beteiligung von Betroffenen bereits 1986 in der Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation. Wie Zaumseil aufzeigt, wird hier von der Annahme ausgegangen, „dass eine Aktivierung der Menschen zu mehr Selbstbestimmung gesundheitsförderlich ist“ (Zaumseil 1997: 193). Teilhabe an der eigenen Behandlung, aber vor allem Teilhabe an der Gesellschaft werden als förderlich für die Gesundung des Individuums definiert (Amering und Schmolke 2007); dies verweist auf eine Vorstellung vom Sozialen, die auf die Teilhabe- und Handlungsfähigkeit des Subjekts abzielt. Die verschiedenen vorgestellten Konnotationen sind nicht trennscharf, sondern sollen eher auf unterschiedliche Implikationen der Zuschreibung Soziale Psychiatrie hinweisen, die in den Praktiken psychiatrischer Behandlung und Versorgung unterschiedlich aufgegriffen und aktualisiert werden. Mit diesem kurzen Rückblick und Einblick in sozialpsychiatrische Entwicklungslinien und Verortungen möchte ich verdeutlichen, dass man in der ethnografischen Auseinandersetzung mit Psychiatrie sorgfältig unterscheiden muss, wie psychiatrisches Wissen praktiziert wird und welches epistemologische Hinterland zum Tragen kommt. Auf die historischen Entwicklungslinien der beobachteten Praktiken werde ich in den verschiedenen Kapiteln ausführlicher eingehen. Für das Verständnis der spezifischen Expertise, wie sie in der Mittendamm-Klinik praktiziert wird, ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die meisten Professionellen eine selbstkritische Haltung gegenüber ihrer eigenen Expertise und den
12 Das Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft wurde bereits in den 1940er Jahren in Großbritannien von Thomas Main entwickelt. Gruppendynamische Prozesse betonten auch die beiden Psychiater Rickman und Bion; in den USA arbeitete unter anderem Maxwell Jones mit gruppendynamischen Prozessen in der Psychiatrie. (Bloor et al. 1988; Rose 1998: 141f.)
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möglichen Konsequenzen betonen, die insbesondere das Benennen und Zuschreiben mit sich bringen. Mir geht es in meiner Arbeit nicht um die Frage, wie sozialpsychiatrisch die Mittendamm-Klinik ,wirklich‘ arbeitet, sondern darum, diese Selbstzuschreibung und Selbstverortung ernst zu nehmen und daran anschließend zu fragen, wie in einem sozialpsychiatrisch orientierten Berliner Bezirkskrankenhaus mehr als dreißig Jahre nach der PsychiatrieEnquête „Psychiatrie gemacht wird“. Nach diesen ersten Einblicken in den stationären Alltag und die historischen Entwicklungslinien der deutschen Sozialpsychiatrie werde ich im nächsten Abschnitt meinen theoretischen Zugriff auf das Feld der Psychiatrie als Alltagspraxis herausarbeiten.
P SYCHIATRIE ALS A LLTAGSPRAXIS : S TABILISIERUNG VON M ENSCHEN , D INGEN UND W ISSEN Wie Mensch-Sein durch die Psychiatrie konstituiert wird Wie die Psychiatrie als Institution in das Leben von Menschen eingreift und ihre Selbstverständnisse verändern kann, war bereits in den frühen 1960er Jahren Thema sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Als Klassiker gilt bis heute das Buch Asyle des Soziologen Erving Goffman, in dem er die Auswirkungen der zeitgenössischen psychiatrischen Anstalten, die er als totale Institutionen definiert, auf das Selbst der Insassen beschreibt. (Goffman 1973 [1961]) Goffmans Darstellungen der geschlossenen Welt der Asyle mit ihren rigiden Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen wirken aus heutiger Sicht äußerst autoritär und scheinen kaum mit dem Alltag moderner psychiatrischer Krankenhäuser vergleichbar. Sein zentraler Grundgedanke hat dennoch bis heute Gültigkeit: Das Selbst der Insassen wird durch das institutionelle Arrangement grundlegend konstituiert. (Ebd.: 166) In der radikalen Form, wie es Goffman herausarbeitet, mag es spezifisch für die totale Institution sein; seine mikrosoziologische Analyse der alltäglichen Anpassungs- und Abwehrmechanismen zeigen dabei anschaulich, wie das Selbst in alltäglichen Interaktionen formiert wird und Menschen durch die Positionierung als „psychisch Kranke“ in ihrem Sein kokonstituiert werden. Ebenfalls mit Prozessen des Gemacht-Werdens von Menschen im Rahmen psychiatrischen Diagnostizierens und Behandelns beschäftigt sich der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking. (Hacking 1995, 1998, 1999 [1986]) Hacking geht es in seinen Arbeiten dabei weniger um die institutionellen Mechanismen, sondern um den Prozess der Zuschreibung von (psychiatrischen)
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Klassifikationen und die verschiedenen Wechselwirkungen, die dabei zu Tage treten. Er untersucht, wie durch wissenschaftliche und bürokratische Klassifikationen die damit „etikettierten“ Menschen zu einer bestimmten Art von Menschen gemacht werden (making up people) und damit ein neues „In-derWelt-Sein“ konstituiert wird. (Hacking 1999 [1986]) Diese ontologische Dimension umschreibt Hacking folgendermaßen: „the claim of dynamic nominalism is not that there was a kind of person who came to be increasingly recognized by bureaucrats or by students of human nature but rather that a kind of person came into being at the same time as the kind itself was invented“ (ebd.: 165). Entscheidend ist in Hackings Ansatz, dass in diesem Klassifizierungsprozess nicht nur die Menschen gemacht werden, sondern ebenso Rückkoppelungseffekte (looping effect) auf die Klassifikationen wirken. Diese Betonung eines dynamischen Prozesses unterscheidet Hacking explizit von der labeling theory, zu deren Vertretern unter anderem Goffman gezählt wird. Mit dem Labeling-Ansatz soll deviantes, von der Norm abweichendes Verhalten erklärt werden. Devianz wird dabei nicht als objektives Phänomen verstanden, sondern als Ergebnis der Etikettierung eines Verhaltens als deviant. Devianz wird in diesem Verständnis zur kollektiven Aktivität und Ergebnis einer Interaktion, wie Howard Becker, zentraler Vertreter des Ansatzes, betont. (Becker 1974) In Hackings Konzeption des dynamischen Nominalismus liegt die Betonung hingegen auf einer wechselseitigen Wirkung zwischen einer Klassifikation, dem Label, und den Klassifizierten: Dadurch, dass sich Klassifikationen und die entsprechenden Institutionen und Expertise immer wieder verändern, verändern sich auch für die Menschen die Möglichkeiten, auf eine spezifische Art zu sein; zugleich verändern „new kinds of people“ die Klassifikationen, die sich beschreiben. (Hacking 2002: 110f.) Der Prozess des Gemacht-Werdens verläuft also nicht einseitig auf der Seite menschlicher Akteure; Klassifikationen werden in diesem Rückkoppelungsprozess ebenso affiziert. Hacking, der selbst zu psychiatrischen Klassifikationen wie Multiple Persönlichkeitsstörung oder „Wandersucht“ (Poriomanie) historisch gearbeitet hat (Hacking 1995, 1998), positioniert sich zwischen zwei Wissenschaftlern, die Anfang der 1960er Jahre die Auseinandersetzung mit Institutionen des „Wahnsinns“ maßgeblich geprägt haben: Erving Goffman, den ich bereits eingeführt habe, und Michel Foucault, der 1961 Wahnsinn und Gesellschaft herausbrachte. (Foucault 2006 [1961]) In der Tradition Foucaults setzt sich Hacking in seinen Arbeiten sowohl mit der Genealogie wissenschaftlicher Phänomene und Klassifikationen auseinander wie auch mit den Konsequenzen, die dieses wissenschaftliche Wissen für die damit adressierten Menschen hat. Sein Ansatz ermöglicht daher, die vielfältigen Wechselwirkungen von Wissenschaft und Mensch-Sein in den Blick zu nehmen.
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Mit seinem Fokus auf die Mechanismen eines dynamischen Nominalismus bleiben Hackings Arbeiten allerdings eng auf Zuschreibungsprozesse und psychiatrische Diagnoseklassifikationen konzentriert. Stefan Beck hingegen plädiert mit Verweis auf Hacking dafür, einen „erweiterten Looping-Effekt“ in den Blick zu nehmen, der weniger auf die individuellen Effekte von Zuschreibungsprozessen fokussiert und stärker die Ko-Konstruktion von „Krankheit – Gesellschaft – Individuum“ und die damit verbundenen Rekonfigurationen (Beck 2009b: 5) herausarbeitet. In der US-amerikanischen Kulturanthropologie gibt es seit den 1990er Jahren zunehmend Arbeiten, die diese Wechselwirkung von Wissenschaft, Gesellschaft und dem Alltagserleben von Menschen empirisch erfassen. Diese Ansätze einer Anthropology of Science and Technology sind daran interessiert, nicht nur die Produktionsseite von Wissenschaft, sondern insbesondere die Perspektive der Konsumenten und Nutzer zu erfassen und diese als reflektierte Experten ernst zu nehmen. (Franklin 1995; Layne 1998; Martin 1998) Ziel ist es, „to reorient the ethnography of science and technology away from the laboratory into the plurality of field sites“ (Hess 1992: 14). Diese Ethnografien problematisieren Grenzziehungen von Expertise und folgen der Bewegung von Informationen, Menschen und Ressourcen an unterschiedliche Orte und Kontexte. (Downey und Dumit 1997) Emily Martin beispielsweise beschreibt in ihrem Buch Bipolar Expeditions, wie in der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft die psychiatrische Diagnose „Bipolar“ als kulturelles Phänomen zu begreifen ist, sowohl in der klinischen Diagnose als auch in den Selbstverständnissen der Betroffenen. (Martin 2007) Von Selbsthilfegruppen über psychiatrische Visiten in der Klinik, Marketingkampagnen für Psychopharmaka und dem Erleben eines psychopharmakologisch behandelten Körpers folgt Martin den verschiedenen Bedeutungen und Konsequenzen der Diagnose manisch-depressiv und zeigt dadurch, wie wissenschaftliche Konzepte auf die Wahrnehmungen des Selbst einwirken können, aber auch wie eigene Strategien im Umgang mit dieser Erkrankung gefunden werden. Für Martin sind dabei Gesellschaft und Wissenschaft Phänomene, die kulturell hervorgebracht werden und in ihren vielfältigen Verflechtungen und Wechselwirkungen analysiert werden müssen. (Martin 1998) João Biehl wiederum erzählt von den problematischen Auswirkungen, die gesundheitspolitische Reformen und eine massive Ausweitung psychopharmakologischer Behandlung in Brasilien auf Familiensysteme und Formen von Solidarität haben. (Biehl 2005) In seiner Ethnografie Vita verfolgt Biehl die Geschichte einer Frau, die von ihrer Familie verstoßen in einem Obdachlosenheim lebt, zurück durch die verschiedenen Krankenhäuser und erzählt den Prozess ihrer sozialen Ausstoßung, der nur im Kontext veränderter Gesundheits-
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versorgung zu verstehen ist. Gemein ist diesen und anderen „neuen Ethnografien“ (Hess 1992), dass sie den vielfältigen Verflechtungen und Pfaden wissenschaftlicher, politischer, kultureller, ökonomischer und sozialer Faktoren nachgehen und sowohl Wissenschaft als Kultur beschreiben als auch die multiplen Wirkungen auf die Selbstverständnisse, lokalen Lebenswelten und Körperlichkeit von Menschen zeigen können. (Dumit 2004; Fassin 2007; Heath 1998; Petryna 2011) Die vielfältigen Ko-Produktionen werden dabei nicht nur in ihrer lokalen kulturellen Bedingtheit und dem individuellen Erleben thematisiert, sondern fragen gleichzeitig nach den historisch geformten wissenschaftlichen wie auch gesundheitspolitischen und -ökonomischen Kontexten. (Biehl 2005, 2007; Lock 1995, 2002; Martin 1994, 2006; Rapp 1997) In meiner Untersuchung interessiert mich in ähnlicher Weise, wie psychiatrisches Diagnostizieren und Behandeln in der Mittendamm-Klinik von gesundheitspolitischen wie psychiatriehistorischen Entwicklungen geformt wurde und wird, und wie in diesem sozialpsychiatrischen Milieu psychische Erkrankungen auf spezifische Weise konzeptualisiert und bearbeitet werden. Wie ich in meiner Arbeit zeigen werde, ergeben sich in diesem lokalen Arrangement von Alltagsroutinen und therapeutischen Programmen spezifische Pfadmöglichkeiten für die Betroffenen, die deren (Krankheits-)Erleben und Selbstverständnisse maßgeblich formen und stabilisieren. Patienten sind in diesen Prozessen keineswegs passive Rezipienten, sondern sind mit eigenen Vorstellungen und Erwartungen in diese Praktiken involviert. Um diesen Fragen differenziert nachzugehen – wie wird in der Mittendamm-Klinik psychiatrisches Behandeln auf spezifische Weise arrangiert und wie werden dadurch Menschen auf Pfade gebracht –, stelle ich in meiner Arbeit die vielfältigen Alltagspraktiken des Diagnostizierens und Behandelns ins Zentrum. Das bedeutet nicht, Klassifizierungen und Ideen analytisch zu ignorieren, sondern diese als Bestandteil von Praktiken zu beschreiben. Wie Menschen und Dinge kontinuierlich hervorgebracht werden In der Kultur- und Sozialanthropologie hat der Fokus auf Praxis eine lange Tradition. (Beck 1996; Beck et al. 2012; Ortner 1984, 2006) Wie Sherry Ortner in einem Rückblick auf theoretische Entwicklungen in der Anthropologie seit den 1960er Jahren betont, vereint dieser Fokus unterschiedliche theoretische Schulen. (Ortner 1984) Während in diesen anthropologischen Ansätzen der soziale Akteur und sein Handlungspotential Ausgangspunkt der Analyse war und ist, fordern aktuelle praxistheoretische Ansätze, Praktiken an sich – und nicht mehr vorgängige Entitäten wie soziale Akteure – zur zentralen Analyseeinheit zu machen. In meiner Anknüpfung an Arbeiten in diesem neueren practice turn
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(Hörning und Reuter 2004; Reckwitz 2003; Schatzki et al. 2001) beziehe ich mich auf solche Ansätze, die in den letzten Jahren im Feld der Science and Technology Studies diskutiert wurden und die sich durch einen radikal antiessentialistischen Zugriff auf Wissenschaft mit ihren vielfältigen Wirkungen und Rückkoppelungen auszeichnen. Zwei Aspekte sind hier zentral: Erstens wird die Trennung zwischen Objekt und Subjekt, Natur und Kultur wie auch zwischen Materialität und Bedeutung grundsätzlich in Frage gestellt. (Latour 1995; Pickering 1995) Damit wird auch die eindeutige Zuordnung von Handlungsträgerschaft auf menschliche Akteure aufgehoben; praxistheoretisches Arbeiten dieser Provenienz betont insbesondere die Handlungsträgerschaft von Dingen in wissenschaftlichen und klinischen Praktiken. (Callon 1999 [1986]; Hirschauer 2004; Latour 2008 [1991]; Law 2002; Mol 2002) Zweitens liegt der Fokus in diesen Arbeiten konsequent auf Prozessen des Hervorbringens und Stabilisierens. Entitäten wie Menschen und Dinge werden in Praktiken immer wieder hervorgebracht und können nicht mehr als Untersuchungseinheiten vorausgesetzt werden. Vielmehr wird Praxis selbst zur grundlegenden analytischen Einheit. Deutlich wird dieser Zugriff im Konzept des enactment, wie der britische Soziologe John Law und die niederländische Philosophin Annemarie Mol den Begriff einführen. Wie Law betont, bedeutet von enactment zu sprechen „to attend to the continuing practice of crafting […] in a combination of people, techniques, texts, architectural arrangments, and natural phenomena“ (Law 2004: 56). Für eine praxistheoretische (bzw. wie Mol es nennt: praxiografische13) Analyse medizinischer Diagnose- und Behandlungspraktiken sind die Arbeiten von Mol wegweisend. In ihrem Buch The Body Multiple beschreibt sie, wie Arteriosklerose (eine Erkrankung der Arterien) an verschiedenen Orten in einer Klinik (im Labor, im Arzt-Patienten-Gespräch usw.) hervorgebracht wird. (Mol 2002) Diesen Prozess des Hervorbringens in Praxis bezeichnet Mol ebenfalls als enactment: „This suggests that activities take place – but leaves the actors vague. It also suggets that in the act, and only then and there, something is – being enacted“ (Mol 2002: 32f.). Der deutsche Begriff des Hervorbringens trifft den englischen Terminus des enactment nur bedingt. Entscheidend ist für Mol wie auch Law, weder von einer vorgängigen Realität auszugehen (also Krankheiten werden von Ärzten „entdeckt“), noch eine sozialkonstruktivistische Perspektive einzunehmen (also Krankheiten werden
13 In deutschsprachigen Texten wird der englische Begriff der praxiography in der Regel mit Praxeografie übersetzt, in Anlehnung an den deutschen Begriff der Praxeologie.
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von Ärztinnen konstruiert). Wie in Praktiken Realitäten enacted werden, sei dabei hochgradig spezifisch und kontingent. Als eine spezifische Praxisform in klinischen Kontexten beschreiben Mol und andere Kolleginnen care practices. (Mol 2008; Mol et al. 2010a; Pols 2003) Care, das man im Deutschen am ehesten als (Ver-)Sorgen, Kümmern, als Form der Achtsamkeit (Klausner und Niewöhner 2012; Niewöhner 2012) übersetzen kann, betont das kontinuierliche Justieren und Aushandeln im klinischen Alltag.14 Insbesondere bei chronischen Erkrankungen, so Mol, ginge es nicht darum, entlang von Behandlungsstandards rationale Entscheidungen über den Behandlungsverlauf zu treffen, sondern um ein der konkreten Situation und den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten angepasstes Experimentieren und Anpassen. Ziel von care ist es, im Kollektiv in kleinen Schritten praktische Lösungen zu finden, die den Zustand des Patienten verbessern. Teil des Kollektivs von Praktiken des Versorgens seien nicht nur Patientinnen, Ärzte, Pflegende, sondern gerade auch Technologien, die diese Praktiken formen und im Zuge dessen auch immer wieder angepasst werden. Was gutes Versorgen charakterisiere, so schreibt Mol, sei „a calm, persistent but forgiving effort to improve the situation of a patient, or to keep it from deteriorating“ (Mol 2008: 20). Und: „care is an interactive, open-ended process that may be shaped and reshaped depending on the results“ (ebd.). Die von Mol beschriebene Logik des Versorgens, im Sinne eines grundlegend situierten und immer prozesshaften Anpassens, beschreibt die Praktiken des Behandelns und Pflegens, wie ich sie in der Mittendamm-Klinik beobachtet habe, äußerst treffend. Zwar werden im Behandlungsverlauf immer wieder Ziele definiert und dabei auch mit Standards hantiert, aber vermutlich wären die Professionellen eher irritiert gewesen, wäre eine Behandlung „nach Plan“ verlaufen. Im Klinikalltag wurden immer wieder aufs Neue die nächsten Schritte ausgehandelt und angepasst, um die Situation für den Patienten, seinen Gesundheitszustand und seine soziale Situation zu verbessern. Anders als Mol geht es mir allerdings nicht darum, eine spezifische Logik aus der „Unordnung des Alltags“ herauszudestillieren (Mol 2008: 83), um eine Form guter Versorgung hervorzuheben.15Vielmehr geht es mir darum herauszuarbeiten, welche
14 Wobei in aktuelleren Arbeiten der Begriff care auf eine Bandbreite von Praktiken ausgeweitet wurde, wie beispielsweise das Betreiben von Landwirtschaft. Siehe hierzu Mol et al. 2010a. 15 Mol betont selbst, dass die Praktiken, die sie mit „logic of care“ umschreibt, ein Ideal darstellen würden, das so, in dieser reinen Form, selten, wenn überhaupt, anzutreffen wäre. (Mol 2008: 83f.)
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Pfade sich in diesen Arrangements der Versorgung für die Patientinnen ergeben. Während das empirisch-philosophische Interesse von Mol und Law auf der Multiplizität von Körpern, von Objekten, von Krankheit und einer radikalen Dezentrierung des Objekts und des Subjekts liegt, steht im Fokus meiner Arbeit die Frage, wie in diesem lokalen Arrangement von Versorgungspraktiken bestimmte Formen von Subjektivierung und Objektivierung möglich und legitim werden. Dabei ermöglicht gerade der Fokus auf Herstellungs- und Stabilisierungspraktiken, diesen Prozessen differenziert nachzugehen und die vielfältigen Konstellationen und Herstellungsbedingungen in den Blick zu nehmen. In meiner Arbeit beschreibe ich diese lokalen Arrangements von Praktiken als Choreografien, die das mehr oder weniger unsichtbare alltägliche Gerüst für die Arbeit und das Zusammenleben auf einer psychiatrischen Station bilden, wie ich im nächsten Abschnitt aufzeigen werde. Choreografien psychiatrischer Alltagspraktiken Wie ich in der Beschreibung der Station angedeutet habe, wird dort jegliche Aktivität, jegliche Interaktion mit den Patientinnen als therapeutisch relevant verstanden. Der gesamte Tagesablauf der Patientin ist damit „Zielscheibe“ therapeutischer Interventionen. Durch einen gleichbleibenden Tagesrhythmus und feststehende Strukturen soll der Patient lernen, seinen Tag zunehmend selbständig zu gestalten. Aber nicht nur das. Durch die verschiedenen Gruppensitzungen und Einzeltermine wird der Patient immer wieder aufgefordert, sich in einer bestimmten Weise zu artikulieren, seine eigenen Wahrnehmungen zu reflektieren. Dies geschieht in der Regel nicht unter Druck oder durch eindeutige Aufforderungen, ein bestimmtes Erklärungsmodell zu übernehmen oder eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Vielmehr soll der Patient durch die Rückmeldungen der Professionellen und auch durch die Beispiele der anderen Patientinnen seinen eigenen Weg finden. Dieser Weg ist dabei nicht beliebig. Durch die Art der Angebote, die durchgängige Strukturierung des Tages, die Organisation des Stationsalltags, die kontinuierlichen Rückmeldungen durch die Professionellen wird die Patientin quasi kontinuierlich und unmerklich auf einen bestimmten Pfad gelenkt. Es ist dieses implizite und gleichzeitig allgegenwärtige Therapieprogramm, das meines Erachtens mit dem Begriff der Choreografie treffend beschrieben und analytisch produktiv gemacht werden kann. In der Wissenschaftsforschung hat Charis Thompson den Begriff der Choreografie mit ihrem Buch Making Parents bekannt gemacht. (Thompson 2005) In ihrer Arbeit über Fruchtbarkeitskliniken in den USA und wie dort Elternschaft erzeugt wird, verwendet sie den Begriff ontological choreography, um zu beto-
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nen, wie in diesem Prozess des Eltern-Machens Elemente von unterschiedlichem ontologischen Status in Relation gebracht werden müssen: „The term ontological choreography refers to the dynamic coordination of the technical, scientific, kinship, gender, emotional, legal, political, and financial aspect of ART clinics. What might appear to be an undifferentiated hybrid mess is actually a deftly balanced comingtogether of things that are generally considered parts of different ontlogical orders […] These elements have to be coordinated in highly staged ways so as to get on with the task at hand: producing parents, children, and everything that is needed for their recognition as such.“ (Ebd.: 8; Herv.i.O.)
Im Unterschied zu Thompsons Beschreibungen einer hochtechnologisierten Reproduktionsmedizin und den vielzähligen medizinischen Technologien, die hier involviert sind, ist eine psychiatrische Station eines Berliner Bezirkskrankenhauses ein medizinischer low-tech Bereich. Aber auch hier sind in diesen alltäglichen Praktiken Dinge von unterschiedlichem ontologischen Status beteiligt: von den Räumen und Türen, die sich für die Patienten öffnen oder schließen, zu Krankenakten und anderen Papiertechnologien hin zu Medikamenten, die gespritzt oder geschluckt werden müssen oder verweigert und ausgespuckt werden. Während Thompson mit dem Begriff der Choreografie in ihrer Arbeit das Zusammenbringen von Elementen unterschiedlicher ontologischer Status betont, verstehe ich in meiner Arbeit Choreografien vor allem als zeitlichräumliche Arrangements, die der Ordnung sowohl der Arbeitsabläufe als auch der therapeutischen Aufgaben dienen; sie bündeln und koordinieren eine Vielzahl an Routinen und Akteuren und bilden damit das unsichtbare Gerüst, das ein Zusammenleben und Zusammenarbeiten auf einer akut psychiatrischen Station ermöglicht. Dabei ist es gerade die untrennbare Vermischung von organisatorischen und therapeutischen Aspekten, die die Choreografie so stabil hält. Deutlich wird dies am Beispiel der Stationstüren: Die Mittendamm-Klinik folgt dem Prinzip der offenen Stationstüren. Um die Türen auf einer Station, auf der auch Menschen leben, die die Station nicht verlassen dürfen, geöffnet zu halten, benötigt es ein komplexes Zusammenspiel von Dokumentationstechnologien (es muss jederzeit dokumentiert, auch aus rechtlichen Gründen, und direkt einsehbar sein, wer die Station nicht verlassen darf; wird die Tür verschlossen, muss dies ebenfalls dokumentiert werden) und therapeutischem Engagement (die Bezugspflege und die Ärzte müssen eine Beziehung zum Patienten aufbauen und kontinuierliche Absprachen über den Ausgang oder den Verbleib auf der Station treffen). Zudem spielt die räumliche Anordnung von Stationstür und Kanzel eine wichtige Rolle. Die Kanzel ist einer kleiner Raum am Eingang der Station, der
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durch eine Glasscheibe vom Stationsflur und der Eingangstür getrennt ist. Die Kanzel ist durchgängig besetzt. Die dort anwesenden Mitarbeiter haben einen Überblick über den Flur und die Stationstür. Dadurch kann der jeweilig diensthabende Mitarbeiter kontinuierlich im Blick behalten, wer die Station verlässt, und im Zweifelsfall die Tür elektronisch abschließen. Damit aber tatsächlich auch jederzeit ein Mitarbeiter in der Kanzel sitzen kann, müssen wiederum verschiedene Arbeitsabläufe koordiniert werden (sitzen die Pflegekräfte zur Schichtübergabe im Mitarbeiterraum zusammen, muss jemand anderes aus dem Team, beispielsweise die Sozialarbeiterin, den Kanzeldienst übernehmen). Dies ist nur ein kleines Beispiel, wie im sozialpsychiatrischen Choreografieren zeitlich-räumliche Arrangements, Arbeitsroutinen und therapeutische Konzepte, Dokumentationstechnologien und rechtliche Standards miteinander verwoben sind. Dabei sind diese klinischen Choreografien in weiter gefasste Strukturen und soziotechnische Arrangements eingebunden (beispielsweise die Abrechnungssysteme, die wiederum in der Dokumentationstechnologie präsent werden), sie sind historisch gewachsen (das Konzept der Kanzel wurde nicht für das Prinzip der offenen Stationstüren erfunden, sondern baut hier auf ältere Konzepte und Routinen der Pflegearbeit auf) und ermöglichen die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteursgruppen (nicht nur Pflege/Mediziner und Patienten, auch Richter, Polizeibeamte, Reinigungspersonal und Betreuer werden in diese Choreografie meist reibungslos eingebunden). Das Entscheidende ist, dass dieses komplexe Arrangement meist unsichtbar ist und als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es ist dabei gerade nicht deterministisch zu verstehen, sondern muss kontinuierlich praktisch hergestellt werden und organisiert gleichzeitig Praktiken auf vielfältige Weise. Choreografien als zeitlich-räumliche Arrangements ordnen und ermöglichen spezifische Praktiken und bilden damit ein flexibles Repertoire „that allows situated action“, wie John Law es zusammenfasst. (Law 2010: 67) Law greift Charis Thompsons Begriff der Choreografie ebenfalls auf, diskutiert ihn allerdings in einem anderen Kontext. In seinem Artikel Care and Killing beschreibt Law, wie im Rahmen der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien Anfang der 2000er Jahre zur Vermeidung der weiteren Ausbreitung der Seuche präventiv möglicherweise infizierte Rinderherden getötet wurden. (Law 2010) Dem Ablauf der Tötung auf einem Hof folgend beschreibt Law vier verschiedene objects of care (caring for the animal, caring for the farmer, caring for the self, caring for the bigger picture), die sich in manchen Situationen auch gegenseitig ausschließen können. Um diese verschiedenen objects of care dennoch managen zu können, bedarf es, so Law, einer Choreografie des Ordnens und Verteilens von Körpern, Technologien, Architekturen, Texten, Gesten und Subjektivitäten.
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Choreografien sind für Law zeitlich-räumliche Ordnungsprozesse von Akteuren und Ereignissen: „Crucial to the ordering of choreography, including the choreography of care, is the arrangement and distribution of events and actors in space and time. […] If, as Mol has argued, care is an unfolding embodied and material process, then the space-time choreography of these moments of juxtaposition and contact is central to its organisation. At the same time it is also important to understand that this organisation is more or less local, for the precise structure of contact cannot be predicted. Care depends not so much on a formula as a repertoire that allows situated action.“ (Ebd.: 67)
Choreografien ermöglichen ein spezifisches zeitlich-räumliches Arrangement und ordnen Praktiken auf lokal konkrete Weise. Sie sind dabei einerseits flexibel und experimentell zu verstehen, wie Law betont, reproduzieren aber zugleich ein begrenztes Repertoire an möglichen Konstellationen. In meiner Arbeit verstehe ich Choreografien als selbstverständliche, mehr oder weniger unsichtbare „Gerüste des Alltags“, als flexible Arrangements, die im Rahmen alltäglicher Routinen und lokaler Ideologien „Menschen auf Pfade bringen“ (sollen). 16 Sozialpsychiatrische Choreografien sind nach spezifischen Vorstellungen von guter sozialpsychiatrischer Versorgung organisiert. Sie umfassen dabei „Prozesse der Regularisierung“ (Moore und Myerhoff 1975), die der Unvorhersehbarkeit des Stationsalltags wie den individuellen Verläufen von Behandlungen eine gewisse Vorhersehbarkeit entgegensetzen. Sie sind damit aber keineswegs vorgängige Handlungsprogramme, die einfach umgesetzt werden, sondern müssen immer wieder performiert werden. Mit dem Konzept der Choreografie hebe ich die spezifische Mischung von Stabilität und Flexibilität psychiatrischer Praxis hervor. Dabei sind Choreografien als Gefüge und als Praxis nicht voneinander zu trennen, weshalb ich in dieser Arbeit beides
16 Diese Konzeptualisierung von Choreografie weist starke Parallelen zum Konzept der Infrastrukturen auf, wie es Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star ausgearbeitet haben. (Bowker und Star 1999) Sie beschreiben Infrastrukturen als komplexes Gefüge von Technologien und Routinen, das auf Aushandlungsprozessen einer Vielzahl von communities of practice (Lave und Wenger 1991) beruht und in der Regel für den Nutzer unsichtbar bleibt. Im Unterschied zu Bowker und Star geht es mir allerdings nicht um Klassifikationen und Standards, die in moderne Informationstechnologien eingebettet sind, sondern um Standards und Normen, die in institutionellen Alltagspraktiken und organisatorischen Abläufen implizit sind.
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verwende: Choreografie und Choreografieren. Choreografien / Choreografieren beschreiben damit in ähnlicher Weise wie Callons Konzept des agencement sowohl das soziotechnische Arrangement als auch die Praxis, die in diesem Gefüge hervorgebracht wird: „an agencement acts, that is, it transforms a situation by producing differences“ (Callon 2008: 38; Herv.i.O.). Sozialpsychiatrische(s) Choreografie(re)n ordnen und organisieren Bewegungen von Patienten und Verläufe auf bedeutsame Weise und produzieren spezifische Effekte. Auf diesen Aspekt der Effekte und die scheinbar selbstverständliche Herstellung spezifischer Patienten-Subjekte im sozialpsychiatrischen Arbeiten werde ich weiter unten ausführlicher eingehen, wenn ich Ansätze aus der Wissensanthropologie einführe, mit denen ich die hier vorgestellten praxistheoretischen Ansätze verknüpfe und damit das Konzept der Choreografie ergänze. Bevor ich dazu komme, gehe ich im folgenden Abschnitt auf die kollaborative Dimension meiner Forschung und den Verlauf meiner Feldforschung ein.
F ELDFORSCHUNG
UND
K OLLABORATION
Zugang zum Feld Im Zentrum meiner Feldforschungen stand eine psychiatrische Station in der Mittendamm-Klinik. Über einen Zeitraum von vier Jahren führte ich auf dieser Station (einer von sechs psychiatrischen Stationen in diesem Bezirkskrankenhaus) drei Feldforschungen durch. Die erste Phase, für die ich 2008 sechs Wochen lang die alltäglichen Abläufe der Station aus verschiedenen Perspektiven teilnehmend beobachtete, hatte einen noch primär explorativen Charakter. Mit wenig Vorkenntnissen über den Alltag in einer Psychiatrie war diese erste Phase des Eintauchens in den stationären Alltag entscheidend, um weitere Fragen und Fokussierungen zu entwickeln. Wenngleich die Räume einer Station kein hermetischer Ort sind, sondern über vielfältige Pfade mit vielen anderen Orten innerhalb wie außerhalb der Klinik verbunden sind, war gerade diese erste Feldforschung stark auf den stationären Alltag im engeren Sinne begrenzt: Die konstante Gleichzeitigkeit von Abläufen, die Vielzahl der dort auftretenden Akteure (Patienten, Angehörige, Pflegekräfte, Ärztinnen, Therapeuten, Richterinnen, Polizisten, gesetzliche Betreuer, Freunde und ehemalige Patientinnen) und auch die Dichte von Artefakten und Infrastrukturen, die im Stationsalltag präsent sind, produzierte an diesem einen Ort einen hohen Grad an Multiplizität und ermöglichte verschiedene Spuren ins Hinterland, denen ich im Laufe dieser Arbeit nachgehe.
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Nach meiner ersten explorativen Feldforschung habe ich auf dieser Station zwei weitere längere Feldforschungsphasen verbracht: eine im Sommer 2009 und schließlich eine letzte Feldforschung von vier Monaten von September bis Dezember 2011. Mein offizieller Status war der einer Praktikantin, wobei sowohl von Seiten der Institution als auch von meiner Seite viel Wert darauf gelegt wurde, mich in meinem Feldforschungsalltag auf der Station kontinuierlich als Ethnologin zu positionieren. In den verschiedenen größeren wie kleineren Runden, mit Professionellen wie auch Patientinnen, stellte ich mich als Ethnologin mit dem Thema meiner Forschung vor. Im Jahr 2010 führte ich in einem anderen Klinikum in Berlin auf einer psychiatrischen Station eine mehrwöchige Vergleichs-Feldforschung durch, um die Spezifik „meiner Heimatstation“ besser einschätzen zu können. Die Analyse dieser Vergleichsforschung fiel selektiv aus und wird in meiner Arbeit nur an einzelnen Stellen als Hintergrundfolie herangezogen. Von Beginn meiner ersten Feldforschung an knüpfte ich Kontakt zu einzelnen Patienten, die ich im Laufe meiner Forschung teilweise in der Klinik, aber auch nach ihrer stationären Behandlung in ihrem privaten Alltag traf. In Absprache mit den behandelnden Ärzten führte ich auf der Station mit mehreren Patienten Interviews durch. In den poststationären Alltag folgte ich insgesamt fünf Patientinnen und Patienten; drei davon werden in dieser Arbeit ausführlich beschrieben. Wichtig war für mich – neben dem Versuch, eine Alters-, Geschlechts- und Krankheitsbandbreite zu berücksichtigen –, dass die Patienten ein Verständnis davon bekamen, was meine Art der Forschung macht. Gerade ethnografische Forschung im Alltag von Menschen außerhalb der Institution Klinik bedeutet ein großes Maß an Intimität und Beziehung, das übliche Formen der Forschung in Bezug auf Nähe übertrifft. Die meisten meiner Kontaktpersonen hatten wenige soziale Kontakte und forderten ihrerseits von mir eine gewisse Kontinuität in der Beziehung, die für mich manchmal schwierig einzulösen war. Entscheidend war aus meiner Sicht, diese „merkwürdige“ Beziehungskonstellation immer wieder zu thematisieren, um das Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde, nicht zu verletzen. Kollaboratives Arbeiten in/mit dem psychiatrischen Versorgungssystem Während meiner Feldforschung wurde mir von den verschiedenen Beteiligten ermöglicht, an allen Situationen, die mit der Arbeit auf der Station zu tun haben, teilzunehmen. Ich konnte in den Teambesprechungen ebenso dabei sein wie bei der Blutabnahme, beim Aufnahmegespräch und bei der Angehörigenvisite. Kamen Menschen von außen dazu, die noch nicht über meine Forschung informiert
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waren, wurden diese selbstverständlich von mir und/oder den Professionellen der Station gefragt, ob ich dabei sein könnte. Und ich traf durchaus auch Patienten, die mit meiner Forschung nichts zu tun haben wollten und denen ich entsprechend „aus dem Weg“ ging. Die therapeutische Versorgung der Patientinnen hatte dabei immer Priorität vor meinem Forschungsinteresse. Die grundlegende Offenheit der Klinik, der Professionellen und Patienten mir gegenüber hat meine Forschung maßgeblich beeinflusst und ist meines Erachtens nicht selbstverständlich. Gegen Ende meiner letzten Feldforschung, als ich quasi schon zum Inventar der Station gehörte, gestanden mir Mitarbeiter, wie irritierend sie meine Anwesenheit (und die meines Notizheftes) eigentlich gefunden hatten. Dass man mir im Laufe der Forschung so viel Vertrauen geschenkt hat und mir allen Zweifeln und Skepsis zum Trotz diese offene Forschung ermöglicht hat, ist beeindruckend und steht für die grundlegende Haltung, die in dieser Klinik gepflegt wird. Die Offenheit des Feldes hat dabei eine konkrete Vorgeschichte. Die Forschung für meine Promotion war Bestandteil eines Forschungsprojektes, das sich mit dem Phänomen und der Klassifikation „chronisch psychisch krank“ im psychiatrischen Versorgungssystem und in der Forschung auseinandersetzte.17 Dieses Forschungsprojekt war von Anfang an als Kollaboration mit dem psychiatrischen Versorgungssystem gedacht. Tatsächlich kam die Idee sowohl für diese eher ungewöhnliche Kollaboration von Europäischer Ethnologie und Psychiatrie als auch für die Frage nach der Produktion von Chronizität von einem Psychiater, der in jener Klinik als Arzt praktizierte. Mit diesem Arzt entwickelte sich im Laufe der Projektentwicklung und der Forschung eine Form der epistemic partnership, wie die US-amerikanischen Anthropologen Douglas Holmes und George Marcus diese Form der Zusammenarbeit bezeichnen. (Holmes und Marcus 2008: 83) Für Holmes und Marcus bedeutet diese Art kollaborativen Arbeitens etwas grundlegend anderes als die enge Zusammenarbeit mit Informanten im Rahmen der Feldforschung:
17 Das Forschungsprojekt „Die Produktion von Chronizität im Alltag psychiatrischer Versorgung und Forschung in Berlin“ (GZ: BE 3191/3-1) wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den Zeitraum 2010 bis 2014 finanziert und am Institut für Europäische Ethnologie unter der Leitung von Prof. Stefan Beck bearbeitet. Mitantragsteller des Projektes waren Prof. Manfred Zaumseil und Dr. med. Sebastian von Peter. Die Forschungen wurde durchgeführt von Dr. Milena Bister und mir. Für weitere Informationen zum Forschungsprojekt siehe die Website des Instituts für Europäische Ethnologie: https://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/drittmittelpro jekte/chronizitaet [Zugriff am 1.7.2013]
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Kollaboration nimmt das Gegenüber als Kollegen, als epistemischen Partner, wahr und begreift den Prozess des ethnografischen Arbeitens bereits von der Entwicklung des Forschungsdesigns über die Forschung selbst hin zur konzeptuellen Arbeit als kollaborativen Prozess. (Holmes und Marcus 2008, 2005) Diese Form der Zusammenarbeit verändere damit auch die Grenzen des „wissenschaftlichen Feldes“ (Bourdieu 1999 [1975]). Beispiele für diese neue Form ethnografischen Arbeitens sehen Holmes und Marcus insbesondere im Feld der Wissenschaftsforschung, in der Anthropologinnen mit Experten konfrontiert sind, die über ihre Wissensproduktion reflektieren und selbst paraethnografisches Wissen produzieren. (Holmes und Marcus 2008, 2005; Marcus 2009, 2008) Diese Art der Reflexion produziere ein Wissen, das oftmals kritisch-distanziert mit dem entsprechenden Feld an Expertise umgehe; hier offenbare sich, so Holmes und Marcus, eine Form der Reflexion und alternativer Sichtweisen, die dem ethnografischen Wissen ähnlich sei: „the de facto and selfconscious critical faculty that operates in any expert domain as a way of dealing with contradicition, exception, facts that are fugitive“ (Holmes und Marcus 2005: 237). Holmes und Marcus sehen in dieser Form der Kollaboration und der Diskussion von para-ethnografischem Wissen die Möglichkeit, einen neuen experimentellen Raum für anthropologisches Arbeiten zu schaffen. Aus der Zusammenarbeit mit dem oben erwähnten Psychiater hat sich mittlerweile ein Netzwerk mit weiteren Professionellen aus dem Feld des psychiatrischen Versorgungssystems entwickelt, in dem es nicht nur um Ergebnisse der Forschung und Analyse geht, sondern vor allem um die Entwicklung weiterer Projekte. Für meine konkrete Feldforschung hat sich aus dieser Zusammenarbeit ein offener Zugang in das sensible Feld stationärer psychiatrischer Versorgung ergeben. Auch wenn die Rolle dieses besonderen Gatekeepers nicht zu unterschätzen ist, begegnete ich im Laufe der Feldforschung bei verschiedenen Akteuren in der Klinik und auch außerhalb einer bemerkenswerten Offenheit. Diese Offenheit zeigte sich nicht zuletzt in der Selbstverständlichkeit, mit der eine kritische Auseinandersetzung von Seiten der Professionellen mit ihrer eigenen Arbeit ermöglicht, ja gerade zu eingefordert wurde. Als ich zu Beginn meiner Feldforschung die Direktorin der Klinik in einem Gespräch konkret fragte, was im Rahmen der Kollaboration eigentlich von mir bzw. unserem Forschungsprojekt erwartete würde, lautete die Antwort, „ein anderer Blick auf unsere Arbeit“. Sie äußerte die Vermutung, dass sich trotz ihres Bemühens um eine kontinuierliche Reflexion eigener Annahmen und Vorgehensweisen blinde Flecken ergeben hätten. Der Wunsch war daher, dass ich im Rahmen des Forschungsprozesses den Mitarbeiterinnen der Psychiatrie Rückmeldungen über meine Beobachtungen ge-
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ben und mit ihnen diskutieren sollte. So wurde sowohl während der Feldforschung als auch danach der Modus meiner Forschung durch das Schreiben, Präsentieren und Diskutieren von Feldnotizen, ethnografischen Sequenzen, Texten unterschiedlicher Art koordiniert. Beispielsweise konnte ich mit dem Stationsteam in Feedback-Sessions anhand von ethnografischen Sequenzen, die ich vorher verteilt hatte, meine zu dem Zeitpunkt formulierten analytischen Hypothesen diskutieren. Zudem hatte ich die Möglichkeit, an einem Stationen übergreifenden Fortbildungstermin eine Sitzung zu gestalten und über meine Forschung zu diskutieren. Nach Abschluss meiner Feldforschung konnte ich zusammen mit einer Master-Studierenden des Instituts für Europäische Ethnologie, Simran Sodhi, die für ihre Masterarbeit ebenfalls dort geforscht hatte, die Teilnehmerinnen der Gruppenpsychotherapien für stationäre und ambulante Patientinnen sowie andere interessierte Patienten zu einer Gruppendiskussion einladen, bei der wir unsere Forschung präsentierten und diskutierten. Darüber hinaus musste ich auch „nebenbei“ immer wieder meine Forschung, meine Hypothesen erklären oder ließ die eine oder andere besonders skeptische Krankenschwester in meinen Feldnotizen lesen. Diese unterschiedlichen Präsentations-Formate sind für die Analyse und Reflexion in der ethnografischen Forschung von besonderem Wert und ein produktives Hilfsmittel: Hier vermischen sich Forschung und Repräsentation und machen deutlich, dass Ethnografie nicht als End-Produkt zu verstehen ist, sondern als andauernder Prozess. Zu dem Verständnis von Kollaboration, wie es Marcus vertritt, gibt es hier jedoch deutliche Unterschiede. Jener Psychiater, den ich oben als epistemic partner bezeichnet habe, war gerade nicht Teil der Station, auf der meine Feldforschung stattfand. Er arbeitete zwar in diesem Krankenhaus, und mit ihm ergaben sich viele fruchtbare Diskussionen über meine Beobachtungen und Analysen, aber er war nicht zugleich „Forschungs-Subjekt“ wie „Forschungs-Objekt“. Die Professionellen und Patientinnen der Station wiederum waren nicht von Anfang an in den Prozess des Forschungsprojektes eingebunden. Es ist wichtig, diese verschiedenen Ebenen der Zusammenarbeit auseinanderzuhalten, wenn man von kollaborativem Forschen spricht. 18 Mit der Möglichkeit des Zugangs durch die
18 Meine Forschung ist daher auch nicht einfach einem Modus des „research down“ oder „research up“ (Nader 1969; Warneken und Wittel 1997) zuzurechnen, da sich mit den unterschiedlichen Akteuren je unterschiedlicher sozialer Status und unterschiedliche Nähe zum akademischen Milieu verbanden. Viele der Akteure hatten durchaus konkrete Vorstellungen von Ethnologie oder zumindest von qualitativer Forschung. Entscheidender für meine Forschung war daher, dass sich aus den diversen Konstellationen unterschiedliche Erwartungen ergaben, aufgrund derer ich immer wieder
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Kollaboration auf institutioneller Ebene waren bestimmte Erwartungen an Feedback meinerseits im Rahmen der Feldforschung verbunden. Mit diesen Feedback-Formaten scheine ich einzulösen, was üblicherweise im ethnologischen Forschen als moralische Verpflichtung zur Transparenz gegenüber den Akteuren des Feldes eingefordert wird. (Marcus und Fischer 1986) Wie Luke Eric Lassiter in einem Überblick zu kollaborativer Ethnografie schreibt, war diese Forderung, die von der Krise der Repräsentation in den 1980er Jahren mitangestoßen wurde, mit dem Anspruch verbunden, dialogische Formen der Wissensproduktion zu entwickeln. (Lassiter 2005) Lassiter macht jedoch auch deutlich, dass dialogisches Arbeiten die asymmetrische Dimension ethnografischer Wissensproduktion keineswegs auflöst. Diese für die 1980er Jahre typische einseitige Fokussierung anthropologischer Selbstreflexion auf die Ebene der Text-Produktion ignoriere nämlich zwei zentrale Momente: das akademische Vorher und das akademische Nachher der „dialogischen“ Feldforschung. Um es auf den Punkt zu bringen: Meine Feldforschung wurde zwar beeinflusst von der institutionellen Form der Kollaboration; mit den Akteuren im Feld musste ich jedoch eigene Aushandlungen und Plausibilitäten erarbeiten, denn sie gingen in diesem kollaborativen Unternehmen das größte Risiko ein. Die Situationen des Feedbacks an die Professionellen waren für mich – und hoffentlich auch für die Akteure im Feld – wertvolle Lernsituationen, in denen ich nicht nur meine Forschung zur Diskussion stellen konnte, sondern wiederum produktives Feedback von Seiten der Akteure meines Feldes bekam. Sie ermöglichten mir darüber hinaus jenseits des institutionell ausgehandelten Zugangs eine situierte Aushandlung mit und Positionierung gegenüber den Akteuren auf der Station. Die Effekte waren für mich konkret „spürbar“. Am deutlichsten wurde dies für mich im Laufe meiner letzten Feldforschung, als ich nach meiner Feedback-Runde im Team von den verschiedenen Professionellen mehr als Teamkollegin denn als Forscherin in die Arbeit auf der Station einbezogen wurde. Dadurch ergaben sich für mich wiederum andere Lernprozesse. Es veränderte auch mein Verständnis für die Arbeit auf der Station. Diese „epistemischen Effekte“ waren das Ergebnis einer bewussten und im Rahmen der Kollaboration eingeforderten Intervention, die ich als Erweiterung des klassischen Lernprozesses im Rahmen von Feldforschungen sehe. Anders als Marcus sehe ich hier jedoch keinen Gegensatz
mein eigenes Forschungsinteresse darlegen und legitimieren musste. Daraus ergab sich nicht unbedingt eine „neue Angst vor dem Feld“ im Sinne einer „Angst vor mangelnder Anerkennung als Wissenschaftler“ (Warneken und Wittel 1997: 2), aber aufgrund der kollaborativen Forschung eine konstant präsente Notwendigkeit der Legitimierung meines wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses und Vorgehens.
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zwischen epistemischer Partnerschaft und der „low-tech phenomenology“ klassischer ethnologischer Feldforschung (Marcus 2008: 48), sondern verstehe sie eher als eine Bandbreite unterschiedlicher Lernprozesse im ethnografischen Arbeiten. Marcus’ epistemische Partnerschaft oder sein Konzept des Para-Ethnografischen sind spezifische Strategien anthropologischer Wissensproduktion, die nicht grundlegend andere Ziele verfolgen als das heuristische Prinzip des encounter in der klassischen Feldforschung: einen epistemischen Mehrwert für den Anthropologen durch Formen des Involviert-Seins in das Feld. Feldforschung als „low-tech phenomenology“ Der Europäische Ethnologe Rolf Linder beschreibt dieses heuristische Prinzip des encounter als eine „dialektische Spannung von Nähe und Distanz“ (Lindner 1981: 64), wobei der Beobachter auf die Vermittlung durch die Erforschten angewiesen sei: „Dies erreicht er aber nur dann, wenn er den Beobachteten das für ihn Besondere an dem für sie Alltäglichen vermittelt; d.h. wenn er in Kommunikation und Interaktion mit ihnen tritt.“ (Ebd.) Lindners Plädoyer in seinem Artikel Die Angst des Forschers vor dem Feld aus dem Jahr 1981 war seinerseits sicherlich gegenüber einer Sichtweise auf Feldbeobachtung positioniert, die Interaktion als potentielles Störungsmoment verstand. Davon scheint man heute weit entfernt. Entscheidend ist, dass er Feldforschung als Lernprozess definiert, der beide Seiten, eben auch den Forscher, verändert. Fast dreißig Jahre nach Linders Artikel und einer sehr nachhaltigen Krise der Repräsentation (nicht nur) in der Anthropologie erscheint sein Plädoyer wieder einer Affirmation zu bedürfen. Der US-amerikanische Anthropologe John Borneman schreibt 2009 in der Einleitung zu einem Sammelband mit dem Titel Being There. The Fieldwork Encounter and the Making of Truth: „Co-presence is […] a source of knowledge that makes possible the transformation of what we know, specifically the anthropologist’s own self-understandings. […] what is important is that the engaged ethnographer learns something of the ‚grammar‘ that guides the actions of his interlocutors.“ (Borneman 2009: 14)
Notwendig war diese Rückbesinnung auf Feldforschung als being there aus Bornemans Sicht, nachdem diese Form der direkten Erfahrung durch Kopräsenz in der Anthropologie an Legitimation verloren zu haben scheint. Das, was er als making of truth bezeichnet, ist dabei keine Rückkehr zu einem positivistischen Empirie-Verständnis, sondern die Möglichkeit, durch das Teilen von Erfahrungen zu objectivities-in-progress zu gelangen. (Ebd.: 20) Ähnlich wie Lindner be-
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tont er, diese „objectivities-in-progress are possible only if ethnographers reestablish a critical distance from the people and processes they study“ (ebd.). Die dänische Anthropologin Kirsten Hastrup beschreibt anthropologisches Wissen und Evidenz in vergleichbarer Weise als temporal objectivation. (Hastrup 2004) Sie arbeitet heraus, dass die Erfahrungen von Anthropologen an sich nicht als Erklärung für Phänomene herhalten können. Erfahrungen, so Hastrup, implizieren „a merging of action and awareness. This merging is the basis for the self-evidence of incorporated ‚local knowledge‘ […] and a prerequisite of any skill or practical competence, including the skill at posing meaningful questions.“ (Hastrup 2004: 466) Durch die in der Feldforschung besondere Verbindung von aktiver Teilnahme und bewusstem Wahrnehmen und Reflektieren lassen sich die in konkreten Situationen gemachten Erfahrungen epistemisch produktiv machen. Die beschriebenen Präsentationsformate, mit denen ich im Laufe meiner Forschung meine Gesprächspartner an meinem analytischen Prozess teilhaben ließ, produzierten Situationen, in denen die lokale „Grammatik“ (Borneman) zum expliziten Thema wurde. Entscheidend war dabei für mich aber weniger die Situation des Feedbacks an sich als der weitere Prozess, der damit angestoßen wurde. Nicht nur lernte ich als Forscherin „sinnvolle Fragen“ (Hastrup) zu stellen, auch die Akteure im Feld hatten die Möglichkeit, besser zu verstehen, welche Bedeutung meine Präsenz auf der Station für mich hat und wie wichtig es für mein Forschungsinteresse ist, praktisch teilzunehmen. Wie der britische Sozialanthropologie Tim Ingold es beschreibt: „Anthropologists work and study with people. Immersed with them in an environment of joint activity, they learn to see things (…) in the ways their teachers and companions do.“ (Ingold 2008: 82; Herv.i.O.) Die Menschen, mit denen wir forschen, so Ingold, verändern die Art und Weise, wie wir denken und wie wir forschen. Die Feedbackformate waren entsprechend nur ein Teil eines Lernprozesses, durch den ich aber in die Lage versetzt wurde, meine Position den Akteuren meines Feldes zu verdeutlichen. Hier wird deutlich, dass Feldforschung als situiertes Lernen (Lave und Wenger 1991) zu verstehen ist, das kein vornehmlich rationaler, kognitiver Prozess ist, sondern in einem konkreten Kontext in Praxis geschieht. Diese Situiertheit bedeutet auch, dass meine Forschung außerhalb der Institution, als ich mich mit Patienten und Patientinnen nach ihrem stationären Aufenthalt in ihren privaten Alltagen getroffen habe, andere und neue Lernprozesse angestoßen hat. Dabei entstanden unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit, die mit eigenen Erwartungen an mich und meine Rolle einhergingen. In der Regel stand weniger das Interesse an meinem Forschungsvorhaben, meinen Methoden und analytischen Zwischenergebnissen im Vordergrund, als die Möglichkeit eines länger
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anhaltenden persönlichen Kontaktes. Auch wenn die Erwartungen und Formen des Kontaktes unterschiedlich waren, war es insbesondere in diesen poststationären Kontakten, dass ich nicht nur eine andere Perspektive auf das psychiatrische Versorgungssystem kennenlernte, sondern auch mit einem spezifischen Repertoire an para-ethnografischem Wissen konfrontiert wurde. Ohne die poststationären Gesprächspartner als meine epistemic partners bezeichnen zu wollen, wurde mir von diesen Akteuren ein spezifisches reflektiertes Wissen über die eigene Biografie und Krankheitsgeschichte und über das psychiatrische Versorgungssystem präsentiert. Dabei geht es mir nicht darum, zu betonen, das Wissen dieser Personen sei aufgrund ihrer besonderen Involviertheit und Erfahrung authentischer, sondern darum, ihr Reflexionspotential ebenfalls für ethnografisches Arbeiten ernst zu nehmen.19
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Anthropologische Perspektiven auf Wissen Nach diesen Einblicken in die methodologische Ausrichtung meiner Forschung komme ich nun zurück zu den theoretischen Perspektiven, die ich für meine Arbeit fruchtbar machen werde. Dabei schließe ich mit meinen Überlegungen zu wissensanthropologischen Ansätzen eng an die im letzten Abschnitt beschriebene Diskussion von Feldforschung als Wissenspraxis und als Lernprozess an. Diese anthropologische Perspektive richtet sich nicht einfach nur auf den Lernprozess der Ethnografin im Feld, sondern gilt in der Kultur- wie Sozialanthropologie als eine zentrale Perspektive auf kulturelle und soziale Phänomene. Wie der US-amerikanische Anthropologe Dominic Boyer anmerkt, beschäftigt sich letztendlich fast jegliche Form der anthropologischen Forschung mit menschlichem Wissen. (Boyer 2005; vgl. Crick 1982) Er verweist auf eine lange wissensanthropologische Tradition, die von der Auseinandersetzung mit „primitiven Wissen“ und der Frage nach der Universalität epistemischer Formen und Inhalte bis hin zu modernen wissenschaftlichen Wissens-Kulturen und der Konstruktion objektiven Wissens reicht. Die britische Sozialanthropologin Mary Douglas hatte bereits in den 1980er Jahren die bis dahin übliche Unterscheidung
19 Zu einer ausführlichen Diskussion von Erfahrungswissen und einer Auseinandersetzung mit Marcus’ und Holmes’ Gleichsetzung von Eliten-Forschung, epistemic partnership und der Produktion von para-ethnografischen Wissen siehe Beck 2009a.
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zwischen so genannten primitiven Wissenssystemen und wissenschaftlicher Erkenntnis in der Anthropologie scharf kritisiert und die grundlegend soziale Grundlage jeglicher Form von Erkenntnis betont. (Douglas 1975, 1991 [1986]; vgl. Klausner 2012) In neueren wissensanthropologischen Ansätzen wird, und das macht diese anthropologische Perspektive besonders kompatibel mit den oben beschriebenen praxistheoretischen Ansätzen, Wissen nicht mehr als Produkt, als Entität, sondern als Wissenspraktiken thematisiert und damit in seiner performativen und relationalen Dimension betont. (Beck 2009a, 2010) Die Bewegung geht also weg von Wissen als Entität hin zu Wissen als Praxis. Wie Stefan Beck hervorhebt, wird mit diesem kultur- und sozialanthropologischen Wissensbegriff „die Entstehung, Performanz und Transformation von Wissen im Handlungsvollzug […] zum Untersuchungsgegenstand gemacht“ und dabei die „Einbettung von Wissenspraktiken in materielle und soziale Kontexte […] als entscheidend angesehen“ (Beck 2010: 21). Dieser Zugriff auf Wissen setzt dabei nicht im Vorfeld eine essentielle Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensformen, wie eben wissenschaftlichem Wissen und Laienwissen, fest, sondern fragt nach den konkreten Legitimierungen und Autorisierungen in seiner praktischen Ausführung, nach seiner sozialen Distribution und Ko-Produktion und den jeweiligen Wahrheits- und Geltungsansprüchen. (Beck 2009a: 222) Diese Perspektive auf Wissen als Praxis ermöglicht mir, in meiner Arbeit sowohl die Art und Weise, wie sozialpsychiatrische Expertise in der MittendammKlinik reproduziert und autorisiert wird, als auch das Erfahrungswissen der Betroffenen in den Blick zu nehmen. Ich werde herausarbeiten, wie Patientinnen im sozialpsychiatrischen Choreografieren in einen kontinuierlichen Lernprozess gebracht werden sollen. Für Menschen, die sich in einer akuten psychischen Krise befinden, steht das alltägliche, routinisierte Wissen oftmals nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung. Es ist gerade das Wissen, das für psychisch gesunde Menschen im Alltag implizit bleibt – wie verhalte ich mich gegenüber anderen Menschen, wie empfinde ich meinen Körper, wie interpretiere ich meine Wahrnehmungen –, das von den Betroffenen (wieder) erlernt werden muss. Im Rahmen der stationären Behandlung wird quasi kontinuierlich an einer Wiedererlangung des Selbstverständlichen gearbeitet. Dieser Lernprozess, der im Stationsalltag auf spezifische Weise choreografiert wird, stellt dabei kein rationales Instruieren dar – die Professionellen stellen objektiviertes Wissen zur Verfügung, das die Patientinnen übernehmen und replizieren –, sondern zeigt sich als kontinuierlicher kollektiver Aushandlungs- und praktischer Aneignungsprozess, der nicht nur sozial, sondern gerade auch räumlich situiert ist. Im Folgenden gehe ich ausführlicher auf wissensanthropologische Ansätze ein, an-
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hand derer ich meine Perspektive auf Wissen als Lernprozess, eingebettet in soziale und materielle Kontexte, weiter herausarbeiten kann. Wie der britische Anthropologe Mark Harris betont, sei „zu wissen“ immer gebunden an die Welt, in der sich Menschen bewegen. (Harris 2007) „Ways of knowing“ seien Bewegungen von Menschen in verschiedenen Kontexten und damit als Form der Ausbildung, der Lehre zu begreifen. „Knowing“, so Harris, „is an achievement of work, experience and time“ (ebd.: 1). Mit diesem Wissensverständnis, das sich explizit zwischen wissensanthropologischen Traditionen, wie ich sie oben angedeutet habe, phänomenologischen und praxeologischen Ansätzen positioniert, verweist Harris unter anderem auf die Arbeiten Tim Ingolds, auf den ich im Abschnitt zu Feldforschung kurz verwiesen habe. Ingold vertritt mit seiner Konzeption von Wissen, die durchdrungen ist von seiner eigenen disziplinären Prägung in der ökologischen Anthropologie (Ingold 2011: 76), eine spezifische relationale wissensanthropologische Perspektive, die sich dazu eignet, praxistheoretische Ansätze zu ergänzen. Ingold beschreibt Wissen als grundlegend praktischen Vorgang: „Rather than supposing that people apply their knowledge in practice, we would be more inclined to say that they know by way of their practice […] that is, through an ongoing engagement, in perception and action, with the constituents of their environment. Thus, far from being copied, ready-made, into the mind in advance of its encounter with the world, knowledge is perpetually ‚under construction‘ within the field of relations established through the immersion of the actor-perceiver in an certain environmental context. Knowledge, in this view, is not transmitted as a complex structure but is the ever emergent product of a complex process. It is not so much replicated as reproduced.“ (Ingold 2011: 159; Herv.i.O.)
Ingold verwehrt sich gegen eine Vorstellung von Wissen, das in irgendeiner Form übertragen oder kopiert wird. Jede scheinbare Wiederholung ist aus seiner Sicht eine Form der Re-Produktion und damit ein kreativer, herstellender Akt. Wissen ist Prozess, ist kontinuierliches Wissen anhand von In-Der-Welt-Sein, und damit eine Form der Improvisation in einem spezifischen Kontext. Wie er es in einem Vortragstitel ausdrückte: „To Know is to Improvise a Movement Along a Way of Life“.20 Für ihn ist die konkrete Wahrnehmung des materiellen Kon-
20 Vortrag gehalten am 31.01.2012 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Institutskolloquiums „Zirkulierendes Wissen. Epistemologische Positionen in der Europäischen Ethnologie“, organisiert von Sabine Imeri, Martina Klausner, Sabrina Mutz und Franka Schneider.
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textes, der Umwelt, wichtiger Bestandteil von Lernprozessen als „coupling of perception and action“ (ebd.: 58). Wissen bedeutet kontinuierliches Lernen: Was die Novizen von den Experten unterscheidet, sei nicht ein Mehr an Wissen, sondern eine größere Sensibilität für Reize in der Umwelt und eine ausgeprägtere Fähigkeit, auf diese Reize präzise urteilend zu reagieren. (Ebd.: 161) Entscheidend ist bei Ingold die kontinuierliche Bewegung, ein andauernder Strom, in dem sich Dinge und Menschen stetig verändern und damit per se als emergent konzipiert sind. Durch die Bewegung in einer materiellen Umwelt befindet sich der Mensch also in einem kontinuierlichen Lernprozess, den Ingold als wayfaring bezeichnet. In diesem „wandernden Wissen“ stellen Menschen kontinuierlich Verbindungen her zu Ereignissen und Erfahrungen in ihrem bisherigen Leben und denen anderer. Ingolds Verständnis von Lernen beschreibt eine komplexe, aber grundlegende low-tech phenomenology. Wenig Raum widmet Ingold der Frage, wie aus diesen prozessualen und relationalen Bewegungen weiterführende Reflexionen, Abstraktionen und theoretische Konzepte werden, wie also auch wissenschaftliche Expertise und klinische Standards in diesem wayfaring entstehen. Um dieser Frage nachzugehen, führe ich an dieser Stelle einen weiteren Ansatz ein, der Wissen als Praxis und Prozess konzeptualisiert und die erwähnte Lücke zu füllen hilft. Die Konzeptualisierung von Erfahrung und Erkenntnis, wie sie der USamerikanische Philosoph John Dewey, einer der wichtigsten Vertreter des Pragmatismus in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, herausgearbeitet hat, lässt sich mit dem relationalen anthropologischen Ansatz Ingolds verbinden und ermöglicht dabei eine Differenzierung der beschriebenen Lernprozesse. Ich werde im Folgenden selektiv auf Deweys umfangreiches Werk eingehen, um den Begriff der Erfahrung zu elaborieren und der Frage nachzugehen, wie aus Erfahrung gelernt wird und dadurch Wissen, auch im Sinne von Konzepten, Ideen und Techniken, werden kann. Der für Deweys Werk zentrale Begriff der Erfahrung verweist zuallererst allgemein auf das „In-der-Welt-Sein“, das Leben von Menschen: „Experience occurs continuously, because the interaction of live creature and environing conditions is involved in the very process of living.“ (Dewey 1980 [1934]: 35) Erfahrung sei dabei ein „doppelter“ Begriff, insofern als dass damit (zumindest im Englischen) sowohl zu erfahren als Prozess wie auch das Resultat, die Erfahrung, beschrieben werden und damit keine Unterscheidung zwischen dem Akt und dem Inhalt, zwischen dem Objekt und dem Subjekt gemacht wird. (Ebd.: 8) Ähnlich wie bei Ingold ist das Machen von Erfahrung grundlegend relational und findet immer in konkreten Umwelten und Situationen statt. „Through habits formed in intercourse with the world, we also in-habit the world. It becomes a home and the home is part of our every
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experience.“ (Ebd: 104) Während Erfahrungen in dieser allgemeinen Weise wie ein kontinuierlicher Ereignisstrom zu verstehen sind, sind es nach Dewey gerade problematische, unsichere Situationen, in denen Menschen lernen und damit Reflexion und Wissen produzieren. In seinem Buch How We Think beschreibt Dewey das Beispiel eines verirrten Wanderers, der an einer ihm unbekannten Weggabelung ankommt und in dieser Situation überlegen muss, welchen Weg er nimmt. Die Entscheidung darüber, so Dewey, „will involve inquiry into other facts, whether brought out by memory or further observation or both.“(Dewey 1997 [1910]: 10f.). Es ist in diesen Situationen der Irritation, des Zweifels, in denen sich basierend auf früher gemachten Erfahrungen Reflexion und Wissen entwickeln kann. Lernen wird durch eine spezifische Qualität der Reflexion und Untersuchung in unsicheren Situationen hervorgebracht, die wiederum zur Gewohnheit – Dewey schreibt hier von habits – werden können. Der Mensch erwerbe „die Gewohnheit zu lernen“ (Dewey 2010: 69). Diese Form des situativen Lernens ausgehend von alltäglicher Irritationen ist für Dewey nicht nur auf Alltagserfahrungen beschränkt. Dewey arbeitet diese Art experimentellen Lernens in problematischen Situationen gerade auch für die Wissenschaft heraus. Entscheidend ist, dass für Dewey Denken und Erfahren zusammenhängende Prozesse sind und Denken damit in seiner Performativität betont wird. Diese Art zu lernen – aufgrund problematischer, unsicherer Situationen – eignet sich zum einen, um die Lernprozesse der Patienten in der Psychiatrie herauszuarbeiten. Wie ich in den verschiedenen empirischen Kapiteln meiner Arbeit zeigen werde, ist es gerade das Problematisch-Werden von selbstverständlichem Alltagswissen – sei es das eigene Zeitgefühl, die Körperwahrnehmung oder die Einschätzung zwischenmenschlicher Kontakte –, was das Erleben psychischer Erkrankungen kennzeichnet. Lernen zeigt sich hier als eine Art reflexiver Looping-Prozess, der allerdings gerade nicht zum Einsinken in Routinen führt, sondern zu einer andauernden Aufmerksamkeit. Zum anderen eignet sich dieser Ansatz aber gerade auch, um die Suchbewegungen der Professionellen, ihre Diagnose- und Behandlungspraktiken zu analysieren und zu diskutieren. Wie ich bereits mit dem Konzept von care hervorgehoben habe, wird im klinischen Alltag in der Mittendamm-Klinik Behandeln als kontinuierlicher Anpassungs- und Aushandlungsprozess verstanden. Praktiken des Sorgens, wie sie insbesondere Mol konzeptualisiert hat (Mol 2008), und Deweys Hervorhebung von experimentellen, suchenden Wissenspraktiken eignen sich in ähnlicher Weise, die Praktiken des Psychiatrie-Alltags zu diskutieren. Die Verbindung von wissensanthropologischen und praxeologischen Ansätzen ermöglicht mir zudem, die zeitliche Dimension sozialpsychiatrischer
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Choreografien und Pfade stärker herauszuarbeiten. Auch wenn beide „Lern“Theoretiker, Dewey und Ingold, stärker die Kreativität und Improvisation im Umgang mit neuen, mit zukünftigen Konsequenzen betonen, speisen sich bei beiden Handlungen aus bereits gemachten Erfahrungen. Durch die Rückbesinnung auf bereits gemachte Erfahrungen, erworbenes Wissen und Zukunftsorientierung, die spezifische Konsequenzen von Praktiken antizipiert, wird hier die Zeitlichkeit von Lern- und Wissenspraktiken betont. Menschen lernen in einem kontinuierlichen Prozess, der vergangene Erfahrungen und Imaginationen des Zukünftigen mit sich bringt und damit den Aspekt der Zeitlichkeit von Praktiken ins Spiel bringt. Entscheidend für die Verbindung von praxistheoretischen Ansätzen, wie ich sie skizziert habe, und der vorgestellten Konzeptualisierung von Wissenspraktiken ist aus meiner Sicht, dass sich Praktiken damit als bereits geprägt von vorherigen Erfahrungen, von Reflexion und körperlicher Wahrnehmung der materiellen Umwelt, von Fähigkeiten und Intentionen, die in die Zukunft gerichtet sind, beschreiben und analysieren lassen. Dies bedeutet nicht zu einem idealistischen Verständnis von Wissen zurückzukehren, in dem Wissen als spezifischer menschlicher kognitiver Vorgang erklärt wird, sondern Wissen als grundlegend relational und als materiell-semiotischen Prozess zu verstehen, der mit einer spezifischen Zeitlichkeit und Lerndimension ausgestattet ist. Ein weiterer produktiver Aspekt, der mit Ingold deutlich wurde, ist, dass Wissen und Lernen immer auch als Bewegungen in und Wahrnehmungen von einer materiellen Umwelt zu verstehen sind, Lernen geschieht hier im Modus des „inhabiting“ (Ingold 2000: 133). Dieses Verständnis von Wissen als Bewegung durch Raum und Zeit lässt sich für das Konzept der Choreografie produktiv machen. Pfade als choreografierte Handlungsfähigkeiten Wie ich zu Beginn meiner Arbeit betont habe, geht es mir in der Analyse der alltäglichen Diagnose- und Behandlungspraktiken auf einer psychiatrischen Station um die Frage, wie diese Praktiken angesichts der hochgradigen Kontingenz von Situationen und Ereignissen im Stationsalltag stabil bleiben. Ich hatte hierzu das Konzept der Choreografie eingeführt, die ich als räumlich-zeitliches Arrangement von Versorgungspraktiken beschrieben habe, die das alltägliche Gerüst für die Arbeit und das Zusammenleben auf einer psychiatrischen Station bilden. Auch interessiert mich in meiner Arbeit, wie in diesem lokalen Arrangement von Versorgungspraktiken bestimmte Formen von Subjekt-Werdung möglich und legitim werden. Wie werden in diesen sozialpsychiatrischen Choreografien Menschen auf spezifische Weise auf Pfade gebracht? Gerade die von mir
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zuletzt diskutierten wissensanthropologischen Ansätze ermöglichen einen Blick auf Praktiken als kontinuierlichen Prozess des Lernens und Werdens und betonen damit die zeitliche Dimension von Praxis. Ziel sozialpsychiatrischen Choreografierens ist es, den Betroffenen eine Rückkehr in ihren normalen Alltag zu ermöglichen und sie wieder zu möglichst selbständigen, handlungsfähigen Subjekten zu machen. Im Stationsalltag werden die Patientinnen kontinuierlich aufgefordert, sich auf spezifische Weise in die Therapie und das Alltagsgeschehen auf der Station einzubringen. Durch die Art der Angebote, die durchgängige Strukturierung des Tages, die Organisation des Stationsalltags, die kontinuierlichen Rückmeldungen durch die Professionellen wird die Patientin quasi permanent auf einen bestimmten Pfad gelenkt. Durch das sozialpsychiatrische Choreografieren ergeben sich dabei spezifische Pfade in der Behandlung und für die poststationäre Versorgung. Mit dem Begriff der Pfade möchte ich den Prozess und die Bedingungen der Entstehung von Handlungsfähigkeit betonen. Welche Vorstellungen eines handlungsfähigen Subjektes werden hier reproduziert, und wie werden in den von mir beschriebenen Choreografien bestimmte Formen von Handlungsfähigkeit hervorgebracht? Welche Formen von Handlungsfähigkeit gelten als legitim und werden ermöglicht, während andere als problematisch gelten? Diese Fragen werden meine empirischen Kapitel durchziehen und im letzten Kapitel ausführlich diskutiert werden. An dieser Stelle präsentiere ich einige theoretische Überlegungen, die für meine empirischen Analysen richtungsweisend waren. Das Konzept der Handlungsfähigkeit bzw. agency21 wird in der Sozial- und Kulturanthropologie (Comaroff und Comaroff 1992; Desjarlais 1997; Ingold 2011; Ortner 2006) und den Science and Technology Studies (Latour 2000, 2005; Law 2004; Pickering 1995) unterschiedlich diskutiert. Während es in der Wissenschaft- und Technikforschung um eine Problematisierung der einseitigen Zuschreibung von Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsträgerschaft an menschliche Akteure geht und die Handlungsträgerschaft von nicht-menschlichen Akteuren hervorgehoben wird, wird – knapp zusammengefasst – in der Sozial- und Kulturanthropologie mit agency das Handlungspotential von sozialen Akteuren
21 Agency wird ins Deutsche als Handlungsfähigkeit, Handlungsträgerschaft, Handlungsmacht oder Handlungspotential übersetzt. In der Übersetzung von Latours Die Hoffnung der Pandora (Latour 2000) beispielsweise wurde der Begriff mehrmals mit Tätigkeit übersetzt; im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie wird agency explizit als Handlungsträgerschaft umschrieben, insbesondere mit dem Verweis auf die Handlungsträgerschaft von nicht-menschlichen Akteuren. In der anthropologischen Literatur ist meist von Handlungsfähigkeit oder -potential die Rede.
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gegenüber machtvollen Strukturen betont. Mir geht es an dieser Stelle nicht um ein ausführliches Abhandeln der entsprechenden Diskussionen, sondern um die Frage nach den Herstellungsbedingungen von agency. Sozialpsychiatrisches Choreografieren zielt auf die Stabilisierung eines Menschen, der in einer akuten psychischen Krise auf die Station kommt und schließlich in sein normales Lebensumfeld entlassen werden soll. Im Laufe der stationären Behandlung sollen dabei aus Patienten handlungsfähige Akteure werden, die aktiv an der Behandlung teilhaben. Der US-amerikanische Anthropologe Robert Desjarlais, der eine Ethnografie zu Obdachlosen in Boston vorgelegt hat, beschreibt einen ähnlichen Anspruch der Professionellen in dem von ihm erforschten Obdachlosenheim: Ziel sei es, „to make agents out of patients“ (Desjarlais 1996: 889). Desjarlais diskutiert seine Beispiele der institutionellen, therapeutischen Herstellung von Handlungsfähigkeit auch für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept in der Anthropologie. An anthropologischen Zugriffen auf das Konzept problematisiert er, dass „the methods of agency are assumed, for the most part, to be much the same everywhere, as if agency was an essential, unchanging given and ontologically prior to the situations in which it arises“ (ebd.: 882). Die aus seiner Sicht entscheidende Frage sei vielmehr, wie Handlungsfähigkeit aus einer spezifischen Zusammensetzung von Aktivitäten entstehe: „Here agency is understood to be nonfoundational and unoriginal; there is no agency without a set of practicalities giving rise to the capacity for action. Because practicalities vary, the forms and reasons of agency are many.“ (Ebd.) Wie Desjarlais kritisch anmahnt, sollten gerade Konzepte wie agency nicht einfach ethnografischen Studien vorausgesetzt sein, sondern müssten immer „in Klammer“ gesetzt werden, weil sie auf Vorannahmen der modernen westlichen Philosophie verweisen. Handlungsfähigkeit ist in diesem Sinne nicht etwas, worüber ein Mensch verfügt und was beispielsweise durch eine psychische Erkrankung gestört werden kann. Vielmehr muss Handlungsfähigkeit immer erst praktisch hergestellt werden. Damit stünde als Objekt der Untersuchung nicht mehr der soziale Akteur mit seinen Erfahrungen und seiner Handlungsfähigkeit im Zentrum, sondern die Prozesse der Formierung, die den Blick von jeglicher Essenz abwenden und damit auch in der Lage sind zu fragen, wie Handlungsfähigkeiten (re-)produziert werden. Diese bedeutet auch, dass es nicht eine Form von Handlungsfähigkeit gibt, sondern diese in ihrer jeweiligen Situiertheit in beispielsweise therapeutischen wie gesundheitspolitischen Konzeptualisierungen und Programmen zu analysieren
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sind, die Vorstellungen und Bedingungen von Handlungsfähigkeit ko-konstituieren.22 Auf diese Vielfältigkeit und Situiertheit von agency verweist auch Charis Thompson, deren Konzept der ontologischen Choreografie ich weiter oben eingeführt habe. Eines der Argumente in ihrer Arbeit ist, dass durch die Formen der Objektivierung, die insbesondere Frauen im Prozess der assistierten Elternschaft durchlaufen, diese nicht zu passiven Rezipientinnen reproduktionstechnischer Praxis werden, sondern in diesem Fall personhood und agency koproduziert werden. (Cussins [Thompson] 1996) Patientinnen seien nicht einfach als diszipliniert und passiv zu verstehen, sondern partizipieren in diesen ontologischen Choreografien aktiv. Thompsons Ansatz ist vor allem produktiv, um Prozesse des Gemacht-Werdens ernst zu nehmen und dabei die „gemachten“ Menschen als aktiv Partizipierende beschreiben zu können. Wie Thompson aber auch anmerkt, sind Choreografien immer in ihrer spezifischen lokalen Situiertheit und dem jeweiligen Arrangement zu betrachten und können durchaus einer Konstituierung von agency entgegenstehen. Handlungsfähigkeit beschreibt also gerade kein essentielles menschliches Potential, sondern ist immer als Ergebnis einer situierten Praxis zu verstehen. In meinen ethnografischen Beschreibungen werde ich herausarbeiten, dass agency dabei auf einer psychiatrischen Station keineswegs das selbstverständliche Ergebnis von ermächtigenden therapeutischen Maßnahmen ist. Wie ich anhand verschiedener Beispiele zeigen werde, können Ansätze der Selbst-Aktivierung und der Selbst-Ermächtigung dem Handlungspotential der Betroffenen genauso gut entgegenwirken. Zudem wird die Analyse deutlich machen, dass es dringend notwendig ist, unterschiedliche Handlungspotentiale ernst zu nehmen, und dass ein einseitiges Zuschreiben von entweder Objektivierung oder Subjektivierung den komplexen Effekten sozialpsychiatrischer Choreografien kaum genügt. Thompsons und Desjarlais’ Betonung der konkreten Situiertheit von agency verweist zudem auf einen weiteren Aspekt, der in meiner Analyse von Handlungsfähigkeiten wichtig sein wird: ein Verständnis von Handlungsfähigkeit als kontinuierlichen Prozess in einem lokalen soziomateriellen Gefüge. Wie Desjarlais betont, sei agency grundlegend Kontext-abhängig, „if we take context to mean both a specific ,place‘ and the social, political, and cultural dynamics that give rise to that place“ (Desjarlais 1997: 204). Während Desjarlais vor allem auf die lokalen politischen und sozialen Bedingungen von Handlungsfähigkeiten
22 In einer historischen Studie zur Neuen Geschichte der Identität arbeitet David Armstrong heraus, dass das Konzept von agency in der Medizin erst relativ spät im 20. Jahrhundert eine Rolle zu spielen begann. (Armstrong 2002)
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an einem konkreten Ort verweist (wobei er in seiner Ethnografie auch auf die spezifische Architektur der Gebäude eingeht), wird in meiner Arbeit die konkrete räumliche Situiertheit der Herstellungspraktiken von agency immer wieder eine Rolle spielen. Hilfreich sind hier wiederum die Arbeiten von Ingold. Agency ist im Ingold’schen Verständnis „the generative flux of the world itself in its continual concrescence, from which persons and things emerge and take the forms they do for the duration of their existence“ (Ingold 2007: 52).23 Für Ingold entsteht agency in einer kontinuierlichen Bewegung eines lernenden Akteurs in seiner Umwelt: „It is the attentiveness of this movement that qualifies it as an instance of action and, by the same token, qualifies me as an agent. To put it another way, the essence of action lies […] in the close coupling of bodily movement and perception. But that is also to say that all action is, to varying degrees, skilled. […] But such skill does not come ready-made. Rather, it develops […] Since agency calls for skill, and since skill arises through development, it follows that the process of development is a sine qua non for the exercise of agency.“ (Ingold 2011: 94; Herv.i.O.)
Das Potential zu handeln setzt das Erwerben von Fähigkeiten in einem kontinuierlichen Lernprozess voraus, der durch die Verbindung von bewusster Wahrnehmung und körperlicher Bewegung geformt wird. Handlungsfähigkeit bedeutet in diesem Sinne ein Involviert-Sein in einer Umwelt, in der nicht nur die Interaktionen mit sozialen Akteuren − seien es Menschen, Institutionen, Organisationen etc. − eine Rolle spielen, sondern die Lernerfahrung auch als Umwelt wahrnehmender und interagierender Prozess im Vordergrund steht. Entsprechend beschreiben Pfade in meiner Arbeit Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten in einem konkreten räumlich-zeitlichen Arrangement. Wie ich bereits in meiner Einführung wissensanthropologischer Konzepte proble-
23 In seinen Arbeiten problematisiert Ingold Versuche einer symmetrischen Zuschreibung von agency an Objekte und Subjekte gleichermaßen, wie sie auch von Latour vertreten werden. Das Problem der Unterscheidung von human und material agency sei ein (von der Akteur-Netzwerk-Theorie) selbst-gemachtes Problem, das sich mit dem Rekurs auf die Kategorisierung von Objekt und Subjekten ergebe. (Ingold 2011: 215) Ingold schreibt deshalb von Materialien oder Substanzen und nicht Materialitäten oder Objekten, die sich als stabilisierte Verdinglichung verstehen ließen, der dann agency zugestanden wird. Relationen seien Trajektorien von Bewegung, die sich nicht between sondern along ergäben, erklärt Ingold seine Abgrenzung zur AkteurNetzwerk-Theorie (ebd. : 85).
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matisiert habe, ist im Vergleich zu Ingolds Beispielen der Alltag auf einer psychiatrischen Station ein massiv regulierter und gesteuerter Raum, in dem durch Praktiken des Sorgens Handlungsfähigkeit ermöglicht werden soll. Wie man Ingolds Ansatz für die Analyse institutionalisierter und hochgradig regulierter Praxis übersetzen könnte, diskutiere ich im nächsten Abschnitt. Die Station als Carescape Während ich im Anschluss an praxistheoretische Konzepte Choreografien als Ordnungsmodi und als stabilisierendes Grundgerüst des Stationsalltages beschrieben habe, durch das Menschen auf spezifische Art und Weise positioniert werden und auf sie eingewirkt wird, werde ich nun aufbauend auf meinen Überlegungen zu Wissen und agency Choreografien als „Lern-Raum“ herausarbeiten und thematisieren, wie hier spezifische Pfade ermöglicht werden. Der Begriff der Choreografie meint im ursprünglichen Kontext der Tanztheorie die Inszenierung von Bewegungsabläufen und dabei die Komposition sowie die Ausführung von Bewegungen in Raum und Zeit. Choreografie lehne ich im nächsten Schritt nahe daran an, wie es im Tanz verstanden wird: In einem Tanzstück gibt es zum einen eine Vorlage für den spatio-temporalen Ablauf der Bewegungen, der nicht primär in Textform oder als einfache, mechanische Tanzschrittabfolge verstanden wird, sondern als kontinuierlich wiederholter Ablauf, wodurch die Tänzer Bewegungen einstudieren. Es ist gerade kein kognitives Bild von Lernen, sondern eines situierten verkörperten Prozesses, dessen Abfolgen immer wieder adjustiert werden. In diesem Sinne müssen Choreografien immer auch performiert beziehungsweise praktiziert werden. Während ich oben in meiner ersten Ausarbeitung des Konzepts stärker auf die Dimension der Komposition verwiesen habe, also das spezifische Programm, das im Stationsalltag praktiziert wird, geht es mir an dieser Stelle vor allem um die Dimension des Ausführens und die damit entstehenden Pfade.24
24 Versteht man den Begriff Pfade im Sinne eines Krankheitsverlaufes, böte sich an dieser Stelle das Konzept der Trajektorie an, wie es der US-amerikanische Soziologe Anselm Strauss in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kolleginnen entwickelt und differenziert hat. Strauss, der sich in seinem intellektuellen Werdegang einer Ausarbeitung pragmatistischer Implikationen für die Soziologie verschrieben hat (Strauss 1993), bezeichnet selbst das Konzept der Trajektorie als zentral für seine „theory of action“ (ebd.: 47ff.), das über die Jahre von zahlreichen Sozialwissenschaftlerinnen aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. (Bowker und Star 1999; Raikhel und Garriott 2013; Timmermans und Berg 1997) Trajektorie definiert Strauss als „the
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Ingold führt in seinen Arbeiten den Begriff der taskscape ein, um zu beschreiben, wie an einem Ort Aktivitäten auf eine konkrete Art zusammenkommen und ein Aktivitäts-Muster formen. Eine taskscape steht in Verbindung mit dem Ort bzw. der Landschaft, in der Menschen ihre spezifischen Erfahrungen machen und lernen. Dieses Aktivitäts-Muster, das den Rhythmus des sozialen Lebens formt, bezeichnet Ingold als taskscape, „an array of related activities“ (Ingold 2000: 195). Ort, Aktivitäten und Menschen gehen eine Verbindung ein, die durch einen gemeinsamen Rhythmus geformt wird und sowohl an den Orten wie auch in den Menschen Spuren hinterlassen. Durch das Engagement im Rhythmus der taskscape konstituiert sich ein verkörpertes, praktisches Wissen, das sozial und materiell ko-produziert ist. Das Konzept der taskscape und das Verständnis von Lernen als Improvisation arbeitet Ingold anhand von Beispielen heraus, in denen Gemeinschaften in mehr oder weniger natürlichen Settings im Rhythmus der Natur leben. In meiner Arbeit hingegen geht es um eine massiv gesteuerte und institutionalisierte Form des Zusammenlebens von Menschen, die einerseits diesen Raum als Arbeitsraum und damit nicht primär als Lebensraum begreifen und sich andererseits in akuten Ausnahmesituationen befinden. Das, was Ingold als mehr oder weniger sich selbst steuernden Prozess des Zusammenlebens in einer natürlichen Umwelt beschreibt, ist also im Kontext der psychiatrischen Klinik ein hochgradig gesteuerter Prozess. Die Pfade, die sich hieraus ergeben, folgen einem spezifischen (therapeutischen) Programm und produzieren intendierte wie weniger intendierte Effekte. Mit Verweis auf das oben beschriebene Verständnis von care als situierte Praktiken des Sorgens, in denen kontinuierlich im Kollektiv an der Justierung und Verbesserung des Zustands eines Patienten gearbeitet wird, bezeichne ich die stationäre taskscape als carescape. Hier werden in einem spezifischen räumlich-zeitlichen Arrangement therapeutische Tasks bereitgestellt und spezifische Choreografien möglich. Im klinischen Alltag steht dabei – neben der durchaus auch statischen Anordnung
course of any experienced phenomenon as it evolves over time […] and the actions and interactions contributing to its evolution“ (Strauss 1993: 53f.). Strauss und seine Kollegen haben mit dem Konzept der Trajektorien vor allem auch Krankheitsverläufe, wie sie in Interaktionen zwischen Patienten, Professionellen, Institutionen, Technologien etc. hervorgebracht werden, analysiert und diese Verläufe dabei nicht einfach als linearen Prozess beschrieben, sondern Brüche und Verschiebungen betont. Da es mir mit dem Begriff des Pfades jedoch weniger um die Analyse eines Verlaufs, sondern um die Lerneffekte geht, die sich im Durchlaufen einer Choreografie ergeben, werde ich das Konzept der Trajektorie trotz einiger Überschneidungen nicht zentral stellen.
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spezifischer Räume, wie beispielsweise dem Mitarbeiterraum – ein kontinuierliches Arrangieren von Räumen, Routinen, Menschen und Dingen im Vordergrund. Durch das spezifische Arrangieren von Menschen in bestimmten Konstellationen (wie beispielsweise in Stuhlkreisen) wird die therapeutische Agenda maßgeblich umgesetzt. Die carescape der psychiatrischen Station basiert dabei auf einem grundlegend vorbestimmten therapeutischen Programm, das bestimmte Aktivitäten und Erfahrungen ermöglicht und andere problematisch macht. Die hier produzierten Choreografien fördern ein spezifisches enskilment (Ingold 2000: 36f.), das Menschen befähigen soll, aus einer akuten Krise in die aktive Gestaltung ihres Alltages und ihres Lebens zurückzufinden. Das Ziel des enskilment ist, dass es irgendwann wie von selbst läuft, ohne dass man sich jeden Schritt wieder neu überlegen muss. Wie in diesen Praktiken Menschen positioniert werden und bestimmte Formen von Handlungsfähigkeit möglich beziehungsweise unmöglich werden, davon handelt diese Arbeit.
Diagnostizieren als Ko-Produktion von Standards und Skills
An einem Donnerstag im November 2011, während meiner letzten längeren Feldforschung verbringe ich eine Nachtschicht auf der Station. Die Patienten und Patientinnen haben bereits zu Abend gegessen, es wird ruhig. Ich sitze mit einer Schwester in der Kanzel und beobachte etwas müde den Flur, während sie am Computer arbeitet. Andreas, einer der drei Stationsärzte hat heute Nacht Dienst; wenn er nicht gerade auf der Rettungsstelle oder auf einer der anderen Stationen zu tun hat, ist er hier auf der Station beschäftigt. Er steht gerade bei uns in der Kanzel, als Herr Sperg am Tresen erscheint, um seine Abendration Methadon einzunehmen. Nachdem ihm die Schwester in einem kleinen Plastikbecher das Mittel gegeben hat und er es mit etwas Wasser ausgetrunken hat, meint er nebenbei zum Arzt, dass er in Zukunft ein anderes Präparat bekommen möchte. An seiner Stimme merkt man, dass er leicht gereizt ist. Andreas fragt nach: „Und warum möchten Sie das, Herr Sperg?“ „Na, weil das andere in der Ampulle kommt und nicht offen ist“, antwortet Herr Sperg, „dann weiß ich wenigstens, wie viel drinne ist.“ Er glaube nicht, dass das [er zeigt auf den leeren Becher] 60 mg sind. Andreas fragt zurück: „Das ist die Dosis, die in der Akte steht und die wir mit Ihnen abgesprochen haben. Was denken Sie, wer daran etwas ändern sollte?“ Herr Sperg wird etwas lauter: „Na Sie!“ Andreas fragt ruhig zurück: „Aber warum sollten wir das tun, Herr Sperg?“ Herr Spergs Antwort: „Na, um mich runterzukriegen!“ Andreas im weiterhin ruhigen Tonfall: „Sie wissen doch, dass wir hier mit offenen Karten spielen, Herr Sperg.“ Doch Herr Sperg winkt genervt ab, daran glaubt er anscheinend nicht. Andreas: „Was müssen wir denn tun, um Ihr Vertrauen wieder zu gewinnen?“ Er bekommt keine Antwort mehr, Herr Sperg dreht sich um und geht. Nachdem er weg ist, dreht sich Andreas zu mir und der Krankenschwester um und meint: „Das ist jetzt die Frage, was das gerade war. War es Suchtdruck, war es BorderlineAgieren, oder hatte es schon etwas Psychotisches? Das hat es beim ihm ja auch
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schon gegeben.“ Die Krankenschwester überlegt kurz und meint, dass er heute schon den ganzen Tag „ziemlich angespannt“ gewesen wäre und ihrer Meinung nach Suchtdruck auf jeden Fall mit reinspiele. Und auch „ein bisschen was Borderliniges“, sein üblicher Versuch, Konflikte zu provozieren und sich in die Opferrolle zurückzuziehen. Diese kurze Begegnung in der Kanzel beschreibt etwas, was im Alltag auf der Station konstant abläuft: Die Professionellen interpretieren kontinuierlich die Äußerungen und das Verhalten der Patientinnen. In den verschiedenen Teambesprechungen werden diese Interpretationen geäußert, gesammelt und diskutiert; es gibt regelmäßige Nachbesprechungen von Therapiesituationen, in denen das Verhalten der Patienten interpretiert wird. Selten ergab sich allerdings für mich die Situation, wie ich sie oben beschrieben habe: Der Arzt hatte mir hier quasi einen kurzen „Echtzeit“-Einblick gegeben, was ansonsten in einer Interaktion mit einem Patienten vor allem in seinem Kopf abläuft. Anhand meines empirischen Materials werde ich der Frage nachgehen, wie psychische Erkrankung in der Mittendamm-Klinik diagnostiziert und zu einem bearbeitbaren Problem wird. Es geht dabei weder darum, wie psychische Erkrankungen von den Professionellen „entdeckt“ werden, noch geht es mir um eine sozialkonstruktivistische Argumentation: die Professionellen würden durch ihre fachspezifische Interpretation etwas als krank konstruieren, was vor ihrer Interpretationsleistung nicht existiert hat. Vielmehr gehe ich der Frage nach, wie in diesem lokalen Kontext psychische Probleme als Phänomene auf spezifische Weise „sichtbar“ gemacht, geordnet und bearbeitet werden: Was heißt es, sozialpsychiatrisch zu diagnostizieren, und was für ein Wissen wird hier relevant gemacht? Bevor ich auf die Praktiken des Diagnostizierens eingehe, stelle ich im Folgenden kurz vor, wie die Rolle von Diagnosen als Klassifikationen von psychischen Störungen in der Klinik thematisiert und problematisiert wird. Während meiner Feldforschungen war für mich sehr auffallend, dass in den Gesprächen im Team wie mit den Patienten konkrete Diagnosen kaum auftauchten. Wollte ich im Einzelfall wissen, welche Diagnose ein Patient hat, musste ich in der Regel in der Akte nachlesen.1 Als ich die Oberärztin der Station in einem
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Auf der Station findet sich eine große Bandbreite psychiatrischer Störungsbilder. Mein Stichproben-Vergleich von Diagnosen, die auf der Station an jeweils einem konkreten Tag im Jahr 2009 und 2011 in den Akten zu finden waren, zeigte eine sehr ähnliche Verteilung: Bei circa 65 % der Patientinnen stand in der Akte als Hauptdiagnose eine Störung aus dem Bereich F 20-F 29 (Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen); die zweithäufigste Diagnose mit weit weniger Patienten (2
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Gespräch nach der Rolle von Diagnosen im klinisch-psychiatrischen Arbeiten frage, erklärt sie mir, dass aus ihrer Sicht Diagnosen etwas wären, was dem System geschuldet sei, was man eben auch ein Stück weit dokumentieren müsse, aber ansonsten fände sie das nicht entscheidend. Sie betont, dass es ihnen in der Klinik sehr wichtig wäre, den Patienten gerade nicht Diagnosen und dergleichen aufzudrücken. Man müsse sehr viel differenzierter auf den Einzelfall sehen. Das wäre zumindest ihre Philosophie. Und diese Philosophie bleibt auch den Patienten nicht verborgen, wie in einem meiner Gespräche mit einem ehemaligen Patienten der Station deutlich wird. Im Rückblick auf seinen letzten Aufenthalt erzählt er, dass er dieses Mal eine andere Diagnose bekommen habe. Und er fügt hinzu: „In der Klinik hat mir ein Pfleger erzählt, die dienen sowieso bloß der Kasse als Klassifizierung, damit die wissen, wofür sie Geld bezahlen. Deswegen versucht man das in Kategorien zu bringen. Aber es hat nicht sehr viel Aussagekraft, egal wie sich das nennt. Da sind die Übergänge einfach auch fließend zwischen den einzelnen Störungen, das kann man nicht so eindeutig festlegen.“ In den Gesprächsauszügen deutet sich an, dass Diagnose-Klassifikationen vor allem auch als Repräsentationen des Krankheitszustandes für administrative Zwecke verstanden werden. Für die Abrechnung der Behandlung mit den Krankenkassen sind einheitliche und vor allem eindeutige Klassifikationen notwendig. Diese Einheitlichkeit und Eindeutigkeit der Diagnoseklassifikationen basiert auf einem standardisierten Klassifikationssystem, das nicht nur in der Mittendamm-Klinik, nicht nur in Deutschland, sondern international zur Anwendung kommt, die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die ICD, die in der 10. Version in Deutschland seit 1998 in Verwendung ist, war ursprünglich eine Statistik über Todesursachen und hat sich in ihrer über 100 Jahre alten Geschichte zum weltweit anerkannten medizinischen Klassifikationssystem entwickelt. (WHO ICD10, Vol2) Aktuell befindet sich die ICD 10 und damit auch das Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ im Revisionsprozess, der aus Sicht der beteiligten Experten einer der grundlegendsten in ihrer Geschichte ist und zu maßgeblichen Änderungen in den Reprä-
von 24 bzw. 5 von 28) lag im Bereich der Affektiven Störungen (insbesondere Depressionen); bei jeweils ein oder zwei Patienten stand in der Akte eine Diagnose aus dem Bereich Substanzabhängigkeit oder Persönlichkeitsstörung oder Dementielles Syndrom oder Belastungsstörung. Ein Großteil der Patientinnen hatte zudem eine oder mehrere, teilweise auch somatische Nebendiagnosen.
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sentationen von einigen Störungsbildern führen wird.2 In dieser Revision geht es nicht nur um eine differenziertere Beschreibung und Ergänzung von potentiellen Symptomen einer psychischen Störung oder die Aufnahme neuer Forschungsergebnisse zu Krankheitsursachen und Dispositionen in die einzelnen Störungskategorien, sondern vor allem um grundlegende Fragen der Nosologie von psychischen Störungen: Für die Kategorie F 20-F 29 („Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“) wird beispielsweise diskutiert, inwiefern die derzeitige Differenzierung verschiedener Formen von Schizophrenie grundsätzlich haltbar ist oder ob es sich nicht vielmehr um unterschiedliche Manifestationen im Krankheitsverlauf einer Störung handle. (Gaebel 2012) Zudem sollen psychotische Symptome auch bei anderen Störungsbildern (wie beispielsweise Affektive Störungen) klassifizierbar sein. Auch im Bereich der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69) sollen die bisher üblichen Subkategorien wie „Abhängige Persönlichkeitsstörung“ oder „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline“ grundsätzlich aufgelöst werden und zukünftig über die Schwere der Störung kategorisiert werden. Insbesondere die eindeutige Abgrenzung von „normalen Persönlichkeitsvarianten“ wird problematisiert. (Tyrer et al. 2011) Dieser kurze Einblick in psychiatrische Klassifikationen soll verdeutlichen, dass psychiatrische Standards, wie sie in der ICD festgelegt werden, das Ergebnis von wissenschaftlichen Herstellungsprozessen und vielfältigen Aushandlungsprozessen sind. Wie der Medizinanthropologe Allan Young am Beispiel der Diagnoseklassifikation Posttraumatische Belastungsstörung zeigt, sind diese diagnostischen Technologien (Young fokussiert auf das US-amerikanische Klassifikationssystem DSM 3 ) dabei an der historischen Formierung des Krankheitsbildes maßgeblich beteiligt. (Young 1995) Ausführlich zur Geschichte der ICD als Klassifikationssystem gearbeitet haben Susan Leigh Star und Geoffrey Bowker. (Bowker und Star 1999) Sie beschreiben die ICD als komplexe Infrastruktur, in die nicht nur historische und zeitgenössische medizinische Krankheitskonzepte eingebettet sind, sondern deren Entwicklung auch durch technologische wie bürokratische Anforderungen maßgeblich geprägt wurde und wird. Diagnostische Klassifikationen bedienen immer
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Die Beta-Version des ICD 11 wurde 2012 von der WHO im Internet zur Diskussion gestellt, der Revisionsprozess soll 2015 abgeschlossen sein. http://www.who.int/ classifications/ icd/revision/en/index.html (Zugriff am 1.11.2012)
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Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders befindet sich derzeit ebenso wie die ICD in Revision. Ziel ist es, die beiden Klassifikationssysteme stärker anzupassen.
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(mindestens) zweierlei: Sie reproduzieren medizinische Expertise als Faktizität und Krankheiten als bürokratisch handhabbare Einheiten. In Deutschland ist die ICD10 in einer modifizierten Version (offiziell: ICD10 GM, German Modification) in Verwendung, die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegeben und betreut wird. Vertragsärzte und entsprechende Einrichtungen sind in Deutschland durch das Sozialgesetzbuch (SGB V, § 295 und § 301) verpflichtet, zur Abrechnung ärztlicher Leistungen nach dieser Version der ICD10 Diagnosen zu erstellen und zu kodieren. Wenn also die Oberärztin erklärt, Diagnosen wären dem System geschuldet, verweist sie auch auf diese gesetzliche Verpflichtung, die als Grundlage für die Berechnung der ärztlichen Leistungen dient. Ihre Bemerkung über die Philosophie der Klinik, „den Patienten eben gerade nicht Diagnosen oder dergleichen aufzudrücken“, verweist wiederum auf jene sozialpsychiatrische Kritik an Labeling-Effekten, wie ich sie in der Einführung meiner Arbeit erwähnt habe. Die potentiellen negativen, weil stigmatisierenden Effekte des professionellen Handelns wie beispielsweise des Etikettierens zu reflektieren, liegt im Kern des sozialpsychiatrischen Selbstverständnisses. Während der Labeling-Ansatz vor allem die Konsequenzen von Diagnosen thematisiert, zeigt sich in der kritischen Distanz zudem eine Reflexion der grundlegenden Partialität von psychiatrischem Wissen. Wie der deutsche Sozialpsychiater Klaus Dörner erklärt, läge „der Sinn der Namengebung […] vor allem in der Verständigung mit anderen Professionellen. Die Auseinandersetzung mit den in dem ICD-Schlüssel aufgeführten Diagnosen ist nützlich, um die Vielfalt des Möglichen kennen zu lernen.“ (Dörner et al. 2002: 154) Und weiter: „Unsere Begriffe sind immer nur Kunstprodukte, Konstruktionen, Modelle, Typen, um damit wenigstens einen Teil der Wirklichkeit einzufangen: Begriffe sind nie die Wirklichkeit selbst!“ (Ebd.: 196, Herv.i.O.)4 Für das Verständnis der spezifischen Expertise, wie sie in der MittendammKlinik praktiziert wird, ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Professionellen
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Diese Formulierungen Dörners fallen vergleichsweise moderat aus, wenn man sich einen seiner Texte aus dem Jahr 1975 vor Augen führt, in dem er „zu zeigen versucht, dass das psychiatrische Diagnostizieren […] nicht nur unwissenschaftlich ist, sondern auch unpraktisch, antipraktisch, antitherapeutisch entstanden ist und wirkt. Es wird dem Ordnungs- Berechenbarkeits-, Sicherheits- und Herrschaftsbedürfnis der Gesellschaft und ihrer Institution Psychiatrie gerecht, nicht dem Patienten.“ (Dörner 1975: 147). Hier verfolgt er noch eine an Thomas Scheff angelehnte radikale Kritik an psychiatrischen Diagnosen, die als grundlegend schädlich für den Patienten angesehen werden.
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eine selbstkritische Haltung gegenüber ihrer eigenen Expertise und den möglichen Konsequenzen, die insbesondere das Benennen und Zuschreiben mit sich bringen, betonen. Das bedeutet nicht, dass sie ohne Klassifikationsstandards arbeiten: Zum einen ist die Mittendamm-Klinik als Bezirkskrankenhaus selbstverständlich eingebunden in administrative und medizinische Infrastrukturen, die Klassifikationsarbeit voraussetzen und gesetzlich verpflichtend regeln. Zum anderen wurde und wird Sozialpsychiatrie als praxisorientiert verstanden, die – zum Bedauern einiger und aus Überzeugung anderer Sozialpsychiater – keine explizite sozialpsychiatrische Theorie und eigene Klassifikationsansätze hervorgebracht hat.5 Sozialpsychiatrie ist keine alternative psychiatrische Theorie und Praxis zur biologisch argumentierenden Psychiatrie und auch keine institutionelle Alternative zur konventionellen Krankenhauspsychiatrie. Viele der sozialpsychiatrischen Forderungen, die mit der Psychiatrie-Enquête in die Wege geleitet wurden, werden heute selbstverständlich in deutschen psychiatrischen Kliniken umgesetzt: bezirkliche Pflichtversorgung, Vernetzung mit dem ambulanten Versorgungssystem, der Grundsatz „ambulant vor stationär“, um die zentralen Forderungen zu nennen. Sozialpsychiatrie wird heute vor allem als eine selbst-kritische professionelle Haltung verstanden, die den Patienten als soziales Wesen und als aktiv Beteiligten im therapeutischen Prozess in den Vordergrund stellt. (Dörner et al. 2002; Finzen und Hoffmann-Richter 1995; Heinze 2005; Schmiedebach und Priebe 2004) Diese kritische Distanz wie auch den pragmatischen Umgang mit psychiatrischen Standards nehme ich im vorliegenden Kapitel als Ausgangspunkt für die Frage, wie psychische Erkrankungen im Klinikalltag gewusst werden. Wie werden psychische Störungen beschrieben, geordnet und dokumentiert? Und inwiefern lässt sich hier eine spezifische sozialpsychiatrische Art des Diagnostizierens zeigen? Was es bedeutet, im Klinikalltag zu diagnostizieren, wird meine Arbeit insgesamt durchziehen. Für dieses erste Kapitel konzentriere ich mich auf die psychiatrischen Wissenspraktiken, also primär darauf, wie disziplinäres Wissen in Form von psychiatrischen Standards wie auch als gelerntes medizinisches Wissen in Praxis wirksam wird. Während üblicherweise Diagnostizieren als der Vorgang verstanden wird, an dessen Ende ein Produkt, nämlich die psychiatrische Krankheitsklassifikation steht, werde ich Diagnostizieren als kleinteiligen und vor allem kontinuierlichen Prozess des Erkennens und Interpretierens von Problemstellungen beschreiben. Das, was als Problem erkannt wird und wie es interpretiert und bearbeitet wird, um schließlich eine neue Situation herbeizuführen, ist dabei grundlegend praktischer Natur, wie auch Dewey betont:
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Vgl. die verschiedenen Beiträge in Finzen und Hoffmann-Richter 1995.
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„Die Situationen, die ein Überlegen hervorrufen, das zu einer Entscheidung führt, sind schon per definitionem im Hinblick auf das, was getan werden könnte und sollte, unbestimmt. Sie erfordern lediglich, dass irgendetwas getan werden sollte. Aber welche Handlung unternommen werden sollte, ist gerade das, was in Frage steht […] Die intellektuelle Frage richtet sich darauf, welche Art von Handlung die Situation verlangt, damit sie eine befriedigende Rekonstruktion erfährt. Diese Frage kann, wie gesagt, nur durch Operationen der Beobachtung, der Sammlung von Daten und der Folgerung beantwortet werden, die von Ideen geleitet werden, deren Material selber durch Operationen des begrifflichen Vergleichs und der Organisation geprüft wird.“ (Dewey 2002 [1986]: 195; Herv.i.O.)
Dewey exemplifiziert sein Verständnis der „Urteile der Praxis“ (ebd.: 193) mit einem passenden Beispiel: „Man muss sich nur an das Verfahren eines Anwaltes oder eines Arztes in einem gegebenen Falle erinnern, um zu sehen, wie grundlegend sein Problem darin besteht, die richtigen Fragen zu stellen – wobei das Kriterium der ‚Richtigkeit‘ die Fähigkeit ist, das Material zutage zu fördern, das bei der Bewältigung der Situation, die die Forschung auslöst, relevant und effektiv ist.“ (Ebd.: 205) Wissenschaftliche wie auch medizinische Praxis verläuft in einer kontinuierlichen Aktualisierung und Überarbeitung von relevanten Fragen, dem Hervorbringen von Materialien, deren Bearbeitung von Ideen geleitet wird, die selbst immer auch praktisch hervorgebracht wurden. Die Frage, wie in einer bestimmten Situation vorgegangen werden kann, lässt sich nach Dewey nur in Relation zu vorhergegangenen Vorgehensweisen und Ideen beantworten, die selbst wiederum in eben solchen „Frage-Antwort-Prozeduren“ hervorgebracht wurden. Vor diesem Hintergrund werde ich verschiedene Situationen psychiatrischen Diagnostizierens herausarbeiten. Es geht mir darum zu zeigen, wie psychiatrisches, disziplinäres Wissen lokal ko-produziert und stabilisiert wird: Was gilt als klinisch-psychiatrisch bearbeitbares Problem, wie werden psychische Erkrankungen auf spezifische Weise sichtbar gemacht und geordnet, wie wird dieses Wissen stabilisiert, und welche Effekte produziert dies? In der Ko-Produktion von psychiatrischem Wissen ist der diagnostizierende Psychiater dabei nur ein, wenngleich zentraler Akteur unter vielen. Am Diagnostizieren sind die anderen Mitarbeitenden der Station (Pflegekräfte und Psychologen, Sozialarbeiterinnen wie Ergotherapeuten) wie auch die Patientinnen ebenso beteiligt wie Dokumente, medizinische Standards, Arbeitsroutinen und Infrastrukturen, Medikamente wie Angehörige. Der Begriff der Ko-Produktion, wie er in den Science and Technology Studies verwendet wird, verweist darauf, wie wissenschaftliches Wissen und soziale Ordnungen immer in wechselseitiger Beeinflussung und Verknüpfung entstehen bzw. bestehen bleiben. (Jasanoff 2004) Wissenschaftliches Wissen, wie eben auch medizinisch-psychiatrisches Wissen,
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ist damit zugleich konstitutiv für soziale Phänomene wie auch deren Produkt. Um dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure und infrastruktureller Komponenten zu betonen, führe ich den Begriff des epistemischen Milieus ein: Wie werden im lokalen, sozialen wie materiellen Setting der Station psychische Erkrankungen auf eine spezifische Art und Weise gewusst? Das, was als legitime diagnostische Kriterien und Verfahrensweisen gilt, greift nicht einseitig auf die Erfahrungen der Professionellen zurück noch ausschließlich auf die disziplinären psychiatrischen Standards, sondern auf ein lokal spezifisches Arrangement, das als soziales wie materielles Milieu die Art und Weise formt, wie etwas gewusst werden kann.6 Wie der US-amerikanische Anthropologe Paul Rabinow mit Verweis auf Dewey feststellt: „Denken ereignet sich in einem Milieu.“ (Rabinow 2004: 37) Rabinow greift hier auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zurück: Denken ereigne sich „zwischen Orten“ (Mi-lieu). Während Rabinow hier insbesondere die zeitliche Dimension in Deweys Verständnis von Denken als praktischem Prozess hervorhebt, betone ich mit dem Milieu-Begriff einen spezifischen Wissens- und Partizipations-Raum, der es gerade auch ermöglicht, das Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Akteursgruppen (sowohl Ärztinnen, Therapeuten und Pflegekräfte wie auch Patienten), Infrastrukturen, Formate und Formen von Wissen in einem lokalen epistemischen Milieu in den Blick zu nehmen. Die Beschreibungen in diesem Kapitel fokussieren in erster Linie auf die Praktiken der Professionellen im klinischen Kontext und zeigen, wie psychiatrisches disziplinäres Wissen „in Praxis einrückt“. (vgl. Reckwitz 2003) Nach der Diskussion, wie im stationären Alltag diagnostiziert wird, thematisiere ich am Ende des Kapitels, wie in dieser Praxis des Diagnostizierens das Wissen über eine Patientin im epistemischen Milieu kontinuierlich reproduziert und stabilisiert wird und den Behandlungsverlauf damit auf spezifische Weise formt.
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Auf die klassischen, insbesondere soziologischen Konzeptualisierungen von Milieu als Sozialisationsraum und sozialstrukturelle Rahmung gehe ich an dieser Stelle nicht ein, da diese in der Regel ausschließlich auf die sozialen Wirkfaktoren in der Konstitution von gesellschaftlichen Akteuren und deren Positionen im Sozialraum, insbesondere vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit problematisieren. Zur Diskussion siehe bspw. Hitzler und Honer 1984; Grathoff 1995. Grob gesagt geht es hier um geteilte Wertvorstellungen und Lebensstile innerhalb sozialer Gruppen. Mein Verständnis von „Milieu“ liegt ebenso quer zu den psychiatrisch-psychologischen Konzeptualisierungen von Milieu in milieutherapeutischen Ansätzen, die auf einen therapeutisch relevanten sozialen Interaktionsraum fokussieren. Siehe den ausführlichen Überblick zu Milieu-Therapien in Brücher 2005.
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Das Kapitel beginnt zunächst mit einer chronologischen Beschreibung: Wie kommen Menschen in die Klinik, und wie erstellt eine Ärztin oder ein Arzt anhand eines Aufnahmegesprächs einen Befund? Nach der ausführlichen Beschreibung eines Aufnahmegesprächs nehme ich im nächsten Schritt die verschiedenen Dokumente in den Blick, die einerseits in dieses Gespräch einwirken und andererseits daraus resultieren, um zu zeigen, wie lokales Diagnostizieren durch psychiatrische Standards und Dokumentationstechnologien ko-produziert wird. Wie werden psychische Erkrankungen durch die in der Klinik zum Einsatz kommenden Dokumentationstechnologien auf spezifische Weise sichtbar gemacht und geordnet? Akten verstehe ich dabei ebenso als „Ko-Produzenten“ im Diagnostizieren wie Psychiaterinnen und Patientinnen. Sie stabilisieren Diagnosepraktiken, indem sie Kategorien, aber auch bereits dokumentiertes Wissen über den Patienten bereitstellen. Wie ich weiter zeigen werde, rückt psychiatrisches disziplinäres Wissen dabei nicht nur durch psychiatrische Standards und Dokumentationstechnologien in Praxis ein, sondern auch durch den disziplinierten Psychiater, der im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung und vor allem in seiner psychiatrischen Tätigkeit einen „psychiatrischen Blick“ gelernt hat. Standards und Skills, im Sinne von praktischen Fähigkeiten, bilden hier gerade keinen Gegensatz, sondern stabilisieren sich in der klinischen Arbeit gegenseitig. Gelernt und stabilisiert wird der psychiatrische Blick vor allem im Kollektiv. Hier werden unterschiedlichste Informationen über den Patienten gesammelt, interpretiert und vor allem auf spezifische Art und Weise arrangiert. In diesem situierten Arrangieren von relevanten Informationen und kollektiven Interpretationen von Problemstellungen und legitimen Interventionen zeigt sich, wie in der Mittendamm-Klinik sozialpsychiatrisch diagnostiziert wird.
D ER W EG
IN DIE
K LINIK
In Gesprächen mit Menschen, die ich als Patient oder Patientin auf der Station kennenlernte, stellte ich auch immer wieder die Frage, was der Auslöser war, der sie letztendlich in die Klinik brachte. Die Erzählungen wurden an dieser Stelle oftmals vage, für mich nicht eindeutig greifbar. „Es ging irgendwann einfach nicht mehr“, war eine übliche Antwort, oder dass der Arzt oder die Betreuerin gemeint hätte, es wäre besser, in die Klinik zu gehen. Auf Nachfragen und in längeren Gesprächen wurde deutlich, dass „Es ging einfach nicht mehr“ vieles bedeuten kann: die völlige Verwahrlosung und Vereinsamung, nachdem man monatelang die Wohnung oder das Bett kaum noch verlassen hat; quälende Ängste, ein unerträglicher Sog, der ständige Drang, einfach aus dem Fenster zu
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springen; die Überzeugung verfolgt und bedroht zu werden, von Menschen auf der Straße, den Nachbarn oder auch von fremden Mächten, die sich in der Wohnung oder auch im eigenen Kopf breitgemacht haben. Auch wenn sich ein Großteil der Patientinnen nach offiziellem Kategorisieren „freiwillig“ und „eigenmotiviert“ in die stationäre Behandlung begibt, wurde in den Geschichten (erzählte wie dokumentierte) deutlich, dass fast immer Dritte an dieser Entscheidung zumindest mit beteiligt waren. Familie, Freunde, Nachbarinnen, Betreuer, die Hausärztin oder der niedergelassene Psychiater, bei der oder dem man in Behandlung ist, legten eine stationäre Behandlung nahe und begleiteten den betroffenen Menschen in vielen Fällen in die Klinik.7 Und manchmal sind es Feuerwehr oder Polizei, die den Betroffenen in die Klinik bringen. Während Letzteres auf dramatische Eskalationen verweist, die oftmals mit einer so genannten Selbstgefährdung oder auch Gefährdung anderer Menschen einhergehen, gehen den meisten Aufnahmen sich länger anbahnende schleichende Veränderungen und sich zuspitzende Krisen voraus. Hier wird deutlich, dass das Problem im Sinne einer akuten Krise, die einen Menschen in die Klinik führt, oftmals bereits vorher von Dritten als solches interpretiert werden muss. Erving Goffman beschreibt diese „vorklinische Phase“ in seinem Buch Asyle als eine „Kette von Agenten oder Agenturen, die schicksalhaft auf seinem Weg vom Status des Bürgers zum Status des Patienten mitwirken“ (Goffman 1973 [1961]: 135). Diese Agenten, die rückblickend den Weg in die Klinik „ausgelöst zu haben scheinen“ (ebd.), können aus dem privaten Umfeld des Betroffenen kommen oder professionelle Vermittler sein, wie Goffman schreibt: Polizeibeamte, niedergelassene Psychiaterinnen, Sozialarbeiter oder dergleichen. Entscheidend für Goffman ist an dieser Verkettung, dass diese Schritte von vielfältigen Faktoren beeinflusst werden (oftmals Zufälle, wie er sagt), aber rückblickend der Weg in die Klinik als unvermeidlich dargestellt wird. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Menschen bereits mit einer Problemstellung in die Klinik kommen. Der Weg auf eine der psychiatrischen Stationen führt zuerst in die Rettungsstelle im Haupthaus der Klinik, wo ein Psychiater der Klinik die Aufnahme macht und den Menschen, dann Patientin, auf eine der Stationen weiterleitet (oder wieder nach Hause schickt oder in eine andere Klinik weiterleitet). „Kommt selbständig und allein“ oder „Frau K. wurde von der Intensivstation des
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Siehe die Statistik im Jahresbericht der Klinik: Circa ein Fünftel der Patientinnen wurde von Notarzt oder Krankenwagen in die Klinik gebracht, ein weiteres Fünftel wurde von Angehörigen oder Bekannten begleitet, die Hälfte kam alleine in die Rettungsstelle, der Rest wurde von professionellen Helfern oder Polizei begleitet. Insgesamt kamen etwas weniger als 60 % ohne ärztliche Zuweisung in die Klinik.
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Klinkum X zuständigkeitshalber auf die allgemeinpsychiatrische Station XX verlegt.“ Oder „Herr T. kam in Polizeibegleitung und wurde auf die allgemeinpsychiatrische Station XX verlegt“, „Herr F. kommt in Begleitung des Wohnbetreuers eigenmotiviert“ oder „Pat. kommt nach telef. Vorankündigung von Dr. M. in Begleitung eines Bekannten.“ Diese kurzen Sätze, die unter der Rubrik „Unfallhergang/Anamnese“ im Aufnahmebogen der Rettungsstelle vermerkt sind, finden sich später dann im selben Wortlaut im Aufnahmebefund der behandelnden Ärztin auf der Station wieder. In diesen Dokumenten finden sich noch weitere Kategorien, die ausgefüllt werden: der klinische beziehungsweise psychopathologische Befund, weitere anamnestische Angaben, Informationen über eine mögliche aktuelle Medikation sowie die Kategorie „Diagnosen“. Da ich selbst nie bei den Aufnahmen in der Rettungsstelle dabei war, frage ich einen der Assistenzärzte der Station, auf der meine Feldforschung stattfand, wie dieser erste Kontakt aus seiner Sicht ablaufe. Er meint, dass man besonders beim Erstkontakt (also wenn man einen Patienten noch nicht kennt) in der Rettungsstelle sehr sensibel sein müsse, vor allem was eine mögliche Diagnose anbelangt. Es mache einen großen Unterschied, ob man – wenn man beispielsweise einen jungen Mann in der Rettungsstelle sieht – eine Anpassungsstörung im Rahmen einer Adoleszenzstörung oder eine Erstmanifestation einer Psychose diagnostiziere. Bei Ersterem wäre eine schnelle kurze Intervention auf der Krisenstation sinnvoll und die Aufnahme auf eine psychiatrische Station vermutlich kontraproduktiv. Diese erste Einschätzung könne durchaus entscheidend sein, wie die Behandlung verlaufe und welche Konsequenzen diese haben könne. Aus seiner Sicht seien Diagnosen wichtig, um, wie er es ausdrückt, „Menschen erst einmal auf die richtige Schiene zu stellen“. Es ginge um eine erste grobe Einschätzung, wie man in die Behandlung einsteigt, dafür wären Diagnosen wichtig: Was braucht ein Patient, wenn er hier ankommt. Diagnosen sind also wichtig, um „Menschen auf die richtige Schiene zu stellen“. Das, was der Arzt als Schiene beschreibt, sind erste grobe Weichenstellungen: Auf der erwähnten Kriseninterventionsstation arbeitet man nicht mit psychiatrischen Diagnosen (und mit einem anderen Finanzierungssystem). Hier werden Menschen in akuter psychosozialer Krise für eine kurze Zeit aufgenommen. Kommt ein Mensch mit einer Suchterkrankung, wird er – soweit Platz frei ist – auf die einzige spezialisierte Station der psychiatrischen Klinik aufgenommen, die Suchtstation, die spezifischen Behandlungsstandards folgt; des Weiteren entstand im Laufe meiner Feldforschungsphase in der Klinik ein neues Behandlungsmodell, die Akut-Tagesklinik, in die Menschen in akuten psychischen Krisen aufgenommen werden, die in der Lage sind, den Abend beziehungsweise die Nacht in ihrem gewohnten Umfeld zu verbringen. Dafür muss
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eine akute Eigen- und Fremdgefährdung ausgeschlossen werden. Besteht der Verdacht auf ein vordergründig neurologisches Problem, wird der Patient auf die neurologische Station verlegt. Ist der Patient nicht Bürger des Bezirks, wird er möglicherweise in eine andere Klinik weitergeleitet. Um also auf der Station „bearbeitbar“ zu sein, muss sich der Verdacht einer akuten psychiatrischen Erkrankung stellen, die Patientin Bürgerin des Bezirks sein und für keine andere Einrichtung innerhalb der Klinik in Frage kommen. Neben diesen Weichen gilt es abzuschätzen, wie schnell mögliche weitere Schritte notwendig sind: akute Suizidalität oder andere Gründe, die eine Unterbringung dringend erforderlich machen, müssen schnell geklärt werden. Hinzu kommt, dass viele der Menschen, die der diensthabende Arzt in der Rettungsstelle sieht, „bekannte Patienten“ sind. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die gerade beschriebene Entscheidungsfindung, also ob ein Patient auf eine der Stationen aufgenommen wird, routiniert verläuft, die Weiche, um auf das Bild zurückzukommen, bereits gestellt ist.
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DER
S TATION : D AS A UFNAHMEGESPRÄCH
Zum weiteren Aufnahmeprocedere. Der Patient wurde nun von der diensthabenden Ärztin in der Rettungsstelle aufgenommen, ein Aufnahmebogen erstellt und der Patient auf eine der sechs Stationen begleitet. Die Station wurde telefonisch bereits informiert, die Pflege übernimmt das weitere Aufnahmeprocedere. Es wird geklärt, in welches Zimmer man den Patienten legen könnte, sein Name auf der Tafel beim entsprechenden Zimmer geschrieben. Die Akten werden angelegt: ein Stammblatt wird ausgefüllt, alle notwendigen leeren Formulare in die Kurve eingeheftet, mit Patientenaufklebern versehen, eine Pflegeaufnahme gemacht und dem Patienten werden die wichtigsten Informationen zum Stationsablauf gegeben. Zeitnah zur Aufnahme führt ein Arzt oder eine Ärztin der Station ein Aufnahmegespräch, eine psychiatrische Exploration mit dem Patienten oder der Patientin durch. Die jeweilige Dauer der Gespräche ist sehr unterschiedlich. Manchmal dauert ein Aufnahmegespräch ein paar Minuten, ein anderes Mal – wie im folgenden Beispiel – länger als eine halbe Stunde. Der Großteil der Patienten, die auf die Station aufgenommen werden, ist dem Personal teilweise seit Jahren bekannt. Eine offizielle Statistik dazu gibt es nicht8, aber mein regelmäßiges Nachfragen bei verschiedenen Mitarbeiterinnen,
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Allerdings findet sich im Jahresbericht der Hinweis, dass es im Jahr 2009 circa 4000 Aufnahmen von 2200 Patienten gab (die Zahlen stimmen proportional mit den
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welche der aktuellen Patienten auf der Station man kenne, zeigte, dass im Durchschnitt mehr als zwei Drittel der Patienten zum wiederholten Mal auf der Station sind. Wie eine Krankenschwester einmal lakonisch meinte: „Da kommt man nach zwei Jahren Elternzeit zurück auf die Station und denkt: Die sind ja immer noch alle hier.“ Dies hängt unter anderem zusammen mit dem Prinzip der „Heimatstation“: Wird ein Patient in der Klinik zur stationären Behandlung aufgenommen, wird er in der Regel auf der Station behandelt, die auch für die letzte Behandlung zuständig war. Für die Arbeit auf der Station bedeutet dies, dass man in der Regel auf bereits gemachte Erfahrungen mit einem Patienten zurückgreifen kann. In den Teambesprechungen, aber auch in den Gesprächen mit den Patientinnen zeigt sich dies in einem selbstverständlichen Verweis auf „das letzte Mal“. Hinzu kommt, dass Patienten, die zum ersten Mal auf der Station behandelt werden, meist ebenfalls „Psychiatrie-erfahren“ sind, das heißt, sie hatten bereits zuvor in einem anderen Krankenhaus eine stationäre psychiatrische Behandlung. Soweit möglich, werden dann von den behandelnden Ärzten die Akten aus dem zuvor zuständigen Krankenhaus angefordert. Aufnahmegespräche mit „bekannten Patienten“ dauern oftmals nur 5-10 Minuten, um den aktuellen Stand und das Behandlungsziel zu besprechen. Die Patientinnen kommen also in der Regel mit einer – teilweise bereits seit Jahren bestehenden – Diagnose, zahlreichen Erfahrungen mit stationärer Behandlung und vor allem mit verschiedenen Medikationen. Diese Patienten sind ebenso erfahren darin zu antizipieren, was in einer psychiatrischen Exploration von ihnen gefragt wird, welches Wissen über sie bereits dokumentiert wurde und welche Kategorien von relevanten Wissen abgefragt werden. Die Patienten wissen, wie man mit dem Arzt spricht. Und damit nun zum Aufnahmegespräch: Die Patientin, Frau Sikorski, hatte ich bereits vor ein paar Wochen bei ihrem letzten Aufenthalt auf der Station erlebt, sie ist eine junge, sehr ruhige und zurückhaltende Frau. Sie wurde am Vortag über die Rettungsstelle auf die Station aufgenommen. Als ich sie am Morgen frage, ob ich beim Aufnahmegespräch dabei sein kann, nickt sie und meint knapp, „kein Problem“. Der Stationsarzt, der das Aufnahmegespräch mit ihr führt, hat gerade erst auf der Station als Assistenzarzt angefangen und kennt Frau Sikorski bislang nur aus den Akten.
offiziellen Zahlen der „Mittendamm-Klinik“ überein, wurden aber aus Gründen der Pseudonymisierung nicht im Original übernommen. Dies gilt für alle statistischen Daten in dieser Arbeit). Von den 2200 Patienten wurden 1450 im Laufe des Jahres einmalig aufgenommen, 750 wiederholt. Wie viele von den 1450 Patienten bereits in den Jahren zuvor in der Klinik waren, geht aus dem Jahresbericht nicht hervor.
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Wir sitzen in seinem Arztzimmer um einen kleinen niedrigen Tisch, der Arzt stellt die Fragen, die Patientin antwortet. Der Arzt führt ein sehr langes Gespräch mit ihr, vor allem über die Stimmen, die sie seit geraumer Zeit hört, über ihre familiäre Situation sowie ihren Drogen- und Alkoholkonsum in den letzten Jahren. Der Arzt hatte sich, wie er auch der Patientin sagt, vor dem Gespräch kurz ihre Akte angesehen. Sie kenne ja die Station bereits von einem letzten Aufenthalt, wie er gesehen hat, ob sie sagen könne, wann das genau war. Frau Sikorski erzählt, dass sie im August und September für ungefähr einen Monat in der Klinik war. Nach einem Selbstmordversuch, fügt sie hinzu. Sie erzählt es, ohne eine Regung zu zeigen, wie sie auch im Verlauf des Gesprächs kaum eine Regung zeigt. Sie sitzt auf ihrem Stuhl, spricht ruhig und monoton. Was denn die Hauptbelastung wäre, warum sie sich in Behandlung begeben habe. Seit zwei Jahren hört sie Stimmen, die sie mittlerweile sehr quälen, sie zu Tode quälen wollen, wie sie sagt, und sie beleidigen. Der Arzt sitzt ihr gegenüber, er nickt manchmal unmerklich. Dass die Stimmen so schlimm geworden sind, so dass sie letztendlich versucht habe, sich das Leben zu nehmen, das wäre erst seit diesem Jahr. Auf Nachfrage des Arztes erzählt sie, dass diese Stimmen seit 2008 da wären, aber am Anfang wären die nicht so quälend gewesen, eher freundlich, auch mal lobend. Der Arzt fragt weiter, wie sie die Stimmen höre, eher im Kopf, wie laute Gedanken, oder eher von außen, wie im Radio oder so ähnlich? Beides irgendwie, manchmal wäre es nur im Kopf, und dann hört sie die Stimmen so, wie sie ihn jetzt höre. Das wäre unterschiedlich. Was für Stimmen das seien, fragt der Arzt, ob sie die Stimmen kenne und ob es eine oder mehrere seien. Das wären die Stimmen ihrer Urahnen, die Geister, die da wären, und es wären viele verschiedene, aber sie höre immer nur eine auf einmal, erklärt sie dem Arzt. Sie wechseln sich sozusagen ab. Sie beschimpfen sie, sagen, dass sie das Allerletzte sei, nichts wert sei, verrecken soll, dass sie sich zu Tode hungern soll oder draußen einen Fliegenpilz suchen oder sich einen Strick nehmen soll. Ob sie auch noch loben und positive Dinge zu ihr sagen? Nein, mittlerweile gar nicht mehr. Sie erzählt, dass die Stimmen so böse geworden wären, weil sie ein Versprechen nicht gehalten habe: Sie hatte versprochen, keine Drogen mehr zu nehmen, und dann bei einer Party letzten Herbst hätte sie doch wieder „einen durchgezogen“. Und damit habe sie Hochverrat begangen, die Urahnen wären sehr wütend auf sie und würden sie zu Tode bringen wollen, weil sie sie verraten habe. Sie werde nun bestraft. Der Arzt fragt nach, ob das vorher auch schon so war, dass die Stimmen so auf den Drogenkonsum reagiert hätten. Vorher hätten die Stimmen sie auch immer wieder beschimpft, wenn sie Drogen genommen hatte, aber erst seitdem sie das Versprechen gebrochen habe, wäre es so unerträglich. Und wie oft hören Sie die Stimmen? Sie hört sie jeden Tag. Immer. Jetzt auch?,
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fragt er. Ja, aber nur im Kopf. Sie antwortet immer nur relativ kurz und wirkt an sich auch sehr „ruhig“, eher unbeteiligt. Der Arzt fragt viel nach, teilweise auch ähnliche Fragen mehrmals (später sagt er, das wäre kein Versehen gewesen, sondern auch der Versuch herauszufinden, ob sie wieder das Gleiche antworten würde, auch um einschätzen zu können, wie strukturiert sie erzählen könne). Der Arzt geht ausführlicher auf ihren Drogenkonsum ein. Wann sie denn begonnen habe, Drogen zu nehmen? „Mit 13“, antwortet Frau Sikorski. „Mit 13?“, fragt der Arzt sichtlich erstaunt nach. Welche Drogen sie genommen habe? Da hätte sie anfangs nur was geraucht, dann später mit 18 Jahren wäre es richtig krass geworden, da hatte sie dann Speed genommen. Wie es mit Alkohol wäre, ob das auch dabei gewesen wäre? Ja, das wäre auch immer dabei gewesen. Wie viel sie denn in Höchstzeiten so getrunken habe? So 10 Flaschen Bier. Anderes auch? Nein, nie etwas anderes. Und welche Drogen sie dann später außer Speed genommen habe. Sie überlegt. Der Arzt fragt: „Kokain?“ „Ja, Kokain auch. Aber nicht regelmäßig.“ „Und LSD oder Ähnliches?“ „Ja, das auch.“ „Und Ecstasy?“ „Ja, das auch.“ Und als sie mit 13 Jahren angefangen hatte, Drogen zu nehmen, ob es da einen konkreten Auslöser gegeben habe? Na, ihre Mutter wäre bei einem Autounfall gestorben, als sie 11 Jahre alt war. Der Vater habe sehr viel getrunken, weil er auch mit dem Tod der Mutter nicht so gut klarkam, und es wäre alles nicht so gut gelaufen. Mittlerweile hätte er es aber einigermaßen im Griff, er hätte jetzt so einen Hausmeisterjob und würde wohl auch nicht mehr richtig trinken. Ob sie jemanden gehabt hätte, mit dem sie alles hätte besprechen können, als sie ein Teenager war? Nein, da gab es niemanden. Der Arzt fragt nach, wie der Kontakt zu den Schwestern sei. Die ältere lebe nicht mehr in Berlin. Mit der jüngeren Schwester habe sie ganz guten Kontakt. Ob es bei ihren Schwestern auch ähnliche Schwierigkeiten gäbe wie bei ihr? Nein, gar nicht. Bei ihrem letzten Aufenthalt, was man ihr da für eine Diagnose gegeben habe? Als Mediziner bräuchte man ja immer so eine Kategorie, ob man ihr da was gesagt hatte? Sie überlegt, „ich glaube, das war eine Psychose, hat man mir gesagt.“ Ob man ihr was von Schizophrenie gesagt hätte? Nein, Psychose hatte man gesagt, und dass es mit den Drogen zusammenhängen könnte. Der Arzt kommt auf ihre Schul- und Berufsausbildung und ihre aktuelle Wohnsituation zu sprechen. Schließlich kommt er noch einmal ausführlich auf die Stimmen zurück. Woher sie wisse, dass es ihre Urahnen seien, die sie bestrafen möchten? Na, das hätten die so zu ihr gesagt. Ob sie selbst sich als religiös bezeichnen würde oder ob sie religiös erzogen worden sei. Nein, überhaupt nicht, antwortet Frau Sikorski. Der Arzt fragt mehrere Themen, die er am Anfang bereits gefragt hatte, noch einmal ab. Ob sie für sich irgendwelche Strate-
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gien gefunden habe, um die Stimmen zu besänftigen. Sie hätte ja bereits seit über zwei Jahren Erfahrung damit, ob sie etwas gefunden habe, was ihr helfe, damit umzugehen? Sie erwähnt, dass sie stundenlang in der Bibel läse. Ob das helfe? Ja, das würde die Stimmen etwas besänftigen. Aber in letzter Zeit helfe es nicht mehr viel, die Stimmen wären zu grausam und quälend und würden sie nicht mehr in Ruhe lassen. Und Alkohol? Ja, deswegen hätte sie dieses Jahr so viel getrunken. Damit sie etwas abschalten könne, aber das hätte immer nur kurz geholfen und dann wäre es danach eher wieder schlimmer. Ob sie auch wieder Drogen genommen habe, bzw. wann sie das letzte Mal Drogen genommen habe? Das hätte sie doch schon gesagt, das wäre letzten Herbst gewesen, deswegen wäre es ja auch so schlimm geworden, seitdem gäbe es keine Ruhe mehr und die Stimmen wollten, dass sie stürbe. Für die Stimmen gäbe es kein Zurück mehr, erklärt sie auf Nachfrage. Es gäbe nichts, was sie tun könnte. Der Arzt kommt auf ihren Suizidversuch zu sprechen, wie sie versucht habe, sich das Leben zu nehmen? Also mit einem Strick, sie hatte versucht sich aufzuhängen, aber das wäre schiefgegangen. Und dann wäre sie in die Apotheke gegangen und hätte sich Schlafmittel geholt. Welche das gewesen wären? Sie weiß es nicht mehr ganz genau, aber es waren welche, die nicht verschreibungspflichtig wären. Wie viel Zeit zwischen diesen zwei Versuchen lag? Das wäre am selben Tage gewesen. Und wie es aktuell aussieht, ob es Gedanken gäbe, Schluss zu machen? Nein, momentan nicht. Deswegen wäre sie ja hier. Der Arzt betont, dass er jederzeit für sie zu sprechen sei und dass auch alle anderen hier auf der Station jederzeit für sie da wären. Wenn es irgendetwas gebe, wenn es ihr schlecht gehe, sie könne jederzeit auch jemanden von der Pflege ansprechen. Er würde vorschlagen, dass sie jetzt erst einmal Diazepam nehme, das würde gegen die Anspannung helfen, das wäre ein Beruhigungsmittel. Ob sie bei der letzten Behandlung ein Medikament bekommen habe? Ja, aber das hätte gar nicht geholfen, die Stimmen wären nicht weniger geworden. „Wissen Sie noch, welches Medikament das war?“ Nein, welches Präparat das war, wisse sie nicht mehr. Der Arzt betont, dass es oftmals auch seine Zeit brauche, bis das Medikament wirken würde. Das ginge nicht innerhalb von ein paar Tagen, sie müsse auf jeden Fall etwas Geduld haben. Man könne vorsichtig mit Diazepam anfangen und sehen, wie es ihr bekomme und ob es an den Stimmen etwas ändere. Insgesamt solle sie auf jeden Fall mit einer etwas längeren stationären Behandlung rechnen. So 4-6 Wochen auf jeden Fall. Ob das für sie in Ordnung wäre? Ja, das würde gehen. Er würde mit ihr gemeinsam in den nächsten Tagen im Gespräch weiterüberlegen, wie es weitergehen solle. Damit verabschiedet er die Patientin. Kurz überlege ich, ob ich auch gehen soll, aber es passiert wieder das, was mich zu Beginn meiner Forschung lange Zeit irri-
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tiert hatte: Wie selbstverständlich setzt sich der Arzt wieder, und an seiner Gestik wird deutlich, dass er davon ausgeht, dass auch ich mich setze, um die übliche Nachbesprechung unter Professionellen zu betreiben. Im Laufe der kurzen Nachbesprechung nutze ich die Möglichkeit, ihn zu fragen, wie er sich eigentlich sicher sein könne, dass sich die Patientin nichts antue. Er betont, dass er die Tatsache, dass sie am selben Tag gleich zweimal hintereinander einen Suizidversuch unternommen hatte, schon sehr bedenklich fände. Das würde zeigen, dass sie zu dem Zeitpunkt determiniert war, sich wirklich das Leben zu nehmen. Allerdings wäre sie derzeit nicht wegen eines Suizidversuchs oder ähnlicher Äußerungen hier. Er hatte bei ihr den Eindruck, dass sie wirklich hier sei, um sich helfen zu lassen. Vor allem wäre es jetzt am Anfang wichtig, nahe an ihr dran zu sein und ihr Vertrauen zu gewinnen. Und wegen des Ausgangs, das würde er mit der Pflege absprechen, die hätten da mehr Erfahrung und die würden die Patientin ja bereits kennen. Dann entschuldigt er sich, er müsse den Befund fertig machen.
D ISZIPLINÄRE A FFORDANZEN : P SYCHIATRISCHE S TANDARDS UND S KILLS IM D IAGNOSTIZIEREN Dieses ausführliche Aufnahmegespräch werde ich im Folgenden in zwei Schritten analysieren. Erstens zeige ich, dass das Gespräch von den anamnestischen Kategorien, die im Aufnahmebefund auszufüllen sind, geformt wird. Durch diese im Befund angelegten psychiatrischen Standards wird das Diagnostizieren geordnet und das, was als relevante Informationen und als „richtige“ Fragen gilt, mit hervorgebracht. Die im Aufnahmebefund festgeschriebenen Standards konzeptualisiere ich als disziplinäre Affordanzen. Der von James Gibson geprägte Begriff der Affordanz beschreibt im ursprünglichen Sinn die „physischen Angebote“ von Objekten, die bestimmte Handlungen ermöglichen, ohne sie zu determinieren. (Gibson 1982) Aus dem engeren Entstehungskontext der Wahrnehmung- bzw. Ökologischen Psychologie löst Stefan Beck das Gibson’sche Affordanz-Konzept und bringt insbesondere die „sozialen und kulturellen Voraussetzungen des ‚sach-gemäßen‘ Gebrauchs“ ins Spiel (Beck 1996: 244). Geht man, anders als in der Psychologie, nicht von einem einzelnen, individuellen Akteur in einer physischen Umwelt aus, sondern setzt voraus, dass „Objektpotentiale […] erst durch Interaktion, Kooperation und Kommunikation realisiert werden“ (ebd.: 246), kann man damit den komplexen Zusammenhang und die Interdependenzen von Objekten, ihren Angeboten, dem soziokulturellen Milieu wie den Akteuren adressieren. Dies ermöglicht eine Umdeutung des Kon-
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zepts auf das, was ich als disziplinäre Affordanzen bezeichne: Damit ziele ich weniger auf die physischen, sondern auf die intellektuellen, professionellen Handlungsangebote ab, also explizit die disziplinären, im Rahmen der medizinisch-psychiatrischen Ausbildung erlernten und dabei selbstverständlich gewordenen „ways of knowing“ (Harris 2007), welche die sachgemäße Nutzung der medizinischen Standards formen. Diese sind in den verschiedenen Dokumentationstechnologien auf der Station präsent und werden vom „disziplinierten“ Psychiater routiniert umgesetzt. Mir geht es also weniger um die materiellen, dinglichen Anforderungen, die mit Technologien wie Akten, Formularen oder Software und Bildschirm einhergehen. Vielmehr geht es im Folgenden um die psychiatrischen Wissensbestände, die in den verschiedenen Dokumenten präsent sind. Dies ist sicherlich eine weitreichende Umdeutung des ursprünglichen Affordanz-Konzeptes. Produktiv für meine Analysen ist diese Umdeutung, da ich damit Diagnostizieren gerade auch als Umwelt wahrnehmenden Prozess herausarbeiten kann, auch im Sinne von Ingolds Konzeptualisierung von Wissenspraxis als „coupling of perception and action“ (Ingold 2011: 58). Umwelt meint hier sowohl andere soziale Akteure als auch Dokumentationstechnologien im Sinne einer infrastrukturellen Umwelt. Mit dem Konzept der Affordanz wird in der Regel auch betont, dass diese als Objektpotentiale, also als Möglichkeiten zu verstehen sind, die durchaus auch entgegen ihrer Aufforderung genutzt werden können. Sicherlich könnten Psychiaterinnen auch „widerständig“ gegenüber den disziplinären Affordanzen des Befundes Fragen stellen oder Kategorien nicht ausfüllen. Der Hinweis auf die sehr unterschiedliche Länge des Aufnahmegesprächs deutet an, dass die Ausführlichkeit, mit der alle Kategorien abgefragt werden, unterschiedlich ausfällt. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass Psychiater im Umgang mit diesen Dokumentationstechnologien durchaus „zuverlässig“ sind; zum einen liegt dies sicherlich an einer administrativen wie auch rechtlichen Disziplinierung: „bad records“ (Garfinkel 1967) können zeitaufwendige administrative Rückmeldungen nach sich ziehen wie im Schadensfall ernsthafte rechtliche Folgen haben. Dieses vorschriftsmäßige Verhalten ist zum anderen darin begründet, dass Medizinerinnen im Rahmen ihrer Ausbildung im Umgang mit Standards diszipliniert werden und daher mit den disziplinären Affordanzen in der Regel routiniert umgehen. Ich werde auf diesen Aspekt im weiteren Verlauf des Kapitels ausführlicher eingehen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass das Ziel des Aufnahmegesprächs keine möglichst realitätsnahe Beschreibung der Probleme der Patientin und ihrer Lebenswelt ist; vielmehr gilt es, bereits selektierte, für die psychiatrische Exploration relevante Fragen zu beantworten.
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Im zweiten Schritt werde ich beschreiben, welche weiteren Anforderungen in diesem Aufnahmegespräch und im Besprechen entlang der anamnestischen Kategorien zum Tragen kommen. Hierzu diskutiere ich den so genannten psychopathologischen Befund, der nicht nach dem „Was“ des Gesprächs fragt, sondern nach dem „Wie“. Diese Art des Interpretierens ist zentral für die Praxis des Diagnostizierens und ist in jeglicher Interaktion mit den Patienten wirksam. Diagnostizieren bedeutet also zweierlei: Zum einen wird diese Praxis immer schon durch vorgängige Problemdefinitionen geprägt; zum anderen – und das wurde auch in der Eingangs-Sequenz deutlich – heißt Diagnostizieren, dass der Psychiater jegliche Äußerung und Verhaltensweise als potentielles Zeichen für ein psychisches Problem deutet.
V OM S TELLEN
DER RICHTIGEN
F RAGEN
Zwei Tage nach dem Aufnahmegespräch habe ich endlich Zeit, mir die Dokumentation des Gesprächs, den Aufnahmebefund anzusehen, der in der elektronischen Krankenakte der Patientin im klinikinternen Dokumentationssystem gespeichert ist. In der Kopfzeile finden sich Name und Anschrift der Klinik, der Name und das Geburtsdatum der Patientin, das Datum des Gesprächs und das Aufnahmedatum. Dann folgt ein Abschnitt, in dem unter den Rubriken Aufnahmemodus und Aktuelle Anamnese die entsprechenden Informationen aus der Rettungsstelle übernommen wurden. Sie kam also „selbständig und alleine“, „um nicht von der Polizei gegen ihren Willen gebracht zu werden“. Darunter folgt der Hauptteil des Befunds. Ich lese mir die verschiedenen anamnestischen Kategorien durch, die hier auftauchen. Die Psychiatrische Anamnese betrifft die aktuellen psychischen Belastungen und den Verlauf von früheren Behandlungen. Die nächste anamnestische Kategorie im Aufnahmebefund lautet Suchtanamnese, auf der zweiten Seite lese ich Somatische Anamnese sowie Medikamentenanamnese; dann folgen die Familienanamnese, mit den Erkrankungen der Eltern, und die soziobiografische Anamnese mit Beschreibungen ihrer Kindheit und ihrer jetzigen Lebenssituation. Von den anamnestischen Kategorien etwas abgesetzt folgt der Psychopathologische Befund und schließlich die Diagnose F20.0. Unter dem Stichwort Procedere lese ich: „Entaktualisierung“ und „Aufnahme der Psychopharmakotherapie“. Darunter steht die Unterschrift des Arztes und der Klinikdirektorin. Ich nehme mir meine Aufzeichnungen des Aufnahmegesprächs zur Hand und versuche, die einzelnen Kategorien wiederzufinden. Abgesehen von der somatischen Anamnese, die im Gespräch nicht vorkam, lassen sich alle Katego-
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rien zuordnen. Der Arzt weiß also durch seinen routinierten Umgang mit dem Aufnahmebefund, welche Kategorien er abfragen sollte. Das, was als Befund, also als Ergebnis einer Untersuchung erstellt wird, ist durch die Kategorien, wie ich sie aufgezählt habe, vorstrukturiert. Relevant sind vorherige psychiatrische Behandlungen, die sozialen Beziehungen, familiäre Vorerkrankungen und Sucht. Es handelt sich also um ein Gespräch, das von den relevanten psychiatrischen Kategorien geleitet wird. Nicht der Arzt oder die Patientin entscheiden, was in dieser Situation die „richtigen“ Fragen sind, vielmehr sind diese Kategorien durch die Anamnesekategorien vorstrukturiert. Diese Kategorien wiederum verweisen auf psychiatrische Grundannahmen über die Ursachen psychischer Störungen, in denen – zumindest bei den meisten Störungsbildern – von einem Zusammenspiel bio-psycho-sozialer Faktoren gesprochen wird.9 Somatische wie auch familiäre Vorerkrankungen können eine psychische Störung hervorbringen; ebenso „triggern“ problematische soziobiografische Bedingungen oder auch Drogenmissbrauch schwerwiegende psychische Probleme. Wie die Medizinsoziologen Timmermans und Berg herausarbeiteten, fungieren medizinische Protokolle und Standards im medizinischen Arbeiten als technoscientific scripts, als Drehbücher oder Textvorlagen, in denen Hypothesen über die Entitäten, die mit diesen Standards bearbeitet werden, bereits integriert sind. (Timmermans und Berg 1997) Die Kategorien, die im Aufnahmebefund aufgeführt sind (und im Grunde genommen auch die, die abwesend sind), verweisen auf Hypothesen über die möglichen Ursachen und potentiellen Symptome sowie relevante therapeutische Schritte. Durch diese Skripts, so Timmermans und Berg, würden vor allem die Trajektorien (Strauss 1993) verschiedener Akteure und Dinge für einen spezifischen Zeitraum zusammengebracht und dabei transformiert werden. Medizinische Standards, wie beispielsweise der Aufnahmebefund, sind als Kristallationsinstanzen zu verstehen: „in putting the protocol to work, the different trajectories are temporarily brought together and […] transformed. Crystallization refers to the fact that the protocol makes the implicit trajectories explicit in specific ways. It makes the roles and requirements of the involved
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Beispielsweise wird bei Psychosen aktuell von einem so genannten VulnerabilitätsStress-Modell ausgegangen, das neurobiologische, psychologische und soziale Faktoren berücksichtigt. Dieses Modell wird von der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) im Praxisleitfaden Schizophrenie als „das zurzeit am besten akzeptierte ätiopathogenetische Modell der Schizophrenie“ bezeichnet. (DGPPN 2006) In dem Lehrbuch „Irren ist menschlich“ rekurriert auch der Sozialpsychiater Klaus Dörner auf dieses Modell. (Dörner et al. 2002) Es scheint also breit genug, um unterschiedliche Positionen zu bedienen.
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actors visible.“ (Timmermans und Berg 1997: 276) Die Familiengeschichte der Patientin, ihr psychiatrischer Behandlungsverlauf, therapeutische Interventionen wie Medikationen, aber auch die Arbeit der Professionellen werden im Aufnahmegespräch auf spezifische Weise koordiniert. Timmermans und Berg betonen mit dem Begriff der Kristallation den kontingenten und temporären Charakter in der Artikulation dieser vielfältigen Trajektorien. Medizinische Standards produzieren daher eine „lokale Universalität“, indem sie einerseits in bestehende lokale Routinen eingepasst werden und andererseits ko-produzieren, was als bearbeitbares Problem gilt. (Berg 1996: 506) Standards sind in diesem Sinne immer auch Ko-Produzenten des epistemischen Milieus. Der Aufnahmebefund ist nur eine von vielen Dokumentationstechnologien, die in der Arbeit auf der Station zum Einsatz kommen. Neben den so genannten Kurven10, die in der Kanzel von den Pflegekräften geführt werden, gibt es einen Aktenschrank, der ältere Kurven beinhaltet sowie die Ergebnisse der regelmäßigen Blut- und EKG-Untersuchungen, und die elektronischen Akten, die eine Fülle unterschiedlicher Dokumentationen der verschiedenen Professionellen früherer wie aktueller Behandlungen enthalten. Psychiatrie ist, wie der australische Psychiater und Sozialanthropologe Robert Barrett feststellt, mittlerweile ebenso „writing cure“ wie „talking cure“ (Barrett 1996: 107), was seines Erachtens grundlegende Konsequenzen für psychiatrisches Arbeiten hat: „These requirements to document a case in a way that conformed to the conventions of clinical writing and that anticipated a variety of future readers influenced the interview conversation, determining the questions the clinican put to the
10 Mit der „Kurve“ wird im Klinikalltag die Zusammenstellung verschiedener aktueller Dokumentationspapiere über einen Patienten in einem Hefter bezeichnet. Diese besteht aus dem „Stammblatt“ mit den Personendaten des Patienten, einem Formular für die „Ärztlichen Anordnungen“ wie beispielsweise Änderung der Medikation oder der Ausgangsregelung; der „Pflegeanamnese“ und dem „Pflegeprozess-Durchführungsnachweis“. Der „Pflegebericht“, in dem jede Pflege-Schicht Informationen zum Patienten dokumentiert, wurde bei meiner letzten Feldforschungsphase nur noch elektronisch verwendet; im Hefter findet sich noch ein blaues Formular, in dem wöchentlich, während der Teambesprechung, die aktuellen und zentralsten Themen mit ein paar Stichworten dokumentiert werden; die eigentliche Kurve im Sinne einer Verlaufskurve ist ein Formular, in dem körperliche Daten (Gewicht, Blutdruck etc.) sowie die Dosierung der Medikation und deren tatsächlich erfolgte Einnahme in einem grafischen Überblick von sieben Tagen dokumentiert werden. Zur Geschichte der Kurve im klinischen Kontext siehe die Arbeit von Volker Hess zum Fiebermessen in Wissenschaft und Alltag. (Hess 2000)
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patient.“ (Ebd. 109) Ähnlich wie Timmermans und Berg betont Barrett, dass Dokumente nicht einfach ein Ereignis wie beispielsweise das Aufnahmegespräch reproduzieren, sondern es grundlegend mit formen. Allerdings ist der Begriff „determining“, wie Barrett schreibt, meines Erachtens problematisch. Hilfreicher erscheint es mir, Dokumentationstechnologien und disziplinäre Affordanzen als Ko-Produzenten klinischer Arbeit und nicht deterministisch zu analysieren, wie es beispielsweise der US-amerikanische Soziologe Jack Levinson vorschlägt. Levinson beschreibt in seiner Ethnografie über eine betreute Wohneinrichtung in New York City den Einsatz von Dokumenten als „reflexive, ‚sense-making procedures‘ that depend on and shape what can be seen and known in the practical course of work“ (Levinson 2010: 168). Die verschiedenen Dokumente, die er als Papiertechnologien bezeichnet, (ko-) produzieren damit professionelles Wissen, wobei sie einerseits Praxis formen, gleichzeitig dieses Wissen auch für vielfältige Transfers transportabel machen. Dazu muss Wissen standardisiert werden, durch „procedures of simplification that permit ease of circulation, and administration in ways that preserve a recognizable object“ (ebd.: 175). Mit Barrett könnte man hinzufügen: wiedererkennbar für „a variety of future readers“ (Barrett 1996: 109). Der Aufnahmebefund und klinische Dokumentationen insgesamt sind damit immer auch Repräsentationen für andere Kontexte. In dem bekannten Text ,Good‘ Organizational Reasons for ,Bad‘ Clinic Records von Harold Garfinkel betont dieser, dass Akten immer als Bestandteil einer organisatorischen Ordnung gelesen werden müssen. Seines Erachtens ist es vor allem der „Vertragscharakter“, der die Struktur des Dokuments prägt. In einem Bezirkskrankenhaus wie der Mittendamm-Klinik treffen Psychiaterinnen immer auch Entscheidungen, die nicht nur medizinisch-therapeutische, sondern auch administrative-ökonomische wie auch versicherungsrechtliche Konsequenzen haben können. Für das vorliegende Kapitel blende ich diese vielfältigen Spuren in die verschiedenen infrastrukturellen Bereiche aus und konzentriere mich auf die Art und Weise, wie psychiatrisches Wissen in Form von Standards in Dokumentationstechnologien präsent und wirksam wird. Zurück zum Aufnahmebefund. Als ich in den einzelnen Anamnese-Kategorien genauer nachlese, bin ich irritiert: Der Inhalt kommt mir stellenweise zwar durchaus bekannt vor, aber hier stehen Informationen, von denen im Gespräch nicht die Rede war. Bei genauerem Lesen verstehe ich, dass beispielsweise unter der psychiatrischen Anamnese Inhalte von fünf vorherigen Aufenthalten, einer im Jahr 2009, die übrigen alle aus diesem Jahr, eingefügt wurden. Die meisten Einträge in den anderen Kategorien wurden aus dem letzten Befund des vorherigen Aufenthalts kopiert. Ich schaue mir einige Aufnahmebefunde anderer
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Patienten an und stelle fest, dass dies keine Ausnahme ist, sondern die Regel. Nur bei einer Patientin, die bislang noch nie zur Behandlung hier im Krankenhaus war, ist der Befund ausschließlich von ihrer aktuellen Aufnahme. Die Spuren früherer Explorationen werden automatisch sichtbar gemacht (die Auszüge aus den älteren Befunden sind mit „>“ markiert) und gewissermaßen weitergereicht. Es sind also nicht nur die in den Dokumentationstechnologien vorgegebenen Kategorien, die das Ereignis des Aufnahmegesprächs formen, sondern auch die bereits früher dokumentierten Inhalte. Der Arzt hatte der Patientin zu Beginn des Gesprächs gesagt, dass er sich ihre Akte vorher kurz angesehen habe. Ich suche nach Spuren hierfür und beginne meine eigenen Aufzeichnungen und den Befund querzulesen.11 Der Arzt beginnt das Gespräch damit, dass er sie nach ihrem letzten Aufenthalt fragt. Sie nennt die beiden letzten Aufenthalte und erzählt von ihrem Selbstmordversuch und den Stimmen. Im Befund lese ich: „Einmalig Suizidversuch durch Tablettenintoxikation unter dem Einfluss der Phoneme“. Zu den Stimmen, über die er mit Frau Sikorski so ausführlich gesprochen hat, finde ich kaum etwas, nur: „Erstmaliges Stimmenhören etwa 2008 mit schleichendem Beginn“. In einem älteren Absatz steht: „Seit ca. einem halben Jahr Stimmenhören“. Über den Inhalt, was die Stimmen sagen und wer aus ihrer Sicht zu ihr spricht, steht im gesamten Befund nichts. Die Einträge unter Suchtanamnese, Familienanamnese und soziobiografische Anamnese, die alle vom letzten Aufenthalt übernommen wurden, geben inhaltlich wiederum fast identisch wieder, was die Patientin im Gespräch erzählt hatte. Nicht nur der Arzt weiß, wie man die richtigen Fragen stellt, um die anamnestischen Kriterien abzudecken, sondern auch die Patientin, die zum wiederholten Male auf der Station ist, weiß, wie sie zu antworten hat. Während meiner Feldforschung hatte ich in Gesprächen mit Patientinnen die für mich als Ethnologin erst einmal irritierende, bisweilen auch enervierende Erfahrung gemacht, dass mir Patienten, wenn ich sie nach ihren bisherigen Erfahrungen mit psychiatrischer Behandlung oder ihrer Erkrankung fragte, manchmal regelrechte Fallgeschichten erzählten (vgl. Pols 2005). Eine chronologische Erzählung, die oftmals von Fachbegriffen durchzogen war – hierzu ein Beispiel
11 Meine Aufzeichnungen sind ebenfalls „ethnografische Papiertechnologien“, die auf eine spezifische epistemologische Rolle von Feldnotizen im ethnologischen Arbeiten verweisen und „depend on and shape what can be seen and known“ (Levinson 2010: 168). Es geht mir nicht um eine Gegenüberstellung mehr oder weniger authentischer Beschreibungen, sondern um eine Spurensuche, wie Dokumentationstechnologien daran mitwirken, bestimmtes Wissen sichtbar zu machen, und damit die Praxis des Diagnostizierens formen.
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aus dem Gespräch mit einer anderen Patientin: „Zu der Zeit war mein Antrieb dann so gemindert, dass ich kaum noch aktiv war. Das lag wohl daran, dass ich eigenständig an der Dosis meiner Medikamente etwas verändert habe. Ich musste dann Anfang 2009 wieder in die Klinik, wo die Medikamente dann wieder neu eingestellt wurden. Seither bin ich eigentlich ganz stabil.“ Dabei geht es nicht einfach nur um ein Imitieren einer medizinischen Sprache, sondern um das (Re-)Produzieren von adäquaten Erzählungen.12 Ich möchte an dieser Stelle kurz auf die Arbeit von Robert Barrett zurückgreifen. In seiner Ethnografie The Psychiatric Team and the Social Definition of Schizophrenia beschreibt Barrett, wie in einem psychiatrischen Krankenhaus in Australien Schizophrenie erfahren, diagnostiziert und behandelt wird. In Rückgriff auf die Arbeiten Michel Foucaults argumentiert er, dass psychiatrische Krankenhäuser als disziplinierende Institutionen „are sites not only for the confinement and treatment of marginal categories of persons but also from where experts produce and disperse specialized knowledge about these categories“ (Barrett 1996: 17). Diese produktive Kraft psychiatrischen Wissens untersucht er unter anderem an den Praktiken des Lesens, Sprechens und Schreibens im Rahmen von Aufnahmegesprächen. (Ebd.: 107 ff.) Hierzu vergleicht er ebenfalls eigene Aufzeichnungen mit den Dokumentationen, die zu diesem Gespräch entstehen. Schritt für Schritt zeigt Barrett, wie die Professionellen im Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort aktiv auswählen und auslassen, abstrahieren und typisieren. In seinem Beispiel, das meinem durchaus ähnlich ist, zeigt er, wie der Arzt – vorinformiert durch ältere Akten und entlang der vorgegebenen Kategorien des Aufnahmebefundes – einen jungen Patienten zu seinen aktuellen Problemen (Drogenkonsum und Stimmenhören) befragt. Im australischen Aufnahmebefund steht als Zusammenfassung: „c/o hearing a voice occasionally“. Diese Praktiken, die Barrett als „active process of selection and omission“ beschreibt, seien grundlegend davon geprägt, was der Arzt vorher in den Akten gelesen hätte, und formen einen „cycle of interpretation“. (Ebd.: 107) Aber nicht nur die Interpretation des Arztes wird dadurch geformt: Barrett betont, dass dieser Kreislauf des Interpretierens, dem auch die Patientinnen ausgesetzt sind, ebenfalls deren Erzählung über sich selbst und ihre Krankheit formt. Damit zurück zum Befund. Die Fragen des Arztes folgen nicht einfach nur den Kategorien, die für einen Befund abgefragt werden müssen, sondern auch den Spuren, die andere Ärzte vor ihm hinterlassen haben. Er hat dadurch bereits Anhaltspunkte, auf die er sich in dem Gespräch immer wieder bezieht. In der
12 Zur Übernahme psychiatrischer Fachausdrücke und Konzepte durch die Patienten siehe auch Kapitel 4 dieser Arbeit.
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Akte der Patientin ist in der psychiatrischen Anamnese in einem älteren Eintrag vermerkt: „Diagnose einer schizophrenen Psychose am ehesten drogeninduziert bei auch schwieriger Kindheitssituation“. Im Aufnahmegespräch wird dieser Zusammenhang von beiden reproduziert: Der Auslöser für das Stimmenhören, vor allem für die extreme Verschlechterung in den letzten Monaten, liege im Drogenkonsum, und Drogen nehme sie aufgrund ihrer schwierigen Kindheit. Zum Alkoholkonsum steht im Befund: „teilweise regelmäßiges tägliches Alkoholtrinken, um sich von den Stimmen zu entlasten“. Ihr regelmäßiger Alkoholkonsum wird auch im Gespräch als Coping-Strategie eingestuft. Dabei ist es nicht einseitig der Arzt, der diese Zusammenhänge reproduziert, sondern ebenso die Patientin: „Und als sie mit 13 Jahren angefangen hatte, Drogen zu nehmen, ob es da einen konkreten Auslöser gegeben habe?“ „Na, ihre Mutter wäre bei einem Autounfall gestorben, als sie 11 Jahre alt war.“ Insbesondere der Zusammenhang zwischen den Drogen und der aktuellen Krise wird von der Patientin selbst (beziehungsweise von ihren „Urahnen“) hergestellt. In der Akte steht ebenfalls, dass sie im letzten Sommer mehrfach auf die Station aufgenommen worden sei, es aber immer wieder zu Behandlungsabbrüchen gekommen sei. Am Ende des Gesprächs betont der Arzt, „sie müsse auf jeden Fall etwas Geduld haben.“ Und: „Insgesamt solle sie auf jeden Fall mit einer etwas längeren stationären Behandlung rechnen. So 4-6 Wochen auf jeden Fall.“ Das, was bei früheren Aufnahmen bereits dokumentiert wurde, wirkt in die aktuelle Exploration mit hinein. An dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Argumentation: In der Gesprächssituation sitzen sich zwei Akteure gegenüber, die mit dem Ablauf einer solchen Befragung vertraut sind. Sie wissen, welche Fragen und welche Antworten für die Situation relevant sind. Auf dem Schreibtisch des Arztes liegt die Akte der Patientin, in der er vor dem Gespräch gelesen hat, was andere Ärzte in früheren Behandlungen „befunden“ haben. Diese Befunde sind aufgeteilt in eine Abfolge von abstrakten Kategorien, die für die Diagnose einer psychischen Störung als relevant erachtet werden und die das Gespräch strukturieren. Arzt, Patientin, die psychiatrischen anamnestischen Kategorien sowie die dokumentierten früheren Befunde ko-produzieren ein spezifisches psychiatrisches Wissen, wie die Probleme der Patientin diagnostiziert werden können. Während die Beschreibung der anamnestischen Kategorien in erster Linie die Selektion, also das „Was“ der Exploration aufgezeigt hat, verweist der psychopathologische Befund, auf den ich im nächsten Analyseschritt eingehen werde, vor allem auf das „Wie“ der psychiatrischen Interpretation.
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V OM I NTERPRETIEREN
VON
Ä USSERUNGEN
Und damit zum nächsten Abschnitt im Aufnahmebefund von Frau Sikorski. Unter der Rubrik zum psychopathologischen Befund lese ich: „Frau Sikorski war wach, bewusstseinsklar und zu allen vier Qualitäten orientiert. Auffassung und Konzentration, Merkfähigkeit und Mnestik intakt. Formales Denken geordnet, Verfolgungswahn. Imperative Phoneme angegeben. Stimmung deprimiert, affektarm, Antrieb regelrecht. Keine akute Suizidalität.“
Ich hatte diese kurzen formelhaften Sätze bereits des Öfteren in den anderen Akten gelesen. In der elektronischen Krankenakte gibt es unter der Rubrik Ärztlicher Verlauf zwei unterschiedliche Verläufe. Unter Verlauf werden vor allem knapp Gesprächsinhalte der Einzelgespräche vermerkt. Unter der Rubrik Psychopathologischer Befund werden in regelmäßigen Abständen (alle ein bis zwei Wochen) Beschreibungen wie die obigen eingetragen. Als ich einen Psychologen frage, was es eigentlich bedeute, jemand sei in allen vier Qualitäten orientiert, lacht er und übersetzt für mich: „Das heißt: die Patientin weiß, wer sie ist, wo sie ist, welches Datum wir haben und warum sie hier ist.“ Mit einem Handbuch zur Dokumentation psychiatrischer Befunde versuche ich den psychopathologischen Befund von Frau Sikorski zu verstehen. Wie mir der Psychologe noch erklärt hatte, bestünde der psychopathologische Befund aus verschiedenen Bausteinen. Das Handbuch13 ist aufgeteilt in verschiedene Merkmale, die sich größtenteils im psychopathologischen Befund von Frau Sikorski wiederfinden: Bewusstseinsstörungen, Orientierungsstörungen, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Formale Denkstörungen, Befürchtungen und Zwänge, Wahn, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen, Störungen der Affektivität, Antriebs- und Psychomotorische Störungen, Circadiane Besonderheiten (Schwankungen während 24 Stunden) und „andere Störungen“, wozu unter anderem Suizidalität gezählt wird. Während der erste Satz auf den Allgemeinzustand der Patientin im Gespräch verweist (sie war wach, wusste, wo sie war, und verstand, dass sie sich in einem Aufnahmegespräch mit einem Psychiater befand), verweisen Begriffe wie „Auffassung“ oder „Formales Denken“ auf die Art und Weise, wie sie sich im Gespräch geäußert und wie sie auf die Fragen geantwortet hat. Wie der Arzt mir
13 Dieses Handbuch wurde von Professionellen in der Klinik, die damit arbeiten, empfohlen: Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) 2007.
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nach dem Aufnahmegespräch sagte, hatte er bewusst einzelne Fragen etwas später im Gespräch wiederholt, um festzustellen, wie kohärent die Erzählung der Patientin sei. Als ich in meinen Aufzeichnungen nachlese, fällt mir auf, wie ich selbst Frau Sikorski als monoton und ohne Regung beschrieben hatte. „Stimmung deprimiert, affektarm“ steht im Befund. Beim Blättern im Handbuch fallen mir zahlreiche Begriffe auf, die in Gesprächen im Team so häufig verwendet werden, dass sie selbst mir nicht mehr auffallen. Einerseits sind es Begriffe, die offensichtlich „psychologische Termini“ sind und für die meisten Laien nicht verständlich, wie beispielsweise jemand sei affektarm, dysphorisch, affektinkontinent oder lächle parathym. Andererseits finden sich viele Begriffe, die in der nicht-professionellen Alltagssprache ebenfalls verwendet werden. Jemand sei aggressiv, jammrig, ratlos oder ängstlich. Zum Begriff affektarm wird beispielsweise erläutert: „Nur wenige Affekte sind beobachtbar oder der Patient ist affektiv unbeteiligt.“ (AMDP 2007: 90) Im Handbuch finden sich neben der Definition des Merkmals ausführliche Erläuterungen sowie Beispiele und Hinweise, wogegen man einen Befund abgrenzen müsse und wie man die Ausprägung und Schwere eines Merkmals einschätzen könne. Im psychopathologischen Befund formuliert der Arzt eine Interpretation der Äußerungen, die sich nicht an den Inhalten orientiert, sondern das Verhalten der Patientin, das Wie der Situation darstellt. Es geht dabei gerade nicht nur um das Gesprochene, sondern um Äußerungen, die sowohl sprachlich wie auch körperlich – durch Körperhaltung, Mimik oder auch durch Schweigen – sichtbar werden. In den verschiedensten Teambesprechungen wurden Interpretationen des Zustands eines Patienten mit körperlichen Beschreibungen ergänzt. Anhand des Blickkontaktes eines Patienten erkenne man, dass er schwingungsfähiger sei; der Gang sei aufrechter, die Mimik weniger angespannt. Die Notwendigkeit, die Äußerungen der Patientin sorgfältig zu interpretieren, zeigt sich insbesondere am letzten Satz im psychopathologischen Befund: „Keine akute Suizidalität“. Ich möchte noch einmal aufgreifen, was mir der Arzt am Ende des Gesprächs erklärt hatte – wie er zu dieser Einschätzung kam. Zum einen sei sie diesmal nicht wegen Suizidäußerungen oder -versuchen aufgenommen worden. Suizidalität wurden also nicht als akute Problemstellung „mitgeliefert“. Der Betreuer hatte zwar sehr darauf gedrängt, dass sie in die Klinik käme, aber von Suizid war nicht die Rede. Des Weiteren schätzt der Arzt aufgrund des Gesprächs die Bereitschaft der Patientin, sich auf die Behandlung einzulassen, erst einmal grundsätzlich positiv ein. Sie schien dem Arzt kooperativ und absprachefähig. Er muss also, jenseits ihrer eigenen Erklärung, sie wolle sich momentan nichts antun, ihren Zustand und den Gesprächsverlauf insgesamt heranziehen, um eine potentielle Suizidalität zu erkennen. Dennoch hatte er die
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wichtige Entscheidung, ob sie die Station verlassen dürfe, auf eine weitere Rücksprache mit den Pflegekräften verschoben, die die Patientin bereits kennen und das besser einschätzen können. Ähnlich wie in den Dokumentationen Spuren früherer Behandlungen gespeichert sind, greift der Arzt auf bereits gemachte Erfahrungen des Teams mit der Patientin zurück. Die Einschätzung akuter Suizidalität wie auch potentieller Fremdgefährdung und die Entscheidung darüber, wie weiter verfahren werden muss, verweist auf ein besonders dringliches „bearbeitbares“ Problem. Wie ich in meiner Einführung beschrieben habe, verfolgt die Mittendamm-Klinik das Prinzip der „offenen Stationstüren“, das heißt, alle psychiatrischen Stationen in der Klinik sind in der Regel unverschlossen. In Einzelfällen werden die Türen der Station jedoch auch verschlossen, wobei diese Schließung klinikintern einer expliziten Begründung und einer gesonderten Dokumentation bedarf. Mit den Patienten, die suizidgefährdet sind, werden kurzfristige Vereinbarungen getroffen und in der Regel der Ausgang reglementiert. Dies bedarf einer kontinuierlichen Einschätzung und Interpretation des Zustandes, bedeutet ein andauerndes Diagnostizieren der Äußerungen eines Patienten. Die zentrale Technik psychiatrischen Diagnostizierens ist das Interpretieren von Äußerungen. Der Psychiater ist in der Lage, „zwischen den Zeilen zu lesen“, er stellt strategisch Fragen, wobei es eben nicht primär und ausschließlich um die Inhalte geht (die Tatsache, dass der Arzt den größten Teil der Inhalte aus früheren Befunden kopiert, ist ein weiterer Hinweis; einen Großteil der Fragen hätte er überhaupt nicht stellen müssen, da er sie bereits in den Akten beantwortet vorgefunden hat). Aus diesen Beobachtungen und Einschätzungen wird er schließlich – wenn nicht bereits vorhanden – eine Diagnose erstellen. Für die Erstellung der Diagnose greift der Arzt auf die Informationen, welche die Patientin ihm gegeben hat, sowie auf seine Interpretationen der Äußerungen der Patientin und auch auf die Informationen früherer Befunde, die Äußerungen der Akten, zurück. Insbesondere die standardisierten Bausteine, die im psychopathologischen Befund verwendet werden, sind grundlegend für die Erstellung einer Diagnose. So steht im ICD-10 beispielsweise zu schizophrenen Störungen: „Die schizophrenen Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten,
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Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome.“ (ICD-10, WHO)
Im Aufnahmebefund von Frau Sikorski steht entsprechend als nächste Kategorie, nach dem psychopathologischen Befund: Vorläufige Diagnosen F 20.0. Der Code F 20.0 steht für die häufigste Forme einer schizophrenen Störung und wird im ICD-10 folgendermaßen definiert: „Die paranoide Schizophrenie ist durch beständige, häufig paranoide Wahnvorstellungen gekennzeichnet, meist begleitet von akustischen Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen. Störungen der Stimmung, des Antriebs und der Sprache, katatone Symptome fehlen entweder oder sind wenig auffallend.“ (ICD-10, WHO 2012) Im Falle von Frau Sikorski musste der Arzt allerdings keine neue Diagnose erstellen, sie war ihm durch die vorherigen Befunde bereits bekannt. Dennoch verdeutlicht der Aufnahmebefund mit seinen anamnestischen Kategorien, dem psychopathologischen Befund und der Rubrik Diagnose, wie psychiatrisches Diagnostizieren verschiedene Aspekte zu einem Gesamtbild kombiniert. Die Stimmen, die Frau Sikorski hört, ihr Drogen- und Alkoholkonsum, ihre Familiengeschichte sowie frühere psychiatrische Behandlungen werden durch die Kristallationsinstanz des Aufnahmebefundes in eine gemeinsame Matrix zusammengeführt und zur Diagnose F 20.0 verdichtet. Die Erstellung dieses Codes ist dabei gerade kein Endpunkt im Diagnostizieren, sondern eine temporäre Verdichtung verschiedener Trajektorien (Timmermans und Berg), die dadurch transformiert und bearbeitbar werden. Entscheidend ist, dass sich das Gesamtbild nicht aus einer simplen Form der Addition von einzelnen Inhalten ergibt, sondern in einem kontinuierlichen Selektions- und Interpretationsprozess verläuft. Sowohl beim Ausfüllen eines Befundes wie auch im kurzen Gespräch mit einem Patienten zwischendurch, wie beispielsweise in der Eingangssequenz, benötigt der Psychiater die Fähigkeit, relevante Informationen auszuwählen und vor allem diese zu einem Gesamtbild zu konfigurieren. Gerade da bei psychischen Erkrankungen Symptome quer zu Diagnosen bestehen, unterschiedlich ausgeprägt sein können und sich im Behandlungsverlauf verändern, bieten sich dem diagnostizierenden Arzt immer verschiedene Pfadmöglichkeiten, zwischen denen er abwägen muss. Frau Sikorski und ihre Erzählungen bieten ein vergleichsweise klassisches Bild einer paranoiden Schizophrenie. In vielen anderen Fällen sind die Erzählungen weniger eindeutig einer konkreten Diagnose zu zuordnen. Einen dieser weniger
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eindeutigen Fälle, der vor allem auch die Prozesshaftigkeit und Offenheit des Diagnostizierens verdeutlicht, zeigt das folgende Beispiel14: Ich sitze mit einer Patientin, Frau Appelt, ihrem behandelnden Arzt und der Oberärztin in einem der Behandlungszimmer. Der Stationsarzt hat die Oberärztin zum Gespräch dazu gebeten, weil er sich mit der Diagnose bei der Patientin nicht ganz sicher ist. Die Oberärztin bittet Frau Appelt, ihr zu erzählen, aufgrund welcher Probleme sie in der Psychiatrie sei. Die Patientin fängt leise und stockend an zu erzählen: Zuerst berichtet sie von quälenden Stimmen, die sie ständig begleiten; dann beschreibt sie, dass sie manchmal mit der U-Bahn irgendwo hinfahren wolle und dann plötzlich wie aus einer Trance auftauche und gar nicht wisse, wo sie sei und wie sie dorthin gekommen sei. Manchmal fände sie in ihrer Wohnung Zettel, die sie geschrieben haben muss, oder Dinge, die sie eingekauft haben muss, und könne sich gar nicht mehr daran erinnern. Die Oberärztin hakt zwischendurch nach: Was das denn für Dinge seien? Und wie wäre die Handschrift auf den Zetteln, erkenne sie diese als ihre Handschrift wieder? Ohne dass ich vorher mit dem Stationsarzt über die mögliche Diagnose gesprochen habe, wird mir sehr schnell klar, worauf die Erzählungen der Patientin und die Nachfragen der Oberärztin hinauslaufen: Multiple Persönlichkeit. Ich bin irritiert, weil ich davon ausging, dass man dieses Krankheitsbild mittlerweile stark anzweifelt und diese Diagnose nicht mehr verwendet wird. Nach dem Gespräch habe ich Gelegenheit, den Arzt nach der Diagnose „Multiple Persönlichkeit“ zu fragen. Das nenne man nicht mehr „Multiple Persönlichkeit“, erklärt er mir, sondern „Dissoziative Störung“. Und doch, das gäbe es. Er hätte das schon mehrmals sehr eindrucksvoll erlebt, wie Patienten mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung im Verlauf eines Gesprächs plötzlich „switchen“. Das wäre wirklich unheimlich, so etwas zu beobachten. Bei der Patientin von eben wäre er sich aber nicht so sicher, sie würde zu offensichtlich die richtigen Erzählungen anbieten. Einmal hätte sie in einem Gespräch mit ihm auch so einen plötzlichen Wechsel im Verhalten und auch in der Stimmlage gezeigt, aber er hatte da eher den Eindruck, sie würde ihm etwas vorspielen. Deshalb habe er letztendlich auch die Oberärztin dazugebeten, diese sei auf diesem Gebiet sehr versiert. Ein Jahr später, bei meinem zweiten Feldforschungsaufenthalt auf derselben psychiatrischen Station, begegnet mir die Patientin Frau Appelt wieder; wieder sitze ich im Arztgespräch dabei. Dieses Mal sind die Erzählungen jedoch irgendwie anders. Sie erzählt von Ängsten, die sie hat, und wie alleine sie sich oft fühlt.
14 Diese ethnografische Sequenz verwende ich auch in: Klausner 2012: 287f..
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Ich frage den Assistenzarzt später nach dieser Veränderung. Ja, die Patientin hätte das Team letztes Jahr mit diesen Erzählungen ganz schön beschäftigt, fast hätten sie ihr die Multiple Persönlichkeit abgenommen. Nach einigem Hin und Her habe sie dann die Diagnose „Abhängige Persönlichkeitsstörung“ bekommen. Ihr Verhalten wäre durchaus typisch für diese Patienten. Sie hätten vor allem Probleme, auf normalem Weg in Kontakt zu treten. Er vermutet, die Patientin nutze diese Diagnose, um mit ihnen in Kontakt zu treten und zu demonstrieren, dass es ihr nicht gut gehe und sie Hilfe brauche. Das sei eine Strategie, die Teil der Persönlichkeitsstörung ist. Das könne sehr unterschiedlich aussehen und das sei eben ihr Weg. An diesem Beispiel wird noch einmal deutlich, dass Patientinnen am Diagnostizieren durchaus aktiv partizipieren, indem sie bestimmte Erzählungen und Äußerungen anbieten. Dabei geht es nicht um die Frage, ob Frau Appelt versucht, den Prozess des Diagnostizierens zu manipulieren. Vielmehr wird deutlich, dass Patienten und Klassifikationen im Prozess des Diagnostizierens moving targets (Hacking 2007) sind: Durch den Prozess der Zuschreibung verändern sich die Selbstverständnisse und das Krankheitserleben der Patientinnen, was wiederum Auswirkungen auf den Prozess des Diagnostizierens hat. Ein Unterschied zu Hackings Argument, wie ich es auch bereits in der Einführung skizziert habe, ist allerdings, dass Hacking den Looping Effekt in einer historischen Entwicklung herausarbeitet und dabei wiederum die Rückkoppelung auf die Diagnoseklassifikation „Multiple Persönlichkeit“ ins Visier nehmen kann. Mir geht es an dieser Stelle vor allem um das Looping zwischen den diagnostizierten Patienten und der Praxis des Diagnostizierens. Der Looping-Effekt zeigt sich hier als kontinuierlicher alltäglicher Prozess. Im Übergang von der potentiellen Diagnose „Dissoziative Persönlichkeitsstörung“ zu „Abhängige Persönlichkeitsstörung“ verändern sich auch die Erzählungen von Frau Appelt. Stehen im ersten Gespräch noch Formen dissoziativen Verhaltens im Vordergrund ihrer Erzählungen, beschreibt sie im zweiten Gespräch vor allem ihre Einsamkeit und ihre Ängste. Dieses Beispiel des Übergangs von einer Diagnose zu einer anderen verdeutlicht einen Prozess, der sich im Alltag auf der Station regelmäßig zeigt und bereits im Beispiel von Frau Sikorski anklang. Die Patientinnen lernen im Laufe des Diagnostizierens und Behandelns auf eine spezifische Art und Weise ihre Wahrnehmungen und Empfindungen als Symptome psychischer Erkrankungen zu äußern. Nicht nur die Ärzte interpretieren Symptome im Rahmen ihres disziplinären Fachwissens, auch viele der Patienten, vor allem auch jene, die seit Jahren in psychiatrischer Behandlung sind, setzen sich mit psychiatrischem disziplinärem Wissen auseinander. Patienten lernen ih-
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ren Zustand in die psychiatrische Fachsprache zu übersetzen. Wie ich bereits weiter oben erwähnt hatte, bekam ich von Patienten auch immer wieder Erzählungen präsentiert, die im psychiatrischen Idiom verfasst waren. Deutlich wurde dies beispielsweise im Aufnahmegespräch einer Patientin, deren deutsche Sprachkenntnisse limitiert waren, die allerdings bestimmte Ausdrücke und Symptombeschreibungen im Vergleich zu ihren deutschen Sprachkenntnissen beeindruckend flüssig ausdrücken konnte. In diesem Lernprozess geht es darum, die eigene Wahrnehmung als Symptome einer psychiatrischen Erkrankung zu deuten und zu präsentieren. Während Frau Appelt sich vergleichsweise reibungslos an diese psychiatrischen Interpretationen anpasste, gab es ebenso Prozesse, die konfliktreich verliefen, wenn beispielsweise Arzt und Patientin sich im Prozess des Diagnostizierens uneins blieben. In dem Gespräch mit Frau Appelt deutet sich an, dass in Fällen, in denen Ärztin und Patient unterschiedliche Deutungen haben, im Zweifelsfall die Ärztin diese Uneinigkeit als weiteres Symptom einer Erkrankung deuten kann. „Zwischen den Zeilen lesen“ heißt für den diagnostizierenden Arzt immer auch potentielle Loopingeffekte mitzudenken. Hier zeigt sich noch einmal, dass der Umgang mit diagnostischen Standards wie den psychopathologischen Kategorien kein additiver Prozess ist: Kategorie 1 plus Kategorie 2 ergibt Diagnose X. Symptome lassen sich unterschiedlich interpretieren und müssen im Prozess immer wieder reproduziert bzw. neu kombiniert werden. Wie dieses kontinuierliche Interpretieren von Äußerungen gelernt und gelehrt wird, dafür findet sich in der Geschichte von Frau Appelt ein erster Hinweis: Der Arzt war sich in der Interpretation der Äußerungen der Patientin unsicher, also holte er sich die Oberärztin der Station zum Gespräch. Diagnostizieren, so die Argumentation des nächsten Abschnitts, bedeutet nicht nur für die Patientinnen einen Lernprozess, sondern gerade auch für die Professionellen. Hatte ich bislang diskutiert, wie psychiatrische Standards in den Prozess des Diagnostizierens einwirken, werde ich nun herausarbeiten, dass der Umgang mit diesen Standards im Diagnostizieren vor allem ein Lernprozess ist, in dem sich ein „psychiatrischer Blick“ herausbildet.
D ER
PSYCHIATRISCHE
B LICK
Die US-amerikanische Anthropologin Tanya Luhrmann beschreibt in ihrer Ethnografie Of 2 Minds. The Growing Disorder in American Psychiatry, wie junge Ärzte in den USA im Rahmen ihrer psychiatrischen Ausbildung Schritt für Schritt lernen, Symptome zu erfassen und zu einer Diagnose zusammenzufügen.
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(Luhrmann 2000) In diesem Ausbildungsprozess lernen Psychiaterinnen, psychische Störungen durch eine bestimmte Linse zu sehen: „Psychiatrists are taught to listen to people in particular ways: they listen for signals most of us cannot hear, and they look for patterns most of us cannot see.“ (Ebd.: 22) Luhrmann beschreibt unter anderem, wie eine Psychiaterin in Ausbildung zum allerersten Mal einen psychiatrischen Aufnahmebefund ausfüllen muss und völlig überfordert davon einige Stunden benötigt, um einen „brauchbaren“ Befund zu schreiben. An diesem und vielen anderen Beispielen zeigt Luhrmann, dass das Umgehen mit diesen standardisierten psychiatrischen Kategorien ein Lernprozess ist. Während im gerade erwähnten Beispiel die junge Psychiaterin mit Handbuch und Manual versucht, das Aufnahmegespräch angemessen in den Befund zu übertragen, benötigt sie nach einem Jahr nur noch einen Bruchteil der Zeit. Dabei geht es freilich nicht um den Lernprozess des „Formular-Ausfüllens“. Viel entscheidender ist, dass Luhrmann zeigt, wie dieses standardisierte Fachwissen die Wissenspraxis der Psychiaterin im Laufe ihrer Karriere nachhaltig prägt. Am Ende reicht ein Blick, um eine Verdachtsdiagnose zu stellen. Tatsächlich beschreibt die junge Psychiaterin, die Luhrmann bei ihrem ersten Aufnahmegespräch begleitet hat, nach einem Jahr klinischer Erfahrung Diagnostizieren folgendermaßen: „The first thing I’m trying to get a handle on is whether they will need medication. I’m kind of thinking DSM and based on their chief complaint, they’re either going to go down a depression road, a psychotic road, or an anxiety road.“ (Ebd.: 48) Wie der Stationsarzt „meiner“ Station mir erklärt hatte: Diagnosen wären wichtig, um Menschen auf die Schienen zu stellen; und wie Andreas, der Arzt in meiner Eingangssequenz, erläutert hatte: Bei Herrn Sperg wäre es wichtig zu unterscheiden, ob seine Äußerungen psychotisch geprägt wären oder als borderliniges Agieren eingestuft werden müssen. Auf welche Schiene geht er also: auf die psychotische oder die Borderline-Schiene. Um diese Unterscheidung machen zu können, muss der Psychiater kontinuierlich Äußerungen selektieren und in einen spezifischen Zusammenhang stellen. Dies betrifft gerade nicht nur die Situation des Aufnahmegesprächs, sondern prägt den Blick auf den Patienten in jeglicher alltäglicher Interaktion. Insbesondere in den verschiedenen Teambesprechungen wurde der Modus des Diagnostizierens als Prozess des Selektierens und Interpretierens offensichtlich, wenn rückblickend auf die diversen verbalen wie Verhaltens-Äußerungen der Patienten eingegangen wurde. Eine kurze Beobachtung im Flur, eine Begegnung im Park, ein Gespräch an der Kanzel wurde in den Teambesprechungen herangezogen, um zu diskutieren: Hat die Patientin, die bei ihren Runden auf der Station Selbstgespräche führt, möglicherweise doch auch visuelle Halluzinationen? Das fröhliche Win-
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ken eines Patienten im Park – ist seine Stimmung weniger niedergeschlagen? Ist ein Patient weiterhin misstrauisch und abweisend, oder lässt er sich mittlerweile auf ein kurzes Gespräch ein? Wie ich bei der Beschreibung des psychopathologischen Befunds im Ausnahmebefund von Frau Sikorski gezeigt habe, liest der Psychiater kontinuierlich „zwischen den Zeilen“ der Äußerungen der Patientin. Im alltäglichen Diagnostizieren im Verlauf der Behandlung vollzieht sich dabei eine kontinuierliche Re-Evaluation der Symptome, die mit dem bisherigen Verlauf zusammengebracht und verglichen werden. In ihrer Facharztausbildung zum Psychiater durchlaufen Ärzte eine Reihe von Supervisions- und Weiterbildungsmaßnahmen, in denen nicht zuletzt das Präsentieren eines Falles und das Interpretieren einer Fallgeschichte geübt wird. Was ich weiter oben als disziplinäre Affordanzen beschrieben habe, ist ein kontinuierliches Lernen, mit psychiatrischen Standards umzugehen. Wie Byron Good, US-amerikanischer Medizinanthropologe, der ebenfalls zu Ausbildungsprozessen von jungen Psychiatern in den USA geforscht hat, betont, würden junge Ärztinnen ihre Aufmerksamkeit zu Beginn ihrer Ausbildung noch sehr stark auf die ganz alltäglichen Prozeduren klinischer Arbeit richten: „The elemental practices of clinical work absorb the attention of the student, who must learn the simplest procedures, forms of reasoning, and ways of speaking and acting, while these quickly fade into the background for the skilled clinican, allowing for a different kind of attending – at least ideally – to the person who is ill.“ (Good 1994: 84) Die in Formularen wie dem Aufnahmebefund oder in elektronischen Dokumentationstechnologien präsenten disziplinären Standards formen den Prozess des Diagnostizierens nicht im Sinne eines „kognitiven Copy and Paste“-Verfahrens, sondern gerade dadurch, dass sie die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Psychiaters mitformen. Der disziplinierte Blick von Psychiatern beschreibt nicht nur eine geschulte Fähigkeit des Sehens, sondern auch des Hörens, wie Luhrmann ebenfalls anmerkt. Mit dem Begriff „psychiatrischer Blick“ betone ich daher allgemein die geschulte und dabei spezifisch disziplinierte Wahrnehmungsfähigkeit des Psychiaters und greife damit die Arbeit von Michel Foucault auf, der den Begriff des „klinischen Blicks“ geprägt hat. In Die Geburt der Klinik arbeitet Foucault heraus, wie sich mit der Etablierung der Institution Klinik im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert eine spezifische Erkenntnisfähigkeit des Arztes, der „klinische Blick“, herausbildet. (Foucault 1988 [1963]) Mit der Etablierung der Klinik als Ort der Versorgung Kranker wurde, so Foucault, das Pathologische aus dem natürlichen Milieu der Familie herausgenommen. Es manifestierte sich nun im „neutralen Bereich“ der Klinik als vergleichbar, homogen und in ein Klassifikationssystem einordenbar. (Ebd. 121ff.) Durch diese Vergleichbarkeit und die Wiederholbarkeit im Erkennen
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pathologischer Ereignisse schulte sich ein klinischer Blick auf Krankheit. Foucault zeigt anhand zeitgenössischer medizinischer Literatur, dass der klinische Blick immer auch von bereits vorher festgelegten Korrelationen des wahrnehmbaren Pathologischen und eines bestehenden Klassifikationssystems geprägt war. Für den klinischen Blick wird nur sichtbar, was in der Sprache der Klinik relevant ist. Psychiatrische Standards, wie sie beispielsweise im Aufnahmebefund zum Einsatz kommen, sind in diesem Sinne nicht an sich disziplinierend, sondern sie reproduzieren und stabilisieren den psychiatrischen Blick. Oder, wie Foucault schreibt, sie verhelfen „nicht dazu, etwas zu erkennen, sondern höchstens wiederzuerkennen“ (ebd.: 127).15 Dieses Wiedererkennen ist, wie bereits Foucault schreibt und in ähnlicher Weise von Tanja Luhrmann betont wird, ein Lernprozess. Das Subjekt des klinischen Blickes, so Foucault, sei grundlegend kollektiv, und zwischen dem Sehen und dem Sehen-Lehren gäbe es keinen grundlegenden Unterschied, der klinische Blick ist ein kollektiv-disziplinierter Blick. (Ebd.: 124) In Foucaults Arbeiten geht es immer auch um die Disziplinierung durch den Blick. Nicht nur in Die Geburt der Klinik, sondern ebenso in seinen anderen Arbeiten, wie beispielsweise in Überwachen und Strafen, arbeitet Foucault den Blick als überwachenden, disziplinierenden und objektivierenden Modus heraus. (Foucault 1994 [1975]) Die italienische Anthropologin Cristina Grasseni problematisiert diese nicht nur von und mit Foucault hergestellte Analogie zwischen Blick und Kontrolle beziehungsweise Objektivierung und die damit einhergehende Kritik am Visualismus der westlichen Moderne. (Grasseni 2007) Sie plädiert hingegen für eine Rehabilitierung des Blicks und dafür, vision gerade nicht nur als Modus der Überwachung und der Objektivierung zu thematisieren, sondern als lokal situierte Praktiken des Sehens zu analysieren. Im Verständnis einer Anthropology of the Senses sollte Sehen als eine situierte praktische Fähigkeit erforscht werden, die im Rahmen von communities of practice (Lave und Wenger 1991) gelernt wird und damit hinsichtlich der konkreten, lokalen hegemonialen Potentiale befragt werden kann. Mit Verweis auf die Arbeiten Tim Ingolds fordert Grasseni, Praktiken des Sehens als kollektive und verteilte Modi des Wahrnehmens zu analysieren: „Skilled visions often rely on collaborative expertise and on distribution of cognitive artefacts that are made available and relevant in the landscape of one’s practice – or taskscape“ (Grasseni 2007: 7; Herv.i.O.). Der klinische Blick im Foucault’schen Sinne wäre
15 Standards sind in diesem Sinne nicht jenseits des konkreten Kontextes und der Expertise, wie sie hier praktiziert wird, zu verstehen. Wenn man es genau nehmen will, dann re-disziplinieren Standards den bereits disziplinierten Psychiater.
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hier als ein Modus des Sehens zu verstehen, der in einem spezifischen historischen wie epistemischen Kontext zu verorten ist. Eine genauere Analyse der Praktiken des Sehens in der Klinik müsste herausarbeiten, wie dieser Blick gelernt wird und wie sich heterogene klinische Sichtweisen herausbilden. Dies bedeutet nicht, Praktiken des Sehens als spontan oder subjektiv zu interpretieren, „but rather embedded in mediating devices, contexts and routines“ (ebd: 4). Damit ergänzt Grasseni das Konzept der community of practice um einen wichtigen Aspekt. Lave und Wenger, die das Konzept geprägt haben, betonen damit vor allem, dass Kognition und Lernen immer als praktischer Vorgang, als Erlernen und Aushandeln von Kompetenzen, zu verstehen sei, der vor allem als eine Art Sozialisierungsprozess und Ko-Partizipation innerhalb einer Gruppe von Praktikern stattfinde. (Lave und Wenger 1991) Ergänzend zu dieser Konzeptualisierung, die vor allem auf die Identitätsformierung innerhalb von Gruppen verweist, hebt Grasseni die zentrale Rolle von Kontext und Artefakten in diesen Lernprozessen hervor. Lernen sei immer sozial wie materiell und als Form einer Ausbildung der Aufmerksamkeit innerhalb einer taskscape (Ingold 2000) zu verstehen. (Grasseni 2007) In meiner Forschung lag der Fokus nicht auf einer systematischen Beobachtung und Analyse dieser psychiatrischen Ausbildungsprozesse, aber in vielen Einzelgesprächen mit Ärzten wie auch anderen Professionellen der Station wurde thematisiert, das Erlernen von Diagnostizieren und Behandeln sei vor allem ein learning-by-doing-Prozess. Manche verstanden dies als „Philosophie des Hauses“, die jungen Assistenzärzten die Möglichkeit gibt, eigene Erfahrungen zu machen; andere sahen dies weitaus skeptischer, bemängelten aber vor allem, dass zu wenige erfahrene Ärzte Novizen in diesem Lernprozess begleiteten. Eine der Ärztinnen meiner Station antwortete auf meine Frage, wie man eigentlich lerne, „Psychiatrie zu machen“: Fast nichts davon resultiere aus dem Studium. Psychiatrie-bezogene Themen spielten in ihrem gesamten Medizinstudium nur in einem Kurs eine Rolle, der ein Semester lang über zwei Wochenstunden gehe, und dessen Inhalte seien für die Arbeit in der Klinik nicht geeignet. Viel mehr hätte sie in ihrem praktischen Jahr in der Psychiatrie gelernt und das meiste sei „Imitation“: „Imitation von Oberärzten, Imitation von erfahrenen Kollegen, Imitation durchaus auch von Pflegekräften; ich beobachte sehr genau und merke: Ah, so hat der das gemacht. Also, das meiste ist Imitation! Das ist auch der Grund, weshalb ich oft Frau Brühl [die Oberärztin] noch hinzurufe, obwohl ich sie gar nicht brauche. Das ist oft einfach nur, weil man sich was abgucken möchte. Wie macht die das jetzt?“ Und in fast schon Dewey’scher Fasson fügt sie hinzu: „Und es sind ganz oft Situationen, die man schon mal erlebt hat, die einem die Erfahrung bringen, die nächste Situation zu bewerkstelligen. Das ist
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aber auch das, was mich an dem Fach reizt. Ich muss hier täglich, auch wenn es Stress ist, individuelle Lösungen finden, die man in keinem Fachbuch lernen kann.“ Die junge Ärztin erklärt hier eine Art des Lernens, die man mit Grasseni als enskilment (Grasseni 2007: 9ff.) in einem konkreten sozialen wie materiellen Kontext beschreiben kann. Nicht das psychiatrische Fachbuch und die universitäre Ausbildung lehren zu diagnostizieren und zu behandeln, sondern das Lernen im Team und das Imitieren der Praktiken der anderen erfahreneren Professionellen. Wobei meines Erachtens der Begriff der Imitation diesen Lernprozess nicht ganz trifft, was insbesondere im letzten Teil der Erklärung deutlich wird. Lernen zeigt sich hier als praktisches Erfahrung-Machen, aber nicht als Einzelner, sondern im Kollektiv. Beobachten der anderen erfahrenen Professionellen und auch eine Art des Experimentierens entlang bereits in ähnlichen Situation gemachter Erfahrungen sind grundlegend, um im Alltag der Station Lösungen zu finden. Psychiatrisches Diagnostizieren in dieser Weise auch als sinnliche und gelernte Fähigkeit des Sehens (und Hörens) in den Blick zu nehmen, ermöglicht eine Problematisierung, die nicht einseitig auf die Objektivierung alltäglicher Praktiken durch disziplinierende, abstrakte Standards fokussiert, sondern psychiatrisches Wissen als Zusammenspiel von Lernprozessen, sowohl auf Seiten der Professionellen wie auch der Patientinnen, und disziplinärem Wissen, psychiatrischen Standards und Technologien in seiner lokalen Situiertheit herausarbeiten kann. Damit trifft für die Psychiater die Beschreibung als community of practice, insbesondere mit einer stärkeren Betonung von Lernen als sozial und materiell geformtem Prozess, wie es Grasseni vorschlägt, durchaus zu. Allerdings greift das Konzept für das Kollektiv der Praktiker auf der Station insgesamt insofern nur bedingt, da hier genaugenommen verschiedene communities of practice beteiligt sind, die in der Praxis des Diagnostizierens unterschiedliches Wissen über den Patienten einbringen. Insbesondere die Pflegekräfte spielen in der kontinuierlichen Einschätzung und Interpretation des Zustands eines Patienten und dessen Behandlungsverlaufs eine zentrale Rolle, ihre Alltagspraxis ist jedoch in weiten Teilen etwas völlig anderes als die Arbeit der Ärztinnen. Wie dieses Diagnostizieren im Kollektiv auf der Station praktiziert wird und wie hier im epistemischen Milieu das Wissen über den Patienten auf spezifische Weise stabilisiert und reproduziert wird, werde ich nun im letzten Teil des Kapitels herausarbeiten.
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D IAGNOSTIZIEREN
ALS
V ERSAMMELN
Eine Situation, in der Diagnostizieren im Kollektiv praktiziert wird, ist auf der Station die so genannte Kurvenvisite. Die Kurvenvisite findet jeden Freitagvormittag in einem der drei Arztzimmer statt. Anders als in den wöchentlichen Teambesprechungen, so wurde mir erklärt, sollte das Hauptaugenmerk der Kurvenvisite auf der Medikation und den Laborwerten und weiteren Untersuchungsergebnissen wie EKGs etc. liegen (also den klinischen Werten, die klassischerweise in der so genannten Kurve dokumentiert werden), aber natürlich würde man auch über den Therapieverlauf allgemein sprechen. Jeder einzelne Patient der Station wird kurz durchgesprochen, der Patient selbst ist nicht anwesend. Ich stelle in der ethnografischen Sequenz die Besprechung einer einzelnen Patientin in den Vordergrund, deren Behandlung zu diesem Zeitpunkt aus Sicht der Professionellen schwierig verläuft. In dieser Besprechung wird explizit artikuliert, welche Aspekte im alltäglichen Diagnostizieren von Relevanz sind und wie verschiedene Dimensionen zusammengefügt werden. An der Kurvenvisite nehmen die Oberärztin, die drei Stationsärzte und die Sozialarbeiterin teil, sowie im Wechsel jeweils eine Pflegekraft, die mit einer Kladde mit Kurven dazukommt. Einer der drei Ärzte sitzt am PC und klickt sich in die elektronische Krankenakte des jeweiligen Patienten. Der Raum bietet kaum genügend Platz für alle, mittendrin steht noch dazu der mobile Aktenschrank, aus dem heute die Sozialarbeiterin bei Bedarf die jeweils passende Akte mit weiteren Befunden zum Patienten heraussucht. Bei den meisten Patientinnen dauert die Besprechung vergleichsweise kurz: ein Blick in die Kurve, ob es Auffälligkeiten gibt oder etwas zu beachten ist, dann kommt der nächste Patient. Bei der Patientin Frau Cicek gibt es hingegen einige Unklarheiten. Sie ist seit einigen Wochen auf der Station in Behandlung, und im Team hat man das Gefühl, man drehe sich im Kreis. Ihre Bezugspflege16 berichtet, dass es ihr wieder schlechter geht. „Ihr geht’s gerade gar nicht gut, sie hat gestern Nacht mehrmals erbrochen, konnte auch ihr Amt17 nicht machen, weint immer wieder. Gestern hat sie länger mit ihrem
16 Das System der Bezugspflege bedeutet, dass Pflegekräfte einem Patienten und nicht einer Aufgabe bzw. Funktion zugeordnet sind. Die Patientinnen haben entsprechend eine feste Pflegebezugsperson auf der Station. 17 Amt bezeichnet die Aufgabe, die Patienten für jeweils eine Woche auf der Station übernehmen. Beispielsweise hatte Frau Cicek das „Küchenamt“ übernommen; d.h. sie war für die Sauberkeit in der Patientenküche mitverantwortlich.
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Mann telefoniert, danach konnten wir sie kaum beruhigen, war nur am Weinen. Nachts ging es wohl insgesamt sehr schlecht mit ihr. Mir scheint, dass sie wieder völlig unter Druck steht. Wir vermuten, dass der Ehemann gerne möchte, dass sie am Wochenende nach Hause kommt und übernachtet und sie eigentlich auch die Kinder sehen möchte, aber es ihr insgesamt gerade zu viel ist. Sie scheint wieder sehr ambivalent: Einerseits möchte sie nach Hause, andererseits ist sie überfordert.“ Die Ärztin fügt hinzu, dass Frau Cicek ihr mehrfach gesagt hätte, dass es ihr ganz schlecht geht und dass sie tot sein möchte. „Ich habe ihr dann klargemacht, dass sie besser auf der Station bleiben sollte und auf keinen Fall alleine rausgehen soll. Ich bin mir auch unsicher, ob wir sie am Wochenende in diesem Zustand nach Hause lassen können. Zu mir hat sie gesagt, dass sie unbedingt nach Hause zu den Kindern möchte, aber eine Übernachtung halte ich für schwierig.“ Krankenschwester: „Vermutlich ist es besser, wenn wir ihr die Entscheidung abnehmen, wenn es ihr so schlecht geht. Sie ist da völlig ambivalent und schwankt hin und her. Wenn man ihr deutlich sagt: o.k., SIT18 max. für 4 Stunden, so lange kann sie nach Hause, und dann muss sie wieder zurück in die Klinik. Wenn sie das selbst nicht entscheiden und einschätzen kann, muss man ihr das abnehmen.“ Sozialarbeiterin: „Das betrifft ja nicht nur das Wochenend-SIT, sondern auch die gesamte Entlassungsplanung! Letztendlich ist nach wie vor unklar, welche Hilfe sie eigentlich braucht, was die nächsten Schritte sein sollten, damit sie wieder zu ihrer Familie zurückkann. Wir verstehen ja immer noch nicht, was in der Familie das Problem ist, was passiert denn am Wochenende, dass es ihr immer wieder so viel schlechter geht? Sie freut sich erst, und dann muss sie nach kürzester Zeit von ihrem Mann wieder zurückgebracht werden.“ Krankenschwester: „Der Mann sagt, dass alles gut lief und sie gelächelt hat, und plötzlich fängt sie an zu weinen und will wieder zurück in die Klinik. Sie sagt, sie hat dann plötzlich wieder Angst, wovor kann sie aber nicht sagen.“ Die Oberärztin hat die Kurve vor sich liegen und kommt auf die Medikation zu sprechen: „Momentan bekommt sie Zeldox.“ Sie blättert in der Kurve: „Am Anfang war ja sehr viel Medikation angesetzt bei ihr [genaues Studieren der Kurve], Haldol haben wir dann wegen der schweren Nebenwirkungen abgesetzt; Leponex und Zyprexa haben eigentlich auch geholfen, aber wegen der starken Gewichtszunahme sind wir dann auf Zeldox umgestiegen.“ Das Team überlegt,
18 Die Professionellen sprechen hier vom Sozialen Integrationstraining (SIT), das eine Form der Belastungsprobe darstellt und als vorbereitendes Training für die Entlassung eingesetzt wird.
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ob es ihr nicht mit Leponex am besten gegangen ist. Schließlich meint die Oberärztin: „Oder ist das alles Quatsch und hier geht es ihr gut und zuhause schlecht, egal welche Medikation wir ihr geben; wenn wir da jetzt wieder rumdoktern, dann zögert das die Entlassung weiter hinaus und ändert nichts am Grundproblem. Die Frage, die sich mir stellt, ist, warum das bei früheren Erkrankungen anders gelaufen ist, was ist passiert, was ist diesmal anders?“ Im Team wird gesammelt, was man dazu weiß. Biografische Daten, Informationen über die Familie, über die Beziehung der Eheleute. Frau Cicek ist zum ersten Mal hier in der Klinik, von den Behandlungen in einem anderen Berliner Krankenhaus hat man zwar auch einige Informationen, aber nicht besonders ausführlich. Um den ganzen Krankheitsverlauf besser einschätzen zu können, beschließt die Oberärztin, dass man die Unterlagen von der anderen Klinik bestellen solle und sich den Verlauf noch mal vor allem bezüglich der früheren Behandlung anschauen müsse. Dann kommt man noch einmal auf die Medikation zu sprechen. Krankenschwester: „Vielleicht sollten wir es doch noch einmal mit Zyprexa versuchen, da ging es ihr eigentlich sehr gut damit.“ Oberärztin: „Wir versuchen erst noch einmal mehr über die Familienkonstellation und die Vorgeschichte zu erfahren, dann sehen wir weiter.“ Ähnlich wie im Aufnahmegespräch werden in diesem Beispiel der Besprechung einer Patientin im Team verschiedene Trajektorien temporär zusammengebracht. Zwar gibt es nicht wie im Aufnahmegespräch den Befund, der als technoscientific script (Timmermans und Berg) fungiert, dennoch lässt sich hier ein ähnliches Phänomen nachvollziehen. Der bisherige Behandlungsverlauf, ihre Familiengeschichte, der Verlauf der Medikation, all diese verschiedenen Trajektorien werden explizit gemacht und für einen bestimmten Zeitpunkt zum Fall arrangiert. Zuerst wird ein Bild des aktuellen Zustands gezeichnet, an dem die Pflege maßgeblich beteiligt ist. Frau Cicek geht es aktuell schlechter: Sie ist unruhig, weint, erbricht, sagt, sie möchte tot sein. Ihr Besuch zuhause, der für das Wochenende geplant war, steht nun grundsätzlich in Frage. Der Behandlungsverlauf von Frau Cicek war insgesamt davon geprägt, dass ihr Zustand immer wieder stark schwankte. Mehrmals stand sie bereits kurz vor der Entlassung und fiel dann wieder in einen Zustand, der die Rückkehr in die Familie und die eigene Wohnung unmöglich machte. Besonders schwierig für die Professionellen ist, dass es für Frau Cicek selbst sehr schwer ist, sich zu äußern. Sie spricht nur sehr wenig Deutsch, allerdings wird sie vor allem durch eine türkisch sprechende Krankenschwester betreut. Und auch auf Türkisch fällt es ihr schwer zu artikulieren, was in ihr vorgeht. Sie habe Angst, aber wovor kann sie nicht erklären. Das Team versucht basierend auf den Beobachtungen und Informa-
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tionen, die zur Verfügung stehen, Hypothesen zu bilden, auf deren Grundlage man weiter mit ihr arbeitet. Wie ich angedeutet habe, ist Frau Cicek ein „schwieriger Fall“, aber damit keineswegs eine Ausnahme auf der Station. Deutlich wird dies insbesondere in den Teambesprechungen, in denen mit der Oberärztin zuerst die „schwierigen Fälle“, meist etwa ein Drittel der Patienten, besprochen werden. „Schwierig“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eingeschlagene Lösungswege nicht zu den Veränderungen führen, die man sich erwartet hat. Es kann auch bedeuten, dass andere Gründe, die die Behandlung erschweren, auftauchen, beispielsweise neue somatische oder psychische Symptome oder ein Patient sich dem vorgeschlagenen Behandlungsweg verweigert oder schlichtweg keine Besserung eintritt. Ethnografisch besonders interessant sind diese Fälle, weil die Professionellen hier explizit diskutieren, welche Hypothesen über (multifaktorielle) „Ursachen“ wie auch angemessene Behandlungswege als legitim erachtet werden. Die Kurvenvisite ist meines Erachtens ebenso eine Kristallationsinstanz (Timmermans und Berg) wie das Aufnahmegespräch. Auch hier werden gewissermaßen Themen der anamnestischen Kategorien aufgegriffen und verschiedene Trajektorien in einen temporären Zusammenhang gestellt: soziobiografische Anamnese (sowohl die aktuelle soziale Situation von Frau Cicek wie auch ihre biografischen Daten, wobei ich die konkrete Lebensgeschichte, die im Team rekapituliert wurde, hier nicht ausführlich wiedergegeben habe), psychiatrische Anamnese (was lief bisher in der Behandlung, aber auch in früheren Behandlungen) und Medikamentenanamnese (welche Medikation wurde wann mit welcher Wirkung verabreicht) werden hier in einen spezifischen Zusammenhang gebracht. Verweise auf ihre Ambivalenz, Ängste und Stimmungsschwankungen verweisen auf psychopathologische Inhalte. In anderen Fallbesprechungen wurde noch sehr viel eindeutiger mit psychopathologischen Begriffen argumentiert. Beschreibungen wie: eine Patientin „lächle parathym“ oder „sei zurückgezogen“, wäre „auf ihr Insuffizienzerleben fixiert“ oder „schwierig im Beziehungserleben“ sind Zuschreibungen, die in derselben Kurvenvisite in Bezug auf andere Patienten geäußert wurden. An diesem Sammeln unterschiedlicher Äußerungen sind dabei sehr unterschiedliche Akteure beteiligt: die Pflegekräfte, die mit Frau Cicek gearbeitet haben, bringen ihre eigenen Beobachtungen und Interpretationen in die Kurvenvisite mit ein wie auch die Äußerungen des Ehemanns. Die Sozialarbeiterin wie auch die behandelnde Ärztin fügen ihre Beobachtungen und Einschätzungen hinzu. Während der Feldforschung war ich immer wieder überrascht, wie selbstverständlich alle Mitarbeitenden, unabhängig von ihrer Profession, sich in den Prozess des Diagnostizierens und Besprechens weiterer Schritte einbrachten. Deut-
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lich wurde dies insbesondere an der Rolle der Pflegekräfte, die in der Mittendamm-Klinik explizit als Therapeuten verstanden werden und deren Arbeit, Interaktion und Wissen als grundlegend relevant für die Behandlung und das kontinuierliche Diagnostizieren verstanden wird.19 In den Teambesprechungen wurde die Meinung der Pflege oftmals explizit eingefordert. „Wie nehmt ihr den wahr?“ war eine typische Frage der Ärzte an die Pflegekräfte. Die Pflegekräfte verwendeten dabei ebenso regelmäßig das oben beschriebene psychopathologische Vokabular, wenn sie beispielsweise beschrieben, eine Patientin sei „in ihren Gedankenäußerungen ziemlich zerfahren“ oder wäre gestern Abend wieder sehr „angespannt“ gewesen. Wie im Beispiel von Frau Cicek werden im Team in den verschiedenen Besprechungen unterschiedliche Informationen versammelt, Einschätzungen ausgetauscht und ergänzt, und insbesondere das Wissen der Pflege, die die Patienten tagtäglich 24 Stunden „im Blick hat“, wird herangezogen. Nicht nur Andreas, der Arzt, der in der Eingangssequenz das Verhalten von Herrn Sperg interpretiert, sondern auch die anderen Mitarbeitenden „diagnostizieren“ kontinuierlich das Verhalten der Patienten. Dabei spielt nicht nur der zeitliche Aspekt der „24-Stunden-Präsenz“ der Pflege eine Rolle, sondern auch deren spezifische Interaktion mit den Patienten, die in der Regel sehr viel direkter, intimer und im Vergleich zu den üblichen Gesprächssituationen zwischen Ärztin und Patientin sehr viel informeller verläuft. Hier geht es oftmals um banale Dinge des alltäglichen Lebens, wie Wäsche waschen, Taschengeld, einen Streit mit einer anderen Patientin, und vor allem um viele kürzere Gespräche, die weniger formalisiert und oftmals „nebenbei“ ablaufen. Die jeweilige therapeutische Praxis, mit sehr unterschiedlichen Formen und zeitlichen Intensitäten des Kontaktes zu Patienten, prägt den jeweiligen Blick. Dabei beschränkt sich das jeweilige Wissen im Verlauf des Diagnostizierens nicht einfach auf den eigenen Tätigkeitsbereich und wird quasi additiv im Team zusammengefügt – in dem Sinne, dass der Sicht der Ärzte noch das Wissen der Pflege hinzugefügt wird. Vielmehr werden die verschiedenen Informationen „versammelt“, das bedeutet, nicht verschiedene Wissensinhalte werden nebeneinandergestellt, sondern spezifische Assoziationen zwischen dem Wissen der verschiedenen
19 Zwar kritisierten verschiedene Pflegekräfte auch immer wieder frustriert, dass ihre Meinung von den Ärzten nicht ernst genommen werde. Das verweist aber vor allem darauf, dass es innerhalb der Pflege durchaus unterschiedliche Herangehensweisen und Meinungen gab, die nicht alle gleichermaßen berücksichtigt wurden (insbesondere wenn sie von der sozialpsychiatrischen „Ideologie“ abwichen), und dass trotz flacher Hierarchie insbesondere bei nicht eindeutigen Entscheidungen die Ärzte die Verantwortung tragen.
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Akteure hergestellt.20 Im Austausch im Team wird Diagnostizieren als Hervorbringung eines kollektiven aktualisierten Wissens praktiziert, das immer wieder reproduziert und stabilisiert werden muss. Das zeigt sich in der Kurvenvisite unter anderem darin, dass auch in der Einschätzung der Medikamente sich alle unabhängig von ihrem jeweiligen professionellen Hintergrund einbringen. Die endgültige Entscheidung über die Medikation liegt bei den Ärzten, aber nicht nur die Mediziner, auch die Pflegekräfte wie auch die Sozialarbeiterin, der Musiktherapeut, der Psychologe sprachen in den Teambesprechungen bei der Einschätzung der medikamentösen Behandlung mit. Aber nicht nur die Äußerungen der verschiedenen Professionellen werden versammelt, sondern auch die Äußerungen der Akten – der Kurve mit den dokumentierten Medikationen und den Verweisen auf Nebenwirkungen ebenso wie die Akten, die in anderen Kliniken frühere Behandlungen dokumentierten – werden in der Kurvenvisite als Informationsquellen herangezogen beziehungsweise sollen in Zukunft herangezogen werden. Es nehmen also unterschiedliche communities of practice mit entsprechenden Fähigkeiten und Wissen sowie verschiedene Dokumentationstechnologien in der Situation des Diagnostizierens und innerhalb des epistemischen Milieus teil und versammeln das Wissen auf eine spezifische Weise. Damit noch einmal zurück zur Kurvenvisite und Frau Cicek: In der Besprechung des Behandlungsverlaufs von Frau Cicek werden vor allem zwei Trajektorien ins Spiel gebracht: die biografische und die medikamentöse Trajektorie. Was passiert in der Familie, inwiefern liegen hier grundlegende Probleme, die unbearbeitet geblieben sind und deswegen eine Verbesserung verhindern? Das Team der Klinik ist bereits seit Beginn der Behandlung im engen Gespräch insbesondere mit dem Ehemann. Er selbst motiviert und bestärkt seine Ehefrau und versteht nicht, warum die Behandlung so schwankend verläuft. Neben vielen Informationen über die soziale Situation der Patientin und ihrer Familie versucht das Team vor allem die Dynamiken im sozialen Umfeld zu verstehen, die einer Verbesserung des Zustands von Frau Cicek im Weg stehen. Zudem wird die medikamentöse Trajektorie diskutiert. Anhand der Kurve, in der die verschriebenen Präparate und Dosierungen sowie die tatsächlich erfolgte Einnahme seit Beginn der Behandlung für jeden Tag dokumentiert wurde, geht die Oberärztin zusammen mit dem Team den Verlauf nach. Mit welchem Medi-
20 Für das Argument des Versammelns bzw. des Wieder- oder Neu-Versammelns siehe auch die Arbeiten Bruno Latours, der einer Wissenschaft des Sozialen, die ein essentielles Soziales voraussetzt, die Konzeptualisierung des Sozialen als „Wieder-Versammlung“ („Reassembling the Social“), als kontinuierlichen Hervorbringungsprozess des Sozialen entgegensetzt. (Latour 2005)
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kament ging es ihr am besten, welche Gründe sprachen für die eine oder andere Medikation. Medikamente haben im sozialpsychiatrischen Behandeln eine zentrale Funktion, womit ich mich in Kapitel vier dieser Arbeit eingehend auseinandersetzen werde. Die Einschätzung der Oberärztin, dass möglicherweise eine Medikamentenumstellung nichts an der Stagnation des Behandlungsverlaufs ändern würde und nur ein unnötiges „Herumdoktern“ wäre, verdeutlicht die Zentralität, die dem sozialen Kontext des Patienten in der Arbeit in der Mittendamm-Klinik gegeben wird. Ein Arzt erklärt mir diese Einstellung mit einer Analogie zum somatischen Bereich: Es wäre im Grunde genommen vergleichbar mit der Behandlung von Herzinfarkt-Patienten. Die könne man zwar durchaus mit Betablockern effektiv behandeln, aber wenn sie dann zuhause nur auf der Couch abhängen und Chips futtern, dann würden Betablocker alleine langfristig nichts bewirken. So ähnlich sehe er es bei Psychopharmaka. Solange sich an den krankheitsfördernden Faktoren im sozialen Umfeld nichts ändere, könnten auch Psychopharmaka keine dauerhafte Stabilisierung erreichen. Die Arbeit mit dem sozialen Umfeld – sei es durch Gespräche mit den Angehörigen oder die Arbeit der Sozialarbeiterin, die professionelle Helfersysteme außerhalb der Klinik aktiviert und so beispielsweise Wohnsituationen verändern hilft – gehört in der Einrichtung zum selbstverständlichen therapeutischen Angebot. Während im Übergang von Aufnahmegespräch zum Aufnahmebefund die verschiedenen Kategorien getrennt werden und in einen scheinbar eindeutigen linearen Zusammenhang gestellt werden (bei Frau Sikorski: schwierige Kindheit – Drogenkonsum – psychotische Symptome – Alkoholkonsum), zeigt sich in der Kurvenvisite wie auch in vielen anderen Teambesprechungen ein weitaus weniger eindeutiger Zusammenhang. Hier wird mit den verschiedensten Äußerungen „jongliert“, die in einen temporären Zusammenhang gestellt werden. Soziale Faktoren nehmen hierbei einen prominenten Raum ein. Gerade da die Kurvenvisite ja eigentlich den medizinischen Werten gewidmet sein sollte, fällt dieser selbstverständliche Fokus umso mehr auf. In der Kristallationsinstanz der Kurvenvisite werden schließlich Arbeitshypothesen produziert, die durchaus bewusst für die nächsten Schritte immer wieder angepasst werden. Dieses Vorgehen entspricht dem, was Annemarie Mol und ihre Kolleginnen als doctoring bezeichnen, als einen spezifischen Modus der klinischen Art und Weise zu wissen und zu handeln. (Struhkamp et al. 2009) Damit meinen sie nicht die eher negative Konnotation des „Herumdokterns“, wie sie die Oberärztin im Fall von Frau Cicek vermeiden will. Vielmehr verweist doctoring auf Praktiken klinischen Arbeitens, die gerade nicht standardisiert und vergleichbar ablaufen, sondern sich komplexen Problemstellungen situativ anpassen. Mol und Kolleginnen kontrastieren diesen klinischen Stil mit dem Stil des Labors, in dem
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Fakten produziert werden, die transportabel und vergleichbar sein müssen. Während der Aufnahmebefund in diesem Sinne nach einer eindeutigen und klaren Klassifikation und Einordnung der Äußerungen fragt, werden in der Kurvenvisite diese Äußerungen danach befragt, wie man damit die nächsten Schritte in der Behandlung von Frau Cicek gestalten kann. Hier wird nicht auf Eindeutigkeit und einen linearen Zusammenhang hingearbeitet, vielmehr geht es um das „Versammeln von Äußerungen“, um in einen dynamischen Prozess zu intervenieren. Es gibt keinen eindeutigen Anfang und keinen singulären Punkt, den man bearbeiten kann. „Herumzudoktern“ bedeutet in diesem Sinne ein Experimentieren, das situativ verstanden wird und sich der komplexen Problemstellung anpasst, statt den Fall in ein standardisiertes Verfahren einzupassen. Aber wie sich in der Besprechung von Frau Cicek auch zeigt, verbleibt dieses „Herumdoktern“ in einem Rahmen, der die psychiatrischen Standards des Aufnahmebefundes reproduziert. Das, was als relevante Kategorien von Informationen verstanden wird und für den psychiatrischen Blick wahrnehmbar wird, findet sich in beiden Formaten. Der Aufnahmebefund macht wie andere Dokumentationstechnologien bestimmte Aspekte, die für die Diagnose wie Behandlung einer psychischen Krankheit als relevant erachtet werden, sichtbar. Wie diese verschiedenen Aspekte – psychische Krisen, soziales Umfeld, Biografie, frühere medikamentöse Behandlungen und insgesamt psychiatrische Therapien – lokal arrangiert und vor allem bearbeitet werden, legen diese Dokumentationstechnologien und die darin eingebetteten psychiatrischen Standards nicht fest. Für das alltägliche Diagnostizieren auf der Station werden diese Aspekte und ihre Trajektorien auf eine eigene Weise in Relationen gebracht und arrangiert. Wie Timmermans und Berg betonen, produzieren medizinische Standards immer nur lokale Universalität. Standards werden in den jeweiligen communities of practice, in denen mit ihnen gearbeitet wird, in lokale Routinen eingebracht. Dabei formen Standards nicht nur lokale Praktiken, sondern werden selbst durch diese Lokalisierung transformiert. Erst durch diese wechselseitige Anpassungsleistung, so Timmermans und Berg, können Standards in der Praxis überhaupt funktionieren und stabil sein. Entscheidend ist, dass Standards lokal do-able sein müssen. Dieses „Herumdoktern“, wie ich es anhand der Kurvenvisite beschrieben habe, ist dabei nicht einfach nur situativ und der individuellen Problemstellung angemessen, sondern auch „milieuangemessen“. Wie Dewey betont, sind die jeweiligen Lösungen, die in einer Situation zur Entscheidung und als angemessene Reaktionen auf ein Problem zur Verfügung stehen, immer bereits vorgeprägt. Im epistemischen Milieu der Station steht nur eine Auswahl von Möglichkeiten zur Verfügung, wie in einer Situation eine Problemstellung interpretiert und gelöst werden kann.
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Dabei geht es gerade nicht um eine Gegenüberstellung von standardisiertem disziplinären Fachwissen auf der einen Seite und erfahrungsbasiertem lokalen Wissen auf der anderen Seite; noch geht es darum, die Rolle von Dokumentationstechnologien im klinischen Arbeiten zu relativieren und den handelnden Akteur wieder in den Vordergrund zu stellen. Klinisches doctoring ist, wie auch Mol und Kolleginnen betonen, in einem Netzwerk von Artefakten, Menschen und Routinen zu verstehen. Allerdings werden Standards, wie auch Berg und Timmermans kritisch anmerken, insbesondere in Analysen medizinischen Arbeitens in erster Linie mit objektivierenden Dokumentationssystemen verknüpft und hier vor allem als ein Eingriff verstanden, der die Praktiken der Akteure transformiert – oftmals im Sinne einer Deformation. Die Praktikabilität von Standards, auch im Sinne eines skilled doing of standards zu betonen, ermöglicht, den impliziten Gegensatz von Skills und Standards weiter aufzubrechen und die Rolle von Standards als zentralen Bestandteil von Fähigkeiten des Wahrnehmens und Interpretierens in den analytischen Blick zu nehmen. Sozialpsychiatrie ist – wie ich betont habe – kein alternativer theoretischer Ansatz, sondern wird sowohl in der Literatur wie auch von den verschiedenen sozialpsychiatrischen Professionellen, denen ich in meiner Forschung begegnet bin, als eine Haltung, eine Sichtweise deklariert. Ein kritisch-distanzierter Umgang mit Diagnose-Standards bedeutet aber gerade nicht, dass man nicht selbstverständlich mit diesen Standards arbeitet. Sie brechen sich nicht mit dem lokalen Erfahrungswissen der Professionellen, weil sie – wie ich im Abschnitt zum „psychiatrischen Blick “ gezeigt habe – in dieses Wissen eingebettet sind. In der Kurvenvisite, in der Standards auf spezifische Weise situiert und arrangiert werden, zeigt sich, wie im sozialpsychiatrischen Diagnostizieren bestimmte Aspekte in den Vordergrund gerückt werden.
S TABILES W ISSEN Was aber bedeutet diese Art zu diagnostizieren für die Stabilität des dabei produzierten Wissens? In kritischen Auseinandersetzungen mit psychiatrischen Klassifikations- und Aufschreibesystemen wird insbesondere die dauerhafte Festschreibung von „psychiatrischen Fällen“ kritisiert, was beispielsweise Robert Barrett als einen „cycle of interpretation“ beschreibt, in dem einmal dokumentiertes Fallwissen durch die Dokumentationstechnologien den weiteren Verlauf determinieren. Wie ich in meiner Analyse gezeigt habe, ko-produzieren Standards, wie die anamnestischen Kategorien im Aufnahmebefund, den psychiatrischen Blick, aber sie sind als disziplinäre Affordanzen immer im loka-
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len Kontext und ihren spezifischen Reichweiten zu analysieren. Es stellt sich die Frage, wie sich in einem epistemischen Milieu, das sich durch eine kritische Distanz zu Klassifikationsstandards auszeichnet, dennoch eine Regelhaftigkeit und eine Stabilität im alltäglichen Diagnostizieren herstellt. Im letzten Abschnitt des Kapitels gehe ich der Frage nach, wie das Diagnostizieren im Kollektiv eigene Stabilisierungseffekte mit sich bringt, die einen Fall und damit den Verlauf auf vielleicht weniger offensichtliche Weise „festschreiben“. Dazu beschreibe ich im Folgenden einige kürzere Beispiele, die aus verschiedenen Teambesprechungen stammen. In der Teambesprechung, die jeden Mittwochnachmittag im Mitarbeiterraum stattfindet, werden der Reihe nach alle Patienten der Station besprochen: zuerst die Neuzugänge, dann ausführlich die „schwierigen Fälle“, bei denen es „erhöhten Gesprächsbedarf“ gibt (in der Regel circa fünf bis acht Patienten), und dann vergleichsweise kurz der Rest der Patienten. An dieser Teambesprechung nehmen in der Regel neben den drei Stationsärzten und den Pflegekräften (sowohl von der Früh- und der Spätschicht, d.h. es sind meist vier bis fünf Pflegekräfte anwesend) auch die Ergotherapeutin und der Musiktherapeut, die Sozialarbeiterin, der Psychologe und die Oberärztin teil. Das erste Beispiel handelt von Herrn Sciutto, ein Neuzugang auf der Station, aber dem Team bereits seit Jahren bekannt. Andreas, der behandelnde Arzt, erzählt kurz den aktuellen Auslöser: Herr Sciutto hätte gestern den Vater bedroht, der schließlich die Polizei rief, und Herr Sciutto sei dann in Handschellen in die Klinik gebracht worden. Herr Sciutto würde behaupten, sein Vater hätte ihn angegriffen, es sei alles noch „etwas verworren“. Andreas fragt in die Runde: „Und wie erlebt ihr ihn auf der Station?“ Michaela, eine Krankenschwester, meint, er wäre schon sehr angespannt, es gab am Abend zuvor eine Situation mit einer anderen Pflegekraft im Aufzug, wo er bedrohlich geworden sei. Das Gespräch dreht sich eine Weile um die Medikation und ob eine richterliche Unterbringung sinnvoll und realistisch erscheine. Die Oberärztin fragt schließlich nach der aktuellen Medikation, Andreas liest aus der Kurve vor. Herr Sciutto hätte wirklich schon so viele unterschiedliche Medikationen durch, er sehe da jetzt keine Aussicht, dass eine minimale Erhöhung seiner aktuellen Medikation etwas erreiche. Es folgt ein längeres Gespräch zu seiner Vorgeschichte. Michaela bringt ein, dass der Vater schon lange nicht mehr da gewesen sei, früher hätte er seinen Sohn regelmäßig auf der Station besucht. Die Beziehung scheine sich insgesamt zum Negativen entwickelt zu haben. Thomas, ein Pfleger, erwähnt, er erlebe Herrn Sciutto „momentan bilanzierend“. Er hätte ihm ein Gespräch angeboten, aber Herr Sciutto hätte ablehnend reagiert, was gäbe es denn noch zu besprechen, er wäre jetzt so
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viele Jahre krank, er wäre austherapiert, er wäre einfach müde von seiner Krankheit. „Das ist schon ein ungutes Zeichen, das finde ich bedenklich“, meint Thomas. Andreas, sein Arzt, relativiert: „Ich bin da etwas entspannter. In weniger psychotischen Phasen war er immer bilanzierend.“ Am Ende wird beschlossen, keinen Druck auszuüben, auch nicht was eine mögliche Umstellung der Medikation anbelangt. Man würde versuchen, immer wieder mit ihm ins Gespräch zu gehen. Seine Ausgangszeiten werden auf dreimal 15 Minuten festgelegt, um eine engmaschige Kontrolle sicherzustellen. Die bisherige Behandlungsgeschichte wie auch das Wissen um das soziale Umfeld werden zum einen zur Einschätzung der aktuellen Situation herangezogen: Geht es Herrn Sciutto schlechter als sonst, muss man besondere Vorkehrungen treffen, beispielsweise den Ausgang beschränken? Die verschiedenen Sichtweisen im Team werden zusammengetragen und schließlich zu einer Behandlungsstrategie zusammengefügt. Zum anderen ergeben sich aus den bisherigen Behandlungsansätzen, wie beispielsweise der Medikation, auch Ansatzpunkte, welchen Spielraum man in der Behandlung hat, welche Möglichkeiten noch offen stehen. Gerade bei gut bekannten und jahrelangen Patienten wurde immer wieder die Frage diskutiert, was mit einer höheren oder niedrigeren Dosis bzw. einem anderen Medikament eventuell zu erreichen sei. Dabei determiniert die bisherige Behandlungsvorgeschichte nicht den weiteren Behandlungspfad, sondern bietet spezifische Anknüpfungspunkte, was noch möglich ist und was nach den bisherigen Erfahrungen als Strategie plausibel erscheint. Die nächste Patientin, Frau Schneider, ist dem Team seit über zehn Jahren bekannt. Andreas, ihr behandelnder Arzt, sieht „dringenden Gesprächsbedarf“. Er wäre momentan ratlos, wie man mit der Behandlung fortfahren solle. Über einen längeren Zeitraum hätten bei Frau Schneider kürzere Kriseninterventionen ausgereicht, aber diesmal kämen wieder massive Suizidankündigungen, sobald es Richtung Entlassung gehe. Andreas deutet es eher als „interaktionalen Suizid“, da sie in der Regel auch immer wieder Zukunftsperspektiven beschreiben könne. Die Pflege stimmt zu, das kenne man von ihr; ihre Suizidankündigungen seien ihre Art auszudrücken, dass sie Hilfe brauche. Andreas’ Frage ans Team ist, was man noch machen könne. Ein Pfleger schlägt vor, den Lebensgefährten einzubeziehen. Der Psychologe winkt ab, der käme nicht in die Klinik, aufgrund seiner eigenen Psychiatrie-Erfahrung würde er sich weigern, das hätte man schon öfters versucht. Man diskutiert die Medikation, ob man das Medikament reduzieren solle. Aber auch das würde vermutlich wenig bringen, weil es der niedergelassene Arzt dann wieder hochdosiere. Andreas insistiert: „Das Ziel ist
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eine Krisenintervention, hat irgendjemand eine Idee?“ Der Psychologe schlägt vor, ihr ambulante Einzelgespräche anzubieten. Gerade das Thema Beziehungserleben sei bei Frau Schneider ein wichtiges Thema. Ihre Ambivalenz gegenüber der Behandlung sei seines Erachtens eng damit verknüpft. Die Sozialarbeiterin schlägt vor, man könne auch einen Hausbesuch mit ihr machen. Die Situation zuhause, mit dem Partner, und die Wohnsituation sei ja insgesamt oft Thema in den Gesprächen. Es werden weitere Ideen, Einschätzungen gesammelt. Andreas rekapituliert schließlich: „Noch einmal zurück zum Anfang. Sie war ja sehr lange Zeit nicht in der Klinik, und dann gab es einen Einbruch, und seitdem ist sie sehr häufig hier. Was hat denn zu diesem Einbruch geführt?“ Die Oberärztin erzählt, dass es damals einen Todesfall in der Familie gegeben habe, das wäre für sie sehr dramatisch gewesen. Eine Schwierigkeit sei aus ihrer Sicht, dass Frau Schneider mit Anforderungen „zu uns kommt, die wir dann nicht erfüllen können“, man müsse genauer verstehen lernen, was da dahinterstecke. Die Oberärztin fasst zusammen: „Wir sind mitten im Prozess und sammeln die verschiedenen Perspektiven. Wir müssen Schritt für Schritt sehen, worauf sie sich einlässt und was eine Veränderung bewirkt.“ Auch im Falle von Frau Schneider rekapituliert das Team die bisherige gemeinsame Behandlungsgeschichte. Aus Sicht des Arztes ist eine neue Strategie notwendig. Ging es ihr eine längere Zeit vergleichsweise gut und hatte sie es mit einigen kürzeren Kriseninterventionen geschafft, ihre akuten Krankheitsphasen zu bewältigen, hat sich ihr Zustand seit einiger Zeit deutlich verschlechtert. Zwar deutet man die Suizidankündigungen nicht als ernstgemeinte Selbsttötungsabsicht, aber ihre aktuelle Abhängigkeit von der Station erscheint problematisch. Wie die Oberärztin zusammenfasst, würde man verschiedene Perspektiven sammeln und dann Schritt für Schritt ausprobieren, womit man eine Veränderung herbeiführen könne. Zum einen wird hierzu ihre Vorgeschichte anhand der zur Verfügung stehenden Fakten zu einer kohärenten Geschichte zusammengefügt. Was war der Auslöser für den Einbruch in der Krankheitsgeschichte, wie ist die Beziehung zu ihrem Partner, wie sind ihre Suizidankündigungen zu verstehen? Welche Problemstellungen ergeben sich daraus, und vor allem welche Lösungswege erscheinen hierfür angemessen? Dabei wird auf bisherige Behandlungsversuche zurückgegriffen und damit eine neue Strategie abgeglichen: Eine Reduktion des Medikaments würde nur bedingt nutzen, der niedergelassene Arzt würde die Dosis immer wieder erhöhen; den Partner einzubeziehen wäre wenig aussichtsreich, der würde sich der Zusammenarbeit mit dem Team verweigern. Diagnostizieren zeigt sich hier als Herstellung einer kohärenten Geschichte, die sowohl an den früheren Erfahrungen orientiert ist als auch die zukünftigen
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Möglichkeiten in Betracht zieht. Diese Herangehensweise war gerade bei den „gut bekannten Patienten“ der Station typisch: Zu Beginn einer Behandlung wird im Team nicht nur der aktuelle Auslöser besprochen, sondern vor allem ausführlich auf die vorherigen Behandlungen und Erfahrungen rekurriert. Welche Erfahrungen hat man mit welchen therapeutischen Ansätzen gemacht? Beispielsweise würde Druck ausüben bei Frau Jüttner nicht viel bringen, dann mache sie sofort dicht. Oder Frau Kelter wäre auch schon mal viel schlechter gewesen, momentan scheine sie gut im Kontakt, das wäre doch ein gutes Zeichen. Herr Böhm wäre ein erfahrener Patient, da müsse man sehen, was diesmal sein Behandlungsauftrag wäre. Bei Herrn Kager hätte der Medikamentenwechsel das letzte Mal auch nicht viel gebracht, da wird sich auch diesmal nicht viel ändern. Ähnlich wie in der Kurvenvisite mit Frau Cicek werden in der Teambesprechung verschiedene Informationen versammelt, um die aktuelle Situation einschätzen zu können und um nächste Behandlungsschritte zu planen. Da Frau Cicek zum ersten Mal in der Mittendamm-Klinik in Behandlung war, konnte in ihrem Fall nicht auf die bisherige gemeinsame Behandlungsgeschichte zurückgegriffen werden, aber man beschließt, die Akten von ihren früheren Behandlungen anzufordern und dann weiterzusehen. Auch bei Patienten, die zwar schon früher auf der Station behandelt wurden, aber deren Geschichte in der Erinnerung des Teams nicht mehr präsent ist, werden die Akten aus dem Archiv angefordert.21 Wie die Oberärztin beispielsweise bei einer neu aufgenommenen, auf der Station bekannten Patientin meinte: „Wir sollten auch die alten Akten wieder aus dem Archiv holen, ich erinnere mich gar nicht mehr richtig an sie. Dann können wir sehen: Welche Überlegungen haben wir schon einmal getroffen, was haben wir schon alles angestellt und woran können wir wieder anknüpfen.“ Die Akten werden in dieser Formulierung der Oberärztin letztendlich als Stütze für das mündlich überlieferte Wissen des Teams beschrieben. In den Fällen, in denen das „kommunikative Gedächtnis“ (Assmann 2007 [1992])22 des
21 Seit 2009 sind die meisten Informationen in einer elektronischen Patientenakte aufrufbar; seit 2011 wurden die Pflegeberichte auf das elektronische Dokumentationssystem umgestellt. Nicht elektronisch zur Verfügung, zumindest nicht als kontinuierlicher Verlauf, ist die Medikamentierung. 22 Jan Assmann beschreibt das kommunikative Gedächtnis im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis als eine Form des aktiven Gruppengedächtnisses, das in der kontinuierlichen (kommunikativen) Interaktion reproduziert wird. Allerdings diskutiert Assmann die verschiedenen Gedächtnismodi vor einem weiter gefassten Zeithorizont. Das kommunikative Gedächtnis beschreibt er als ein Generationengedächtnis, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird.
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Teams nicht mehr ausreicht, wird das „Gedächtnis der Akten“ aufgerufen. An einer anderen Stelle bat die Oberärztin einen Stationsarzt, noch einmal in der anderen Klinik, in der eine Patientin vorher behandelt worden war, anzurufen, vielleicht könne er mehr rausbekommen, als was in den Akten stehe. Dem Gedächtnis des Teams wird in der Rekapitulation eine zentrale Rolle zugeschrieben, die Akten werden hinzugezogen, wenn man sich der Validität des kommunikativen Gedächtnisses nicht sicher ist. Ziel ist es, im Team aus den verschiedenen „Fakten“, den erinnerten wie den gespeicherten, eine kohärente und für alle plausible Geschichte zu reproduzieren, die als Grundlage für die weiteren therapeutischen Aktivitäten dient. Diese Geschichte ist gerade nicht festgefroren, sondern wird immer wieder neu erzählt; andere plausible Schlüsse können gezogen oder neue „Fakten“ hinzugefügt werden, eine andere Anordnung und damit eine etwas andere Geschichte produziert werden. Ähnlich wie im Aufnahmegespräch und der Kurvenvisite werden in den Teambesprechungen unterschiedliche Informationen versammelt und zu einem plausiblen nächsten Schritt zusammengefügt. Dabei werden neben der Behandlungsgeschichte auch die sozialen Umstände einer Patientin rekapituliert und wieder erzählt. Diese „soziale Geschichte“ einer Patientin soll ermöglichen, den aktuellen Zustand zu evaluieren, und zugleich klären, welche Ressourcen und Hilfen dem Patienten und dem Team in der Behandlung zur Verfügung stehen. In diesem kontinuierlichen diachronisierenden Diagnostizieren – im Sinne einer fortlaufenden Ein-Ordnung innerhalb des längerfristigen Behandlungsverlaufs – wird deutlich, wie in einer Situation spezifische Fragen und Antworten möglich werden, die – wie auch Dewey betonte – der Situation in gewisser Weise schon vorgängig sind und sich sowohl aus vorherigen Erfahrungen wie auch als legitim verstandenen Lösungswegen speisen. Aus diesem Diachronisieren können sich zugespitzt zwei Konsequenzen ergeben: Einerseits kann sich durch diese langjährige gemeinsame Geschichte von Patientin und Stationsteam ein Verständnis für den über die aktuelle stationäre Behandlung hinausgehenden Krankheitsverlauf ergeben. Gerade die phasenweise positiven Entwicklungen bei schwer kranken Menschen produzierten dabei im Team auch eine optimistische Haltung. Bei Frau Krol beispielsweise, die seit vielen Jahren wegen einer bipolaren Störung immer wieder stationär behandelt wurde, verwiesen Teammitglieder auf die letztendlich „erfolgreichen“ Behandlungen auch in sehr schwierigen Phasen. Man kannte ihre familiären Umstände, ihre Kinder, wusste um die schwierige Beziehung zu ihrem Partner und konnte so gezielt bestimmte Schritte einleiten und auf ein bereits bestehendes Helfersystem zurückgreifen. Auch ihr gegenüber wurde in den Gesprächen des Öfteren auf die früheren Entwicklungen und die damaligen
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Verbesserungen verwiesen. Wie der Psychologe in einem Gespräch mit ihr einmal betonte: „Wir müssen die weiteren Schritte vor dem Hintergrund dreier Jahre gemeinsamen Wissens über den Verlauf entscheiden und die Dinge in kleinen Schritten betrachten. Dabei können wir ja auch auf einiges zurückgreifen, was gut lief.“ Andererseits kann sich aus dieser gemeinsamen Geschichte auch das Gegenteil, eine tendenziell pessimistische Haltung ergeben. Gerade bei Patienten, bei denen es schwerwiegende Konflikte und problematische Situationen gegeben hatte, konnte – wie es ein Pfleger einmal ausdrückte – der „Sympathie-Akku“ irgendwann aufgebraucht sein und im Team wurde tendenziell ein negativer Verlauf, eine Stagnation oder eine Verschlechterung antizipiert. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte von Herrn Sperg, von dem auch die Eingangssequenz des Kapitels handelt. In der Teambesprechung wird Herr Sperg mit der Beschreibung „ein bekannter polytoxischer Patient“ eingeführt; das bedeutet, dass er neben seiner Hauptdiagnose einer paranoiden Schizophrenie verschiedene Abhängigkeitserkrankungen hat. Im Team wird rekapituliert, wie es bei seiner letzten stationären Behandlung ablief. Wie eine Krankenschwester betont, gab es „zwischendurch schon ziemlich heftige Konflikte mit ihm“, sie erinnert daran, dass er Pfleger Markus ohne Vorwarnung von hinten gewürgt hätte, „der ist nicht ohne“, fügt sie hinzu. Andreas berichtet, wie es zu der aktuellen Einweisung kam: Sein niedergelassener Arzt, der für die ambulante Substitutionstherapie zuständig ist, hätte ihn eingewiesen. Herr Sperg hätte es tatsächlich geschafft, die Substitutionssubstanz aus der Praxis zu schmuggeln, und sich diese dann zusammen mit Ritalin selbst in die Leiste injiziert. Kopfschütteln im Team. Jetzt hat er an der Leiste eine offene Wunde, das wird von den Chirurgen weiter versorgt. Andreas fügt hinzu: „Er sah aber heute auch schon viel besser aus als gestern.“ Frau Brühl, die Oberärztin, schüttelt den Kopf, in der Großgruppe am Morgen wäre sie schon ziemlich erschrocken gewesen, als sie ihn gesehen habe, im Vergleich zu früher sei er „nur noch ein Schatten seiner selbst“. Die Vorgeschichte stünde doch sehr im Gegensatz zu seinem ehrgeizigen Plan der Entgiftung und Entwöhnung. „Wir kennen das von ihm. Wenn er hier ankommt, nimmt er sich alles Mögliche vor, ist fast schon unterwürfig und selbstkasteiend, will sein Leben ändern, aber wenn es dann anfängt schwierig zu werden, wird er aggressiv und ist weg.“ Im Team beschließt man die Behandlung erst einmal als Krisenintervention zu verstehen und mit ihm nicht gleich das „volle Programm zu planen“. Man müsse sehen, wie weit man diesmal mit ihm komme.
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Auch im Falle von Herrn Sperg wird auf frühere Erfahrungen und die gemeinsame Behandlungsgeschichte zurückgegriffen, um zu einer Einschätzung der Situation und der möglichen nächsten Schritte zu gelangen. Er sei nur noch „ein Schatten seiner selbst“, die aktuelle Vorgeschichte verdeutlicht aus Sicht des Teams, wie massiv seine Abhängigkeitserkrankungen sein Verhalten steuern; zudem hatte es mit ihm massive gewalttätige Konflikte gegeben und vielfache Behandlungsabbrüche – entgegen seiner oftmals ehrgeizigen Ziele des Entzugs. Im Fall von Herrn Sperg wird also aus der gemeinsamen Behandlungsgeschichte die Antizipation einer negativen Entwicklung gespeist. Warum in bestimmten Fällen die gemeinsame Geschichte eher in einer „optimistischen“ oder einer „pessimistischen“ Haltung resultierte, lässt sich dabei nicht endgültig systematisch herausarbeiten. Es gibt nicht eine Variable, die zu einer Schließung oder Öffnung führt; vielmehr werden in den Verläufen vielfältige Aspekte zusammengefügt, die sich im Verlauf ebenso wieder ändern können. Eine Rolle spielte sicherlich, wenn Patienten gegenüber dem Team aggressiv und gewalttätig wurden und die Behandlung dann für das Team zur persönlichen Belastung wurde. In besonders schwerwiegenden Fällen wurden solche Patienten auch – entgegen dem Prinzip der Heimatstation – innerhalb der Klinik auf eine andere Station verlegt, um einerseits das Team zu entlasten, andererseits um dem Patienten mit einem anderen Team einen therapeutischen Neustart zu ermöglichen. Das Prinzip der Heimatstation und der langjährigen gemeinsamen therapeutischen Beziehung konnte sich also durchaus zu einer negativen Stabilisierung entwickeln und Veränderungen verhindern. Herr Böhm, ein langjähriger Patient der Station, beispielsweise fand das Heimatstationsprinzip aus eigener Erfahrung problematisch. Für ihn bedeutete der andauernde Rückblick auf frühere Behandlungen auch die Gefahr der Fortschreibung von Vorurteilen: „Dieses anhaltende Misstrauen, dass ich Alkohol trinke. Es gab da mal eine Phase, ja, da hab ich etwas zu viel getrunken. Aber das ist lange vorbei. Und auf der Station behandeln sie mich, als würde ich ständig am Saufen sein. Da ist dieses Heimatprinzip nicht gut, da kann man sich ändern und man wird immer wieder mit den gleichen Vorurteilen konfrontiert. Einmal sollte ich einen Pfleger jedes Mal anhauchen, wenn ich aus dem Ausgang zurückgekommen bin. Da hab ich einmal so viel Knoblauch gegessen, dass er mich nie wieder gefragt hat.“
Die früheren Behandlungen hinterlassen also nachhaltige Spuren, nicht nur in den Akten, sondern vor allem im Gedächtnis des Teams. Anders als scheinbar neutrale und transparente „universelle“ Standards sind diese vielfältigen Spuren,
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die im Nachhinein kaum noch auseinanderdividiert werden können, dabei kaum hinterfragbar. Sie sind vor allem auch geprägt von vielfältigen Meinungen, von Interpretationen und Re-Interpretationen, die sich kontinuierlich verdichten. Das bedeutet keine endgültige Schließung und gerade auch keine Determinierung des Behandlungsverlaufs, aber im sozialpsychiatrischen Diagnostizieren, mit seinem Fokus auf Erfahrungswissen und Austausch im Kollektiv, wird das Wissen über einen Patienten zu einer wirkmächtigen gemeinsamen Geschichte stabilisiert und reifiziert. Wie in der sozialpsychiatrischen Choreografie dabei normative Wertungen oftmals unhinterfragt wirksam werden, werde ich in den verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit aufgreifen.
F AZIT : D IAGNOSTIZIEREN
IM EPISTEMISCHEN
M ILIEU
In diesem ersten Kapitel bin ich dem Weg der Patienten über die Aufnahme auf die Station gefolgt und habe verschiedene Situationen diskutiert, in denen die spezifische Art und Weise, wie im epistemischen Milieu der Mittendamm-Klinik diagnostiziert wird, deutlich wurde. Wie ich am Beispiel des Aufnahmegesprächs und dem Aufnahmebefund dargestellt habe, spielen dabei diagnostische Standards und anamnestische Kategorien durchaus eine Rolle. Als technoscientific script (Timmermans und Berg 1997) formen sie das Gespräch zwischen Arzt und Patientin, ohne die Interpretationen zu determinieren. In meiner Analyse von diagnostischen Standards habe ich vielmehr gezeigt, dass Standards eher im Sinne disziplinärer Affordanzen zu verstehen seien, die jenes disziplinäre psychiatrische Wissen aktualisieren, das Psychiater in ihrer Ausbildung erlernen. Psychiater eignen sich diesen psychiatrischen Blick und die spezifische Weise, sozialpsychiatrisch zu diagnostizieren, vor allem im alltäglichen und kontinuierlichen Lernprozess in einer community of practice (Lave und Wenger 1991) an. Eine Kontrastierung von entweder Standards oder Skills erscheint hier wenig produktiv, um die lokale Praxis des Diagnostizierens zu diskutieren. Vielmehr wurde im Laufe des Kapitels deutlich, dass sowohl die erfahrenen Professionellen in diesem Diagnostizieren involviert sind wie auch diagnostische Standards, frühere Befunde, ältere Akten, Laborwerte etc. Für dieses spezifische Arrangement sozialpsychiatrischen Diagnostizierens, das gerade auch quer zu den professionellen Gruppen praktiziert wird und sowohl die Äußerungen der Professionellen wie auch der Akten zusammenbringt, habe ich den Begriff „epistemisches Milieu“ vorgeschlagen. Das epistemische Milieu umfasst sowohl das soziale Kollektiv, in dem im kontinuierlichen Austausch psychiatrisches Wissen reproduziert wird, als auch die verschiedenen materiellen
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Partizipanden: Infrastrukturen, Akten, Standards, Laborwerte und dergleichen. Im alltäglichen Diagnostizieren ist es das vordergründige Ziel, konkrete nächste Schritte für ein aktuell zu bearbeitendes Problem einzuleiten. Dafür werden verschiedene Trajektorien – beispielsweise biografische Informationen oder die Erfahrungen aus früheren psychiatrischen Behandlungen – zusammengebracht und zum Fall arrangiert. Die Art und Weise, wie in den verschiedenen „diagnostischen Situationen“ – Aufnahmegespräch, Aufnahmebefund, Kurvenvisite, Teambesprechung – die unterschiedlichen Trajektorien arrangiert wurden, verdeutlicht, wie in der Mittendamm-Klinik psychische Erkrankungen auf spezifische Weise gewusst werden. Dieses Wissen wird, wie ich im letzten Abschnitt des Kapitels gezeigt habe, durch das kontinuierliche Rekapitulieren und kollektive Erinnern im Team stabilisiert und reproduziert. An den verschiedenen Beispielen wurde dabei deutlich, dass es im alltäglichen Diagnostizieren um die Frage geht: Was ist eigentlich das Problem, und wie lässt es sich bearbeiten? Die Erstellung einer Diagnose zu Beginn der Behandlung gibt eine erste Richtung vor, aber damit ist das Diagnostizieren keinesfalls beendet. Bearbeitet werden in der klinischen Arbeit nicht „die Krankheit“, sondern die verschiedenen Faktoren, die aus Sicht der Professionellen eine psychische Erkrankung zusammen hervorbringen. Immer wieder haben mir verschiedene Professionelle in der Klinik erklärt, dass im Falle einer psychischen Erkrankung psychosoziale Dynamiken als krankheitsfördernd gesehen werden. Es gäbe nicht die eine Ursache, den einen Auslöser, die eine Erklärung für eine Erkrankung, sondern man ginge von einem komplexen Wechselspiel sozialer und psychischer Ursachen aus. Hier zu intervenieren bedeute, in einen dynamischen und systemischen Prozess einzugreifen. Was dies im Einzelnen bedeutet, werde ich in den folgenden Kapiteln meiner Arbeit ausbreiten.
Choreografien des Erfahrung-Machens: Vom verrückten Erleben zu einer Erfahrung
Wie kaum eine andere medizinische Subdisziplin ist die Psychiatrie darauf angewiesen, dass ihre Patienten ihr subjektives Erleben artikulieren. Zwar sind die Professionellen auf der Station darin geübt, auch die non-verbalen Äußerungen und die vielfältigen anderen Informationen zu einem Patienten zu sammeln und zu interpretieren, aber wenn eine Patientin auf Dauer – wie beispielsweise Frau Cicek im letzten Kapitel – nicht oder zumindest nicht eindeutig äußert, was in ihr vorgeht, kommen die psychiatrischen Professionellen an ihre Grenzen. Dabei sind die Äußerungen der Patientin nicht nur Grundlage für das Diagnostizieren, sondern zentraler Bestandteil der Behandlung. Die Patienten werden kontinuierlich dazu angehalten, über ihr Erleben zu sprechen, zu reflektieren und diesem eine spezifische Bedeutung als Teil einer psychischen Krise zuzumessen. Das subjektive Krankheitserleben des Patienten steht in der Mittendamm-Klinik im Mittelpunkt des Behandlungsprozesses und soll in der Therapie im Austausch mit den Professionellen und insbesondere den anderen Patientinnen bearbeitet werden. Dabei soll den Patientinnen gerade nicht ihr „verrücktes Erleben“ abgesprochen und ausgeredet werden; vielmehr werden sie in den verschiedenen therapeutischen Gesprächen zu einer kontinuierlichen Reflexion aufgefordert und ihnen von den verschiedenen Beteiligten alternative Sichtweisen angeboten. Der therapeutische Anspruch hinter diesem Ansatz ist, den Betroffenen zu ermöglichen eigene Bedeutungen ihres Krankheitserlebens und eigene Strategien der Krankheitsbewältigung zu entwickeln. Die subjektive Erfahrung der Patientin wird dabei in der Behandlung in zweifacher Weise relevant: Erstens wird im Rahmen der Behandlung der Artikulation dieses Erlebens und dem Entwickeln von Bedeutungszusammenhängen eine zentrale Rolle zugemessen, gerade weil sich bei psychischen Erkrankungen das Erleben der Betroffenen – die Interaktion mit ihrer Umwelt wie auch die innere Wahrnehmung – maßgeblich verändert und sich meist nicht mehr im Rahmen gewöhnlicher Erklärungsmuster deu-
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ten lässt. Sicherlich spielt hier die Genese einer Krankheitseinsicht eine Rolle, aber es geht in dieser Form der Behandlung um mehr: Das individuelle subjektive Erleben soll durch den Austausch mit Behandlern sowie anderen Patientinnen zu einer bedeutungsvollen subjektiven Erfahrung gemacht werden. Zweitens wird die Erfahrung der Betroffenen als wichtige Ressource in der weiteren Bewältigung der Erkrankung und dem Entwickeln eigener Strategien verstanden: Sei es im Erkennen und Interpretieren von Signalen für mögliche Rückfälle, im Nutzen von Hilfsangeboten oder Medikamenten, in der Alltagsorganisation oder im Gestalten von Beziehungen und dergleichen. Erfahrung verweist in diesem Sinne auf eine individuelle Kompetenz, eine Wissensressource, die der Patient in der Behandlung einsetzen kann. Die Betonung der subjektiven Erfahrung des Patienten und seiner Perspektive auf Krankheit und Behandlung wird als Teil eines therapeutisch angeleiteten Ermächtigungsprozesses betrachtet, der den mündigen Patienten in den Mittelpunkt der Behandlung stellt. Aber nicht jede Bedeutung und jede Strategie erscheint aus therapeutischer Perspektive als sinnvoll und hilfreich. Vielmehr werden diese Prozesse – vom „verrückten Erleben“ zu einer bedeutungsvollen Erfahrung und von der Krankheitserfahrung zu Strategien der Bewältigung im Krankheitsverlauf – in der Mittendamm-Klinik auf spezifische Weise choreografiert und Erfahrung dabei auf eine bestimmte Weise relevant gemacht. Um diese Konfiguration vom verrückten Erleben zu einer Erfahrung geht es in diesem Kapitel. Mit der detaillierten Beschreibung dieser Konfiguration arbeite ich dabei erstens die konkreten praktischen wie ideologischen Bedingungen heraus, welche die Konzeptualisierung von Erfahrung und deren therapeutische Bearbeitung formen. So werde ich beispielsweise zeigen, wie die sozialpsychiatrische Favorisierung des Erfahrungsaustausches in einer Gruppe auf eine spezifische Konzeptualisierung von Erfahrung als intersubjektiv und ermächtigend verweist. Zweitens geht es mir um eine Problematisierung von subjektiver Erfahrung, wie sie oftmals in anthropologischen Arbeiten diskutiert wird. Denn während subjektiver Erfahrung in der Kultur- und Sozialanthropologie nach wie vor eine Vorstellung von Authentizität und Unmittelbarkeit zugeschrieben wird, zeigen die alltäglichen Praktiken auf der Station hingegen, dass Erfahrung vielmehr ein Ergebnis von konkreten Praktiken ist. Bevor ich verschiedene (medizin-)anthropologische Zugriffe auf Erfahrung diskutiere und darauf aufbauend meinen eigenen Ansatz expliziere, skizziere ich im Folgenden kurz die Bedeutung des Erfahrung-Begriffs in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung, um die spezifische Rahmung subjektiver Erfahrung im Klinikalltag in einen weiter gefassten Kontext einzubetten.
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E RFAHRUNGEN VON P ATIENTEN ALS R ESSOURCE IN DER G ESUNDHEITSVERSORGUNG Wie die Soziologin Livia Velpry in einem Artikel über die Theorie und Praxis der Patienten-Perspektive in der Psychiatrie so treffend feststellt, gibt es kaum noch wissenschaftliche wie gesundheitspolitische Auseinandersetzungen mit und in der Psychiatrie, die nicht in irgendeiner Art und Weise die Perspektive und die subjektive Erfahrung des Patienten mit berücksichtigen. (Velpry 2008) Velpry zeigt beispielsweise auf, wie in der Versorgungsforschung subjektive Kriterien wie Lebensqualität und Funktionalität im Alltag objektiviert und zu selbstverständlichen Bewertungskategorien von Behandlungsregimes gemacht werden. Auch in der deutschsprachigen Forschung nahm das Interesse an der „subjektiven Perspektive der Patienten“ in den letzten 25 Jahren „deutlich zu “, wie Holzinger und Angermeyer in einem Überblick zu (sozial-)psychiatrischer Forschung feststellen. (Holzinger und Angermeyer 2002: 397) Subjektive Krankheitstheorien, Lebensqualität sowie Erfahrung von Stigmatisierung sind hier zentrale Themen. (Priebe 1994) Die subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen von Patienten sind für die klinische Forschung wie auch für die sozialwissenschaftliche Versorgungsforschung als komplementäres Wissen von Relevanz, um Versorgungs- und Behandlungsangebote zu evaluieren und zu optimieren. Die Erfahrung der Patienten wird hier als Evaluationsressource für das medizinische System verstanden und genutzt. In sozialpsychiatrischen Kontexten, wie beispielsweise auf Tagungen oder in sozialpsychiatrischen Fachzeitschriften, wird den erfahrenen Betroffenen mittlerweile selbstverständlich Raum für „ihre Perspektive“ auf Behandlung und Versorgungsstrukturen gegeben. In der Mittendamm-Klinik wurden insbesondere bei Informationsveranstaltungen oder Tagungen in der Psychiatrie immer auch Betroffene als Teilnehmerinnen des Podiums eingeladen, sich zu Wort zu melden. Unter dem Stichwort Trialog wird – nicht nur in der MittendammKlinik – für eine „gleichberechtigte Zusammenarbeit von Profis, PsychiatrieErfahrenen und Angehörigen“1 geworben. Das Einbeziehen der Sichtweisen von
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So beschreibt beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ihren Grundsatz. Wie in einem Blog der Internetseite weiter ausgeführt wird, fordert die DGSP, „dass Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle als gleichberechtigte Partner generell und europaweit auf gesetzlicher Grundlage in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Der Trialog mit allen Beteiligten bezieht sich auf die Beteiligung an Planung, Entscheidungsfindung, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Forschung und die Mitarbeit in gemeindepsychiatrischen Verbünden und
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Psychiatrie-Erfahrenen wie auch deren Angehörigen soll die Praxis der Professionellen verändern und die Qualität der Versorgung verbessern. Seinen Anfang nahm das Konzept des Trialogs Ende der 1980er Jahre in Hamburg, wo der Psychiater Thomas Bock und die Psychose-Erfahrene Dorothea Buck gemeinsam so genannte Psychoseseminare entwickelten, in denen der Austausch zwischen Psychose-Erfahrenen, deren Angehörigen und den Professionellen im Zentrum steht. Psychoseseminare verfolgen keine unmittelbar therapeutischen Absichten, sondern zielen primär auf den Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Gruppen im Trialog ab. (Bock et al. 1997; Bock 1995) Im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile weit über hundert solcher Gruppen, die trialogisch organisiert sind und sich als Austausch- und Lernort für alle Beteiligten verstehen. Die Bedeutung des Trialogs wird von sozialpsychiatrischen Akteuren weit über diese Gruppen hinaus gesehen und als eine Art neue Reformbewegung der Psychiatrie begriffen.2 So beschreibt beispielsweise Klaus Dörner als Prinzip der „trialogischen Bewegung“, es ginge nicht mehr um BeHandeln, sondern um Ver-Handeln, das auch als politisches Prinzip verstanden wird. (Dörner et al. 2002: 451) Im Ideal der trialogischen Bewegung soll dieses Prinzip der Verhandlung zwischen gleichberechtigten Partnern nicht nur Behandlungsalltage ändern, sondern vor allem auch die gesellschaftliche Teilhabe von Betroffenen stärken.3 Insgesamt zeigt sich in dieser knapp skizzierten Entwicklung eine politische wie moralische (Selbst-)Verpflichtung in der wissenschaftlichen wie politischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie, die subjektive Erfahrung von Betroffe-
Zentren sowie Teams. Der Perspektivwechsel durch trialogisches Handeln führt dabei zu einer neuen und besonderen Qualität.“ http://denkanstoesse.dgsp-ev.de/?cat=16 [Zugriff am 20.11.2012] 2
Höhepunkt der deutschen „trialogischen Bewegung“ war der XIV. Weltkongress für Soziale Psychiatrie „Abschied von Babylon – Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie“ 1994 in Hamburg, auf dem von den Veranstaltern (unter anderem Thomas Bock, Dorothea Buck) die so genannte „Hamburger Erklärung“ zu den Perspektiven einer trialogischen Psychiatrie entworfen wurde. Siehe hierzu den Tagungsband Bock et al. 1995.
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Zudem wird gefordert, dass das Prinzip des Trialogs auch in der Forschung umgesetzt werden sollte. Während in anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien „user-led research“ mittlerweile durchgeführt wird (bspw. Faulkner und Layzell 2000; Rose 2001; Trivedi und Wykes 2002), gibt es in Deutschland bislang kaum Beispiele. Siehe hierzu die Website http://www.trialog-psychoseseminar.de/de/31/Forschung.html [Zugriff am 24.11.2012].
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nen als selbstverständliches, eigenständiges Thema zu berücksichtigen.4 Neben diesem eher komplementären Umgang mit dem Erfahrungswissen der Patientinnen verweist die Entwicklung des Trialogs auch darauf, dass in der Psychiatrie in den letzten Jahren zunehmend Ansätze an Einfluss gewinnen, die die Partizipation von Betroffenen als Expertinnen gerade aufgrund ihres Erfahrungswissen im Behandlungsprozess einfordern. Dies betrifft nicht nur das psychiatrische Versorgungssystem. In der Gesundheitsversorgung allgemein wird seit einigen Jahren eine Zunahme von Patienten, die als chronisch krank eingestuft werden, konstatiert, die ein grundlegend verändertes Patienten- und Medizinverständnis erfordere: Hier könne man nicht mehr wie in der Akutversorgung von einem medizinischen Verständnis von „treatment and cure“ ausgehen; vielmehr erfordern chronische Erkrankungen stattdessen langfristiges „management and care“ (Gerhardt 1989: 139). Dadurch habe sich nicht nur das Selbstverständnis der Medizin verändert – weg von paternalistischen Modellen hin zu Kooperationsmodellen (Terzioglu und Zaumseil 2007) –, sondern auch die Erwartungen erweitert, die an die Patientinnen in der Behandlung gestellt werden. Nicht mehr die klassische „sick role“, wie Talcott Parsons sie in den 1950er Jahren beschrieben hat (Parsons 1951), die die Patientin für einen begrenzten Zeitraum von der Verantwortung für ihre Erkrankung entlastet, sondern ein Verständnis des Patienten als aktiven Manager seiner Erkrankung und seines Alltags stehen hier im Vordergrund. Die Soziologin Liza McCoy hat dieses veränderte Verständnis als „modern ‚sick role‘“ beschrieben, die als „active ,self-care‘“ verstanden wird, und die im Kontext von Patienten-Selbsthilfebewegungen, veränderten Zugangsmöglichkeiten zu Gesundheitsinformationen und Netzwerken sowie neoliberalen Diskursen um individuelle Verantwortlichkeit entstanden sei. (McCoy 2009: 129) Die mündige, informierte Patientin, die als aktive Kooperationspartnerin im Prozess der geteilten Entscheidungsfindung beteiligt ist, gilt mittlerweile in der Gesundheitsversorgung und auch in der psychiatrischen Versorgung als Idealtypus einer modernen ArztPatient-Beziehung. Die Erfahrung und subjektive Perspektive der Betroffenen wird hier nicht mehr nur als komplementäre Wissens-Ressource für das Versorgungssystem verstanden, sondern vor allem als zentrale Ressource für das Selbst-Management der Patienten im Behandlungsverlauf. In besonderer Weise verwirklicht scheint dieses Ideal des aktiven und mündigen Patienten im Konzept des „Experten-durch-Erfahrung“: So werden im sozialpsychiatrischen Versorgungssystem Betroffene bezeichnet, die aktiv in der Selbsthilfearbeit
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Insbesondere aus Sicht antipsychiatrischer Akteure wird dies als neue Form der Vereinnahmung kritisiert; siehe hierzu den Artikel von Thilo von Trotha 1995.
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engagiert und zunehmend auch als professionelle Genesungsbegleiter tätig sind. Als positive Vorbilder wie auch durch das Vermitteln konkreter Coping-Strategien gelten Experten-durch-Erfahrung als besonders befähigt, anderen Betroffenen zu helfen. (Utschakowski 2009) Das Konzept des Experten-durchErfahrung formiert sich insbesondere im Rahmen von Patienten-Selbsthilfegruppen und basieren auf der Erwartung, dass Selbst-Aktivierung und Partizipation zu einer Form der Selbst-Ermächtigung führe. (Amering und Schmolke 2007; Utaschowski et al 2009) Die subjektive Erfahrung der Patientinnen wird hier zur Grundlage einer Selbst-Expertisierung erklärt, die einen Gesundungsprozess in Gang setzen soll.5 Unter dem Stichwort recovery wird Gesundung als ein Lernprozess beschrieben, „wie man mit länger andauernden Einschränkungen leben und diese handhaben oder kompensieren kann und trotzdem oder darüber hinaus so aktiv und erfüllt wie möglich am Leben der Gesellschaft teilhat“ (Amering und Schmolke 2007:135). Aus Patienten sollen aktive Akteure werden, die (wieder) lernen, in der Gesellschaft zu partizipieren. Diese Form des Lernprozesses wird dabei explizit von Modellen der Psychoedukation abgegrenzt, in denen Professionelle Patientinnen über Krankheitszusammenhänge und vor allem über medikamentöse Behandlungsmodelle aufklären und schulen. Konzepte wie die Psychose-Seminare, trialogische Gruppen oder die Forderung, Patientinnen als Expertinnen-durch-Erfahrung im Behandlungsprozess wie im Versorgungssystem als gleichberechtigte Partnerinnen ernst zu nehmen, fordern ein grundlegend anderes Verhältnis zwischen Patienten und Professionellen. In diesen neuen Modellen der Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und Professionellen drückt sich eine spezifische Vorstellung von Patientinnen beziehungsweise Betroffenen aus, die – wie auch Terzioglu anmerkt (Terzioglu 2005) – ein normatives und idealisiertes Bild des Patienten in der Beteiligung am psychiatrischen System zeichnen und damit potentielle Machtasymmetrien eher verdecken, als sie zu verändern. Damit wird auch eine spezifische Form von Handlungsfähigkeit vorausgesetzt: Der Patient soll nicht mehr primär das Objekt von Helfer-Systemen sein, und damit mehr oder weniger passiver Empfänger, sondern sein Recht auf Teilhabe einfordern und durch diese Ermächtigung auch
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Siehe hierzu auch das von der EU geförderte Projekt „Ex-In“, in dem unter anderem „Experten-durch-Erfahrung“ ausgebildet werden, um beispielsweise als Genesungshelfer im psychiatrischen Versorgungssystem tätig zu werden. Ziel der Ausbildung ist es, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und die Ressourcen zu mobilisieren, aber auch „die Angebote psychiatrischer Dienste zu effektivieren, um auf die Bedarfe ihrer NutzerInnen einzugehen und zu ihrer Genesung beizutragen.“ http://www.ex-in.info [Zugriff am 24.11.2012]
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an seinem Heilungsprozess aktiv mitarbeiten. Die Handlungsfähigkeit der Patientin wird hier zum selbstverständlichen Ideal, zum Dreh- und Angelpunkt eines Ermächtigungsprozesses, der zur gleichen Zeit sowohl politisch als auch therapeutisch verstanden wird. Wie Bröckling konstatiert, lässt sich insgesamt in der Gesundheitsförderung eine Verschiebung weg von der Pathogenese hin zur Salutogenese beobachten; statt einer Fokussierung auf die Krankheitsentstehung rückt nun die Entstehung von Gesundheit in den Mittelpunkt Das SalutogeneseModell, das der Soziologe Anton Antonovsky entwickelt hat, betone insbesondere psychosoziale Schutzfaktoren, „die mittels ‚bemächtigender‘ Interventionen gestärkt werden sollen“ (Bröckling 2003: 335). 6 Ansätze wie recovery oder Experten-durch-Erfahrung nutzen ebendiese Modelle, um aus ohnmächtigen Patienten mündige und ermächtigte und damit auch gesundende Akteure zu schaffen. Diese verschiedenen vorgestellten Entwicklungen setzen subjektive Erfahrung dabei als etwas voraus, das der Patient entweder als Partizipand des Versorgungssystems artikuliert und zu Gehör bringt oder als rational agierender Akteur für sich nutzbar machen kann. Subjektive Erfahrung wird hier zur zentralen Ressource, die die Patientin ermächtigen soll, an Behandlungsregimes selbst aktiv teilzunehmen. Die größtenteils selbstverständliche Gleichsetzung von Perspektive, subjektiver Erfahrung und Vorstellungen von Handlungsfähigkeit der Patienten verweist auf eine in der westlichen Moderne gängige Konzeption von Erfahrung als etwas, was ein Individuum hat, das sich als Perspektive, als Artikulation objektivieren lässt und Voraussetzung für einen Ermächtigungsprozess ist. Diese Form der „Voraus-Setzung“ von Erfahrung und der Kapazität wie Kompetenz zum Selbst-Management beschränkt sich dabei nicht auf das Feld der psychiatrischen Forschung und Behandlung, sondern ist, wie ich geschildert habe, eingebettet in weiter gehende Transformationen des Gesundheitssystems. Bevor ich ausführe, wie diese Konzeptualisierung von subjektiver Erfahrung in der Mittendamm-Klinik in der Behandlung relevant wird, skizziere ich im Folgenden einen kurzen Rückblick über die Rolle von Erfahrung in der (Medizin-) Anthropologie, um meinen eigenen Zugriff zu explizieren.
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Bröckling hat einen Überblick zur Verbreitung und den theoretischen Grundlagen von empowerment-Konzepten erstellt, in dem er die Breite der Felder und damit hantierenden Akteure, die von Bürgerrechts- und Graswurzelbewegungen, über NGOs und Gesundheitsförderung bis hin zu Unternehmensberatern und Psychotherapeuten reichen, aufzeigt. Er beschreibt Ermächtigungs-Konzepte nach Foucault als spezifische Menschenregierungskunst, die im Grundsatz „das Streben nach Kontrolle über das eigene Leben zur conditio humana erklärt“ (Bröckling 2003: 329; Herv.i.O.).
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E RFAHRUNG ALS K ONZEPT IN DER (M EDIZIN -) A NTHROPOLOGIE In medizinanthropologischen Forschungen hatte die Perspektive der Betroffenen, deren subjektive Krankheits-Erfahrungen und Erzählungen, die als illness narratives konzeptualisiert und untersucht wurden, geradezu konstitutiven Charakter für die Entwicklung der Subdisziplin. In kritischer Auseinandersetzung mit „der Medizin“ wurde diese vor allem als reduktionistisches und machtvolles Unternehmen charakterisiert, das die vielfältigen subjektiven Krankheitserfahrungen der Betroffenen in medizinische Klassifikationsmodelle übersetze und dabei die kulturellen und sozialen Bedeutungen und Kontexte größtenteils ignoriere. Dem hingegen fokussierten (Medizin-)Anthropologen auf die Erklärungsmodelle in „local moral worlds“ (Kleinman 1980; Kleinman und Kleinman 1995) und semantische Netzwerke von Krankheit. (Good 1977) Kritik richtete sich auch gegen strukturalistische Ansätze in der frühen Medizinanthropologie, die – wie Arthur und Joan Kleinman in ihrem Aufruf für eine Ethnografie der Erfahrung herausstellen – in ähnlicher Weise reduktionistisch argumentieren wie biomedizinische Modelle und damit „der Authentizität des Stroms gelebter Erfahrung“ Gewalt antäten (Kleinman und Kleinman 1995: 292; ÜS MK).7 Kleinman und Kleinman und andere forderten hingegen ethnografische interpretative Studien, die experience-near arbeiten und die gelebte Erfahrung in diversen lokalen Kontexten ins Zentrum rücken. In den späten 1980er und 1990er Jahren entstanden so eine Vielzahl von interpretativen Studien zu Krankheit und Leiden in verschiedenen kulturellen Kontexten, die der subjektiven Erfahrung von Krankheit eine Vorrangstellung in anthropologischer Forschung einräumten. (vgl. Jenkins und Barrett 2004: 8) Diese Arbeiten griffen teilweise auf phänomenologische Traditionen zurück (Corin 1998; Csordas 1994; Pandolfi 1991) und rahmten Erfahrung als intersubjektives kulturelles Phänomen. (Good et al. 1994; Kleinman und Kleinman 1995) Illness narratives, also die Erzählungen der Betroffenen gegenüber den Anthropologen, sind dabei das zentrale Medium dieser medizinanthropologischen Forschung (Becker 1997; Good 1994; Lovell 1997; Mattingly 1998; Saris 1995), denn – so der Anthropologe Byron Good – „all narratives [...] are stories about lived experiences. They describe events along with their meaning for persons who live in and through them. They ‚emplot‘ experience revealing its underlying form.“ (Good 1994: 121) In dieser Rahmung von illness narratives drücken Betroffene
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Zur ausführlicheren Diskussion der frühen Ansätze in der Medizinanthropologie siehe Good et al. 2010; Good 1994; Young 1982a.
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in Erzählungen ihre gelebte Erfahrung aus und formen zugleich deren Bedeutung. Narrative werden dabei nicht als eine Art Fenster in die gelebte Erfahrung oder als deren Repräsentationen verstanden, sondern selbst als konstruktiv in der Herstellung von Bedeutung. Wie die US-amerikanische Anthropologin Janis Jenkins zudem betont, ermögliche diese Form Erfahrung und Bedeutung ethnografisch zu bearbeiten, den Akteur und dessen agency wieder in den Vordergrund zu stellen. (Jenkins und Barrett 2004: 9) Der Zusammenhang zwischen Erfahrung, Erzählung und Bedeutung-Herstellen als vor allem grundlegendes, kulturübergreifendes menschliches Phänomen findet sich nicht nur in der Medizinanthropologie, sondern als Gegenbewegung zu strukturalistischen Tendenzen in der Anthropologie allgemein. So formulierten der britische Anthropologe Viktor Turner und sein Kollege Edward M. Bruner bereits zu Beginn der 1980er Jahre das Konzept einer Anthropology of Experience, das sie ebenfalls als Kontrast zu strukturalistischen Tendenzen der Anthropologie ihrer Zeit verstanden: Eine Anthropologie der Erfahrung solle den kreativen Akteur in den Vordergrund stellen, der im kontinuierlichen Rekurs von Erfahrung und deren Ausdruck Kultur immer wieder neu erschaffe. (Turner und Bruner 1986) Im Fokus stehen die bedeutungsgeladenen außergewöhnlichen Momente, das „soziale Drama“ (Turner), die besonderen Rituale, die Übergänge, in denen Erfahrung zum Ausdruck gebracht wird. In Auseinandersetzung mit den Werken der beiden Philosophen Wilhelm Dilthey und John Dewey entwirft Turner ein Konzept von Erfahrung, das zwischen gewöhnlichen Erfahrungen, „mere experiences“, im Sinne eines alltäglichen mehr oder weniger passiven Erlebens, und einer außergewöhnlichen Erfahrung, „an experience“, unterscheidet. (Turner 1986: 33ff) Turner interessiert vor allem diese zweite Form einer Erfahrung, die aus dem gewöhnlichen Strom von Erfahrungen herausragt und ein bewusstes, bedeutungsaufgeladenes Erlebnis darstellt: „These experiences that erupt from or disrupt routinized, repetitive behavior begin with shocks of pain or pleasure. Such shocks are evocative: they summon up precedents and likeness from the conscious or unconscious past [...] What happens next is an anxious need to find meaning in what has disconcerted us […] and converted mere experience in an experience.“ (Ebd.: 35f.; Herv.i.O.)
Eine Erfahrung zeichnet sich für Turner durch zweierlei aus: Erstens ragt sie aus den üblichen, gewöhnlichen Erfahrungen heraus – auf besonders negative oder auch besonders positive Weise – und zweitens fordert diese außergewöhnliche Erfahrung zur Reflexion über ihre Bedeutung auf. Diese Betonung eines bewussten Erkenntnis- und Lernprozesses im Machen einer Erfahrung beschreibt John
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Dewey bereits ausführlich in seinem Buch Art as Experience. (Dewey 1980 [1934]) Dewey stellt zunächst grundlegend fest, dass Erfahrungen sich kontinuierlich ereignen, „because the interaction of live creature and environing conditions is involved in the very process of living“ (ebd.: 35). Zu leben heißt kontinuierlich „zu erfahren“. Diesen kontinuierlichen Erfahrungsstrom stellt Dewey als mechanistisch, repetitiv, automatisch dar. Lernen bzw. erfahren ist in diesem gewöhnlichen Verlauf kein bewusster, sondern ein reproduktiver Prozess bereits gemachter Erfahrungen. Erfahrungen wären in diesem Sinne das alltägliche Erleben, das zu keiner bewussten Reflexion und emotionalen Verarbeitung führt. Zu einer Erfahrung kommt es, wenn dieser gewöhnliche Strom des Erfahrens unterbrochen oder gestört wird, etwas Außergewöhnliches geschieht. Für Dewey ist dieser zweite Modus des Erfahrens mit Reflexion verbunden und hat dadurch einen Anfang und einen Moment der Schließung: „[...] we have an experience when the material experienced runs its course to fullfillment. Then and then only is it integrated within and demarcated in the general stream of experience from other experiences. [...] Such an experience is a whole and carries with it its own individualizing quality and self-sufficiency. It is an experience.“ (Dewey 1980 [1934]: 35; Herv.i.O.)
In der Form einer Erfahrung sieht Dewey vor allem die Grundlagen der intellektuellen Weiterentwicklung, der Veränderung, die sich nicht einfach mit der Fortführung von Gewohnheiten begnügt. Während in Deweys Verständnis gewöhnliche Erfahrungen ein passives Erleiden, ein Hinnehmen (Dewey 2010 [1916]: 186) darstellen, bedeutet eine (außergewöhnliche) Erfahrung zu machen einen Lernprozess, ein aktives Ausprobieren, das Veränderung hervorruft: „Durch Erfahrung lernen, heißt das, was wir den Dingen tun, und das, was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen. Bei dieser Sachlage aber wird das Erfahren zu einem Versuchen, zu einem Experiment mit der Welt zum Zwecke ihrer Erkennung. Das sonst bloß passive ‚Erleiden‘ wird zum ‚Belehrtwerden‘, d.h. zur Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge.“ (Ebd.: 187)
Eine Erfahrung ist damit sowohl formativ als auch transformativ und verweist auf Reflexions- und Erkenntnispotentiale. Während Erstere eine Form der Erfahrung darstellt, die als alltägliches, routinehaftes Erleben zu verstehen ist, bezieht sich eine Erfahrung auf den bedeutungsaufgeladenen und bedeutungsgenerierenden Moment, den Turner für die Anthropologie als entscheidend wahrnimmt. Sie bietet sich insofern für die anthropologische Forschung an, weil diese Form der
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Erfahrung nach Ausdruck drängt, sei es in Erzählungen, Kunstformen oder Ritualen. Illness narratives, wie ich sie oben skizziert habe, setzen genau hier an: Dabei drängen gewissermaßen subjektive, außergewöhnliche Erfahrungen, die kulturelle Bedeutungen über Krankheit (re-)produzieren, in die Form der Erzählung, die die Anthropologin schließlich interpretieren kann. Sie können Erfahrungen nicht im eigentlichen Sinne wiedergeben, sind also keineswegs als Repräsentationen zu verstehen, wie beispielsweise Bruner oder Good immer wieder betonen, aber sie werden als die Situationen verstanden, in denen Bedeutungen zum Ausdruck kommen. Diese scheinbare Unmittelbarkeit von subjektiver Erfahrung und ihr mehr oder weniger authentischer Ausdruck in illness narratives wurde bereits seit den 1980er Jahren innerhalb der Medizinanthropologie problematisiert. Der Medizinanthropologe Allan Young bezeichnete diese Ansätze als eine rational man theory, die den Aussagen der Betroffenen eine grundlegend rationale Struktur unterstelle: Hier würde erstens vorausgesetzt, dass „cognition and language share underlying structures which organize thinking and thinkers’ statements“ (Young 1981: 318). Zweitens würde hier das Wissen der Betroffenen als in der Regel mehr oder weniger widerspruchsfrei dargestellt und drittens werde der Prozess des Räsonierens als bewusster mentaler Prozess der Organisation von Wissen konzeptualisiert. Durch seine Kritik an diesem kognitivistischen Model des rationalen Menschen stellt Young vor allem das oben erwähnte explanatory model, wie es Kleinman und Kollegen verwenden, in Frage. Kranke würden hier als räsonierende, logische denkende und erzählende Subjekte vorausgesetzt, deren Aussagen abstrahierbar und generalisierbar seien. Young plädiert hingegen, eine höhere Komplexität bei der Analyse dieser Erzählungen einzuführen, die gerade Widersprüchlichkeit, Emotionalität und unterschiedliche Erklärungsreichweiten berücksichtigt. 8 Young stellt vor allem eine unproblematisierte Verknüpfung von subjektiver Erfahrung mit Narrativen und Bedeutungen in Frage, die sich in ein mehr oder weniger generalisierbares Modell einfügen lässt. Aus seiner Sicht ist es die Aufgabe von Anthropologen, die sozialen Bedingungen von Wissensproduktion – sowohl der Betroffenen als auch der Professionellen – zu untersuchen. (Young 1982a: 277) Für Young geht es um konkrete situierte Herstellungsprozesse von Wissen, Bedeutung, Erzäh-
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Youngs Artikel stieß auf einige Gegen-Kritik, unter anderem von Byron Good, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann. Siehe hierzu die Kommentare im selben Issue wie Youngs Artikel. Culture, Medicine, and Psychiatry Volume 5, Issue 4, 1981. Die Replik von Young auf diese Kommentare erschien im darauffolgenden Issue. (Young 1982b)
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lungen und nicht um allgemein abstrahierbare Modelle der Krankheitserfahrung. Young selbst hat diese Forderung unter anderem in seiner ethnografischen Forschung in einem US-amerikanischen Rehabilitationszentrum, das auf die Behandlung von Vietnam-Kriegsveteranen mit der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) spezialisiert ist, umgesetzt. (Young 1995) Young arbeitet zum einen heraus, wie vor dem Hintergrund der psychiatrischen Ideologie der Einrichtung ein spezifisches Wissen um die Diagnose PTBS von den Professionellen kontinuierlich reproduziert wird; zum anderen zeigt er anhand der alltäglichen Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Patienten, wie die Narrativierung von traumatischen Erinnerungen die Grundlage des therapeutischen Prozesses darstellt und von den Patienten in verschiedenen therapeutischen Settings erlernt werden muss. Die Frage, wie Krankheits-Narrative in der therapeutischen Begegnung zwischen Ärztin und Patient ko-produziert werden, wurde mittlerweile in diversen ethnografischen Arbeiten thematisiert. Dabei wurden vor allem auch die vorausgesetzte Einheit von Erfahrung, Erzählung und Bedeutung verschiedentlich problematisiert. Die US-amerikanische Anthropologin Cheryl Mattingly beispielsweise hat in der Diskussion den Begriff des emplotment hervorgehoben: In ihren Arbeiten, in denen sie vor allem auf den Bereich der Beschäftigungsbzw. Ergotherapie in klinischen Kontexten fokussiert, zeigt sie, wie in ergotherapeutischen Praktiken eine Form der Narrativierung – manchmal mit, manchmal ohne Worte – stattfindet. (Mattingly 1994, 1998) Das Bedeutung-Herstellen beschreibt hier einen grundlegend praktischen Vorgang, der nicht ausschließlich in der Übersetzung in Sprache vollzogen wird. Eine anders gerichtete Problematisierung bietet der kanadische Psychiater Laurence Kirmayer, der Narrative als nur eine mögliche Form der Artikulation von Erfahrung beschreibt. Narrative würden vor allem Kohärenz und eine lineare Entwicklung in den Vordergrund stellen, die – so zeigen seine Beobachtungen in psychiatrischen Settings – in psychotherapeutischen Prozessen erst erarbeitet werden müssten. (Kirmayer 1992, 2000, 2008) Ähnlich wie Young betont Kirmayer die sozialen und institutionellen Bedingungen, die am Prozess der Narrativierung von Erfahrung beteiligt sind. Wie er deutlich macht, können sich dabei die Erwartungen und Anforderungen, die Patientinnen und Professionelle an den therapeutischen Prozess richten, so grundlegend widersprechen, dass eine Ko-Produktion von Kohärenz und Bedeutung scheitert. (Kirmayer 2000) Explizit auf die Beschreibung von Praktiken ausgerichtet sind wiederum die Arbeiten der Niederländerin Jeanette Pols, die in ihrer Forschung in psychiatrischen Versorgungseinrichtungen die sozialwissenschaftliche Fokussierung auf Patienten-Perspektiven reflektiert und problematisiert. (Pols 2005) In der Refle-
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xion ihrer eigenen Forschung mit psychiatrischen Patienten fragt sie, wie man Erzählungen von Patientinnen in Interviewsituationen (und darüber hinaus) anders als in der Bedeutung „Perspektiven auf Krankheit“ oder „Repräsentationen von Erfahrungen“ thematisieren könnte. In ihrer Analyse der Aussagen von Patientinnen kommt sie zu dem Schluss, dass diese „acts of talking do not primarily aim to signify a certain content, but to organise interactions and establish social relations. Talking in this sense is not about the world but is performative in making the world.“ (Ebd.: 134) Diese Sicht auf Erzählungen von Patientinnen als immer sowohl konstruiert als auch konstruierend ist in medizinanthropologischen und medizinsoziologischen Arbeiten weitestgehend common sense. (Bury 2001; Good 1994; Mattingly und Garro 1994) Während Krankheitserzählungen mittlerweile stärker prozessual interpretiert werden, liegt den meisten Arbeiten jedoch nach wie vor eine Konzeptualisierung von Erfahrung zugrunde, die dieser eine grundlegend authentische und universelle menschliche Qualität zuschreibt. Differenziert kritisiert hat diese Konzeptualisierung von Erfahrung in der Kulturanthropologie der US-amerikanische Anthropologe Robert Desjarlais. (Desjarlais 1997) 9 Er problematisiert das oftmals implizit bleibende Konzept von Erfahrung, dem in der kulturanthropologischen Literatur das Attribut des Authentischen, Ursprünglichen zugeschrieben wird und das Erfahrung zugleich mit einer idealisierten Unmittelbarkeit des sinnlichen Erlebens und als unhinterfragbare Tatsache gleichsetzt: „In the end, however, this logic is haunted by a problematic collapse of ontology and epistemology, of being and knowing, in which the supposed realities of experience are given the status of facts by the statements of the anthropologists. The problem with taking experience as a uniquely authentic domain of life – as the first and last court of appeal – is that we risk losing the opportunity to question both the social production of that domain and the practices that define its use.“ (Ebd.: 12)
Desjarlais fordert, dass Erfahrung – ähnlich wie beispielsweise Verwandtschaftsbeziehungen – „nur“ ein spezifisches anthropologisches Untersuchungsfeld sein solle. Dabei solle man Erfahrung nicht als ein „primordial existential
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Eine ähnlich gelagerte Problematisierung von Erfahrung in der Anthropologie bietet Throop. In seinem Artikel „Articulating Experience“ greift er auf die Arbeiten von vier Autorinnen zurück, die sich mit dem Erfahrungskonzept kritisch auseinandergesetzt haben – unter anderem Desjarlais und Mattingly –, und plädiert für ein phänomenologisch basiertes Konzept von Erfahrung. (Throop 2003)
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given“ behandeln, sondern als einen „historically and culturally constituted process predicated on certain ways of being in the world“ (ebd.). Erfahrung sei, so Desjarlais weiter, das Resultat von „specific cultural articulations of selfhood (namely, a sense of self as possesing depth, interiority, unity, stability, and the capacity for transcendence) as well as certain social and technological condition that foster and legitimate that sense of the self“ (ebd.: 13), Dies schließe nicht aus, dass Betroffene durch spezifische Krankheits-Erfahrungen geprägt werden und dadurch eigene Erklärungsmuster und Handlungsstrategien entwickeln. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie Erfahrungen in konkreten Kontexten legitimiert und hervorgebracht werden, anstatt sie als universelle menschliche Daseins-Form vorauszusetzen. Insbesondere die Gleichsetzung von Erfahrung und Erkenntnis, die einen inneren Transformationsprozess und die Herstellung von Bedeutungszusammenhängen als gegeben annimmt, erscheint ihm problematisch. Desjarlais zeigt in seiner Ethnografie von Obdachlosen in Boston, wie andere Formen des In-der-Welt-Seins und entsprechende Ausdrucksformen herausgearbeitet werden können. Einen Modus beschreibt Desjarlais in seiner Arbeit mit dem Phänomen des struggling along. (Desjarlais 1997: 17) Gerade neue, unerwartete Erlebnisse, zu viel Reflexion und Veränderungen erscheinen vielen Menschen, denen Desjarlais in einem Obdachlosenheim begegnet ist, als überfordernd. Struggling along impliziert dabei einen Erfahrungsmodus, der Stasis, Wiederholung und Zeitlosigkeit bedeutet. Dieses „sich Durchhangeln“ und „eine Erfahrung machen“ schließen sich in Bezug auf das eben Geschilderte nicht aus, beides gehört zum Leben der meisten Obdachlosen. Doch beide Modi des „In-der-Welt-Seins“ ernst zu nehmen, ermöglicht die verschiedenen historischen wie kulturellen Bedingungen und ihre Herstellungsprozesse herauszuarbeiten. Eine Erfahrung zu machen ist als transformativer Modus der Reflexion, Introspektion und kontinuierlichen subjektiven Weiterentwicklung für viele Menschen (insbesondere in westlichen modernen Gesellschaften) ebenso real wie andere kulturelle Phänomene. Doch dies impliziert nicht, diese als universelle pan-humane Daseins-Form vorauszusetzen; vielmehr sollte Erfahrung als Effekt historischer wie sozialer Prozesse betrachtet werden. Gemein ist diesen verschiedenen kritischen Auseinandersetzungen mit der anthropologischen Konzeptualisierung von Erfahrung und illness narratives eine Betonung der konkreten Produktionsbedingungen bedeutsamer Erfahrung und deren Ausdrucksformen. Die Konfiguration von Krankheitserleben in eine bedeutsame Erfahrung und deren Artikulation wie auch Reflexion wird gerade nicht als quasinatürlicher Prozess verstanden, sondern als historisch wie kulturell geformter und vor allem situierter und praktischer Vorgang. Zudem heben die
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Autoren hervor, dass es vielfältige Ausdrucksformen und Erfahrungsmodi geben kann. An diesem Punkt setzt meine Arbeit an und zeigt, wie viel Arbeit sowohl von den Professionellen als auch von den Patientinnen investiert werden muss, um aus außergewöhnlichem „verrückten Erleben“ eine bedeutungsvolle Erfahrung herzustellen, die als Grundlage für die Krankheitsbewältigung dienen kann. Dabei kommen Menschen nicht „un-erfahren“ in die Klinik. Ein Mensch durchlebt Situationen, die er als außergewöhnlich wahrnimmt, sei es, dass er Stimmen hört, Ängste erleidet oder euphorische Phasen erlebt, die aus dem gewöhnlichen Strom der alltäglichen Erfahrungen herausfallen. Er definiert sie als außergewöhnliche Erfahrungen, charakterisiert sie in manchen Fällen als Symptome einer psychischen Erkrankung und begibt sich in psychiatrische Behandlung. In anderen Fällen erfolgt die Charakterisierung des Erlebten als Ausdruck einer psychischen Krise durch andere bzw. in der Klinik. In der psychiatrischen Behandlung wird schließlich gemeinsam an der Interpretation des Erlebten gearbeitet und ihm eine spezifische Bedeutung zugemessen. Wenn ich im Folgenden also von Erfahrung machen schreibe, dann geht es gerade nicht darum, die „echte, authentische“ Erfahrung der Betroffenen zu beschreiben, wie es oftmals unter dem Label eine Anthropologie der Erfahrung oder in medizinanthropologischen Arbeiten zu subjektiven Erfahrungen und Narrativen der Patienten verstanden wird. Meine Analyse des Erfahrungs-Machens zielt darauf ab, wie in der von mir untersuchten Einrichtung in der Praxis das Erleben auf spezifische Weise konfiguriert wird, d.h. in diesem lokalen Setting zum Ausdruck gebracht und mit einer spezifischen Bedeutung versehen werden kann. Die verschiedenen Produktionsbedingungen ernst zu nehmen bedeutet, den Prozess des Erfahrung-Machens gerade nicht ausschließlich als intersubjektiv zu analysieren, sondern das konkrete sozio-materielle „Erfahrungssetting“ zu analysieren. Wie ich eingangs erwähnt habe, wird im sozialpsychiatrischen Verständnis dem Austausch von Erfahrungen in der Gruppe eine zentrale Rolle zugeschrieben. Dieser Erfahrungsaustausch wird in der Mittendamm-Klinik vor allem über regelmäßige Gesprächsgruppen im Stuhlkreis ermöglicht und eingefordert. Das Sitzen im Kreis als spezifische Form kollektivierter Herstellung von Bedeutung wie auch die therapeutische Vorstellung von Ermächtigung durch die Artikulation und Reflexion in einer Gruppe verweisen wiederum auf Konzepte des aktiven, engagierten und reflektierten Patienten, wie ich sie in der kurzen Skizzierung von Erfahrungswissens im psychiatrischen Versorgungssystem beschrieben habe. Auf diese Konzepte wie auch das soziomaterielle Arrangement, in dem diese Prozesse der Formung und Überarbeitung von verrücktem Erleben auf- und ausgeführt werden, komme ich im Laufe das Kapitels immer wieder zurück. Nachdem ich anhand verschiedener Situationen, in denen im Stuhlkreis
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über das individuelle Erleben gesprochen und reflektiert wird, diesen Prozess der Formierung beschrieben habe, werde ich verschiedene Beispiele zeigen, in denen die sozialpsychiatrische Choreografie des Erfahrung-Machens an ihre Grenzen kommt und die spezifische Normativität, die mit dieser lokalen Konfiguration von Erfahrung einhergeht, deutlich wird. Zuerst aber folgen an dieser Stelle einige Ausführungen zum stationären Setting.
D AS
STATIONÄRE
„E RFAHRUNGSSETTING “
Nachdem ein Patient auf der Station zur Behandlung aufgenommen wurde, variiert die stationäre Verweildauer beträchtlich. Manche Patienten bleiben nur für eine so genannte Krisenintervention in der Klinik, das heißt, sie sind zur kurzfristigen Entlastung in einer akuten Situation in der Klinik, ohne dass eine längere stationäre Behandlung als notwendig erachtet wird. 10 Aus meiner Beobachtung gibt es einen Kern von circa sieben bis acht Patienten auf der Station, die über einen längeren Zeitraum von mehreren Monaten stationär behandelt werden11. Andere Patientinnen frequentieren die Station in einem bestimmten Zeitraum immer mal wieder für eine kürzere Behandlung; viele Patienten kommen durchschnittlich einmal im Jahr zur „Entaktualisierung“ einer erneuten Krise. Die meisten Patienten sind daher geübte, erfahrene Patienten. Sie wissen um den Stationsablauf, welche Angebote ihnen zur Verfügung stehen, sie kennen oftmals den behandelnden Arzt und vor allem das Pflegepersonal. Jeder Patient bekommt zu Beginn seiner Behandlung einen Wochenplan, auf dem die Therapien, an denen er teilnehmen soll, vermerkt wurden. Auf der Station selbst finden vormittags die Gruppenvisiten statt. Die drei Ärzte, die auf der Station arbeiten, nehmen sich jeden Morgen12 eine gute halbe Stunde für die Morgenvisite mit ihren Patientinnen Zeit. Vormittags nach der Morgenvisite sowie auch am Nachmittag finden schließlich die Therapien statt. Neben ergotherapeuti-
10 Die statistische Auswertung des Klinikums zeigt für das Jahr 2010 eine durchschnittliche Verweildauer von 16,1 Tagen. Länger als 59 Tage befinden sich 4,3% der Patienten und Patientinnen auf einer Station; kürzer als 8 Tage 24,7 %, nur einen Tag 10,8 %. 11 Zum Ende meiner Feldforschung 2012 waren von 29 Patienten und Patientinnen acht länger als drei Monate auf der Station, zwei davon länger als ein halbes Jahr. Für diese lange Aufenthaltsdauer gibt es verschiedenen Gründe; Ziel der Professionellen ist grundsätzlich, lange stationäre Behandlungen zu vermeiden. 12 Von Montag bis Freitag, am Wochenende finden keine Therapien oder Visiten statt.
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schen und musiktherapeutischen Angeboten gibt es in der Klinik stationsübergreifend verschiedene Gesprächsgruppen, die von einem Psychologen, manchmal einer Ärztin geleitet werden. In diesen Gesprächsgruppen wie auch den Morgenvisiten zeigt sich ein sehr ähnliches Bild: Eine Gruppe von circa zehn Menschen sitzt in einem Stuhlkreis und spricht abwechselnd. Über die Woche verteilt finden nach meiner Zählung insgesamt mehr als zehn verschiedene Gesprächskreise statt,13 eine für diese Klinik typische Praxisform, die auch für den Austausch der Professionellen genutzt wird. Vor allem aber ist das Sitzen und Sprechen im Stuhlkreis ein zentraler Modus der Therapie und stellt das spezifische „Erfahrungssetting“ der MittendammKlinik dar, das ich im Folgenden ausführlich analysiere. Deutlich wurde für mich diese Selbstverständlichkeit des Stuhlkreises, als ich einige Wochen in einem anderen Klinikum eine vergleichende Feldforschung unternahm. Auch dort spielt der sprachliche Austausch eine wichtige Rolle, aber das Sitzen im Kreis fand kaum statt. Typischerweise saßen sich dort in der Visite und den Therapien Professionelle auf der einen Seite und ein Patient auf der anderen Seite gegenüber. Gerade das Sitzen von Professionellen im Kreis einer Gruppe von Patienten war selten. Auch die Besprechungen der Professionellen untereinander waren oftmals Gespräche zwischen einzelnen Mitarbeiterinnen. Auf der Station in der Mittendamm-Klinik, auf der meine maßgebliche Forschung stattfand, sitzt man hingegen sozusagen ständig zusammen im Kreis. Einmal die Woche mittwochs findet ein großer Stuhlkreis statt: die Großgruppe, auch Stationsvollversammlung genannt, zu der alle Patientinnen und Mitarbeitenden eingeladen sind und in der verschiedenen Belange, die den Stationsalltag betreffen, besprochen werden. Der große Aufenthaltsraum auf der Station wird hierfür leergeräumt und ein großer Stuhlkreis aufgestellt. Für die morgendlichen Gruppenvisiten wird der Raum durch eine Trennwand in zwei Räume geteilt und mit zwei Stuhlkreisen bestückt, während in einem weiteren Aufenthaltsraum
13 Neben den erwähnten Gesprächsgruppen und Gruppentherapien gibt es die Angehörigenvisite, die Pflegeübergabe, die Morgenrunde der Ärzte, die Großgruppe, die Behandlungskonferenz, Reflecting Team/Oberarztvisite, Teambesprechung, Team-Team, Therapieplanbesprechung und die Kurvenvisite. Einige davon wie z.B. die Therapieplanbesprechung hatten fast ausschließlich organisatorischen Charakter; einige Kreise hatten explizite eigene Choreografien (wie z.B. die Behandlungskonferenz); manchmal saß man weniger im Kreis als eng gedrängt in einem kleinen Zimmer (Kurvenvisite). Gemein haben diese Sitzgruppen, dass man eine spezifische Gesprächskultur pflegt, in der jeder zu Wort kommen soll, ungeachtet seiner Rolle auf der Station.
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ebenfalls eine Stuhlgruppe aufgestellt wird. Es gibt ein eigenes Amt, das von zwei bis drei Patienten ausgeführt wird: das Stuhl-Amt. Aufgabe der entsprechenden Patienten ist es, die Stühle für die jeweiligen Kreise aufzustellen und anschließend den Aufenthaltsraum wieder mit den Tischen und Stühlen zu bestücken. Als ich mit Mitarbeiterinnen der Station über meine Forschung sprach und meinte, das zentrale Ritual, das mir als Ethnologin auffalle, sei, dass man ständig im Kreis sitze, gab es kurz irritierte Gesichter und dann großes Gelächter: Ja, das stimme, man sitze hier ständig im Kreis. Das Sitzen im Kreis ermöglicht und erfordert zugleich eine spezifische Art zu sprechen. Die Patienten müssen sich nicht nur vor den Professionellen äußern, sondern vor allem auch gegenüber den anderen im Kreis sitzenden Patienten. Es gibt keine klare, räumlich vorgegebene Hierarchie. Jeder sitzt jedem gegenüber, keiner kann sich „verstecken“, alle sind gleichermaßen aufgefordert zu sprechen und zuzuhören. Bevor ich weiter auf die beiden konkreten Stuhlkreise eingehe, um die es in diesem Abschnitt maßgeblich gehen wird – die Gruppenvisite und die Gruppentherapie –, stelle ich an dieser Stelle einige Überlegungen vor, wie die Konstitution von therapeutischen Räumen diskutiert werden kann und wie „psychiatrische Ideologie“ und „Behandlungsräumlichkeit“ sich gegenseitig formen.
V OM B ETT AUF DIE C OUCH IN DEN S TUHLKREIS : B EHANDLUNGSRÄUME IM W ANDEL Eine Reihe hierfür relevanter Arbeiten sind seit den 1990er Jahren in der Sozialgeografie unter dem Schlagwort therapeutic landscapes erschienen, in denen die enge Verknüpfung zwischen Behandlung und Ort diskutiert wird. (Gesler 1992, 2003; Laws 2009) Wie die britische Geografin Jennifer Laws kritisch feststellt, stehen im Fokus dieser Arbeiten zu „mental health geographies“ klassischerweise die architektonischen Gegebenheiten der psychiatrischen Klinik. (Curtis et al. 2007, Philo 2004) Laws selbst plädiert dafür, auch die „microspaces“ von Behandlung in den Blick zu nehmen. (Laws 2009) Einen solchen Mikro-Raum beschreibt beispielsweise die Medizinhistorikerin Monika Ankele in ihrer Arbeit zum Alltag in psychiatrischen Anstalten um 1900. (Ankele 2009) Wie sie zeigt, war in den großen Anstalten um die Jahrhundertwende das Bett zentraler Ort therapeutischer Intervention. Patientinnen wurde teilweise monatelang Bettruhe verordnet: Bettruhe zum einen, damit sich die „erregten Patientinnen“ tatsächlich „beruhigten“, aber gleichzeitig auch, um die Krankheitseinsicht zu befördern (das Bett als symbolischer Ort des Krankseins). Zum anderen
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diente das Bett als zentraler Ort therapeutischer Intervention dazu, die psychiatrische Anstalt dem Erscheinungsbild des Krankenhauses anzugleichen. (Ankele 2008, 2009) Ankele arbeitet anhand der Selbstzeugnisse von Patientinnen insbesondere deren Aneignungspraktiken des Betts als eigenen Raum heraus. Wie Krankheit zu einer bestimmten Zeit konzeptualisiert wurde (beispielsweise als körperlicher Erregungszustand), prägt und wird geprägt durch die Räumlichkeit therapeutischer Räume (die großen Schlafsäle der Anstalten um 1900). Auf ein weiteres Beispiel von „micro-spaces“ in der Behandlung psychischen Leidens verweist Laws mit Sigmund Freuds Couch: „At the origin of psychoanalysis (at least according to conventional renditions of the profession’s development), Freud developed the emblematic couch as central to therapeutic technique. [...] The couch with its multiple significations [...] both enacted and made possible the development of psychodynamic theory at large.“ (Laws 2009: 1829) Die Couch wurde gleichsam zum Sinnbild Freud’scher Psychoanalyse: „if the patient doesn’t lie on the couch, he isn’t being psychoanalysed“. (Marmor 1994: 101, zitiert nach Laws 2009) Laws selbst wiederum arbeitet zur Räumlichkeit einer alternativen Selbsthilfegruppe in Großbritannien der Gegenwart. Anhand dieser zeigt sie, wie hier gerade mit dem Vermeiden klassisch therapeutisch besetzter Räume und dem „Besetzen“ unkonventioneller Räume (im öffentlichen Park) sich alternative Räumlichkeit und alternative Hilfsangebote ko-konfigurieren. Im Gegensatz hierzu beschreibt Soendergaard, wie in einem professionellen psychiatrischen Team in Dänemark, das mit einem innovativen Behandlungskonzept arbeitet, ein spezifischer Raum für die Teambesprechungen geschaffen wird. Das Pflegen einer „offenen“ Gesprächskultur im Stuhlkreis und die bewusste Abwesenheit üblicher klinischer Hilfsmittel, wie beispielsweise Akten, Fragebögen, Diagnosehandbücher, deutet Soendergaard als „shared heterogenic purification attempt“, als kollektiv performierte Abgrenzung gegenüber konventionellen Behandlungskonzepten. (Soendergaard 2009: 170) Durch das „spatial set up“ des Stuhlkreises wird, so Soendergaard, menschliche Interaktion in der Vordergrund gestellt, der Stuhlkreis wird zu einer Art „counter-technology“ (ebd.: 169) therapeutischen Arbeitens. Mit diesem kursorisch gehaltenen Überblick über therapeutische spatialities des letzten Jahrhunderts – vom Bett im Schlafsaal über die Couch in der Analytiker-Praxis zum Stuhlkreis in einer ambulanten Versorgungseinrichtung – möchte ich das Zusammenspiel von Krankheitskonzepten, therapeutischen Akteuren und Behandlungsräumlichkeit in der Konfiguration der therapeutischen Praxis hervorheben. In diesen spezifischen soziomateriellen Arrangements wird Thera-
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pie – und damit auch das Machen einer Erfahrung – jeweils auf eine bestimmte Weise ermöglicht. Dem Fokus sozialpsychiatrischen Arbeitens auf den Patienten als soziales Wesen und als Teil einer Gruppe wird in diesem spezifischen Arrangement des Stuhlkreises auf besondere Weise Rechnung getragen. So selbstverständlich die beschriebenen Anordnungen in ihrem jeweiligen Kontext zu ihrer jeweiligen Zeit (gewesen) sein mögen, sind sie doch als Ergebnis einer bewussten Zusammenstellung zu begreifen, die mit je unterschiedlichen Subjektivierungs- und Objektivierungseffekten einhergehen. Nikolas Rose hat dies als spezifische Technologie der „psy sciences“, insbesondere der Psychologie, identifiziert: die Erfindung von (therapeutisch) managebaren Räumen. „Space, here, should not be understood as a primordial given, an a priori of thought or a straightforward matter of topography. Psychology is involved in the invention of spaces, in the opening up of certain fields for thought and action that simultaneously impart a psychological character to such spaces and enable them to be administered in the light of this character.“ (Rose 1998: 91)
Als eine „invention of spaces“ beschreibt Rose die Erfindung „der Gruppe“ (ebd.: 136f.) als neue intersubjektive Einheit, nämlich sowohl als Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen als auch therapeutischer Interventionen. Diese neuen soziomateriellen Relationen, so Rose, gilt es weiter zu untersuchen: „Of particular significance here would be the way in which collections of persons in space and time have been reconstrued as groups traversed by unconscious forces of projection and identification, allowing not only a new dimension for the explanation of collective troubles but a new range of techniques – from T-groups to group therapy – for managing them therapeutically.“ (Ebd.: 194)
Auf den Zusammenhang des therapeutischen Raumes, der durch eine Gruppe geschaffen wird, mit Techniken der (Selbst-)Aktivierung und gesellschaftspolitischen Grundannahmen, wie sie in sozialpsychiatrischen Ansätzen impliziert sind, werde ich im Verlauf des Kapitels ausführlicher zurückkommen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass ich das Sitzen einer Gruppe im Kreis als wichtigen Bestandteil einer sozialpsychiatrischen Choreografie verstehe, in der sozialpsychiatrische Krankheitskonzepte, Vorstellungen von Individualität und Intersubjektivität ebenso einfließen wie pragmatische, organisatorische Aspekte. Das Sitzen im Kreis stellt im Stationsalltag eine therapeutische Technologie dar, um den Patienten in bestimmter Weise zum Sprechen zu bringen. Wie die verschiedenen Beispiele therapeutischer Landschaften angedeutet haben, ermöglichen
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(und verhindern) diese räumlichen Arrangements therapeutischer Interaktionen spezifische Formen von Sozialität. Therapeutische Landschaften stellen damit spezifische institutionelle taskscapes dar. Wie bereits im ersten Kapitel meiner Arbeit erläutert, bringt Tim Ingold mit dem Neologismus taskscape zum Ausdruck, wie an einem Ort Aktivitäten auf eine bestimmte Art und Weise zusammenkommen und ein Aktivitäts-Muster formen. Taskscapes stehen in Verbindung mit dem Ort, an dem Menschen als „skilled agents“ (Ingold 2000: 195) ihre spezifischen Erfahrungen machen und Fähigkeiten erlernen. Das Aktivitäts-Muster, das dabei an einem Ort entsteht, werde, so Ingold, geprägt von den Tätigkeiten der Menschen und forme wiederum deren Lebensrhythmus. Ingold selbst behandelt in seinen Arbeiten meist „natürliche“ und nicht institutionalisierte oder stark regulierte Orte, wie etwa eine psychiatrische Station. Sein Konzept erweist sich dennoch als geeignet, den Stuhlkreis als ein Format therapeutischer Aktivitäten zu analysieren, das spezifische Lernprozesse ermöglicht. Ich hatte hierfür den Begriff der carescape vorgeschlagen. Meine These ist, dass in diesen verschiedenen therapeutischen carescapes jeweils unterschiedliche Formen des Erfahrung-Machens angelegt sind. Im Arrangement der jeweiligen Behandlungsräumlichkeit werden die Patienten zu therapeutischen Aktivitäten aufgefordert und dabei das Erleben auf eine bestimmte Art und Weise artikulierund bearbeitbar. Für die Patientin bedeutet dies, dass sie lernen muss, wie Erfahrung gemacht wird. Gerade durch die offensichtliche Plausibilität dieses Arrangements wird das Erfahrung-Machen in der Gruppe zum scheinbar natürlichen, kaum hinterfragbaren Vorgang. Diese Plausibilität werde ich im Laufe des Kapitels immer wieder problematisieren.
S PRECHEN ( UND Z UHÖREN )
IM
S TUHLKREIS
Mit diesen Zwischenbemerkungen über therapeutische carescapes und die damit einhergehende temporäre-räumliche Stabilisierung von Praktiken des ErfahrungMachens komme ich nun zurück in die Klinik, in der meine Forschung stattfand. In den beiden Stuhlkreisen – die Gruppenvisite und die Gruppentherapien –, die ich im Folgenden ausführlich beschreiben werde, gibt es neben den oben beschriebenen Gemeinsamkeiten durchaus auch Unterschiede: In der morgendlichen Gruppenvisite etwa, die neben dem Sprechen über die aktuelle Verfassung vor allem auch zum Besprechen organisatorischer Belange genutzt wird, übernimmt der anwesende Arzt noch eine eindeutige leitende Position: Er spricht die Patienten der Reihe nach an, stellt Fragen und beendet – teilweise gegen das Bedürfnis des Patienten – das Gespräch. Wenn ein größerer Gesprächsbedarf
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deutlich wird, bietet der Arzt einen Termin im Laufe des Tages an. Der Arzt achtet darauf, dass jeder Patient seine Zeit in der Runde bekommt; mischt sich ein anderer Patient in das Gespräch mit seinen eigenen Bedürfnissen und Fragen ein, wird er in der Regel darauf hingewiesen, dass jetzt gerade jemand anderes an der Reihe ist und er bitte warten solle. Patientinnen, die in der Runde bereits mit dem Arzt gesprochen haben und dann den Raum verlassen möchten, werden aufgefordert zu bleiben, bis alle an der Reihe waren. Auch wenn Akten im Stuhlkreis nicht präsent sind, so machen sich der Arzt und die anwesende Pflegekraft Notizen, die später in die Akten eingetragen werden, insbesondere wenn es um Terminabsprachen, Ausgangszeiten oder Veränderungen der Medikation geht. Die Morgenrunde ist vor allem für das Besprechen der aktuellen Situation da; wie war die letzte Nacht, der Besuch der Freundin gestern, wie wird die veränderte Medikamentendosis wahrgenommen, welche Pläne gibt es für den heutigen Tag. Fängt eine Patientin an, über allgemeinere Themen oder weit zurückliegende Ereignisse zu sprechen, beschränkt die Ärztin sie in der Regel. Patienten werden generell angehalten, über die aktuelle Situation, über konkrete aktuelle Veränderungen, die sich im Laufe der Behandlung ergeben haben (oder auch nicht), zu sprechen und die konkreten nächsten Schritte zu formulieren. Dies mag mit der Kürze der Zeit, die in der Gruppenvisite zur Verfügung steht, zusammenhängen (je nach Größe der Gruppe, in der Regel 8-10 Patientinnen, dauert die Sitzung zwischen einer halben bis Dreiviertelstunde), stimmt aber auch überein mit der generellen therapeutischen Logik, dass man mit den Patienten an deren aktuellen Situation arbeitet. Darauf werde ich an späterer Stelle ausführlicher eingehen. In den Gesprächsgruppen, die eine Dreiviertelstunde dauern, gibt es eine weniger rigide Struktur. Auch wenn die Patienten der Station aufgefordert werden, an den jeweiligen Gruppen teilzunehmen, haben diese im Vergleich zur Morgenrunde einen weniger verbindlichen Charakter. Die Gruppen selbst finden im selben Gebäude, jedoch auf einer anderen Etage statt, auf der auch die verschiedenen ergotherapeutischen und musiktherapeutischen Angebote stattfinden. In diesem „Mehrzweckraum“, so die offizielle Bezeichnung, gibt es zwei Bereiche. Wenn man den Raum betritt, sieht man auf der einen Seite der Türe einen großen Tisch mit Stühlen darum herum. Auf der anderen Seite steht ein Kreis aus Stühlen ohne Tisch, der für die Gesprächsgruppen genutzt wird. In der Klinik werden vier verschiedene Gesprächsgruppen für Patienten angeboten: die Angstbewältigungsgruppe, die Stabilisierungsgruppe, die Depressions-Gruppe und die Psychose-Gruppe. Die beiden ersten Gruppen finden einmal pro Woche statt; die D-Gruppe und die P-Gruppe, wie die beiden letztgenannten Gruppen im Klinikjargon abgekürzt werden, finden jeweils zweimal pro Woche nachmit-
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tags statt. In die D- und die P-Gruppe kommen zudem regelmäßig ambulante Teilnehmerinnen, die nach ihrem Klinikaufenthalt das Angebot weiter wahrnehmen. Insbesondere in der D-Gruppe gibt es einen kleinen Kreis von Menschen, die sich bereits seit Jahren kennen und sich auch außerhalb der Gruppe privat treffen. Überraschend für mich war, dass die Zuordnung zu Diagnosen – in diesem Fall Depression oder Psychose – dabei nicht unbedingt für die Teilnahme eines Patienten an der einen oder der anderen Gruppe entscheidend ist. Vielmehr geht es um die Frage, in welchem Gemütszustand sich eine Patientin befindet und welche Gruppe sie präferiert. In der wöchentlichen Therapieplanung wird dann nur vermerkt: „Frau Schmidt fühlt sich in der D-Gruppe momentan besser aufgehoben.“14 Geleitet werden die Gruppen von einem Psychologen (manchmal von einer Ärztin oder einer Psychologiepraktikantin), der die Begrüßung übernimmt und die Anwesenden nach Themen fragt, die sie „mitgebracht“ haben. Manchmal gibt er auch selbst einen Gesprächsinput, um die Diskussion in Gang zu bringen, verweist auf das Thema zurückliegender Gruppen. In erster Linie fungiert der Psychologe als Moderator der Gruppen, der darauf achtet, dass die Teilnehmenden zu Wort kommen und dass neue Teilnehmerinnen eingeführt werden. Das Gespräch konzentriert sich in der ersten Hälfte der Zeit oftmals auf einen oder ein paar wenige Patienten, die ein bestimmtes Thema besprechen wollen. Nach einiger Zeit bezieht der Psychologe auch andere Patienten, die bislang nichts gesagt haben, mit in das Gespräch ein. Die Gespräche laufen anders als in der morgendlichen Gruppenvisite auch zwischen den Patientinnen ab. Was ähnlich ist, ist der Fokus auf die aktuelle Situation. Es gibt zwar in den Gesprächsgruppen sehr viel mehr Möglichkeiten über die eigene Vergangenheit und zurückliegende Situationen zu sprechen, der Grundtenor in den Gesprächen ist jedoch der Bezug zur aktuellen Situation und die Bearbeitbarkeit der Probleme im Jetzt. Beide Stuhlkreise stellen eine Situation dar, in der Menschen in der Gruppe vor anderen sprechen, ihre Erfahrungen artikulieren und sich mit den Interpretationen, die angeboten werden, auseinandersetzen müssen. Das Zuhören nimmt in beiden Fällen eine ebenso wichtige Funktion ein wie das Sprechen selbst. In beiden Gruppen gibt es immer wieder Menschen, die nicht sprechen wollen oder können; dies wird grundsätzlich akzeptiert, ihre (schweigende) Anwesenheit wird dennoch erwartet. Als ich mit einem Arzt und einer Krankenschwester nach einer der Gruppenvisiten beim Frühstück zusammensitze, frage ich nach, warum man die Visiten
14 Diese Offenheit der Zuordnung soll keine Beliebigkeit vermitteln, sondern andeuten, dass sie nicht als grundlegendes Ausschlusskriterium verstanden werden.
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eigentlich in der Gruppe abhält. In jenem anderen Krankenhaus meiner Vergleichsforschung verlaufen die Visiten mit jedem Patienten einzeln und auch nicht jeden Tag, sondern zweimal pro Woche. Die erste Antwort der beiden lautet, dass es „organisatorisch einfacher sei, es würde ansonsten zu viel Zeit in Anspruch nehmen“; vor allem würde man die Patienten dann auch nicht „automatisch jeden Tag zu Gesicht bekommen.“ Die Krankenschwester betont, dass es den Patientinnen vor allem auch guttue, bestimmte Themen in der Gruppe zu besprechen. Der Arzt stimmt zu: „Dadurch bekommen sie auch mit, dass sie in ihrer Situation nicht allein sind und dass es andere Menschen gibt, von deren Erfahrungen sie möglicherweise etwas lernen können.“ Sie fügen hinzu, dass die Gruppenvisite allerdings auch das Format ist, das in der Befragung zur Patienten-Zufriedenheit am schlechtesten bewertet wird. Die meisten Patienten würden sich wohl doch die intimere Situation der Einzelvisite wünschen. Ich werde nun anhand verschiedener Sequenzen einige zentrale Aspekte der kollektiven Praktiken des Erfahrung-Machens im Stuhlkreis diskutieren. Zuerst werde ich anhand von Beispielen aus der Gruppenvisite und aus einer Gesprächsgruppe herausarbeiten, wie das individuelle Erleben in der Gruppe kollektiv artikuliert und reflektiert wird. Diese Artikulation ist der erste Schritt, um individuelles Erleben zu einer Erfahrung zu formen und mit Bedeutung zu versehen. Dabei wird bereits die Artikulation des Erlebens in vielen Fällen als kollektivierter Vorgang praktiziert. Der Stuhlkreis als carescape, der die Ko-Präsenz von einer Gruppe von Menschen zur selbstverständlichen Norm erhebt, formt bereits, wie Erleben artikuliert werden kann. Diesen Prozess der Konfiguration von Erfahrung werde ich zunächst anhand verschiedener Beispiele herausarbeiten. In einem zweiten Schritt stelle ich dann weitere Beispiele vor, in denen die sozialpsychiatrische Choreografie des Erfahrung-machens an ihre Grenzen stößt. Die Artikulation einer verschobenen Realität Im ersten Beispiel beschreibe ich einen Ausschnitt einer morgendlichen Gruppenvisite, in dem es um einen Patienten geht, den ich Herrn Kurukuz genannt habe. Herr Kurukuz ist seit ein paar Tagen auf der Station. An diesem Morgen sitzen insgesamt sechs Patienten und Patientinnen, der Arzt, eine Krankenschwester, ein Medizinstudent (PJler) und ich im Kreis. Der Arzt begrüßt alle, wünscht einen guten Morgen und beginnt die Runde. Als zweiter Patient ist schließlich Herr Kurukuz an der Reihe. Der Arzt nickt ihm auffordernd zu.
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Herr Kurukuz: „Ja, also ich habe viel geschlafen, also zu viel geschlafen. Ich bin schon um acht oder um neun Uhr ins Bett gegangen und hab bis heute Morgen durchgeschlafen, das war schon sehr viel.“ Die Krankenschwester fragt nach: „Und das hat Ihnen nicht gutgetan?“„Nein, nicht so“, meint Herr Kurukuz. Er blickt müde vor sich auf den Boden, reibt unaufhörlich seine Handflächen aneinander, es herrscht kurzes Schweigen. Der Arzt meint schließlich, das könne durchaus von dem Medikament kommen, das er jetzt seit ein paar Tagen einnimmt. „Okay“, Herr Kurukuz nickt. Der Arzt fügt hinzu: „Sie bekommen jetzt momentan eine Dosis von 12,5 mg und wir werden das Schritt für Schritt aufdosieren, bis wir bei der gewünschten Dosis angekommen sind. Sie können sich das momentan vielleicht nicht vorstellen, aber die Zieldosis ist 600 mg. Hier auf der Station sind Patienten, die bekommen das Medikament in der Dosis von 800 mg und kommen damit gut klar. Es ist tatsächlich so, dass der Körper, der Stoffwechsel sich daran anpasst. Die Müdigkeit wird weniger werden. Wir bleiben da im Gespräch, ja?“ Herr Kurukuz nickt kurz. „Und wenn es Ihnen zu schnell geht und es Ihnen nicht bekommt, dann pausieren wir mit der Erhöhung.“ Herr Kurukuz nickt, „okay“. Frau Siebert, die neben ihm sitzt, spricht ihn an: „Ich bekomme übrigens das gleiche Medikament und ich nehm momentan 600 mg. Und das stimmt wirklich, ich bin mittlerweile gar nicht mehr so müde.“ Die Krankenschwester ergänzt: „Sie sind mittlerweile wieder richtig aktiv geworden.“ „Ja, genau“, bestätigt Frau Siebert, „daran gewöhnt man sich wirklich. Auch wenn man am Anfang denkt, das ginge nie vorbei, die Müdigkeit.“ „Gut, danke“, meint Herr Kurukuz. Bevor ich mit dem zweiten Teil der Sequenz fortfahre, möchte ich ein paar Erläuterungen zum bisherigen Ausschnitt geben. Das Besprechen des Schlafes wie auch der Medikamente sind regelmäßige Themen in den Morgenvisiten. Schlafprobleme oder auch ausgeprägte Müdigkeit wie im Fall von Herrn Kurukuz deuten aus Sicht der Professionellen entweder auf Nebenwirkungen der Medikamente hin oder werden auch als Symptome für psychische Probleme verstanden. Dass man die Patienten jeden Tag zu Gesicht bekommt, wie der Arzt es mir gegenüber ausdrückte, ist für die Einschätzung des Behandlungsverlaufes wichtig. Die (Gruppen-)Visite ist immer auch Teil des psychiatrischen Diagnostizierens, wie ich es im zweiten Kapitel herausgearbeitet habe. Das „Im-KreisSitzen“ hat in diesem Sinne auch einen diagnostischen Charakter: Wie verhält sich der Patient in einer Gruppe, wie hält er soziale Interaktion aus, inwiefern akzeptiert er die Patientenrolle? Dabei geht es nicht allein um die Inhalte, die eine Patientin äußert, sondern auch um ihr Verhalten in der Gruppen-Situation. Dies wird zum Beispiel dann später in der Teambesprechung oder in der
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Pflegeübergabe so angesprochen: „Frau Büchner saß wieder abweisend und mit grimmiger Miene in der Visite, momentan kommt man an sie schwer ran“; „Herr Mattes saß völlig zusammengekauert da, er hielt die Runde wieder kaum durch und wollte zwischendurch schon abhauen.“ Behandlungsverläufe oder die Wirkung der Medikamente sind individuell verschieden, Wirkungen – körperliche wie psychische – müssen von den Patienten kontinuierlich artikuliert und von den Professionellen interpretiert werden. Die Erklärungen des Arztes über die Nebenwirkungen der Medikamente haben zudem psychoedukativen Charakter. Der Patient – und gleichzeitig auch alle anderen Patienten, die mit im Kreis sitzen – werden informiert und über die Wirkweisen aufgeklärt. Wie mir der Arzt nach der Gruppenvisite erklärt, fand er es sehr positiv, dass Frau Siebert sich mit „eingemischt“ hat. Gerade über diesen Austausch untereinander würden die Patienten sehr viel mehr lernen, als wenn nur er als Arzt das erzähle. Wie ich in meiner Einführung erläutert habe, wird der Patient im sozialpsychiatrischen Verständnis der Mittendamm-Klinik in Abgrenzung zu biopsychiatrischen Modellen vornehmlich als soziales Wesen verstanden, das sich über seine Beziehung zur sozialen Umwelt konstituiert. Durch das Sitzen im Kreis wird die Patientin zum Austausch in einem Kollektiv aufgefordert, indem sie sich auch immer wieder auf andere beziehen muss bzw. in Beziehung gesetzt wird. Der Verweis des Arztes darauf, dass andere Patienten mit der Dosierung des Medikamentes „gut klarkommen“, und die positive Bewertung, dass sich Frau Siebert mit ihrer Erfahrung zu Wort gemeldet hat, deutet an, dass das Artikulieren und Reflektieren des Erlebens als ein im Kollektiv eingeübter Lernprozess verstanden wird. Damit komme ich zurück zur Gruppenvisite: Nachdem der Arzt und Herr Kurukuz über seine Müdigkeit und den Zusammenhang mit der Aufdosierung der Medikamente gesprochen haben, unterhalten sie sich darüber, welche Termine heute noch für Herrn Kurukuz anstehen. Herr Kurukuz berichtet von der bevorstehenden Besichtigung seiner neuen Wohnung, da müsse er noch etwas mit der Hausverwaltung klären. Die Krankenschwester fragt nach: „Aber den Mietvertrag hatten Sie schon unterschrieben, oder?“ Ja, den hätte er unterschrieben, entgegnet Herr Kurukuz, jetzt gäbe es noch so ein paar bürokratische Dinge zu klären. Die Krankenschwester macht sich eine Notiz über den anstehenden Termin in einem kleinen Hefter. Der Arzt fragt nach: „Und wie geht es Ihnen damit, dass Sie nun den unterschriebenen Mietvertrag in der Tasche haben?“ Herr Kurukuz zögert kurz und meint dann: „Na ja, es ist eigentlich so eine Zwischenlösung für mich. Da muss ich sehen, wie das dann weiterläuft.“
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Der Arzt entgegnet: „Ich weiß, Sie sind momentan noch sehr unsicher, wie sich alles weiterentwickeln wird, und sind auch noch relativ orientierungslos.“ „Ja, orientierungslos, genau“, meint Herr Kurukuz, „und ich habe auch immer noch das Gefühl, dass ich alles falsch mache. Auch so banale Sachen. Gestern wollte ich eigentlich im Park in die eine Richtung laufen und bin dann irgendwie in die andere gelaufen und ich weiß nicht warum. Das macht doch keinen Sinn. Irgendwie läuft alles falsch und ich weiß nicht warum.“ Herr Kurukuz starrt eine Weile schweigend vor sich auf den Boden. Es ist still im Raum, nur von nebenan hört man Gemurmel von der anderen Gruppenvisite. Herr Kurukuz fährt fort: „Ich weiß gar nicht richtig wie ich es Ihnen erklären soll, aber es ist so, als wäre die Realität verschoben, sie ist da.“ Er greift mit seinen beiden Händen hinter seinen Kopf. „Egal, was ich mache, ich komm da nicht ran.“ Der Medizinstudent bringt ein: „Sie haben mir gestern aber auch erzählt, dass sie manchmal auch hier ist.“ Er zeigt mit seinen Händen schräg vor sein Gesicht, als könnte er etwas nur aus den Augenwinkeln sehen. „Ja“, meint Herr Kurukuz, „aber das ist immer nur ganz kurz, ich kann das gar nicht beeinflussen, wann es da ist.“ Er zeigt mit seinen Händen ebenfalls schräg rechts vor sich. „Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine, ich kann das nicht so gut erklären.“ Die Krankenschwester und der Arzt nicken mit dem Kopf, der Arzt meint schließlich: „Doch, Herr Kurukuz, wir verstehen, was Sie meinen, Sie beschreiben das sehr gut. Entscheidend ist, dass es manchmal schon kurz hier vorne ist. Es ist wichtig, dass Sie uns das auch erzählen, damit wir verstehen, was sich verändert! Und es wird noch ein langer Weg, aber es wird öfters hier und vielleicht dann auch bald wieder hier sein!“ Der Arzt hält sich beide Hände vor sein Gesichtsfeld. Herr Kurukuz nickt erleichtert. Ko-Artikulieren von Erleben Für die Artikulation seiner „verschobenen Realität“ ringt Herr Kurukuz nach Worten. Mit Hilfe seiner Hände schafft er schließlich auszudrücken, wie er selbst sich und seine Umwelt wahrnimmt. Das Erleben vieler Patienten mit psychischen Störungen fällt aus dem sprachlichen Repertoire, das Menschen üblicherweise nutzen, um Erfahrungen zu beschreiben. Zu erleben, wie man von seinem sozialen Umfeld nicht mehr verstanden wird, beschreiben Patienten als verstörend und besonders belastend. Die Klinik, die Station, die Gruppenvisite ist ein Raum, an dem dieses „verrückte Erleben“ thematisiert und artikuliert werden kann und soll. Indem die anwesenden Professionellen Beschreibungen anbieten („Sie sind noch relativ orientierungslos“) und die Artikulationsversuche
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aufgreifen (die Übernahme der gestischen Beschreibung durch den Medizinstudenten), signalisieren sie Herrn Kurukuz, dass es in diesem Raum in der Visite angemessen ist, auf diese Weise sein Erleben zu besprechen. Die Professionellen antworten in diesem Beispiel auch nicht in einer „klinischen“ Sprache, sondern verstärken die Artikulation des Patienten, indem sie diese im Gespräch wieder aufgreifen und zur Basis der Kommunikation machen. Um den Prozess der Rekonfiguration eines ver-rückten Erlebens zu einer Erfahrung zu ermöglichen, muss der Patient zuallererst äußern, was in ihm vorgeht. Das gemeinsame (Wieder-)Finden einer sprachlichen Form zur Artikulation eines verrückten Erlebens und das Sprechen im Kreis organisiert Diagnose und Behandlung dabei in vielfacher Hinsicht. Im Gegensatz zu Viktor Turner und anderen, die betonten, dass Erfahrung grundsätzlich zum Ausdruck dränge, wird hier deutlich, dass dieses „Ausdrücken“ keine Selbstverständlichkeit ist und das Narrativ gewissermaßen ko-produziert werden muss. Dabei ist das Beispiel der Gruppenvisite ein „gelungenes Beispiel“ der Artikulation und kollektiven Reflexion von verrücktem Erleben, in dem Sinne, als dass Herrn Kurukuz in der Lage und willens ist, sich mit seiner Wahrnehmung und seine Gefühlen auseinanderzusetzen und sie in der Gruppe und gegenüber den Professionellen zu offenbaren und zu besprechen. Herr Kurukuz ist zum zweiten Mal in Behandlung auf der Station, und auch wenn ich ihn als sehr vorsichtigen und immer auch skeptischen Menschen kennen gelernt habe, nimmt er die therapeutischen Angebote auf der Station und Formen der Interaktion mit den Professionellen grundlegend an. „Gelungen“ ist diese Beispiel insofern, als dass sich ein gemeinsamer Erfahrungsraum aufmacht: die gestische Beschreibung wird zur gemeinsamen Sprache. Damit verdeutlichen die Professionellen, dass der Versuch des Artikulierens ernst genommen und als sinnvoll erachtet wird. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil deutlich wird, dass Erfahrungen nicht etwas sind, was der Patient „hat“ und gegenüber den Professionellen ausdrückt, sondern dass in der Gruppenvisite selbst ein Raum geschaffen wird, in dem kollektiv, im Kreis, aus verrücktem Erleben Erfahrungen „gemacht werden“. Das Sprechen des Patienten über seine Wahrnehmung und das Erleben seiner Umwelt wie auch sich selbst, das Artikulieren seiner Probleme ist eine auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinende Grundlage, um überhaupt therapeutisch arbeiten zu können. Deutlich wurde die Notwendigkeit einer gemeinsamen sprachlichen Ebene, wenn sich Patientinnen aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse nur begrenzt ausdrücken konnten. Ohne Übersetzer waren dann Diagnose und Behandlung kaum möglich. Erst wenn der Patient sich artikuliert, kann der Therapeut mit ihm in einen Dialog treten. Im Stationsalltag ist diese Fähigkeit oder auch Bereitschaft der Patientinnen, mit den Professionel-
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len in Dialog zu treten, dabei keinesfalls so selbstverständlich. In vielen Fällen ist es ein längerer Prozess, bis beispielsweise eine schwer depressive Patientin darüber sprechen kann, was in ihr vorgeht. Während meiner Feldforschung auf der Station gab es täglich Situationen, in denen ich versuchte, mit Patienten ins Gespräch zu kommen, und damit gescheitert bin. Manchmal, weil sich die Menschen nicht mit mir unterhalten wollten, andere Male weil ich kein Wort davon verstand, was sie mir sagten. Mit einem Patienten, Herrn Mattes, mit dem ich während meiner Feldforschung mehr Kontakt hatte, beschloss ich einfach schweigend spazieren zu gehen. Daraus ergaben sich manchmal Gespräche, aber oftmals auch nicht. Er sei, so seine Erklärung, nicht in der Lage irgendetwas zu erzählen. In seinem Kopf wären gleichzeitig zu viele und zu wenige Gedanken. Manchmal wurden mir Revolutionsgeschichten erzählt, ein anderes Mal erklärte mir eine Frau ausführlich von den verschiedenen Menschen, die sie verfolgten, und dass sie mit David Bowie verheiratet wäre. Andere wiederum bestanden darauf, dass es ihnen gut ginge, nichts fehle und sie eigentlich nach Hause gehen könnten. Es gab Menschen, die jede Form der Kontaktaufnahme als Angriff interpretierten, die sexuell anzüglich waren oder nur im Singsang sprachen. Und einige Patienten waren durch die Psychopharmaka, die sie regelmäßig einnehmen mussten, in ihrem sprachlichen Ausdruck und in ihrer Konzentrationsfähigkeit so eingeschränkt, dass ein Gespräch kaum möglich war. Ich war immer wieder erstaunt, wie viel Sinn die Professionellen, vor allem auch die Pflegenden dennoch in kleine, kurze Interaktionen hineinlesen konnten, wie sie aus einem kurzen Gemurmel, einer Geste ablesen konnten, was eine Patientin gerade ausdrücken mochte. Aber nicht nur die Professionellen fungieren als „Übersetzer“. Wie sich im folgenden Beispiel aus der Psychose-Gruppe zeigt, ermöglicht das Sitzen im Kreis unterschiedliche Formen der Ko-Artikulationen von Erfahrung. 15 Minuten schweigende Artikulation Herr Mattes begleitet mich heute zur P-Gruppe. Eigentlich wollte er (mal wieder) nicht an der Gruppe teilnehmen. Wir hatten kurz vorher auf Vorschlag seiner Ärztin gemeinsam einen Tagesplan für ihn zusammengestellt, auf der unter anderem die P-Gruppe als Therapietermin vermerkt ist, und ich kann ihn schließlich überreden, wenigstens für eine Viertelstunde mit mir in die Gruppe zu kommen. Wir sind früh dran, als wir im Mehrzweckraum im Stuhlkreis Platz nehmen. Von Wolfgang, dem Psychologen, ist noch nichts zu sehen, dafür sitzen bereits ein paar andere Patienten im Kreis. Die meisten kenne ich von der Station. Es herrscht Schweigen. Schließlich meint Herr Mattes, er möchte gehen.
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Ich wehre ab, es hätte ja noch gar nicht angefangen. Zu Herrn Richter, der sich mit Herrn Mattes das Zimmer auf der Station teilt, sage ich, dass Herr Mattes sich nicht so sicher sei, ob ihm die Runde hier etwas bringt. Ob das bei ihm anfangs auch so gewesen wäre, dass es ihm nicht so viel gebracht hätte? Doch, meint Herr Richter, ihm hätte es eigentlich von Anfang an etwas gebracht. Den anderen zuzuhören, das hätte ihm total geholfen. Schließlich kommt Wolfgang herein, nachdem er alle begrüßt hat, blickt er eine Weile Herrn Mattes an, der panisch von mir zur Uhr zu Wolfgang zu mir zur Uhr schaut. Wolfgang fragt, warum er denn auf die Uhr schaue. Herr Mattes murmelt etwas von 15 Minuten. „Sie wollen nur 15 Minuten bleiben“, wiederholt Wolfgang mit einem verständnisvollen Nicken. Ich erkläre Wolfgang, dass ich mit Herrn Mattes vereinbart hatte, dass wir gemeinsam 15 Minuten in die Gruppe gehen. „Sie haben vereinbart, für 15 Minuten in die Gruppe zu kommen und dann gemeinsam wieder zu gehen“, wiederholt Wolfgang mit Blick auf Herrn Mattes. „Und wie fühlen Sie sich jetzt hier in der Gruppe? Wie geht es Ihnen damit, dass Sie nun hier sind?“ „Befremdlich“, antwortet Herr Mattes nach einer Weile. „Befremdlich“, wiederholt Wolfgang. Schweigen. Ob das innere Erleben befremdlich wäre oder das Erleben hier in der großen Gruppe? „Beides eigentlich“, meint Herr Mattes nach einem weiteren längeren Schweigen. Frau Szeredy meint, Herr Mattes würde sich halt momentan nicht so gut fühlen und deswegen wäre es wohl so anstrengend für ihn hier in einer Gruppe von Menschen zu sein. Ein anderer Patient meint, befremdlich wäre man nicht selbst, sondern wie man sich in der Welt fühlt. Er führt seine eigenen Erfahrungen an und gibt Herrn Mattes ein paar Ratschläge mit auf den Weg. „Aber ihm geht es einfach gerade nicht gut, da helfen ihm jetzt auch keine Ratschläge, er braucht einfach etwas mehr Zeit“, meint Frau Szeredy. Andere Patienten fügen ihre eigenen Erklärungen hinzu, es geht eine Weile hin und her, ohne dass Herr Mattes etwas sagt. Wolfgang fragt noch einmal nach: „Wie sagten Sie fühlen Sie sich?“ „Merkwürdig“, antwortet Herr Mattes. „Merkwürdig“, wiederholt Wolfgang. Ob er das noch ausführen könne? Herr Mattes antwortet nicht, die anderen Patienten fangen wiederum an, jeder zu erklären, was er aus ihrer Sicht meinen könnte. Als die 15 Minuten um sind, möchte Herr Mattes gehen – wir verlassen den Raum. Die Patienten, die an den Gesprächsgruppen teilnehmen, befinden sich in sehr unterschiedlichen Verfassungen. Manche sind erst seit ein paar Tagen auf der Station, andere kommen seit Jahren ambulant in die Gruppe. Ein Patient, der seit Jahren kommt, schweigt in der Regel die meiste Zeit, andere, die gerade neu in der Gruppe sind, nutzen die Gruppe, um ausführlich Fragen zu stellen oder von sich zu erzählen. Wie sich in diesem Beispiel mit Herrn Mattes zeigt, werden
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Erfahrungen im Kollektiv des Stuhlkreises artikuliert. Auch wenn Herr Mattes schweigt, wird hier sein Erleben des „Sich-befremdlich-Fühlens“ zum Ausdruck gebracht. Während in der Gruppenvisite und im Beispiel von Herrn Kurukuz vornehmlich die Professionellen an dieser Ko-Artikulation beteiligt waren, geht es in den Gesprächsgruppen um einen Austausch mit den anderen Patientinnen. Sie reflektieren und interpretieren die Äußerung Herrn Mattes’, fügen eigene Sichtweisen und Erfahrungen hinzu, ohne dass er sich weiter äußern muss. Hier steht nicht die Deutung des Psychologen im Vordergrund; er fungiert in dieser Situation wie in vielen anderen auch als „Verstärker“, indem er die Äußerungen der Patientinnen wiederholt. In anderen Situationen bot er durchaus selbst mögliche Interpretationen an, ohne sie als einzig gültige Antwort zu deklarieren. Im Stuhlkreis – sowohl in der Gruppenvisite, aber vor allem in den Gesprächsgruppen – bietet sich ein Raum für kollektiven Austausch und die Interpretation von individuellem Erleben. Im Austausch und im Abgleich mit dem Erleben und vor allem den Interpretationen anderer wird dem eigenen Erleben eine plausible Erklärung, eine Bedeutung gegeben. Dabei geht es nicht primär um „große“ sinnstiftende Bedeutungen, sondern um Plausibilisierungen des verrückten Erlebens, das damit einordenbar und begreifbar wird oder zumindest werden soll. Durch den Stuhlkreis wird vor allem die Eigen-Sicht des Einzelnen irritiert und ein kollektiver Modus die Welt zu erkennen ermöglicht. Nicht mehr nur das individuelle Erleben, sondern ein bedeutsames, geteiltes Erfahren der Welt. Was bedeutet es, dass sich die Realität verschoben hat oder man sich befremdlich fühlt? Diese Plausibilisierung stellt eine Art kollektiven und dabei offenen Suchvorgang dar. Wie Dewey schreibt, ist eine Erfahrung zu machen vor allem ein Lernprozess, „ein Experiment mit der Welt zum Zwecke ihrer Erkennung“ (Dewey 2010 [1916]: 187). Was Dewey als mehr oder weniger individuellen Vorgang des Erfahrung-Machens beschrieben hat (wobei für Dewey jeder Handelnde in einem Milieu verortet ist, das die Handlung und auch die Reflexion formt), zeigt sich in der Klinik vor allem als kollektiver Modus des Artikulierens und Interpretierens. Dies ist vor allem nicht primär ein innerer Transformationsprozess, sondern eine interaktive Praxis im Kreis der Gruppe. Wie Nikolas Rose betonte, „erfand“ die Psychologie die Gruppe als neue intersubjektive Einheit, womit zum einen neue Therapiekonzepte wie auch Erklärungsmodelle verbunden waren. Ziel der Behandlung in der Gruppe ist es unter anderem aus vereinzelten (schweigenden) Subjekten kommunizierende, interagierende Subjekte herzustellen. Die Patienten sollen (wieder) lernen, ihre eigene (Selbst-) Wahrnehmung mit der (Fremd-)Wahrnehmung anderer Menschen abzugleichen,
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in einen Modus des Austausches und des In-Beziehung-Tretens zu kommen und dabei von den Erfahrungen der anderen Teilnehmerinnen zu lernen.
D IE K ONFIGURATION VON E RFAHRUNG ALS T ECHNOLOGIE DES S ELBST Die Artikulation des Erlebens und die Konfiguration zu einer Erfahrung – sei es die verschobene Realität oder das Gefühl des Befremdens – bedeutet im ersten Schritt, dem Patienten eine Form der Reflexion zu ermöglichen. Indem der Patient Worte finden muss, um sich und seine Wahrnehmung zu erzählen, wird zugleich eine Form der Selbstbeobachtung und der Arbeit an sich selbst eingefordert. Foucault hatte diese Art der Arbeit bzw. Sorge um sich selbst als „Technologien des Selbst“ beschrieben, „die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“ (Foucault 1993b: 26). Hatte Foucault noch vornehmlich von der Sorge des Einzelnen um sich selbst geschrieben, so wird dieses Konzept mittlerweile zur Diskussion verschiedener therapeutischer Konzepte herangezogen. So greifen beispielsweise die beiden Medizinanthropologen Margaret Lock und Vinh-Kim Nguyen Foucaults Konzept auf und unterscheiden anhand beispielhafter Ethnografien verschiedene Varianten dieser Selbst-Technologie. (Lock und Nguyen 2010) Auf zwei hier relevante Varianten werde ich im Folgenden eingehen, um die Spezifik der Gruppensituationen und die besondere Art des Sprechens im Kreis in der Mittendamm-Klinik zu diskutieren. Mit „The Pathogenic Secret as a Technology of the Self“ (ebd.: 286) beschreiben Lock und Nguyen psychotherapeutische Ansätze, die der Tradition von Sigmund Freuds Psychoanalyse folgend Erinnerungen und vergangene Erfahrungen (wieder) hervorbringen und mit gegenwärtigen Leiden verknüpfen und bearbeiten: „The ‚talking cure‘ of psychotherapy requires a particular kind of dialogue between patient and therapist that seeks to recover painful memories and mobilize emotional and intellectual awareness.“ (Ebd.) Wie weiter oben erläutert, war dieser Dialog in der klassischen Freud’schen Psychoanalyse mit dem spezifischen soziomateriellen Arrangement von Analysand, Couch und Analyst eng verbunden. Mittlerweile haben psychoanalytische Konzepte aber auch „jenseits der Couch“ Eingang in psychotherapeutische Ansätze gefunden. In Deutschland gehört die psychotherapeutische Ausbildung – entweder in Form
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von Psychoanalyse, Tiefenanalyse oder Verhaltenstherapie – zur Ausbildung eines jeden Psychiaters. Zudem wurde psychotherapeutisches Arbeiten maßgeblich von dem (psychoanalytischen) Grundgedanken der therapeutischen Beziehung geprägt. Die Arbeit in und mit der Beziehung wird in der Therapie als zentrales Medium verstanden. (Küchenhoff und Klemperer 2009) Bezogen auf die Stuhlkreise, wie ich sie beschrieben habe, bedeutet dies, dass das Gespräch, das Sprechen an sich, dazu dient, eine therapeutische Beziehung aufzubauen. Die Art und Weise, wie Patienten und Professionelle dabei miteinander ins Gespräch kommen, ist sehr unterschiedlich. Ich war gerade in den morgendlichen Gruppenvisiten immer wieder beeindruckt, wie die Stationsärzte ihren Modus des Sprechens auf den jeweiligen Patienten abstimmten. Vom „autoritären Machtwort“, dem gemütlichen Plauderton, einem geduldigen Schweigen: die Professionellen verfügen über unterschiedliche Kommunikationstechniken, um mit dem Patienten ins Gespräch zu kommen. Anders als in der Grundidee der Psychoanalyse geht es aber in der therapeutischen Arbeit in der MittendammKlinik gerade nicht darum, über die Vergangenheit und schmerzhafte Erinnerungen zu sprechen, sondern vor allem um die Auseinandersetzung mit aktuellen Schwierigkeiten und deren Bearbeitung. Ein Eindringen in die Tiefen der Persönlichkeit und Biografie der Patientin wird in den meisten Fällen hingegen als potentiell gefährlich verstanden. 15 So erklärte etwa eine Ärztin in der Gruppenvisite einer Patientin, die anfing von ihrer schrecklichen Kindheit zu sprechen: „Das sind schreckliche Dinge, die Ihnen passiert sind, aber das ist Teil der Vergangenheit und daran können wir nichts ändern. Wir können nur etwas am Hier und Jetzt ändern.“ Mit dieser Abgrenzung zum psychoanalytischen Arbeiten an der Vergangenheit deutet sich an, was ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch differenzierter herausarbeiten werde: In den Stuhlkreisen wird eine spezifische Art und Weise, Erfahrung zu artikulieren und zu interpretieren, ermöglicht und gleichzeitig andere Formen delegitimiert. Die sozialpsychiatrische Choreografie formt und erfordert eine spezifische Art und Weise des Erfahrung-Machens. Erfahrung-Machen wird gerade nicht als vornehmlich introspektiver Vorgang verstanden, sondern als Austausch in der Gruppe. Und es ist die
15 Dieses „Schattendasein der Psychotherapie in der Psychiatrie“, wie es der Psychiater Bernd Eikelmann (1997: 118) bezeichnet, wird mitunter scharf kritisiert. Wie der Psychiater Volkmar Aderhold mokiert, werde Psychotherapie damit auf ärztliche Gespräche und eine therapeutische Haltung reduziert (Aderhold et al. 2003: 14). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Rolle und Intensität psychotherapeutischen Arbeitens in der Psychiatrie sowie die Gründe hierfür würde an dieser Stelle zu weit führen.
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Erfahrung bezogen auf das Hier und Jetzt, die im Kreis thematisiert wird und bearbeitet werden kann. In ihrem Überblick beschreiben Lock und Nguyen eine weitere SelbstTechnologie, die für das Verständnis der von mir beschriebenen Stuhlkreise hilfreich ist: „technologies of self-help“ (Lock und Nguyen 2010: 297f.). Sie verweisen damit auf die Entwicklung des Konzeptes der so genannten therapeutic community in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg durch die beiden Psychiater John Rickman und Wilfred Bion, die psychoanalytisches Arbeiten für die Arbeit mit Gruppen transformierten. Zum einen wurden damit Hierarchien zwischen den Professionellen aufgelöst und Ärzten, Psychologen sowie Krankenschwestern eine genuin therapeutische Rolle zugesprochen. Zum anderen wurde diese therapeutische Rolle explizit auch auf die Patienten und Patientinnen ausgeweitet. Ethnografische Arbeiten wie João Biehls Will to Live (Biehl 2007) oder Carole Cains Forschung zu Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker (Cain 1991) zeigen, wie dieses Konzept der therapeutischen Gemeinschaft bis heute in unterschiedlichen Kontexten zur Anwendung kommt. Diese Praktiken des Sprechens und Auseinandersetzens mit der eigenen Erfahrung in einer Gruppe als spezifische, therapeutisch konzeptualisierte Techniken produzieren dabei spezifische Effekte für die Subjektivierung der Patienten, wie Nguyen und Lock erläutern: „Practices designed to bring about empowerment and self-help use specific techniques for presenting one’s self, talking about one’s self, and examining one’s self in public. […] these are powerful technologies that produce new forms of identity, new forms of belonging, and new relations.“ (Lock und Nguyen 2010: 298) Wie ich zu Beginn des Kapitels beschrieben habe, favorisieren Akteure der Sozialpsychiatrie in Deutschland insbesondere Konzepte einer partizipativen, demokratischen Behandlungskultur, die zur Selbst-Expertisierung und damit als Grundlage für einen Gesundungsprozess eingesetzt werden. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen soll dabei zum einen ein Raum geschaffen werden, in dem über Erfahrungen des „Verrücktseins“ gesprochen werden kann; zum anderen sollen durch diesen Austausch im Kreis Strategien der Alltagsbewältigung entwickelt werden. Anders als in den von Lock und Nguyen beschriebenen „self-help groups“ sollen hier nicht vordergründig neue Formen der Zugehörigkeit und der Identität entstehen, sondern ein Prozess der SelbstExpertisierung im Sinne einer Selbst-Befähigung ermöglicht werden. Sind beispielsweise in den von Carol Cain beschriebenen AA-Gruppen standardisierte Prozeduren der Selbst-Offenbarung und Gruppenkommunikation wichtige Techniken, steht in den Stuhlkreisen der Mittendamm-Klinik gerade die Vielfalt von Erfahrungen und das Entwickeln von Strategien im Kollektiv im Vordergrund.
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Dennoch liegt hier in ähnlicher Weise wie in den Technologien der Selbst-Hilfe die Vorstellung zu Grunde, dass durch diesen Austausch die Einzelne ermächtigt wird selbst aktiv in ihrem Gesundungsprozess zu partizipieren. (vgl. auch Lock und Nguyen 2010: 295ff.) Wie ich im Abschnitt zu Behandlungsräumen bereits angemerkt habe, verweisen das Sitzen im Stuhlkreis und die therapeutische Arbeit in der Gruppe auf Konzepte in der Psychologie und der Psychiatrie (und darüber hinaus), die die therapeutische Intervention weg vom Individuum auf das intersubjektive Kollektiv der Gruppe richten. Auch Nikolas Rose, der ausführlich zur Entdeckung der Gruppe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, zählt die Konzepte der therapeutischen Gemeinschaft der britischen Psychiater Bion and Rickman, die bei Lock und Nguyen erwähnt werden, als Teil dieses neuen Phänomens der Gruppe. (Rose 1998: 140f.) Am bekanntesten sind die in den USA von dem Psychologen Carl Rogers entwickelten Encounter-Gruppen sowie die Gruppenkonzepte des Psychiaters Irvin Yalom, der in den 1970er Jahren eine Theorie zur Gruppenpsychotherapie ausgearbeitet hat. (Rogers 1984; Yalom 1995) In (West-)Deutschland hat sich mit dem Phänomen der Gruppe der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter beschäftigt. (Richter 1972) Richter, der 1962 Inhaber des bundesweit ersten Lehrstuhls für Psychotherapie und Psychosomatik geworden war, hatte in den 1960er und 1970er Jahren eine Schlüsselrolle in der Institutionalisierung der Psychotherapie im westdeutschen Gesundheitssystem inne. (Tändler 2011: 81f.) Zudem war Richter entscheidend an der Arbeitsgruppe für Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrie-Enquête beteiligt. In einem Rückblick auf „Die Gruppe im Wandel des Zeitgeistes“ betont er, mit Verweis auf die rasche internationale Ausbreitung unterschiedlicher Gruppenmodelle nicht nur im therapeutischen Bereich, den „besonderen politischen Akzent“ der Gruppe in der BRD. (Richter 1999: 176) Für ihn steht „die Gruppe“ für eine „neue Lebensform“, die sich in den 1960er und 1970er Jahren vor allem im linksalternativen Milieu etablierte (ebd.; Herv.i.O.), und für die „Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien“ – so der programmatische Untertitel seines Buches Die Gruppe, das er 1972 veröffentlichte und in dem er seine Erfahrungen als Psychoanalytiker mit verschiedenen politischen Gruppeninitiativen zusammenfasste. Die Gruppe bot sich aus seiner Sicht als ein neuer Raum für Formen der Selbst-Erfahrung im Kollektiv an, „als solidarischere Gesellschaft in Mikroformat“ (ebd.). Anders als in der klassischen Psychoanalyse, die das Individuum in den Fokus stellt, entsprächen Gruppentherapien auch den „veränderten Therapiebedürfnissen“ neuer Patiententypen. (Richter 1972: 33f.) Wenngleich Richter hier therapeutische wie politische Gruppenmodelle einseitig als Ergebnis veränderter gesellschaftlicher Verhält-
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nisse deklariert und in fast schon pathetischem Optimismus zelebriert, so ergeben sich doch für die Rolle der Gruppe im sozialpsychiatrischen Arbeiten wichtige Hinweise.16 Denn das Konzept der Gruppe(ntherapie) wurde auch hier immer als gesellschaftspolitisches Konzept verstanden: Für Solidarität und Partizipation, gegen Exklusion und Stigmatisierung wurden therapeutische Gruppen als alternatives Modell gegenüber individualistischen Gesellschaftszuständen verstanden. In einem Rück- und Überblick über verschiedene Versuche therapeutischer Gruppenarbeit in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland betont der deutsche Psychiater Alexander Veltin, dass „deren Umsetzung nicht einfach die Anwendung einer neuen Behandlungsform [...] bedeutet“, sondern mit „[...] einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Kranken und allen Mitarbeitern des Krankenhauses verbunden ist“ (Veltin 2003: 109). Therapeutische Gruppenarbeit, so Veltin, stehe für einen „Patienten und Therapeuten verbindenden sozialen Lernprozess“ und eine „mündige Kooperation“ (ebd.). Die in der Gruppenarbeit verwirklichten „demokratischen Umgangsformen“ und vor allem die „Mitsprache- und Mitwirkungsmöglichkeiten“ würden „kreative Potentiale“ freisetzen. (Ebd.: 109ff.) Für Veltin und andere seiner sozialpsychiatrisch orientierten Kollegen bedeutet die Arbeit in der Gruppe nicht weniger als das „Rückgrat der modernen Psychiatrie-Reform“ (Schindler 1992, zitiert nach Veltin 2003). Für die Sozialpsychiatrie war und ist die Gruppe zentrales Instrument therapeutischer Arbeit, da sie in ihrem Verständnis das Soziale in Mikroformat verkörpert. Die sozialpsychiatrische Choreografie des Erfahrung-Machens im Stuhlkreis ist eine Variante der von Lock und Nguyen beschriebenen SelbstTechnologien. Sie verweisen auf politische und therapeutische Kontexte, die über die lokale Praxis des Sitzens im Kreis hinausgehen; diese können als das „Hinterland“ (Law 2004: 32f.) dieser Rekonfiguration von Erfahrung verstanden werden. Im Vordergrund steht dabei allerdings gerade nicht die Re-Aktualisierung von Problemen, wie sie Lock und Nguyen mit dem „pathogenic secret“ in der Psychoanalyse beschrieben haben, sondern die Stärkung sozialer Interaktion und der Austausch über mögliche Strategien und Sichtweisen bei der Bewältigung von aktuellem Krankheitserleben. Der Austausch und die Transformation
16 Einen differenzierten Überblick der „Therapeutisierungsprozesse in Westdeutschland in den späten 1960er und 1970erJahren“ bietet Maik Tändler 2011. Zu der vergleichsweise späten universitären Institutionalisierung der Psychotherapie in Westdeutschland siehe Roelcke 2008. Zum allgemeinen Boom der Gruppenbewegung in Deutschland siehe Barbara Winkler 1978.
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von Erfahrungen im Kollektiv soll Selbst-Expertisierung und Selbst-Ermächtigung ermöglichen. Die Bandbreite von Erfahrungen Nach diesem Rückblick in gruppentherapeutische Konzepte als Selbst-Technologie komme ich nun zurück in die Klinik, genauer genommen in eine Gruppensitzung der Psychose-Gruppe. Im folgenden Beispiel, in dem wiederum Herr Kurukuz im Mittelpunkt steht, werde ich einige bereits angesprochene Aspekte des Erfahrung-Machens in der Klinik noch einmal aufgreifen und weiter differenzieren. Einige Minuten bevor die Sitzung der Psychose-Gruppe beginnt, sitzen bereits einige Menschen im Kreis, nur wenige der zwölf Stühle sind noch unbesetzt. Wolfgang, der Psychologe, meint, wir würden noch drei Minuten warten. Es herrscht Schweigen. Langes Schweigen. Ein weiterer Patient kommt hinzu, er scheint etwas irritiert angesichts der schweigenden Runde, er blickt immer wieder von einem zum anderen. Schließlich meint Wolfgang, wir würden nun beginnen. Er fragt in die Runde, ob jemand ein Thema „mitgebracht“ habe für die Gruppe. Wieder Schweigen. Nach einer Weile ergreift Herr Kurukuz das Wort, er hätte ja das letzte Mal die Aufgabe gehabt, über diese Begriffe nachzudenken: Objektivität und Urteilslosigkeit. Wolfgang nickt und sieht ihn fragend an. Ob er denn etwas zu diesen Begriffen sagen könne und wie sie in Beziehung zueinander stehen. Herr Kurukuz überlegt, er meint, das könne er jetzt nicht beantworten. Wolfgang erwidert, der Begriff der Urteilslosigkeit zum Beispiel, das würde ja bedeuten, sich eines Urteils zu enthalten, kein Urteil bilden zu wollen. Herr Kurukuz überlegt etwas und meint, ein Beispiel wäre so eine Situation in der Bäckerei, wo er öfters sei; die Menschen, die dort arbeiten und sich unterhalten, das würde auf ihn sehr deprimierend wirken. Er würde sie wahrnehmen und über sie dann urteilen, dass es wohl eher einfache Leute wären, also sie haben Migrationshintergrund, wie man so sagt, und wirken eher einfach, eher so wie Hartz-IV-Empfänger. Der Psychologe entgegnet, das wären sehr viele Urteile. Im Gespräch kommt man darauf, dass es bei den beiden Begriffen darum ginge, im sozialen Kontakt zu sein beziehungsweise sich in Bezug auf die soziale Welt wahrzunehmen. Urteilen wäre eine Art, in Kontakt mit der Umwelt zu sein. Aber jeder habe eine andere Wahrnehmung. Wolfgang greift zurück auf die Situation in der Bäckerei: Woher man denn wisse, wie die anderen sind, wie man sich darüber ein Urteil bilden könnte? Herr Hartmut, ein anderer Patient, steht plötzlich auf und meint, er ginge jetzt. Wolfgang versucht, ihn zum Bleiben zu
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bewegen, aber Herr Hartmut meint, so etwas Banales wie das Einkaufen beim Bäcker, darauf bräuchte er keine Gedanken zu verschwenden. Der Psychologe zuckt mit den Schultern. Der neue Patient meint, Objektivität wäre, wenn viele Menschen das Gleiche wahrnehmen oder sich zumindest auf eine Sicht einigen würden. Herr Kurukuz meint, ja natürlich, in der Bäckerei, das wäre seine Interpretation, das wäre nicht objektiv. Er würde mit den Menschen dort auch keinen Kontakt haben wollen, um es jetzt mal so zu formulieren, aus einer gebildeten Sicht wäre es eher deprimierend. Der Mann rechts von mir mischt sich ein. Er fände das totalen Quatsch, dass man sich immer so zurückzieht. Es würde doch nur darum gehen, auch mal zu grüßen, Kontakt zu suchen. Dieser Rückzug, das verstehe er nicht. Das wäre völlig falsch. Er hätte mal für die Zuverdienstwerkstatt, in der er arbeitet, bei einer Tageszeitung angerufen und die wären dann gekommen und hätten Fotos von allen gemacht und einen Bericht geschrieben. Das wäre seine Art, mit Menschen in Kontakt zu treten, immer dieses soziale Isolieren, das fände er falsch. Wolfgang greift dies auf und meint, das wäre seine Art sich mit der Öffentlichkeit, mit der Gesellschaft in Kontakt zu bringen. Er fragt, wie Herr Kurukuz denn mit Menschen in sozialen Kontakt trete. Wann er mit Menschen zu tun habe? Er würde viel Zeit in Cafés verbringen, antwortet Herr Kurukuz. Dann sitze er zwar alleine an einem Tisch, aber um ihn herum wären viele andere Menschen. Der Mann neben mir meint, dass er Herrn Kurukuz das nicht abnehme, da im Café zu sitzen, das wäre doch kein sozialer Kontakt, da wäre er ja doch alleine am Tisch. Er solle einfach auf die Leute zugehen und sagen: „Hallo, ich würde Sie gerne kennen lernen, wie ist Ihr Name bitte?“ Und wenn man bitte sage, dann würden die Menschen auch antworten. Das wäre gar nicht so schwer. Der Mann, der links neben mir sitzt, meint, ich solle doch mal sagen. wie ich das sehe, wie ich soziale Kontakte pflege. Ich antworte, dass für mich allein sein und einsam sein nicht unbedingt das Gleiche sei. Ich bin auch gerne mal alleine und mir geht es gut damit. Der Mann rechts neben mir meint, das glaube er mir nicht, ich brauche ihm nicht zu erzählen, dass ich gerne alleine wäre. Frau Büchner, die mir gegenübersitzt, mischt sich nun auch ein, doch, sie kenne das auch, dass man mal gerne alleine sein möchte und sich damit wohl fühlt. Schließlich fasst Wolfgang zusammen, dass es eben eine Bandbreite gibt und nicht jeder auf die gleiche Art und Weise im sozialen Kontakt sein kann und möchte. Es wäre eine Art, es wie Sie (der Herr rechts von mir) zu machen und sehr offen auf Menschen zuzugehen und viel Kontakt zu pflegen. Aber jeder habe da ein anderes Bedürfnis.
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Die kollektive Arbeit an der Erfahrung Stellen für die meisten Menschen soziale Begegnungen in der Regel ein selbstverständliches, alltägliches Erleben dar, können sie – wie in dieser Gesprächssequenz deutlich wurde – für psychisch Kranke zur Herausforderung werden. Scheinbar banale Situationen wie der Einkauf beim Bäcker oder der Besuch eines Cafés können für den Betroffenen durchaus eine außergewöhnliche Situation darstellen. Sehr oft wurde in den Gesprächsgruppen von sehr konkreten Alltagssituationen ausgehend eine abstraktere Diskussion eingeleitet. Es kann um Erlebnisse der letzten Tage gehen, wie um den Besuch in einer Bäckerei oder einem Café, oder wie es war, mal wieder in ein großes Kaufhaus zu gehen oder den Bus zu nehmen. Oftmals wurden auch Konflikte auf der Station diskutiert oder Pläne, die jemand für die nächsten Tage gefasst hatte. Meist drehten sich die Diskussionen zu Beginn der Runde um einen Teilnehmer, der ein Thema aufbrachte, wozu andere Gruppenteilnehmerinnen Stellung nahmen und eigene Erzählungen einbrachten.17 Wie in den verschiedenen Beispielen deutlich wurde, folgt dieser Prozess der Formierung von Erfahrung keinem vorgegebenen Skript. Vielmehr werden die Teilnehmenden in der Gruppe aufgefordert, ihre Erfahrungen sozialer Kontakte zu artikulieren und im Austausch mit den anderen Teilnehmenden zu reflektieren. Wie der Psychologe betont, gibt es nicht den einen Modus soziale Kontakte zu gestalten, vielmehr sind die Bedürfnisse der Menschen unterschiedlich und auch die Wege vielfältig. Ziel ist es nicht eine bestimmte Erfahrung, einen Modus des In-Kontakt-Seins, hervorzubringen, sondern für die einzelnen Gruppenteilnehmerinnen den Prozess zu ermöglichen, andere Sichtweisen kennen zu lernen und daraus eine für sie bedeutsame Erfahrung zu machen. Das Erfahrungssetting der im Stuhlkreis sitzenden Gruppe fordert dazu auf, aus dem Strom alltäglichen Erlebens Situationen herauszugreifen, die für den Einzelnen schwierig oder zumindest außergewöhnlich waren, und diese in der Gruppe zur Diskussion zu stellen. Anders als bei Dewey und Turner, in deren Konzeptualisierungen von Erfahrungen letztendlich das Erlebnis sich zur Erfahrung aufdrängt, wird im Falle der Gesprächsgruppen wie auch der Gruppenvisite aktiv an dieser Auswahl „gearbeitet“ – sei es durch den Psychologen, der Themen und damit potentiell „Außergewöhnliches“ vorschlägt, oder indem ein Patient sein Erlebnis problematisiert. Dabei formt dieser Prozess der Auswahl und
17 Siehe hierzu auf die unveröffentlichte Masterarbeit von Simran Sodhi, die in derselben Einrichtung die Gruppentherapien ausführlich beforscht und in ihrer Masterarbeit diskutiert hat. (Sodhi 2012)
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Artikulation bereits den Prozess der Konfiguration einer Erfahrung: Eine Situation bedarf der Reflexion. In den Gesprächsgruppen werden dabei vor allem die Anerkennung der Vielzahl und die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten von Erfahrungen in den Vordergrund gestellt. Hierzu bietet der Stuhlkreis die Vergleichsmöglichkeit. Anders als im Einzelgespräch soll in den Gruppen durch den Vergleich mit anderen, durch den kollektiven Versuch „die Welt zu erkennen“ (Dewey), ein Lernprozess angestoßen werden. Dem kranken Menschen soll nicht sein verrücktes Erleben als irrational aberkannt und ausgeredet werden, sondern durch das Angebot alternativer Sichtweisen ein Revisions-Prozess angestoßen werden. Die Gruppe wird hier als Korrektiv verrückten Erlebens verstanden, das eine einseitige autoritäre Beziehung von Arzt zu Patient relativieren soll. Projektionsfläche ist aber gerade nicht „das innere Selbst“, sondern „das Selbst in Beziehung zu Anderen“. Auch wenn damit Vorstellungen von einem „inneren Selbst“, das von Erfahrungen geprägt ist, nicht ausgeschlossen sind, wird Erfahrung-Machen vor allem als Fähigkeit der Artikulation und Interpretation in einem sozialen Kollektiv konzipiert. Die Gruppe stellt damit sowohl einen Versuchsraum sozialer Interaktion und Reflexion dar − wie trete ich in der Gruppe mit anderen in Kontakt, wie gehe ich mit anderen Sichtweisen um? − als auch eine Arbeitsgruppe, in der verschiedene Strategien der Alltagsbewältigung ausgetauscht und erarbeitet werden. Einerseits ermöglicht und erfordert die Gruppe also das Artikulieren von eigenen Erfahrungen, andererseits das Rezipieren von Erfahrungen anderer, wobei im therapeutischen Prozess Sprechen und Zu-Hören nicht in dieser Weise getrennt voneinander praktiziert werden. Die Betroffenen sollen in dieser spezifischen Choreografie in erster Linie aktiviert werden, durch eigene wie auch durch Erfahrungen anderer einen eigenen Weg zu finden, mit ihren Erkrankungen umzugehen. Diese Perspektive weist einige Ähnlichkeiten mit dem Konzept des enskilment (Ingold) auf, wie ich es im ersten Kapitel meiner Arbeit erläutert habe. Nicht durch die Weitergabe von therapeutischem Wissen – wie beispielsweise im Modell der Psychoedukation – von den Professionellen an die Patientinnen sollen Formen der Krankheitsbewältigung und der Salutogenese angeschoben werden, sondern durch einen Lernprozess im Kollektiv der Gruppe. Der Patient wird durch die Artikulation seiner Erfahrung im Kreis dazu aufgefordert, seine Erfahrung anderen zu übersetzen, zur Interpretation zu stellen und zugleich die Erfahrungen der anderen als alternative Referenzpunkte wahrzunehmen. Die Betonung des Psychologen am Ende der Sitzung, jeder hätte andere Bedürfnisse, macht noch einmal deutlich, dass die grundsätzliche Unterschiedlichkeit von Erfahrungen respektiert werden soll. Mit Ingold könnte man diesen Austausch als Formung einer spezifischen Aufmerksamkeit gegenüber der Welt beschrei-
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ben. (Ingold 2000) Von anderen Betroffenen lernt der Patient in der Gruppe alternative Formen des Welt-Erkennens. Diese Art des Erkennens basiert dabei immer auf gemachten Erlebnissen, die meist mit sehr konkreten Alltagssituationen zusammenhängen. Dieses Verständnis des Stuhlkreises und der spezifischen therapeutischen Programmatik haben Simran Sodhi, die für ihre Masterarbeit in diesen Gesprächsgruppen geforscht hat, und ich in einem Gruppengespräch mit verschiedenen Teilnehmerinnen der Gesprächsgruppen und Patienten der Station 29 thematisiert.18 Viele der Teilnehmerinnen der Gesprächsrunde – einige davon nehmen bereits seit Jahren ambulant an den Gruppen in der Klinik teil – betonten, dass sie diese Art der Begleitung in den Gesprächsgruppen sehr hilfreich fänden. Frau Schneider beispielsweise, die regelmäßig in der Klinik als Patientin stationär behandelt wird, aber auch als ambulante Teilnehmerin zu den Gruppen kommt, erklärt, dass sie die Herangehensweise in der Klinik als für sich persönlich sehr hilfreich empfindet, weil „einem vorgegeben wird, [dass man den Weg] selber finden muss in erster Linie und nicht von den Therapeuten [...] gesagt bekommt, was man zu tun hätte. Dass man selber für sich herausfinden muss, was für einen am besten ist, [...] auf welche Schiene man will.“ Andere Teilnehmerinnen betonten, die kontinuierliche Aufforderung, das ständige Angebot, der entscheidende „Schubs“ an den Gesprächsgruppen überhaupt teilzunehmen wäre in akuten Phasen einer Erkrankung sehr wichtig. Aber auch die Erwartung von Seiten der Professionellen, dass die Patientinnen nach dem „ersten Schubs“ selbst den Weg finden sollten, nahmen die meisten ebenfalls als grundlegend positiv wahr. Man müsse überhaupt erst wieder in die Verfassung kommen, sich zu artikulieren, das wäre der erste Schritt, so lautete die Erklärung eines Teilnehmers. Für viele der Teilnehmer der Gesprächsgruppe ist gerade die Vorstellung von Krankheit als prozesshaft, wie sie in den Gesprächsgruppen immer wieder betont wurde, besonders hilfreich. Kein linearer Heilungsprozess, kein simples Fortschrittsdenken wurde hier thematisiert, sondern eine kontinuierliche Veränderung und die Notwendigkeit entsprechender Anpassungen an einen Krankheitsverlauf, der Rückschläge ebenso beinhalten kann wie plötzliche positive Entwicklungen.
18 Die Gesprächsrunde fand im Februar 2012 im Mehrzweckraum der MittendammKlinik statt, in dem auch die Gesprächsgruppen ablaufen. Allerdings hatten wir uns dazu entschieden, den anderen Teil des Raumes zu nutzen, in dem ein großer Seminartisch mit Stühlen steht. Das Gespräch wurde mit dem Einverständnis der Gesprächsteilnehmer aufgenommen und von Simran Sodhi transkribiert.
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Für Angelika Siebert, eine Patientin die zum ersten Mal in der MittendammKlinik war, machte diese Herangehensweise den großen Unterschied zu ihren vorherigen psychiatrischen Behandlungen in anderen Einrichtungen aus. Wie sie in der Gesprächsgruppe betont, wäre es für sie wichtig, dass „wir nicht so viel Druck gemacht kriegen. [...] Also, hier, dass man an der langen Leine geht, ein bisschen. Das finde ich sehr wichtig im Umgang mit psychisch Kranken, weil die Gesellschaft selbst übt ja einen sehr starken Druck aus, weil da eben das gesunde Leben stattfindet. Und wenn man da mal ausschert und nicht mehr in die Gleise kommt, dass man da nicht noch mehr Druck bekommt.“ Sie sieht die spezifische Mischung aus Gefordert-Werden und selbst das Tempo bestimmen zu können bei sich „als erfolgreiche Behandlungsmethode“. Anders als in anderen Kliniken, „wo der Umgang mit den Patienten sehr, sehr distanziert sei: Sie machen das, und Sie machen das. Und Sie nehmen jetzt Ihre Medikamente.‘“ Für Angelika Siebert, mit der ich nicht nur während ihrer stationären Behandlung, sondern auch nach ihrer Entlassung sehr viel Kontakt hatte, hatte diese Art der „gesteuerten Selbst-Erfahrung“ in der Zeit nach der Entlassung eine „nachhaltige“ Wirkung. Durch die Therapie in der Klinik, erzählt sie mir in einem unserer Gespräche, hätte sie wieder das Vertrauen gefunden, weiter an sich selbst zu arbeiten. In dem Gruppengespräch wie auch in den verschiedenen Gruppensitzungen war auffallend, dass die Patientinnen einerseits Vorgaben von Seiten der Professionellen erwarteten und andererseits die Möglichkeit, für sich selbst einen eigenen Weg finden zu können, als besonders positiv hervorhoben. Wolfgang, der Psychologe, hatte dies in der Nachbesprechung einer Depressionsgruppe einmal als die zentrale Ambivalenz in den therapeutischen Gruppen beschrieben: die Forderung nach Selbstbestimmung in der Behandlung und gleichzeitig immer auch der Wunsch nach der „richtigen“ Hilfe durch die Experten. Diese Reflexion der Teilnehmerinnen über die Behandlungsansätze in der Klinik war auch in den Gesprächsgruppen immer wieder Thema, wenn beispielsweise über die Form der Gruppenleitung diskutiert wurde oder Patienten Erfahrungen mit anderen Formen der Therapie oder Selbsthilfe einbrachten. Dies zeigt, dass der reflektierte Umgang mit dem Versorgungssystem und den Therapieangeboten als ein wichtiger Bestandteil der Krankheitsbewältigung verstanden wird. Selbst-Expertisierung heißt aus Sicht der Patientinnen wie auch der Professionellen auch, Versorgungs- und Therapieangebote aktiv zu nutzen. Hatte ich bislang verschiedene Beispiele in den Vordergrund gestellt, in denen diese kollektive Rekonfiguration verrückten Erlebens zu bedeutsamen und ermächtigenden Erfahrungen als erfolgreich angesehen wurde (von den Patienten wie auch den Therapeutinnen), werde ich in den nächsten Abschnitten auf
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potentielle Reibungspunkte in diesem Prozess der Rekonfiguration eingehen. Dazu werde ich verstärkt auch Beschreibungen, die sich aus den poststationären Kontakten ergeben haben, einfließen lassen. Dabei geht es mir nicht darum, diese den Perspektiven der Professionellen oder der Institution entgegenzustellen, sondern durch die Beschreibung sehr unterschiedlicher Alltagskontexte die Spezifik und die Grenzen sozialpsychiatrischer Choreografien des ErfahrungMachens aufzuzeigen.
A BWEICHENDE E RFAHRUNGEN Als Simran Sodhi und ich in der Gesprächsrunde unsere Analyse vorgestellt hatten, meldete sich ein junger Mann zu Wort, der weder Simran noch mir bislang aus einer der Gruppen bekannt war und erst seit ein paar Tagen auf der Station in Behandlung war. Ihn amüsiere es ein bisschen, erklärte er uns, dass das, was er subjektiv wahrnehme, jetzt auch objektiv von uns so dargestellt werde. Er hätte schon verschiedene Aufenthalte, auch in anderen Kliniken, hinter sich und für ihn stelle sich alles als riesiges Chaos dar, es gäbe kein System, keine „quantifizierbaren Benchmarks“, wie er es bezeichnete. Er hätte deswegen auch an der Kompetenz der Behandler gezweifelt. Man bekäme von den Ärzten keine klaren Aussagen, für ihn wäre „diese fehlende Systematik sehr schwierig“. An dieser Stelle wurde er von den anderen Teilnehmern unterbrochen und ihm energisch widersprochen. Erst gegen Ende der Runde, als wir zum Abschluss fragten, was eigentlich aus Sicht der Teilnehmer ihre „Wunschtherapie“ sei, was ihnen möglicherweise bereits geholfen hat oder wie sie sich die perfekte Therapie vorstellten, meldete sich der junge Mann wieder zu Wort: „Eine Pille“, lautete seine eindeutige Antwort. Wenn er sich das „Kuddelmuddel der Therapieform“ hier ansehe, möchte er einfach die perfekte Pille. Für ihn läge seine Erkrankung „irgendwo im biochemischen Bereich“. Hier in der Klinik, fügt er hinzu, „was sie hier tun – wir werden umsorgt, aber nicht geheilt.“ Seine Sichtweise ist exemplarisch für die vieler anderer Patienten, die eine psychische Erkrankung weniger als Ergebnis psychosozialer Dynamiken wahrnehmen und als entsprechende Erfahrung interpretieren, sondern erwarten, dass es klare und eindeutige somatische Erklärungen und damit auch Behandlungswege geben müsse. Diese andere Deutung des „verrückten Erlebens“ deutet an, dass die Choreografie des Erfahrung-Machens, wie ich sie bisher als relativ reibungslos vorgestellt habe, im Klinikalltag in unterschiedlicher Weise zu Konflikten führt. Auch wenn der Fokus der Gruppen auf der Vielfalt und der Akzeptanz unterschiedlicher Interpretationen von Erfahrungen liegt,
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wurde immer wieder deutlich, dass diese grundsätzliche Programmatik der Offenheit und Diversität innerhalb eines bestimmten Rahmens liegt. Wie eine spezifische ideologische Rahmung die alltäglichen therapeutischen Praktiken formt, beschreibt auch der Medizinanthropologe Allan Young in seiner Arbeit über posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die entsprechenden psychiatrischen Behandlungsmethoden in einem Rehabilitationszentrum für Vietnam-Kriegsveteranen. (Young 1995) In der Ideologie dieser psychiatrischen Einrichtung gilt als Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie, dass die Männer in den verschiedenen Gruppen- wie auch Einzeltherapien ihre traumatischen Erinnerungen offenbaren und „durcharbeiten“. Young beschreibt, wie hier auf unterschiedliche Weise Widerstand geleistet wird (sowohl auf Seiten der Patienten wie auch auf Seiten der Professionellen) und dabei diese Widerständigkeit wiederum als Symptom der Belastungsstörung interpretiert wird. Sich zurückzuziehen und traumatische Erfahrungen zurückzuhalten wird in diesem Fall von den Therapeuten als therapeutisch zu bearbeitendes Problem definiert. In ähnlicher Weise zeigt sich in der Mittendamm-Klinik, dass eine Verweigerung, sich der spezifischen Choreografie des Erfahrung-Machens anzupassen, als potentiell pathologisch gedeutet wird. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels wird es um verschiedene „Abweichungen“ von der sozialpsychiatrischen Choreografie gehen. Es geht mir dabei um Fragen wie: Welche Form der Sozialität wird als Norm gesetzt, wie wird auf eine Verweigerung oder auch auf das Unvermögen hinsichtlich der Konfiguration eines ver-rückten Erlebens in eine bedeutsame Erfahrung reagiert und wie wird mit widerständigen oder zumindest anderen Deutungen umgegangen? Gruppen-Soziabilität als Norm Liselotte Fischer, eine weitere Patientin, die ich nach ihrem Aufenthalt in der Klinik weiterhin getroffen habe, fühlte sich während ihres gesamten stationären Aufenthalts missverstanden, schlecht behandelt, nicht ernst genommen. Die ältere Frau ist überzeugt, sie wäre todkrank, hätte Krebs, der sie zerfrisst, erlitte einen Schlaganfall nach dem andern, und trotzdem würde man sie in diesen menschenunwürdigen Zuständen auf einer psychiatrischen Station behalten, sich nicht ausreichend um sie kümmern, sie nicht ernst nehmen. Als es schließlich auf die Entlassung zugeht, soll sie sich wie üblich mittwochs in der Stationsversammlung im „großen Stuhlkreis“ verabschieden. Pfleger Thomas sucht Frau Fischer auf der Station, um sie in den großen Stuhlkreis zu begleiten. Liselotte Fischer, die wegen ihrer Entlassung aus der Klinik – obwohl sie sterbenskrank sei – sehr verärgert ist, weigert sich. Thomas versucht sie zu motivieren: „Aber
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die anderen Patienten freuen sich, wenn sie sich von Ihnen verabschieden können, das gehört doch dazu, nach dieser langen Zeit.“ Aber Liselotte Fischer faucht ihn nur an: „So viel Würde habe ich noch, dass ich da nicht hingehe. Wenn ich mich verabschieden will, dann bei denen, die gut zu mir waren.“ Liselotte Fischer hatte nicht nur bezüglich ihrer Verabschiedung sehr eigene Vorstellungen davon, was ihr guttut. Medikamente wollte sie keine nehmen, die Behandlung auf der Station befand sie als nicht angemessen. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung der Behandlung von ein paar Tagen, in denen sie aufgrund eines Schlaganfalles auf einer neurologischen Station behandelt wurde, war Liselotte fast neun Monate auf der Station. In den Pflegeberichten des Zeitraums meiner Feldforschung wurden vor allem zwei Begriffe in fast jedem Eintrag in Liselottes Akte verwendet: „Pat. lehnt xxx ab“ (Körperpflege, Medikation, Essen etc.) und „Pat. ist klagsam“. Beides sind wiederum Begriffe der Psychopathologie. „Klagsam/jammrig“ wird im Handbuch zur Erstellung eines Befunds folgendermaßen definiert: „Schmerz, Kummer, Ängstlichkeit werden ausdrucksstark in Worten, Mimik und Gestik vorgetragen“ (AMDP 2007: 97). Unter dem Schlagwort „Ablehnung der Behandlung“ wird ein breites Verhaltensspektrum gefasst: „Die Ablehnung der Behandlung kann von unzureichender Mitarbeit bis zur vollständigen Verweigerung der Behandlung reichen. Beispiele hierfür können Unpünktlichkeit, fehlende Gesprächsbereitschaft, unzuverlässige Medikamenteneinnahme oder Ablehnung der Diagnostik sein“ (ebd.: 122). Ich hatte mehrmals die Aufgabe übernommen, Liselotte Fischer zu einem Untersuchungstermin in einem anderen Fachgebiet der Klinik zu begleiten. Sie war so misstrauisch gegenüber bestimmten Untersuchungen (insbesondere Röntgenstrahlen), dass es keinen Weg gab, sie zur Untersuchung zu motivieren. Man kann Liselotte Fischers Ablehnung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden – wie es die Professionellen taten – als Ausdruck und als Symptom einer krankhaften und unbegründeten Angst interpretieren, an den verschiedensten somatischen Krankheiten zu leiden. Ihre Überzeugung, an Krebs oder anderen somatischen Leiden erkrankt zu sein, wurde in der Klinik diagnostisch ausgeschlossen. Aus Sicht der Mediziner waren diese Befürchtungen unbegründet und irrational. Für Liselotte war die Ablehnung und Kritik der stationären Behandlungsmethoden jedoch auch ein Weg, ihre Selbständigkeit und, wie sie immer wieder betonte, ihre Würde zu bewahren. Wie sie mir in den vielen Gesprächen, die wir nach ihrer Entlassung führten, nach und nach erzählte, war sie sehr früh als junges Mädchen alleine verantwortlich für ihre alkoholkranke Mutter. Als sie die Mutter schließlich in ein Krankenhaus geben musste, starb sie dort einige Zeit später. Liselotte heiratete jung, zog mit ihrem Mann zwei
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Töchter groß. Wenn sie von ihrem Leben erzählt, scheint es wie ein „großes Abenteuer“ gewesen zu sein. Sie hatte Kontakt zur Westberliner Künstlerszene, erzählt von Affären mit jüngeren Männern, von Reisen nach Paris. Mit ihrem Mann lebte sie zusammen bis zu seinem Tod. Als er nach kurzer Krankheit in einem Berliner Krankenhaus starb, gab sich Liselotte die Schuld: Sie hätte auf eine bessere ärztliche Behandlung in einem anderen Krankenhaus drängen müssen, hätte ihn nicht den Ärzten überlassen sollen. Sie war überzeugt, sich damals nicht durchgesetzt zu haben. Nach seinem Tod lebte sie alleine, fing an, alle möglichen Dinge zu sammeln, und füllte so nach und nach ihre Dreizimmerwohnung bis zur Decke mit Fundstücken, Kleidung und allerlei Sperrmüll. Seit ihrer Entlassung aus der Klinik lebt Liselotte in einem betreuten Pflegewohnheim für ältere Menschen; ihre Wohnung wurde von ihrer rechtlichen Betreuerin aufgelöst und bis auf ein paar wenige Gegenstände alles entsorgt. Wann sie das erste Mal Kontakt zur Psychiatrie hatte, ist mir nicht bekannt. Sie selbst meint, sie wäre noch nie vorher psychiatrisch behandelt worden; in ihrer Akte steht: „Bekannte paranoide Schizophrenie“. Ihre Erzählungen über ihren Kontakt mit ihren erwachsenen Töchtern, den diese mittlerweile abgebrochen haben, und die wenigen Briefe und Postkarten, die sie von ihren Töchtern noch hat und die sie mir gezeigt hat, deuten zumindest an, dass aus Sicht der Töchter Liselotte ihr Leben lang psychische Probleme hatte, unter denen sie zu leiden hatten. In den letzten Jahren, die Liselotte alleine lebte, war sie in der Berliner Musik- und Clubszene eine bekannte Figur. Extravagant gekleidet, mit einem außerordentlichen Hang zur Selbstdarstellung, war sie, wie sie mir immer wieder gerne erzählte, ein beliebtes Fotomotiv. Sie hatte freien Eintritt in vielen Clubs, bekam Getränke spendiert und hatte durchaus lokalen „Kultstatus“. Wenn sie im Berliner Nachtleben unterwegs war, war sie schnell umringt von „Verehrern“, wie sie es nannte. Ihre Weigerung, sich auf der Station als Teil einer Gruppe zu verstehen, könnte man vor dem beschriebenen biografischen Hintergrund anders deuten. Ihre Abwehr gegenüber der Autorität der Ärzte, ihr Anspruch darauf im Mittelpunkt zu stehen und sich nicht als ein Bestandteil der Patientengruppe zu sehen, wie auch ihr Wunsch nach besonderer Aufmerksamkeit und Ablehnung jeglicher Bevormundung entsprechen ihrer früheren Lebenswelt und ihrer Art zu leben. Mir geht es nicht darum, Liselottes Widerständigkeit negativ oder positiv zu bewerten. Allerdings zeigt sich in ihrem wie auch in anderen Fällen die Tendenz, Patienten, die sich der Behandlung – sei es dem „Im-Kreis-Sitzen“ oder auch anderen therapeutischen Praktiken – entziehen, als „schwierig“ zu klassifizieren und deren Rückzug, Verweigerung oder Widerständigkeit zu pathologisieren. Sich nicht auf die therapeutischen Prozesse einzulassen bedeutet
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sich der Einsicht in die eigene (Krankheits-)Situation zu verweigern, womit aus Sicht der Professionellen jeglicher therapeutische Prozess unmöglich wird. Dabei ist die therapeutische Erwartung, sich aktiv in der Gruppe mit der eigenen Erkrankung auseinanderzusetzen und Strategien zu erarbeiten, um den Alltag eigenständig bewältigen zu können, äußerst voraussetzungsvoll. Wie ich herausgearbeitet habe, geht es vordergründig nicht darum, dass standardisierte Therapieziele oder eine bestimmte Erfahrung erarbeitet werden, sondern zuallererst darum, sich auf einen Prozess einzulassen. Sozialpsychiatrische Choreografien des Erfahrung-Machens können damit als Technologien des Selbst interpretiert werden, in denen der Einzelne durch die Teilhabe an einer Gruppe aktiv an seinem Behandlungsfortschritt mitarbeitet. Das Soziale als intersubjektive Einheit ist hierbei zugleich Behandlungsobjekt wie auch Behandlungsmittel. Kommt es zu einer Verweigerung dieser spezifischen Sozialität, wird dies für die Sozialpsychiatrie zum grundlegenden Problem und verweist auf die unproblematisierte Normativität der Gruppe als sozialpsychiatrischer gold standard. Frau Büchner, eine Patientin, die in der Gesprächsgruppe mit Herrn Kurukuz kurz zu Wort kam, hatte dies am Ende jener Gesprächsgruppe offen thematisiert. Der Psychologe hatte sie gefragt, wie sie die Gruppe insgesamt wahrgenommen habe. „Wie ging es Ihnen mit der Runde, sind Sie bei uns?“ Ja, sie wäre schon anwesend, meint Frau Büchner, sie sei nur etwas müde heute, aber sie habe zugehört. Wolfgang: „Können Sie uns sagen, was Ihnen durch den Kopf geht?“ Frau Büchner: „Nicht so richtig. Also, bei mir ist es so, ich brauche auch meine Rückzugsmöglichkeiten. Ich suche mir dann einen Rückzugsort. Und daraus kann ich auch Kraft schöpfen.“ Wolfgang fasst zusammen: „Sie möchten auch in Ruhe gelassen werden.“ Frau Büchner: „Ja, und in der Klinik, da wird Rückzug immer gleich negativ interpretiert. Also ich habe schon auch Phasen, wo dieser Rückzug eher negativ ist, aber Rückzug wird in der Klinik auch sofort generell pathologisiert.“ Wolfgang: „Rückzug wird in der Klinik immer sofort als Negativsymptomatik wahrgenommen.“ Frau Büchner: „Ja, genau, und es ist nicht immer sofort eine Negativsymptomatik, wenn man sich zurückzieht.“ Formen des Rückzugs, des andauernden Schweigens, des respektlosen Umgangs mit anderen Patientinnen oder mit „der Gruppe“ werden von den Professionellen in der Regel als pathologisch interpretiert, als ein Symptom der Erkrankung. Auch wenn im Austausch in der Gruppentherapie die verschiedenen Bedürfnisse
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der Menschen betont werden und es im Stationsalltag durchaus vielfältige Bemühungen gibt, diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, produziert die Choreografie des Erfahrung-Machens auch eine spezifische Sichtbarkeit potentiell pathologischer Sozialitäten. Ähnlich wie in den Beschreibungen Allan Youngs zeigt sich hier eine einseitige Deutungs-Hoheit auf Seiten der Professionellen, wie eine Erfahrung zu machen sei. Sich zurückzuziehen wird als Symptom interpretiert, das wiederum zu bearbeiten ist. Frau Büchner hatte im Laufe ihrer stationären Behandlung immer wieder Konflikte mit den Behandlern, weil sie sich Nischen auf der Station suchte, wo sie für sich sein konnte. Sie nahm ansonsten engagiert an allen Therapien teil, nahm ihre Medikamente, sah sich aber ähnlich wie Liselotte Fischer nicht unbedingt als Teil des Stationsmilieus. Die Distanzierung von Frau Büchner verweist auf das, was die Medizinanthropologin Ellen Corin als „positiver Rückzug“ bei psychiatrischen Patienten bezeichnet hat.19 (Corin und Lauzon 1992) In ihrer Studie wird Rückzug aus Sicht der Patienten gerade nicht im Sinne einer „Negativsymptomatik“ geschildert, sondern als bewusste Entscheidung des Rückzugs und der Abgrenzung vom sozialen Umfeld, um eine eigene Form der Stabilität aufrechtzuerhalten. Corin beschreibt dies als spezifische Fähigkeit der Selbst-Einschätzung und der gezielten Inanspruchnahme von Kontakten. Ihre Gesprächspartner erzählen unter anderem ähnlich wie Herr Kurukuz, wie sie Cafébesuche nutzen, um in Gesellschaft allein zu sein. Mit Olaf Mattes, dessen Gefühl des „Befremdlich-Seins“ in der oben beschriebenen Psychose-Gruppe ko-artikuliert wurde, führte ich einige Wochen nach seiner Entlassung ein Interview über seine Erfahrungen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem. Wir sitzen in seiner kleinen Küche, trinken Kaffee und er erzählt von seiner, wie er sagt, „Psychiatriekarriere“. Bei der letzten Krise wäre es das erste Mal gewesen, dass er in eine so tiefe depressive Phase gerutscht sei. Bislang hatte er vor allem manische Phasen, mit ein paar „depressiven Komponenten“ zwischendrin, aber so drastisch wie das letzte Mal, das hätte er vorher noch nicht so erlebt. Er hätte es ja nun zum Glück überwunden, es
19 Corin und Kollegen hatten in einer Studie zu den Prozessen der Deinstitutionalisierung des psychiatrischen Versorgungssystems in Montreal zwei Patientengruppen verglichen: zum einen Patienten, die in den vier Jahren vor der Studie nicht wieder stationär behandelt wurden, und zum anderen Patienten, die im selben Zeitraum mehrfach re-hospitalisiert wurden. Zentrale Frage der Studie war, ob und wie Erfahrungen von Marginalisierung und Stigmatisierung zu vermehrten Krankenhausaufenthalten und Abhängigkeit von psychiatrischer Hilfe führten. Ich danke Manfred Zaumseil für diesen Hinweis.
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wäre „wirklich fatal“ gewesen. Ich frage, was ihm aus seiner Sicht geholfen hätte. Er hätte einfach seine Zeit gebraucht, „Zeit heilt alle Wunden, dann war ich irgendwann wieder der Alte“. Als ich die Gruppentherapien erwähne, erzählt er: „Der Psychologe hat mich ja immer wieder angesprochen: ‚Sie sind herzlich eingeladen, Sie sind doch Teil der Gruppe! Es geht doch um das Miteinander, das Austauschen von – hier so, wie sagt man – schicksalhaft Betroffenen, um das Teilen von Erfahrung.‘ Bla, bla, bla. Aber mir bringt das nichts, ich hab das pauschal abgelehnt, rumzusitzen auf ’nem Stuhl und mir das auch nur anzuhören, das Gebrabbel, das hilft mir nicht.“ Als ich nach den Gruppenvisiten frage, meint er: „Ne, da hab ich immer gesagt: Gruppe ist scheiße. Gefiel mir nicht.“ Ich versuche herauszufinden, warum er die Gruppenangebote ablehnt. „Na ja, dass ich mich äußern muss, da fühlte ich mich in so ’nem Druck mich rechtfertigen zu müssen. Ich wusste gar nicht, was ich da sagen soll über meine Befindlichkeit, das konnte ich nicht in Worte fassen. Da hätte ich lieber geschwiegen dazu, wieso, ich weiß nicht, es war mir unangenehm.“ Diese Erwartungen, dass man über sich selbst redet. Es wäre immer wie eine Art Prüfung für ihn, als müsste er das Richtige sagen. Und dabei wäre sein Kopf einfach nur leer gewesen, was hätte er denn erzählen sollen? Was Olaf Mattes hier zum einen problematisiert, ist die Pflicht, sich auf spezifische Weise zu äußern. Ihm wie auch den meisten Patienten ist in diesen Gruppensituationen bewusst, dass ihre Äußerungen immer auch „diagnostisch geprüft“ werden. Insbesondere in den Gruppenvisiten boten die Professionellen immer wieder auch ihr spezifisches „Korrektiv“ zu den Erzählungen und Interpretationen der Patienten an. Beispielsweise hatte im Fall von Herrn Mattes seine Ärztin immer wieder ihre Überzeugung betont, dass es ihm langsam besser gehen werde, was Herr Mattes in seiner schweren depressiven Phase nicht annehmen konnte. Zum anderen macht Herr Mattes in unserem Gespräch auf seine eigene Weise, aber vergleichbar mit Frau Fischer und Frau Büchner, deutlich, dass die therapeutische Setzung der Gruppe als gesunder oder zumindest als gesundungsfördernder Raum und das Besprechen von intimen Gefühlen und verrücktem Erleben in einer Gruppe von größtenteils fremden Menschen als therapeutischer Imperativ von manchen Patientinnen als schwierig und wenig hilfreich empfunden wird. In den verschiedenen Beispielen wird deutlich, dass die Choreografie des Erfahrung-Machens im Stuhlkreis entlang einer normativen Setzung von Sozialität in der Gruppe folgt. Den Menschen zuallererst als soziales Wesen in einem sozialen Netz zu verstehen, dessen Störungen im sozialen Gefüge einer Gruppe bearbeitet werden sollen, bedeutet eine bestimmte Form der Sozialität zur Norm psychischer Gesundheit zu erheben. Das bedeutet nicht, dass es im Klinikalltag nicht auch eine Akzeptanz der Ablehnung bestimmter Angebote gibt. In der
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Therapieplan-Besprechung, in der die verschiedenen Therapeuten der Station sich darüber austauschten, welche Patientin in welcher Gruppe teilnehme und ob das aus Sicht der Professionellen ausreichend bzw. angemessen für den Behandlungsverlauf sei, hieß es des Öfteren: „Der kommt traditionell nicht an.“ Damit ist gemeint, dass ein Patient der Station grundsätzlich, auch in vorherigen Behandlungen, nicht an den therapeutischen Angeboten teilnimmt. Bei manchen Patienten wurde dies problematisiert und nach Möglichkeiten gesucht, den Patienten für die Therapie zu motivieren, aber genauso wurde gerade bei langjährig bekannten Patientinnen die Ablehnung der Therapieangebote bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. Die Ablehnung der Therapien konnte aber auch zu Konsequenzen führen, bis hin zur Entlassung, wie etwa bei Frau Sattler. An den Gruppenvisiten nimmt sie zwar teil, spricht aber nicht. Mit demonstrativer Abwehrhaltung (Arme vor der Brust verschränkt, breit ausgestreckten Beinen, Blick ins Leere) ist sie zwar körperlich anwesend, aber auf die Fragen der Therapeuten reagiert sie gar nicht oder nur knapp. In der großen Mittwochsrunde sitzt sie in ähnlicher Weise im Stuhlkreis. Als eine Ärztin sie auffordert, sich an den Patientenämtern zu beteiligen, antwortet sie nur: „Ganz bestimmt nicht.“ In unterschiedlichen Teambesprechungen wird ihr Verhalten kommentiert. Gegenüber ihrer Ärztin artikuliert sie nur verschiedene körperliche Beschwerden. Wie eine Krankenschwester kommentiert: „Das sind alles so Ausreden, die sie vorschiebt, um sich nicht auf die Behandlung einzulassen.“ Ihre Ärztin gibt ihr schließlich die Aufgabe, einen schriftlichen Behandlungsauftrag zu verfassen, damit klar wird, was ihre Ziele sind, was sie sich von der Behandlung erwartet. Die meisten im Team sind sich sicher, dass auch das keinen Erfolg haben wird. Bevor es jedoch so weit kommt, wird Frau Sattler entlassen. Sie hatte wiederholt Streit mit anderen Patienten angefangen, wurde mehrmals verwarnt und schließlich nach einem erneuten Konflikt disziplinarisch entlassen. Die Verweigerung oder Unfähigkeit, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen, sich in der Gruppe zu artikulieren und sich auf die spezifische Choreografie des Erfahrung-Machens auf der Station einzulassen, führt im Extremfall zum Beenden der Therapie durch die Professionellen. Ähnlich wie in Allan Youngs Untersuchung des therapeutischen Alltags in einem psychiatrischen Rehabilitationszentrum wird hier deutlich, dass sich Patienten auf eine spezifische Choreografie einlassen müssen. Tun sie dies nicht, wird ihr Verhalten als Teil der krankheitsbedingten Symptomatik interpretiert. Der Stuhlkreis zeigt sich hier als eine Diagnosetechnologie, die es den Therapeuten ermöglicht, den aktuellen Zustand des Patienten einzuschätzen. Wie mir ein Arzt und eine Krankenschwester erklärt haben, würden sie durch die Gruppenvisiten zumindest einmal am Tag alle Patienten zu Gesicht bekommen. In den Teambe-
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sprechungen werden – wie beispielsweise bei Frau Sattler – die Beobachtungen aus den Gruppen herangezogen, um sich über den Behandlungsverlauf bei einzelnen Patientinnen auszutauschen. Nicht nur ob jemand teilnimmt, sondern auch wie jemand sich im Stuhlkreis verhält, wird kommentiert und interpretiert. Bevor ich auf weitere Beispiele der Abweichung von der Choreografie des Erfahrung-Machens komme, möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf einen zentralen Unterschied zwischen Ingolds Verständnis des taskscape und dem sozialpsychiatrischen Konzept der Gruppe als Lernort des Erfahrung-Machens eingehen. Ist für Ingold der Ausgangspunkt immer der Mensch in seiner „natürlichen“ sozialen und materiellen Umwelt, stellt die carescape der psychiatrischen Klinik ein vergleichsweise „künstliches Habitat“ her, in dem Menschen gerade nicht in einer selbst gewählten oder gewachsenen community of practice (Lave und Wenger 1991) zusammenleben.20 Die Menschen auf der Station und in den Gesprächstherapien kommen aus unterschiedlichen biografischen, soziokulturellen wie auch ökonomischen Hintergründen. Die Heterogenität des Stationsmilieus solle die Heterogenität der Gesellschaft widerspiegeln, so das Credo der Klinik-Leitung. Tatsächlich aber würden die meisten dieser Menschen in ihren privaten Alltagen kaum in Kontakt miteinander treten. Insbesondere im großstädtischen Kontext ergibt sich die von Ingold beschriebene Form der „Praxisgemeinschaft“ nicht so unproblematisch. Versteht man mit Ingold enskilment als Lernprozess, der in spezifischen taskscapes auch eine spezifische „verkörperlichte“ Aufmerksamkeit hervorbringt, so lehrt die Choreografie des Erfahrungs-Machens in erster Linie, wie man in einer psychiatrischen Klinik im Kreis sitzt und vor den Professionellen und anderen Patienten seine Wahrnehmungen und Empfindungen artikuliert. Auf welche Art und Weise sich daraus längerfristige Lernprozesse ergeben, hängt dabei immer auch mit vorherigen Fähigkeiten zusammen wie auch mit dem spezifischen Umfeld, der community of practice, an dem Menschen nach ihrer Entlassung teilhaben. Wie ich am Beispiel von Liselotte Fischer beschrieben habe, kommen die Patienten
20 In den wenigen Beispielen, die ich bei Ingold zu „forciertem enskilment“ gefunden habe, betont er gerade den schwierigen Prozess der Aushandlung und auch Anpassung an ein durch externe Kräfte dominiertes „Habitat“. Ingold diskutiert beispielsweise unterschiedliche Zeitlichkeiten einer fordistisch geprägten Arbeitswelt und der privaten Sphäre. (Ingold 2000: 323ff.) Dabei geht es ihm nicht darum, die Arbeitswelt als „entfremdet“ und enskilment-fern zu beschreiben. Vielmehr arbeitet er heraus, dass der Umgang mit anderen Zeit-Taktungen und komplexen Arbeitsroutinen ebenso als enskilment zu betrachten ist, das jedoch dem eigentlichen sozialen Rhythmus entgegensteht und ein hohes Maß an Anpassung von Seiten der Arbeiter erfordert.
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bereits mit eigenen skills und Soziabilitäten auf die Station: mit eigenen Zeitlichkeiten, Interaktionsfähigkeiten und nicht zuletzt mit eigenen Be-Deutungen ihres Erlebens. Andere Deutungen In der Choreografie des Erfahrung-Machens sind zudem auch spezifische Vorstellungen „gesunder“ Deutungen von Erfahrungen implizit. Wie sich in der Beschreibung des jungen Mannes in der Gesprächsrunde andeutete, kommen Patienten in die Mittendamm-Klinik, die psychische Erkrankungen und verrücktes Erleben anders als in der Ideologie der Einrichtung interpretieren. Dabei sind „biochemische“ Erklärungen nur ein Beispiel von Deutungen, die zu Konflikten führen, wie das erste, etwas ausführlichere Beispiel zeigt. Herr Aydin ist ein junger Mann, der von der Krisenstation auf die Station kam. Aus seiner Sicht hatte er aufgrund einer sehr stressigen Familiensituation in den letzten Monaten ein Schlafdefizit entwickelt, weswegen er unkonzentriert sei, sich in einer aussichtslosen Situation fühle und lebensmüde Gedanken habe. Zurück in die elterliche Wohnung möchte er auf keinen Fall, alleine zu wohnen kann er sich angesichts seines körperlichen Zustands nicht vorstellen. Das Jugendamt wiederum ist für ihn aufgrund der Volljährigkeit nicht zuständig und hat „den Fall“ an das Jobcenter weitergegeben. Nachdem man auf der Krisenstation zu keiner Lösung kommt, wird Herr Aydin schließlich auf die Station 29 verlegt. Auch hier ist sein ausschließlicher Wunsch ausreichend schlafen zu können. Warum er an den Gruppenvisiten oder der Ergotherapie teilnehmen oder mit dem Arzt Einzelgespräche führen soll, ist für ihn nicht nachvollziehbar. Nachdem man ihm zu Beginn der Behandlung einige Tage die Möglichkeit gegeben hat auszuschlafen − was auch bedeutet, dass er an einem Großteil der Therapien am Vormittag nicht teilnimmt −, wird schließlich vereinbart, dass die Pflegekräfte ihn morgens wecken und man von ihm die Teilnahme an der morgendlichen Gruppenvisite erwartet. Der folgende Auszug stammt aus einer morgendlichen Gruppenvisite, die sich so circa zwei Wochen nach seiner Verlegung auf die Station abspielt. Herr Aydin erzählt, dass es ihm nicht gut gehe, er bekäme zu wenig Schlaf. Die Pflege wäre mittlerweile ziemlich streng mit ihm und würde ihn morgens früh wecken und dann nicht nachgeben, bis er aufsteht. Er überlege, ob nicht ein künstliches Koma gut wäre, damit sich sein Körper mal wieder regenerieren könne. Der Arzt meint, ein künstliches Koma wäre doch eine sehr drastische Maßnahme und auch nicht ungefährlich. Das würde aber auch zeigen, dass es
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für ihn sehr quälend sein müsse, wenn er solche Maßnahmen in Erwägung zieht. Der Arzt möchte verstehen, wie Herr Aydin auf diese Idee kommt. Herr Aydin meint, er käme jetzt seit zwei, drei Tagen einfach nicht mehr voran. Aber er fügt auch hinzu, dass es ihm schon besser gehe als zum Zeitpunkt der Aufnahme. Der Arzt versucht ihm zu erklären, warum es aus seiner Sicht der richtige Weg sei, ihn morgens zum Aufstehen zu motivieren. „Aber warum glauben Sie das denn, Herr Doktor?“, fragt Herr Aydin. „Erfahrung“, antwortet der Arzt, „wir haben damit Erfahrung mit anderen Patienten, die mit ähnlichen Problemen wie Sie hier in Behandlung waren.“ Herr Aydin versucht zu erklären, dass es bei ihm aber anders sei. Nach der Gruppe verlassen alle Patienten den Raum, nur Herr Aydin bleibt noch sitzen. Wir kommen ins Gespräch. Er meint, man würde ihn verallgemeinern und nicht verstehen, dass es bei ihm anders sei als bei anderen Patienten. Er hätte immer schon mehr Schlaf gebraucht. Das wäre wohl „für die hier irgendwie exotisch“, die würden das nicht glauben können, dass er eine Ausnahme sei. „Ich kenne meinen Körper, ich lebe jetzt seit 19 Jahren damit“, er wisse doch, was für ihn gut sei. Herr Aydin versteht durchaus, worauf die Professionellen mit ihren Erklärungen abzielen, aber – wie er betont – dies treffe auf ihn nun mal nicht zu. Er nimmt an den verschiedenen therapeutischen Angeboten der Station teil, aber die Bedeutung, die er seinem Erleben gibt, ist eine grundsätzlich andere als die der Professionellen. Offensichtlich wird dies auch, als er an der Depressions-Gruppe teilnimmt. Zu Beginn der Gruppe fragt der Psychologe Herrn Aydin, was er mit dem Begriff Depression verbinde. Herr Aydin antwortet mit einer gängigen Erklärung. Später im Gespräch kommt der Psychologe auf diese Erklärung zurück und fragt Herrn Aydin, über welche Strategien er verfüge, um damit umzugehen, beziehungsweise ob er etwas von den anderen Teilnehmern mitnehmen könne. Herr Aydin antwortet: „Aber wieso? Ich hab ja keine Depression.“ Auch im weiteren Behandlungsverlauf beharrt Herr Aydin auf seiner Interpretation. Aus Sicht der Behandler ist das zentrale Problem, dass Herr Aydin kein „Konzept von seiner Krankheit“ entwickelt, wie ein Arzt es formuliert. Dass er, weil er morgens lange schläft und sich den Weckversuchen der Pflege immer wieder widersetzt, auch oft nicht an den Gruppenvisiten teilnimmt, ist dabei nur ein Teil des Problems. Vor allem verweigert er sich dem Prozess des BedeutungHerstellens von Erfahrung, indem er keinen Zusammenhang herstellt zwischen seinem Schlafbedürfnis, seiner Niedergeschlagenheit, seinen Konzentrationsproblemen mit den Problemen in der Familie und der Diagnose Depression. Er nimmt die Medikation, die ihm verschrieben wird, ein Antidepressivum, das
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zugleich auch gegen Schlafstörungen eingesetzt wird. Er akzeptiert jedoch nicht, dass seine Probleme psychischer Art sind und er sich im Rahmen der Therapien damit auseinandersetzen soll. Regelmäßig formuliert er neue somatische Erklärungen für sein Schlafbedürfnis, sein Cortisol-Haushalt solle untersucht werden, eine Untersuchung im Schlaflabor oder eben das künstliche Koma sind die diagnostischen wie therapeutischen Konzepte, die er für relevant befindet. Immer wieder wird im Team das Behandlungskonzept für Herrn Aydin diskutiert. Phasenweise gibt man ihm die Möglichkeit, so viel zu schlafen, wie er will. Eine andere Medikation setzt Herr Aydin wieder ab, als die Nebenwirkungen für ihn zu unangenehm werden. Gegen Ende meiner Feldforschung schien nach wie vor keine Lösung in Sicht. Einige Wochen später erzählte mir eine andere Patientin, die ich nach ihrer Entlassung traf, dass Herr Aydin schließlich entlassen wurde. Er hätte sich ja auch den Therapien verweigert, „das bringt ja dann auch nichts“, fügt die Frau hinzu. Aus klinischer Sicht, das wurde in den Teambesprechungen immer wieder deutlich, ist Herr Aydins Beharren auf einer somatischen Diagnose und Behandlung Teil seiner psychischen Störung. Er verweigert sich der Reflexion und der Auseinandersetzung mit seinen Problemen und „flüchtet“ in somatische Erklärungen. Die Betonung der Vielfalt von Erfahrungen und Interpretationen, wie sie grundsätzlich in der Gruppentherapie im Vordergrund steht, kommt offensichtlich an ihre Grenzen, wenn die zugrundeliegende Erklärung von psychischen Störungen als primär psychosoziale Dynamik in Frage gestellt wird. Ein ähnliches Beispiel diskutiert Kirmayer in der Beschreibung einer therapeutischen Sitzung, in der die Patientin ebenfalls auf einer somatischen Erklärung ihrer Beschwerden beharrt. Beide, Therapeut wie Patientin, bieten eigene Interpretationen an und stellen die des anderen damit zugleich in Frage. (Kirmayer 2000) Wie Herr Aydin es mir gegenüber ausdrückt: Man versuche ihn zu generalisieren und würde nicht verstehen, dass es bei ihm anders sei. Der Behandlungsverlauf von Herrn Aydin zeigt sich als kontinuierliches Ringen um die Anerkennung der jeweiligen Interpretation und letztendlich als Scheitern: Zwischen den unterschiedlichen Deutungen von Herrn Aydins Erleben wird keine Annäherung oder gar Übereinstimmung hergestellt. Wie Kirmayer betont, werden gerade in solchen Beispielen des Scheiterns einer kohärenten Erzählung im therapeutischen Prozess die spezifischen lokalen institutionellen wie ideologischen Bedingungen deutlich. Herr Aydin stellt nicht grundsätzlich sozialpsychiatrische Diagnose- und Behandlungskonzepte in Frage, aber er insistiert auf seiner eigenen Expertise in der Einschätzung seines Körpers und der Behandlungsmöglichkeiten und verweigert sich damit dem Modus der (Ko-)Produktion von Erfahrung. Wie eine andere Patientin einmal frustriert in der
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Gruppenvisite zu ihrem Arzt meinte, sie habe unerträgliche Schmerzen, aber sie solle reden, singen, backen – das mache doch überhaupt keinen Sinn. Das Interpretieren von Krankheitserleben als somatisch bedingt ist ein gängiges Thema in der Klinik. Zum einen betrifft dies die Wahrnehmung und Interpretation von Körperempfindungen, die von Seiten der Patientinnen gerade nicht dem Bereich psychischer Störungen zugerechnet wurden, was sie die oftmals psychiatrischen Diagnosen als stigmatisierend empfinden ließ wie auch als Beweis, dass man von den Ärzten nicht ernst genommen wurde. Zum anderen kam es zu ähnlichen Konflikten, wenn Patienten zwar die Diagnose einer psychischen Erkrankung grundsätzlich akzeptierten, aber die Ursache wie der junge Mann in der Gesprächsrunde „im neurochemischen Bereich“ verorteten und von den Mediziner eine entsprechende Behandlung, am besten die „richtige Pille“ erwarteten. Im sozialpsychiatrischen Verständnis der Einrichtung sind einseitige biomedizinische Erklärungsmodelle in der Behandlung höchst problematisch, weil sie aus Sicht der Professionellen dazu führen, dass Patienten sich damit der sozialpsychiatrischen Choreografie entziehen bzw. verweigern. Neben „somatisierenden“ oder „bio- bzw. neurochemischen“ Bedeutungen, die Patienten ihren Wahrnehmungen und Empfindungen gaben und die zu kontinuierlichen Aushandlungen und Diskussionen zwischen Patienten und Team wie auch innerhalb des Teams führten, gab es im therapeutischen Prozess vor allem auch Konflikte, wenn Patientinnen an „verrückten“ Interpretationen festhielten. Hierzu ein Beispiel aus der Psychose-Gruppe. Eine junge Frau, die zum ersten Mal in psychiatrischer Behandlung ist, erzählt nach Aufforderungen des Psychologen sehr vorsichtig und noch unsicher, warum sie in die Klinik gekommen ist. Sie wäre völlig größenwahnsinnig gewesen, hätte alles auf sich bezogen, die Nachrichten im Fernsehen, Werbeplakate, Bemerkungen von Kollegen. Sie wäre lange Zeit sehr euphorisch gewesen, hätte gemeint, sie schaffe alles, und sich dabei vor allem in ihrem Job völlig übernommen. Sie stockt immer wieder, meint, sie könne es im Nachhinein auch nicht verstehen. Sie schäme sich, frage sich, wie sie ihren Arbeitskollegen und Freunden jemals wieder unter die Augen treten könne. Sie hatte sich für auserwählt gehalten, die Welt zu retten. Es wäre für sie so klar und ohne Zweifel gewesen. So hätte sie beispielsweise ständig alle Zahlen auf sich bezogen und für sich als Zeichen gewertet; z.B. wie viele rote Autos fahren an ihr vorbei oder wie viele Menschen stehen in der Schlange an der Kasse. Aber jetzt wäre sie wieder in der Realität angekommen, betont sie mehrmals. Herr Brauner, der seit vielen Jahren Patient in der Klinik ist, mischt sich aufgeregt ein, sie solle sich nichts einreden lassen, sagt er, natürlich sei sie auserwählt! Es wäre schwer damit umzugehen,
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das wisse er aus eigener Erfahrung, es wäre schwer, das zu tragen. Aber sie dürfe jetzt nicht aufgeben. An dieser Stelle greift der Psychologe ein: Er fände es sehr traurig, das zu hören. „Wieso?“, fragt Herr Brauner erstaunt zurück. Weil es zeigen würde, dass er sich nicht distanzieren könne und völlig kontrolliert sei von diesen Gedanken auserwählt zu sein. Das mache ihn als seinen Therapeuten traurig. Herr Brauner relativiert seine vorherige Aussage, beharrt aber darauf, dass es im Bereich des Möglichen wäre, dass jemand auserwählt sei, die Welt zu retten. Die beiden Männer – Therapeut und Patient – kennen sich schon viele Jahre, was die für mich vergleichsweise eindeutige Intervention von Seiten des Psychologen erklärt. Möglicherweise wollte er auch eine problematische Auswirkung auf die junge Patientin verhindern. Herr Brauner ist ein Patient, der in den vielen Jahren seiner Erkrankung für sich einen eigenen Weg gefunden hat. Er arbeitet als Künstler, thematisiert seine Erkrankung in öffentlichen Veranstaltungen und wird dabei seit vielen Jahren von seiner Frau unterstützt. Dabei hat er vor allem gelernt, das psychiatrische System in seiner Weise zu nutzen. In einem Gespräch mit dem Psychologen einige Tage nach jener P-Gruppe relativiert er seine Einschätzung und meint, er habe eingesehen, dass dieser Glaube an das Auserwähltsein völliger Quatsch wäre. In einem Gespräch mit mir wiederum erläutert er mir allerdings noch einmal mit völliger Überzeugung seine Theorie. Herr Brauner hat im Laufe der Jahre gelernt, wie man sich in der psychiatrischen Behandlung zu äußern hat. Manchmal passt er sich dem an, manchmal beharrt er auf seiner Interpretation. Dass Menschen in akuten psychischen Krisen teilweise mit sehr eigenwilligen Wahrnehmungen und Erklärungen der Welt argumentieren, ist in einer psychiatrischen Klinik insgesamt keine Überraschung. Im Verlauf einer Behandlung kann dieses Beharren auf „irrationalen“ Erklärungen allerdings auch zu Konflikten führen, wie ich sie in den vorherigen Beispielen beschrieben habe. Tatsächlich ist die kontinuierliche Überzeugungsarbeit von Seiten der Professionellen maßgeblicher Bestandteil ihrer Arbeit im Alltag. Während meiner ersten Feldforschung war ich sehr irritiert darüber, dass in einer Klinik, in die sich Menschen größtenteils freiwillig in medizinische Behandlung geben, so viel „Überzeugungsarbeit“ geleistet werden muss. Oftmals muss der Arzt den Patienten erst einmal überzeugen, dass er überhaupt krank ist oder – wie beispielsweise bei Herrn Aydin – dass die vorgeschlagenen und zur Verfügung stehenden Behandlungswege sinnvoll und wirksam sind. In diesen Situationen werden die Erfahrungen und die Be-Deutungen der Patienten anders gewichtet als beispiels-
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weise bei Herrn Kurukuz in meinem allerersten Beispiel. Die Erfahrung der Patientinnen ist etwas, was therapeutisch bearbeitet und in die richtige Richtung gelenkt werden muss. Am Beispiel von Herrn Aydin wurde allerdings auch sichtbar, dass sich die Professionellen durchaus bemühen, die Perspektiven der Patienten ernst zu nehmen, auch wenn sie dem eigenen Behandlungskonzept widersprechen. Immer wieder wurde Herrn Aydin für einen bestimmten Zeitraum ermöglicht, den Weg, den er für sinnvoll hielt – schlafen –, auszuprobieren. Eine Erfahrung zu machen kann ein langfristiger Lernprozess sein, der oftmals auch über den aktuellen stationären Aufenthalt hinaus konzipiert wird. Auch Patientinnen, die das spezifische therapeutische Konzept zwischen „kontinuierlicher Aufforderung“ und „langer Leine“ für sich als sehr hilfreich empfinden, erzählten von ihren ersten Begegnungen mit der Psychiatrie als sehr verstörende Erfahrungen. Ein Patient, der als Jugendlicher das erste Mal in psychiatrische Behandlung kam, erzählte mir, wie er damals völlig überfordert war, als er in einer Gruppensituation zum allerersten Mal über seine Gefühle und seine Wahrnehmungen sprechen sollte. Sozialpsychiatrische Choreografien formieren Erfahrungen in einem Lernprozess, der auch Spielräume eröffnet und sich durchaus phasenweise den Erwartungen und Bedürfnissen der Patientinnen anpasst. Wie jedoch in den verschiedenen Beispielen deutlich wurde, wird das Beharren auf „abweichenden Erfahrungen“ – sei es die Abweichung von der Sozialität der Gruppe als Norm oder das Beharren auf eigenen Deutungen – in diesem Lernprozess als problematisch und einen Gesundungsprozess behindernd verstanden. Das Machen einer Erfahrung ist damit immer auch mit dem Herstellen der „richtigen“ Bedeutung verbunden.
F AZIT : D IE SOZIOMATERIELLE K ONFIGURATION EINER E RFAHRUNG In den verschiedenen Beispielen aus der Gesprächsgruppe wie der Gruppenvisite wurde deutlich, wie in der Mittendamm-Klinik das Machen einer Erfahrung durch ein bewusstes soziomaterielles Arrangement konfiguriert wird. Die Patientinnen nehmen in einem Stuhlkreis Platz, hören anderen Patienten und den Professionellen zu und sind aufgefordert sich im Kreis der Gruppe zu äußern. Durch die Artikulation der eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken sowie dem Zuhören anderer Patienten sollen Lernprozesse angeschoben werden: einerseits die Fähigkeit der „sozialen Artikulation“, andererseits die „Imitation“ von Strategien der anderen Patienten. Wie ich anhand verschiedener
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Beispiele gezeigt habe, ist diese Artikulation selbst oft ein kollektiv verteilter Prozess, in dem Erfahrungen ko-artikuliert werden. Zudem wird nicht eine bestimmte Deutung als Ideal vorgegeben, sondern die Vielfalt der Erfahrungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt gestellt. Der Stuhlkreis ist nicht der einzige Ort, an dem diese Form des Erfahrung-Machens praktiziert wird. Doch das Sitzen im Stuhlkreis aktualisiert in spezifischer Weise die sozialpsychiatrische Grundidee des Erfahrung-Machens als intersubjektiven Lernprozess, in dem für den Einzelnen Transformationen des Erlebens zu einer Erfahrung möglich werden. Ziel ist nicht, eine konforme Erfahrung herzustellen, sondern durch das kollektive Erkunden Möglichkeiten individueller Pfade aufzuzeigen. Jeden seine Erfahrung machen zu lassen bedeutet aber gerade nicht, dass die Erfahrung nicht auf eine bestimmte Weise choreografiert wird. In der sozialpsychiatrischen Choreografie zeigt sich Erfahrung als Resultat kultureller Artikulationen sowie bestimmter sozialer und materieller Gegebenheiten, die diese Artikulationen legitimieren und fördern. Durch das Sitzen in einer Gruppe im Stuhlkreis wird das individuelle Erleben einer intersubjektiven Evaluation und Korrektur unterworfen und bestimmte bedeutungsvolle Erfahrung ermöglicht. Anders als im Verständnis der illness narratives werden hier nicht subjektive Erfahrungen vor der Gruppe zum Ausdruck gebracht, sondern diese in der Gruppe im Kreis ausund aufgeführt. Wie sich in dem kurzen Einblick in Konzeptualisierungen der Gruppe in psychologischen und psychiatrischen Behandlungen gezeigt hat, ist das Sitzen im Kreis auch eine Aktualisierung sozialpsychiatrischer Diskurse um „das Soziale“. 21 Vorstellungen von Solidarität, Teilhabe, „demokratischen Umgangsformen“ (Veltin 2003) und Vertrauen auf die positiven Veränderungen durch Praktiken der solidarischen Interaktion im therapeutischen Milieu sind historische und kulturelle Rahmenbedingungen, die das Erfahrung-Machen in der Mittendamm-Klinik prägen. Im Vordergrund stehen damit auch Vorstellungen eines Patienten-Subjekts, das aktiv an einer Überwindung der Krise und einer längerfristigen Stabilisierung arbeitet. Erfahrung-Machen zielt also nicht primär auf einen inneren Transformationsprozess ab, sondern auf ein enskilment der Patientin, die zur „Expertin“ ihrer Krankheitsbewältigung werden soll. Diese Vorstellungen, die zu Beginn sozialpsychiatrischen Praktizierens in deutschen Psychiatrien noch zutiefst gesellschaftspolitisch motiviert waren, werden mittlerweile als selbstverständliche therapeutische Praxis gesetzt, deren politische Intention kaum noch thematisiert wird. Dabei wird aber zugleich auch die normative Dimension dieser Form des Behandelns in den Hintergrund gerückt
21 Siehe hierzu auch die Ausführungen zu den Konnotationen des Sozialen im ersten Kapitel dieser Arbeit.
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und kaum mehr reflektiert. Die beschriebenen Choreografien des Erfahrung-Machens nehmen einerseits den Patienten als Akteur ernst, der in spezifischen sozialen Kontexten eingebettet ist und eben nicht nur als biologisches Subjekt, im Sinne eines Krankheitsträgers, konzipiert wird. Gleichzeitig produziert dieses Choreografieren eine spezifische Matrix und Sichtbarkeit des Pathologischen. Zugespitzt formuliert kann das Misslingen einer Erfahrung weder unproblematisch „biologisiert“ werden noch einseitig mit einem psychoanalytischen Konzept des „Widerstands“ (wie in den Beispielen Allan Youngs) erklärt werden. Sich der carescape des Stuhlkreises und der damit einhergehenden Vorstellung des Erfahrung-Machens zu verweigern produziert eine „soziale Pathologie“, die weitestgehend unreflektiert bleibt. Die Spannung, die sich hier ergibt und die gerade auch durch die verschiedenen „abweichenden“ Beispiele deutlich wurde, ist, dass ein selbstbestimmter Weg nicht per se als ermächtigend verstanden wird. Gerade eigenwillige Formen der Sozialität oder „abweichende“ Interpretationen von Erfahrungen führen im Zweifelsfall zum Absprechen von agency, der Fähigkeit, eigenständig zu entscheiden und zu handeln. Durch die Sichtbarkeit von Sozialität, wie sie durch die Matrix der Choreografie hervorgehoben wird, wird die Art und Weise sich (nicht) zu äußern mit dem (Krank- bzw. Gesund-)Sein des Patienten gleichgesetzt.
Leben mit und Arbeiten am Körper in der psychiatrischen Behandlung
A BWESENDE K ÖRPER ? Wenn über die Inklusion psychisch Kranker in die Gesellschaft diskutiert wird, werden vor allem die Folgen von Stigmatisierung und psychischen Belastungen diskutiert, die psychisch Kranken die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erschweren. 1 Psychisch Kranke leiden an „seelischen Störungen“, ihre Körper bleiben in der Regel unthematisiert und scheinbar unproblematisch. Aber sind die Körper psychisch Kranker wirklich „abwesende Körper“, wie der Phänomenologe Drew Leder den im Alltag als selbstverständlich vorausgesetzten Körper beschreibt? (Leder 1990) Welche Rolle spielt Körperlichkeit im alltäglichen Erleben von psychischen Erkrankungen wie auch in den psychiatrischen Behandlungspraktiken? Wie wird dabei im sozialpsychiatrischen Verständnis von psychischer Erkrankung das Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren konzeptualisiert und in den alltäglichen Behandlungspraktiken aktualisiert und reproduziert? Welche Funktion haben Psychopharmazeutika in dieser Behandlung? Und wie wird durch das therapeutische Bearbeiten des „Biospsychosozialen“ in der Klinik das Körperwissen und Körpererleben der Patienten ko-produziert? Diesen Fragen gehe ich im vorliegenden Kapitel nach. Während meiner Feldforschung zeigte sich, dass der Körper im Alltag psychiatrischer Behandlung durchaus präsent ist und bleibt und von den Professionellen wie Patientinnen auf vielfältige Weise beachtet und bearbeitet werden muss. Insbesondere in den Erzählungen der Betroffenen wurde immer wieder
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Im Sozialgesetzbuch IX (§ 2 Abs. 1 Satz 1) wird der Behinderungsbegriff folgendermaßen differenziert: Abweichungen in der „körperlichen Funktion“, der „geistigen Fähigkeit“ oder der „seelischen Gesundheit“.
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deutlich, dass der Körper nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Vielmehr müssen Menschen mit psychischen Erkrankungen ihr körperliches Inder-Welt-Sein kontinuierlich herstellen. Der Körper, insbesondere der pharmazeutisch behandelte Körper, tritt im Alltag nicht in den Hintergrund, sondern muss beständig bearbeitet werden, um psychisch stabil zu werden oder zu bleiben. In diesem Kapitel lege ich den Fokus darauf, wie in den alltäglichen Behandlungspraktiken Körperlichkeit bearbeitbar wird und welche Konsequenzen sich daraus für das Erleben von psychischen Erkrankungen ergeben.2 Den Patienten im sozialpsychiatrischen Choreografieren auf einen bestimmten Pfad zu bringen bedeutet in diesem Sinne ein Eingreifen in sein Körpererleben und interpretieren. Wie ich zeigen werde, ergeben sich die Veränderungen im Umgang mit dem Körper meist in längerfristigen Prozessen. Wie nehme ich meinen Körper (anders) wahr, wie interpretiere ich meine Wahrnehmungen und Empfindungen, wie gehe ich mit den intendierten Wirkungen sowie Nebenwirkungen um? Gerade in der Beschreibung der Prozesse einer education of attention (Ingold 2000: 22), im Sinne einer Neuformierung von (Körper-)Wahrnehmung, wird meines Erachtens offensichtlich, wie notwendig in der Analyse eine enge Verschränkung von theoretischen Ansätzen ist, die sowohl die institutionellen Herstellungspraktiken und machtvollen klinischen Formierungsprozesse in den Blick nehmen als auch solche, die den Blick auf Prozesse des Lernens und Werdens richten. Um die Verschränkung von Prozessen des Herstellens und des Werdens konzeptuell zu erreichen, werde ich erstens praxistheoretische Ansätze heranziehen, die mir ermöglichen, Körper als praktisches Phänomen, d.h. als Ergebnis von Praktiken und nicht als vorausgesetzte Entität, zu beschreiben; zweitens ziehe ich anthropologische Konzeptualisierungen heran, die mir den Blick auf körperliches Erleben jenseits individualistischer Modelle gestatten und mir helfen, die Koproduktionsprozesse von Körperlichkeit, psychiatrischer Expertise und alltäglichen Lebenswelten herauszuarbeiten. Ziel ist es, nicht von Körpererleben einerseits und Bearbeiten von Körper andererseits zu schreiben, sondern gerade die Loopingprozesse zwischen den entsprechenden Sets von Praktiken zu diskutieren.
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Im vorherigen Kapitel habe ich beschrieben, wie im sozialpsychiatrischen Choreografieren die Artikulation des verrückten Erlebens wie auch die Interpretation zu einer Erfahrung in der Mittendamm-Klinik auf spezifische Weise konfiguriert wird. Gewissermaßen spielte hier der Körper bereits eine Rolle: Das Positionieren im Kreis und das Austauschen im Kollektiv setzt ebenfalls eine bestimmte Handhabung des Körpers voraus.
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Die besondere Herausforderung im Überwinden solch dichotomer Zugriffe ist nicht zuletzt, Begriffe zu (er-)finden, die ermöglichen beides gleichzeitig zu thematisieren. Ich bezeichne die verschiedenen Praktiken, in denen der Körper involviert ist, im Folgenden als Körperwidmungen. Der Begriff des „Widmens“ verweist auf verschiedene Nuancen, die ich analysieren werde, und ist in diesem Sinne als heuristischer Begriff, als Analysewerkzeug zu verstehen. Für mich war in der Analyse des Materials der englische Begriff „to attend to something“ produktiv. Die möglichen Übersetzungen hierfür bieten zwei Richtungen an:3 erstens „sich widmen“ im Sinne von beachten, beobachten, Aufmerksamkeit schenken (pay attention to); zweitens im Sinne von sich kümmern, behandeln (durchaus auch im medizinischen Kontext) und bearbeiten (give practical help and care to; look after). Grob gesagt geht es um Formen der Auseinandersetzung mit dem Körper, die stärker rezeptiv wie auch interventiv ausgerichtet sein können. Der Körper ist im psychiatrischen Kontext für alle Beteiligten ein nur bedingt kontrollierbarer Akteur in diesen Praktiken. Oftmals muss erst sehr genau nachgefühlt, hingehört und beobachtet werden, bevor in irgendeiner Art und Weise auf den Körper eingewirkt werden kann. Der Körper ist damit als wichtiger „Partizipand“ (Hirschauer 2004) dieser Praktiken zu verstehen. Zugleich liegen die unterschiedlichen Grade der Rezeption und Intervention quer zu den verschiedenen Beteiligten. Es sind nicht einfach die psychisch Kranken, die ihrem Körper Aufmerksamkeit schenken (müssen), und die Professionellen diejenigen, die den Körper bearbeiten. Körperwidmungen beinhalten sowohl die Art und Weise, wie sich Patienten mit ihrem eigenen (pharmakologisch behandelten) Körper auseinandersetzen, wie auch die klinischen Praktiken, die sich anhand von Laborwerten und Medikamenten dem Körper widmen. Den verschiedenen Körperwidmungen und den sich dabei ergebenden Loopings werde ich unter wechselnden Blickpunkten nachgehen. Im ersten empirischen Teil werde ich mit drei Beispielen, die die Körperwidmungen der Betroffenen insbesondere im poststationären Alltag in den Vordergrund stellen, beginnen. Die vorgestellten Erzählungen der drei Betroffenen zeigen auf spezifische Weise, wie sich die Betroffenen über einen langen Zeitraum kontinuierlich ihrem Körper widmen müssen und wie präsent psychiatrische Expertise in diesen Körperwidmungen auch außerhalb der Klinik noch ist. Im Anschluss daran werde ich herausarbeiten, wie in einer sozialpsychiatrischen Klinik, die den Patienten vor allem als soziales Wesen begreift und biopsychiatrische Ansätze in
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Ich habe hierfür verschiedene Wörterbücher genutzt; u.a. Oxford Dictionary of English sowie verschiedene online-Versionen wie Merriam Webster, Cambridge Dictionary, leo.org.
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der deutschen wie internationalen Psychiatrie-Landschaft kritisch kommentiert, Psychopharmaka als Form der Körperwidmung dennoch eine fundamentale Rolle in der Behandlung spielen. Nach einem Exkurs in psychiatrische Fachdiskurse zu Psychopharmaka werde ich die alltäglichen Praktiken des Managens von Wirkungen und Nebenwirkungen in der Klinik beschreiben und verdeutlichen, wie im „Herumdoktern“ am Körper Medikamente in der Behandlung als Ermächtigungs- oder zumindest als Ermöglichungs-Agenten eingesetzt werden. Hier wird nicht nur der Körper, sondern vor allem auch das Körperwissen der Patientinnen transformiert. Dabei zeigt sich, dass für Patienten die verschiedenen Wirkungen teilweise in Widerspruch zum Ermöglichungsmodus der Medikamente stehen. Zuvor diskutiere ich relevante Theoretisierungen von Körperlichkeit, um meinen analytischen Zugriff einzubetten und zuzuspitzen.
T HEORETISCHE P ERSPEKTIVEN
AUF
K ÖRPERLICHKEIT
In meiner Diskussion greife ich auf theoretische Ansätze zurück, die Körperlichkeit als Herstellungsprozess und als situierte Praxis konzeptualisieren. Dies sind erstens anthropologische Arbeiten, die einer Anthropology of Science and Technology zugerechnet werden können und die wechselseitige Wirkung von kulturellen Bedeutungen, wissenschaftlichen Konzepten und körperlichem Erleben in lokalen Kontexten in den Vordergrund stellen. Zweitens ziehe ich Arbeiten heran, die eine kritische Weiterentwicklung einer phänomenologischen Tradition in der Kultur- und Sozialanthropologie anbieten und dabei die Transformationsprozesse von Körpererleben und die entsprechenden Bedingungen in den konkreten Alltagspraktiken in den Fokus stellen. Und drittens greife ich auf Arbeiten im Feld der Science and Technology Studies zurück, die sich dem Körper aus praxiografischer Perspektive zuwenden. Der Schwerpunkt liegt in diesen Arbeiten auf den Herstellungspraktiken von Körper insbesondere in wissenschaftlichen, medizinischen Kontexten. Alle drei Argumentationslinien diskutieren den Körper und dessen Transformationen als situiert und relational. Ich werde im Folgenden einige Aspekte dieser Ausrichtungen herausgreifen und meinen analytischen Zugriff zuspitzen. Da ich sowohl die alltäglichen Produktionsprozesse „psychisch stabiler Körper“ als auch die Konsequenzen für die Betroffenen und ihr körperliches Erleben diskutieren möchte, erscheint mir diese Verbindung produktiv – selbst wenn diese Ansätze in ihren Auseinandersetzungen mit Körperlichkeit unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Ziel ist es, eine analytische Perspektive zu erarbeiten, die das Arbeiten am Körper und das
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Leben mit dem Körper4 gleichermaßen und gerade nicht dichotom diskutiert und vor allem die grundlegende Materialität des Körpers – also nicht primär seine Symbolhaftigkeit und die Interpretation seiner Bedeutung – in den Blick nimmt.5 Die Ko-Produktion von Wissenschaft, Körperlichkeit und Gesellschaft In der (Medizin-)Anthropologie war und ist der Körper beziehungsweise Körperlichkeit ein klassisches Thema. In den letzten Jahrzehnten entstanden verschiedene Strömungen, die auf unterschiedliche Weise die Cartesianische Trennung von Körper und Geist und andere damit verknüpfte Dualismen wie ObjektSubjekt, Natur-Kultur, Rational-Irrational zu überwinden versuchten. Nicht mehr der Körper als Symbol und Bedeutungsträger, sondern die vielfältigen Formierungs- und Produktionsprozesse des Körpers rücken in den Fokus (medizin-)anthropologischer Arbeiten, die den Körper immer als zugleich sozial/ kulturell und physisch, als historisch kontingent und lokal situiert verstehen.6 In
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In der Einleitung zu dem Sammelband „Working and Living with the New Medical Technologies“ bieten die drei Herausgeberinnen Margaret Lock, Alberto Cambrosio und Allan Young einige Hinweise, welche Diskussionen sich an der Schnittstelle von medizinanthropologischen Arbeiten und Ansätzen aus dem Feld der Science and Technology Studies ergeben. (Lock, Young, and Cambrosio 2000)
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Dies kann kein allumfassender Überblick über die Thematisierung von Körper in den relevanten disziplinären Feldern sein. Insbesondere in der Anthropologie entstanden in den letzten Jahren zahlreiche Reader und Kompendien; siehe hierzu Blackman 2008; Lock und Farquhar 2007; Mascia-Lees 2011; Artikel, die überblickartig argumentieren: Csordas 1990; Lock 1993a; Martin 1992; Scheper-Hughes und Lock 1987.
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Geprägt wurde diese Problematisierung eines Cartesianischen Körper-Modells unter anderem durch kulturvergleichende Arbeiten, die deutlich machten, dass diese als natürlich wahrgenommene dualistische Konzeptualisierung eine historisch wie lokal begrenzte Art und Weise den Körper zu denken ist. Arbeiten, die Körperlichkeit in nicht-westlichen Gesellschaften in den Blick nehmen, zeigen hingegen alternative Epistemologien, die unterschiedliche holistische oder komplementäre Konzeptualisierungen von Körper-Geist produzieren und den engen Zusammenhang von Körper-Konzepten und kulturspezifischen Vorstellungen von Individualität, Subjekt und Kollektivität verdeutlichen. (vgl. Scheper-Hughes und Lock 1987) Einflussreich waren für diese Neu-Konzeptualisierung die Arbeiten von Michel Foucault, dessen Problematisierungen den Fokus auf Formierungsprozesse von Körpern vorangetrieben
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einem Rückblick auf diese verschiedenen Entwicklungen in den letzten Jahren schreiben die beiden Anthropologinnen Margaret Lock und Judith Farquhar von einem „neuen Materialismus“ in anthropologischen Arbeiten, die auf unterschiedliche Weise zur Öffnung der black box Körper beigetragen haben. (Lock und Farquhar 2007: 10ff.) Mit der Entwicklung eines neuen Materialismus identifizieren Lock und Farquhar unter anderem Arbeiten, die den Körper als Objekt medizinischer beziehungsweise lebenswissenschaftlicher Praxis thematisieren und die vielfältigen Ko-Produktionsprozesse des Körpers in den Blick nehmen. Diese Arbeiten sind Teil einer sich seit den 1990er Jahren entwickelnden Anthropology of Science and Technology.7 Körper werden hier nicht als gegebene natürliche Entitäten verstanden, die der Wissenschaft und der Medizin zur Bearbeitung zur Verfügung stehen, sondern als in den verschiedenen Labor-, Klinik- und anderen lebenswissenschaftlichen Praktiken ko-produziert. Wissenschaft wird in diesen anthropologischen Arbeiten aber vor allem als integraler Teil von Gesellschaft in den Blick genommen und deren komplexe Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Arenen thematisiert. (Downey und Dumit 1997; Rapp 1997) Produktiv waren hier unter anderem kulturvergleichende Arbeiten, die die wissenschaftlichen/medizinischen Konzeptualisierungen und Praktiken von Körperlichkeit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten herausgearbeitet haben. (Leibing 2002; Lock 1993b, 2002) Anthropologische Arbeiten waren zudem sehr früh daran interessiert, nicht nur die Produktionsseite von Wissenschaft, sondern ebenso die Perspektive der Konsumenten und Nutzer zu erfassen und diese ebenfalls als reflektierte Experten ernst zu nehmen. (Beck 2009; Martin 2007) Gemein ist diesen Arbeiten, dass sie den vielfältigen Verflechtungen und Pfaden wissenschaftlicher, politischer, kultureller, ökonomischer und sozialer Faktoren nachgehen und die multiplen Wirkungen auf die Selbstverständnisse, lokalen Lebenswelten und Körperlichkeit von Menschen zeigen können. (Biehl 2007; Dumit 2004; Petryna 2011)
haben. (Foucault 1988 [1963], 1994 [1975]) Einerseits rücken dadurch Disziplinierungs- und Überwachungspraktiken in den Vordergrund; zugleich, und dies spielte insbesondere in den späteren Arbeiten Foucaults eine Rolle, kommen SelbstTechnologien auch als Körper-Technologien in den Blick. (Foucault 1993) 7
Hier kann ich wiederum nur auf weiterführende Einführungs- und Überblickstexte verweisen, die dieser komplexen Entwicklung Rechnung tragen: Beck et al. 2012; Downey und Dumit 1997; Franklin 1995; Hess und Layne 1992; Kontopodis et al. 2011; Traweek 1993.
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Um diese Ko-Produktionsprozesse hervorzuheben, hat Margaret Lock den Begriff der „lokalen Biologien“ (Lock 2001) geprägt: „Local biologies refers to the way in which the embodied experience of physical sensations, including those of well-being, health, illness, and so on, is in part informed by the material body, itself contingent on evolutionary, environmental, and individual variables.“ (Ebd.: 483) Lock beschreibt dies als embodiment, als Prozess der Verkörperung, der von lokalen Wissens- und Erfahrungskategorien geformt wird und damit grundlegend lokal situiert zu verstehen ist. „If embodiment is to be made social, then history, politics, language, and local knowledge, including scientific knowledge to the extent that it is available, must inevitably be implicated. (...) the biological and the social are coproduced and dialectically reproduced, and the primary site where this engagement takes place is the subjectively experienced, socialized body.“ (Ebd.: 484)
In diesem Verständnis von embodiment wird nicht ausschließlich die Transformation subjektiver (Körper-)Erfahrung beschrieben, sondern auch der Körper-als-Organismus und seine Konstituierung durch wissenschaftliches Wissen in die anthropologische Fragestellung mit eingeschlossen. Die vielfältigen Ko-Produktionen werden sowohl in ihrer lokalen kulturellen Bedingtheit und dem individuellen Erleben thematisiert, als auch nach den historisch geformten wissenschaftlichen wie auch gesundheitspolitischen und -ökonomischen Kontexten befragt. (Biehl und Moran-Thomas 2009; Rapp 1997) Diese Perspektive betont die Situiertheit von Körpern, aber zugleich auch deren Verflechtung mit Entwicklungen, die über den konkreten individuellen Körper in alltäglichen Praktiken hinausgehen. Diese Perspektive, die mir ermöglicht, den Spuren der Ko-Produktion von wissenschaftlichen Diskursen, klinischen Praktiken und dem Körperwissen der Betroffenen nachzugehen, ergänze ich mit anthropologischen Ansätzen, die den Blick stärker auf die phänomenologische Ebene und die Transformationen des Körpererlebens richten. Dies ist kein Kontrast zu den oben genannten Arbeiten, die gerade diesen Aspekt ebenfalls mitthematisieren; vielmehr verschieben die im nächsten Abschnitt beschriebenen Arbeiten den Maßstab und heben die konkreten Transformationsprozesse von Erleben auf der Mikroebene hervor. Es geht mir dabei um Konzepte, die problematisieren, wie das Erleben in den Koproduktionsprozessen von psychiatrischer Expertise und klinischer Behandlungspraxis konkret bearbeitet und transformiert wird.
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Der „gelebte Körper“ als situierte Praxis Mit dem Begriff des neuen Materialismus verweisen Lock und Farquhar zudem auf Arbeiten, die den gelebten Körper in seiner Materialität ernst nehmen. Hierzu zählen phänomenologisch inspirierte Ansätze, wie sie gerade in medizinanthropologischen Arbeiten für die ethnografische Forschung seit den 1980er Jahren produktiv gemacht wurden. (Csordas 1994; Good et al. 1994; Kleinman 1995; Low 1994) Insbesondere Autorinnen, die sich einer Erfahrungsnahen Analyse verschrieben, griffen auf phänomenologische Prinzipien und Konzepte zurück, die sich für die Beschreibungen von Krankheitserfahrungen und einer damit verbundenen Auseinandersetzung mit Körperlichkeit anboten. Diese Arbeiten zielten auf die Kritik einer strukturalistischen und kognitiven Anthropologie ab, die den Körper-Geist-Dualismus reproduzierte, indem sie den Körper primär als Vehikel für kulturellen Ausdruck und Symbolisierungen beschreibe, dessen grundlegende biologische Konstitution nicht in Frage gestellt wird. Mit Referenzen zur Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys sowie zum Pragmatismus entwickelten verschiedenen Autoren Ansätze, in denen die gelebte Erfahrung, vor allem im Sinne einer körperlichen, zum Ausgangpunkt wurde. (Csordas 1990, Pandolfi 1991; Becker 1997) Der Körper wird zu dem Ort, „where intention, meaning, and all practice originate“ (Lock und Farquhar 2007: 6). Während körperliche Wahrnehmung und Praxis in der Regel routiniert und unproblematisch ablaufe, so der Tenor in diesen Arbeiten, seien es insbesondere Krankheitserfahrungen, in denen sich der Körper auf spezifische Weise bemerkbar mache. Kritisiert wurde an phänomenologisch orientierten Arbeiten allerdings eine erneute Hinwendung zu subjektivistischen Ansätzen in der Anthropologie, die gerade nicht zu einer Überwindung dualistischer Konzeptualisierungen beitragen, sondern diese im Gegenteil potentiell noch verstärken würde. (Lock und Farquhar 2007: 9) Wie ich im letzten Kapitel in der Diskussion des Erfahrungsbegriffs in der Anthropologie bereits diskutiert habe, erscheint es problematisch, von einer universellen menschlichen subjektiven Erfahrung auszugehen. Damit einher geht insbesondere die methodologische Frage: Wie kann man die phänomenologische Ebene des In-der-Welt-Seins anderer Menschen überhaupt erfassen? (Desjarlais und Throop 2011) Robert Desjarlais, dessen Arbeit über ein Obdachlosenwohnheim für psychisch Kranke in Boston ich bereits mehrfach aufgegriffen habe, schlägt in seiner Ethnografie eine „kritische Phänomenologie“ vor, die gerade die ökonomischen und politischen Dimensio-
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nen gelebter Erfahrung ins Zentrum der Analyse stellt.8 Er betont, dass nicht mehr ausschließlich die Frage, wie Menschen sich fühlen, denken und die Welt erfahren, im Zentrum anthropologischer Arbeiten stehen sollte, sondern wie diese Prozesse des Denkens, Fühlens und Erfahrens konstituiert werden. Desjarlais kritisiert die in phänomenologischen Arbeiten unreflektierte Fokussierung auf eine a priori gesetzte „gelebte Erfahrung“ (Desjarlais 1997: 24). Gerade Konzepte wie Erfahrung, Emotion, Agency dürften nicht einfach vorausgesetzt, sondern müssten immer „in Klammern“ gesetzt werden, gerade weil sie auf Vorannahmen der modernen westlichen Philosophie verweisen. Damit würden „kritische“ phänomenologische Arbeiten gerade nicht mehr auf ein Subjekt zentriert argumentieren, sondern könnten die Gleichzeitigkeit von „Körper werden“, im Sinne eines Verständnisses von Körper-Sein als kontinuierlichen Prozess, und „zum Körper gemacht werden“ im Sinne der Wirkungen, die den Prozess des Körper-Werdens ko-produzieren, analysieren. Meines Erachtens ist diese Verschiebung, wie sie Desjarlais einfordert, radikaler, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Das Objekt der Untersuchung zwischen klassischen phänomenologischen Ansätzen und einer kritischen Phänomenologie unterscheidet sich grundsätzlich: Nicht mehr die verkörperte, präobjektive subjektive Erfahrung als grundlegendste Essenz des Mensch-Seins steht im Zentrum, sondern die Prozesse der Formierung, die den Blick so gerade von jeglicher Essenz abwenden und damit in der Lage sind zu fragen, wie diese Essentialisierungen wie Subjektivierungen und Objektivierungen (re-)produziert werden. Übertragen auf die Frage nach Körperlichkeit in psychischen Erkrankungen bedeutet dies, nicht mehr nach einem essentiellen körperlichen In-der-Welt-Sein zu fragen, sondern danach, wie dieses Körpererleben kontinuierlich hergestellt wird. Desjarlais’ kritische Phänomenologie ist damit besonders anschlussfähig an die oben referierten Ansätze einer Anthropology of Science and Technology, indem
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Ebenfalls für eine „kritische Phänomenologie“ plädiert der Medizinanthropologe Byron Good. (Good 1994) Anstelle den Fokus der Beschreibung darauf zu legen, „wie sich etwas anfühlt“ sollte man danach fragen, „how dimensions of the perceived world are ,unmade‘, broken down or altered, as a result of serious illness, as well as on the restitutive processes of the ,remaking‘ of the world; (ebd.: 131) Er beschreibt diese analytische Zuspitzung als „kritische Phänomenologie“, die sich vor allem den Praktiken und Ideologien, die Körpererfahrungen ko-konstituieren, widmet. Allerdings geht er nicht soweit wie Desjarlais, eine universelle menschliche körperliche Erfahrungsebene in frage zu stellen oder die Fokussierung auf das Subjekt zu kritisieren.
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er zwar Körpererleben ins Zentrum der Analyse stellt, dieses aber aus einer individualistischen, subjektivistischen Umklammerung herauslöst. Während Desjarlais in seinen Arbeiten den Blick vor allem auf ökonomische und politische Aspekte in diesen Formierungsprozessen lenkt, interessiert mich in erster Linie, wie im klinischen Alltag psychiatrische Expertise als spezifisches Körperwissen praktisch auf Körper und das Körpererleben der Betroffenen einwirkt. Produktiv erscheint mir hierfür eine Verbindung von Desjarlais’ kritischer Phänomenologie mit den Ansätzen Tim Ingolds, wenngleich beide Anthropologen mit unterschiedlichen Anliegen phänomenologische Ansätze aufgreifen und kritisch weiterentwickeln. Ingold, der in phänomenologischen Ansätzen ebenfalls eine für die Anthropologie produktive Möglichkeit sieht, strukturalistische Erklärungsmodelle von Körperlichkeit zu überwinden und die verkörperten Lernprozesse von Erkenntnis zu betonen, problematisiert ebenfalls die Gefahr der Reproduktion eines Dualismus zwischen einem nunmehr (sozialen) KörperSubjekt versus einem (biologischen) Organismus-Objekt. Dem hingegen betont Ingold, dass man embodiment nicht einseitig als Repositionierung des Körpers in den Bereich des Subjektes und auf Seite der Kultur thematisieren sollte; genauso gut könnte man von enmindment sprechen und beides – embodiment und enmindment – als verschiedene Beschreibungen des gleichen Prozesses thematisieren: „namely, the environmentally situated activity of the human organismperson.“ (Ingold 2000: 171) Die zentrale Frage wäre, „how people perceive, act, think, know, learn and remember within the settings of their mutual, practical involvement in the lived-in world“ (ebd.). Wie ich in der Einleitung meiner Arbeit ausgeführt habe, geht es Ingold um eine relationale Sicht auf den Menschen als Organismus-in-der-Welt: Embodiment (oder enmindment) ist als kontinuierlicher situierter Lernprozess zu verstehen, der die Materialität des „Mensch-Körpers“ ebenso ernst nimmt wie die der Umwelt. Diesen Lernprozess beschreibt Ingold als education of attention: „Placed in specific situations, novices are instructed to feel this, taste that, or watch out for the other thing. Through this fine-tuning of perceptual skills, meanings immanent in the environment – that is in the relational context of the perceiver’s involvement in the world – are not so much constructed as discovered.“ (Ingold 2000: 22)
In diesem Sinne ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers als kontinuierlicher Lernprozess zu verstehen. Versteht man Patienten als „Novizen“ im Umgang mit „verrückten“ und medikalisierten Körperwahrnehmungen, lässt sich mit Ingold fragen, wie die Betroffenen im soziomateriellen Setting der Klinik kontinuierlich aufgefordert werden, ihren Körper (neu) kennen zu lernen und (richtig) zu deu-
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ten. Wie wird „sich dem Körper widmen“ im (sozial-)psychiatrischen Alltag gelernt und gelehrt? Dies betrifft sowohl die Praktiken des Wahrnehmens, Artikulierens und Interpretierens von Körperlichkeit als auch die damit einhergehenden Praktiken der Intervention, wobei im Ingold’schen Verständnis Wahrnehmung und Handlung gekoppelt sind. Diese Diskussion von embodiment als situiertes Lernen in einer konkreten Umwelt – und sei dies eine psychiatrische Station eines Berliner Bezirkskrankenhauses – ermöglicht das Wie der Transformationsprozesse von Körpererleben in den Fokus zu rücken und dabei die längerfristigen Lernprozesse herauszuarbeiten. Der Körper als materiell-semiotische Praxis Während sich anthropologische Arbeiten tendenziell stärker mit den lokalen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten und Konsequenzen lebenswissenschaftlicher Formierungsprozesse für den gelebten Körper auseinandergesetzt haben (Hess 1992), steht im Vordergrund praxiografischer Forschungen vor allem das doing bodies in technowissenschaftlichen Kontexten wie Laboren oder Kliniken. Wie in der (Medizin-) Anthropologie wird die Trennung in Körper, Objekt, Natur auf der einen Seite und Geist, Subjekt, Kultur auf der anderen Seite als historische und diskursive Konstruktion und vor allem als immer wieder praktisch herzustellendes Phänomen problematisiert. (Hirschauer 2004; Mol 2002; Mol und Law 2004;) Für die Beschreibung von Körperlichkeit wird hier auf theoretisches Werkzeug zurückgegriffen, das in den STS in der Auseinandersetzung mit der grundlegenden „materiellen Heterogenität“ (Berg und Akrich 2004: 2) von Praktiken insbesondere in technowissenschaftlichen Kontexten bereits vielfach herausgearbeitet wurde. (Callon 1999 [1986]; Latour und Woolgar 1986 [1979]) Körper werden ebenso wie Artefakte als Akteure bzw. als Partizipanden (Hirschauer 2004)9 in Praktiken anerkannt, die nicht einfach als sozial oder physisch vorausgesetzt werden können, sondern in diesen materiell-semiotischen Praktiken ko-produziert werden. (Mol und Berg 1998) So
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Mit dem Begriff des Partizipanden problematisiert Hirschauer die Gleichsetzung von Artefakten und Körper; seines Erachtens hätten Arbeiten in der Tradition von ANT den Körper zugunsten der Artefakte vernachlässigt, und zwar auch aus dem „theoriesystematischen Grund [...], dass der Körper nicht in die Leitunterscheidung von Humans und Non-Humans passt.“ (Hirschauer 2004: 74) Er schlägt vor eine partizipatorische Theorieperspektive einzunehmen: Körper wie Menschen wie Artefakte partizipieren auf unterschiedliche Weisen und mit unterschiedlichen Beiträgen in Praktiken.
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diskutieren die beiden Medizinsoziologen Mark Berg und Madeleine Akrich, wie der Dualismus von Körper/Geist bzw. die dualistische Definition einer Person in den vielfältigen Praktiken immer wieder hervorgebracht werden muss. In diesen Praktiken zeigen sie sich weniger permanent und offenbaren zugleich vielfältige andere Modi von „body presences ranging von objectivation to subjektivity“ (Berg und Akrich 2004: 5). Dies erlaube, die vielfältigen partiellen Erzeugungen (partial instantiations) von Körpern und deren grundlegend tentativen und niemals selbstverständlichen Verbindungen ernst zu nehmen. Von verschiedenen Autorinnen wird sich mit einer praxiografischen Perspektive explizit von phänomenologischen Ansätzen abgegrenzt. Ähnlich wie im vorherigen Absatz von Lock und Farquhar sowie Ingold eine erneute Hinwendung zu subjektivistischen Perspektiven problematisiert wird, die den KörperOrganismus wiederum den Naturwissenschaften überlassen, kritisieren beispielsweise Latour (Latour 2004) oder Hirschauer (Hirschauer 2004), dass die Phänomenologie eine subjektive „Körper-Essenz“ postuliere und damit den Körper-Geist-Dualismus wiederum untermauert habe. Dem hingegen biete sich mit dem Fokus auf Praktiken eine dezentrierte Perspektive, die jegliche Voraussetzung ausklammern müsse und die vielfältigen, auch repräsentationalen (im Sinne wissenschaftlich-objektivierender) Herstellungspraktiken des Körpers analysieren könne. Wie Mol argumentiert, werden in klinischen Praktiken Körper unterschiedlich enacted und Körper damit grundlegend multipel. (Mol 2002) Diese Perspektive könne damit sowohl die Praktiken des Hervorbringens von Körpern, sei es im Labor (Mol 1998), in der Klinik (Hirschauer 1991; Pols 2010), zu Hause (Moser 2005; Willems 2000) oder im Pflegeheim (Moser 2006; Pols 2005), beschreiben als auch „Körper-Sein“ als spezifische Form den Körper zu wissen. (Mol und Law 2004; Pols 2010) Den eigenen Körper zu fühlen wird damit eine unter vielen Praktiken, den Körper zu wissen. Insbesondere bei chronischen Erkrankungen, wie Mol in The Logic of Care (Mol 2008) betont, müssen sich sowohl die Patientinnen als auch die Behandelnden dem Körper kontinuierlich widmen. Ziel könne es nicht sein, einen unproblematischen bzw. wieder gesunden Körper herzustellen, wie sie am Beispiel von Menschen mit Diabetes herausarbeitet; sich dem Körper im Sinne einer Logik des Versorgens zu widmen sei vielmehr „a matter of attending to the balances inside, and the flows between, a fragile body and its intricate surroundings“ (Mol 2008: 34). Dies erfordere eine kollektive und geduldige Aufmerksamkeit (attentiveness) gegenüber dem Körper. Kollektives Körperwidmen, so Mol, setze einen aktiven Patienten voraus, der gleichzeitig hartnäckig und anpassungsfähig ist. (Ebd.: 82) Diese Perspektive ermöglicht das Körperwissen der Patienten und das Körperwissen der Professionellen gleichzeitig in den Blick zu nehmen und sowohl
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stärker rezeptiv als auch interventiv ausgerichtete Praktiken in konkreten Alltagssituationen differenziert zu beschreiben. In diesen knappen Skizzen der drei verschiedenen Ansätze in der Analyse und Theoretisierung von Körpern wurden grundlegende Gemeinsamkeiten, aber ebenso unterschiedliche Schwerpunktsetzungen deutlich. Im folgenden Abschnitt werde ich diese drei Argumentationslinien noch einmal zusammenführen und diskutieren, wie sich diese Ansätze für meine Arbeit produktiv ergänzen. Wie man sich dem Körper widmet Die verschiedenen Ansätze, die ich auf den letzten Seiten vorgestellt habe, haben als zentralen gemeinsamen Nenner einen Blick auf Körper und Körperlichkeit als Ergebnis von Produktions- und Konstitutionsprozessen, die sowohl das Arbeiten am Körper als auch das Leben mit dem Körper umfassen. Körper und Geist, Natur und Kultur, Objekt und Subjekt werden dabei nicht als gegebene Entitäten vorausgesetzt, sondern in ihren vielfältigen Herstellungsprozessen diskutiert. Kritische phänomenologische Ansätze sowie Arbeiten, die einer Anthropology of Science and Technology zuzurechnen sind, beschreiben und problematisieren vor allem die vielfältigen Ko-Produktionsprozesse von Körperlichkeit und Körpererleben, die aber über die subjektive Erfahrung hinausgehen und historisch geformte, wissenschaftliche wie politische und ökonomische Faktoren in der Formierung und Transformierung von Körpern thematisieren. Praxiografische Ansätze wiederum fokussieren auf die konkreten Praktiken und Situationen, in denen Körper enacted werden, und stellen dabei grundlegend das Wie von Konstituierungs- und Formierungsprozessen in den Vordergrund. Die vorgestellten Denkrichtungen betonen somit die Prozessualität und Relationalität von Körpern, allerdings unterscheiden sie sich in zwei Aspekten, die ich unter den Stichworten Emergenz und Persistenz diskutieren möchte. Dabei geht es mir erstens um die Frage, wie die kulturelle und historisch spezifische Einbettung der Hervorbringungspraxis von Körper jeweils thematisiert wird und damit die Persistenz von (wissenschaftlichen) Körper-Konzeptualisierungen analytisch berücksichtigt werden kann; zweitens interessiert mich in meiner Analyse von Körperlichkeit in psychischen Erkrankungen vor allem die Wirkung psychiatrischer Expertise und deren Konsequenzen für das Erleben psychischer Erkrankung. Persistenz meint in diesem Sinn die längerfristigen Lerneffekte, die sich für die Betroffenen ergeben. Zum ersten Punkt: Wie ich gezeigt habe, spielt in anthropologischen Auseinandersetzungen mit der Situiertheit und Prozesshaftigkeit von Körpern immer auch die historische wie kulturelle Einbettung dieser Prozesse eine Rolle, wie
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beispielsweise in Locks Konzept der lokalen Biologien. Dem hingegen fokussieren praxiografische Arbeiten zum Körper auf die konkreten Praktiken der Hervorbringung von Körpern und produzieren in ihrer Priorisierung von Emergenz vor allem Momentaufnahmen dieser Herstellungsprozesse. Damit bleibt der praxiografische Fokus der Situation, dem Ereignis verpflichtet und erscheint oftmals im historischen wie kulturellen „Überall und Nirgendwo“ angesiedelt. Ethnografische Arbeiten, wie ich sie oben erläutert habe, interessieren sich hingegen gerade für die vielfältigen kulturellen, politischen, historischen, ökonomischen Entwicklungen, die das jeweilige enactment bedingen. Insbesondere mit einer kritisch-phänomenologischen Perspektive, wie sie Desjarlais vorschlägt, lässt sich auf der Mikroebene der Alltagspraktiken zeigen, wie Menschen in psychiatrischen Behandlungs- und Versorgungspraktiken auf spezifische Art und Weise dazu angehalten werden, sich ihrem Körper auf eine bestimmte Art und Weise zu widmen. Diese Behandlungspraktiken sind dabei selbst Ergebnis von vielfältigen Übersetzungsprozessen von wissenschaftlichen Fachdiskursen in klinische Alltagspraxis. Um beispielsweise differenziert herauszuarbeiten, wie Medikamente in der klinischen psychiatrischen Behandlung zum Einsatz kommen und als Teil der Choreografie auf Körper einwirken, ist ein Einblick in sozialpsychiatrische Diskurse zu Psychopharmakotherapie und deren Bedeutung im klinischen Kontext meines Erachtens unerlässlich. Ich werde zeigen, wie sozialpsychiatrische Konzeptualisierungen des Biopsychosozialen dabei bestimmte Konzepte von Körperlichkeit reproduzieren und diese in Praxis wirksam werden. In den konkreten Alltagssituationen ist bereits nur noch ein lokal spezifisches Repertoire an Praktiken möglich, das nicht beliebig oder zufällig ist, sondern im Kontext bestimmter Fachtraditionen zu verstehen ist. Mich interessieren die Schliessungen der Möglichkeiten von Körperwidmungen, das „diskursive Hinterland“ (Law 2004), das eine scheinbar selbstverständliche und legitime Auswahl psychiatrischer Behandlungspraktiken produziert und dabei von kulturellen Werten und sozialen Normen durchdrungen ist. Der Fokus meiner Arbeit sowohl auf die Choreografien als auch auf die sich ergebenden Pfade psychiatrischer Versorgung zielt auf die verschiedenen Übersetzungsleistungen und Loopings von (historisch geformter) psychiatrischer Expertise, klinischen Behandlungspraktiken und den Selbstverständnissen und Alltagswelten der Betroffenen. Dies verweist auf den zweiten Aspekt, den ich mit der Verbindung der beschriebenen Theoretisierungen erreichen möchte: Mit dem Fokus auf Situationen des enactment kommt den längerfristigen Lernprozessen, die in diesen Situationen aktualisiert, aber auch geformt werden, wenig Aufmerksamkeit zu. Der disziplinierende Charakter des sozialpsychiatrischen Choreografierens zeigt
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sich jedoch gerade in diesen kontinuierlichen Prozessen. Körperpraktiken als Lehr- und Lernprozesse ernst zu nehmen bedeutet deshalb den Fokus auf den Event zu verlassen und die Konsequenzen, die sich durch eine education of attention (Ingold) längerfristig ergeben, zu problematisieren. Die Verbindung einer diachronen Perspektive mit einem Fokus auf synchrone Prozesse soll dabei keine lineare Entwicklung oder eine unproblematische Kontinuität suggerieren. In den Erzählungen der Betroffenen zeigt sich, dass diese Lernprozesse immer wieder unterbrochen werden oder stagnieren, sich wiederholen und neue Richtungen einschlagen können. Mir geht es nicht um ein Nacherzählen einzelner Patientenkarrieren, sondern um die verschiedenen Übersetzungen und Wirkungen auf Körperwahrnehmung und Körperwissen. In der Verbindung von Ansätzen, die die Prozesse des Herstellens wie des Werdens thematisieren, wird es möglich, die dauerhaften Wirkungen und sich eröffnenden und schließenden Pfadmöglichkeiten in den Blick zu bekommen. Die Situiertheit von Körperpraktiken bedeutet diese Verbindungslinien ernst zu nehmen: das Körpererleben/das Körperwissen der Betroffenen wird von den lokalen psychiatrischen Praktiken in der Klinik mit geformt. Da dies keine linearen Prozesse sind, denen ich chronologisch nachgehen kann, werde ich in den folgenden empirischen Teilen auf unterschiedlichen Ebenen die jeweiligen Loopings herausarbeiten. Im folgenden Abschnitt zu den Erzählungen von drei Betroffenen werde ich zum einen verdeutlichen, wie sich Körperlichkeit aufgrund psychischer Erkrankungen verändert. Zum anderen zeigt sich in den Erzählungen, wie präsent psychiatrische Expertise in der Wahrnehmung und Interpretation von Körperwissen der Betroffenen ist.
W IE SICH PSYCHISCHE E RKRANKUNGEN KÖRPERLICH ANFÜHLEN : D REI E RZÄHLUNGEN Die folgenden Erzählungen handeln von drei Menschen, mit denen ich während ihrer stationären Behandlung und nach ihrer Entlassung intensiveren Kontakt hatte: Angelika Siebert, Martin Lehmann und Olaf Mattes.10 Das Thema Körper
10 Martin Lehmann hatte ich bei meiner ersten Feldforschung in der Klinik kennen gelernt und mit ihm anschließend über einen Zeitraum von vier Jahren regelmäßig, d.h. mehrmals im Jahr Kontakt. Olaf Mattes und Angelika Siebert lernte ich bei meiner letzten Feldforschung in der Mittendamm-Klinik kennen. Während sich der Kontakt zu Olaf Mattes auf einige Treffen nach seiner Entlassung beschränkte, blieb der Kontakt zu Angelika Siebert über die Feldforschung hinaus bestehen. Ich hatte
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wurde dabei in unseren Gesprächen manchmal zum expliziten Thema, oftmals waren es jedoch Nebenbemerkungen und Beobachtungen, durch die ihre „Körperwidmung“ zum Vorschein kam. Deutlich wird in den Erzählungen, dass psychische Erkrankungen von den Betroffenen körperlich verspürt werden. Dabei geht es nicht um eine Umdeutung von psychischen Problemen in körperliche Gebrechen, wie ich es im letzten Kapitel unter dem Stichwort „Somatisierung“ diskutiert habe, noch handelt es sich um rein metaphorische Umschreibungen. Wie vor allem die erste Geschichte zeigt, sind psychische Erkrankungen für die Betroffenen nicht nur psychische Probleme, sondern mit körperlichen Empfindungen verbunden. Der Umgang mit einer psychischen Erkrankung bedeutet daher, sich (wieder) spüren zu lernen, auch im Sinne von körperlicher wie emotionaler Belastbarkeit. Die neue Empfindsamkeit und die veränderten Grenzen der (medikamentierten) Körper lassen sich dabei kaum ignorieren: Für die Betroffenen gibt es keine Möglichkeit, sich dem Körper nicht zu widmen. In der Wieder-Herstellung eines Gleichgewichts sind Medikamente und deren Wirkung (sowohl pharmakologisch intendierte Wirkungen wie auch unerwünschte Nebenwirkungen) aktiv beteiligt. Gerade da Psychopharmaka bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedliche Wirkungen entfalten können, muss die Dosis und Verträglichkeit immer wieder individuell angepasst werden. Wie in den Erzählungen ebenfalls thematisiert wird, bedeutet eine optimale Einstellung der Medikation für Patienten mitunter etwas ganz anderes als für die Professionellen. Die folgenden Narrative sind Verdichtungen, in denen ich den Erzählungen der drei Menschen viel Raum gebe, die ich mit meinen Beobachtungen ergänze.11 Wenn man den Boden unter den Füßen nicht mehr spürt Angelika Siebert war für ein knappes Jahr in stationärer Behandlung in der Mittendamm-Klinik. Die Ärzte hatten von Anfang an beschlossen, ihr in der Behandlung viel Zeit zu geben und möglichst wenig Druck bezüglich der Entlassung auszuüben. In ihren früheren Behandlungen in einer anderen Klinik hatten sich viele kurze Aufenthalte aneinandergereiht, ohne dass es zu einer grundlegenden Verbesserung ihrer psychischen Probleme gekommen wäre. Angelika
mit drei weiteren Personen ebenfalls „poststationäre Kontakte“ angebahnt, allerdings aus unterschiedlichen Gründen in dieser Arbeit nicht ausführlich berücksichtigen können. 11 Die wörtlich zitierten Passagen entstammen größtenteils transkribierten Interviews; ein paar wenige wörtliche Zitate sind Gedächtnisprotokolle, die ich nach Gesprächen erstellt habe.
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Siebert lebt seit etwa zwanzig Jahren mit der Diagnose paranoide Schizophrenie und leidet zudem seit Jahren an zunehmenden Angstzuständen und verschiedenen Phobien, die so weit führten, dass sie in dem Jahr vor ihrer Behandlung in der Mittendamm-Klinik ihr Zimmer in einem Wohnheim für psychisch Kranke kaum noch verlassen hatte. Ein Freund, den sie seit vielen Jahren kennt, hatte schließlich beschlossen, dass es so nicht mehr weiterginge, und sie – mit ihrem Einverständnis – in die Klinik gebracht. Zentraler Bestandteil der Therapie war ein Trainingsprogramm, im Rahmen dessen Angelika Siebert kontinuierlich ihren Bewegungsradius wieder erweitern sollte. Zudem wurde in der Klinik schrittweise die Dosis der Medikation, ein Antipsychotikum, reduziert. In der Klinik hatte ich Angelika Siebert des Öfteren auf ihren Trainingsrunden begleitet. Anfangs war das Ziel, innerhalb des Klinikgeländes immer weitere Runden zu drehen und die Ängste, die letztendlich dazu geführt hatten, dass sie ihr Zimmer in einem Heim für psychisch Kranke nicht mehr verlassen hatte, zu überwinden; später erweiterte sich ihr Radius über das Klinikgelände hinaus. Auch in die Werkräume der Ergotherapie im zweiten Stock zu gelangen war eine große Herausforderung; sie verspürte im Treppenhaus immer wieder, was sie als Sog bezeichnete: den übermächtigen Drang sich die Treppen hinunter oder aus dem Fenster zu stürzen. Panikattacken, ein plötzlicher Sog, führten ebenso dazu, dass sie ihre Runden abbrechen musste. Sie könnte dann einfach keinen Schritt mehr tun, weil sie – wie sie mir bei einer unserer Runden erklärte – den Boden dann nicht mehr spüre, als wären ihre Fußsohlen aus Watte und sie hätte keinen Halt mehr. Nach ihrer Entlassung und Rückkehr in das Wohnheim besuchte ich sie des Öfteren und drehte mit ihr in der dortigen Umgebung einige Runden. Nach einigen Monaten vereinbarten wir, dass sie zu mir nach Hause zu einem Interview kommen würde. Ich holte sie mit dem Auto ab – öffentliche Verkehrsmittel kann sie aufgrund ihrer Ängste nicht benutzen – und völlig problemlos schaffte sie es zu mir in die Wohnung im dritten Stock. Für sie war die Möglichkeit, mal wieder in einer „normalen“ Wohnung zu sein, mit mir in der Küche Tee zu trinken, etwas ganz Besonderes, wie sie mir immer wieder erklärte. Anders als in ihrem Zimmer im Wohnheim wäre es so schön warm, dort konnte sie die Heizung nicht selbst kontrollieren und fror regelmäßig. Ich hatte sie gebeten, mit mir explizit über das Thema Körperlichkeit psychischer Erkrankungen zu sprechen. Zu Beginn fragte ich sie insbesondere nach dem Gefühl, das sie während ihrer Angstzustände hatte. „Dann hatte ich keinen Halt mehr, ich hab irgendwie den Boden nicht mehr gespürt. Und wenn ich keinen Halt mehr verspüre, dann merk ich, das schaff ich nicht mehr. Ich muss dann irgendwohin, wo ich wieder sicher bin. Aber dieses Gefühl ist ja so gut wie weg,
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Gott sei Dank. Letztendlich dadurch, dass ich mir das wieder erobert habe, viel draußen zu sein. Und dadurch ist das Fremdheitsgefühl nicht mehr so stark. Ich konnte mich ja in dem Zustand von dem Ort, an dem ich mich geschützt und geborgen gefühlt habe, überhaupt nicht mehr entfernen. Das habe ich lange trainiert. Du siehst ja, wie locker ich geworden bin.“
Der Sog sei mittlerweile ebenfalls fast vollständig weg, dank des regelmäßigen Treppenhaustrainings, das sie mit der Ergotherapeutin im Heim mache. Die würde sie immer fordern und motivieren, aber sie mit ihren Ängsten auch ernst nehmen, das wäre wichtig. „Manchmal im Treppenhaus, ja, da gibt’s manchmal Momente; aber dann weiß ich, im Haus, da bin ich sicher, da gibt’s Medikamente, da gibt’s Leute, die sind da. Es gibt schon Momente, wo ich das nicht kann. Das ist so eine Haltlosigkeit, so eine Unsicherheit, aber in den zweiten Stock geh ich immer. Und wenn Sachen ein bisschen zu anstrengend waren, dann hol ich mir dann Bedarf; das entspannt mich dann wieder. (...) Aber insgesamt, ja, wie soll ich das jetzt formulieren? Ich hab viel mehr Sicherheit bekommen, viel mehr Stabilität; auch weil mein sozialer Rahmen gefestigt ist. Weil ich im Haus Menschen hab, mit denen ich reden kann, wenn was ist.“
Aus ihrer Sicht sind es verschiedene Aspekte, die ihr helfen, mit ihren Ängsten umzugehen. Zum einen der „soziale Rahmen“, wie sie es nennt, Menschen, denen sie vertraut, die sie ernst nehmen, oder einfach die sozialen Kontakte mit den anderen Menschen im Heim. Zum anderen die Medikamente, die sie einnimmt: die festangesetzten Antipsychotika sowie der erwähnte Bedarf, ein Medikament, das zusätzlich genommen werden kann, um in akuten Situationen eine Entspannung herbeizuführen. So wie sich in ihren Beschreibungen der Angstzustände eine körperliche Unsicherheit mit einer psychischen Unsicherheit vermischt – den Boden unter den Füßen zu verlieren meint ein für sie reales Körperempfinden und zugleich eine emotionale Hilflosigkeit –, ist es in der Bekämpfung dieser Ängste ebenfalls beides: Medikamente und Menschen, die ihr wieder Sicherheit verschaffen. Wir reden etwas ausführlicher über die Bedarfsmedikation. Wie oft sie den Bedarf einnehme, frage ich nach. „Das ist ein bisschen ein Thema. Also verschrieben ist es für dreimal am Tag, so oft kann ich mir den Bedarf holen. Manchmal trau ich mich gar nicht zu fragen, weil die [Mitarbeiter im Heim] sagen dann: ‚Lassen Sie sich doch das ansetzen‘ [als feste Medikation verschreiben]. Aber es gibt ja auch mal Tage, wo ich das nicht nehme, einen Tag, zwei Tage, fünf Tage gab es auch schon mal. Da denk ich mir dann immer, das brauchst du
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jetzt nicht, das schaff ich so. Aber Bedarf ist eben Bedarf, und wenn ich das dreimal am Tag brauche, dann ist das okay. Aber wenn ich mir das fest ansetzen lasse, dann ist es festgelegt. Wenn ich das dann früher brauche oder gar nicht nehmen möchte, dann ist das wieder so ein Thema.“
Sie erzählt weiter von der Wirkung, die sie dann spürt: „Wenn ich meinen Bedarf nehmen muss, dann fängt das an zu kribbeln, im Körper fängt es an zu kribbeln; in den Beinen und hier [sie zeigt auf Oberarme und Oberkörper], aber mehr körperliche Symptome hab ich nicht; Gott sei Dank bin ich sehr entspannt, was die Körperhaltung angeht. Bei vielen erkennt man das, die ganz zugekrampft sind, ganz angespannt sind. Da haben wir viele im Haus, da sieht man das, da weiß man das gleich. Da bin ich wirklich sehr froh, dass man mir das nicht ansieht, da kann ich dankbar für sein, dass man mir das nicht ansieht. Bei mir im Haus, da gibt’s Leute, die müssen immer hin und her laufen; unter uns fällt das ja keinem auf; bei uns im Haus da dürfen alle so sein, wie sie sind; da gibt es einen, der läuft immer hin und her und lacht vor sich hin und so. Ein anderer, der hat ganz viel nervöse Unruhen, ganz nervöse Ausstrahlung, kann nicht lang ruhig sitzen. Anspannung seh ich bei vielen; aber das kann immer mit den Medikamenten zusammenhängen; Beinzuckungen oder so etwas als Nebenwirkungen, das hab ich ja Gott sei Dank nicht.“
Sie nehme ihre fest angesetzte Medikation nur abends ein, was für sie sehr wichtig ist. „Es gibt Leute, die nehmen das tagsüber, das würd’ ich gar nicht schaffen. Also erst einmal sabbert man von den Medikamenten, und zwar ganz doll, das ist bei jedem verschieden und ist nicht jeden Tag so. Aber man sabbert halt, wenn man das tagsüber nimmt, und da muss man schon sehr schlimm dran sein, um das tagsüber zu nehmen.“
Die Dosis ihres Medikaments wurde in der Klinik schrittweise reduziert, insgesamt um ein Drittel. „Als ich in die Klinik kam, hatte ich 600 mg Leponex, Clozapin ist das; und dann hat mein Arzt das im Krankenhaus reduziert, von 600 mg langsam auf 400. Bevor ich ins Krankenhaus gekommen bin, hab ich die 600 schon abends um 5 Uhr genommen und damit meinen Tag früh beendet.“ Als ich nachfrage, erklärt sie mir, es wäre für sie einfach unerträglich in dem Heim gewesen. Sie hätte eigentlich nur noch in ihrem Zimmer vor sich hin vegetiert, wäre nicht mehr vor die Tür gegangen. Damals hatte sie noch nicht einmal einen Fernseher, hat nur gelesen und es hätte sich keiner wirklich um sie gekümmert oder sich interessiert. Deswegen sei sie jetzt so dankbar für die neue engagierte
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Therapeutin. Für sie wäre es wichtig, jemanden zu haben, der sie auf Trab hält, sie motiviert und fordert. Das habe sie erst im Krankenhaus gelernt: „Du musst dich ja nicht immer betäuben, du kannst dich ja auch beschäftigen.“ Nachdem sie jetzt wieder zurück ins Heim gekommen wäre, hatte sie an sich ganz andere Ansprüche. Beispielsweise würde sie die Medikation erst um 10 Uhr abends zu sich nehmen. Damit hätte sie sich im Haus durchgesetzt: „Dass ich die nehmen kann, wenn ich müde bin. Nur weil ich psychisch krank bin, heißt das ja nicht, dass ich nicht mal länger aufbleiben will oder mal was erleben möchte oder so.“ Eine halbe Stunde nach der Einnahme könne man dann nichts mehr aufnehmen, dann sei sie einfach nicht mehr aufnahmefähig. „Manchmal schläft man dann sofort ein, manchmal erst nach einer Stunde. Aber das ist dann so eine Müdigkeit, das merkt man, wenn das anfängt zu wirken, man kann nichts mehr aufnehmen. Wenn man sich dann hinlegt, dann ist man schwer wie ein Stein und schläft dann meistens schnell ein. Das ist wirklich ideal für mich, das Medikament, da bin ich ganz froh.“ Als ich sie frage, wie sich die Reduktion der Medikamente ausgewirkt hat, ob sie das selbst verspürt hätte, spricht sie als Erstes von ihrem Gewicht: sie hätte sehr viel abgenommen, das hätte ihr gutgetan. Und: „Ansonsten ja, man kriegt ’ne dicke Haut durch die Medikamente, wenn man dann weniger nimmt, ist die dicke Haut auch weniger. Aber dann bin ich froh drüber, nicht mehr in so einer Wolke zu sein, in so ’ner Benommenheit, da hab ich gar nicht mehr mitbekommen, wie dick ich geworden bin.“ Ich frage sie, ob sie sich vorstellen kann, was wäre, wenn man das Medikament absetzen würde, was sich verändern würde. Angelika: „Ach furchtbar, Unruhe, Ängste, das wäre alles wieder da! Ich kann mir gar nicht vorstellen das Medikament wieder abzusetzen. Außer der Gewichtszunahme hab ich ja keine Nebenwirkungen, aber damit kann ich umgehen.“ Den Boden unter den Füßen zu verlieren ist für Angelika Siebert keine rein metaphorische Umschreibung einer emotionalen Haltlosigkeit. In ihren Angstzuständen spürt sie den Boden tatsächlich nicht mehr. Auf ihren Runden achtet sie sorgsam darauf, wie sich ihr Körper anfühlt: Wie weit kann sie sich von der Station beziehungsweise von dem Heim entfernen, wie viele Treppen kann sie nach oben steigen, bevor sich ihr Körper verweigert. Manchmal griff sie beim Spaziergang nach meinem Arm, wurde angespannt und versuchte ganz offensichtlich sich durch ein Gespräch abzulenken. Mit der Zeit lernte ich mit ihr zu merken, wann sie an ihre körperliche Grenze gelangte. Sich nicht mit ihrem Körper auseinanderzusetzen ist dabei keine Option. Der Körper verweigert sich gewissermaßen, in den Hintergrund zu treten und als implizites Körperwissen unproblematisch in Alltagssituationen zur Verfügung zu stehen, er lässt sich
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nicht ,vergessen‘, sondern erfordert immer wieder Beachtung und damit explizites, reflektiertes Körperwissen. Dabei geht es nicht nur darum, wie man sich mit den Wirkungen der Medikamente auseinandersetzt, sondern auch darum, wie im Rahmen einer psychischen Erkrankung selbstverständliches, inkorporiertes Wissen nicht mehr als unproblematische Basis verstanden werden kann. Angelika Siebert muss beispielsweise beim Spazierengehen oder beim Treppensteigen immer darauf achten, wie weit sie gehen kann. „Körper sein“ und „Körper haben“ lassen sich dabei nicht eindeutig voneinander trennen, ihr Körperwissen bleibt gewissermaßen explizit. Sie muss kontinuierlich daran arbeiten, damit der Körper wieder gewohnheitsmäßig und selbstverständlich funktioniert. So hatte sie beispielsweise in der Klinik die Trainingsaufgabe, sich bewusst mit dem Lärm auf der Straße und insbesondere mit den Geräuschen von LKWs auseinanderzusetzen und diese über einen längeren Zeitraum auszuhalten, ohne sich von ihren Ängsten dominieren zu lassen. Wie Angelika betont, hätte sie bei ihrem letzten Aufenthalt in der Klinik insgesamt viel gelernt, vor allem wie sie ein Gleichgewicht an medikamentöser Intervention und Herausforderungen an sich selbst herstellt. Wie sie es selbst formuliert: „Du musst dich ja nicht immer betäuben, du kannst dich ja auch beschäftigen.“ Angelika Siebert setzt zweierlei ein: menschlichen Kontakt, einen sozialen Rahmen, der ihr emotionalen Halt gibt, und Medikamente, die ihr eine schnelle körperliche Entspannung ermöglichen. Beides muss dabei auf spezifische Weise aufeinander abgestimmt werden. Hatte sie vor ihrem letzten Klinikaufenthalt ein Zuviel an Medikamenten und ein Zuwenig an sozialen Kontakten, versucht sie nun hartnäckig beides für sich in Balance zu halten. Medikamente wirken dabei sowohl auf die psychische wie körperliche Empfindsamkeit ein, man bekomme von Medikamenten „eine dicke Haut“, wie Angelika es ausdrückt. In den verschiedenen Bemerkungen von Angelika Siebert zeigt sich außerdem, dass diese Strategien im Umgang mit der eigenen körperlichen wie emotionalen Fragilität Ergebnis einer sozialpsychiatrischen education of attention (Ingold) sind. Wie in der Klinik im Alltag konkret an einer Reflektion der Körperwahrnehmung gearbeitet wird und psychiatrische Expertise das Körpererleben der Patientinnen formt, werde ich weiter unten ausführlich beschreiben. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass das Körpererleben der Betroffenen sowohl durch die Erkrankungen wie auch die psychiatrische Expertise grundlegend verändert ist und eine konstante Aufmerksamkeit und Bearbeitung benötigt.
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Wie man (wieder) lernen muss, den Körper einzuschätzen Die zweite Erzählung handelt von Martin Lehmann. Martin Lehmann hatte ich bereits während meiner ersten Feldforschung im Jahr 2008 kennen gelernt und in den folgenden Jahren regelmäßig getroffen. Anfangs verabredeten wir uns zum Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant eines großen Kaufhauses, später trafen wir uns mehrmals bei ihm zu Hause. Ich besuchte ihn auf der Station in der Klinik und in der Tagesklinik oder wir gingen in einen Biergarten bei ihm um die Ecke etwas essen. In diesem Zeitraum erlebte ich Martin Lehmann in sehr unterschiedlichen Phasen seiner Erkrankung: in vergleichsweise guten Phasen, in denen er selbstbewusst über eine Ausbildung nachdachte und Pläne für die Zukunft hatte; in Phasen, in denen er auf eine Art und Weise euphorisch war, die mich beunruhigte. Dabei wirkte er auf mich einerseits so glücklich und so voller Tatendrang, wie ich ihn sonst nicht kannte; gleichzeitig so maßlos in allem, was er tat und erzählte, dass mir klar war, dass diese Phase nicht lange gut gehen konnte. In anderen Phasen schien er grundlegend überfordert mit allem, sei es ein Gespräch zu führen, seine Gedanken zu äußern oder morgens überhaupt aufzustehen, und absolut hoffnungslos, was seinen weiteren Weg anbelangte. Martin Lehmann war zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung 22 Jahre alt. Er hatte als Jugendlicher seine erste psychotische Phase erlebt und war damals in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt worden. In dem Zeitraum, in dem wir Kontakt hatten, lebte er in seiner eigenen Wohnung, hatte einen nahen Verwandten als Betreuer für Finanzen und bemühte sich im Rahmen verschiedener Arbeitsmaßnahmen wie Zuverdienst, Praktika etc. auf einen Ausbildungsplatz in der Gastronomie hinzuarbeiten. In dieser Zeit durchlebte er ebenfalls mehrere schwere Krankheitsphasen, in denen er sehr viel Zeit in der Klinik bzw. Tagesklinik verbrachte und von seinem Ziel, eine Ausbildung zu machen, immer wieder zurückgeworfen wurde. Seinen ersten Krankheitsausbruch beschreibt er als großen Schock. Es war während seiner Zeit in einem Internat, da wäre er irgendwann im Unterricht gesessen und hätte sich nicht mehr konzentrieren können, alles wäre an ihm „vorbeigerauscht“ und schien „weit weg“. Er hätte überhaupt nicht begriffen, was mit ihm passierte. Man hätte ihn dann zum „Nervenarzt“ geschickt und der hätte ihm einfach gesagt: „,Sie haben eine multiple Persönlichkeit.‘ Fertig.“ Er hätte das nicht wirklich verstanden; er hatte ja noch nie mit so was zu tun gehabt und wusste gar nicht richtig, was los war. „Ich dachte mir halt: okay, wenn der das sagt, dann ist das so. Später hieß es dann, ich hätte eine Psychose, erst eine katatone Schizophrenie und dann eine paranoide oder irgendwie so Schizophrenie.“ Zwischendurch hatte er mal gedacht, dass er eine Depression hätte; aber
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das sei wohl die Nachphase von einer Psychose gewesen, da wäre das so ähnlich. Martin Lehmann hat das psychiatrische Versorgungssystem als Institution, die für die Interpretation wie auch Behandlung seiner Probleme zuständig ist, grundlegend akzeptiert. Er betonte immer wieder, dass er nie zwangseingewiesen werden musste, immer freiwillig in die Klinik gegangen sei. Zwischen seinen Krankenhausaufenthalten wurde er über die psychiatrische Institutsambulanz ambulant betreut (das bedeutet, dass er alle zwei Wochen in der Klinik einem Termin mit dem Arzt hat, der ihn auf der Station behandelt hat). Später wechselte er dann zu einem niedergelassenen Psychiater, der ihn ebenfalls alle zwei Wochen zu einem kurzen Gespräch sieht und ihm das Rezept für seine Medikamente ausstellt. Ein Thema, das ist unseren verschiedenen Gesprächen immer wieder auftauchte, war, wie er lernen musste, sich und seinen Körper kontinuierlich einzuschätzen, mögliche Signale für einen Rückfall zu erkennen; wahrzunehmen, wann ihm etwas zu viel wurde: sei es, wie viele Stunden er fähig ist zu arbeiten, wie viel Schlaf oder Aktivität er braucht, wie viel sozialer Kontakt ihm guttut, und in seinem Fall ein entscheidender Punkt: wie er seinen Alkohol- und vor allem Nikotinkonsum regulieren kann. Wenn wir uns trafen, musste es immer ein Ort sein, an dem er rauchen konnte. Manchmal saßen wir deshalb im Nieselregen auf der Dachterrasse des Kaufhausrestaurants. Konnte er nicht rauchen, wurde er zunehmend nervös und angespannt. Auch in seinen verschiedenen Arbeitsstellen stellte sich sein Rauchverhalten als Problem dar, wie er selbst anmerkte. Er bräuchte halt sehr oft Pausen, sonst würde er es gar nicht schaffen. Zwischenzeitlich hatte er es geschafft seinen Nikotinkonsum zu reduzieren, mit Hilfe eines so genannten Nikotinprotokolls, das mit ihm in der Tagesklinik erarbeitet wurde. Seinen Alkoholkonsum hatte er hingegen seinen Aussagen nach gut im Griff. Wenn überhaupt, würde er nur sehr wenig trinken. In seiner Jugend hätte er sehr über die Stränge geschlagen: „Also nicht dass ich jetzt Alkoholiker war, aber ich hab mich schon ziemlich ausgetobt.“ Seine Mutter war der Ansicht, sein exzessiver Alkoholkonsum wäre damals der Auslöser für seine Erkrankung gewesen, aber das sieht er selbst anders. Aus seiner Sicht spielte die Trennung von der Familie im Internat und die Scheidung seiner Eltern einige Zeit vorher eine Rolle. Und vor allem hätte er sich in der Schule völlig überfordert. Er wollte unbedingt Musiker werden und hatte sich mit den verschiedensten Kursen und Musikangeboten im Internat völlig übernommen. Das wäre einfach irgendwann zu viel geworden, ohne dass er es gemerkt hätte. Maßhalten, sich selbst einschätzen, seine eigenen Grenzen kennen lernen und akzeptieren sind für ihn zentrale Themen im Umgang mit seiner Erkrankung. Das wäre für ihn ein großer Unterschied zu früher, betont er. Als Jugendlicher, da hätte er sich
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nicht so viele Gedanken gemacht, was ihm guttue, ob ihm etwas zu viel werden könne. Das hätte er lernen müssen. Dabei spielen Medikamente, ihre Wirkungen und Neben-Wirkungen, immer eine Rolle. Das oben erwähnte Nikotinprotokoll beispielsweise ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass bei der Medikation von Martin Lehmann Nikotin die Wirkung beeinträchtigen kann. Medikamente wirken auf vielfältige Weise in das „fragile Gleichgewicht“ ein, das Martin Lehmann kontinuierlich herstellen muss. Abgesehen von Gesprächen, die wir explizit zu seiner medikamentösen Behandlung führten, thematisierte er Medikamenten-Wirkungen in der Regel in Randbemerkungen. Einmal erzählte mir auf den Weg zum Mittagessen, dass es ihm heute nicht so gut ginge. Irgendwie hätte er heute einen schwachen Kreislauf, total müde sei er. Hinge vielleicht mit der Leber zusammen, das könnten Nebenwirkungen von den Medikamenten sein, erklärt er mir. Vom Alkohol kann es nicht kommen, betont er, er würde kaum noch etwas trinken. In einem anderen Gespräch erzählt er, dass er momentan relativ schlapp wäre und alles sehr mühsam für ihn wäre. „Wenig tun, viel rauchen. Das ist es halt momentan. Aber vielleicht sind das Nebenwirkungen“, fügt er hinzu. Als ich nachfrage, wie sich das anfühle, was er mit Nebenwirkungen meine, antwortet er, er wäre ziemlich verlangsamt. In letzter Zeit hatte er den Eindruck, dass das Medikament möglicherweise zu hoch dosiert wäre. Zwei Tage hatte er es dann mal abgesetzt, aber dann wäre er total unruhig geworden, richtig hibbelig, und dann hatte er die Medikamente doch lieber wieder genommen. Also nicht, dass er dann total den Zwang verspürt hätte und sie unbedingt wieder gebraucht hätte, aber er hätte gemerkt, dass er ohne halt total unruhig sei. Zu Beginn seiner Krankheit hätte er erst überhaupt nicht eingesehen, dass er Medikamente brauche, aber mittlerweile verstehe er die Zusammenhänge besser und hätte eine bessere Selbsteinschätzung gewonnen, wann sich etwas anbahne. Dann könne er auch mal selbständig kurzfristig die Dosis erhöhen, das habe er mit seinem Arzt so vereinbart. Der Arzt meint, er hätte mittlerweile gar keine psychotischen Züge, das wäre weg, aber er wäre halt so schlapp und antriebsarm. Ob er denn für sich eine Perspektive hätte, wie lange er die Medikamente nehmen wolle, oder ob er wüsste, wie das weitergeht? Er überlegt kurz und meint dann, sein Wunsch wäre es, dass die Ärzte irgendwann sagen: „So, jetzt können wir mal allmählich die Medikamente absetzen und langsam ausschleichen.“ Aber die sagen das nie. Wegen seiner Rückfälle, das wäre halt das Problem. Es wäre schon sehr lange her, dass er keine Medikamente genommen hätte. Mal zwei Tage vergessen oder so, aber so richtig lange keine genommen nicht. Und damals sei er dann richtig krank geworden.
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Für seine Rückfälle hatte er verschiedene Erklärungen. Als ich ihn einmal während einer stationären Behandlung in der Klinik besuche, erzählt er mir gleich zu Beginn ohne große Umschweife, was aus seiner Sicht der Auslöser für den aktuellen Rückfall war: Es hätte sich in der Arbeit langsam abgezeichnet, er wäre im Praktikum irgendwann ziemlich überfordert gewesen. Er wolle ja unbedingt diese Ausbildung machen und musste das zwischendurch unterbrechen, weil er im Sommer wieder krank geworden war. Danach hätte er nach dem Hamburger Modell wieder angefangen zu arbeiten. Hamburger Modell bedeute, dass man die Arbeitszeiten flexibel gestalten könne. Da würde dann ganz langsam die Arbeitszeit erhöht, das könne man selbst entscheiden, wie viel und wie schnell. Er wollte halt möglichst schnell wieder richtig arbeiten, und dann wurde ihm das irgendwann doch zu viel, ohne dass er das selbst hätte einschätzen können. Er hätte es selbst gar nicht gemerkt, irgendwann wäre er nur noch gestresst gewesen und dann ging es nicht mehr. Das wäre so vor Weihnachten gewesen, danach musste er wieder in die Klinik. Wir sitzen im Aufenthaltsraum der Station, es ist das so genannte Freitagscafé, es gibt Kuchen und koffeinfreien Kaffee. Etwas später im Gespräch meint er plötzlich unvermittelt, es gäbe noch einen weiteren Grund, warum er nach Weihnachten wieder in die Klinik musste. Er hätte bei der Betriebsweihnachtsfeier zu viel Alkohol getrunken. „Also ziemlich zu viel. Man hat mir dann später erzählt – ich weiß das selber gar nicht mehr –, dass ich fast ins U-Bahngleis gefallen wäre. Ich hab’ es ziemlich übertrieben an dem Tag. Und dann am nächsten Tag hat die Krise eigentlich angefangen. Das war mir alles ziemlich unangenehm gewesen und dann hat der Kopf zu rattern angefangen. Wahrscheinlich hat der Alkohol die Wirkung der Medikamente verändert, also dass die nicht mehr so gewirkt haben durch den Alkohol.“ Als wir uns einige Wochen später wieder treffen, gibt er mir eine weitere Erklärung für seinen Rückfall kurz nach Weihnachten: Er wäre an Weihnachten zur Familie seines Vaters gefahren, das wäre dort immer sehr stressig für ihn. Die Familie seines Vaters findet, er sei ein Versager, und ständig bekäme er zu hören, warum er dieses und jenes nicht mache und warum er so und nicht anders. Das würde ihm voll zusetzen, das wäre immer so ein unglaublicher Druck. Und klar, seine Mutter sieht sich dann wieder darin bestätigt, dass sein Kontakt zum Vater nicht gut wäre. Als er nach den Weihnachtsfeiertagen zurück nach Berlin kam, musste er wieder in die Klinik. Seine Mutter meinte, immer wenn er dort wäre, würde er krank werden. Das tue ihm nicht gut. Ähnlich wie bei Angelika Siebert zeigt sich am Beispiel von Martin Lehmann, dass der Umgang mit psychischen Erkrankungen eine schwierige Gratwanderung zwischen Herausforderungen und Überforderung darstellt. Für Martin Leh-
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mann war es immer wieder mühsam, kontinuierlich daran zu arbeiten, sich beruflich zu entwickeln, und gleichzeitig seine hohen Erwartungen an sich selbst zurückzuschrauben. In einem unserer Gespräche wurde er einmal unglaublich wütend, die „scheiß Krankheit“ hätte sein ganzes Leben zerstört, ansonsten hätte er jetzt Abitur, eine Ausbildung, wäre vielleicht sogar professioneller Musiker geworden. Besonders mühsam ist für ihn, die immer wieder problematischen Nebenwirkungen der Medikamente auszuhalten. Einerseits hat er für sich akzeptiert, dass er sie nehmen muss, um einen Rückfall zu vermeiden; andererseits ist er durch die Nebenwirkungen gerade im Vergleich zu anderen Menschen seines Alters stark eingeschränkt. Dabei ist es für ihn wie für viele andere Betroffene manchmal nicht einfach zu unterscheiden, inwiefern eine Empfindung „normal“ sei oder bedingt durch die Erkrankung oder durch die Medikamente. Woher kommt die Müdigkeit? Von einer zu hohen Dosis der Medikamente oder weil er zu viel raucht und wenig zu tun hat? Was passiert, wenn ich die Medikamente absetze? Was bedeutet es, wenn man hibbelig wird? Wenn man sich gestresst fühlt? Sich dem Körper zu widmen bedeutet eine kontinuierliche Reflektion des Körperwissens und den Lernprozess, seinen Körper einzuschätzen. Wie bei Angelika Siebert zeigt sich, dass in der Interpretation der eigenen Körperempfindungen psychiatrische Expertise präsent ist. Auch die verschiedenen Erklärungen für seinen Rückfall an Weihnachten, die er für sich gefunden hat, sind durchdrungen von Wissen, das er in der Klinik gelernt hat. Aber hier zeigt sich, dass nicht allein psychiatrische Expertise die Interpretation beeinflusst. Die expliziten wie impliziten Anforderungen, die sich durch den Arbeitsplatz ergeben, die Erwartungen der Familie, aber auch die eigenen, formen die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der Krankheit. Die Vorstellung, die Medikamente sein Leben lang nehmen zu müssen, frustriert ihn, aber die Entscheidung darüber belässt er – in der Regel – bei den Ärzten. Eigenwilliges Herumdoktern Olaf Mattes hatte ich bereits im letzten Kapitel vorgestellt. In der Klinik hatte er sich sehr zurückgezogen und viel Zeit im Bett verbracht. Er saß in den Gesprächsrunden zusammengekauert auf seinem Stuhl und beteiligte sich nur selten an einem Gespräch. Mir hatte er erzählt, sein Kopf wäre zugleich völlig leer und zu voll. Immer wieder würde er um dieselben Gedanken kreisen, er wäre nichts wert, es würde nie mehr besser gehen. Einmal erklärt er mir, er komme einfach nicht mehr klar, er könne sich „überhaupt nicht spüren“, alles sei durcheinander und er fühle sich „irreal“. Auf der Station unternahm er regelmäßig „Sterbeversuche“, wie er selbst es bezeichnete. Dann legte er sich auf sein
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Bett und hielt die Luft an, um zu sterben. Nach einigen Wochen Behandlung auf der Station legte man ihm nahe, ein Antidepressivum einzunehmen. Zuerst lehnte er es vehement ab, er wollte neben dem Antipsychotikum nicht noch ein weiteres Medikament schlucken. Nach einiger „hartnäckiger Motivation“, wie es seine Ärztin nannte, stimmte er einer Behandlung mit einem Antidepressivum schließlich zu. Dass es ihm in der Folge besser ging, führte er dennoch nicht auf das Medikament zurück. Wie ich im letzten Kapitel bereits beschrieben hatte, wäre es aus seiner Sicht vor allem eine Frage der Zeit gewesen, bis es ihm besser ging. Ein zentrales Problem, das im Rahmen der Therapie in der Klinik und vor allem mit seinem Wohnbetreuer bearbeitet wurde, war seine bis unter die Decke mit allerlei Kram vollgestellte Wohnung. Dass er mich nach seiner Entlassung schließlich zu sich nach Hause einlud, war daher keine Selbstverständlichkeit. Die Wohnung und vor allem die Küche waren tatsächlich so vollgestellt, dass Olaf Mattes, um beispielsweise Kaffee zu kochen, einiges herumrangieren musste. Dabei war es nicht „vermüllt“, sondern einfach nur unglaublich voll. Bei meinem Besuch hatte ich Kuchen mitgebracht, den wir auf einem kleinen Hocker zwischen uns abstellten, daneben das Aufnahmegerät. Worüber wir in der Klinik nicht so richtig gesprochen hatten, war die Frage, was aus seiner Sicht der Auslöser war, weshalb er wieder in die Klinik musste. Ob er mir etwas dazu erzählen kann, frage ich ihn. „Da hab ich die Neuroleptika-Dosis ein bisschen reduziert. Von 550 mg auf 400 mg runter, ich weiß nicht, ob das eine Rolle gespielt hat. Da bin ich mir nicht so sicher, aber das kann schon möglich sein, dass das einfach zu schnell war. Denkbar. Und ohne den Arzt zu fragen, weiß ich noch. In der Zeit hab ich ein paar Kontakte verloren, war ich ein bisschen traurig drüber. In der manischen Phase davor hab ich die zu sehr geärgert. [...] Teilweise hab ich die wieder reaktiviert, nicht alle, aber die meisten. Ich hab mich dann viel im Bett verkrochen, tagsüber, die Zeit verlegen, bin sehr inaktiv gewesen, initiativlos. Ich hab nicht mehr aufgeräumt, gar nichts mehr gemacht, nicht mehr ausgemistet. [...] das war nicht berauschend, die Stimmung, Initiative, Energie alles auf ‘nem sehr niedrigen Level [...] Vorher in der manischen Phase, da hab ich einen Stimmungsstabilisierer weggelassen. Deswegen ist er [der Psychiater] ja dann mit dem Solian12 hochgegangen und nicht wieder runter. Und das Valproat13 hab ich dann bekommen, vielleicht hat das noch ‘ne Rolle gespielt.“14
12 Solian ist der Handelsname eines so genannten Atypischen Antipsychotikums. 13 Valproat ist der Handelsname eines so genannten Antikonvulsivums. Antikonvulsiva, auch als Antiepileptika bezeichnet, werden eigentlich in der Behandlung von (epileptischen) Krampfanfällen angewandt; einige Antikonvulsiva, wie beispielsweise die
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Er greift von seinem Platz aus auf zwei Schachteln, die am Rand einer vollgestellten Anrichte stehen, und zeigt mir die Medikamente. Er erklärt mir genau, was welches Medikament ist und wie viel er davon nimmt. Martina Klausner: „Das heißt, Sie probieren auch selber mit den Medikamenten rum?“ Olaf Mattes: „Mehrmals, aber das hat immer in einen Krankenhaus-Aufenthalt gemündet, zu einer Aufnahme geführt.“ Martina Klausner: „War das immer so?“ Olaf Mattes: „Ja, doch, immer, das war so durchschnittlich alle drei Jahre, so ein Schub, der dadurch bedingt war.“
Als ich nachfrage, warum er die Medikation trotz dieser Erfahrung reduziert habe, meint er, er wäre halt nicht einverstanden gewesen, die ein Leben lang nehmen zu müssen. „Und der Arzt hat nie Anstalten gemacht, irgendwas mal zu reduzieren, und ist davon ausgegangen, dass man das für immer einnehmen muss; und damit war ich nicht einverstanden und hab das dann mal radikal weggelassen, obwohl das ein Fehler ist, weil der Körper das nicht so verträgt.“ Er erklärt mir, dass die Medikamente eben nicht nur gute Seiten haben, sie würden auch lebensverkürzend wirken. Nebenwirkungen habe er mit der aktuellen Medikation eher weniger, da könne er jetzt nicht sagen, dass er etwas merke. „Keine Unruhe, Sitz-Unruhe, Missgefühle oder so, das kenne ich alles, aber nicht davon. Das war unerträglich zeitweise bei anderen Medikamenten. Die Sitzunruhe, nicht stehen, nicht gehen, nicht sitzen können, nur im Liegen hab ich es ausgehalten. Hab damals dann eine Depotspritze bekommen; da konnte ich dann nichts gegen machen, nichts verändern, 1,5 Jahre ging das.“ Ich frage nach, wie sich das anfühlt, ob er das genauer erklären könne? „Unwohl, körperlich einfach fies, tierisch, wie ein gequältes Tier, eine gequälte Kreatur fühlt man sich, nicht mehr menschlich, entwürdigend der Zustand, sehr entwürdigend.“
Valproinsäure, werden in der Psychopharmakotherapie als Stimmungsstabilisierer eingesetzt. 14 Dass er in der manischen Phase den Stimmungsstabilisierer weggelassen hatte, könnte also zu einem Ausbruch seiner Psychose geführt haben, woraufhin ihm der Arzt ein Antipsychotikum und einen Stimmungsstabilisierer verschrieben hatte; dass der Arzt den Stimmungsstabilisierer nicht wieder abgesetzt hatte, als er die akute psychotische Phase überwunden hatte, könnte, so die Vermutung von Herrn Mattes, schließlich die depressive Phase ausgelöst oder zumindest verstärkt haben.
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Olaf Mattes’ Skepsis gegenüber Psychopharmaka war mir bereits aus der Klinik bekannt. Selbst wenn er in diesem Gespräch vor allem die negativen Seiten der Medikamente betont, bedeutet dies nicht, dass er Psychopharmaka grundsätzlich ablehnt. Er hat sie in der Küche griffbereit liegen und in seinen Erzählungen wird deutlich, dass er die Medikamente über längere Phasen freiwillig eingenommen hat und momentan einnimmt. Es geht ihm nicht um ein Ablehnen, sondern um ein persönliches Abwägen, wann möglicherweise „die schlechte Seite“ der Medikation überwiegt und er diese reduziert oder radikal absetzt. Olaf Mattes hat sich ein breites Wissen über die verschiedenen Medikamente, ihre Wirkungen wie Nebenwirkungen angeeignet. Eines der hilfreichsten Angebote in einer seiner früheren stationären Behandlungen war eine Psychoedukationsgruppe, wie er mir erzählt. Die Gruppe hatte damals eine Ärztin geleitet und da hätte er sehr viel über die verschiedenen Medikamente gelernt. Das wäre ein wirklich gutes Angebot gewesen und er findet es schade, dass es das in der Mittendamm-Klinik mittlerweile nicht mehr gibt. In seinen Erzählungen wird offensichtlich, dass sich Olaf Mattes, wie viele andere Patienten auch, für die Beschreibung seiner Wahrnehmungen und Empfindungen psychiatrische Fachtermini angeeignet hat. In der letzten Phase wäre er „inaktiv und initiativlos gewesen“; anders als bei früheren Medikamenten verspüre er diesmal „keine Sitzunruhe oder Missgefühle“. Olaf Mattes’ erste psychiatrische stationäre Behandlung liegt fast 30 Jahre zurück, das heißt, er kennt das psychiatrische Versorgungssystem um Jahrzehnte länger als die Stationsärztin, die ihn auf der Station behandelt hat und sich im zweiten Facharztjahr befand. Olaf Mattes hat in diesen Jahren gelernt seine körperlichen Empfindungen in einer psychiatrischen Fachsprache auszudrücken, wenngleich er durchaus auch eigene Beschreibungen nutzt wie: mit der Depotmedikation hätte er sich wie eine „gequälte Kreatur“ gefühlt. Anders als Angelika Siebert, die ihre Medikation niemals absetzen würde, möchte sich Olaf Mattes mit der dauerhaften Medikation nicht abfinden. Selbst wenn er keine stark beeinträchtigenden Nebenwirkungen verspürt, betont er die langfristigen Auswirkungen, die die Medikamente auf seinen Körper haben. Er muss nicht nur jetzt mit seinem pharmakotherapierten Körper leben, sondern auch in Zukunft mit den resultierenden Veränderungen im Körper.15
15 Interessanterweise werden die langfristigen Folgen von dauerhafter NeuroleptikaEinnahme im Klinikalltag, aber auch in Fachdiskussionen kaum thematisiert. Nur wenige kritische Stimmen verweisen auf alarmierende Hinweise erhöhter Morbidität. (Aderhold 2007; Weinmann et al. 2009)
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Was in allen drei Erzählungen deutlich wird, ist die Unmöglichkeit, sich als psychisch kranker Mensch dem Körper nicht zu widmen. Sei es, um mit den eigenen körperlichen Grenzen umzugehen und sensibel für mögliche Anzeichen für einen Rückfall zu sein, oder eben der Umgang mit den Medikamenten und den mehr oder weniger schweren Nebenwirkungen, die sich hieraus ergeben. Auf unterschiedliche Weise thematisieren die drei, wie sie lernen mussten, sich und ihren Körper immer wieder einzuschätzen und Umgangsweisen mit ihm zu entwickeln. Dabei zeigt sich, wie präsent psychiatrisches Fachwissen in der Auseinandersetzung mit dem Körper und Interpretation der Körperwahrnehmung ist. Während meiner Forschung fand ich es immer wieder irritierend, wie selbstverständlich es für die Betroffenen war, mir anhand von psychiatrischen Fachtermini zu erklären, wie es sich anfühlt, psychisch krank zu sein.16 Ähnlich wie Olaf Mattes erzählten mir die Menschen dann von ihrer „Antriebslosigkeit“ und ihrer „Unruhe“, „Konzentrationsproblemen“, „Grübelzwang“, „Affektverflachung“ und dergleichen. Man kann die Übernahme psychiatrischer Fachtermini und Krankheitskonzepte kritisch bewerten, im Sinne einer sprachlichen Kolonialisierung und zunehmenden „Psychiatrisierung des Alltags“ (Castel et al. 1982). Psychiatrisierung meint – vergleichbar mit dem Konzept der Medikalisierung17 –, wie psychiatrische Diskurse und Zuständigkeiten sich auf immer
16 Emily Martin beschreibt ein ähnliches Phänomen in ihrer Forschung bei Selbsthilfegruppen zu bipolaren Störungen in den USA. Sie versteht die Verwendung psychiatrischer Fachtermini zum einen als eine Art Abkürzung, die den Austausch zwischen den Betroffenen erleichtert; zum anderen betont sie, wie schwierig es für die Betroffenen sein kann, über außergewöhnliche Erfahrungen eine angemessene Sprache zu finden. (Martin 2006) 17 Das Konzept der Medikalisierung, das in den 1970er Jahren von dem USamerikanischen Medizinsoziologen Irving Zola in die Sozialwissenschaften eingebracht wurde (Zola 1972), verweist knapp zusammengefasst auf die zunehmende Deutungs- und Handlungsmacht medizinischer Expertise in modernen Gesellschaften; zum einen würden dadurch zunehmend Phänomene, die bislang nicht zum Aufgabenbereich medizinischer Expertise gehörten, zum medizinischen Problem; zum anderen verweist Medikalisierung auf die Diffusion medizinischen Wissens in Alltagswissen. (Beck 2009a; Conrad 1992) Das Konzept der Medikalisierung wurde vielfach rezipiert und kritisch weiterentwickelt: die darin eingebettete Vorstellung der Vermittlung medizinischer Expertise als „top-down“-Prozess, also von Experten an die ahnungs- und machtlosen Patienten, wird problematisiert und Aushandlungen von
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neue Bereiche und Phänomene ausbreiten und dabei zum selbstverständlichen Bestandteil unseres Alltagswissens werden. 18 Wie man eine Ausbreitung psychiatrischen Wissens in Alltage ethnografisch erfassen kann, zeigt der USamerikanische Anthropologe Joseph Dumit. (Dumit 1997; 2004) Dumit beschreibt das Einfließen medizinischer Fakten – in seinem Beispiel neurowissenschaftlicher wie psychiatrischer Fakten – in die Art und Weise, wie Menschen sich selbst (und ihren Körper) wahrnehmen, als „objective selffashioning“ (Dumit 1997): Damit bezeichnet er die Art und Weise, wie wissenschaftliches Wissen in Alltagswissen einfließt und als eine Grundlage dafür dient, wie das eigene Selbst definiert und gestaltet wird. Damit ist nicht per se eine Objektivierung durch psychiatrische Diskurse und Fakten gemeint; SelbstGestaltung meint dabei wortwörtlich die Gestaltung des Selbst auch als aktive Teilhabe an dieser Gestaltung und die Möglichkeit kreativer Modifikation und Kombination von Fakten. (vgl. Hess und Knecht 2008) Dieser Fokus auf die potentielle Selbst-Gestaltung in diesen Formierungsprozessen gesteht den Betroffenen eine aktive Teilhabe zu und positioniert sie nicht primär als passive Partizipanden in diesen Gestaltungsprozessen. In den drei Beispielen zeigt sich diese objektive Selbst-Gestaltung in unterschiedlicher Weise. Angelika Siebert hat das psychiatrische Wissen, das ihr während ihrer Behandlung in der Klinik „angeboten“ wurde, in mehrfacher Hinsicht als Gestaltungsgrundlage in ihr alltägliches Leben integriert: Sie führt einerseits das Trainingsprogramm fort, arbeitet kontinuierlich an der Erweiterung ihres Radius und nutzt in ihrem Wohnheim ähnlich wie in der Klinik die verschiedenen Beschäftigungsangebote. Zugleich arbeitet sie mit den Medikamenten, den fest angesetzten Antipsychotika sowie ihrer Bedarfsmedizin, an der kontinuierlichen Herstellung eines körperlichen wie seelischen Gleichgewichts.
medizinischer Expertise als zunehmend reziproker und ambivalenter Prozess betont (Bury und Holloway 2009; Lock und Kaufert 1998; Lock 2006); Patientinnen werden als „aktive Wissenssubjekte“ einer „reflexiven Medikalisierung“ verstanden (Knecht und Hess 2008), die durch medizinisches Wissen gerade nicht unilinear objektiviert und diszipliniert werden, sondern dieses Wissen als Ermächtigungsstrategien einzusetzen wissen. (Thompson 2005) 18 Einen beeindruckenden Einblick in die „Psychiatrisierung des Alltags“ (Castel et al. 1982 [1979]) in den USA bieten Anne Lovell, Robert Castel und Francoise Castel. Zentrales Argument ihrer Studie ist, dass Psychiatrisierungsprozesse nicht automatisch mit der Ausweitung der Macht von Psychiatern und den entsprechenden Institutionen einhergehen, sondern vielmehr eine Ausweitung psychiatrischer Diskurse und Technologien auf das gesamte soziale Leben bedeuten.
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Die Medikamente (und andere Menschen) werden zu einer Art Prothese, die einem Menschen mehr Freiräume ermöglichen. Eine andere Patientin, die ich in der Klinik kennen gelernt hatte, beschrieb Medikamente mir gegenüber einmal als Krückstock: Sie können einem helfen besser zu laufen, aber sie können nicht die Beine ersetzen. Gleichzeitig produzieren diese Prothesen aufgrund ihrer problematischen Nebenwirkungen wieder neue Aufmerksamkeiten. Angelika Siebert hatte es kurz erwähnt und auch in vielen anderen Beschreibungen von Patienten in der Klinik kam zum Ausdruck, dass die körperliche Sichtbarkeit von Medikamenten zum Problem werden kann. Martin Lehmann, der im Vergleich zu Angelika Siebert sehr viel stärker mit den Nebenwirkungen kämpft und dessen Gleichgewicht weitaus fragiler erscheint, hat ebenfalls für sich psychiatrische Expertise als Fakten der SelbstGestaltung akzeptiert. In seinen Nebenbemerkungen zeigt sich, dass er den eigenen Körper auf der Grundlage psychiatrischer Fakten beobachtet und reflektiert. Er wünscht sich zwar, irgendwann keine Medikamente mehr nehmen zu müssen, aber solange die Ärzte dies für notwendig erachten, bemüht er sich um Compliance. In den verschiedenen Phasen, in denen ich ihn erlebte, waren Medikamente manchmal ebenfalls ermöglichend, wenn er sich beispielsweise dadurch stabil genug fühlte, um an seinem Ziel eines Ausbildungsplatzes zu arbeiten; in anderen Phasen empfand er die Nebenwirkungen der Medikamente wiederum als sehr begrenzend. Aus seiner Sicht gibt es vor allem keine Alternative: Nimmt er keine Medikamente, wird er unruhig und setzt sich dem Risiko eines Rückfalls aus. Deutlich wird an seinem Beispiel zudem, dass psychiatrisches Wissen nur eine Grundlage zur Selbstgestaltung darstellt; die Anforderungen durch die Arbeitsstelle, die Erklärungen der Familie bezüglich der Erkrankung und die entsprechenden Erwartungen an seine Compliance prägen seine Gestaltungsmöglichkeiten ebenfalls. Olaf Mattes, der sich in der Klinik immer wieder den verschiedenen Gesprächsgruppen entzog, weil er das Sitzen im Kreis für sinnlos hielt und sich damit einem zentralen „sozialpsychiatrischen Fakt“ verweigerte, empfand gerade die Vermittlung von Fachwissen in der Psychoedukation als hilfreich. Er nutzt dieses Wissen, um sich selbst seine Meinung zu bilden und gegebenenfalls entgegen des Rats des Arztes seine Medikamente zu reduzieren. Die Übernahme psychiatrischer Fakten kann man hier nicht einfach nur als Anpassung an psychiatrische Expertise deuten; Olaf Mattes nutzt sie, um sich selbst als Experte zu positionieren. Wie ich im nächsten Abschnitt herausarbeiten werde, zeigen sich in diesen objektiven Selbst-Gestaltungen vor allem die Auswirkungen einer zunehmenden „Pharmazeutikalisierung“ (Ecks 2011). Der Anthropologe Stefan Ecks beschreibt mit diesem Begriff einen ähnlichen Prozess wie den der
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Medikalisierung oder Psychiatrisierung. Am Beispiel von Antidepressiva zeigt er, wie die Einführung, Entwicklung und Verbreitung dieser Pharmazeutika das Krankheitsbild Depression maßgeblich mitgeformt haben. Ecks betont, dass das Phänomen der Pharmazeutikalisierung zwar in ähnlicher Weise Looping-Effekt produziert, wie dies Ian Hacking für Medikalisierungsprozesse beschrieben hat (Hacking 2007), aber dennoch eigene Dynamiken entfaltet. Gerade bei den „klassischen“ psychiatrischen Diagnosen wie Depression oder Schizophrenie habe die Neueinführung von Pharmazeutika keine neuen medizinisch definierten Phänomene produziert, aber deren Verständnis und Behandlung maßgeblich verändert. Während Ecks in seiner Forschung zur Anwendung von Antidepressiva in Indien von einer verdeckten Pharmazeutikalisierung spricht (die Behandler verschreiben die entsprechenden Medikamente ohne sie explizit als psychiatrische Pharmazeutika zu deklarieren, sondern als „Nahrung für die Seele“), zeigt sich in der sozialpsychiatrischen Behandlung eine explizite Pharmazeutikalisierung, wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde. Diese Pharmazeutikalisierung formt das Körpererleben der Betroffenen als Teil der objektiven Selbst-Gestaltung. Psychopharmaka sind zentraler Bestandteil sozialpsychiatrischer Körperwidmungen. Dabei erscheint es mir entscheidend, nicht einseitig entweder eine Kritik an der Behandlung mit Psychopharmaka zu reproduzieren oder einzig die positiven Effekte von Psychopharmaka in der Behandlung als kreativen Akt in der Selbst-Gestaltung hervorzuheben. Vielmehr geht es mir darum herauszuarbeiten, wie (pharmazeutische) Behandlungspraktiken im Klinikalltag zum Einsatz kommen und dabei unterschiedliche Wirkungen hervorbringen. Damit komme ich nun zurück in die Klinik und gehe der Frage nach, wie sich im stationären Behandlungsalltag dem Körper mit Medikamenten gewidmet wird und wie im sozialpsychiatrischen Choreografieren damit zugleich an einer education of attention gearbeitet wird. Zuvor beschreibe ich, wie in psychiatrischen Fachdiskursen Psychopharmaka und deren Teilhabe im sozialpsychiatrischen Behandeln diskutiert werden und welche objectives zur Selbst-Gestaltung in der Mittendamm-Klinik überhaupt zur Verfügung stehen.
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S OZIALPSYCHIATRISCHE K ONZEPTUALISIERUNGEN DES B IOPSYCHOSOZIALEN Während der Jahrestagung der DGPPN19 sitze ich mit ein paar Assistenzärzten der Mittendamm-Klinik beim Mittagessen. Sie diskutieren über die verschiedenen Vorträge, die sie bislang besucht haben. Eine Ärztin erzählt, dass sie bei einem State-of-the-Art-Symposium zu unipolaren Depressionen gewesen wäre. Das wäre eine „einzige Beweihräucherung der Psychopharmakotherapie“ gewesen. Studien hätten zwar im Vergleich zu Placebo keine eindeutig effektivere Wirkweise gezeigt, aber trotzdem wäre die Psychopharmakotherapie das Mittel der Wahl. „Alles eine Frage der Neurochemie. Da wird der Patient zum Krankheitsträger, der nichts an seiner Störung ändern kann.“ Sie schüttelt den Kopf und fügt hinzu: „Und dann hat man Patienten mit dieser Einstellung, ‚ich habe eine neurochemische Störung‘, und die erwarten dann, dass man ihnen nur das richtige Medikament gibt und sie selbst gar nichts machen können.“ Ein anderer Psychiater entgegnet ironisch: „Aber das ist doch super, da sagt man den Patienten einfach: ‚Legen Sie sich ins Bett, Sie können nichts tun, Sie können nichts dafür, wir geben Ihnen Psychopharmaka und alles wird gut.‘ Das ist doch total entlastend für die, ist doch wunderbar.“ Ein weiterer Kollege merkt an: „Ich finde diese ganze Psychoedukation insgesamt echt problematisch. Ich habe vor kurzem in diesem Buch zu systemischer Familientherapie etwas gelesen, da bin ich fast vom Stuhl gefallen, weil mich das so beeindruckt hat: Das Ziel wäre nicht die Krankheitseinsicht, sondern das Verflüssigen von vorhandenen Krankheitskonzepten.“ Sie kommen auf die vergleichbare Effektivität von Psychotherapie und Pharmakotherapie zu sprechen, die in dem State-of-the-Art-Symposium ebenfalls diskutiert wurde. Psychotherapie wäre, so zeigen neuere Studien bei unipolaren Depressionen, nachgewiesenermaßen ähnlich effektiv wie Psychopharmaka. Für welches man sich dann letztendlich entscheiden würde, zwei der Ärzte diskutieren eine Weile. Es wäre ja auch eine Frage der Zeit und in der Akutversorgung in der Klinik sei Zeit ja eher ein Mangel. Aber wenn man Nebenwirkungen vermeiden könne, wäre das immer ein entscheidender Vorteil. Letztendlich wäre es auch „eine Frage der Ideologie“.
19 Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) ist die größte psychiatrische Fachgesellschaft in Deutschland. Die Jahrestagung der DGPPN, die immer in Berlin stattfindet, ist die größte psychiatrische Fachtagung in Europa; für Ärzte in Ausbildung gilt sie als wichtiger Fortbildungstermin.
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Kritik an der „Beweihräucherung“ der Pharmakotherapie und der Psychoedukation, Begeisterung für die systemische Familientherapie und das „Verflüssigen von Krankheitskonzepten“, die Überzeugung, Patienten müssen an sich arbeiten, dieses Gespräch beim Mittagessen deutet an, was die favorisierte therapeutische „Ideologie“ in der Mittendamm-Klinik ist. Ähnliche Aussagen hörte ich während meiner Feldforschung in der Mittendamm-Klinik von den verschiedenen Mitarbeitenden. Im ersten Kapitel meiner Arbeit habe ich einige Grundzüge des sozialpsychiatrischen Verständnisses und die spezifische Positionierung gegenüber einer als zunehmend biomedizinisch orientiert wahrgenommenen deutschen Psychiatrielandschaft skizziert. Der Patient solle eben nicht als „Krankheitsträger“ verstanden werden, sondern als soziales Wesen mit vielfältigen Beziehungen; psychische Erkrankungen sollen in ihrer komplexen psychosozialen Dynamik ernst genommen werden. Interessant ist, dass sowohl von sozialpsychiatrischer Seite als auch von einer stärker biomedizinisch argumentierenden Psychiatrie mittlerweile selbstverständlich von einem „bio-psycho-sozialen Gesamtprojekt“ gesprochen wird, wie es ein Teilnehmer eines Panels auf der DGPPNTagung bezeichnete: Sowohl soziale, psychische wie biologische Faktoren sollen in Krankheitsmodellen und therapeutischen Ansätzen berücksichtigt werden. Das „biopsychosoziale Modell“ hatte der US-amerikanische Psychiater George Engel in einem Artikel in Science 1977 zum ersten Mal formuliert. (Engel 1977) Er kritisierte eine zunehmende Übernahme biomedizinischer Paradigma in der Psychiatrie und konstatierte, dass nicht die Psychiatrie, sondern die Medizin sich in einer Krise befände, da sie die psychosozialen Faktoren von Krankheit ausklammere: „To provide a basis for understanding the determinants of disease and arriving at rational treatments and patterns of health care, a medical model must also take into account the patient, the social context in which he lives, and the complementary system devised by society to deal with the disruptive effects of illness, that is the physician role and the health care system. This requires a biopsychoscoial model.“ (Ebd.: 132)
Dieser erste Vorstoß führte zwar nicht zu einem elaborierten theoretischen Modell des Biopsychosozialen, wurde aber als integrative Klammer in der Psychiatrie so erfolgreich, dass mittlerweile von einem „Mantra Biopsychosozial“ die Rede ist. (Thieme et al. 2012) Wie im Rahmen dieses biopsychosozialen Modells jedoch konkret Krankheitskonzepte argumentiert und über effektive Behandlungspraktiken geurteilt wird, scheint nach wie vor auf der alten Rivalität von Psyche und Soma innerhalb der Psychiatrie zu basieren. Deutlich wird dies in der so genannten Neuroleptika-Debatte, die die Deutsche Gesellschaft für
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Soziale Psychiatrie (DGSP) ins Rollen gebracht hat. Ende 2009 veröffentlichte die DGSP ein Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika in der Behandlung psychisch Kranker.20 Zwei Jahre lang hatte die DGSP auf Fachtagungen, in Expertenhearings und in ihren Publikationsorganen das Thema „aus den unterschiedlichen Perspektiven der in der Psychiatrie Tätigen und der von der Psychiatrie Betroffenen betrachtet“ (DGSP 2010: 3). In dem Memorandum werden problematische Entwicklungen in der gegenwärtigen Psychiatrie diskutiert und eine Neubewertung des „Nutzen-Risiko-Profils von Antipsychotika“ gefordert. (Ebd.: 6) Problematisch erscheint aus Sicht der „Sozialen Psychiatrie“ ein „biologischer Reduktionismus“: „Die zurückliegenden Jahrzehnte in Wissenschaft und Praxis der Psychiatrie sind gekennzeichnet von der Dominanz eines weitgehend biologisch fundierten Krankheitsund Behandlungsparadigmas. [...] Der einseitigen Interpretation neurobiologischer Forschungsergebnisse und Rückführung psychischer Störungen auf rein biologische Mechanismen und der daraus abgeleiteten Dominanz biologischer Therapieverfahren liegt ein verkürztes Verständnis psychischer Störungen zugrunde.“ (Ebd.: 7)
Obwohl dies nicht dem Stand aktueller neurobiologischer Forschung entspräche, bestimmen Konzepte, „die die Komplexität neurobiologischer Vorgänge in ihrer Interaktion mit der Umwelt nicht adäquat abbilden, nach wie vor die Behandlungspraxis und haben zu einer Verengung psychiatrischen Handelns auf Pharmakotherapie und auf an Medikamentencompliance orientierter Psychoedukation geführt“ (ebd.). Gegen diesen therapeutischen Nihilismus argumentiert die DGSP: „das Fundament einer guten Psychosenbehandlung ist ein komplexes psychosoziales Behandlungsmodell“; (ebd.: 12) als Grundlage gelten „Behandlungsansätze auf der Basis psychosozialer Interaktion“ (ebd.). Psychopharmaka sollen also in der Behandlung psychisch Kranker additiv eingesetzt werden: „Sie können die psychosoziale Behandlung ergänzen“ (ebd.). Ein paar Monate nach
20 Memorandum der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) e.V. zur Anwendung von Antipsychotika; Stand Januar 2010; In der 2., aktualisierten und erweiterten Auflage (Stand: Oktober 2012) wurde der Begriff Antipsychotika durch den Begriff Neuroleptika ausgetauscht, mit dem Verweis, der Terminus Antipsychotika suggeriere, dass diese tatsächlich zur Heilung und nicht nur zur Symptombehandlung eingesetzt werden. Erstveröffentlichung durch den geschäftsführenden Vorstand der DGSP anlässlich der Tagung „Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika!“ am 24. September 2009 in Berlin; abrufbar im Internet unter: www.psychiatrie.de/dgsp/neuroleptika-debatte
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der Veröffentlichung des Memorandums veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) eine Stellungnahme. (DGPPN 2010) Einig sind sich die beiden Fachgesellschaften darüber, dass nur ein komplexes Zusammenspiel von biologischen und psychosozialen Ursachen als adäquates Erklärungsmodell psychischer Erkrankungen zählen kann. So konstatiert die DGPPN in ihrer Stellungnahme, dass „biologische und sozialpsychiatrische Erklärungsmodelle für psychische Störungen [...] heute gerade kein Gegensatz mehr“ (ebd.: 4) sind. Vielmehr trage die „moderne Therapie psychischer Störungen [...] diesen Erkenntnissen Rechnung, indem sie im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes, der immer individuelle Gegebenheiten berücksichtigt, biologische, psycho- und soziotherapeutische Behandlungsmaßnahmen miteinander kombiniert“ (ebd.: 5). So weit die Übereinstimmungen. In der weiteren Auseinandersetzung werfen sich beide Seiten ideologische Blindheit und gefährliche Einseitigkeit zu Ungunsten der Betroffenen vor. Ähnlich wie die DGSP versteht die DGPPN das Zusammenspiel „biologischer, psycho- und soziotherapeutischer Behandlungsmaßnahmen“ additiv, allerdings unter Priorisierung pharmakologischer Interventionen: „Die Evidenz für den Nutzen einer antipsychotischen Pharmakotherapie – kurz- wie langfristig – ist überwältigend.“ (Ebd.: 3) Hingegen sei „die Vorstellung, psychosoziale Interventionen könnten ganz regelhaft alleinige therapeutische Alternativen zu einer Behandlung mit Antipsychotika sein [...] geradezu absurd“, und „der Nutzen einer antipsychotischen Pharmakotherapie [sei] über jeden Zweifel erhaben.“ (Ebd.: 3) So zeigen sich die beiden Fachgesellschaften zwar grundsätzlich einig über das komplexe Zusammenspiel „bio-psycho-sozialer“ Faktoren in Bezug auf aktuelle Erklärungsansätze; in der Bewertung des Stellenwerts von Therapieansätzen zeigt sich hier wiederum die „alte Rivalität“ zwischen Soma und Psyche.21 Das Memorandum und die Reaktionen darauf sind indes nur eine Momentaufnahme einer andauernden Debatte um die Notwendigkeit und Wirkungen
21 Der Soziologe Martyn Pickersgill arbeitet heraus, dass die scheinbar eindeutige Positionierung als entweder biologisch, somatisch oder psychosozial argumentierend die vielfältigen Kontinuitäten und Überlappungen psychiatrischer Krankheits- und Behandlungskonzepte überdecke. (Pickersgill 2010) Insofern sind das Memorandum und die Stellungnahme auch als eine Form von Wissenschaftspolitik zu verstehen; allerdings wirken diese Positionierungen durchaus in die Praxis; die DGPPN beispielsweise veröffentlich regelmäßig Behandlungsleitfäden, deren Empfehlungen nicht zuletzt auch die Beurteilung von Effektivität auf Seiten der Kostenträger beeinflusst. Siehe auch die folgende FN.
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psychopharmakologischer Behandlungsweisen in der Psychiatrie seit der Einführung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin in den 1950er Jahren. Die Medizinhistorikerin Viola Balz skizziert in ihrer ausführlichen Abhandlung über die Geschichte der Neuroleptika in der Bundesrepublik (Balz 2010), wie vor allem in den 1980er Jahren zunehmend kontroverse und polemische Diskussionen zwischen den Anhängern der Psychopharmakotherapie, für die die Entdeckung der Neuroleptika einer „Erweckung“ gleichkam (vgl. Weinmann 2008: 91), und den Kritikern, die vom „chemischen Knebel“ (Lehmann 1986) bis hin zum „psychiatrischen Holocaust“ (Balz 2010: 472) sprachen, geführt wurden. Während von Psychiatrie-kritischen bis anti-psychiatrischen Kreisen ein vollständiger Verzicht auf Neuroleptika gefordert wurde, wurde von Vertretern der Sozialpsychiatrie vor allem für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nutzen und den Risiken von Psychopharmaka plädiert. (Aderhold 2007; Dörner et al. 2002; Finzen 1998, 2010) Ähnlich wie im Memorandum der DGSP wurde und wird einerseits eine möglichst niedrige Dosierung gefordert, andererseits die Notwendigkeit von Sozio- und Psychotherapie betont. Dabei zeigt sich, dass die Diskussion über die Effektivität und den Nutzen von Psychopharmaka gleichzeitig immer auch eine Debatte über die Evidenz vom Nutzen der Sozio- und Psychotherapie ist. 22 Wird insbesondere soziotherapeutisches Arbeiten in der
22 Wie die jeweilige Bewertung der Evidenz im Finanzierungssystem psychiatrischer Behandlung festgeschrieben ist, zeigt sich am folgenden Beispiel: Für besonders kostenintensive Patienten, und dazu gehören Patientinnen, die als chronisch psychisch krank eingestuft werden, wurde zwischen den deutschen Krankenversicherern ein so genannter Risikostrukturausgleich festgelegt, wodurch Krankenversicherer mit entsprechender Klientel aus dem Gesundheitsfond Ausgleichszahlungen erhalten. Als Richtwert für die Erlangung eines Ausgleichs wurde für chronisch Schizophrene die Verschreibung von mindst. 183 Tagesdosen Neuroleptika festgelegt. In einer kritischen Anfrage der DGSP bei der Vereinigung der deutschen Krankenversicherer, dem GKV, inwiefern hier ein finanzieller Anreiz für die psychopharmakologische Behandlung gesetzt wird und wieso sozio- und psychotherapeutische Leistungen nicht als Grundlage für einen Kostenausgleich bewerten werden, teilt der GKV mit: „Die Pharmakotherapie ist die primäre Therapie akuter und chronischer schizophrener Psychosen. Psycho- und soziotherapeutische Verfahren sowie psychiatrische Pflegeleistungen können die neuroleptische adäquate und individuelle Medikation nicht ersetzen.“ Und: „Im Sinne einer gering gehaltenen Bürokratie (wurde) auf ein wesentliches und primäres Setting (Medikation) fokussiert.“ Sozio- und Psychotherapie seien ergänzende therapeutische Maßnahmen zur „Beeinflussung von Folge- und Residualzuständen von Psychosen“ beziehungsweise um schwer psychisch Kranke zu befä-
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Regel als Unterstützung für die eigentlichen ärztlichen Leistungen, also Psychopharmakotherapie, verstanden – beispielsweise durch die Förderung der Krankheitseinsicht –, sind sozio- und psychotherapeutische Ansätze aus sozialpsychiatrischer Sicht der Kern psychiatrischen Arbeitens. In der Mittendamm-Klinik zeigt sich in der Beurteilung des Nutzens von Psychopharmaka und der Anwendungspraxis eine ähnliche Einschätzung wie in der Verwendung diagnostischer Klassifikationen. So wie eine eindeutige Zuordnung psychischer Störungen zu universellen diagnostischen Kriterien als zu grob für den individuellen Einzelfall angesehen wurde – diagnostische Einteilungen werden als erste Wegweiser verstanden, die eine grobe Richtung vorgeben können –, werden die Wirkungen der verschiedenen psychotropen Substanzen als generell unspezifisch und bei weitem nicht universell einer pathologischen Störungen zuordenbar verstanden. Im sozialpsychiatrischen Verständnis, das gerade nicht von universellen pathologischen Störungsmustern ausgeht, sondern individuelle psychosoziale Dynamiken betont, wirken Psychopharmaka auf die Symptome und damit nur indirekt und unspezifisch auf ein Krankheitsbild. Deshalb bezeichnet Klaus Dörner selbst den Begriff des Psychopharmakon, das in seiner ursprünglichen Bedeutung so viel heißt wie „Medizin der Seele“, als „technokratischen Unsinn“ (Dörner et al. 2002: 565). Als therapeutisch nützlich erwiesen habe sich die „,encephalotrope Wirkung‘ einiger ZNS-wirksamer Pharmaka“23, deswegen plädiert er für den Begriff „Neuropharmaka“ (ebd.). Damit betont Dörner, dass Psychopharmaka gerade nicht auf eine pathologische Ätiologie wirken, sondern auf der Ebene der Symptome ansetzen. Im Gegensatz dazu war die Entwicklung von verschiedenen Psychopharmaka von der Vorstellung geprägt, diese Substanzen könnten an den pathologischen Prozessen im Gehirn ansetzen, wie der britische Psychiater David Healy in einem Rückblick auf die Entwicklungen der Psychopharmakologie betont: „During the 1970s the major psychiatric disorders became defined as disoders of single neurotransmitters and their receptors, with depression being a catecholamine disorder, anxiety a 5HT disorder, dementia a cholinergic disorder, and schizophrenia a dopamine disorder.“ (Healy 1997: 163) Hier wird noch einmal deutlich, was Stefan Ecks mit dem Begriff der Pharmazeutikalisierung beschrieben hat: Die Entwicklung von Psychopharmaka veränderte in der Psychiatrie nicht nur Behandlungs-, sondern
higen, ärztlich verordnete Leistungen in Anspruch zu nehmen. Der Briefwechsel ist zu finden unter www.psychiatrie.de/. 23 Encephalotrop setzt sich zusammen aus den altgriechischen Begriffen „enképhalos“ (Gehirn/im Kopf ) und tropé (Richtung, Wendung), encephalotrope Wirkung meint eine Wirkung auf das Gehirn.
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auch Krankheitskonzepte. 24 In den skizzierten Debatten zeigt sich, dass Psychopharmaka zu unterschiedlichen Zwecken und basierend auf unterschiedlichen Verständnissen des „Biopsychosozialen“ in der Behandlung eingesetzt werden. Eine ähnliche Beschreibung im Umgang mit Psychopharmaka, wie ich sie für die deutsche Sozialpsychiatrie skizziert habe, formuliert der US-amerikanische Anthropologe Andrew Lakoff in seiner Ethnografie über das epistemische Milieu von Psychoanalytikern und psychoanalytisch ausgerichteten Psychiatern in Buenos Aires, Argentinien. (Lakoff 2005) Vergleichbar ist zum einen die kritische Distanzierung gegenüber einer als dominant wahrgenommenen „Biopsychiatrie“, deren Hauptaugenmerk auf einer neurochemischen Pathologie läge; zudem betonen die psychoanalytisch ausgerichteten Psychiater ebenso wie „meine Sozialpsychiater“ die zentrale Rolle des Psychosozialen und die Notwendigkeit der Vernetzung hin zu einer gemeindepsychiatrischen Versorgung. Und sie ähneln sich in der pragmatischen Nutzung von Pharmazeutika. Wie Lakoff anmerkt, ist die biomedizinische Konzeptualisierung von Psychopharmaka im Sinne einer neurochemischen Wirkung auf psychopathologischer Ebene im Gehirn, also als in die Krankheitsstruktur eingreifend, nicht die einzige Möglichkeit, wie Experten die Verwendung von Psychopharmazeutika verstehen: „For physician-analysts […[, the medication did not act directly on the site of disorder. Rather, it worked in an indirect way to help sustain what was simultaneously the object of psychoanalytic knowledge and the source of its authority – patient subjectivity. In this setting, the production of subjectivity practically depended on, but remained conceptually autonomous from the effects of medication.“ (Lakoff 2005: 83)
Lakoff zeigt, wie Psychoanalyse und Psychopharmazeutika auf einer theoretischen Ebene zwar inkompatibel seien: Während die neurochemische Medikation universell auf einen pathologischen Organismus einwirkt, zielt die Arbeit des Psychoanalytikers auf die individuelle menschliche Subjektivität ab. Diese Inkompatibilität von dem biomedizinischen Konzept eines universellen somatischen Mechanismus und einer psychoanalytischen Konzeptualisierung von individueller Subjektivität wird im therapeutischen Alltag in einem Bezirkskran-
24 Welche massiven Auswirkungen diese Vorstellung von psychischen Erkrankungen als „Transmitter-Störungen“ auf die Behandlungspraxis wie die Selbstverständnisse von psychisch Kranken haben kann, zeigt Emily Martin für die USA. Hier wird mit komplexen „Cocktails“, die eine ganze Reihe von Neuroleptika beinhalten, auf eine „neurochemische Balance“ hingearbeitet. (Martin 2006).
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kenhaus in Buenos Aires pragmatisch ignoriert, löste aber, so Lakoff, durchaus immer wieder grundsätzliche Diskussionen aus und führte zu eher fragilen Kompromissen. Diese Form „theoretischer Irritationen“ und pragmatisch bedingter Kompromisse findet sich in diesem Ausmaß, wie Lakoff es beschreibt, im sozialpsychiatrischen Umgang mit Psychopharmaka nicht wieder. Im sozialpsychiatrischen Verständnis der Mittendamm-Klinik geht es gerade nicht um eine einseitige Positionierung auf der Seite des Psychosozialen. Bereits in der Aufbruchszeit der deutschen Sozialpsychiatrie in den 1960er und 1970er Jahren wurde eine radikal sozialkonstruktivistische Sicht auf psychische Erkrankungen, wie sie beispielsweise von Sasz in den USA oder Laing in Großbritannien vertreten wurde, abgelehnt. Man forderte von Anfang an ein integratives Modell von Erkrankung und entsprechender Behandlungsansätze, die auch „LeibTherapien“ (Beine 1991: 381) mit berücksichtigen sollten. Psychopharmaka werden durchaus als geeignete Partizipanden in der sozialpsychiatrischen Behandlung verstanden, die einem Menschen den Weg aus der psychischen Krise ermöglichen sollen.25 An den dargestellten Debatten wird deutlich, dass sich hinter dem selbstverständlichen Verweis auf ein integratives, biopsychosoziales Modell in der Psychiatrie unterschiedliche Positionierungen zeigen lassen, nicht nur bezüglich der Behandlung mit Neuroleptika und Psychopharmaka generell, sondern ebenso bezogen auf die Frage, was in Behandlungsregimes als Evidenz zählt und damit als legitim erachtet wird. Dass ein neuer Assistenzarzt der Station eine Kopie des Memorandums der DGSP in sein Fach gelegt bekommen hat, ist ein weiterer Hinweis darauf, wie sich in der Mittendamm-Klinik in dieser Debatte positioniert wird. Die möglichst niedrige Dosierung von Medikamenten war ein selbstverständliches und alltägliches Thema ebenso wie die Problematisierung einseitiger psychoedukativer Ansätze. Dennoch: der Behandlungsalltag in der Mittendamm-Klinik war gerade kein Psychopharmaka-freier Raum; einen Patienten nicht mit Psychopharmaka zu behandeln war schlichtweg keine Option. Bei einer Teambesprechung einer Patientin, die sich weigerte Medikamente einzunehmen, meinte ein Therapeut in die Runde: „Es gibt ja durchaus
25 Daraus einen „strukturalistischen Dualismus“ abzuleiten, wie Lakoff dies für die argentinische psychoanalytische Psychiatrie festmacht – Psychoanalyse arbeitet an der Subjektivität des Patienten, während die Medikation auf den Organismus einwirkt –, erscheint mir allerdings zu kurz gegriffen. Eher erscheint die Sozialpsychiatrie gewissermaßen „un-modern“ (Latour 2008 [1991]), begreift sie – zumindest in ihrer „vagen“ theoretischen Konzeptualisierung – jegliche Form der Therapie als in „Körper-Psyche“ einwirkend.
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Behandlungsansätze, die auf die Behandlung mit Psychopharmaka grundsätzlich verzichten. Vielleicht möchte die Oberärztin das bei dieser Patientin mal ausprobieren.“ Dieser Kommentar sorgte für ein großes Gelächter im Team, für eine realistische Option wurde er offensichtlich nicht gehalten. Bevor ich nun zu den Körperwidmungen im stationären Alltag komme, an dieser Stelle ein kurzer Rückblick der bisherigen Argumentation: Im ersten Schritt habe ich anhand der Erzählungen von drei Betroffenen deren veränderte Körperwahrnehmungen und -interpretationen (sei es aufgrund der psychischen Erkrankung oder der „Behandlungseffekte“) diskutiert und herausgearbeitet, wie psychiatrische Expertise in einer education of attention im Sinne einer (Neu-) Formierung der Körperwahrnehmung präsent ist. Die Betroffenen haben gelernt ihre Körperempfindungen im Zusammenhang mit ihrer psychischen Erkrankung und vor allem der pharmazeutischen Behandlung zu interpretieren und entsprechend zu agieren. Im zweiten Schritt habe ich in Rückgriff auf aktuelle Debatten zur Anwendung von Psychopharmaka das spezifisch sozialpsychiatrische Verständnis des biopsychosozialen Modells nachgezeichnet. Die neurochemische Bearbeitung des Körpers wird hier als selbstverständlicher Bestandteil sozialpsychiatrischen Behandelns verstanden, der aber vor allem die „eigentliche“ Therapie ermöglichen soll. Wie diese im Klinikalltag auf der Station praktiziert wird und wie dies die Körperwidmungen der Patientinnen formt, darum geht es im Folgenden.
K LINISCHE K ÖRPERWIDMUNGEN Wie wird also vor dem Hintergrund der skizzierten Debatten die pharmakologische Behandlung in der Mittendamm-Klinik praktiziert, welches Verständnis der Rolle von Psychopharmaka steht dahinter und wie wird dabei das Leben mit und Arbeiten am Körper der Patientinnen geformt? Diesen Fragen werde ich im ersten Schritt anhand verschiedener Situationen von Besprechungen im Team, in denen sich dem Körper gewidmet wird, nachgehen und skizzieren, wie die dargelegten sozialpsychiatrischen Diskurse im Klinikalltag aktualisiert werden. Anschließend werde ich die verschiedenen Aushandlungen im therapeutischen Alltag mit den Patientinnen darstellen. Das erste Beispiel führt uns in eine Kurvenvisite. Wie ich im ersten Kapitel bereits beschrieben hatte, wird in der Kurvenvisite, die eigentlich für das Besprechen medizinischer Daten wie beispielsweise Laborwerte reserviert sein sollte, im Kollektiv diagnostiziert und unterschiedliches Wissen um den Patienten versammelt. Der Patient, um den es im ersten Beispiel geht, Herr Kurukuz,
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tauchte bereits im letzten Kapitel auf: Er hatte in einer Gruppenvisite beschrieben, wie sich die Realität für ihn verschoben hatte. In der folgenden Kurvenvisite ist Herr Kurukuz nicht in persona anwesend, aber in den Berichten der Professionellen wird seine Perspektive quasi stellvertretend mit eingebracht. Es gibt zahlreiche Situationen, in denen mit den Patienten über die Medikation verhandelt und deren Perspektive in den Vordergrund gerückt wird. In diesem ersten Teil geht es mir allerdings primär um die Art und Weise wie die Professionellen sich im Team dem Patienten-Körper widmen. Damit zur Kurvenvisite. In einem der Arztzimmer sitzen wie jeden Freitagvormittag die Oberärztin der Station, die Stationsärzte, die Sozialarbeiterin und abwechselnd jeweils ein Vertreter der Pflege zusammen. Nach und nach werden die Patienten anhand der Kurven durchgegangen, ein Arzt sitzt am Computer und ruft zusätzlich die aktuellen Ergebnisse der Laboruntersuchung etc. auf. Die Sozialarbeiterin reicht der Oberärztin die nächste Kurve. Oberärztin: „Herr Kurukuz, das ist ja eines unserer Sorgenkinder.“ Sein behandelnder Arzt berichtet: „Herr Kurukuz bekommt momentan 150 mg Leponex. Bislang hat er die Aufdosierung eigentlich gut vertragen, jetzt bei der aktuellen Dosis kämpft er sehr mit der Müdigkeit und fühlt sich ziemlich antriebslos. Er ist da momentan insgesamt ambivalent.“ Oberärztin: „Aber er wirkt meines Erachtens nicht auffallend passiv. Ich bin ihm vorhin auf dem Flur begegnet und da ist er gut mit mir in Kontakt gegangen. Auf mich wirkte er jetzt nicht sediert.“ Pfleger Manfred fügt hinzu, er fände ebenfalls, dass Herr Kurukuz die Umstellung auf Leponex eher negativ wahrgenommen habe und sich gerade auffallend zurückzieht. Die Sozialarbeiterin hingegen meint, sie hätte da von ihm durchaus positive Rückmeldungen bekommen. Es wäre zwar für ihn alles noch sehr schwierig, aber insgesamt sei er froh über die Veränderungen durch die Medikation. Und er würde zum Beispiel sehr optimistisch von dem bevorstehenden Umzug in seine eigene Wohnung sprechen. Der Arzt relativiert etwas: „Ja, er beschreibt schon, dass er näher an die Realität herankommt, das hat er mir im Einzelgespräch noch einmal gut erläutern können. Das sieht er durchaus positiv, dass er dadurch wieder in der Verfassung ist, bestimmte Themen anzupacken. Aber es macht ihm auch Angst.“ Pfleger Manfred: „Angst vor der wiedergewonnenen Realität ist aber nur das eine Problem. Er hat mir noch etwas anderes erzählt, was ihn momentan sehr belastet. Damit ist er erst nach viel Nachfragen rausgerückt: Seit er Leponex nimmt, hat er mehrmals nachts eingenässt. Das ist für ihn unglaublich belastend, da wollte er erst kaum drüber sprechen.“
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Die Oberärztin erklärt, das wäre leider keine seltene Nebenwirkung bei Leponex. „Das ist keine gute Entwicklung. Früher oder später wird er nicht mehr compliant sein. Wir müssen sehen, wie wir ihm da entgegenkommen können.“ Sein behandelnder Arzt schlägt vor, man könnte die Dosis noch einmal überdenken und eventuell reduzieren. Eine Krankenschwester fragt, ob es da nicht „irgendein Urologikum“ gäbe. Es folgt eine etwas längere Diskussion über verschiedene Medikationen. Man beschließt die Dosis der aktuellen Medikation wieder zu reduzieren und mit Herrn Kurukuz eng im Gespräch zu bleiben. Die Oberärztin fragt am Ende noch einmal nach: „Psychopathologisch war sonst nichts weiter?“ Nein, da wäre nichts weiter, meint der behandelnde Arzt. „Und das Labor?“, fragt sie nach. Der Arzt mit Blick auf den PC-Bildschirm: „Das Labor ist schick.“ In der Besprechung über den aktuellen Zustand von Herrn Kurukuz und den Stand der Dosierung seines Antipsychotikums werden verschiedene Körperbeobachtungen ins Spiel gebracht. Die Beobachtungen des Patienten selbst werden „stellvertretend“ eingebracht: Der Arzt berichtet, Herr Kurukuz kämpfe mit seiner Müdigkeit, der Pfleger erzählt von der Nebenwirkung der nächtlichen Inkontinenz. Die Mitarbeitenden ergänzen mit ihren eigenen Beobachtungen: die Oberärztin mit ihrer Einschätzung anhand der Begegnung im Flur, der Pfleger berichtet von einem verstärkten Rückzug. Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt, werden im Team die verschiedenen Informationen gesammelt und interpretiert. In diesem Versammeln werden nicht nur Körperbeobachtungen, sondern auch verschiedene Informationen zum sozialen Umfeld, zur Biografie, zur Familiensituation ausgetauscht. In dem ausgewählten Ausschnitt werden anhand unterschiedlicher Beobachtungen primär die Interpretationen von Wirkungen wie Nebenwirkungen der Medikation und die weitere psychopharmazeutische Behandlung zusammengebracht. Dem Körper wird sich dabei im Kollektiv gewidmet: Die verschiedenen Mitarbeitenden – sei es der behandelnde Stationsarzt oder die Sozialarbeiterin – fügen ihre Sichtweise und Interpretation hinzu; aber auch die „Selbst-Beobachtungen“ des Patienten werden ebenso berücksichtigt (wenngleich in dieser Situation nur stellvertretend) wie die Laborwerte, die wiederum spezifische Körperdaten liefern. Während die Laborwerte in der Besprechung von Herrn Kurukuz eher „im Hintergrund“ bleiben, waren problematische Laborwerte manchmal der Anlass, eine Medikation zu reduzieren oder abzusetzen. Hinter der schlichten Erklärung „Das Labor ist schick“, wie der Arzt am Ende der Besprechung nur lapidar bemerkt, steckt das sorgfältige Kontrollieren einer Bandbreite von Wirkungen, welche die verschiedenen Medikamente mit sich bringen können. Die Liste der
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Nebenwirkungen in den Handbüchern der Psychopharmakotherapie ist lang und verweist von eher harmlosen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Erbrechen über Gewichtszunahme, Schlaflosigkeit, Schwindel hin zu schwerwiegenden, teilweise lebensbedrohlichen Auswirkungen auf den Körper der Patientinnen. Für die verschiedenen Medikationen gibt es standardisierte Routine-Laboruntersuchungen, mit denen beispielsweise die Nierenfunktion, der Leberenzymwert, Blutzucker, Leukozyten etc. gemessen wird. Insbesondere zu Beginn einer pharmazeutischen Behandlung werden regelmäßige Kontrollen durchgeführt, um die Verträglichkeit zu kontrollieren. Hinzu kommen regelmäßige EKGs, um die Herz-Kreislauf-Funktion zu überwachen; zudem ist die Gewichtskontrolle Standard, da bei einigen Medikamenten eine Gewichtszunahme häufige Nebenwirkung ist. Welche Interpretationsleistung hinter der schlichten Aussage „Das Labor ist schick“ steckt, wurde für mich besonders deutlich, als ich einmal die Gelegenheit hatte, dabei zu sein, als ein erfahrender Psychiater der Station einem neuen Kollegen, der bislang nur in der Neurologie gearbeitet hatte, anhand der Kurven und Labor-Untersuchungen den „psychiatrischen Blick auf die Laborwerte“ erklärte. In seinen Erklärungen zeigte sich, dass er kontinuierlich einen Zusammenhang herstellte zwischen dem beobachtbaren Verhalten eines Patienten (war er unruhig in der Gruppenvisite, was steht im Pflegebericht über die Schlafgewohnheiten, wie ist die Mimik einer Patientin, wie geht sie in Kontakt), den bisherigen Erfahrungen mit der Patientin (bei einer Patientin beispielsweise erscheint ein bestimmter Laborwert auf den ersten Blick sehr auffällig, aber bei ihr hätte sich das über die Jahre so eingespielt, das wäre „klinisch unauffällig“; bei einem anderen Patienten sei bekannt, dass er nicht besonders compliant wäre, da müsse man den Spiegel26 regelmäßig kontrollieren) und den spezifischen Wirkungen und Nebenwirkungen eines Medikaments (bei Lithium müsse man insbesondere auf die Nierenfunktion achten; Risperdal wirke zwar gut, aber hätte ziemliche Nebenwirkungen, vor allem extrapyramidalmotorische Störungen27). In dieser Beobachtung und Interpretation geht es eher selten um die grundsätzliche Infragestellung einer Medikation als vielmehr um ein sorgfältiges Austarieren von Wirkungen und Nebenwirkungen. Wie Olaf Mattes erzählte, hatte er zum einen Solian, ein Antipsychotikum, bekommen, um einen Rückfall zu verhindern, und zusätzlich als Stimmungsstabilisierer Valproat. Neben dem Austarieren verschiedener Neuroleptika werden Medikamente eingesetzt, die den Nebenwirkungen entgegenwirken sollen. Ein klassisches Medikament, das auf der Station bei vielen Patientinnen zum Einsatz
26 Konzentration des Wirkstoffes im Blut. 27 Störungen des Bewegungsapparates.
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kommt, ist Akineton 28 , das gegen die oben erwähnten extrapyramidalmotorischen Störungen (EPS), eine Parkinson-ähnliche Erstarrung des Körpers, eingesetzt wird. Angelika Siebert hatte erzählt, dass in ihrem Wohnheim viele Patienten angespannt wären, ein Verweis auf EPS. Während einige Nebenwirkungen äußerlich sichtbar sind (Speichelfluss, Bewegungsdrang gehören zu den typischen Nebenwirkungen), gibt es problematische Konsequenzen, wie beispielsweise die Beeinträchtigung der Nierenfunktion, die den Blick in den psychopharmakotherapierten Körper notwendig machen. In der kurzen Bemerkung zu den auffälligen Laborwerten einer Patientin zeigt sich allerdings, dass die Laborwerte allein nicht entscheidend sind. Für einen Psychiater, der mit vielen Patienten unter Neuroleptika zu tun hat, ist der auffällige Wert alleine nicht automatisch ein Grund, die Medikation abzusetzen. Das „ideale“ Medikament gibt es in dem Sinne nicht. Die meisten Patientinnen, wie Olaf Mattes, Angelika Siebert und Martin Lehmann, haben bereits Erfahrungen mit einer Bandbreite an Medikamenten. Wegen problematischer Nebenwirkungen, aber auch wenn es trotz Medikation zu einem Rückfall kommt oder sich neue Symptome zeigen, wird die Medikation wieder neu überlegt. Zudem werden andere Medikamente, wie das oben erwähnte Akineton, eingesetzt, um die Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen. Ziel dieser kontinuierlichen Beobachtung und Anpassung ist es, eine Stabilität zu erzeugen, die jedoch immer nur temporär ist. Da die Patienten unterschiedlich auf eine Medikation reagieren können, ist die genaue und kontinuierliche Beobachtung und Anpassung notwendig. Im Fall von Herrn Kurukuz steht die Befürchtung im Raum, dass er aufgrund seiner Ambivalenz gegenüber der Wirkungen des Medikaments und aufgrund der negativen Nebenwirkungen früher oder später nicht mehr compliant sein würde. Um seine Compliance nicht zu gefährden, wird entschieden, die Dosierung zu reduzieren: die körperliche neurochemische Intervention wird angepasst, um die fragile psychosoziale Stabilität, die bislang erreicht wurde, nicht zu gefährden. In der Einschätzung der Medikamentierung werden nicht nur die Beobachtungen der Therapeuten, sondern ebenso die verbalen Äußerungen der Patientin wie auch verschiedene „körperliche Äußerungen“ berücksichtigt. Sei es anhand der Beobachtung des Verhaltens mit Blick auf Wirkungen der Medikation, Schlafgewohnheiten und dergleichen oder anhand der verschiedenen Laborwerte, die in der Klinik regelmäßig abgerufen werden. Der Körper wird
28 Akineton ist der Handelsname des Arzneistoffes Biperiden, das auch als Antiparkinsonmittel eingesetzt wird. In der Psychopharmakotherapie wird es gegen so genannte extrapyramidale Nebenwirkungen, Störungen des Bewegungsapparates, eingesetzt.
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dabei im psychiatrischen Behandlungsalltag gerade nicht von der Person getrennt, wie dies allgemein in der somatischen Medizin vorherrscht. In einer Studie über die Konstitution des Patienten-Körpers in der Chirurgie beschreibt Stefan Hirschauer anschaulich, wie in der Vorbereitung auf die Operation die Patienten-Person vom Patienten-Körper Schritt für Schritt abgelöst wird. (Hirschauer 1991, 2004) Durch „geschäftiges Hantieren“ und eine spezifische „Berührungsetikette“ wird – wie Hirschauer dies formuliert – die Person aus dem Körper „ausquartiert“ (Hirschauer 2004: 83). Körper und Person müssen getrennt werden, damit das Operationsteam das Objekt Körper bearbeiten kann. Diese Form der Körperkonstitution verweist zudem auf ein spezifisches anatomisches Wissen über den Körper in der Chirurgie. In der sozialpsychiatrischen Handhabung des Körpers lässt sich eine andere Körper-Konstitution feststellen: Hier werden Körper und Person kontinuierlich „zusammengehalten“. Medikamente wirken auf Symptome ein und ermöglichen den Patienten wieder „näher an die Realität zu rücken“. Gleichzeitig müssen Medikamente mit ihren intendierten Wirkungen wie problematischen Nebenwirkungen sorgfältig arrangiert werden. Hier zeigen sich sozialpsychiatrische Körperwidmungen als careful enactments, als sorgsame Hervorbringung eines fragilen „biopsychosozialen“ Gleichgewichts. Dass Medikamente in der Behandlung meist nur ein Partizipand von vielen in diesem sorgsamen Ausbalancieren sind, zeigt das Beispiel von Herrn Reichle, ein älterer Patient, der schon dutzende Male zur Behandlung auf der Station war und den insbesondere die dienstälteren Pflegekräfte sehr gut kennen. Er lebt in einem Pflegewohnheim, das nicht auf Menschen mit psychischen Erkrankungen spezialisiert ist. Diesmal wurde er ins Krankenhaus gebracht, weil sein Tag-und-Nacht-Rhythmus umgekehrt war und die Pflegekräfte in seinem Wohnheim ihn für „nicht pflegbar“ erklärt hatten.29 Herrn Reichles Medikation sei „ziemlich komplex“, erklärte mir seine behandelnde Ärztin, und man müsse sehr sorgfältig die verschiedenen Medikamente miteinander abstimmen. Problematisch ist zudem, dass er als Nebenwirkung eines Neuroleptikums eine undeutliche, „verwaschene“ Sprache habe und man ihn kaum versteht, was wiederum mit einem weiteren Medikament – nur teils erfolgreich – behandelt wird. Im folgenden Ausschnitt wird in der wöchentlichen Teambesprechung30
29 Diese Geschichte ist kein Einzelfall; die Behandlung älterer, oftmals dementer Patienten, die in den Pflegeeinrichtungen als nicht mehr pflegbar eingestuft wurden und zur „medikamentösen Einstellung“ in die Klinik gebracht werden, gehört sozusagen zum Alltagsgeschäft der Station. 30 In der großen Teambesprechung, die jeden Mittwoch stattfindet, wird jeder einzelne Patient in großer Runde besprochen. Im Unterschied zur Kurvenvisite sind hier
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über die bevorstehende Entlassung von Herrn Reichle gesprochen und vor allem darüber spekuliert, wie lange ihn das Pflegewohnheim behalten werde, bevor sie ihn, damit rechnen alle, wieder zurück ins Krankenhaus schicken. Krankenschwester: „Wenn er wütend wird, und das wird er halt, wenn ihn keiner versteht, und er wieder mit seinem Gehstock um sich schlägt, dann werden die ihn sowieso postwendend zurückschicken. Da bin ich mir sicher.“ Stationsarzt: „Aber was sollen wir deiner Meinung nach machen? Ihm den Gehstock wegnehmen?“ Pfleger: „Auf keinen Fall, den Stock braucht er! Sonst steht er gar nicht mehr auf und liegt nur noch im Bett.“ Ärztin: „Gibt es da nicht irgendeine andere Möglichkeit, keine Ahnung, ein Stock, der sich zusammenfaltet, wenn er damit jemanden schlagen will? Gibt es so etwas?“ Es wird eine Weile über mögliche Konstruktionen eines faltbaren Gehstocks diskutiert und ich sitze etwas erstaunt daneben, mit welcher Ernsthaftigkeit sich alle an dieser „Stock-Diskussion“ beteiligen. Die Ergotherapeutin meint schließlich genervt: „Der Punkt ist doch letztendlich, dass sich die im Heim Zeit nehmen müssen, ihn zu verstehen, das machen wir hier ja auch. Er wird die ersten Tage vermutlich ziemlich agitiert sein, das ist ja normal. Ihm seinen Gehstock wegnehmen, ihr habt Ideen!“ Ärztin: „Vielleicht sollten wir die Medikamentendosis für die erste Woche erhöhen? Damit er etwas weniger angespannt ist?“ Psychologe: „Aber das würde seine Sprachstörung nur noch verstärken.“ Die Oberärztin beendet die Diskussion schließlich und meint zu seiner behandelnden Ärztin: „Versuchen Sie doch, mit denen im Heim zu sprechen, so dass sie sich darauf einstellen, dass die erste Woche mit ihm möglicherweise anstrengend wird. Und geben Sie ihm für die ersten Tage Tavor mit, das nimmt er hier ja auch ab, wenn man es ihm gut erklärt.“ An einem möglichst stabilen Zustand von Herrn Reichle partizipieren vielfältige Akteure: Das Antipsychotikum soll seine psychotischen Symptome reduzieren, beeinträchtigt aber unter anderem sein verbales Artikulationsvermögen, wodurch Herr Reichle „sehr explosionsbereit“ ist und in seiner Wut mit dem Gehstock um sich schlägt. Den Gehstock wiederum braucht er, wie ein Pfleger betont, dadurch
mehrere Pflegekräfte gleichzeitig anwesend (sowohl die Frühschicht als auch die Spätschicht) sowie neben den Stationsärzten, der Oberärztin und der Sozialarbeiterin noch der Psychologe und der Musiktherapeut sowie die Ergotherapeutin.
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kann er sich weiter selbständig fortbewegen. Man müsse sich Zeit nehmen, ihn zu verstehen, betont die Ergotherapeutin. Medikamente, Herr Reichle, der Gehstock, zuhörende und erklärende Therapeuten bilden ein fragiles Ensemble, das immer wieder neu angepasst werden muss. Aber ist dieses fragile Gleichgewicht „transportabel“ und stabil genug, um im Setting des Pflegewohnheims zu funktionieren? Sicherheitshalber werden Beruhigungsmittel mitgegeben und dennoch bleiben alle Beteiligten skeptisch. Wie sich bereits in den Beschreibungen von Angelika Siebert gezeigt hat, können Medikamente (und auch Menschen) wie eine Art Prothese oder Krückstock fungieren. Ähnlich wie der Gehstock Herrn Reichle mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht, sollen die Medikamente ebenfalls ermöglichend wirken. Anhand der bisherigen Beschreibungen konnte ich nur einen kleinen Ausschnitt dessen zeigen, was Medikamente auf dieser Station und im Leben der Patientinnen alles bewerkstelligen sollen: Sie reduzieren Stress und innere Anspannung, verbessern sprachlichen Ausdruck, dämpfen Stimmen und ermöglichen Schlaf, verbessern den Appetit und den Antrieb. Medikamente werden eingesetzt, um an den Symptomen zu arbeiten und ein Gleichgewicht herzustellen, damit man mit dem Patienten an seinen Problemen arbeiten kann. Medikamente sollen im besten Falle wie der Stock des Blinden in Merleau-Pontys berühmten Beispiel fungieren. (Merleau-Ponty 1976) Der Blindenstock, so der Philosoph, wird zum unmittelbaren Bestandteil des Leibes. Er ist kein Gegenstand zwischen dem Blinden und seiner Umgebung, sondern wird durch Gewöhnung vielmehr zum selbstverständlichen Bestandteil der Wahrnehmung und der Bewegung. Diese Gewöhnung sei „der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln“ (ebd.: 173). Medikamente werden im sozialpsychiatrischen Arbeiten als Werkzeuge verstanden, die dem Menschen idealerweise ermöglichen sollen, an sich und seinen Problemen zu arbeiten. Allerdings produzieren Medikamente immer wieder unerwünschte Nebenwirkungen: Sie können die Artikulationsfähigkeit verschlechtern, produzieren Alpträume und machen müde, führen zu Gewichtszunahme und eingefrorener Mimik, zu Mobilitäts- und Kreislaufstörungen und verkürzen, wie Olaf Mattes betonte, die Lebenserwartung. Einerseits sollen sie dem Patienten ermöglichen, möglichst unbelastet von den Symptomen an seiner psychischen Stabilität zu arbeiten, andererseits erinnern gerade die Medikamente an die Erkrankung. Wie nun gemeinsam mit den Patienten durch Medikamente Stabilität ko-produziert wird und was passiert, wenn Patienten sich dem verweigern, zeige ich auf den nächsten Seiten.
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Medikamentierung als „ermöglichende“ Körperwidmung Insbesondere morgens in den Gruppenvisiten waren Medikamente ein wichtiges Thema. Für die Patientinnen gab es hier die Möglichkeit, mit dem Arzt über erwünschte wie unerwünschte Wirkungen zu sprechen. Viele der Patienten waren erfahrene Psychopharmaka-Nutzer und hatten teilweise konkrete Vorstellungen davon, welches Medikament oder welche Dosis sie bevorzugten. Frau Jüttner beispielsweise erklärte ihrer Ärztin, dass sie zum Einschlafen gerne Seroquel hätte oder noch lieber Diazepam, das habe ihr bislang immer am besten geholfen. Patienten verglichen oftmals ihre aktuellen Medikamente mit früheren Präparaten. Herr Sommer erklärte seiner Ärztin, dass er sich durch die aktuelle Medikation zugleich aufgekratzt und total schwach fühle, das wäre nicht gut für seinen Körper, habe er den Eindruck. Unter Haldol wäre das anders gewesen, da wäre die Psyche stärker gewesen, aber er hätte unter Haldol diese ständige Unruhe nicht ertragen können. Ob es nicht eine Alternative gäbe, Risperdal beispielsweise, ein Mitpatient bekomme das und fände das ganz gut. Die Ärztinnen versuchen in der Regel mit den Patienten gemeinsam an einer medikamentösen Lösung zu arbeiten, die nicht nur wirksam gegen die Symptome ist, sondern insgesamt (v)erträglich für die Patienten. Dabei wird gegenüber den Patientinnen betont, man mache ihnen als Professionelle Angebote, welche Medikation aus ihrer Sicht hilfreich sein sollte. Damit hatten manche Patienten ihre Schwierigkeiten, wie beispielsweise Herr Kamer, der in einer Oberarztvisite ob dieses „Angebots“ nur überrascht meinte: „Aber woher soll ich denn wissen, ob das Medikament hilft, Sie sind die Experten!“ Patienten mit eigenwilligen Vorstellungen werden – ähnlich wie in der Arbeit an der Erfahrung – in der Interpretation der (Un-)Wirksamkeit eines Medikaments alternative Einschätzungen von Seiten der Professionellen angeboten. Frau Appelt hatte beispielsweise beklagt, dass bei ihrem neu angesetzten Medikament die Wirkung bereits immer gegen Mittag nachlasse und dann das „Gedankenkarussell“ anfange. In der Klinik wurde ihr letztes Medikament abgesetzt, auch wegen der Nebenwirkungen, sie hatte sehr stark an Gewicht zugenommen. Einerseits sei sie über das neue Medikament froh, weil sie hoffentlich wieder etwas Gewicht verliere, wie sie mir in einem Gespräch erzählt. Andererseits wirke das neue Medikament anders und sie habe das Gefühl, mittags lasse die Wirkung nach und sie werde unruhig. Sie überlegt, ob eine höhere Dosis oder ein anderes Medikament vielleicht doch besser wäre. In einem Einzelgespräch mit ihrem Arzt spricht sie das Thema an.
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Stationsarzt: „Wir hatten da gestern schon in der Visite darüber gesprochen und Sie haben ja den Eindruck, dass da ein Zusammenhang besteht, dass die Medikamentenwirkung gegen Mittag nachlässt. Ich habe schon angedeutet, dass man das vielleicht etwas anders sehen könnte. Also, ich will das nicht kleinreden, Frau Appelt. Nur ist das letztendlich etwas völlig Normales, dass die Stimmung über den Tag nicht immer gleich bleibt. Das geht mir auch so. Ich würde jetzt deshalb keine Änderung oder Höherdosierung machen wollen. Sie haben das bei Zyprexa erlebt, dass die Medikamente ihre Nebenwirkungen haben. Deshalb halte ich eine Höherdosierung nicht für den richtigen Weg. Was wir machen können, wäre die Tablette zu teilen und morgens eine halbe geben und mittags noch einmal eine halbe. Das können wir einfach mal beobachten, ob das besser geht. Können Sie sich das so vorstellen?“ Frau Appelt nickt. Aber erst müsse man den Prozess des Ausschleichens des alten Medikaments beenden, fügt der Arzt hinzu, das wären noch drei Tage, dann könne man mit der Halbierung der Dosierung anfangen. Als Frau Appelt offensichtlich enttäuscht reagiert, betont ihr Arzt: „Sie wissen, dass wir nie zwei Sachen auf einmal machen!“ Ihr Arzt betont, dass es nach wie vor wichtig sei, dass sie sich wie bisher nachmittags viel bewege. „Das hat Ihnen bislang ja durchaus gutgetan und das mindert die Anspannung ebenfalls.“ In den Aushandlungen der Psychopharmakotherapie müssen Patienten lernen, ihre medikamentierten Körper kontinuierlich wahrzunehmen und zu beschreiben. Die Professionellen sind darauf angewiesen, dass Patienten artikulieren, wie und was sich durch die Behandlung verändert. Wirkt das Medikament wie erwartet? Zeigen sich Nebenwirkungen, die behandelt werden müssen?31 Gleichzeitig wird mit den Patientinnen kontinuierlich daran gearbeitet, die Wirkungen richtig zu deuten. Welche Veränderung ist beispielsweise nur vorübergehend (insbesondere Müdigkeit) oder wurde möglicherweise durch das Absetzen des vorherigen Medikaments ausgelöst? Bei Frau Appelt wurde angesprochen, dass
31 Die Anmerkung, man mache nie zwei Sachen auf einmal, verweist auf die Philosophie der Mittendamm-Klinik nicht nur möglichst niedrig zu dosieren, sondern gerade auch eine Mehrfachmedikation zu vermeiden. Wie Stefan Weinmann feststellt, wäre es in psychiatrischer Behandlung mittlerweile übliche Praxis, mehrere Neuroleptika gleichzeitig zu verschreiben, so dass oftmals nicht mehr eindeutig ist, was die Nebenwirkung eines Medikaments sei oder Symptom einer Störung. Polypharmazie, das „schmutzige Geheimnis der Psychiatrie“, wie Weinmann es bezeichnet, versucht man in der Mittendamm-Klinik explizit zu vermeiden. (Weinmann 2008: 175ff.)
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manche Empfindungen möglicherweise gar nichts mit der Medikation zu tun hätten, sondern „etwas völlig Normales“ wären. In den verschiedenen Gesprächen zwischen den Behandlern und den Patientinnen war dies immer wieder Thema: Was ist die Wirkung des Medikaments, was ist eine Nebenwirkung und was ist ein „normales Körpergefühl“? Den Patienten werden alternative Interpretationen ihrer Körperwahrnehmung angeboten. So betont der Arzt gegenüber Frau Appelt, dass er ihre Wahrnehmung „nicht kleinreden“ möchte, aber eine möglichst niedrige Dosierung für entscheidend hält. Die Beobachtung und die Interpretation des Körpers durchläuft eine kontinuierliche, absichtsvolle education of attention (Ingold). Ähnlich wie ich es im vorherigen Kapitel zum „Erfahrung-Machen“ analysiert habe, wird hier mit mehr oder weniger Druck die Artikulation und Interpretation gelenkt. Keine Psycho-Edukation im klassischen Sinne, aber ein konstanter Lehr- und Lernprozess. Dabei bedeutet diese education of attention nicht zuletzt eine education of compliance. Dies wird in Gesprächen explizit thematisiert, indem auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen und zuverlässigen Einnahme der Medikation hingewiesen wird. Wie bereits im Beispiel von Herrn Kurukuz und hier bei Frau Appelt wird auf Seiten der Professionellen auf eine Compliance hingewirkt, indem man den Patienten als aktiven Akteur oder zumindest als ernstgenommenes Gegenüber involviert. Durch das kontinuierliche Aushandeln, durch das gemeinsame „Herumdoktern“ wird der Patient aktiv im Prozess gehalten. Ziel sozialpsychiatrischer Körperwidmungen ist es, dass die Patientin die Einnahme von Medikamenten als Form der Selbst-Sorge annimmt. Das Beispiel von Angelika Siebert zeigt, wie Psychopharmaka tatsächlich als Selbst-Sorge außerhalb der Klinik integriert werden können. Die Betonung eines kooperativen Behandlungsmodus soll allerdings nicht suggerieren, dass diese Art der Körperwidmung nicht immer auch im Rahmen institutioneller Machtverhältnisse und -mechanismen zu diskutieren ist. Gerade in der absichtsvollen, kontinuierlichen Formierung der Körperwahrnehmung zeigt sich bereits, welche Erwartungen und Vorstellungen von Körperlichkeit hier kontinuierlich eingefordert und als Norm gesetzt werden. Medikamente alleine, so die regelmäßige Botschaft der Professionellen an die Patientinnen, könnten dauerhaft nichts an den Problemen ändern, wichtig wäre es, das gesamte therapeutische Angebot zu nutzen. Viel Bewegung am Nachmittag wäre beispielsweise besser, als sich zum Einschlafen automatisch eine Bedarfsmedikation zu holen. Sich morgens aktiv im Stationsalltag einzubringen, beispielsweise bei der Vorbereitung des Frühstücks zu helfen, am Frühsport teilzunehmen, wären Möglichkeiten, gegen die Müdigkeit am Morgen anzugehen. Eine medikamentöse Behandlung, so das zentrale Argument der Behandler-
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innen, unterstützt die Patienten, aus der akuten Krise herauszukommen und wieder eine gewisse Stabilität zu erlangen; um stabil zu bleiben und vor allem die soziale Funktionalität zu erhalten, sind die anderen therapeutischen Angebote und vor allem eine stabile Tagesstruktur mindestens ebenso wichtig. Medikamente heilen nicht, sie lindern die Symptome, wurde gegenüber den Patienten immer wieder betont. Wie die verschiedenen psycho-, sozio-, und pharmakotherapeutischen Maßnahmen ineinandergreifen sollen, zeige ich am folgenden Ausschnitt einer Gruppenvisite. Im Zentrum steht Frau Sikorski, die Patientin, die ich im zweiten Kapitel mit der ausführlichen Beschreibung des Aufnahmegesprächs und der entsprechenden Dokumentation eingeführt hatte. Die folgende Gruppenvisite fand einige Zeit nach dem Aufnahmegespräch statt. Die Runde beginnt mit Frau Sikorski. Auf die Frage des Arztes, wie es ihr ginge, antwortet sie: „Bei mir ist alles unverändert, ich bin heute nur etwas müde.“ Der Arzt spricht mit ihr über die Medikamente und erklärt ihr, dass die Müdigkeit zum einen mit der Erkältungswelle auf der Station, aber auch mit den Medikamenten zusammenhängen könne. Er führt aus, wie die aktuelle Dosis in den nächsten Tagen langsam erhöht werden soll. Falls sie wegen einer Erkältung damit nicht gut zurechtkommen sollte, könnte man die Erhöhung langsamer machen oder pausieren. Das Ziel wäre ja, dass die Stimmen leiser werden, zumindest etwas gedämpft werden und nicht mehr so drängend, betont der Arzt. Frau Sikorski nickt. Der Arzt ergänzt: „Das Stimmenhören ist ja nur ein Teil Ihres Problems, dann wäre da ja noch insgesamt das Problem des Fluches. Hat sich denn in den Inhalten der Stimmen eine Veränderung gezeigt?“ Nein, antwortet Frau Sikorski. Ob sie denn etwas im Therapieangebot gefunden habe, was ihr guttue? Frau Sikorski zählt auf, die Backgruppe und die Ergotherapie, das wäre gut. Der Arzt antwortet: „Dann sollten Sie davon so viel wie möglich machen, wenn es Ihnen guttut, aktiv zu sein.“ Frau Sikorski nickt wieder. Ob sie denn das Stimmenhörerinterview gemacht habe? Ja, sagt sie, das habe sie mit der Psychologin angefangen. Schön, sagt der Arzt, es würde ihr vielleicht weiterhelfen, mit den Stimmen besser umgehen zu können. Es wäre schon sehr wichtig, sich damit weiter auseinanderzusetzen. Er fügt hinzu: „Es gibt auch eine Art Selbsthilfegruppe von Stimmenhörern, wo sich Menschen, die ebenfalls Stimmen hören, austauschen über ihre Erfahrungen. Das wären so Angebote, die wir Ihnen machen können. Aber das können wir einfach in nächster Zeit noch gemeinsam weiter überlegen. Frau Sikorski, gibt es sonst noch etwas, was wir jetzt besprechen sollten?“ Die junge Frau überlegt kurz und meint dann: „Ne, eigentlich nicht.“ Der Arzt wendet sich dem nächsten Patienten zu.
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Hier zeigt sich, wie notwendig die Beschreibungen des Patienten zur Einschätzung der Medikamentenwirkung sind und wie in der alltäglichen Arbeit auf der Station verschiedene Deutungsangebote dieser Körperwahrnehmung eingebracht werden. Möglicherweise rührt die Müdigkeit von Frau Sikorski von der Medikation, möglicherweise aber auch von einer normalen Erkältung. Man bleibt im Gespräch und bietet an, bei anhaltenden Beschwerden die Dosierung wieder zu reduzieren. Das Problem, das hier ins Zentrum der Arbeit gestellt wird, sind die Stimmen, die Frau Sikorski nach wie vor hört, und der damit zusammenhängende Fluch. Um das Problem zu bearbeiten, kommen verschiedene Behandlungstechniken zum Einsatz. Die Medikamente, die Frau Sikorski bekommt, sollen die Stimmen abdämpfen. Mit Psychopharmaka werden die Symptome der Patienten bearbeitet, aber wie in der Gruppenvisite deutlich wird, sind sie nur ein Bestandteil eines Maßnahmenpakets. Ein Stationsarzt erklärte mir auf die Frage, wie aus seiner Sicht Medikamente und andere therapeutische Angebote zusammenhängen: Letztendlich könne man das nicht wissen, ist es die Entlastung durch die Aufnahme auf die Station, die Medikamente, die therapeutischen Gespräche oder vielleicht einfach ein Zeitfaktor. Man müsse in jeder Situation immer wieder neu abwägen, welche Maßnahme zu dem aktuellen Zeitpunkt hilfreich sein könnte. Deweys „Suche nach Gewissheit“ (Dewey 2001 [1929]) zeigt sich hier als ein kontinuierlicher Prozess der Aushandlung, Anpassung und vor allem des Ausprobierens. Dabei wird mit der medikamentösen Behandlung vor allem darauf abgezielt, dass die Symptome, im Falle von Frau Sikorski die quälenden Stimmen, in den Hintergrund treten. Das ist allerdings nur ein Schritt in dem therapeutischen Prozess, der darauf abzielt, dass sie wieder sozial „funktionsfähig“ wird. Dass Medikamente in dieser sozialpsychiatrischen „Suche nach Gewissheit“ aus Sicht der Professionellen unverzichtbare Partizipanden sind, wird vor allem offensichtlich, wenn Patienten sich dieser Partizipation verwehren. Dazu komme ich im nächsten Abschnitt. „Hartnäckige Motivation“ Es ist Montagmittag, die Stationsärzte, die Musiktherapeutin, der Ergotherapeut sowie der Psychologe treffen sich, um die Therapiepläne der Patientinnen zu besprechen. Gab es irgendwelche Veränderungen im Therapieplan eines Patienten? Kommt die Patientin wie geplant in der Therapie an? Und wie verhält sich die Patientin in den Therapiesitzungen? In der Regel hat eine der Stationsärztinnen den Plan vor sich, von den Therapeuten kommt ein kurzes „Abnicken“, und der nächste Patient ist an der Reihe. An diesem Montag nimmt eine Patientin sehr viel mehr Raum in der Besprechung ein als die anderen Patienten. Frau
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Martens, diagnostiziert mit einer Angststörung, ist bereits seit einigen Wochen auf der Station. Sie nimmt an allen für sie angesetzten therapeutischen Aktivitäten teil: die Ergotherapie, die Angstbewältigungsgruppe, die DepressionsGruppe sowie die verschiedenen Beschäftigungsangebote, die in der Klinik angeboten werden. Zusätzlich dazu haben Frau Martens und ihre Ärztin einen Wochen-Plan ausgearbeitet, wie sie kontinuierlich an ihren Ängsten und Panikattacken arbeiten kann. Machte sie zu Beginn der Behandlung gute Fortschritte, erlebte sie schließlich einen schweren Rückfall. Schon vor diesem Rückfall hatten die Ärzte immer wieder versucht, sie zu einer medikamentösen Behandlung zu motivieren. Aber wie ihre Ärztin mir einmal erklärte: „Ihr Problem ist, dass sie immer von einem ‚worst case scenario‘ ausgeht. Wenn sie den Bus nimmt, wird dieses und jenes passieren; wenn sie die Medikamente nimmt, wird sie diese und jene Nebenwirkungen haben. Momentan ist sie einfach völlig auf diese Nebenwirkungen fixiert und wir kommen mit ihr nicht mehr weiter.“ Als alle Beteiligten der Behandlung, die Professionellen wie auch Frau Martens, zunehmend frustriert von der Stagnation des Behandlungsverlaufs sind, entscheidet sich die behandelnde Ärztin, die Oberärztin der Station hinzuzuziehen. Sie treffen sich mit Frau Martens und die Oberärztin macht Frau Martens klar, dass es keinen Sinn macht, die Behandlung in der bisherigen Weise fortzuführen. Es wäre dringend an der Zeit, eine pharmakologische Behandlung in Betracht zu ziehen. „Ihre Panikattacken und Ihre Angstzustände, die Sie haben, sobald Sie die Station verlassen, verhindern, dass Sie ernsthaft an Ihren eigentlichen Problemen arbeiten. Wir müssen einen Weg finden, Ihren Zustand so weit zu stabilisieren, damit Sie sich wieder ernsthaft den eigentlichen therapeutischen Zielen zuwenden können.“ Frau Martens hingegen lehnt diese Option grundsätzlich ab: Sie wird auf keinen Fall irgendeine Medikation nehmen. Sie hat sich über das Medikament, das man ihr vorgeschlagen hat, informiert und sich mit den Nebenwirkungen auseinandergesetzt, und diese wären sehr gravierend: Vor allem Konzentrationsstörungen, Schwindel und so weiter. Im Laufe des Gesprächs wird sie zunehmend aufgebrachter: „Ich möchte einen klaren Kopf behalten, das ist alles, was ich noch habe. Wenn man mir das auch noch nimmt und ich keinen klaren Blick mehr habe, dann gibt es gar nichts mehr, worauf ich mich verlassen kann! Das mache ich nicht, auf keinen Fall!“ Nach einer langen Diskussion, in der die Oberärztin nichts unversucht lässt, Frau Martens doch noch zu überzeugen, wird ihr am Ende klargemacht, dass man sie unter diesen Umständen im Krankenhaus nicht weiter behandeln kann. Wenn sie sich nicht auf eine psychopharmakologische Therapie einlassen kann, könne man ihr nicht weiterhelfen. Wie mir ein Stationsarzt später erklärt: „Frau Martens muss letztendlich einen Weg finden, sich von der Klinik zu emanzipieren, oder sie wird
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chronifizieren. Wir haben sehr lange versucht mit ihr einen anderen Weg zu gehen, aber wenn sie dem Team nicht vertraut und es zumindest auf den Versuch ankommen lässt, dann können wir ihr nicht weiterhelfen.“ Wie am Fall von Frau Martens noch einmal deutlich wird, sollen die Medikamente ihre Symptome abschwächen und der Patientin ermöglichen, ihre Ängste so weit zu überwinden, dass sie in der Lage ist, an ihren „eigentlichen Problemen“ zu arbeiten. Die Medikamente erledigen nicht die Arbeit für Frau Martens und sie werden auch nicht ihre Ängste und Panikattacken „heilen“. Was als besonders problematisch angesehen wird, ist ihre mangelnde Emanzipation von der Station und ihre anhaltende Instabilität, die aus Sicht der Ärzte durch den langen Aufenthalt und die stagnierende Behandlung noch verstärkt wurde. Ihre Weigerung, ein Psychopharmakon einzunehmen, wird vor allem als ein weiteres Symptom ihrer Störung interpretiert (sie sei völlig auf die Nebenwirkungen fixiert) und als Mangel an therapeutischer Compliance (wenn sie dem Team nicht vertraue, könne man ihr nicht weiterhelfen). Insgesamt wird ihre Weigerung, sich auf den vorgeschlagenen therapeutischen Pfad zu begeben, als Risiko für eine Chronifizierung interpretiert. Hier zeigt sich zweierlei: Erstens reicht es nicht aus, sich „nur“ den soziound psychotherapeutischen Angeboten zu widmen (Frau Martens war ja zumindest in Teilen durchaus sehr Therapie-compliant); spätestens wenn dadurch keine Besserung eintritt, muss eine medikamentöse Behandlung in Betracht gezogen werden. Sonst könnte man gleich gar nichts machen, wie es ein Arzt einmal halb im Scherz meinte. Er bezog sich auf den Fall einer Patientin, die in einem akuten psychotischen Zustand auf der Station war, ähnlich wie Frau Martens an den verschiedenen therapeutischen Angeboten teilnahm, aber grundsätzlich keine Medikamente einnehmen wollte. Eine Unterbringung wurde vom Richter abgelehnt und die Patientin beendete daraufhin die Behandlung. Ihr Arzt war frustriert der Meinung, dass die Behandlung völlig unproduktiv gewesen wäre. Eine Behandlung ohne Medikamente war aus seiner Sicht keine „richtige“ Behandlung. Hatte ich im letzten Kapitel gezeigt, dass ein einseitiges Beharren auf einer pharmakologischen Behandlung im sozialpsychiatrischen Verständnis zum Problem wird, zeigt sich dies umgekehrt ebenso: Medikamente, Gesprächsgruppen, Soziotherapie werden in der sozialpsychiatrischen Choreografie immer zusammen eingesetzt, nur das eine oder das andere wird problematisch. Der ideale Patient nimmt wie Frau Sikorski ihre Medikation, dämpft damit ihre Stimmen und arbeitet dann psycho- und soziotherapeutisch an den eigentlichen Problemen weiter.
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Zweitens wird deutlich, dass die Bereitschaft, Medikamente zu schlucken, mit einem spezifischen Verständnis von rationalem oder zumindest „krankheitseinsichtigem“ Verhalten gleichgesetzt wird. Frau Martens’ Verweigerung trotz der kontinuierlichen professionellen „Motivation“ seitens der Experten wird als Ausdruck ihrer Psychopathologie interpretiert; eine andauernde Verweigerung wird als problematisch für ihren Gesundungsprozess gedeutet, was früher oder später zu einer Chronifizierung führen könnte. Im Stationsalltag war dies eine übliche Interpretation. Wie sich eine Patientin bezüglich der Psychopharmakotherapie verhält – Lehnt sie diese ab oder nicht? Wie zuverlässig nimmt sie die Medikation? Wie geht sie mit den Nebenwirkungen um? –, wurde als Einschätzung der Therapiefortschritts herangezogen. Verweigert sich eine Patientin dieser Choreografie dauerhaft, kann dies zum Abbruch der Behandlung führen. Zuvor wird „hartnäckig motiviert“, wie eine Ärztin es einmal bezeichnete. Die Umschreibung „hartnäckige Motivation“ fiel auf der Station, als es darum ging, Olaf Mattes von der Notwendigkeit zu überzeugen, ein Antidepressivum einzunehmen. In einer Oberarztvisite wird ihm dieser Vorschlag nahegelegt. Ähnlich wie bei Frau Martens wird ihm klargemacht, dass aufgrund der nun schon länger anhaltenden Stagnation im Behandlungsverlauf zusätzlich zu seinem Antipsychotikum ein Antidepressivum notwendig geworden wäre. Olaf Mattes ist zu diesem Zeitpunkt seit dreieinhalb Monaten auf der Station und leidet darunter, dass – wie er selbst sagt – sich nichts verändert, nichts besser wird, keine Entlassung in Sicht sei. Dennoch, ein Antidepressivum lehnt er strikt ab, warum, kann er in der Oberarztvisite nicht genau erklären, nur: „Das bringt eh nichts.“ Am Tag nach der Visite unterhalte ich mich mit ihm und frage ihn unter anderem, ob er denn über den Vorschlag von gestern in der Oberarztvisite nachgedacht hätte. Nein, das möchte er nicht. Als ich etwas nachbohre, erklärt er mir schließlich, er stünde Psychopharmaka grundsätzlich skeptisch gegenüber, und jetzt zusätzlich noch Antidepressiva, das möchte er auf keinen Fall. Das eine Medikament, das er nimmt, das würde er ja noch einsehen, aber Antidepressiva auf keinen Fall. Was der Grund für seine Skepsis sei, frage ich nach. Das mache den Kopf nur noch mehr kaputt, entgegnet er. Ich hatte ihn bis zu diesem Gespräch selten so viel am Stück sprechen und so eindeutig seine Meinung vertreten gehört. Zwei Tage später berichtet seine behandelnde Ärztin in der Teambesprechung, dass Herr Mattes nun einer Behandlung mit einem Antidepressivum zugestimmt hätte, „nach sehr hartnäckiger Motivation“, fügt sie hinzu. Druck auszuüben (bis hin zum Abbruch der Behandlung) wurde von den Professionellen als Teil der therapeutischen Arbeit verstanden; sei es, um eine Chronifizierung zu vermeiden, oder auch, um einem Patienten eine Entschei-
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dung abzunehmen, die er krankheitsbedingt nicht treffen kann. Bei Olaf Mattes wurde argumentiert, dass er momentan in sich gefangen sei, sich deshalb keinerlei Veränderung vorstellen könne und überfordert wäre, sich in therapeutischen Maßnahmen aktiv zu beteiligen. Dass er zudem nicht an den verschiedenen Gruppenangeboten teilnahm, bestätigte diesen Eindruck. Insgesamt zeigten die Professionellen zwar die Bereitschaft, sich mit den Vorstellungen der Patienten auseinanderzusetzen und diese ernst zu nehmen, im Zweifelsfall aber, wenn die Behandlung stagnierte oder sich der Zustand verschlechterte, bestimmten die Professionellen den weiteren Weg auch gegen die Vorstellungen der Patientinnen. In der psychiatrischen Versorgung sind Patienten also keineswegs so selbstverständlich aktiv, wie beispielsweise Annemarie Mol dies in The Logic of Care für Diabetes-Patientinnen postuliert. Vielmehr beinhalten psychiatrische Praktiken des Versorgens vor allem das Aktivieren und Motivieren von Patienten zur Teilnahme an der Behandlung. Im psychiatrischen Alltag kann es aus Sicht der Professionellen gewissermaßen nicht hingenommen werden, wenn ein Patient „tapfer“ ist, wie Mol dies für die fernbleibenden oder nicht auf care-Angebote eingehenden Patienten beschreibt. (Mol 2008: 70ff.) In der sozialpsychiatrischen Umformung der Körperwidmungen wird – das habe ich in den ersten Beispielen klinischer Körperwidmungen beispielsweise bei Frau Sikorski und Frau Appelt gezeigt – im Modus der Kooperation mit den Patienten an der Wahrnehmung und Interpretation des Körpers gearbeitet: Wie fühlt sich etwas an? Ist es ein Symptom der Erkrankung, völlig normal oder Anzeichen einer Nebenwirkung? Die Sichtweisen der Patientinnen werden eingefordert und – soweit aus Sicht der Professionellen sinnvoll – in den Behandlungsschritten berücksichtigt. Ziel ist eine Compliance, die über die stationäre Behandlung hinausgeht und im poststationären Alltag im Idealfall zur Selbstverständlichkeit wird. Die Erzählungen von Angelika Siebert und Martin Lehmann verdeutlichen, wie nachhaltig diese „Umerziehung“ der Körperwidmungen sein kann. Für viele Patientinnen ist die Einnahme von Psychopharmaka ein notwendiger und größtenteils selbstverständlicher Bestandteil ihrer Körperwidmungen. Olaf Mattes’ Perspektive – sowohl in der Klinik wie auch im poststationären Alltag – wiederum zeigt, dass der Modus der Kooperation in einem von den Professionellen abgesteckten Rahmen stattfindet: Medikamente ermöglichen sozialpsychiatrisches Behandeln, sich dieser „Ermöglichung“ zu verweigern ist aus Sicht der Professionellen keine therapeutische Option, sondern psychopathologisches Symptom. Hier wird sichtbar, wie spezifische sozialpsychiatrische Konzeptualisierungen des Biopsychosozialen das Repertoire therapeutischer Praktiken leiten und den Spielraum der Körperwidmungen grundlegend mitbestimmen. Wie also psychische Erkrankungen erfahrbar, fühl-
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bar und interpretierbar sind, wird durch psychiatrische Diskurse, die in den konkreten klinischen Alltagspraktiken meist implizit bleiben, maßgeblich ko-produziert. Im letzten Abschnitt werde ich abschließend der Frage nachgehen, inwiefern sich vor diesem Hintergrund Praktiken des (sozialpsychiatrischen) kooperativen Sorgens und Praktiken, die das gewaltsame Behandeln des Patienten-Körpers unter Zwang bedeuten, zusammen diskutieren lassen: Inwiefern handelt es sich hier um einen Bruch in der Behandlungslogik oder doch um ein Kontinuum derselben Logik? Fixierte Körper Wenn selbst eine „hartnäckige Motivation“ nicht zur Compliance führt, aber eine medikamentöse Behandlung aus therapeutischer Sicht kein Angebot, sondern eine Notwendigkeit darstellt, ist die letzte Möglichkeit aus Sicht der Professionellen – neben dem Behandlungsabbruch – schließlich die Entscheidung für eine Zwangsmedikamentierung. Zwangsbehandlungen sind auf zwei unterschiedlichen juristischen Grundlagen möglich: zur Abwehr einer akuten Eigen- oder Fremdgefährdung nach dem Berliner Landesgesetz für psychisch Kranke (PsychKG) 32 oder nach dem Betreuungsrecht, das im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt ist. Nach § 1906 BGB kann im Rahmen einer Unterbringung eine medizinische Zwangsbehandlung „zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens“ (§ 1906 BGB Absatz 1) durchgeführt werden.33 Da das Thema der Zwangsbehandlung äußerst umstritten
32 Gesetz vom 8. März 1985, geändert durch das Gesetz zur Ausführung des Betreuungsgesetzes und zur Anpassung des Landesrechts vom 17. März 1994 und das Gesetz zur Neuregelung des Krankenhausrechts vom 18. September 2011. 33 Während des Schreibens dieser Arbeit fanden mehrere öffentliche Diskussionen über die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen statt. So wurde das Patientengesetz geändert, wodurch es – eher als politisch unintendierter Nebeneffekt – für Menschen mit psychischen Erkrankungen möglich wurde, im Rahmen einer Patientenverfügung jegliche Zwangsbehandlung abzulehnen. Weitaus grundsätzlicher war die Diskussion und die juristische Neuregelung, die durch die UN-Behindertenrechtskonvention notwendig wurde. (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen/Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) vom 13.12.2006; in Kraft getreten am 03.05.2008; ratifiziert vom Deutschen Bundestag am 21.12.2008) Während in der Auslegung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den UN-BRK-Ausschuss Zwang im Bereich der gesundheitlichen und psychiatrischen Versorgung grundlegend abzulehnen ist, ist es nach dem deutschen Betreuungsrecht
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ist, scheint es mir an dieser Stelle notwendig, einige statistische Auswertungen aufzuführen, um die Dimension zu erläutern. Im Jahr 2010 wurden in der Mittendamm-Klinik circa 4,7 % der Patienten zwangsmediziert (bei einer angenommenen Zahl34 von 2000 Patienten wären also 94 unter Zwang medikamentiert worden).35 Eine Zwangsmedizierung während einer Unterbringung nach BGB, also als Form einer erzwungenen Heilbehandlung und nicht zur akuten Gefahrenabwehr, betraf in der Mittendamm-Klinik einen sehr kleinen Personenkreis, bezogen auf die Fälle im Jahresdurchschnitt waren es weniger als 0,5 % (bei angenommenen 2000 Behandlungsfällen beträfe dies circa 10 Fälle; eine Zahlenangabe zu den davon betroffenen Patienten gibt es leider nicht). Hierfür muss nicht nur der gesetzliche Betreuer zustimmen, sondern auch ein Richter, der mit dem Patienten persönlich vor der Entscheidung spricht.36 Gerade im Rahmen einer Unterbringung wird von den Professionellen einige Motivierungsarbeit geleistet, da eine Zwangsmedikation alleine aus ihrer Sicht zu keiner längerfristigen Compliance führen würde. Die Patienten, die während meiner Feldforschungen auf der Station zwangsbehandelt wurden, waren fast alle „bekannte Patienten“ der Station, das heißt, dass deren unterschiedliche Krankheitsphasen bekannt sind. Wenn eine Zwangsbehandlung im Ausnahmefall notwendig erschien, wurde dies mit dem Verweis auf eine therapeutische
nach wie vor möglich, eine Person aufgrund einer „krankheitsbedingten Nichteinsichtsfähigkeit“ durch einen Dritten, in dem Falle den gesetzlichen Betreuer, unter Zwang unterzubringen und behandeln zu lassen. Zur Neuregelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung im Deutschen Bundestag am 10.12.2012 und den Diskrepanzen zwischen Betreuungsrecht und UN-BRK siehe unter anderem die Stellungnahme der Monitoring-Stelle, dem Deutschen Institut für Menschenrechte, unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle/publikationen .html. 34 Um die Pseudonymisierung der Klinik zu gewährleisten, arbeite ich mit fiktiven Fallund Patientenzahlen, auf Grundlage der tatsächlichen Prozentzahlen. 35 Fixierungen gingen nicht zwangsläufig mit Zwangsmedikamentierung einher und Zwangsmedikamentierungen nicht zwangsläufig mit Fixierungen. So wurden fast doppelt so viele Patienten fixiert wie zwangsmediziert. Auch die Zahl der Unterbringung deckt sich nicht mit der Zahl der Zwangsmedikamentierung (untergebracht zur Abwehr einer akuten Gefährdung wurden 2010 fast doppelt so viele Patientinnen wie entsprechend begründete Zwangsmedikamentierungen). 36 Meine Vermutung ist, dass bei den meisten Patienten, die nach BGB untergebracht sind, allein das Wissen darum, dass diese Maßnahme möglich und durchaus durchgesetzt wird, ausreicht, um in eine „freiwillige“ medikamentöse Behandlung einzuwilligen.
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Verantwortung gegenüber diesen Patientinnen gerechtfertigt. Dieser Verweis auf eine Fürsorgepflicht galt ebenso bei so genannten „Notfallmaßnahmen zur Abwendung einer akuten Gefährdung“ nach dem PsychKG, die meist mit einer Fixierung einherging.37 Im Vergleich zu den 0,5 % von Fällen nach BGB betraf diese Form der Zwangsbehandlung 6 % der Fälle pro Jahr, es waren aber in der Regel kurzfristige Interventionen, oftmals auf wenige Stunden begrenzt. Diese statistische Auflistung soll keine Relativierung der individuellen Erfahrung einer Zwangsbehandlung darstellen, sondern diese Praxis in ihrer Gewichtung im gesamten therapeutischen Programm verorten. Fixierungen gehörten mit zu den schwierigsten Erfahrungen während meiner Feldforschung. Besonders eindrücklich war für mich, dass kurz vor, während und nach einer Fixierung unter den Mitarbeitenden nur das Notwendigste gesprochen wurde. Nach der Fixierung einer jungen Patientin auf der Station, die über Stunden gebrüllt und getobt hatte, spreche ich mit zwei Krankenschwestern darüber. Die zwei Krankenschwestern betonen, dass es zum Besten der Patientin gewesen sei. Sie hätte schon Stunden „völlig am Rad gedreht“, man müsse diesen Kreislauf irgendwann unterbrechen, sonst käme sie da nicht mehr raus. Das sei für sie selbst ja unerträglich. Schließlich meint eine der Schwestern, ein Stück weit könne man die Versorgung psychisch kranker Menschen auch mit der Erziehung von Kindern vergleichen. Wenn die in der Trotzphase sind und so richtig ausflippen, dann müsse man sie festhalten, fest in den Arm nehmen, um sie rauszuholen und sie vor sich selbst zu schützen. Und vor allem müsse man Grenzen setzen. Erwachsene wie die Patientin eben, wenn die „so richtig in Fahrt“ sind, die kann man nicht einfach festhalten. Das wäre dann eben die Fixierung. Und man müsse ihr eben auch ihre Grenzen zeigen. Die andere Schwester fügt hinzu: „Und das Geschrei machen wir hier heute nicht den ganzen Nachmittag mit, es hat echt gereicht.“ Diesen expliziten Vergleich mit der Erziehung von Kindern würden sicherlich einige Mitarbeitende der Station als höchst problematisch bewerten. Dennoch hat sich auch in anderen Kontexten diese Form der Versorgens im Sinne einer pädagogischen Fürsorge gezeigt. Kleine Nebenbemerkungen wie Herr Kurukuz sei eines der Sorgenkinder, aber
37 Als Kontrast zu dieser Gewalt durch die Institution hier noch eine weitere Statistik, die oft wenig Beachtung erfährt: Im Jahr 2010 wurden in der Mittendamm-Klinik etwa 400 tätliche Übergriffe dokumentiert, 250 davon gegen Mitarbeiter. Hinzu kamen mehr als 300 dokumentierte Situationen, die als „erhebliche Bedrohung“ eingestuft wurden. Eine Krankenschwester der Station war nach einem Angriff von einem Patienten nicht mehr in der Lage, auf der Station zu arbeiten, und wechselte den Arbeitsplatz.
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auch die Stock-Diskussion um Herrn Reichle zeigen ein Verständnis psychiatrischer Versorgung, die gleichzeitig als empathisches Umsorgen, als Sorgen für den Patienten verstanden wird. Aus dieser Perspektive ist der psychisch kranke Mensch krankheitsbedingt oftmals nicht in der Lage, für sich selbst einzuschätzen, welche Behandlung notwendig ist; daraus folgt, dass das Team mit dem Patienten, aber manchmal eben auch für den Patienten kontinuierlich an der Verbesserung seines Zustands arbeiten muss. Der Übergang zwischen gemeinsamem Aushandeln, hartnäckiger Motivation und Zwangsmaßnahme ist in der therapeutischen Arbeit kein „ideologischer“ Bruch. So wurde beispielsweise bei Herrn Reichle (der Patient mit dem Gehstock) zwischenzeitlich über eine Zwangsmedikation nachgedacht; er hatte über einen längeren Zeitraum aufgrund von Wahnvorstellungen kaum geschlafen und im Team wurde über eine Zwangsmedikation mit einem Schlafmittel nachgedacht, damit er zwischenzeitlich zur Ruhe kommt. Er nahm die Medikation schließlich ohne Zwang. Zudem kann eine Behandlung gegen den Willen eine Form der Aushandlung bedeuten: Beim Blutabnehmen wies ein untergebrachter Patient seinen behandelnden Arzt darauf hin, dass er mit der Blutabnahme nicht einverstanden wäre. Nachdem der Arzt dies zur Kenntnis nahm, ließ sich der Patient ohne Weiteres das Blut abnehmen. Wie sein Arzt anschließend bemerkte, würde man merken, dass der Patient Psychiatrie-erfahren wäre. Es gab zudem Patienten, die „eine Fixierung rechtzeitig anmeldeten“, wie es in den Pflegeberichten dann hieß. Patienten also, die gerade das oben beschriebene „Rausholen“ aus einer akuten, immensen Anspannung durch eine Fixierung aktiv nutzten und einforderten.38 Meines Erachtens zeigt sich hier, dass sowohl das geduldige Abwarten, das hartnäckige Motivieren als auch das Einsetzen von Gewalt und Gurten derselben sozialpsychiatrischen Logik des Sorgens entspringen. Eine solche Perspektive erfordert zum einen, über Zwang und institutionelle Gewalt als Form von „good care“ neu nachzudenken. (vgl. Hejtmanek 2010) Zum andern zeigt sich hier eine Spezifik des psychiatrischen Feldes: Die Konsequenzen einer Non-Compliance sind bei psychiatrisch Kranken weniger eindeutig lebensgefährlich als beispielsweise bei organtransplantierten Patienten, die ebenfalls in ein kontinuierliches
38 Während einer Nachtschicht hatte ich einmal die Aufgabe, neben einer Patientin zu wachen, die unbedingt fixiert werden wollte. Die Pflegekräfte hatten mit ihr aushandeln können, dass sie auf den Bauchgurt verzichtete. Als ich sie fragte, warum sie sich denn freiwillig fixieren ließ, erklärte sie mir, dass sie es sonst nicht schaffte, aus der Anspannung herauszukommen, und nicht schlafen könnte. Als sie schließlich eingeschlafen war, lösten die Krankenschwestern „heimlich“ die Fixierung.
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pharmazeutisches Management von intendierten Wirkungen und problematischen Nebenwirkungen eingebunden sind, aber bei einer Non-Compliance lebensgefährliche Konsequenzen zu befürchten haben (Amelang 2014), oder bei Diabetes-Patienten, die sich ebenfalls bei Non-Compliance in akute Lebensgefahr begeben. (Mol 2008) Patientinnen, die grundsätzlich an einer psychiatrischen Deutung ihrer außergewöhnlichen Erlebnisse zweifeln, aber auch Patienten wie Olaf Mattes, die ein eigenes „Nutzen-Risiko-Profil“ von Antipsychotika erstellen, sind weniger selbstverständlich bereit, sich auf eine kontinuierliche Medikamenten-Compliance einzulassen. „Hartnäckiges Motivieren“ kann in diesen Fällen als eine Form von Zwang verstanden werden. Olaf Mattes erzählte mir, dass er bei einer früheren Behandlung ein Gefühl des Kontrolliert- und Manipuliert-Werdens gegenüber seinem Arzt kritisiert hatte und dieser ihm antwortete, er solle Fürsorge nicht mit Kontrolle verwechseln. Im sozialpsychiatrischen Choreografieren sind die Übergänge fließend und Zwangsmaßnahmen keine grundlegende Ausnahme im sozialpsychiatrischen Sorgen für den Patienten. Psychiatrisches Behandeln, und darüber sind sich die Professionellen bewusst, bedeutet manchmal gegen den Willen des Patienten zu handeln. Sorgen ist in diesem Sinne gerade nicht das Gegenteil von Gewalt, sondern beinhaltet diese bereits.39 Zusammengefasst lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass sich die verschiedenen Ausprägungen psychiatrischer Körperwidmungen – vom gemeinsamen Aushandeln und Anpassen der Medikation, dem sorgfältigen Management von Wirkungen und Nebenwirkungen über die korrigierende Interpretation von Körperbeobachtungen und „hartnäckigen Motivationen“ bis hin zum Fixieren des Körpers und der Medikation gegen den Willen des Patienten – in die spezifische Choreographie sozialpsychiatrischer Behandlung fügen. Als
39 Eine ähnliche Argumentation in einem völlig anderen Feld bietet Gregory Tomso: Er setzt sich mit Diskursen über eine spezifische Praxis in der homosexuellen Szene auseinander, dem so genannten Bugchasing und Barebacking, bei dem Homosexuelle sich oder andere bewusst mit dem HI-Virus infizieren. In den Experten-Diskursen über Risiko und Prävention dieser Praxis, so Tomso, zeigt sich, dass Care immer auch als Gewalt am Anderen anerkannt werden muss: Homosexuelle werden hier auf eine spezifische Art und Weise positioniert, die sie zwangsweise zu Objekten von Gesundheitspräventionsprogrammen macht. Care, so Tomso mit Verweis auf die Arbeiten Jacques Derridas, setzt das Andere – seien es sexgetriebene, todessehnsüchtige Schwule oder irrationale psychisch Kranke – als unhinterfragbar schutz- und behandlungsbedürftig voraus. (Tomso 2004) Ich danke Miriam Ticktin für den Hinweis auf diesen Artikel.
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Teil einer gesteuerten „Selbst-Sorge“, einer Anleitung zur Selbst-Stabilisierung, werden Medikamente dabei als notwendige Partizipanden verstanden. Dabei wird im Behandlungsprozess kontinuierlich an einer entsprechenden Körperwidmung in Form einer education of attention gearbeitet. Ziel dieses Choreografierens sind letztendlich immer: Kompliante Pfade.40
F AZIT : K OMPLIANTE P FADE Wie ich anhand verschiedener Beispiele im stationären Alltag gezeigt habe, werden Psychopharmaka als reguläre und plausible Partizipanden sozialpsychiatrischer Behandlungspraktiken verstanden. Eine kritische Distanz gegenüber biomedizinisch argumentierenden Ansätzen und das entsprechende sozialpsychiatrische Verständnis des Biopsychosozialen bedeuten keine Ablehnung von Psychopharmazeutika. Vielmehr sind sozialpsychiatrische Sorge-Praktiken immer auch pharmazeutische Interventionen in den Körper. Das dahinterliegende Verständnis ist, dass psychotrope Substanzen die Symptome zurückzudrängen und damit dem Patienten ermöglichen, sich in den „eigentlichen“ therapeutischen Prozess einzubringen. Damit Symptome in den Hintergrund treten, müssen die verschiedenen Wirkungen und Nebenwirkungen sorgfältig beobachtet, kontrolliert und angepasst werden, sowohl durch Laborwerte, Beobachtungen des Körpers und Gespräche mit dem Patienten. Sich dem Körper widmen bedeutet insbesondere in der Klinik also erstens ein kontinuierliches, kollektives Arbeiten am Körper, das sowohl Praktiken des Beobachtens wie auch des Intervenierens mit einschließt. Zentral ist hier ein beständiges Zusammenfügen verschiedener sowohl somatischer wie auch sozialer und psychischer Faktoren. Zweitens zeigt sich dieses kollektive doing bodies für die Patientinnen als Lernprozess, im Sinne einer kontinuierlichen, absichtsvollen education of attention (Ingold). Im Umgang mit den Wirkungen und Nebenwirkungen wird mit dem Patienten an einer „richtigen“ Interpretation von Körperwahrnehmugen gearbeitet: Wie wirkt das Medikament, welche Verbesserungen treten ein, was sind Nebenwirkungen, aber auch was sind „normale“ Körperempfindungen? Eine Nebenwirkung dieses Lernprozesses ist dabei, dass Patienten selbst psychiatrische Fachtermini übernehmen. Beispielsweise hatte ich in der Ge-
40 Kompliant bzw. Komplianz werden in der medizinischen Literatur als Übersetzung für die englische Begriffe compliant und compliance verwendet und stehen für Therapietreue.
LEBEN MIT UND ARBEITEN AM KÖRPER
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schichte von Olaf Mattes gezeigt, wie er selbstverständlich seine Körperempfindungen in einer psychiatrischen Fachsprache ausdrückt: „Sitzunruhe“, „Antriebslosigkeit“ drücken für ihn aus, was er an seinem Körper beobachtet. Die Integration psychiatrischer Expertise zeigte sich bei den drei Menschen, die ich zu Beginn des Kapitels ausführlicher beschrieben habe, in unterschiedlicher Weise. Angelika Siebert hat die verschiedenen Angebote – von verhaltenstherapeutischen Ansätzen bis hin zur Neuroleptika-Einnahme – für sich aktiv umgesetzt und empfindet diese tatsächlich als „ermöglichend“. Sie hätte gelernt, dass sie sich nicht immer sedieren müsste, sondern sich ebenso beschäftigt halten könne. Vor allem die eigene Aktivierung durch das kontinuierliche Trainieren und die Möglichkeit, stärker selbst zu bestimmen, wann sie eine zusätzliche Medikation für notwendig hält, beurteilt sie selbst als hilfreich. Dass sich diese objektive Selbst-Gestaltung auch im Widerspruch oder zumindest im Spannungsfeld mit sozialpsychiatrischen Behandlungskonzepten bewegen kann, wurde unter anderem bei Olaf Mattes deutlich. Er stand einer psychiatrischen Expertise nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, aber er hatte durchaus eigene Interpretationen von der Notwendigkeit und den Risiken, die sich mit einer Pharmakotherapie ergeben können. Trotz dieser unterschiedlichen Akzeptanz bzw. Skepsis gegenüber sozialpsychiatrischen Behandlungsangeboten, insbesondere der pharmakologischen Körperwidmungen, wurde in allen drei Geschichten offensichtlich, wie sozialpsychiatrische Expertise nachhaltig die Formierung des Körperwissens und des Körpererlebens prägt. Aus psychiatrischer Perspektive sollen Psychopharmaka zuerst einmal zu einer Stabilisierung in einer akuten Krise beitragen und damit nicht zuletzt dem Prozess der Chronifizierung entgegenwirken. Dabei wird betont, dass Medikamente im Vergleich zu anderen Therapieformen schnelle Effekte zeigen und damit ermöglichen, langfristige Hospitalisierungen zu vermeiden. Sozialpsychiatrische Psychopharmakotherapie zeigt sich hier als eine Variante der Pharmazeutikalisierung, wie Stefan Ecks dies bezeichnet hat. (Ecks 2011) Trotz kritischer Auseinandersetzung mit dem Nutzen von Psychopharmaka werden diese als selbstverständliche Partizipanden in der sozialpsychiatrischen Behandlung eingesetzt und für die Herstellung von Stabilisierung als zentral verstanden. Wie ich am Beispiel der „hartnäckigen Motivation“ herausgearbeitet habe, wird von professioneller Seite die Verweigerung einer pharmazeutischen Behandlung wiederum als Verweis auf eine Krankheitsuneinsichtigkeit und möglicherweise pathologisch begründbare Unfähigkeit, am therapeutischen Prozess selbstbestimmt teilzuhaben, gewertet. Damit kann die Ablehnung einer psychopharmazeutischen Behandlung nicht als Teil des Gesundungsprozesses gesehen werden, sondern wird automatisch zum Zeichen einer Krankheits- bzw. Thera-
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pieuneinsichtigkeit. Dies verweist in eine ähnliche Richtung wie was John Dumit als "interpillation" beschreibt: „the process of calling into being biomedical subjects as having been always-already in need of treatment." (Dumit 2010: 246) Compliance wird damit zur grundlegenden Lösung und gleichzeitig Evidenz für einen Behandlungserfolg. Wie ich am Ende des Kapitels ausgeführt habe, kann Non-Compliance in der pharmazeutischen Behandlung von „hartnäckiger Motivation“ bis hin zu Fixierung und Zwangsmedizierung führen. Werden Fälle der Zwangsbehandlung im psychiatrischen Selbstverständnis meist als Ausnahmesituationen betont, so ging es mir darum zu zeigen, dass sich zwischen diesen Formen der Intervention ein Kontinuum und eine gemeinsame Logik aufzeigen lässt. Medikamente sind nicht per se Objektivierungstechnologien, die in klassischer Psychiatrie-Kritik psychisch kranke Menschen zum disziplinierten Objekt machtvoller psychiatrischer Interventionen machen. In der Diskussion um Medikamente und ihre Wirkungen geht es nicht um ein generelles Infragestellen von Psychopharmakotherapie. Aber psychopharmazeutische Care-Praktiken und ihre Wirkungen produzieren verschiedene Konsequenzen: Sie ermöglichen – wie im Falle von Angelika Siebert – an sich zu arbeiten und sich Freiräume zu erkämpfen und damit selbstbestimmter am Behandlungsprozess teilzunehmen. Sie können aber – wie Olaf Mattes es ausdrückt – einen Menschen in einen entwürdigenden Zustand versetzen und ihm damit Freiräume entziehen. Gerade eine dauerhafte Medikation hält Menschen in einem Zustand, in dem sie auch kontinuierlich von ihrem Körper an ihre Erkrankung erinnert werden.
Verschriebene Zeit und handlungsfähige Patienten: Von der Klinik in den poststationären Alltag
Martin Lehmann hat mit seinem Arzt ein Gespräch über seine bevorstehende Entlassung. Wir sitzen zu dritt im Arztzimmer, Herr Lehmann rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er macht sich Gedanken, ob nach der Entlassung alles klappen wird. Seine Mutter und seine Tante sind beide für zwei Wochen im Urlaub, und er weiß nicht, ob er alleine zurechtkommt. Seine Tante wohnt nebenan, und er hat täglich Kontakt mit ihr. Auch seine Mutter sieht er regelmäßig. Und jetzt, ausgerechnet wenn er entlassen wird, sind beide nicht in Berlin. Er hat Angst, dass er nichts zu tun hat, nur raucht und „vergammelt“, wie er es ausdrückt. Der Arzt versucht ihn zu motivieren. Sie gehen gemeinsam die verschiedenen Möglichkeiten durch, die Martin Lehmann nach der Entlassung zur Beschäftigung zur Verfügung stehen. Arzt: „Im Rahmen der poststationären Versorgung können Sie ja weiterhin übergangsweise die verschiedenen Angebote der Klinik wahrnehmen. Sie nehmen hier momentan an der Ergotherapie, der Backgruppe und der Musiktherapie teil?“ Martin Lehmann nickt. „Das können Sie auch weiterhin in Anspruch nehmen. Dann wären das schon drei Tage, an denen Sie etwas vorhaben und einen festen Termin haben. Was gibt es noch? Gehen Sie regelmäßig zur Freizeitgruppe Ihres ambulanten Trägers?“ „Ja“, meint Martin Lehmann, „jeden Mittwoch.“ Der Arzt nickt zustimmend: „Dann wären Sie schon an vier Tagen versorgt. Es wäre also nur noch ein Tag.“ Martin Lehmann bleibt skeptisch: „Aber ich ertrage das nicht, das Alleinsein, das schaff ich nicht.“ Sein Arzt versucht ihn zu beruhigen: „Sehen Sie es doch nicht von vornherein nur negativ. Sehen Sie es doch als Chance auszuprobieren, wie Sie Ihren Alltag ohne Ihre Mutter und Ihre Tante geregelt bekommen. Vielleicht tut Ihnen das ja durchaus ganz gut. Und wenn Sie dann an einem Tag, an dem Sie keinen Termin haben, etwas
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machen möchten, dann suchen Sie sich etwas, Herr Lehmann. Das muss ich auch machen, das muss auch Frau Klausner machen. Dann muss man sich etwas suchen, was einem Spaß macht. Eine Möglichkeit, die wir noch gar nicht besprochen haben, ist noch die Tagesklinik. Wie wäre das, Herr Lehmann?“ Um einen Patienten wie beispielsweise Martin Lehmann entlassen zu können, sollte aus Sicht der Behandler sichergestellt sein, dass der Patient in der Lage ist, seinen poststationären Alltag möglichst selbständig zu strukturieren. 1 Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen tun sich gerade damit schwer: einen alltäglichen Rhythmus beizubehalten, einer kontinuierlichen Beschäftigung nachzugehen und soziale Kontakte zu pflegen. Bereits mit Beginn der stationären Behandlung wird an diesen Alltagskompetenzen und sozialen Fähigkeiten gearbeitet. In den bisherigen Kapiteln habe ich gezeigt, wie im alltäglichen Diagnostizieren die verschiedensten Informationen zu einer Patientin – anhand von Laborwerten, durch Akten und Erzählungen von früheren psychiatrischen Behandlungen sowie über die Familiensituation und das Lebensumfeld – „versammelt“ werden, um die aktuelle Situation und die möglichen nächsten Behandlungsschritte einzuschätzen. In den Gesprächssituationen, wie ich sie im dritten Kapitel beschrieben habe, wird die Patientin dazu aufgefordert, ihre Erlebnisse zu artikulieren, in der Gruppe zu reflektieren und daraus eine Erfahrung zu machen. Im vierten Kapitel habe ich das Augenmerk auf das Leben mit und Arbeiten am Körper gelegt und anhand der Psychopharmakotherapie herausgearbeitet, wie Patienten in die Lage versetzt werden sollen, aktiv am Stationsalltag und am Therapieprogramm teilzuhaben. All diese Aspekte laufen nicht getrennt voneinander ab, sondern greifen im Stationsalltag kontinuierlich ineinander. In diesem letzten Kapitel fokussiere ich auf einen weiteren, zentralen Aspekt sozialpsychiatrischer Behandlung, der in den vorherigen Kapiteln immer wieder angeklungen ist, aber analytisch nicht im Zentrum stand: Im sozialpsychiatrischen Verständnis, wie es in der Mittendamm-Klinik praktiziert wird, soll der Patient als soziales Wesen in den Mittelpunkt der Behandlung gestellt
1
Es gibt sicherlich auch andere Entlassungssituationen, wenn eine Patientin beispielsweise in ein Pflegeheim entlassen wird oder durch die psychische Krise die Alltagskompetenzen einer Patientin kaum beeinträchtigt waren und aus Sicht der Professionellen diesbezüglich kein therapeutischer Handlungsbedarf bestand. Bei einem Großteil der Patientinnen der Station war jedoch diese Form der Planung der poststationären Versorgung zentrales Thema.
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werden. 2 In der Krankheitsentstehung, aber vor allem in der Krankheitsbewältigung werden die Wechselwirkungen mit dem sozialen Umfeld der Betroffenen als wesentlich verstanden und der psychisch kranke Mensch grundlegend als Teil eines sozialen Gefüges behandelt. Ziel sozialpsychiatrischen Arbeitens ist die Reintegration der Patientin in ihr soziales Lebensumfeld, sei es die Rückkehr in die eigene Wohnung, in die Familie oder in eine Einrichtung gemeindepsychiatrischer Versorgung. In den letzten Jahren hat sich zudem das Verständnis von der Rolle der Betroffenen dahingehend entwickelt, sie als Kooperationspartner im Behandlungsprozess zu adressieren und ihre aktive Teilhabe als entscheidend für den Genesungsprozess zu betonen. (Clausen und Eichenbrenner 2010) Im dritten Kapitel dieser Arbeit zu den Choreografien des Erfahrung-Machens bin ich bereits auf einige Aspekte dieser neuen Rolle des Patienten in der Behandlung sowie auf die Konzeptualisierung und Neubewertung der subjektiven Erfahrung von Betroffenen eingegangen. Entscheidend ist an diesem Verständnis, dass der Patient nicht mehr primär als das Objekt von Helfer-Systemen und mehr oder weniger passiver Empfänger definiert wird, sondern darin bestärkt werden soll, aktiv und möglichst selbstbestimmt an seinem Heilungsprozess mitzuarbeiten. Zentral in der stationären „Arbeit am Sozialen“ ist es daher, den Menschen in seiner Gestaltung des Alltags und der Umsetzung seiner individuellen Bedürfnisse zu unterstützen und eine größtmögliche Eigenständigkeit und aktive Teilhabe des Patienten zu ermöglichen. Diese Arbeit findet in der Klinik nicht in speziellen Therapieeinheiten statt; vielmehr wird jegliche Aktivität, jegliche Interaktion (mit) der Patientin im Stationsalltag als therapeutisch relevant verstanden. Diese „Totalität“ des sozialpsychiatrischen Therapieverständnisses erscheint auf den ersten Blick ähnlich zu dem, was Goffman in Asyle als Mandat der psychiatrischen Institution beschreibt: Indem die „psychiatrische Doktrin“ Geisteskrankheit als den Zustand des Patienten definiere, „dessen Anzeichen den ganzen Verlauf seines Lebens durchziehen und der sich auf nahezu alle Aspekte seines gegenwärtigen Tuns auswirkt“, gäbe es keinen Bereich „seines gegenwärtigen oder früheren Lebens“, der sich „der Zuständigkeit und dem Mandat der psychiatrischen Beurteilung“ entziehen könne. (Goffman 1973: 153f.) Die „totale Institution“ war gerade insofern total, als sie sich dem Menschen in allen Lebensbereichen widmete. (Ebd.: 13ff.) Wie der US-amerikanische Soziologe Jack Levinson argumentiert, unterscheidet sich die gegenwärtige gemeindepsychiatrische Topografie psychiatrischer Institutionen insofern grundlegend
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Siehe hierzu auch meinen Überblick zu den Konnotationen des Sozialen im ersten Kapitel meiner Arbeit.
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von einer totalen Institution, als dass sich ihre Reichweite nicht mehr auf die räumlichen Grenzen des Krankenhauses beschränkt, sondern sich mit Angeboten im komplementären Sektor, die alle Lebensbereiche psychisch Kranker erfassen sollen, auf die Gemeinde ausgeweitet hat. (Levinson 2010: 119) Grundlegend anders als in Goffmans totalen Institutionen ist im sozialpsychiatrischen Verständnis auch, wie oben beschrieben, die Art der Behandlung: weg von offensichtlich disziplinierenden hin zu emanzipatorischen Interventionen, geprägt von „Solidarität“ und „Hilfe zur Selbsthilfe“.3 Ziel des „sozialpsychiatrischen Mandats“ ist es, den Menschen wieder in sein soziales Umfeld zu integrieren. Deshalb sei, so das Grundprinzip der Mittendamm-Klinik, „jede Behandlung […] so nah wie möglich am Alltag des Patienten anzusiedeln und so zu gestalten, dass sie die größtmögliche Integration des Patienten in sein normales Lebensumfeld erreicht. Gleichzeitig sind Patienten mit schweren seelischen Erkrankungen, die häufig einen chronischen Verlauf nehmen, besonders auf verlässliche Rahmenbedingungen und vertraute Bezugspersonen angewiesen.“4 In der stationären Alltagspraxis in der Mittendamm-Klinik zeigt sich dieses sozialpsychiatrische Grundprinzip vor allem in zwei Aspekten: in der engen Zusammenarbeit mit dem komplementären Bereich psychiatrischer Versorgung und der kontinuierlichen Arbeit an alltagspraktischen Kompetenzen während der stationären Behandlung, die als Grundlage für die Reintegration in die Gemeinde gesehen wird. Durch die enge Verknüpfung der stationären Arbeit mit ambulanten wie rehabilitativen Versorgungsangeboten im komplementären Bereich endet die Verantwortung für die Patientin aus Sicht der Professionellen nicht zwangsläufig mit dem Ende der stationären Behandlung. Vielmehr wird der Klinikaufenthalt als ein Abschnitt im Prozess der Behandlung und Versorgung verstanden und durch Klinikangebote wie Tageskliniken und Psychiatrische Institutsambulanz in die poststationäre Behandlung ausgeweitet. Der zweite Aspekt, den ich in diesem Kapitel behandeln werde, betrifft die Arbeit an den Alltagskompetenzen der Patientin, die als grundlegende Voraussetzung für die Rückkehr in die Gemeinde verstanden wird. Alltagskompetenzen verweisen auf eine Bandbreite von Techniken, die den meisten Menschen als selbstverständliches, alltägliches Repertoire zur Verfügung stehen.5 Möglichst selbständig seinen Alltag gestalten zu
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Dies sind Zitate aus der Selbstbeschreibung der Mittendamm-Klinik.
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Siehe Fußnote 3.
5
Ein umfassender Überblick zu psychosozialen Therapieangeboten und deren wissenschaftliche Evidenz finden sich in den Leitlinien Psychosoziale Therapie, erarbeitet von Stefan Weinmann, Thomas Becker und Steffi G. Riedel-Heller, herausgegeben
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können, wird als Förderung der individuellen Handlungsfähigkeit, als Form der Selbstermächtigung verstanden. In der Klinik orientiert sich die Arbeit an den Alltagskompetenzen zum einen an der Lebenssituation der einzelnen Patientin: Lebt ein Mensch alleine oder zusammen mit anderen, selbständig oder betreut; und vor allem: Welche Fähigkeiten hat sie aufgrund der Erkrankung möglicherweise eingebüßt? Wie selbständig kann sie ihren Alltag gestalten? Welche Unterstützung ist möglicherweise notwendig, bevor sie wieder entlassen werden kann? Zum anderen wird – und das zeigt sich in der oben zitierten Selbstbeschreibung der Mittendamm-Klinik – verlässlichen Rahmenbedingungen ein wichtiger Stellenwert zugesprochen. Durch einen gleichbleibenden Tages- und Wochenrhythmus und feststehende Routinen und Strukturen soll der Patient lernen, seinen Tag zunehmend selbständig zu gestalten. Die Station wird für Menschen in akuten psychischen Krisen gewissermaßen zum geschützten Versuchsraum, zum „Laboratorium des Sozialen“, in dem unter regulierten Bedingungen an der Gestaltung sozialer Beziehungen und einer Routinisierung des Alltags gearbeitet wird. Ähnlich wie in den Praktiken des Erfahrung-Machens sowie der Arbeit am Körper geschieht diese Arbeit an den Alltagskompetenzen und der Tagesstrukturierung nicht im Sinne einer von den Therapeuten festgelegten, standardisierten Struktur, die vom Patienten 1:1 umgesetzt werden soll; vielmehr soll der Patient durch kontinuierliche Aufforderungen und Rückmeldungen dazu angehalten werden, für sich selbst an der Verbesserung seiner Fähigkeiten zu arbeiten. Hier zeigt sich noch einmal die grundlegende Bedeutung dessen, was ich in dieser Arbeit als Choreografie bezeichne. In der Einführung dieser Arbeit hatte ich Choreografien als selbstverständliches und damit mehr oder weniger unsichtbares Gerüst des Alltags beschrieben. Wie auf der Station Menschen zusammenleben und zusammenarbeiten, wird durch ein komplexes Arrangement räumlich-zeitlicher Strukturen, durch vielfältige, oftmals parallel laufende Arbeitsabläufe und Alltagsroutinen geordnet. Choreografien sind dabei sowohl Organisationstechniken, die den
von der DGPPN; hier werden unter anderem Studien zum Training alltagspraktischer Fertigkeiten erwähnt und Empfehlungen erarbeitet. „Mit dem Training alltagspraktischer Fertigkeiten werden alle notwendigen Fertigkeiten angesprochen, die für ein unabhängiges Leben in der Gemeinde erforderlich sind. Darunter können beispielsweise der Umgang mit finanziellen Ressourcen, die Pflege der Wohnung oder des eigenen Körpers, die regelmäßige Einnahme der Medikamente oder die Planung und Organisation alltäglicher Erfordernisse subsumiert werden.“ (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde 2013: 105; Herv.i.O.)
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Arbeitsalltag ermöglichen, als auch das therapeutische Programm, in das Krankheits- wie Behandlungskonzepte eingebettet sind. Wie ich im Laufe dieser Arbeit deutlich gemacht habe, zielt sozialpsychiatrische Praxis nicht primär auf eine „rationale Instruktion“ psychisch kranker Menschen, etwa durch das Vermitteln „objektiver Fakten“ ab, sondern versucht gerade durch einen Lernprozess im Rahmen beständiger Strukturen Menschen auf bestimmte Pfade zu lenken. Wie ich im ersten Kapitel meiner Arbeit argumentiere, stelle ich mit dem Begriff der Pfade die (Wieder-) Herstellung von Handlungsfähigkeit ins Zentrum meiner Analyse. Handlungsfähigkeit verstehe ich dabei nicht als essentielles menschliches Potential, sondern als Ergebnis einer situierten Praxis, das von den spezifischen Bedingungen geformt wird. Wie Desjarlais argumentiert: „Agency emerges out of a context and a set of practicalitites; […] We therefore cannot talk about agency without taking into account the practical concerns that contribute to certain activities or lasting dispositions.“ (Desjarlais 1996: 894) An seinem Beispiel, einem Obdachlosenheim in Boston, verdeutlicht Desjarlais, wie in den dortigen therapeutischen Praktiken aus „patients“ wieder „agents“ gemacht werden sollen: rational handelnde und autonome Akteure. (Desjarlais 1996: 889) Wie ich im vorliegenden Kapitel herausarbeite, werden in sozialpsychiatrischen Choreografien ebenfalls bestimmte Vorstellungen eines handlungsfähigen Subjektes reproduziert und ermöglicht, während andere als problematisch gelten. Dabei waren es nicht zuletzt die Psychiatrie-Reformen und die zunehmende Ambulantisierung der psychiatrischen Versorgung, die die Transformation von Patienten in handlungsfähige Akteure notwendig machten. Wie also wird in der Mittendamm-Klinik im stationären Alltag Handlungsfähigkeit hergestellt, was sind die „nachhaltigen“ Wirkungen und welche Vorstellungen des sozialen Subjekts sind hier eingeschrieben? Diesen Fragen gehe ich in drei Schritten nach: Der erste Teil widmet sich dem Synchronisieren der Alltagszeit. Menschen in psychischen Krisen befinden sich in extremen Ausnahmezuständen. Ebenso wie der Körper als Wissensressource in psychischen Krisen nicht mehr selbstverständlich funktioniert, ist die selbstverständliche Organisation des Alltags im Sinne mehr oder weniger automatisch ablaufender Routinen und Abläufe, welche die Komplexität des Alltags reduzieren, zum Problem geworden: zu bestimmten Uhrzeiten aufzustehen, Termine einzuhalten, selbst regelmäßig zu essen und zu schlafen, sind keine automatischen Abläufe mehr. Im Stationsalltag wird kontinuierlich an der Synchronisierung des Patienten, also der Herstellung einer Gleichzeitigkeit mit dem Umfeld, gearbeitet: Er muss im „Hier und Jetzt“ im Stationsmilieu an seinen Problemen arbeiten, sich eine „normale Tagesstruktur“ erarbeiten und sie durchhalten. Wie kontinuierlich, konzentriert, motiviert arbei-
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tet ein Patient an seinen Aufgaben, wie gut gelingt ihm dies und was fehlt ihm noch, um entlassen werden zu können? Gerade diese Arbeit an „alltagspraktischen Fertigkeiten“ wird als Grundvoraussetzung für die (Re-)Integration in die Gemeinde verstanden. Der zweite Teil schließt hieran an und zeigt, wie mit dem Patienten an der Planung der nächsten Schritte in Richtung Entlassung gearbeitet wird. Entscheidend ist hierfür, dass die Patientinnen aktiv ihre eigenen Bedürfnisse und Ziele formulieren und kontinuierlich daran arbeiten. Die damit einhergehende Antizipation eines Fortschritts scheint auf den ersten Blick einer typischen Logik klinischer Behandlung zu entsprechen: Der Behandlungsalltag ist von einer permanenten Dokumentation und Interpretation einer fortschreitenden Entwicklung geprägt. Dabei geht es im sozialpsychiatrischen Verständnis nicht um einen linearen Prozess; Behandlung wird als situierter Prozess mit unterschiedlichen Phasen und Entwicklungen begriffen. Aus therapeutischer Sicht ist es vor allem das Erarbeiten von konkreten und kleinteiligen Zielen, die als zentral für den Prozess der Stabilisierung des Patienten verstanden werden. Für die Entlassung wird dabei an einer Diachronisierung gearbeitet, die sowohl in die Vergangenheit zurückgreift, aber vor allem auf die Zukunft ausgerichtet ist. Was sind die Ziele für den Tag, für die kommende Woche? Dabei orientieren sich diese Ziele und einzelnen Schritte grundlegend an dem, was aus Sicht der Behandler wie auch des Patienten noch für einen Übergang „in die Gemeinde“ fehlt. Idealerweise soll ein Patient seinen poststationären Alltag „in der Gemeinde“ mit möglichst wenig Unterstützung durch professionelle Helfer bewältigen. Als entscheidend für das Gelingen eines erfolgreichen Übergangs in das normale Lebensumfeld wird dabei die aktive Selbst-Sorge und die aktive Teilhabe am therapeutischen Prozess vorausgesetzt. Der psychisch kranke Mensch muss also zum einen lernen, sich wieder an den Notwendigkeiten kollektiven Zusammenlebens auf der Station, in einer Einrichtung, in einer Gemeinde zu orientieren und anzupassen; zum anderen muss er wieder lernen, seine eigenen Bedürfnisse zu artikulieren, Pläne, auch bezüglich Behandlungsschritten herauszuarbeiten und längerfristig daran zu arbeiten. In der Behandlung wird dabei von Beginn an die Frage nach der poststationären Versorgung gestellt. Was sind die sozialen Umstände einer Patientin, müssen möglicherweise neue Hilfestrukturen entwickelt oder bisherige angepasst werden, beispielsweise ein gesetzlicher Betreuer für einen bestimmten Bereich eingesetzt werden, muss die Wohnsituation in irgendeiner Weise verändert werden, gibt es Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation und so weiter. Im dritten und letzten Teil dieses Kapitels werde ich diskutieren, wie das, was in der Klinik an Routinisierung und an Alltagskompetenzen in der sta-
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tionären carescape erarbeitet wurde, in die poststationären Alltage der Patienten integriert werden kann. Mit dieser Frage nach der Übersetzbarkeit therapeutischer Konzeptualisierungen des Sozialen in die poststationären Alltage komme ich zurück auf die Geschichten von den Menschen, mit denen ich nach ihrer Entlassung längere Zeit Kontakt gehalten habe. Im vorherigen Kapitel hatte ich mit Fokus auf das Thema Körperlichkeit bereits ausführlichere Informationen zu den Lebensumständen dieser drei Menschen gegeben: Olaf Mattes, Martin Lehmann und Angelika Siebert. Ich werde ihre unterschiedlichen Lebenswelten als lokale „ecologies of care“ (Das und Das 2006, 2007) diskutieren und herausarbeiten, wie neben der Präsenz des psychiatrischen Versorgungssystems verschiedene andere „Formationen der Zugehörigkeit“ (Das und Das 2006: 172; ÜS MK) die poststationären Ökologien des Ver-Sorgens6 prägen.
D IE S YNCHRONISIERUNG
DES
A LLTAGS
Kommt man auf die Station 29, steht man im Flur als Erstes vor einer großen Holztafel mit dem Stationswochenplan: Frühstück gibt es jeden Morgen zwischen 8:00 und 8:45 Uhr, die Gruppenvisite findet montags, dienstags, donnerstags und freitags von 9:15 bis 9:45 Uhr statt, am Mittwoch die so genannte Großgruppe oder Stationsvollversammlung; Ergotherapie wird viermal und Musiktherapie dreimal pro Woche angeboten, dazu kommen die verschiedenen Gesprächsgruppen und Angebote wie die Backgruppe oder Kochgruppe, Sport und dergleichen. Montagnachmittag gibt es vierzehntägig eine Angehörigenvisite, Dienstagvormittag ebenfalls vierzehntätig die Oberarztvisite, freitags wird das Freitagscafé und am Mittwochabend der Patienten-Club angeboten. Es gibt Zeiten für das Mittagessen, die Nachtruhe, die Medikamentenausgabe, Besuchszeiten, Zeiten für den Ausgang und für Gespräche. Neben diesen Zeitstrukturen für die Patienten gibt es parallel für das Team ein ähnlich dichtes Zeit-Netz. Morgens um 8:30 Uhr gibt es die ärztliche Frühbesprechung, es gibt regelmäßige Schichtübergaben, Teambesprechungen, Abteilungskonferenzen, Kurvenvisiten und die Therapieplanbesprechung. Hinzu kommen noch zahlreiche individuelle Termine mit Patientinnen oder Kolleginnen. Auf den ersten Blick
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Im Englischen ermöglicht der Begriff care sowohl die institutionellen Formen der Versorgung wie auch die privaten Formen des Füreinander-Sorgens als Bestandteil der lokalen Ökologien zu umfassen. Ökologien des Ver-Sorgens ist daher keine wortgetreue Übersetzung, sondern versucht im Deutschen ebenfalls die beiden Aspekte einzubeziehen.
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erscheint dies selbsterklärend für Krankenhausroutinen, die in immer gleichen Arbeitsabläufen und engmaschigen Zeitstrukturen organisiert sind und von dem Soziologen Zerubavel treffend als „clock work environments“ (Zerubavel 1981: 14) bezeichnet werden. Spezifisch für die Mittendammer Psychiatrie ist jedoch, dass das Einüben und Einhalten von Zeitstrukturen als eine wichtige Komponente therapeutischer Interventionen gilt. Gerade bei schweren psychischen Krisen kann sich die Zeitwahrnehmung und das Zeitempfinden des Betroffenen stark verändern: Beispielsweise beschreiben Schizophrene in ihrem Zeitempfinden eine fragmentierte, diskontinuierliche Gegenwart. (Lee et al. 2009; Kitamura und Kumar 1982) Menschen mit schweren Depressionen erleben ihre Gegenwart oftmals als quälend verlangsamt, ihre Vergangenheit als nicht abschließbar und gegenwärtig. (Mundt et al. 1998; Kuhs et al. 1991) Das Zeitempfinden während einer akuten psychischen Krise scheint bei vielen Patientinnen fundamental verzerrt. Ein Patient erzählte beispielsweise in einer Gruppensitzung, dass er sich in einer Zeitschleife befände. Immer wieder würde er sich in denselben Situationen wiederfinden, ständig hätte er „Déjà-vus“. Und es würde ihn sehr verwirren, dass die Jahreszeiten nicht mehr so ablaufen würden, wie er es eigentlich kennt: Frühling, Sommer, Herbst, Winter, momentan würde es total chaotisch verlaufen. Während ich seine Beschreibung nicht nachvollziehen kann, stimmt ihm ein anderer Patient zu: Ja, das kenne er auch. Meist dauert es einige Zeit, bis Patienten nach einer akuten Krise in der Lage sind, sich an die Zeitstrukturen des Stationsalltags anzupassen und beispielsweise einen „normalen“ Tag-Nacht-Rhythmus zu entwickeln. Eine Normalisierung dieser ver-rückten Zeit durch das Einüben und Einhalten von Zeitstrukturen gilt als eine wichtige Vorbereitung auf den Alltag außerhalb der Klinik und ist ein Beispiel für die Arbeit an den Alltagskompetenzen einer Patientin. Dabei stellt das Einüben von Zeitstrukturen eher selten eine explizit abgrenzbare therapeutische Intervention dar, sondern durchzieht die therapeutischen und pflegerischen Praktiken auf vielfältige Weise. Wie lange hat eine Patientin geschlafen, hat sie ihre Therapietermine wahrgenommen, ist sie rechtzeitig aus dem Ausgang zurückgekommen? Das Zeitverhalten des Patienten wird konstant als Hinweis auf seinen Krankheitszustand herangezogen und ist Teil einer Beobachtungs- und Diagnosematrix. Das Takten des Patienten im Sinne eines kontinuierlichen zeitlichen Strukturierens hat dabei eine doppelte Funktion: Einerseits geht es um die Gewährleistung der Teilnahme am therapeutischen Angebot und der kontinuierlichen Medikamenteneinnahme wie auch dem Einhalten „sozialer Regeln“ wie z.B. Ausgangszeiten, Nachtruhe, Essenszeiten etc. Andererseits soll diese Strukturierung dem Patienten ermöglichen, zunehmend selbständig an seinen Zeitstrukturen zu arbeiten. Gerade wenn „Motivation“,
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„Antrieb“ und „Konzentration“ krankheitsbedingt gestört sind, werden Strukturen und Pläne als hilfreiche therapeutische Techniken verstanden, die der Patientin zu mehr Selbständigkeit im Hinblick auf die Entlassung verhelfen sollen. Therapie-Zeiten im stationären Alltag sind in diesem Sinne als psycho-soziale Techniken zu verstehen. Es geht sowohl um compliance der Patienten in der medizinischen Behandlung als auch um die Resozialisierung in eine gesellschaftliche Ordnung, in der Zeit ein maßgeblicher Faktor in der alltäglichen Lebensführung ist. Neben der beschriebenen Tafel mit dem Stationswochenplan erhält der Patient verschiedene papertechnologies (Levinson 2010), die ihm helfen sollen, an seinem Zeit-Verhalten zu arbeiten: Er bekommt einen Wochenplan der Station, einen individuellen Therapieplan und bei einigen Patienten kommt noch ein so genannter Ausgangspass hinzu, auf dem seine Ausgangszeiten (wenn er welche hat) notiert und kontrolliert werden. Zudem werden bei einigen Patientinnen auch individuelle Tagespläne erarbeitet. Ich hatte auf Vorschlag einer Ärztin zeitweise die Aufgabe übernommen, zusammen mit Olaf Mattes einen Tagesplan zu erstellen. Wie er dies bereits mit seiner Ärztin gemacht hatte, schrieben wir auf einem Blatt Papier alle anstehenden Aktivitäten des nächsten Tages auf: Wann er aufstehen würde („das schaff ich eh nicht“), wann es Frühstück gibt („Frühstücken tu ich meistens nicht, nur ’nen Kaffee“), wann die Gruppenvisite ist („da geh ich eh nicht hin“) und so weiter. Teil des Tagesplanes waren ebenfalls die Zeiten, in denen er „nichts“ tat, sich ins Bett legen konnte oder im Park auf der Bank sitzen. In seinen Augen machte diese Planung überhaupt keinen Sinn, aus Sicht der Ärzte sollte sie ihm ermöglichen, in kleinen Schritten wieder aktiv zu werden. Gerade da er überzeugt war, überhaupt nichts zu schaffen und nichts wert zu sein, war das therapeutische Ziel, ihm mit diesem Plan vor Augen zu führen, wie viel Aktivitäten er eigentlich tagtäglich bewältigte, und ihn zu ermutigen, weitere Schritte zu planen. Die Arbeit an der Tagesstruktur bedeutet also gleichzeitig eine Reflektion der bisherigen wie auch Antizipation der kommenden Schritte. Bei den meisten Patientinnen verlief die Planung der Aktivitäten kontinuierlich über den Tag: Morgens wurden Termine vereinbart, von der Bezugspflege auf Termine hingewiesen und kommentiert, ob diese eingehalten wurden oder nicht. Im Wochenverlauf der Station gibt es einen Termin, der im besonderen Maße der Arbeit an den Tagesstrukturen und den Alltagskompetenzen gewidmet ist: die so genannte Großgruppe oder Stationsvollversammlung, die jeden Mittwochvormittag im Aufenthaltsraum der Station abgehalten wird und an der möglichst alle Patienten sowie möglichst alle anwesenden Mitarbeitenden teilnehmen sollen. Zur Vorbereitung werden von zwei, drei Patienten die Tische
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aus dem Raum, in dem gerade noch gefrühstückt wurde, getragen und alle Stühle entlang der Wände in einem großen Kreis aufgestellt. Bis zu dreißig Menschen sitzen schließlich im Kreis und gehen entlang eines festgelegten Ablaufs die Tagesordnungspunkte der Großgruppe durch. Diese sind auf einer Tafel an einem Ende des Raumes fest angebracht. Die Großgruppe hat verschiedene Funktionen. Zu Beginn stellen sich alle der Reihe nach namentlich vor: „Mattes“ oder „Siebert, ich bin Patientin“ oder „Mein Name ist Brühl und ich bin die Oberärztin der Station“ oder „Mein Name ist Martina Klausner, ich bin Ethnologin und mache hier auf der Station ein Forschungspraktikum“. Am Ende der Gruppe werden alle Patienten, die im Laufe der Woche entlassen werden, und Mitarbeiterinnen, die ihre Arbeit auf der Station beenden, verabschiedet. Zudem werden in der Großgruppe Informationen zu anstehenden Aktivitäten wie dem Patienten-Club, Ausflügen, Festen und dergleichen verkündet und an der Tafel notiert. Ein weiterer Tagesordnungspunkt lautet: „Lob, Probleme, Kritik, Wünsche“: Hier können die Patientinnen Kritik, Änderungsvorschläge, aber auch Lob zu allen Aspekten des Stationsalltags äußern. Oftmals bemängelt wurde beispielsweise die Hygiene von einigen Patienten. Wenn es größere Konflikte zwischen Patientinnen gab, wurde dies angesprochen. In der Großgruppe entspannen sich des Öfteren längere Diskussionen über die aktuelle Atmosphäre auf der Station: beispielsweise dass es sehr unruhig wäre, viele sehr aggressive Patienten auf der Station wären, was manche Patienten als belastend empfanden. Einige Vorschläge (beispielsweise man solle den Stromanbieter wechseln, weil man sonst Strom von den „bösen Russen“ kaufen würde) wurden von den Professionellen freundlich zur Kenntnis genommen; für andere Probleme wurden gemeinsam Lösungen gesucht bzw. die Patienten, die Kritik äußerten, nach Ideen für die Lösung eines Konflikts gefragt. Dabei wurde kontinuierlich an der Gesprächskultur gearbeitet. Die Professionellen achteten darauf, dass man sich gegenseitig ausreden ließ, keine ewigen Monologe hielt, keine Schimpfwörter benutzte. 7 Patientinnen äußerten aber ebenso Lob, beispielsweise für einen besonders schönen Ausflug, für die Unterstützung durch einen Mitpatienten oder dergleichen. Der zentrale und zeitaufwendigste Punkt war die Vergabe der Patienten-Ämter. Patienten-Ämter heißt, dass Patientinnen für den Zeitraum einer Woche verschiedene Aufgaben auf der Station übernehmen, z.B. Zigaretteneinkauf für Patienten, die die Station nicht verlassen können, Essenspläne ausfüllen, den Kalender im Flur jeden Morgen aktualisieren, die Patientenküche
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Eine Patientin beschwerte sich einmal über die mangelnde Hygiene und dass „hier nur Schweine auf der Station“ wären; nach der Bitte, dies anders zu formulieren, meinte sie: „Na gut, dann halt Schweine in Anführungszeichen.“
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sauber halten etc. Insgesamt gibt es zwölf Ämter, wobei einige Ämter von mehreren Patientinnen erledigt werden müssen, wie beispielsweise das Stühlestellen für die verschiedenen Stuhlkreise. Im Folgenden beschreibe ich einen Auszug aus einer Großgruppe. Martin Lehmann, auf den ich in vorherigen Kapiteln bereits ausführlich eingegangen bin, hat die Moderation der Gruppe, ebenfalls ein Patienten-Amt, übernommen. Der Ausschnitt beginnt beim zweiten Tagesordnungspunkt: „Lob, Probleme, Kritik, Wünsche“. Martin Lehmann: „Also ich fang gleich selbst mal an. Ich habe letzte Woche das Küchenamt nicht so richtig gut gemacht, weil ich oft weg war und zu spät gekommen bin und es dann vergessen hab. Das ist bestimmt schon aufgefallen, deswegen sag ich das lieber gleich.“ Es entspinnt sich eine kurze Grundsatz-Diskussion über die (mangelnde) Hygiene in der Küche, eine Patientin schimpft, dass sich „manche hier“ nicht zu benehmen wissen. Vorschläge, wie es besser werden könnte, werden besprochen. Nachdem dieser Tagesordnungspunkt ausführlich besprochen wurde, kommt man schließlich zur wöchentlichen Ämtervergabe. Bei einigen Ämtern müssen die Mitarbeiterinnen konkret Patienten überzeugen. Als sich niemand für das Küchenamt meldet, fragt die Oberärztin: „Wie wäre es mit Ihnen, Herr Lehmann?“ Martin Lehmann: „Aber ich sagte ja schon, dass es nicht geklappt hat. Ich hab das zwei Wochen gemacht und weil ich viel im Ausgang war, hat es nicht geklappt.“ Oberärztin: „Aber das kann ja auch besser werden. Bis wie viel Uhr haben Sie denn Ausgang?“ Pfleger: „Er kommt meist so um 20 Uhr zurück.“ Oberärztin an Martin Lehmann: „Kann man das nicht mal eine Woche so organisieren, dass Sie für das Abendbuffet zurück sind?“ Martin Lehmann: „Das wäre schrecklich. Kann das nicht jemand anderes machen?“ Ärztin: „Aber andere Patienten wollen genauso in den Ausgang, Herr Lehmann.“ Nach einigem Hin und Her meldet sich schließlich Frau Büchner: „Ich mach’s.“ Nach der Großgruppe begibt sich das Personal wie üblich in eines der Arztzimmer. Es werden verschiedene Situationen der Großgruppe besprochen, das Verhalten der Patienten kommentiert. Herr Lehmann würde sich momentan ziemlich oft aus der Affäre ziehen, das wäre kein gutes Zeichen. Er würde momentan auch morgens nicht so richtig aus dem Bett kommen. Da müsse man dranbleiben.
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Für mich waren insbesondere die Vor- und Nachbesprechungen der Großgruppe interessant, weil hier zum einen von den Mitarbeitenden im Vorfeld konkrete Strategien besprochen wurden: beispielsweise welchen Patienten man für welches Amt besonders motivieren möchte, wer für eine bestimmte Aufgabe überhaupt nicht in Frage kommt, welche Patientin ihr Amt besonders gut erledigt hat oder in welchem Fall es in der letzten Woche auffallende Probleme gab. Zum anderen wurden in den Nachbesprechungen Rückschlüsse vom Verhalten der Patientin und den Kompetenzen, die sie in der Ausübung eines Amtes zeigt (oder nicht zeigt), auf den aktuellen Zustand der Patientin gezogen. Ähnlich wie in der Nachbesprechung zu Martin Lehmann wird das alltägliche Verhalten des Patienten herangezogen, um über den Behandlungsverlauf zu reflektieren. Dabei bildet der immer gleich bleibende Ablauf der Großgruppe mit Begrüßung, Feedback, Ämtervergabe und Verabschiedung einen festen Rahmen, in dem das Verhalten der Patienten evaluiert werden konnte. Welche Patienten hielten die Gruppe nicht durch, schienen besonders zurückhaltend, wer reagiert ungewöhnlich auf einen anderen Patienten, bis hin zu Sitzhaltung oder Ausdrucksweise des Moderators. „Diagnostisch interessant“ wurde beispielsweise einmal die Schwierigkeit eines Patienten beim Buchstabieren seines Namens genannt. Die abwehrende Mimik und Körperhaltung wurde bei einer Patientin als Indiz für ihre Ablehnung gegenüber der Therapie interpretiert. Das Einhalten von Zeitroutinen ist dabei selbstverständlich nur ein Aspekt alltagspraktischer Kompetenzen, wird aber im Stationsalltag, der zeitlich engmaschig getaktet ist, besonders offensichtlich. Das (Zeit-)Verhalten von Martin Lehmann, seine Unzuverlässigkeit in Bezug auf das Küchenamt, die Weigerung, ein Amt zu übernehmen, und seine Schwierigkeiten, morgens aufzustehen, werden vom Team als Teil seines Krankheitsbildes, als Hinweise auf eine mögliche Verschlechterung seines psychischen Zustandes interpretiert. Vor allem wird das Scheitern Martin Lehmanns an den Zeitstrukturen als Anlass genommen, weiter daran zu arbeiten: „Das kann ja auch besser werden.“ Die kurze Sequenz aus der Großgruppe ist dabei nur ein kleiner Ausschnitt der Praktiken, die das Beobachten, Interpretieren und Einüben von Zeitverhalten betreffen. Über den Tag verteilt gibt es immer wieder Situationen, in denen das Zeitverhalten von Martin Lehmann eine Rolle spielt. Kommt er zu spät auf die Station, wird das freundlich und kurz von seiner Bezugspflege kommentiert. „Wollten Sie nicht schon vor einer halben Stunde zurück sein?" Morgens wird besonders darauf geachtet, dass er aufsteht. Wenn es sein muss, geht die Bezugspflege mehrmals in sein Zimmer und versucht ihn zum Aufstehen zu motivieren. Der Arzt fragt im Gespräch nach, wie es mit dem Einhalten der Therapien und dem Ausgang klappe. Kommt er sehr viel zu spät, wird es in der Kurve dokumentiert und in der je-
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weiligen Pflegeübergabe wiederholt. Martin Lehmann wird dabei kontinuierlich aufgefordert, aktiv an den therapeutischen Zielen zu arbeiten. Hier wird deutlich, dass der gesamte Tagesablauf des Patienten therapeutisch relevant ist. Im Team macht man sich Gedanken über den Behandlungsverlauf von Martin Lehmann, und es wird diskutiert, wie man ihn wieder stabilisieren kann. Sicherlich geht es dabei um mehr als die Fähigkeit, pünktlich zu sein: Wie geordnet und konzentriert ist er momentan, wie steht es um seinen Antrieb, wie zuverlässig und motiviert erscheint er. Hier zeigt sich, was ich im zweiten Kapitel als kontinuierliches psychiatrisches Diagnostizieren beschrieben habe: Die Frage danach, wie sich ein Patient verhält, bedeutet auch eine kontinuierliche Einschätzung seines psychopathologischen Zustands. Für manche Patienten wiederum produziert dieses kontinuierliche Beobachten und Kommentieren des (Zeit-)Verhaltens mitunter ein Gefühl der Kontrolle, wie das folgende Beispiel verdeutlicht. In einer Gruppenvisite sprechen ein Arzt und einer der Patienten über das bevorstehende Wochenende und welche Pläne der Patient, Herr Sciutto, hat. Er möchte am Wochenende länger raus, nicht nur nach den bisherigen Ausgangsvereinbarungen (dreimal eine halbe Stunde). Der Arzt stimmt dem zu, unter der Voraussetzung, dass Herr Sciutto sich ein bestimmtes Ziel setzt (beispielsweise Freunde zum Kaffeetrinken treffen), das er in der vereinbarten Zeit umsetzen kann. Es müsse für das Team nachvollziehbar sein, wo er ist und wann er zurückkommt. Nach einem kurzen Gespräch über mögliche Ziele meint Herr Sciutto, er möchte sich auch noch dafür entschuldigen, dass er am Vortag zwei Stunden länger draußen war als vereinbart. Sein Arzt erwidert, das hätte er bereits gehört, Pfleger Manfred hätte sich große Sorgen um ihn gemacht. Herr Sciutto: „Diese Beschreibung gefällt mir gar nicht.“ Der Arzt fragt zurück: „Warum gefällt Ihnen diese Beschreibung nicht? Ich mache mir ehrlich gesagt auch Sorgen, wenn Sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt wieder auf der Station sind.“ Herr Sciutto: „,Sorgen machen‘ ist wie bei einem kleinen Kind. Ich kann Ihnen zusagen, dass es nicht mehr vorkommt, aber ich möchte so etwas nicht hören, dass man sich Sorgen macht!“ Der Arzt meint, er habe völlig Recht, er sei kein kleines Kind und so wolle man ihn auch nicht behandeln: „Aber Sie sind hier in unserer Behandlung, und dazu gehört auch, dass wir uns Sorgen machen.“ Herr Sciutto erwidert abweisend: „Ich bleibe auf jeden Fall authentisch!“ Für Patienten wie Herrn Sciutto, der aufgrund einer postschizophrenen depressiven Phase und Suizidgedanken auf der Station behandelt wird und nur begrenz-
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ten Ausgang hat, bedeutet die kontinuierliche Kontrolle seiner Ausgangszeit eine Form der Entmündigung.8 Für die Mitarbeitenden hingegen wird diese Einschränkung und Kontrolle als therapeutische Intervention verstanden. Mit suizidalen Patienten wird beispielsweise versucht über gemeinsame Vereinbarungen, die teilweise nur ein paar Stunden betreffen, einen engen Kontakt und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das gerade ermöglicht, den Patienten nicht einfach nur einzusperren, sondern selbst Stück für Stück Kontrolle zu erlangen. Zudem ist diese engmaschige Kontrolle aus versicherungsrechtlichen Aspekten notwendig. Gerade bei einer „offenen Station“ muss im Falle eines Schadensfalls von der Klinik nachgewiesen werden, dass man einen fremd- oder selbstgefährdenden Patienten angemessen gesichert hat. Nicht zu wissen, wo sich Herr Sciutto aufhält, kann also massive Konsequenzen für die Klinik wie auch den behandelnden Arzt haben. Herr Sciutto zeigt, trotz seiner Ambivalenz gegenüber dem Team, mit seiner Entschuldigung für das Überziehen seiner Ausgangszeit, dass er sich der „Spielregeln“ der Station bewusst ist. Die Arbeit am Zeitverhalten erwartet von den Patienten Verbindlichkeit und Rücksprache mit den Mitarbeitenden. Aber nicht nur Verbindlichkeit ist ein wichtiger Maßstab der therapeutischen Agenda, sondern auch Aktivität und die Bereitschaft, an sich zu arbeiten, wie das nächste Beispiel, wiederum Martin Lehmann, verdeutlicht: In einer morgendlichen Gruppenvisite erzählt Martin Lehmann, es ginge ihm gut, er wäre gerade „nur etwas faul“. Eigentlich will er ja an den Therapien teilnehmen, aber vormittags sei nun mal die beste Zeit zum Schlafen, weil es da endlich mal ruhig auf der Station ist. Sein Arzt erwidert, es wäre schon wichtig, dass er am Therapieprogramm teilnehme. Zum Ausschlafen sei er ja nicht in der Klinik. Er fragt nach: „Welche Therapien stehen denn aktuell auf Ihrem Plan?“ „Die Backgruppe“, antwortet Martin Lehmann, „und die Musikgruppe.“ Die Ergotherapeutin, die die Backgruppe leitet und heute mit in der Gruppenvisite sitzt, betont, dass es schon sehr wichtig wäre, dass er regelmäßig kommt, sie
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Das kontinuierliche Kontrollieren von Regeln, gerade in Bezug auf zeitliche Absprachen, beschrieben verschiedene Patienten mir gegenüber als problematisch. Dabei tauchte das Motiv, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, interessanterweise immer wieder auf. Eine Patientin kommentierte mir gegenüber einmal: „Ständig werden irgendwelche Regeln aufgestellt. ‚Das dürfen Sie nicht‘ und ‚so geht das nicht‘. Um 22 Uhr muss der Fernseher ausgemacht werden, und wenn dann noch ein Film kommt, den man gerne noch sehen will, ‚nein, das geht nicht‘. Wie ein kleines Kind wird man manchmal behandelt.“
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hätte Herrn Lehmann jetzt leider seit über einer Woche nicht mehr in der Gruppe gesehen. Im stationären Alltag werden nicht nur die Ausgangszeiten, wie bei Herrn Sciutto, sondern insgesamt die Therapieanwesenheiten dokumentiert. Dabei ist die Frage, ob ein Patient an der Therapie teilgenommen hat, ebenso wichtig wie die Frage, wie er teilgenommen hat. Durch das kontinuierliche Beobachten, Interpretieren und Dokumentieren des Zeit-Verhaltens entsteht eine Evaluationsmatrix des Zustands des Patienten.9 Das bedeutet, dass die Patienten kontinuierlich im Rahmen scheinbar neutraler Normen von Aktivität, Verbindlichkeit und Teilhabe gemessen werden. Der „gesundende Patient“ passt sich an die Alltagsroutinen an, hält verbindlich seinen Therapieplan sowie seine Ausgangszeiten ein und arbeitet aktiv in den Therapien mit. In einer Kurvenvisite wurde beispielsweise bei der Besprechung von Herrn Magath kurz von dessen therapeutischen Aktivitäten berichtet. Während die Pflegekraft meinte, er wäre jetzt gerade in der Ergo-Werkgruppe, war der PJler der Meinung, er wäre mit der Sportgruppe draußen beim Fußballspielen. Die Schlussfolgerung der Oberärztin war schließlich: „Das heißt, er ist so beschäftigt, man weiß gar nicht, wo er ist. Das ist doch ein gutes Zeichen.“ Beschäftigt sein, an den Therapiegruppen teilnehmen, sich in die Alltagsroutinen der Station eintakten – all dies wird als Hinweis auf einen positiven Therapieverlauf interpretiert. Dass eine Patientin morgens nicht hochkommt, nicht in den Therapiegruppen ankommt, die Ergotherapie nicht durchhält oder nachts über den Stationsflur „geistert“, sind wiederum Symptome für eine Verschlechterung oder eine Stagnation des Behandlungsverlaufs. Die Einteilung des Stationsalltags in festgelegte Zeitabfolgen suggeriert dabei eine stabile, „objektive“ Zeit, an der sich das individuelle, potentiell deviante Zeitverhalten messen lässt. Zeit wird als eindeutig messbare Einheit zur scheinbar neutralen Koordinate menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens. In der Anthropologie war und ist der Zusammenhang zwischen Zeitstrukturen und individuellem Zeiterleben immer wieder empirisches Thema und Anlass grundlegender theoretischer Auseinandersetzungen. 10 Wie universell oder kulturell
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Milena Bister und ich bezeichneten an anderer Stelle dieses kontinuierliche Sichtbarmachen der An- und Abwesenheiten der Patienten im Klinikalltag als „tracking“, um das spezifische Zusammenspiel von Therapie und Kontrolle herauszuarbeiten und zu problematisieren. (Bister und Klausner 2012)
10 In dem Klassiker der Anthropologie, Time and the Other. How Anthropology Makes its Objects, diskutiert Johannes Fabian, wie sich in ethnografischen Forschungen mit
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spezifisch ist Zeitlichkeit, wie wirken kollektive Zeitstrukturen auf das subjektive Zeiterleben ein? Unzählige anthropologische, soziologische und historische Arbeiten haben herausgearbeitet, dass Zeitlichkeit gerade nicht als vorgängig zu menschlicher Erfahrung und Praxis beschrieben werden kann, sondern als kulturell spezifisches Phänomen, sowohl bezogen auf die kollektiven Zeitstrukturen als auch auf subjektive Zeiterfahrungen. (Bloch 1977; EvansPritchard 1940; Geertz 1973; Gell 1992; Ingold 2000; Lovell 1992) Für westliche, industrialisierte Gesellschaften arbeitete der britische Historiker Edward P. Thompson heraus, wie in kapitalistischen Arbeitsregimes eine strikte Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit eingeführt wurde, die Erstere unter das Regime der Uhr-Zeit (clock-time) brachte. (Thompson 1967) Diese Form der zeitlichen Einteilung ist für die meisten Menschen in diesen Gesellschaften zur Selbstverständlichkeit geworden. Tim Ingold wiederum betont mit Bezug auf Thompsons Arbeit (und in kritischem Rückblick auf die „Romantisierung“ der uhr-zeitlosen „Primitiven“ in der Anthropologie), dass man auch in modernen westlichen Gesellschaften eher von einem Oszillieren zwischen „social time“ (Zeitlichkeit im Rhythmus sozialen Zusammenlebens) und „clock time“ (vorstrukturierter Zeit, insbesondere der Arbeitszeit) ausgehen müsse. (Ingold 2000: 323ff.) Die Sequentialisierung von Zeit in messbaren Einheiten werde vor allem kontinuierlich praktisch hergestellt und präge dabei das individuelle Zeiterleben. Dass der Wochenplan am Eingang der Station von Montag bis Freitag aufgeteilt ist, verweist offensichtlich auf eine klassische Arbeitswoche und eine spezifische Vorstellung normaler Wochenverläufe. (vgl. Amelang 2013) Dabei spiegelt der Wochenplan natürlich ebenso die personelle Besetzung der Station wieder: Am Wochenende arbeiten auf der Station „nur“ die Pflegekräfte; Ergooder Gesprächsgruppen finden nicht statt. Außerdem gibt es am Wochenende einen ärztlichen Bereitschaftsdienst, der allerdings für alle Stationen zuständig ist und nur akute therapeutische Aufgaben übernimmt. Die verschiedenen Beispiele zeigen, wie Organisationsstrukturen und therapeutische Konzepte sozialpsychiatrisches Choreografieren koproduzieren und auf spezifische Weise stabilisieren. Zeitstrukturen und Routinen produzieren dabei für alle Beteiligten immer auch ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit. Für die Arbeit in der psychiatrischen Akutversorgung, deren Alltag von unvorhersehbaren Situationen und Eskalationen geprägt ist und die Koordination komplexer Arbeitsabläufe erfordert, ermöglichen stabile Zeitstrukturen gerade auch eine gewisse Flexibilität. Dieses
der Zeitlichkeit „der Anderen“ beschäftigt wurde. Er problematisiert insbesondere die Fest- und Fortschreibung der zeitlosen Primitiven und die Verweigerung der Gleichzeitigkeit als elementaren Effekt anthropologischen Arbeitens. (Fabian 1983)
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Mindestmaß an Vorhersehbarkeit wurde aber nicht nur für die alltägliche Arbeit des Personals als notwendig erachtet, sondern für das Zusammenleben einer großen Gruppe von Menschen in psychischen Ausnahmezuständen ebenfalls als eine wichtige Voraussetzung angesehen. Wenn Martin Lehmann zu spät von seinem Ausgang zurückkam und das Abend-Buffet nicht vorbereitete, konnte das – für mich in überraschendem Ausmaß – das Stationsmilieu beeinträchtigen. Die Arbeit an der Tagesstrukturierung gilt in diesem Sinne zugleich der Stabilisierung des Stationsmilieus. Um am Therapieprogramm teilzunehmen, aber auch um wieder in sein „normales Lebensumfeld“ zurückkehren zu können, soll sich der Patient an einen „normalen“ Rhythmus gewöhnen. Dabei wird im klinischen Alltag nicht unreflektiert davon ausgegangen, dass diese Art der Zeitstrukturen und des Zeitverhaltens neutral und scheinbar natürlich ist. Ziel ist es, dem Patienten „gewöhnliche“, im Sinne „gesellschaftlich üblicher“ Zeitstrukturen zur Verfügung zu stellen, ihn durch die Routinisierung seines Alltags zu entlasten und ihm dadurch wieder Kontrolle über seine Alltagszeit zu geben. Die Synchronisierung der Alltagszeit bedeutet damit vor allem eine Herstellung von Gleichzeitigkeit im stationären Alltag, die sich an den Arbeitsroutinen orientiert, aber auch auf eine Vorstellung normaler Alltage außerhalb der Psychiatrie verweist. Für die meisten Patienten war diese Anpassung zwar oftmals anstrengend, aber durchaus selbstverständlich. Welche grundlegende Rolle Routinen und eine Rhythmisierung von Zeit in den Alltagen von Menschen spielen, beschreiben die beiden schwedischen Ethnologen Billy Ehn und Orvar Löfgren. Für sie stellen Routinen einen Art Autopiloten des Alltags dar, der uns davon entlastet, konstant Mikro-Entscheidungen zu treffen, und ermöglicht, vielfältige Prozesse zu koordinieren. (Ehn und Löfgren 2009, 2010) Ehn und Löfgren verweisen auf die wörtliche Bedeutung von Routinen als Verkleinerungsform von Routen, von Pfaden, die uns selbstverständlich durch den Alltag navigieren: „Routines can be seen as tools for organizing the flow of time, and in this process create temporal rhythms and patterns, by sequencing and synchronization.“ (Ehn und Löfgren 2009: 100) Während von vielen Menschen Routinen eher als langweilige, weil gleichförmige Abläufe ohne Kreativität verstanden werden, würde gerade im Fall ihres Zusammenbruchs deren Bedeutung für das Funktionieren des Alltags offensichtlich werden. Ehn und Löfgren verdeutlichen dies am Beispiel von Menschen mit dem sogenannten „Burn-out-Syndrom“. Routinen und Gewohnheiten, mit denen das alltägliche Leben bewältigt wird, stehen auf einmal nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung, und das Leben gerät aus dem Gleichgewicht. In diesen und anderen Krisen-Erfahrungen wird die zentrale Bedeutung von Routinen für das alltägliche Leben deutlich, die – so Ehn und Löfgren – wie eine Art
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Landkarte funktionieren und eine gewisse Übersicht und Vorhersehbarkeit generieren. Sozialpsychiatrisches Choreografieren mit seinen Tages- und Wochenplänen bietet gewissermaßen eine „Ersatz-Landkarte“ an für Menschen, die aufgrund einer akuten psychischen Krise von den Routen des Alltags „abgekommen“ sind.11 Dabei wird von den Patienten in der Klinik nicht erwartet, dass sie sich reibungslos an die einmal „ausgehändigte“ und vermittelte Struktur halten. Wie ich gezeigt habe, wird vielmehr durch kontinuierliches Beobachten und Kommentieren mit den Patientinnen an einer Routinisierung gearbeitet. Die Arbeit an der Zeitlichkeit der Patientinnen auf der Station macht vor allem grundsätzlich deutlich, wie viel Arbeit in das Routinisieren und Rhythmisieren von Alltag investiert werden muss: Das, was normalerweise unsichtbar bleibt und als selbstverständlich vorausgesetzt wird, wird hier zum offensichtlichen Problem. Aus den vorgegebenen Routinen und gleichbleibenden Strukturen soll im Idealfall ein „normaler Rhythmus“ werden. Durch die engmaschige Taktung im stationären Alltag soll der Patient später auf eingeübte Zeitstrukturen zurückgreifen können. In diesem Sinne ist das kontinuierliche Choreografieren nicht als Disziplinierung, sondern als „gesteuerter Lernprozess“ zu verstehen. Der Alltag soll wieder in den Hintergrund rücken und selbstverständlich werden, die Fremdbestimmung durch die Erkrankung vermindert werden und dadurch Kreativität, Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. Aber ist so selbstverständlich, was als „normaler Alltag“ und als „selbstverständliche Routine“ zu verstehen ist? Wenn Synchronisierung als Herstellung von Gleichzeitigkeit verstanden wird, stellt sich die Frage, an welchen Zeit-Maßstäben sich die Synchronisierung orientiert. Wie spezifisch das Konzept der Synchronisierung im sozialpsychiatrischen Choreografieren ist, zeigt sich durch einen kurzen Vergleich mit den Zeitstrukturen einer anderen Station in einer anderen Berliner Klinik, in der ich ebenfalls eine Feldforschung durchgeführt habe.
11 Wie sich dies auswirken konnte, wurde für mich bei einem meiner Treffen mit Martin Lehmann deutlich. Wie schon mehrmals zuvor trafen wir uns zum Essen in einem Selbstbedienungsrestaurant. Ich wusste vor unserem Treffen nicht, dass es ihm zu diesem Zeitpunkt wieder schlechter ging. Im Selbstbedienungsrestaurant wurde schnell offensichtlich, dass Martin Lehmann völlig überfordert war, nicht nur Entscheidungen zu treffen, sondern kleinere Abläufe selbständig zu erledigen. Auch im Gespräch mit mir war er anfangs überfordert. Später entschuldigte er sich mehrfach bei mir und meinte: „Ich weiß einfach nicht mehr, wie man sich verhält.“
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E INE
ANDERE STATIONÄRE
Z EITKULTUR
In dieser anderen psychiatrischen Einrichtung12, in der ich eine sechswöchige vergleichende Feldforschung gemacht habe, herrscht ein anderes therapeutisches Konzept mit anderen Zeit-Strukturen. Ich war zu Beginn meiner Feldforschung irritiert, als ich nach zwei Tagen noch keinen Begriff von den zeitlichen Abläufen auf dieser Station hatte. Ich war es von der Station in der Mittendamm-Klinik gewohnt, dass der Tag des Personals und der Patienten durch kollektive Zeitstrukturen geprägt war. Auf dieser anderen Station wurden Zeitstrukturen sehr flexibel und individuell gehandhabt. Ein Konzept der Station ist es, weitestgehend eine „Psychiatrisierung“ des Patienten zu vermeiden, also den Patienten nicht durch vorgegebene Strukturen zu sehr an das „System Psychiatrie“ zu gewöhnen. Zugespitzt formuliert macht die Station Angebote – Therapieangebote, Essensangebote, Freizeitangebote, Gesprächsangebote –, die der Patient nutzen kann oder auch nicht. Dazu ein kurzes Beispiel, das als Kontrast zum vorherigen Material dienen soll: Beim Personalfrühstück unterhalten sich ein neuer Stationsarzt, ein Pfleger und die Oberärztin über eine Patientin. Der Stationsarzt berichtet, dass die Patientin eigentlich so gut wie nie auf der Station anzutreffen sei. Sie übernachte häufig außerhalb, komme manchmal, um sich Medikamente abzuholen, sei zwischendurch für ein paar Stunden auf der Station und dann wieder draußen unterwegs. Er überlegt, ob es nicht sinnvoller wäre, sie zu entlassen, da sie eh nie da sei. Der Pfleger und die Oberärztin widersprechen: Sie sei schwer krank, deswegen halte sie es auf der Station momentan nicht gut aus. Entscheidend sei, dass sie, wenn sie es braucht, die Station als Schutzraum nutze. Die Patientin zu zwingen, hier zu sein, oder sie zu entlassen wäre bei ihrem momentanen Zustand nicht hilfreich. Man müsse warten, bis sie so weit sei. Handlungsfähigkeit und aktive Teilhabe am therapeutischen Programm ist in diesem Verständnis nicht etwas, das im Kollektiv von Behandlern und Patienten kontinuierlich hergestellt wird. Vielmehr wird der Patientin ein Raum angeboten, in dem sie die Form der Partizipation bis zu einem bestimmten Grad selbst bestimmen kann. Auf dieser Station wurde sozialpsychiatrisches Arbeiten als eher altmodische Form der Fürsorglichkeit verstanden, im Gegensatz dazu mache man „hier moderne Psychiatrie“, wie mir ein Pfleger erklärte. Der Fokus lag
12 Da dieser Vergleich nur zu Kontrastierung herangezogen wird, werde ich auf diese Klinik nicht ausführlich eingehen.
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auf einer sorgfältigen, möglichst eindeutigen Diagnose und einer komplexen Pharmakotherapie. Sozialpsychiatrische Aufgaben waren im Verständnis insbesondere der Ärzte die Aspekte, welche in der komplementären poststationären Versorgung von Sozialarbeiterinnen bearbeitet wurden. Ähnlich wie in der Mittendamm-Klinik waren auf dieser Station die Stationstüren in der Regel unverschlossen. Allerdings war die Tür der Station nicht in derselben Art und Weise wie in der Mittendamm-Klinik von einem Mitarbeiterraum wie der Kanzel kontinuierlich einsehbar. Im Flur gab es ein Ausgangsbuch, in das sich Patienten eintragen sollten, wenn sie die Station verließen. Darin befanden sich – wenn überhaupt – sehr phantasievolle Zeitangaben wie „ich komme 1000 v. Chr. wieder“. Oftmals war tatsächlich völlig unklar, wo sich ein Patient gerade aufhielt.13 Es war nichts Ungewöhnliches, wenn Patienten nachts die Station für ein paar Stunden verließen. In der Mittendamm-Klinik hätten die Professionellen es für höchst problematisch gehalten, wenn ein Patient nachts die Station verlassen hätte. Zudem gab es kaum Stuhlkreise. Die Visiten der Stationsärzte mit ihren Patienten wurden beispielsweise als Einzelvisiten abgehalten und fanden oftmals nach individuellen zeitlichen Absprachen statt. In der ebenfalls einmal in der Woche stattfindenden Stationsgruppe nahmen neben einer oder zwei Mitarbeiterinnen meist nur vier oder fünf Patienten teil14, und es wurden im Garten Spiele gespielt oder gemeinsam gekocht. Es gab keine Patienten-Ämter, und die Ergotherapeuten der Klinik bemängelten regelmäßig, dass von der Station keine Patienten in die stationsübergreifende Ergotherapie kamen. Der Kommentar der Oberärztin diesbezüglich war eindeutig: „Wir machen hier nur Angebote, und ich finde es sinnvoller, die Patienten sind draußen unterwegs, als sie zu einer Beschäftigung zu zwingen.“ Über diese Unverbindlichkeit der therapeutischen Angebote gab es durchaus auch Konflikte, insbesondere weil sich Mitarbeiter beklagten, dass man mit den Patientinnen kaum arbeiten könne, weil man nie wisse, wann sie da seien. Die Erfahrung dieser vergleichenden Feldforschung war für mich in der Forschung äußerst produktiv, weil dadurch für mich die
13 Das galt nicht für akut selbst- oder fremdgefährdende Patienten. Personen, die auf der Station nach BGB oder Psych KG untergebracht waren, wurden während meiner Feldforschung mit einer 1:1-Überwachung (24-Stunden-Einzelbetreuung) auf der Station betreut. Im Vergleich zur Mittendamm-Klinik wurde auf dieser Station insgesamt mit sehr viel mehr 1:1-Überwachung gearbeitet, was in der Mittendamm-Klinik aus finanziellen Gründen nicht in diesem Ausmaß möglich war. 14 Von insgesamt 16 Patienten und nicht 28 wie in der Mittendamm-Klinik. Die Station war zudem keine allgemeinpsychiatrische Station, sondern explizit für Patienten mit Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis.
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scheinbare Selbstverständlichkeit der sozialpsychiatrischen Zeit-Choreografie in der Mittendamm-Klinik sichtbar wurde. Bei einer Feedbackpräsentation in der Mittendamm-Klinik, wo ich zum Thema Zeitstrukturen und Zeitverhalten ein Input für die verschiedenen Mitarbeitenden der Klinik gab, erzählte ich auch von dieser anderen stationären Zeitkultur. Von den Mittendamm-Mitarbeiterinnen wurde dieses andere „Zeit-Konzept“ skeptisch kommentiert. Insbesondere die Oberärztin „meiner Station“ sah dieses Konzept problematisch. Es wäre in ihrer Ausbildung gerade der Mangel an jeglicher Beschäftigung mit den Patienten in den Kliniken gewesen, der sie dazu bewegte, sozialpsychiatrisch zu arbeiten. Dieses „Laisser-faire“ in der psychiatrischen Arbeit interpretierte sie eher als eine Form der Vernachlässigung der Patienten. Dieser knappe Vergleich soll vor allem auf verschiedene Facetten und Schwerpunktsetzungen in psychiatrischen Ansätzen hinweisen und keine grundsätzliche Polarisierung der beiden Stationen darstellen. In vielen Aspekten gab es genauso Übereinstimmungen in der Herangehensweise. Auch in der Mittendamm-Klinik gibt es im Umgang mit dem ver-rückten Zeitverhalten der Patientinnen einigen Spielraum.15 Der Vergleich soll deutlich machen, dass sich in den beschriebenen alltäglichen Routinen spezifische Bedeutungen und Werte verbergen, die meist unsichtbar bleiben und für selbstverständlich genommen werden. (Ehn und Löfgren 2009) Hier zeigt sich noch einmal die Bedeutung des Konzepts der Choreografie: In den spezifischen zeitlich-räumlichen Arrangements und alltäglichen Routinen wird die Ideologie sozialpsychiatrischen Arbeitens reifiziert und so zum selbstverständlichen Hintergrund des stationären Alltags. Sozialpsychiatrisches Behandeln reproduziert ein normatives Konzept eines „normalen Alltags“, während im Falle der anderen stationären Zeitkultur die Routinen stärker an das Zeitverhalten der Patienten angepasst wurden – zumindest teilweise und nicht ohne Konflikte im Team. Dabei geht es im sozialpsychiatrischen Choreografieren nicht darum, einen Menschen in ein „Ideal“ einzupassen. Zeitverhalten, das Einhalten von Alltagsroutinen, wird vor allem als Lernprozess verstanden. Im Stationsalltag wird dabei kontinuierlich changiert zwischen einem Mehr an Strukturierung und einem Mehr an Autonomie-Zugeständnis. Vergleichbar mit den verschiedenen Praktiken der psychopharmazeutischen Intervention im letzten Kapitel zeigte sich in den Praktiken der
15 Bei einer Patientin beispielsweise wusste das Team, dass sie entgegen ihrer Ausgangsregel regelmäßig heimlich von der Station verschwand. Dass sie ebenso regelmäßig zurückkehrte, wurde als Zeichen des Vertrauens gegenüber dem Team gewertet und ihr diese heimlichen Ausflüge zur „Stärkung ihres Autonomiegefühls“ gewährt.
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Synchronisierung eine Bandbreite von gemeinsam ausgehandelten Zeitstrukturen bis hin zu „hartnäckiger Motivation“, die Zeitstrukturen einzuhalten. Im Stationsalltag gab es unterschiedliche Situationen, in denen Patienten die ZeitStrukturen in Frage gestellt, getestet oder schlicht ignoriert haben. Neben dem Versuch der Normalisierung war eine mögliche Reaktion von Seiten der Professionellen, das eigenwillige Zeitverhalten eines Patienten zumindest vorübergehend und bis zu einem bestimmten Maß zu akzeptieren. Im dritten Kapitel dieser Arbeit habe ich beschrieben, wie im Falle von Herrn Aydin, ein junger Patient, der eigentlich nur schlafen wollte, für eine Zeitlang vereinbart wurde, ihn morgens so lange schlafen zu lassen, wie er wollte. Im Verlauf der Behandlung ging man schließlich wieder dazu über, ihn kontinuierlich morgens zum Aufstehen zu motivieren. Der US-amerikanische Soziologe Jerry Floersch beschreibt diese Bandbreite von einem Mehr oder Weniger an Intervention und Korrektur von außen in seiner Arbeit zu Fallmanagern in der ambulanten psychiatrischen Versorgung in den USA als Changieren zwischen „doing for“ und „doing with“. (Floersch 2002) Je ausgeprägter die „soziale Funktionalität“ eines Klienten in den Augen der Fallmanager sei, umso stärker werde er als Partner im Behandlungsprozess einbezogen. Wurde die Funktionalität als niedrig eingestuft, übernehmen die Fallmanager die Steuerung des Prozess und die Verantwortung. In ähnlicher Weise wird in der Mittendamm-Klinik dem „instabilen“ Patienten ein Mehr an Strukturen angetragen, Zeit-Strukturen gewissermaßen „ärztlich verschrieben“, während einem „stabilen“ Patienten ein Mehr an eigenständiger Gestaltung seines Alltags zugestanden wird. Dieses Changieren wird als Prozess verstanden, der vor allem auf die Zeit nach der Entlassung abzielt. Das kontinuierliche Einüben und Einfordern von zeitlich getakteten Routinen soll den Menschen wieder in die Lage versetzen, aus der Fremdbestimmung durch die Erkrankung heraus zu einer möglichst selbstbestimmten Handlungsfähigkeit zu kommen. Wie dies über die stationäre Behandlung hinaus in den poststationären Alltag der Patientinnen hineinwirken soll, werde ich im Folgenden herausarbeiten. Anhand eines ausführlichen Gesprächs zwischen den Professionellen der Klinik, einem Patienten und seinem Betreuer werde ich zeigen, wie die bisher beschriebene Taktung des Patienten im stationären Alltag mit poststationären Versorgungsstrukturen ineinandergreift und diese aufeinander abgestimmt sind.
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H ANDLUNGSFÄHIGKEIT
ALS
P ROZESS
Die folgende längere Sequenz beschreibt eine Gesprächssituation in der vierzehntägig stattfindenden Angehörigenvisite. Die Angehörigenvisite richtet sich explizit nicht nur an Familienangehörige, sondern generell an wichtige Bezugspersonen der Patientinnen. Der Wohnbetreuer von Herrn Magath hatte den Termin angeregt, um mit Herrn Magath und seinen Behandlern über die Planung für die Zeit nach der Entlassung zu sprechen. Herr Magath ist 35 Jahre alt, seit circa drei Monaten auf der Station in Behandlung und lebt in einer eigenen Wohnung, wo er regelmäßig von seinem Wohnbetreuer besucht wird. Herr Magath lässt erst einmal auf sich warten. Ein Pfleger macht sich auf die Suche nach ihm. So lange sitzen die Sozialarbeiterin, die Ergotherapeutin, der Arzt, der Wohnbetreuer und ich alleine im Aufenthaltsraum. Der Betreuer und die Mitarbeitenden nutzen die Wartezeit, um sich über andere Patienten/Klienten auszutauschen, mit denen der Betreuer ebenfalls arbeitet. Schließlich kommt Herr Magath, er entschuldigt sich, er hätte an den Termin gar nicht gedacht. Zu Beginn verläuft das Gespräch vor allem zwischen dem Betreuer und der Sozialarbeiterin. Betreuer: „Die Frage ist aus unserer Sicht [also aus Sicht der Einrichtung], ob eine eigene, selbständige Wohnsituation im Anschluss an die stationäre Behandlung Sinn macht.“ Sozialarbeiterin: „Da muss man sehen, was dazu noch fehlt. Was braucht Herr Magath in Ihren Augen noch, damit es so weit wäre?“ Der Betreuer macht klar, dass aus seiner Sicht eine gut funktionierende Struktur das Entscheidende wäre. Es müsse auf jeden Fall gesichert sein, dass Herr Magath sich selbständig an eine Struktur halten kann. „Also zentral ist die Tagesstrukturierung und die Frage, ob das in der eigenen Wohnung klappt.“ Man merkt ihm an, dass er skeptisch ist. Der Arzt bezieht schließlich Herrn Magath in das Gespräch mit ein. Es fällt Herrn Magath anfangs sichtlich schwer zu beschreiben, wie er sich selbst einschätzt. Gerade den Vergleich zum Beginn der Behandlung findet er schwierig. Er empfindet es als belastend, sich vor Augen zu führen, wie lange er für die bisherigen Schritte gebraucht hat. Was er auf Nachfragen seines Arztes selbst als besser einschätzt ist, dass er seit ein paar Tagen selbständig um halb acht oder acht Uhr aufsteht. Das wäre sehr gut, betont er selbst. Sonst hätte er auch wegen der Medikamente sehr viel länger geschlafen. Der Arzt betont, man müsse sehen, ob das jetzt Zufall war oder ob das jetzt grundsätzlich besser geworden ist. Herr Magath stimmt zu, das müsse man noch sehen. Der Arzt kommt noch einmal auf die Frage zurück, was er denn aus seiner Sicht noch brauche. Schwierige Frage, antwortet Herr Magath etwas
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ratlos, das könne er jetzt so nicht sagen. Arzt: „Das heißt, wir können Sie morgen entlassen?“ Herr Magath lacht und meint: „Also, was besser werden müsse ist das, was meine Mutter das letzte Mal so gemeint hat. Dass ich mich halt um meine Sachen selbst kümmere.“ Man überlegt gemeinsam hin und her, was auf der Station noch wichtige weitere Schritte wären. Mehr Ausgang, meint Herr Magath schließlich, so eine halbe Stunde oder Stunde länger, er lacht unsicher. Der Arzt stimmt zu, das wäre auf jeden Fall machbar. Sozialarbeiterin: „Wie war denn Ihre Tages- und Wochenstruktur, bevor Sie in die Klinik gekommen sind?“ Er hätte jeden Tag immer einen Termin gehabt, erzählt Herr Magath. Montags war das Gespräch mit dem Betreuer, dienstags der Brunch in der Tagesstätte, was war noch einmal Mittwoch, ach ja, mit der gesetzlichen Betreuerin das Gespräch. Donnerstags war die Jogging-Gruppe im Park und am Freitag dann eben die Werkstatt. Das wäre ja eine Möglichkeit, daran wieder anzuknüpfen und zu sehen, was man davon wieder aufnehmen könnte, meint die Sozialarbeiterin. Die Werkstatt am Freitag wäre so ein Ziel, schlägt sie vor. Herr Magath meint, wegen der Medikamente wäre das ein Problem. Der Betreuer zuckt etwas zusammen und schaut ihn sichtlich irritiert von der Seite an. Die Werkstatt sei am Nachmittag und wenn er mittags das Medikament einnehme, dann packe er das nicht, führt Herr Magath aus. Der Arzt betont, dass er das auf jeden Fall weiter nehmen solle, aber man könne sehen, was man mit der Dosierung machen kann, da wäre man durchaus flexibel. Herr Magath: „Okay, das kann man also ändern.“ Arzt: „Ja, dann würden Sie die Dosis eben später nehmen oder abends etwas mehr.“ Herr Magath: „Ach so, also nur verschieben.“ Der Betreuer meint schließlich, man könne auch überlegen, ob er vormittags in die Werkstatt gehen könnte, das wäre grundsätzlich auch möglich. Da müsste er mit der Einrichtung Rücksprache halten und dann würde er der Sozialarbeiterin Bescheid geben. Er betont noch einmal: „Die Tagesstruktur, das muss auf jeden Fall sitzen, das ist aus unserer Sicht sehr wichtig.“ Er hat anscheinend Zweifel, dass Herr Magath es in der eigenen Wohnung wirklich schafft; Herr Magath hingegen signalisiert, dass das aus seiner Sicht auf jeden Fall geht. Deutlich wird in dem Gespräch insgesamt, dass die Tagesstrukturierung auf der Station klappt, weil er geweckt wird, weil er jemanden hat, der ihn erinnert, ihm also von der Pflege Struktur gegeben wird. Der Arzt betont am Ende, dass man Herrn Magath nicht in eine Richtung schubsen wolle; man könne gemeinsam einen Rahmen erarbeiten, aber Herr Magath müsse sich sicher sein, dass er das so will. Man könne den Schwung verstärken, Ziele setzen müsse er sich aber selbst.
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Aus Sicht des Wohnbetreuers (und der Einrichtung) ist für eine Entlassung von Herrn Magath und eine selbständige Wohnform eine stabile Alltagsroutine grundlegende Voraussetzung: „Die Tagesstruktur muss sitzen!“, das betont er mehrmals. Dazu gehört auch, dass Herr Magath seine regelmäßigen Termine wahrnimmt. Ähnlich wie in der Klinik wird in der komplementären Versorgung selbstverständlich von einer „Mo-Fr-Woche“ ausgegangen. Die verschiedenen Termine, die Herr Magath auflistet, verweisen dabei auf ein übliches Paket von Hilfsangeboten: die Gestaltung der Freizeit mit anderen Menschen (gemeinsames Frühstücken und Sport), rehabilitative Maßnahmen im Bereich der Beschäftigung (der Besuch der Werkstätte) und die regelmäßigen Kontakte zu seinem Wohnbetreuer, der verschiedene Aufgaben erfüllt, mit dem Ziel, Herrn Magath ein Leben in seiner eigenen Wohnung zu ermöglichen. Die zentrale Frage in der Angehörigenvisite ist: Wie eigenständig klappt die Strukturierung bereits? Was fehlt noch, bevor Herr Magath entlassen werden kann? Gelingt das morgendliche Aufstehen, das Einnehmen der Medikamente, die Teilnahme am therapeutischen Programm, weil er entsprechend von den Mitarbeitenden der Station motiviert und kontrolliert wird? Während Herr Magath als positiv einschätzt, dass er nun seit ein paar Tagen regelmäßig frühzeitig aufsteht, betont sein Arzt, man müsse den weiteren Verlauf sehen, und verweist ihn damit auf einen längerfristigen Prozess. Die Sozialarbeiterin schlägt schließlich vor, zur Vorbereitung auf die Entlassung wieder an die Wochen-Routine vor dem Klinikaufenthalt anzuknüpfen. Hier zeigt sich, wie wichtig – zumindest aus Sicht der Professionellen, innerhalb wie außerhalb der Klinik – das Erlernen und Aufrechterhalten von Alltagsroutinen ist: Sie zielen grundlegend auf die Zeit der Entlassung ab und sollen dem Patienten ein möglichst selbständiges Leben ermöglichen. Erst wenn die Routinen wieder weitestgehend selbstverständlich ablaufen und Herr Magath dafür nicht mehr auf grundlegende Unterstützung von außen angewiesen ist, scheint aus Sicht der Professionellen, insbesondere des Wohnbetreuers, ein eigenständiger Alltag realistisch. Wie ich oben bereits ausgeführt habe, ist das therapeutische Ziel, durch die kontinuierliche professionelle Unterstützung das Selbst-Management des Patienten zu stärken und durch die Routinisierung die alltäglichen Abläufe und Anforderungen wieder zum selbstverständlichen Hintergrund werden zu lassen. Am Beispiel von Herrn Magath zeigt sich, wie viel Arbeit und Ressourcen von verschiedenen Seiten in diesen Prozess der Stabilisierung investiert und koordiniert werden müssen. Beispielsweise werden die Einnahme der Medikamente und der Besuch der Zuverdienstwerkstatt neu arrangiert, um die Stabilität der Tages- und Wochenstruktur (wieder)herzustellen. Handlungsfähigkeit – im Sinne der Fähigkeit, aktiv und möglichst eigenständig und zugleich „angemessen“ zu handeln – muss
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kontinuierlich hervorgebracht werden. Herr Magath hat indes eine andere Vorstellung, was als Vorbereitung auf einen eigenständigen poststationären Alltag hilfreich wäre: mehr Ausgang und damit gewissermaßen Abstand vom Stationsalltag. Auch eine Rückkehr in die eigene Wohnung kann er sich sehr gut vorstellen. In der Runde der Visite fällt es ihm allerdings schwer zu beschreiben, wie er sich selbst einschätzt, an welchen therapeutischen Aufgaben er aus seiner Sicht noch arbeiten muss. Ein paar Tage später teilt er in der Psychosegruppe etwas ausführlicher seine Sicht mit. In der Gruppe erzählt er, er wünsche sich, dass er sein Leben selbständiger gestalten könne. Er hätte gedacht, dass er damit schon viel weiter wäre. Aber bislang klappe das nicht so richtig. Wolfgang, der Psychologe, fragt nach, was er denn selbständiger erledigen möchte, was er damit genau meine. Na, er sollte jetzt zum Beispiel etwas für das Jobcenter erledigen, und er hatte sich das auch vorgenommen, aber dann noch nicht gemacht, und dann hätte sein Betreuer ihn gefragt, warum er das noch nicht erledigt habe. Wolfgang: „Dann bekommen Sie die Rückmeldung: ,Warum hast du das noch nicht gemacht?‘“ Nach einem kurzen Schweigen fragt der Psychologe weiter: „Und wie wäre es, wenn Sie diese Art der Aushandlung, die Sie mit dem Betreuer führen, mit sich selbst führen, ginge das?“ Herr Magath meint, dass er sich halt gedacht hätte, dass die Frist ja erst Ende November wäre, und natürlich müsse man nicht immer alles auf den letzten Drücker erledigen, aber er findet, dass er damit auch Recht habe, dass er es nicht sofort erledigt hätte. Manchmal habe er ja auch durchaus Recht. Wolfgang meint, es ginge eben immer um ein Aushandeln zwischen den Menschen. Ein Begriff, der hier sehr wichtig erscheine, sei Autonomie oder Eigenständigkeit und die Frage, wie man das für sich erreichen kann. Manche Menschen hätten für eine Zeitlang einen Menschen zur Seite gestellt, der ihnen dabei hilft. In diesem kurzen Ausschnitt beschreibt Herr Magath selbst den Eindruck, es klappe noch nicht so richtig. Eigentlich wollte er selbst schon weiter sein. Diese eingeforderte Selbsteinschätzung, der Rückblick auf die bisherige Entwicklung in der Klinik, wie sie auch in der Angehörigenvisite von ihm gefordert wurde, macht aus seiner Sicht vor allem deutlich, wie lange er für die bisherigen Schritte gebraucht hat. Und gleichzeitig zeigt sich in seiner Erzählung eine Kritik an der „verschriebenen Zeit“ durch die Institutionen. Er hatte eine eigene Vorstellung davon, wann er das Schreiben für das Jobcenter erledigt haben muss. Und dann doch von seinem Betreuer die Rückmeldung bekommen – wie der Psychologe es formuliert – „Warum hast du das noch nicht gemacht?“ Aber
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er hätte eben manchmal auch Recht, betont er fast trotzig. Der Wunsch nach Eigenständigkeit kann wie im Beispiel von Herrn Magath gerade mit der Form der Hilfestellung und Strukturierung durch das professionelle Hilfesystem kollidieren. Ähnlich wie bei Herrn Sciutto, der sich die Formulierung, man mache sich Sorgen um ihn, wenn er zu spät komme, verbat. Er bleibe authentisch, betonte Herr Sciutto, gewissermaßen unbeeindruckt von der sozialpsychiatrischen Choreografie. Im Falle von Herrn Sciutto interpretierte das Team diese Abwehr als „verletztes Autonomiegefühl“. Und auch im Falle von Herrn Magath bringt der Psychologe den Begriff der Autonomie ins Spiel. Der Wunsch nach Autonomie, im Sinne von Selbstbestimmung, wird zwar grundsätzlich bestärkt und ernst genommen, aber aus Sicht der Professionellen brauchen die Patienten in der Klinik und manchmal auch danach eine Begleitung, die sie in ihrer Selbstbestimmung unterstützt und ihre Handlungsfähigkeit fördert. Die Herstellung von Handlungsfähigkeit und Selbständigkeit ist aus Sicht der Behandler und Betreuer ein längerer Prozess, der jederzeit stagnieren oder rückläufig verlaufen kann. Eigenständigkeit und Selbstbestimmung sind in diesem Verständnis keine Fähigkeiten, die man den Patienten einfach zu- oder absprechen kann, sondern (temporäres) Ergebnis eines längerfristigen Prozesses, der über den Klinikaufenthalt hinausreicht. Gerade die Artikulation eigener Ziele in der Behandlung war dabei für viele der Patienten keine Selbstverständlichkeit. Im Team hieß es dann oftmals frustriert: „Was ist denn überhaupt ihr Behandlungsauftrag an uns? Das ist doch überhaupt nicht klar!“ Als sich beispielsweise das Verhalten von Martin Lehmann nicht ändert, fordert die Oberärztin schließlich in einer Teambesprechung von seinem behandelnden Arzt: „Das müssen Sie mit ihm knallhart klären: Was will er eigentlich, worin können wir ihn unterstützen? Er weiß gar nicht, was er eigentlich selbst will. Das geht so nicht gut.“ Und oftmals waren die Ziele und Wünsche der Patientinnen aus der Perspektive der Therapeutinnen unrealistisch oder standen im Gegensatz zu ihren Vorstellungen von sinnvollen Therapie-Zielen. Viele Patienten wussten zu Beginn einer Behandlung vor allem, was sie auf keinen Fall wollten. Im Stationsalltag, insbesondere in den Gruppenvisiten und in den Einzelgesprächen, war die Frage nach den Zielen der Patienten und vor allem nach den nächsten Schritten, um dieses Ziel umzusetzen, ein kontinuierliches Thema. Damit kehre ich noch einmal kurz in die Angehörigenvisite von Herrn Magath zurück, zu dem Moment, als alle Anwesenden auf Herrn Magath warten. Die Professionellen unterhalten sich über einen anderen Patienten /Klienten, mit dem der Betreuer ebenfalls arbeitet. In dem Gespräch erinnern sich die anwesenden Professionellen an die „schwierige Behandlung“ des Patienten, der unbedingt in ein Pflegewohnheim (also eine Einrichtung ohne
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rehabilitativen Anspruch) wollte, obwohl die Behandelnden dies für ihn nicht angemessen fanden. Das wäre „eine hartnäckige Geschichte“ gewesen, erinnert sich die Sozialarbeiterin und „gut, dass wir dem Wunsch nicht nachgegeben haben“. Die Ergotherapeutin erzählt, dass der Mann regelmäßig ambulant in die Ergotherapie der Klinik komme und „richtig aktiv“ geworden sei. Der Arzt meint, das wäre so ein Fall gewesen, wo eine längere Behandlung in der Klinik wirklich Sinn gemacht hätte. Alle stimmen zu. Herauszufinden, was das Bedürfnis eines Menschen ist, bedeutet in der Planung der Übergänge gerade nicht einfach dem einmal geäußerten Wunsch eines Patienten zu folgen, sondern immer wieder die geäußerten Wünsche des Patienten zu hinterfragen und basierend auf den eigenen Erfahrungen als Sozialarbeiter, Betreuer und Arzt den Weg in eine bestimmte Richtung zu lenken. In manchen Phasen wird eine stärkere Strukturierung und für-sorgliche Steuerung eingesetzt (doing for), in anderen Phasen – und das ist das therapeutische Ziel der Mitarbeitenden – gelingt es, gemeinsam mit dem Patienten dessen Bedürfnisse und Ziele herauszuarbeiten (doing with). (Floersch 2002) In diesem Changieren zwischen Für-Sorge und Zusammen-Arbeit greifen die Behandler auf die Erfahrungen zurück, die sie mit den „bekannten Patientinnen“ in früheren Behandlungen gemacht haben. Man weiß, bei welchen Patienten viel Druck auszuüben eher kontraproduktiv sein könnte und bei welchem Patienten in welcher Phase man sehr bestimmt vorgehen sollte. Diese Perspektive auf Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung als praktisch hergestellt verdeutlicht vor allem, wie voraussetzungsvoll die Forderung, Patienten „selbstbestimmt“ am Behandlungsprozess und den Entscheidungen über komplementäre Hilfsangebote einzubeziehen, ist. Wie die beiden Psychologen Manfred Zaumseil und Peri Terzioglu problematisieren, gehen gesundheitspolitische Konzepte von Partizipation und Selbstbestimmung vom „Ideal eines autonomen, selbst verantwortlichen, entscheidungsfähigen und -willigen Patienten“ (Terzioglu und Zaumseil 2007: 211) aus. Vernachlässigt würden in verschiedenen Modellen der Patientenbeteiligung – wie beispielsweise dem Ansatz der geteilten Entscheidungsfindung – die vielfältigen Kontexte, die gerade bei psychisch kranken Menschen maßgeblich die Möglichkeiten und Formen der Teilhabe an Entscheidungs- wie an Behandlungsprozessen beeinflussen. Terzioglu zeigt in ihrer Arbeit über die gelungene Kooperationen von niedergelassenen Psychiatern und ihren Patienten, dass die Kooperation und die Partizipation von Patienten als sich verändernder Prozess mit unterschiedlichen Phasen zu beschreiben ist: Vor allem die Bereitschaft der Ärzte „zur flexiblen Übernahme und Rückgabe von Verantwortung“ (Terzioglu 2005: 249) hatte aus Sicht der Patienten einen entscheidenden Stellenwert und ist vergleichbar mit dem von Floersch beschriebenen Changieren zwischen doing for und doing with. Teilha-
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be, Selbstbestimmung, das Formulieren eigener Ziele und Bedürfnisse basieren damit nicht auf „rationalen“ Entscheidungen eines autonomen Subjekts, sondern sind als kontextabhängige und im Kollektiv stattfindende Prozesse zu analysieren. Während Terzioglu vor allem auf die Interaktionsebene zwischen Behandlern und Patienten abzielt, betonen verschiedene Arbeiten in den Science and Technology Studies, die sich mit Pflege- und Rehabilitationspraktiken beschäftigen, die konstitutive Rolle von Organisationsstrukturen und materiellen Dingen, wie technische Apparate oder auch einfache Haushaltsgegenstände, für die praktische Herstellung von „Patienten-Autonomie“ in der Behandlung und Versorgung. (Mol 2008; Moser 2005; Struhkamp 2005; Willems 2000) „Patienten-Autonomie“ sei nicht etwas, das im Arztzimmer, im Gespräch und der anschließenden Entscheidung hergestellt werde, sondern ein alltäglicher, immer wieder neu herzustellender Prozess der Aushandlungen im Kollektiv. Annemarie Mol verweist in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der „Logik der Wahl“ im Gesundheitswesen auf verschiedene „westliche“ Konzepte von Individuum, Rationalität und Autonomie, die in einer spezifischen philosophischen Tradition entstanden sind. Wie ich bereits an anderer Stelle meiner Arbeit beschrieben habe, stellt Mol dieser „logic of choice“ die „logic of care“ (Mol 2008) entgegen: Während die „Logik der Wahl“ davon ausgehe, dass man dem Patienten anhand von Informationen ermöglichen sollte, selbstbestimmt eine Wahl über seine Behandlung zu treffen, betone die „Logik der Sorge“ den kontinuierlichen Prozess der Aushandlung und Anpassung im Umgang mit Erkrankungen, der nicht vom individuellen Patienten alleine, sondern in aktiver Zusammenarbeit mit Behandlern, Familie, aber auch technischen Geräten gestaltet wird. Sozialpsychiatrische Behandlung und Versorgung, wie sie in der Mittendamm-Klinik praktiziert werden, werden in ähnlicher Weise als Gegenstand alltäglicher situierter Interventionen und Anpassungen verstanden. Dabei wird ebenso wie im Verständnis von Sorge, wie es Mol und andere vertreten, die aktive Partizipation des Patienten im gemeinsamen Bemühen um eine Verbesserung des aktuellen Zustands als zentral angesehen. In Pflege- und Rehabilitationspraktiken gehe es entsprechend nicht um die Implementierung von Autonomie und Entscheidungsfähigkeit, wie Dick Willems in seiner Diskussion verschiedener Selbst-Management-Technologien bei (somatisch) chronisch Kranken schreibt, sondern um agency und Technologien der Selbst-Sorge. (Willems 2000) Wie Willems es formuliert, wäre das Ziel für chronisch Kranke „to become agents instead of patients“ (ebd.: 27; Herv.i.O.). Patienten sollen im Rahmen von Behandlungs- und Rehabilitationsprogrammen ermächtigt werden, als handlungsfähige und damit aktive Akteure zu partizipieren, mit dem Ziel, möglichst selbständig leben zu können. Während Willems hier agency als
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unhinterfragte ideale Voraussetzung von care-Praktiken beschreibt, problematisiert Desjarlais diese Herstellungspraktiken von Handlungsfähigkeit gerade als Ergebnis eines spezifischen therapeutischen Programms – „to make agents out of patients“ (Desjarlais 1996: 889; Herv.MK) –, das selbst als SubjektivierungsRegime diskutiert werden müsse. Der aktive Patient ist damit nicht als Voraussetzung von Sorge-Praktiken zu verstehen, sondern als ihr Ergebnis zu analysieren. Dezidiert aufgearbeitet hat dieses Ideal des aktiven, an sich selbst arbeitenden Subjekts Nikolas Rose. In Anlehnung an Foucault beschreibt Rose die professionalisierte Arbeit am Selbst als „conduct of conduct“ (Rose 1998: 152ff.). Dieses therapeutische Regime, so Rose, „impels the subject to ‚work‘ on itself and to assume responsibility for its life. It seeks to equip the self with a set of tools for the management of its affairs such that it can take control of its undertakings, define its goals, and plan to achieve its needs through its own powers.“ (Rose 1998: 159)16 Praktiken des (Ver-)Sorgens müssen vor diesem Hintergrund immer auch auf ihren ideologischen Gehalt und ihr Subjektivierungs-Potential diskutiert werden. Wie dieses therapeutische Regime der aktiven Arbeit am Selbst in der Klinik von den Professionellen kontinuierlich angeleitet und begleitet wird, darum wird es im nächsten Abschnitt gehen. Die Betonung der aktiven Partizipation des Patienten in der sozialpsychiatrischen Choreografie wurde bereits in der Angehörigenvisite von Herrn Magath thematisiert: Dem Team der Station, vor allem seinem behandelnden Arzt, ist es wichtig, dass Herr Magath sich in diesen Prozess aktiv einbringt und vor allem auch selbst beschreibt, was aus seiner Sicht die nächsten Schritte und die Ziele sein sollten. Man wolle ihn nicht „in eine Richtung schubsen“, man könne „den Schwung verstärken, Ziele setzen müsse er sich aber selbst“. Wie schwierig dies für viele Patienten ist und wie das Team auf der Station gemeinsam mit Patienten an der Artikulation „eigener Ziele“ und deren Umsetzung arbeitet, darum wird es im folgenden Abschnitt gehen. Dazu werde ich ausführlich ein Behandlungskonzept beschreiben, das erst während meiner letzten Feldforschung in der Mittendamm-Klinik eingeführt
16 Wie Rose unter anderem zeigt, ist dieses therapeutische Regime keineswegs „antisozial“: „It construes the ‚relationships‘ of the self with lovers, family, children, friends, and collegues as central both to personal happiness and social efficacy. […] Thus human interaction has been made amenable to therapeutic government, and therapists have sought to take charge of this domain of the interpersonal, knowing its laws, diagnosing its ills, prescribing the ways to conduct ourselves with others that are virtuous because they are both fulfilling and healthy.“ (Rose 1998: 159)
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wurde und die kontinuierliche Herstellung von Handlungsfähigkeit unterstützen und auf spezifische Weise operationalisieren sollte.
A NLEITUNG
ZUR
E IGENSTÄNDIGKEIT
In der Mittendamm-Klinik arbeitet man kontinuierlich daran, neue Behandlungskonzepte zu rezipieren und in die alltägliche Arbeit zu integrieren, die die Selbstbefähigung des Patienten stärken und dessen Bedürfnisse und Wünsche sowie seine Ressourcen in den Vordergrund stellen sollen. Das Ideal der Anpassung der Behandlung an die Bedürfnisse und Ressourcen des individuellen Patienten wird insbesondere mit dem Modell der Behandlungskonferenzen (BK) verfolgt. Die BK ist ein Behandlungsansatz, der – stark inspiriert von skandinavischen Behandlungsansätzen wie dem need-adapted treatment und dem Konzept des open dialogue – in der Mittendamm-Klinik auf einigen Stationen seit kurzem zum Einsatz kommt und während meiner Feldforschung noch in der Experimentierphase war.17 (Aderhold et al. 2003; Seikkula und Arnkil 2011) In ihrer ursprünglichen Idee sollte die BK die konventionelle Oberarztvisite ablösen und ein neues Modell der Behandlungszusammenarbeit mit dem Patienten installieren. Wöchentlich oder vierzehntägig trifft sich das Bezugsteam, das in der Regel aus dem behandelndem Arzt, jemandem von der Pflege, der Sozialarbeiterin, einer Ergotherapeutin und – soweit zeitlich möglich – der Oberärztin besteht, mit der Patientin zu einem gemeinsamen Gespräch, in dem über den aktuellen Stand der Behandlung und die weiteren Schritte gesprochen wird. Bevor ich auf den konkreten Ablauf eingehe, hier einige grundlegende Prinzipien, wie sie in der Fortbildung und der entsprechenden Literatur (Aderhold und Gottwalz-Itten 2010; Aderhold und Greve 2010; Aderhold et al. 2010) vermittelt werden: Ziel ist erstens die Kohärenz der Behandlung durch die Beteiligung der verschiedenen Therapeuten und eine gemeinsame Entwicklung und Koordination von therapeutischen Schritten in den Behandlungskonferenzen. Als Voraussetzung für diese Zusammenarbeit gelten zweitens flache Hierarchien unter den Behandlern, aber vor allem die Partizipation des Patienten am Behandlungsprozess, sowohl in der Planung wie auch der Therapieevaluation.
17 In der Mittenddamm-Klinik fand eine Fortbildung in verschiedenen Behandlungsmodulen der bedürfnisangepassten Behandlung statt, die auf den verschiedenen Stationen unterschiedlich und schrittweise eingesetzt wurden. Während auf der Station 29 vor allem die Behandlungskonferenzen eingeführt wurden, wurden auf anderen Stationen andere Module, wie beispielsweise Netzwerkgespräche, eingesetzt.
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Entscheidend ist drittens, in der Planung gemeinsam die Bedürfnisse des Patienten herauszuarbeiten und dadurch die Selbstwirksamkeit bzw. Selbstbefähigung zu fördern: „Der Patient soll so weit wie möglich an der Therapieplanung und Entscheidungen beteiligt werden, um durch konkrete Erfahrungen Selbstwirksamkeit zu erleben und mehr Selbstkompetenzen zu entwickeln.“ (Aderhold et al. 2010: 2) Im Zentrum sollen die Ressourcen des Patienten und dessen weitere Entwicklung stehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass es im Klinikalltag durchaus ein festes Repertoire von Angeboten und Therapiemodulen geben muss, d.h.: Nicht alles kann verhandelt werden. So weit – sehr knapp – das therapeutische Konzept der BK. Ich werde nun anhand eines Beispiels ausführlich beschreiben, wie die BK in der Mittendamm-Klinik praktiziert wird und wie hier Schritt für Schritt in Richtung Eigenständigkeit gearbeitet wird.18 Eine Patientin, mit der das Konzept der BK über einen längeren Zeitraum durchgeführt wurde, ist Angelika Siebert. Wie ich im letzten Kapitel zu ihrer Behandlungsgeschichte geschildert habe, gingen ihre Therapeutinnen angesichts vorheriger Behandlungsverläufe davon aus, dass ihre Behandlung vermutlich längere Zeit brauchen würde. Um diesen Prozess möglichst intensiv zu begleiten, wurde zwei Monate nach ihrer Aufnahme beschlossen, ihre weitere Behandlung anhand von Behandlungskonferenzen zu organisieren.19 Eine BK besteht aus mehreren Schritten und folgt einer eigenen Choreografie. In einem Gesprächskreis mit mehreren Behandlern und der Patientin, der circa eine halbe Stunde dauert, wird über die bisherigen wie auch die nächsten Therapieschritte gesprochen und gemeinsam Ziele formuliert. Als Raum wurde auf der Station meistens der so genannte Bibliotheksraum genutzt, ein kleinerer Aufenthaltsraum, in dem neben einem Tisch und ein paar Stühlen ein Bücherregal steht; durch die Fensterfront blickt man in den Garten, der durch
18 Für eine weitere ethnografische Analyse der Behandlungskonferenzen im psychiatrischen Behandlungsalltag siehe die Publikation eines Studienprojektes am Institut für Europäische Ethnologie in Berlin, herausgegeben von Milena Bister und Jörg Niewöhner (2014), insbesondere S. 81ff. 19 Ein weiterer Grund war damit auch, der Frustration im Team angesichts eines langwierigen Prozesses entgegenzuwirken. Um über einen längeren Zeitraum das Engagement des Teams zu gewährleisten, wäre die BK ein sinnvoller Weg, erklärte mir Andreas, der Stationsarzt. Als ich ihn auf seine Gründe anspreche, warum er sich grundsätzlich so für die Behandlungskonferenzen interessiere und einsetze, meint er: „Das ist meine Burn-out-Prophylaxe, ansonsten haben wir viel zu wenig Zeit, mal richtig therapeutisch mit den Leuten zu arbeiten. Die Behandlungskonferenzen geben mir die Möglichkeit, mich intensiv mit einer Patientin auseinanderzusetzen.“
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eine Hecke vor Einblicken vom Klinikgelände geschützt ist. Als Vorbereitung auf die BK werden an den runden Tisch zwei Stühle gerückt, auf denen später die Patientin und der Behandler, der das Gespräch mit der Patientin führt und die Runde moderiert, Platz nehmen. Mit etwas Abstand sind im Halbkreis, mit Blick auf das Behandler-Patientin-Paar, die anderen Stühle angeordnet, auf denen circa vier bis sechs weitere Mitarbeitende der Station teilnehmen. Manchmal werden externe Bezugspersonen wie eine gesetzliche Betreuerin oder dergleichen eingeladen. Sobald alle Platz genommen haben, begrüßt der Moderator die Anwesenden und beginnt (meist) mit der Frage, wie die letzte Woche der Patienten verlief und wie es mit den vereinbarten Zielen der letzten BK geklappt habe. Diese „Ziele“ und die „konkreten nächsten Schritte“ wurden im Protokoll der letzten BK festgehalten, das ein Mitarbeiter erstellt und allen Beteiligten der BK – auch der Patientin – ausgehändigt hat. Typische Ziele bei Frau Siebert, wie sie im Protokoll vermerkt wurden, waren: „1. Aktivitätsradius erweitern, 2. alleine spazieren gehen, 3. Treffen mit Freunden“20, die dann in folgende konkrete Schritte übersetzt wurden: „Zu 1. und 2.: Mehrmals am Tag rausgehen (auch häufig bis zur Ampel gehen); Begleitung zum Spazierengehen suchen; bewusst auch die Geräusche von draußen wahrnehmen und sich daran gewöhnen; zu 3.: Freund anrufen und neuen Termin ausmachen.“ Zu Beginn der BK berichtete Frau Siebert dann meist sehr ausführlich, wann sie welche Runde im Park gedreht hatte, was gut geklappt hätte und was weniger gut verlaufen wäre. Der Moderator, oftmals war es ihr behandelnder Arzt oder die Sozialarbeiterin der Station, fragte „wiederholend“ nach („Sie haben es also bis zum Ausgang an der Baumstraße geschafft, aber auf dem Rückweg hatten Sie wieder mit den Ängsten zu kämpfen?“), erfragte weitere Details („und sind Sie vorne am Hauptgebäude entlanggegangen oder hinten durch den Park am Rosenbeet vorbei?“) oder versuchte mehr über das Gefühl, das sie beschreibt, zu erfahren („und was denken Sie, warum gerade der Rückweg so angstbesetzt ist?“). Manchmal wird vom Moderator ein weiteres Thema eingebracht („worüber wir schon lange nicht mehr gesprochen haben …“ oder „Sie hatten ja das letzte Mal angesprochen, dass …“). Neben der Rekapitulation der letzten Schritte werden meist die nächsten Maßnahmen besprochen („was meinen Sie, was könnten dann weitere Schritte sein?“ oder „was brauchen Sie noch, um das zu schaffen?“). Dabei wird sich vor allem an den Themen, die die Patientin einbringt, orientiert.
20 Diese und weitere Zitate stammen – in pseudonymisierter Form – aus den Protokollen, die mir mit Einverständnis von Frau Siebert und den beteiligten Professionellen zur Verfügung gestellt wurden.
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Nach dem ausführlichen Gespräch mit dem „Interviewer“, das circa zehn bis fünfzehn Minuten dauerte, werden die anderen Anwesenden gebeten, Fragen zu stellen. Diese Phase des „Fragekreises“ dauerte unterschiedlich lange, meist zwischen fünf und zehn Minuten. In der Regel wird hier auf die Beschreibungen der Patienten eingegangen und ähnlich wie vom Interviewer nachgefragt. Nach dieser Fragerunde folgt der Teil der Reflexion im Team,21 den der Interviewer mit den Worten einleitet: „Jetzt können wir beide uns zurücklehnen und uns anhören, was die anderen für Gedanken zu dem gerade Besprochenen haben.“ Meist herrscht eine Weile Schweigen, bis der Erste „in den Raum hinein“ seine Gedanken äußert. Dabei wird weder die Patientin noch die anderen Mitarbeitenden angesprochen, sondern „laut nachgedacht“: „Ich fand es beeindruckend, dass Frau Siebert sich trotz der Rückschläge in der letzten Woche selbst motiviert hat, ihre Trainingsrunden im Park wiederaufzunehmen, und sich nicht hat entmutigen lassen …“ oder „Ich fand es schön, dass Frau Siebert uns in dieser Runde so offen ihre Gefühle zeigt und dass sie uns das Vertrauen schenkt, ihre Ängste kennen zu lernen …“ Nach dieser Reflexionsrunde hatte die Patientin die Möglichkeit, auf die Reflexionen zu reagieren. Schließlich fasste die Protokollantin am Ende der BK zusammen, was sie sich im Verlauf der BK als mögliche Ziele und entsprechende konkrete Schritte für die kommende Woche notiert hatte. Die Patientin konnte und sollte sich zu diesen Punkten äußern: Sind das die Ziele, die sie sich vorgestellt hat, sind es aus ihrer Sicht realistische Schritte, möchte sie etwas anders machen oder noch etwas hinzufügen? Meist stimmte Frau Siebert den Punkten zu. Diese Ziele und Schritte wurden entsprechend im Protokoll vermerkt und später an alle Beteiligten ausgeteilt. Nach der Behandlungskonferenz standen alle auf, und meistens verließen alle gemeinsam den Raum. Aber immer mal wieder schlich sich die Routine einer Nachbesprechung ein, was im Ideal der Behandlungskonferenz – nicht ohne den Patienten über den Patienten zu sprechen – eigentlich nicht passieren sollte. Anhand der beschriebenen Elemente wird in der BK an einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Behandlungsschritte gearbeitet mit dem Ziel einer zunehmenden „Selbstwirksamkeit“ der Patientin. Einerseits geschieht dies durch die explizite Verbalisierung von Schritten, wozu insbesondere die Patientin aufgefordert wird; andererseits durch die spezifische Ritualisierung des Ablaufs. Indem immer wieder die Sichtweise der Patientin in den Mittelpunkt gestellt wird, wird sie in der Choreografie der BK kontinuierlich aufgefordert, aktiv ihre
21 Auf der Station wie auch in der entsprechenden Literatur wird hier vom Reflektierenden Team gesprochen. Das Konzept wurde von Tom Andersen formuliert. (Andersen 1996)
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Bedürfnisse zu artikulieren, ihre Erlebnisse der letzten Woche zu reflektieren und darauf aufbauend nächste Schritte zu überlegen. Die Sichtweisen der Mitarbeitenden schließen daran an und betonen damit die zentrale Bedeutung dessen, was Angelika Siebert thematisiert. Mit dem Konzept des Reflektierenden Teams soll der Patientin ein mehr oder weniger unverbindliches Angebot gemacht werden, die Interpretationen der Behandler anzuhören, aber gegebenenfalls auch zu ignorieren. Damit soll sozusagen die „Fremdwirksamkeit“ im Sinne einer expliziten Vorgabe von Seiten der Behandler vermieden oder zumindest verringert werden. Obwohl die BK besonders zeit- und personalaufwendig ist,22 wird in der Regel an einer wöchentlichen Taktung festgehalten. Im Protokoll, das wie erwähnt auch die Patientin ausgehändigt bekommt, steht das Datum der nächsten Behandlungskonferenz. Durch diese Regelmäßigkeit, die zudem mit dem Rückblick auf die letzte Woche und die Planung der konkreten Schritte für die nächste Woche in der jeweiligen BK aktualisiert wird, wird jede einzelne Sitzung in einen regelmäßigen, kontinuierlichen Verlauf gesetzt. Das „Hier und Jetzt“ der BK wird aktiv verbunden mit dem Vorher und Nachher: Was wurde besser und was soll noch besser werden? Ähnlich wie in der beständigen Beobachtung, Interpretation und Dokumentation des alltäglichen Zeit-Verhaltens der Patientinnen auf der Station wird durch die spezifische Performanz der BK, wie beispielsweise dem Anfertigen, Aushändigen und erneuten Besprechen des Protokolls und der vereinbarten Schritte und Ziele, eine Sichtbarkeit und spezifische Form der Evidenz von Fortschritt produziert. Auch hier spielen wieder Fragen von Verbindlichkeit und Aktivität eine
22 In einer Teambesprechung wurde äußerst kontrovers über die BK diskutiert. Insbesondere die Pflege verband mit dieser Behandlungsform einen erhöhten Personalaufwand, der in ihren Augen nur bedingt gerechtfertigt war. Während es für die anderen Professionellen im Team durchaus üblich ist, längere Gesprächseinheiten mit den Patienten durchzuführen, ist die Interaktion der Pflegenden mit den Patientinnen gerade durch viele kürzere Zeiteinheiten organisiert. Sich circa eine halbe Stunde nur mit einem Patienten zu beschäftigen bedeutet für eine Pflegekraft, in dieser Zeit alle anderen Patienten zu „vernachlässigen“. Wie ein Pfleger einmal vorrechnete, würden in einer BK auf eine Patientin circa 2,5 Stunden Personalzeit verwendet, was aus Sicht der Pflege unverhältnismäßig viel Zeitaufwand bedeutet, während für einen Arzt beispielsweise, der sich durch die BK in der Regel auch die Einzelgespräche mit der Patientin „spart“, der Zeitaufwand nicht mehr ist. Auf diese unterschiedlichen Personalzeiten kann ich an dieser Stelle nicht ausführlicher eingehen, verweise jedoch zumindest darauf, dass auch die professionellen Stationszeiten unterschiedlich getaktet sind, was verschiedenen Anforderungen und Zeitvorstellungen entspricht.
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zentrale Rolle. Frau Siebert lernt dadurch, sich immer wieder selbst zu evaluieren und ihre Fortschritte an den vereinbarten Zielen zu messen. Durch das kollektive Sequentialisieren, Reflektieren und Planen von Schritten zur Verbesserung zielt die sozialpsychiatrische Choreografie darauf ab, dass Patientinnen (und Behandlerinnen) lernen, „sich zu verbessern“ und sich selbst als aktiven Teil des Behandlungsteams zu erfahren. Als „conduct of conduct“ (Rose 1998: 152ff., 156) zielen diese therapeutischen Maßnahmen aber nicht nur auf die Aktivierung der Patientin und der kontinuierlichen Arbeit an der SelbstVerbesserung, sondern insbesondere auf eine reflektierte Handlungsfähigkeit. Wie Nikolas Rose mit Verweis auf die Ausführungen Foucaults zu Technologien des Selbst hervorhebt, ist es die spezifische Verbindung von „self-knowledge“ und „self-mastery“, welche die Arbeit am „modernen Selbst“ ausmachen. (Ebd.: 157) Die Behandlungskonferenz ist eine Technik, die bestimmte sozialpsychiatrische Ideale wie die aktive Teilhabe des Patienten am Behandlungsprozess, die wertschätzende therapeutische Haltung und das systemische Arbeiten konzentriert performiert. Aber auch in anderen Situationen im Stationsalltag wird diese Betonung der aktiven Teilhabe und der Impetus der „Verbesserung“ hervorgehoben. So kommentiert beispielsweise die Oberärztin in der Stationsgroßgruppe gegenüber Martin Lehmann dessen Schwierigkeiten, für sein Patientenamt rechtzeitig zurück auf der Station zu sein, mit den Worten: „Das kann aber auch besser werden!“ In der Angehörigenvisite fordert der Arzt Herrn Magath auf zu formulieren, was aus seiner Sicht vor der Entlassung noch besser werden müsste. Die „antizipatorische Haltung“ im Sinne eines kontinuierlichen Arbeitens an einer Verbesserung wird in der Behandlungskonferenz durch die Praktiken der Sequentialisierung, Wiederholung, Protokollierung, dem Rückblick und Ausblick quasi in Idealform ins Zentrum gerückt. Ziel ist es, die Bedürfnisse der Patientin im Kollektiv zu „ermöglichen“: sowohl was mögliche Bedürfnisse sind, als auch deren Umsetzung. Im Protokoll stand zu einer der ersten BK beispielsweise, Frau Siebert „berichtet über ein Anwachsen der Eigenständigkeit“. Eigenständigkeit wird im Rahmen der BK auf eine implizite wie explizite Weise enacted: durch die ausdrückliche Thematisierung eigenständiger Schritte und durch die Performanz, die die Patientin mit ihren Themen wortwörtlich ins Zentrum rückt. Dabei zeigt gerade der relativ komplexe Ablauf der Behandlungskonferenz, dass Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit aus Sicht der Therapeuten aktiv herstellbar sind.23 Ähnlich wie durch die festen Zeit-
23 In der kurzen Sequenz von der Station der Vergleichs-Klinik zeigte sich eine eher „abwartende Haltung“: Man müsse warten bis die Patientin so weit sei.
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routinen im Stationsalltag wird durch einen festgelegten Rahmen der Patientin ein Raum angeboten, in dem sie – unter Anleitung – eigenständig(er) werden soll. Diese Art der Entwicklung und kontinuierlichen Anpassung von individuellen Zielen im klinischen Kontext zeigt eine ähnliche Praxis, wie sie die Sozialwissenschaftlerin Rita Struhkamp in ihrer Forschung zu Rehabilitationsmaßnahmen in einem Zentrum für Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen herausarbeitet. (Struhkamp 2004) Struhkamp beschreibt das kontinuierliche Erarbeiten und Umsetzen von konkreten Zielen als einen situierten Aushandlungsprozess, der an der Verbesserung der aktuellen Situation eines Patienten arbeitet und dabei den Patienten aktiv einbezieht. In der Alltagspraxis des Rehabilitationszentrums treten dabei immer wieder Spannungen auf, wenn beispielsweise Verbesserungen nicht wie erwartet eintreten, Patienten andere Vorstellungen von ihrer Rolle in diesem Prozess haben oder im Übergang in das eigene Wohnumfeld Ziele sich nicht umsetzen lassen. In ähnlicher Weise zeigt sich das beschriebene Arbeiten in der Behandlungskonferenz als gemeinsamer Prozess, mit dem Ziel, Angelika Siebert und ihre Bedürfnisse und Ziele ins Zentrum des therapeutischen Prozesses zu rücken. Ändern sich ihre Bedürfnisse oder die Bedingungen, werden die Ziele flexibel angepasst. Ich hatte eingangs die Station als „Laboratorium des Sozialen“ bezeichnet; gewissermaßen ist die BK mit ihren sehr kontrollierten Bedingungen eine Art Werkstatt, in der gemeinsam an der Herstellung von Eigenständigkeit „gebastelt“ wird. Ein Beispiel für diese spezifische Herstellungspraktik von Eigenständigkeit und „Selbstbefähigung“ ist das gemeinsam erarbeitete Ziel in einer BK, dass sich Frau Siebert eigenständig Impulse setzen und von sich aus auf die Mitarbeitenden zugehen sollte, um sich unterstützen zu lassen. Sie hatte erzählt, dass sie mit einem Bekannten am Wochenende zum Brunchen in ein Café gefahren sei. Wie im Protokoll notiert wird, seien solche Ausflüge allerdings nur „mit Personen, denen sie vertraut“, möglich. Auch mit einigen Mitarbeiterinnen könnte sie sich solche Ausflüge vorstellen, erklärte Frau Siebert auf Nachfrage. Im Protokoll wird die „Anregung“, für solche Ausflüge „selbst die Initiative zu ergreifen“, schließlich in konkrete Schritte für die nächsten Woche übersetzt: „Gedanken darüber machen, was sie gerne für einen Ausflug machen möchte, eine konkrete Person vom Personal anfragen.“ Eigenständigkeit wird hier als kontinuierlicher Lern-Prozess verstanden, als Ergebnis und nicht Voraussetzung von Teilhabe an der Behandlung. Standen zu Beginn der Behandlungskonferenzen bei Frau Siebert vor allem das tägliche Trainingsprogramm, mit dem sie ihren Radius erweiterte, im Zentrum, brachte das Team im Laufe der Zeit zunehmend Fragen der poststationären
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Versorgung ins Spiel. Frau Siebert reagierte anfangs abwehrend, dann zögerlich, dann ließ sie sich zunehmend auf eine Thematisierung der Entlassung und auf die Planung des Übergangs ein. Immer wieder wurde über die Rückkehr in das Pflegewohnheim gesprochen, mögliche Alternativen und vor allem die Frage diskutiert: „Was brauchen Sie hier noch? Was sind positive, was sind negative Aspekte im Pflegewohnheim? Was wünschen Sie sich für den Alltag dort?“ Aber auch: „Wovor haben Sie Angst, was macht Ihnen Sorgen?“ Bei den letzten Behandlungskonferenzen von Frau Siebert wurde schließlich eine Mitarbeiterin aus dem Pflegewohnheim dazu geladen, um gemeinsam über die Entlassungsplanung zu sprechen. In den Behandlungskonferenzen wurde ein kontinuierlicher Behandlungsprozess angeregt und umgesetzt, der sich immer wieder den Bedürfnissen anpasst und durch die Planung der konkreten Schritte die Ziele immer auch kontextualisiert: Was braucht es, um dieses Ziel zu erreichen? Angelika Siebert erzählte mir, dass sie die Behandlungskonferenzen zwar teilweise als sehr anstrengend empfand, sie aber gerade diese Form der Aufmerksamkeit und kontinuierlichen Auseinandersetzung für sich sehr hilfreich fand. Erst in der Klinik hätte sie wieder gelernt, eigene Ansprüche an das Leben zu haben. Für sie war diese kollektive Auseinandersetzung über konkrete Ziele ein produktiver und unterstützender Prozess.
Z WISCHENFAZIT : C HOREOGRAFIERTE H ANDLUNGSFÄHIGKEIT Bevor ich im letzten Abschnitt der Frage nachgehe, wie Handlungsfähigkeit in den poststationären Alltag übersetzt wird und welche Reichweite das sozialpsychiatrische Choreografieren hat, gebe ich an dieser Stelle einen kurzen Rückblick auf die bisherige Argumentation. Anhand verschiedener Beispiele habe ich herausgearbeitet, dass der handlungsfähige, aktiv am Behandlungsprozess teilhabende Patient in den alltäglichen Praktiken in der Mittendamm-Klinik nicht vorausgesetzt, sondern in diesen Praktiken kontinuierlich hergestellt wird. Dabei zielt sozialpsychiatrisches Choreografieren in spezifischer Weise auf die Transformation von Patienten in handlungsfähige Akteure. Wie Desjarlais in seiner Ethnografie zu Obdachlosen in Boston demonstriert hat, ist Handlungsfähigkeit nicht als essenzielles menschliches Potential vorauszusetzen, sondern Ergebnis einer situierten Praxis, das von spezifischen lokalen Bedingungen und Kontexten geformt wird. In meiner Arbeit stand die therapeutische, stationäre Herstellung von Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt, die als „conduct of conduct“ (Rose 1998: 152ff., 156) bestimmte Vorstellungen eines handlungsfähigen Subjektes
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reproduziert und ermöglicht, während andere als problematisch gelten. Zwei Aspekte habe ich in diesem Kapitel in den Vordergrund gestellt: die Arbeit an der Synchronisierung der Alltagszeit und das Formulieren und Umsetzen „eigener“ Ziele – beides soll Handlungsfähigkeit ermöglichen und stärken. Die Synchronisierung der Alltagszeit soll durch ein kontinuierliches Einüben und Einfordern von Routinen den Menschen in die Lage versetzen, aus der Fremdbestimmung durch die Erkrankung wieder zurück in eine geteilte Zeitlichkeit mit seiner Umwelt zu kommen. Dabei wird die scheinbare Selbstverständlichkeit einer normalen Alltagszeit gerade auch durch die Organisationsstrukturen und das spezifische räumlich-zeitliche Arrangement der sozialpsychiatrischen Choreographie ko-produziert, wie insbesondere im Vergleich mit einer anderen stationären Zeitkultur offensichtlich wurde. Ziel sozialpsychiatrischen Choreografierens ist, dass sich psychisch kranke Menschen (wieder) an die Regeln und Normen des Zusammenlebens im Kollektiv halten und in Beziehung treten können. Die Betonung des Patienten als soziales Wesen, dem die „größtmögliche Integration in sein normales Lebensumfeld“24 ermöglicht werden soll, erfordert aus Sicht der Professionellen eine Synchronisierung mit einem als normal vorausgesetzten Alltag. Wie der Arzt in der Eingangssequenz Herrn Lehmann erklärt, wäre es eben das, was Menschen machen: sich Beschäftigung suchen, Termine einhalten, ohne die Mutter den Alltag regeln. „Das muss ich auch machen, das muss auch Frau Klausner machen.“ In der Klinik soll die verrückte Alltagszeit durch eine enge Taktung und durch die Vermittlung von Alltagsroutinen wieder den üblichen Zeitstrukturen angepasst werden. Dies gilt als Voraussetzung für eine Rückkehr in die Gemeinde. Deutlich wurde in verschiedenen Beispielen, dass insbesondere die Anforderungen der poststationären Versorgung diese „Normalisierung“ der verrückten Alltagszeit notwendig werden lassen. Wie der Wohnbetreuer von Herrn Magath als Bedingung für die Entlassung und Rückkehr in die eigene Wohnung betonte: „Die Tagesstruktur muss sitzen!“ Ein gewisses Maß an stabilem Zeitverhalten wird als eine wichtige Grundlage für die poststationäre Versorgung begriffen. Selbst ein Pflegewohnheim, das gerade im Vergleich zur eigenen Wohnung eine engmaschige Versorgung des Patienten bereitstellt und nicht darauf angewiesen ist, dass ein Klient sich an vereinbarte Termine hält und beispielsweise pünktlich und zuverlässig zur Werkstatt oder zum Tageszentrum kommt, stößt an seine Grenzen, wenn ein Patient einen gestörten Tag-NachtRhythmus hat. Um einen Patienten entlassen zu können, muss das Zeitverhalten
24 Selbstbeschreibung der Klinik.
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der poststationären Versorgung angemessen sein. Sonst käme er „postwendend zurück“, wie eine Krankenschwester im Falle von Herrn Reichle prognostiziert. Neben der Arbeit an der Synchronisierung der Alltagszeit zielt die sozialpsychiatrische Choreografie vor allem auf ein kontinuierliches Arbeiten an den Zielen und an einer Aktivierung der Patientin: Die Patientin muss nicht nur lernen, ihr Zeitgefühl und Zeitverhalten mit den Zeitstrukturen des Stationsalltags zu synchronisieren und sich den grundlegenden „Notwendigkeiten“ sozialen Zusammenlebens anzupassen. (Dörner 2002: 557) Vor allem muss die Patientin (wieder) lernen, eigene „Bedürfnisse“ (ebd.) zu entwickeln und sich an der Logik der kontinuierlichen Verbesserung und Weiterentwicklung zu orientieren. Wie im sozialpsychiatrischen Choreografieren an dieser Aktivierung der Patientin gearbeitet wird, wurde insbesondere anhand der Behandlungskonferenzen deutlich. Das kontinuierliche Planen, Umsetzen und Evaluieren in der Behandlungskonferenz soll der Patientin ermöglichen, zunehmend eigenständig und aktiv an den nächsten Schritten zu arbeiten. Ziel ist, dass sich die Patientin auf einen gemeinsamen Prozess einlässt, in dem sie sich – innerhalb eines gesetzten Rahmens – aktiv an der Artikulation der eigenen Bedürfnisse und deren Umsetzung beteiligt. Allerdings bedeutet die damit notwendig werdende Artikulation von (Hilfs-)Bedürftigkeit für manche Patienten gerade den Verlust der Selbständigkeit. Menschen, die sich diesen Praktiken der Synchronisierung und Aktivierung entziehen, die nicht alltagskompetent, verbindlich, aktiv, kompliant sein können oder wollen, werden als noch handlungsunfähig und daher in spezifischem Maße abhängig von Steuerung interpretiert. Damit wird das spezifische Ideal des handlungsfähigen Subjekts im sozialpsychiatrischen Choreografieren kontinuierlich reproduziert und als scheinbar selbstverständliche Matrix des Diagnostizierens und Behandelns reifiziert. Diese Erfindung des Selbst (Rose 1998) im Sinne eines synchronen, aktiven und damit selbstermächtigenden Subjekts ist nicht einfach ein sozialpsychiatrisches Konstrukt: Vorstellungen von Selbstermächtigung und Partizipation, von Aktivität und SelbstSorge sind nicht nur in der Psychiatrie zu finden, sondern in verschiedenen Bereichen der Medizin – Das präventive Selbst (Lengwiler und Madarász 2010) –, der Psychologie – Das beratene Selbst (Maasen et al. 2011) – wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise der Arbeitswelt – Das unternehmerische Selbst (Bröckling 2007).
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P OSTSTATIONÄRE Ö KOLOGIEN
DES
V ER -S ORGENS
Die Frage, die ich im letzten Teil dieses Kapitels diskutiere, ist, welche langfristigen Effekte die beschriebene stationäre Herstellung von Handlungsfähigkeit in den poststationären Alltagen hat. Wird das sorgfältig choreografierte (Selbst-) Management des Patienten außerhalb der Klinik zur selbstverständlichen Routine? Welche Pfadmöglichkeiten ergeben sich für die Betroffenen und wie „transportabel“ sind die im stationären Setting eingeübten Alltagsfähigkeiten? Was also passiert mit dem sozialpsychiatrischen Ideal des handlungsfähigen, selbstwirksamen, aktiven Subjekts, wenn es die „Laborbedingungen“ der Klinik verlässt und wieder in sein „normales Lebensumfeld“ zurückkehrt? Um diesen Fragen nachzugehen, greife ich wiederum auf die Geschichten der drei Menschen zurück, die ich bereits im letzten Kapitel ausführlich dargestellt habe und die zum Teil in diesem Kapitel in verschiedenen ethnografischen Sequenzen wieder in Erscheinung getreten sind: Martin Lehmann, dessen „Synchronisierung im Stationsalltag“ ich im ersten Teil dieses Kapitels aufgegriffen habe. Angelika Siebert, deren Erarbeiten von Eigenständigkeit ich im Rahmen der Behandlungskonferenzen diskutiert habe. Die dritte Person, Olaf Mattes, tauchte in diesem Kapitel bislang nur am Rande auf; ihn habe ich aber ebenfalls im letzten Kapitel, als es um den Umgang mit Psychopharmaka im poststationären Alltag ging, ausführlich vorgestellt. Ihre Geschichten werde ich auf zwei Themen konzentriert verdichten, um generelle Fragen der Reichweite der sozialpsychiatrischen Choreografie in den poststationären Alltag zu bearbeiten. Erstens greife ich auf die bisher beschriebenen Praktiken der Herstellung von Handlungsfähigkeit zurück und arbeite heraus, inwiefern das Ziel, den Alltag durch das Einüben von Strukturen und gleichbleibenden Abläufen wieder selbstverständlich werden zu lassen, dauerhaft gelingt. Ermöglicht die Routinisierung des Alltags den Betroffenen wieder eigenständig und kreativ zu handeln oder resultiert sozialpsychiatrisches Choreografieren in standardisierten Abläufen, die im poststationären Alltag reproduziert werden? Anders ausgedrückt: Navigieren die Betroffenen auf institutionell festgelegten Wegen oder lehrt sie sozialpsychiatrisches Choreografieren, sich eigene Pfade zu erschließen? Neben dieser Diskussion der langfristigen Stabilisierungseffekte sozialpsychiatrischen Choreografierens werde ich zweitens herausarbeiten, wie die psychiatrische carescape in Form von Akteuren und Institutionen der gemeindepsychiatrischen Versorgung nach der Entlassung aus der Klinik in den Lebenswelten der Betroffenen präsent bleibt. Wie viele andere Patientinnen haben Martin Lehmann, Angelika Siebert und Olaf Mattes mit ihrer Entlassung aus der Klinik nicht das psychiatrische Versorgungssystem an sich hinter sich gelassen. Alle drei sind auf
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unterschiedliche Weise weiterhin mit dem Versorgungssystem in Kontakt. Zugleich sind im außerklinischen Lebensumfeld auch andere (ver-) sorgende Akteure und Institutionen involviert, wie beispielsweise die Familie oder Freunde. Die verschiedenen Akteure und Kontexte sind ebenso wie das professionelle Versorgungssystem wichtiger Bestandteil der lokalen ecologies of care (Das und Das 2006, 2007). Den Begriff der ecologies of care nutzen die Anthropologen Veena Das und Ranendra Das, um die konkreten lokalen Verbindungen und Verknüpfungen von familiären Hilfestrukturen, medizinischem Versorgungssystem, finanziellen Ressourcen und politischen Regulierungen zu betonen, die das Erleben von Krankheit und Behandlung prägen. Ihre Beschreibung und Analyse beruht auf einer mehrjährigen Studie zu Familien mit niedrigen Einkommen in urbanen Kontexten in Indien und deren Nutzung verschiedener Behandlungsangebote im Falle einer Erkrankung. Im Rahmen dieser Studie arbeiten sie heraus, wie sowohl globale Interessen des Gesundheitsmarktes, nationale Versorgungspolitiken wie eine mangelnde staatliche Finanzierung und Regulierung, aber insbesondere die lokal zur Verfügung stehenden Versorgungsressourcen, sei es finanzieller Art oder durch familiäre Unterstützung, die Krankheitserfahrungen der Betroffenen ko-konstituieren. Anliegen von Das und Das ist es, die Betroffenen weder einfach als Opfer von Makro-Interessen und Strukturen noch als „heroic fighters“ (Das und Das 2007: 92) darzustellen. Ziel ihrer Forschung ist die detaillierte Beschreibung und Diskussion der Ko-Präsenz unterschiedlichster Faktoren und Akteure im Leben der Menschen und die Komplexität sozialer und materieller Lebenswelten. Ich werde diesen Fokus auf die Registratur des Lokalen (Das und Das 2006; ÜS MK) aufgreifen und zeigen, wie das therapeutische Regime der sozialpsychiatrischen Versorgung in den poststationären Alltagen präsent bleibt, aber gerade auch andere Formen des Sorgens das Leben des Betroffenen mitgestalten, insbesondere durch Familie und Freunde. In meiner Diskussion der lokalen Ökologien des Ver-Sorgens könnte ich anstelle der Rolle unterschiedlicher Sorge-Akteure ebenso andere Faktoren in den Vordergrund stellen. Vor allem die Begrenztheit finanzieller Ressourcen war im Alltag der drei Menschen ein wichtiges Thema. Einfluss auf ihre lokalen Versorgungsökologien haben zudem gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Faktoren, die über die Steuerung von Ressourcen der so genannten Eingliederungs- und Pflegehilfe bestimmen. Auch juristische Aspekte, wie beispielsweise das Betreuungsrecht, wodurch Betroffenen eine rechtliche Betreuung für unterschiedliche Bereiche zugesprochen werden kann, ko-konstituieren deren Lebenswelten. Alle drei haben eine entsprechende gesetzliche Betreuung. Ich habe mich an dieser Stelle für die Diskussion der „formations of belonging“ (Das und Das 2006: 172) entschieden und wie in den lokalen
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Ökologien Sorge-Akteure jenseits des Versorgungsystems eine Rolle spielen, da diese in den Erzählungen der Betroffenen eine wichtige Stellung einnahmen und für deren alltägliche Handlungsfähigkeiten wesentlich waren. Mich interessiert, wie in den poststationären Lebenswelten unterschiedliche Akteure und Institutionen in die kontinuierliche Stabilisierung von psychisch Kranken involviert sind. Handlungsfähigkeit zeigt sich hier nicht als etwas Hergestelltes und dann dem ehemaligen Patienten wieder zur Verfügung Stehendes. Vielmehr werden die poststationären Pfade von vielfältigen Faktoren und Bedingungen geformt. Die lokalen Ökologien des Ver-Sorgens verstehe ich dabei nicht als lebensweltlichen und quasi authentischeren Gegensatz zur stationären carescape; vielmehr geht es mir darum, deren gegenseitige Durchdringung herauszuarbeiten. Welche Ressourcen für und Formen von Handlungsfähigkeiten stehen nach der Entlassung zur Verfügung? Navigieren mit dem Versorgungssystem Damit komme ich zuerst zurück zu Martin Lehmann. Im letzten Kapitel hatte ich bereits einige Details zu seinem Leben und seiner „Versorgungs-Biografie“ beschrieben. Bereits als Jugendlicher war er zum ersten Mal erkrankt und war in den acht Jahren seither kontinuierlich in irgendeiner Form mit dem psychiatrischen Versorgungssystem in Kontakt.25 Es gab Phasen, in denen sein Alltag stärker von psychiatrischen Versorgungsangeboten geprägt war, wie beispielsweise in der Eingangssequenz dieses Kapitels ersichtlich wird. Übergangsweise nutzte er die stationären Angebote wie die Musiktherapie auch nach seiner Entlassung weiter oder besuchte über einen längeren Zeitraum eine der Tageskliniken der Mittendamm-Klinik. Im Vergleich zur Station, erklärt er mir einmal, wäre die Tagesklinik sehr viel anstrengender, sehr viel „vollgepackter mit Terminen“ und
25 In den vier Jahren, in denen wir Kontakt hatten, war er von den 48 Monaten zusammengerechnet 14 Monate Patient in der Klinik bzw. Tagesklinik. Als junger Erwachsener lebte er eine Zeitlang in einer Wohngruppe für junge psychisch Kranke; später zog er in eine eigene Wohnung, in der er von einem Wohnbetreuer regelmäßig betreut wurde. Martin Lehmann war konstant in irgendeiner Form in Angebote der komplementären psychiatrischen Versorgung integriert. Ähnlich wie Herr Magath hatte er in der Regel eine 5-Tage-Woche. Dazu zählten auch „nicht-professionelle“ Termine wie beispielsweise sein wöchentlicher Gitarrenunterricht. Meistens trafen wir uns deshalb Freitagmittag, dann hatte er im Anschluss keine weiteren Termine mehr. Zu unseren verabredeten Treffpunkten kam er meist fast eine halbe Stunde zu früh, aus Angst, nicht pünktlich zu sein, wie er mir erklärte.
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„für psychisch Kranke ein richtig hartes Programm“. Das durchzuhalten, betont Martin Lehmann, sei nicht selbstverständlich, sondern „harte Arbeit“. Als ich ihn nach seiner grundsätzlichen Einschätzung der Tagesstrukturierung als Teil der Therapie frage, erklärt er überzeugt: „Tagesstruktur ist grundsätzlich gut und wichtig, gerade wenn man viel grübelt, sich dann Gedanken oder irgendwie Sorgen macht.“ Nichts sei schlimmer, als ohne Beschäftigung zu sein. Auch im Entlassungsgespräch mit seinem behandelnden Arzt hatte er diese Sorge geäußert: dass er nach seiner Entlassung nichts zu tun habe und „vergammeln“ würde. Viel Raum nahmen seine Bestrebungen ein, in irgendeiner Form eine Ausbildung zu machen. Bei einem unserer Treffen sprechen wir ausführlich über seine damalige Arbeit in einer Zuverdienstwerkstätte26. Der Zuverdienst, erklärt er mir, sei in seinem Fall als Vorstufe zu einem Praktikum in einem Ausbildungsprogramm gedacht. „Das ist halt die Idee, dass man wieder mehr leistet und sich mehr zutraut, mehr aus sich rausholt und mehr abkann und dann eine Ausbildung machen kann.“ Ob er schon wisse, wie lange er im Zuverdienst arbeiten werde, frage ich nach. Es hätte so eine „angedachte Prognose zur Stundenzahl“ gegeben, meint er, aber „da bin ich jetzt nicht so ans Ziel gekommen, wie ich mir das vorgestellt hätte. Das kann sein, dass das doch länger dauert und ich da länger bleiben muss. Damit muss ich jetzt erst einmal klarkommen, ich hab mir da vielleicht auch ein bisschen viel vorgenommen. Es ist halt gesundheitlich nicht selbstverständlich, dass man danach [nach einem Rückfall] wieder so viel arbeitet, acht Stunden oder so.“ Er fügt hinzu: „Planen kann man viel, aber das heißt nicht, dass es auch so läuft.“ Das Gute an der Arbeit sei, dass „man dann halt Beschäftigung hat und das Gefühl hat, das ist jetzt eine Leistung, die bringt vielleicht jemandem was. Wobei die Arbeit bei sozialen Projekten, da guckt man erst mal, dass man überhaupt so ’ne Arbeit hat, den Rhythmus wieder hinkriegt und wenn’s klappt, dann ist das schon einmal gut.“ Es sei alles nicht mehr selbstverständlich, fasst er zusammen. Früher, meint er, hätte er nicht so viel nachgedacht und geplant: „Ich bin dann einfach so drauflos. So wie das normalerweise jüngere Leute tun, losziehen und einfach was machen.“ „Planen kann man viel, aber das heißt nicht, dass es auch so läuft.“ Mit diesem Satz lassen sich Martin Lehmanns anhaltende Versuche, eine Ausbildung zu machen – und insgesamt sein Leben selbständiger zu gestalten –, zusammenfassen. Immer wieder plant er mit den entsprechenden Professionellen (Sozialarbei-
26 Der Zuverdienst ist Teil der gemeindepsychiatrischen Versorgung im Bereich Rehabilitation und Arbeit und gilt als niedrigschwelliges Angebot zur Tagesstrukturierung.
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ter, Ausbildungsleiterin, Betreuer, Psychiaterin) die nächsten Schritte. Erst wenige Stunden, in denen er sich gerade nach einem Rückfall und einem Klinikaufenthalt wieder an einen Arbeitsalltag gewöhnen kann, dann eine allmähliche Steigerung der Arbeitsstunden bis hin zu einem Praktikum mit „normalen Arbeitszeiten“ in einem Ausbildungsbetrieb. Eine Zeitlang hatte er einen regulären Arbeitstag in einer potentiellen Ausbildungsstätte durchgehalten und musste dann aufgrund eines Rückfalls wieder in die Klinik. Wie ich bereits im letzten Kapitel geschildert habe, hatte er zu diesem Zeitpunkt so viel gearbeitet und wollte so unbedingt das Praktikum bestehen, dass er selbst nicht mehr gemerkt hatte, wann es ihm zu viel wurde, bis er schließlich wieder in die Klinik musste. Dabei ist für ihn das Einhalten und Durchhalten von Tages- und Wochenstrukturen „harte Arbeit“, aber auch grundlegende Voraussetzung, um nicht ins Grübeln zu verfallen oder „zu vergammeln“. Das Beispiel von Martin Lehmann hebt hervor, dass die Arbeit an Routinen und Strukturen im poststationären Alltag, auch jenseits der akuten Krise, weiterhin bewusst und damit gerade nicht selbstverständlich abläuft. Hier wird noch einmal die Bedeutung von Routinen als eine Art Autopilot deutlich, der einen Menschen davon entlastet, konstant vielfältige Mikro-Entscheidungen treffen zu müssen. (Ehn und Löfgren 2009, 2010) Wie ich oben bereits erläutert habe, bietet die stationäre wie poststationäre sozialpsychiatrische Choreografie mit ihren Strukturierungsangeboten gewissermaßen eine „Ersatz-Landkarte“ an für Menschen, denen dieser Autopilot aufgrund einer akuten psychischen Krise nicht mehr zur Verfügung steht. Aber wird aus diesen vorgegebenen Routinen und Strukturen tatsächlich ein „normaler Rhythmus“ und wird der Alltag dadurch wieder zum Selbstverständlichen? Bei Martin Lehmann führten die professionelle Strukturierung seines Alltags und sein engagiertes Selbst-Management nicht automatisch zu einem Selbstverständlich-Werden von Alltagsroutinen. Vielmehr bleibt, wie am Beispiel seiner Versuche, einer geregelten Arbeitszeit nachzukommen, deutlich wurde, der Alltag eine ständige Herausforderung: Wie viel kann oder soll er sich zutrauen? Wann wird es zu viel? Wie viel Unterstützung braucht er? Das anhaltende Evaluieren des bisher Erreichten und Planen der nächsten Schritte führt gerade nicht dazu, dass der Alltag wieder in den Hintergrund treten kann, sondern vielmehr zu einer konstanten Sichtbarkeit des Problematischen. Dass beispielsweise die „angedachte Prognose zur Stundenzahl“ im Zuverdienst nicht ausreichte und er noch nicht so weit sei für eine Ausbildung, damit müsse er erst einmal klarkommen. Und er könne nicht mehr „so einfach drauflos“ wie früher. Mit jedem Schritt der Planung werden nicht nur die neuen Ziele festgelegt, sondern ebenso die Defizite festgeschrieben. Wie ich bereits im letzten Kapitel thematisiert habe, hat Herr
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Lehmann das psychiatrische Versorgungssystem als Teil seines Alltags akzeptiert und nimmt die Strukturen, die ihm das System bietet, und die Aufforderungen zum kontinuierlichen Selbst-Management ernst. Wenn sich wieder eine Krise anbahnt, greift Martin Lehmann auf das professionelle Helfersystem zurück. Wie er betont, sei er nie zwangseingewiesen worden, sondern habe sich immer selbst in stationäre Behandlung begeben. In seinen Beschreibungen zeigt sich Handlungsfähigkeit ähnlich wie in den stationären Beispielen als prozesshaft und relational: Er changiert zwischen einem Mehr an Unterstützung in Zeiten der Krise und eigenständigem Bemühen um Struktur und Stabilität in Phasen, in denen es ihm besser geht. Dabei wird nicht der Alltag wieder selbstverständlich, aber die Nutzung des professionellen Hilfesystems in der Gestaltung des Alltags wird zum selbstverständlichen Partizipanden in Martin Lehmanns Leben. In seiner Gestaltung des Alltags greift er nicht nur auf das professionelle Helfersystem zurück, sondern ebenso auf seine Familie. Täglich sieht er seine Tante und seinen Onkel, die direkt neben ihm wohnen und ihn in vielen alltäglichen Dingen, wie Wohnungsputz oder Einkauf, unterstützen; zudem ist sein Onkel sein Betreuer für Finanzen und Behörden. Zu seiner Mutter zieht er immer wieder vorübergehend, wenn es ihm schlecht geht und er das Alleinsein in der eigenen Wohnung gar nicht mehr aushält. Wie Martin Lehmann mir erzählt, wäre seine Mutter stark belastet durch seine Erkrankung. Für sie wäre es wichtig, dass er regelmäßig seine Medikamente einnehme und sich um eine Ausbildung bemühe. Onkel, Tante und Mutter waren regelmäßig zu Visiten in der Klinik und im Kontakt mit den Ärzten und bemühten sich insgesamt um eine enge Kooperation mit dem psychiatrischen Versorgungssystem. In der Klinik wird von Anfang an versucht, Personen aus dem sozialen Umfeld mit in die weitere Planung einzubinden. Teilweise gab es auch hier, von Seiten der Angehörigen, sehr unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen, die nicht mit den Behandlungszielen der Behandler übereinstimmten. Manchmal waren dies „unrealistische Vorstellungen“, wie beispielsweise die Erwartungen der Kinder einer dementen Patientin, die mit den Behandlungsergebnissen und der Vorstellung, die Mutter in ein Pflegeheim geben zu müssen, nicht einverstanden waren. Ebenso gab es Bezugspersonen, die sich aus Sicht der Professionellen „zu fürsorglich“ zeigten und damit einer Aktivierung der „Selbsthilfe-Potentiale“ eines Patienten eher entgegenwirkten. Das Engagement von Martin Lehmanns Mutter beispielsweise wurde in der Klinik ambivalent bewertet. Einerseits war man sich ihrer zentralen Rolle in seinem Leben bewusst und bemühte sich um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihr (wie auch mit Tante und Onkel). Andererseits – und das deutet sich in der Eingangssequenz des Kapitels an –
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schätzte man eine Abnabelung von der Mutter als therapeutisch sehr wichtig ein. Man hatte den Eindruck, durch ihr Engagement und ihre Erwartungen, insbesondere was eine Ausbildung anbelangt, entstünde ein Druck, mit dem Martin Lehmann nicht umgehen könne. In der Auseinandersetzung mit den Angehörigen wurde immer wieder deutlich, wie schwierig es war, aus der Klinik in das Lebensumfeld der Patienten so einzuwirken, dass aus Sicht der Behandler die optimalen Voraussetzungen für einen stabilen Übergang und eine Rückkehr in das eigene Lebensumfeld des Patienten gegeben waren. Wie die Oberärztin mir einmal erklärte, könne man den Menschen nur helfen, wenn von Seiten der Familie Vertrauen gegenüber der Klinik herrscht. Das bedeutet auch, eine gemeinsame Lösung herauszuarbeiten, die nicht nur den Bedarf des Patienten berücksichtige, sondern auch den des sozialen Umfelds. Wie ich herausgearbeitet habe, wurde Martin Lehmanns Handlungsfähigkeit im Rahmen eines professionellen Helfersystems, aber auch durch das familiäre Helfersystem kontinuierlich stabilisiert. Dabei nimmt er selbst dieses System selbstverständlich in Anspruch, navigiert sozusagen innerhalb des Systems und damit auf den institutionell festgelegten Pfaden. Dies ist dabei kein passives Hinnehmen, sondern – zumindest über weite Phasen – ein durchaus reflektiertes und aktives Nutzen der Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen. Die sozialpsychiatrische Form des (Ver-)Sorgens ist im poststationären Alltag von Martin Lehmann selbstverständlicher Teil der lokalen Sorge-Ökologie und ist in den verschiedensten Bereichen seines Lebens, gerade auch in seinem familiären Umfeld, zentraler Bestandteil. 27 Wie man das Hilfesystem handhabt Olaf Mattes war ebenfalls als junger Mann erkrankt, und seitdem – bei ihm sind das über fünfundzwanzig Jahre – ist das psychiatrische Versorgungssystem in unterschiedlicher Weise in seinem Leben präsent. Wie er selbst meint, kenne er alles: Übergangswohnheim, TWG (Therapeutische Wohngemeinschaft), BEW (Betreutes Einzelwohnen), psychiatrische Tagesstätte, SpD (Sozialpsychiatrischer Dienst), die Klinik, die PIA (Psychiatrische Institutsambulanz), die Tagesklinik, das Sozialamt, Jobcenter und Zuverdienst, Sozialdienst und niedergelassenen Psychiater. Eine Ärztin hätte einmal zu ihm gesagt, er werde „von Institutionen aufgefangen“. Als wir uns nach seiner Entlassung das erste Mal
27 Allerdings hatte Martin Lehmann nach einem weiteren Klinikaufenthalt beschlossen, zukünftig jegliche stationäre Behandlung zu vermeiden. Bei unserem letzten Treffen war er nach eigenen Aussagen über ein Jahr „klinikfrei“.
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wieder treffen, erzählt er, dass man ihm in der Klinik eigentlich vorgeschlagen hatte, sich ambulant über die Psychiatrische Institutsambulanz weiterbetreuen zu lassen. Aber das habe er abgelehnt, da habe er sich diesmal „ganz gut rausziehen können“. Hätten sie aber versucht ihm „anzudrehen“, wie er es ausdrückt. Auch die Tagesklinik, das wäre nichts für ihn gewesen. Sein behandelnder Klinikarzt wollte ihm obendrein einen Sozialdienst vorbeischicken, der jeden Tag die Medikamenteneinnahme kontrolliere, aber das wollte er nicht, das mache er schon selber. Das hätte sein Arzt überhaupt nicht verstanden, dass er den Sozialdienst nicht wolle, wenigstens für die ersten zwei Monate hätte der Arzt das sinnvoll gefunden. Er solle Fürsorglichkeit nicht mit Kontrolle verwechseln, hätte der Arzt noch gemeint. Aber ihm reiche das BEW einmal die Woche. Und zweimal die Woche ginge er in die psychiatrische Tagesstätte, zum Ausflug und für drei Stunden zum Arbeiten in der Fahrradwerkstatt. „Tagesstruktur einüben!“, sagt er mit einem Grinsen. Ich frage nach, wie das mit der Tagesstruktur denn eigentlich klappe, wenn man entlassen werde. Na, er sei da „nicht so ein Freund von“, er hätte so seinen „eigenen Rhythmus“ und würde sich ganz gut alleine beschäftigen, er „wurschtel halt so rum“, sei viel unterwegs. „Tagestruktur, hä?“, er tut so, als würde jemand mit ihm sprechen und er verstünde nicht, „Planung, hä?“ Am Anfang wären drei Tage pro Woche in der Tagesstätte geplant gewesen, aber dann habe es eine Helferkonferenz28 gegeben und da habe er sich durchsetzen können, jetzt ginge er nur noch zweimal die Woche. Ab und zu gehe er noch zu einem anderen Träger29, also nicht in die Tagesstätte, sondern nur zum Mittagessen, da wäre er heute auch gewesen. Es gab Königsberger Klopse, berichtet er, sehr lecker! Für einen Euro könne er dort ab und zu mitessen. Wenn er rechtzeitig Bescheid gebe, dann würden ihn die dort fürs Essen miteinplanen. Sehr praktisch, wenn das Geld mal wieder knapp ist, fügt er hinzu. Sonst würde er oft gemeinsam mit Michael Richter zusammen etwas kochen. Die beiden hatten sich bei ihrem letzten Klinikaufenthalt ein Zimmer geteilt und sind seither befreundet. Auf Nachfrage meint Olaf Mattes, Michael ginge es momentan nicht
28 Als Helferkonferenz wird in der psychiatrischen Versorgung (wie auch beispielsweise im schulischen Bereich) ein gemeinsames Treffen unterschiedlicher Helfer – seien es professionelle oder private – bezeichnet. Vom Ablauf und der Zusammenstellung der Helfer waren Helferkonferenzen in der Klinik äußerst heterogen und stellten kein spezifisches differenziertes Konzept wie bspw. die Behandlungskonferenz dar. 29 Im Falle von Herrn Mattes sind zwei verschiedenen Träger gemeindepsychiatrischer Angebote involviert: einmal der Träger, der das Betreute Einzelwohnen (BEW) stellt; dieser Träger bietet ebenfalls eine Tagesstätte an. Olaf Mattes besucht jedoch die Tagesstätte eines anderen Trägers, der unter anderem die Fahrradwerkstatt anbietet.
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so gut. Er hätte ja seinen Hund abgeben müssen, weil er das finanziell nicht mehr geschafft hätte. Gerade wäre er sehr deprimiert, deswegen versuche er ihn etwas aufzumuntern. Sie wollten die nächsten Tage gemeinsam grillen, mal sehen, bei Lidl gäbe es gerade günstig Grillgut. Miguel Peri, ob ich mich an den Patienten noch erinnere? Der wollte auch mitkommen. Wie schon in seiner Einschätzung und Einnahme von Psychopharmaka im letzten Kapitel zeigt sich Olaf Mattes auch in seiner Nutzung des psychiatrischen Versorgungssystems als erfahren und eigenwillig. Von Seiten der Professionellen wurden ihm verschiedene Vorschläge der poststationären Versorgung gemacht und insbesondere für die Zeit direkt nach der Klinikentlassung nahegelegt. Aber Olaf Mattes lehnt ab: Die Medikamenteneinnahme könne er selbst gewährleisten und der wöchentliche Kontakt zu seinem Wohnbetreuer würde ihm reichen. Andere Angebote nutzt er auf seine Weise: ein günstiges Mittagessen, Kontakt zu Bekannten, wenn er am Ausflug der Tagesstätte teilnimmt. Und in der Fahrradwerkstatt der Zuverdienstwerkstätte könne er Fahrräder reparieren, wie er mir erzählt. Bei einem unserer Treffen außerhalb der Klinik schleppt Olaf Mattes tatsächlich einmal ein kaputtes Fahrrad an. Als ich nachfrage, was mit seinem Fahrrad passiert sei, winkt er ab. Das sei nicht sein Fahrrad, das hätte er gefunden. Es wäre ein paar Tage unabgeschlossen in seiner Straße gelegen. Er hätte es ein paar Tage beobachtet, und nachdem es keiner genommen hätte, würde er es nun in die Werkstätte bringen. Dort in der Fahrradwerkstatt, da könne er es reparieren und sich dann ein paar Euro damit verdienen. Deswegen müsse er spätestens um halb fünf Uhr los, sonst mache die Werkstatt zu und er könne das Fahrrad wieder nach Hause tragen. Sein Betreuer, fügt er hinzu, der würde „die Krise kriegen“, wenn er das mitbekäme. Er würde sich gleich Sorgen machen, dass er wieder mit dem Sammeln anfange. Aber zwei Fahrräder hätte er immerhin schon verkauft. Olaf Mattes’ Nutzung des komplementären psychiatrischen Versorgungssystems zeigt ein etwas anderes Beispiel als Martin Lehmanns Umgang mit den Unterstützungsangeboten. Navigiert Martin Lehmann innerhalb des Systems und vertraut auf die Vorschläge der Professionellen wie auch seiner Familie, so bestimmt Olaf Mattes in seinem poststationären Alltag aktiv und teilweise gegen den Vorschlag und die Sichtweise der Professionellen, wie er mit seiner Erkrankung und den zur Verfügung stehenden Ressourcen umgehen möchte. Seine Geschichte ist damit auch ein Beispiel, wie man sich der Partizipation der sozialpsychiatrischen Versorgung im poststationären Alltag (zumindest teilweise) entziehen kann. Ein weiterer Aspekt wird an Olaf Mattes’ Geschichte offensichtlich. Im dritten Kapitel dieser Arbeit habe ich eine Situation beschrieben, in der Olaf Mattes völlig überfordert an einer Sitzung der Psychosegruppe teilnimmt.
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Er selbst war kaum in der Lage auszudrücken, was in ihm vorging, dafür bemühten sich verschiedene andere Teilnehmerinnen der Gruppe zu artikulieren, was in Olaf Mattes aus ihrer Sicht wohl vorginge. Außerhalb der Klinik hingegen, als es ihm selbst besser geht, übernimmt Olaf Mattes gewissermaßen die Rolle des „sorgenden Akteurs“ für Michael Richter. Sein Freundeskreis sei nicht sehr groß, erzählte er mir einmal, vor allem seit er in einer psychotischen Phase „ein paar Leute zu sehr geärgert hat“. Aber die Kontakte, die er noch hat, die würde er pflegen. Die Art und Weise, wie Olaf Mattes außerhalb der Klinik und jenseits einer akuten Erkrankung sein Leben gestaltet, ist kaum vergleichbar mit seiner Verfassung und seiner grundlegenden Passivität und Überforderung in der Klinik. Das Wissen über Olaf Mattes und die Erfahrungen der Professionellen in der Klinik mit ihm beschränken sich jedoch auf den Zustand von Olaf Mattes in der Krise. Und das bedeutet in seinem Fall in der Regel, dass er eigenwillig an seiner Medikation „herumgedoktert“ und damit (wieder einmal) einen Rückfall provoziert hat. Seine eigenwillige Handlungsfähigkeit zeigt sich in dieser Perspektive vor allem als problematisch. In seinem Navigieren im poststationären Alltag präsentiert sich Olaf Mattes hingegen als aktiver, aber auch eigenwilliger Kooperationspartner für die professionellen Helfer. Hatte ich für die stationäre Behandlung herausgearbeitet, wie die Professionellen zwischen einem doing with und einem doing for changieren (Floersch 2002), je nachdem wie handlungsfähig sie eine Patientin einschätzen, so übernimmt Olaf Mattes in der poststationären Versorgung quasi diesen Part. Bereits in seiner Entscheidung, wie lange und in welcher Dosis er bereit ist, ein Medikament einzunehmen, hatte er sich diese Entscheidungsfreiheit selbst eingeräumt. Wenn die Professionellen nicht bereit sind, in gesunderen Phasen die Verantwortung wieder zurückzugeben (siehe Terzioglu 2005), dann trifft er die Entscheidung. Anders als für die Professionellen steht für Olaf Mattes weniger der kontinuierliche therapeutische Fortschritt im Vordergrund, als nach einem Rückfall soweit möglich einen Status quo wiederherzustellen: kein kontinuierliches Arbeiten an einer Verbesserung, sondern ein Hantieren mit den im Moment zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Dies verweist auf zwei unterschiedliche Interpretationen dessen, was als Stabilität verstanden wird: Während auf Seiten der Behandler Stabilität eine kontinuierliche therapeutisch gesteuerte Selbstsorge meint, bedeutet für Olaf Mattes stabil zu sein ein „Durchwurschteln“ im Moment in größtmöglicher Distanz zum Versorgungssystem. Sein Modus des alltäglichen Navigierens zeigt Ähnlichkeiten mit dem Modus des struggling along, wie Desjarlais dies in seiner Arbeit über Obdachlose in Boston bezeichnet. (Desjarlais 1997: 17ff.) Wie ich im Kapitel drei in meiner Diskussion zum Erfahrungsbegriff erläutert habe, differenziert Desjarlais unterschiedliche
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Modi des „In-der-Welt-Seins“. Sich durchkämpfen oder durchhangeln (struggling along) betone eine gewisse Zweckmäßigkeit, Zufälligkeit und einen Zustand des Beharrens und der Stasis, während der Modus der Erfahrung einen grundlegend kohärenten, reflexiven und erkenntnisproduzierenden Prozess impliziere. Der kontinuierlichen Aufforderung, sich selbst zu reflektieren und an sich selbst zu arbeiten, setzt Olaf Mattes vielmehr seinen eigenen Rhythmus entgegen, der von einem eher taktischen Nutzen der Versorgungsangebote und Leben im Moment geprägt ist. Einen Rückfall nimmt er dabei als kalkuliertes Risiko in Kauf. Die Frage, inwiefern sozialpsychiatrisches Choreografieren zu einem selbstbestimmten Navigieren führt und aus patients wirklich agents werden (Desjarlais 1996, 1997; Willems 2002), oder ob das sozialpsychiatrische Programm primär eine kontinuierliche Stabilisierung des Patienten als Klienten innerhalb der festgelegten Routen des Versorgungssystems erzielt, lässt sich mit Blick auf die Erzählungen von Martin Lehmann und Olaf Mattes nicht mit einem eindeutigen „Entweder-oder“ beantworten. Die beiden Beispiele zeigen unterschiedliche Formen und Ausmaße der Partizipation der psychiatrischen Versorgung an ihren Lebenswelten. Martin Lehmann akzeptiert das Versorgungssystem als konstanten Bestandteil seines Lebens und nutzt die Behandlungs- und Versorgungsangebote eher als permanentes Alltags-Korsett. Olaf Mattes hingegen versperrt sich zwar nicht grundsätzlich einer Unterstützung durch das psychiatrische Versorgungssystem, aber er versucht sich eher „rauszuziehen“, sich nicht alles „andrehen“ zu lassen, wie er es ausdrückt, und die Angebote auf seine Weise zu nutzen. Für ihn bedeutet die Präsenz professioneller Hilfsangebote in seinem Leben eine Form der Kontrolle (und nicht der Fürsorge, wie es ein Arzt ihm nahebringen will). Das Beispiel von Olaf Mattes zeigt einerseits, dass Patienten durchaus einen gewissen Spielraum haben, das Ausmaß des gemeindepsychiatrischen Engagements in ihrem Alltag mitzugestalten. Andererseits wird gerade an seinem Beispiel deutlich, wie „hartnäckig motivierend“ das professionelle Hilfssystem auf Betroffene in ihrem poststationären Alltag einwirkt. So unterschiedlich die verschiedenen Lebenswelten und die Partizipation der Versorgungsinstitutionen daran sind, so zeigen doch beide Erzählungen – sowohl Martin Lehmanns selbstverständliches Navigieren innerhalb der Versorgungsangebote als auch Olaf Mattes’ hartnäckige Abgrenzung –, dass sie für viele Betroffene selbstverständlicher Teil der lokalen Ökologien des VerSorgens sind.
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In verschiedenen Sorge-Systemen Damit komme ich zur dritten Person, Angelika Siebert. Weiter oben hatte ich ausführlich beschrieben, wie sie im Rahmen der Behandlungskonferenzen von den Behandlerinnen der Station in der Artikulation von eigenen Zielen und deren schrittweiser Umsetzung unterstützt wurde. Ziel der Behandlungskonferenzen war es, Angelika Siebert in Richtung Eigenständigkeit zu begleiten und sie zu einer handlungsfähigen Akteurin im Umgang mit ihrer Erkrankung und ihrem Alltag zu machen. Sie lernte dadurch, wie sie es selbst ausdrückte, wieder Ansprüche an sich und ihr Leben zu haben. Aber wie gelang die „Übersetzung“ dieser Handlungsfähigkeit in Angelika Sieberts poststationären Alltag? Nach ihrer Entlassung kehrt sie zurück in das Pflegewohnheim, in dem sie vorher gelebt hatte. Besonders hilfreich findet sie dort das Engagement einer neuen Ergotherapeutin, die sie kontinuierlich herausfordert, aber ebenso viel Verständnis für ihre Situation zeigt. Mit dieser Therapeutin kann sie vor allem ihr Treppenhaustraining fortsetzen, wie sie es in der Klinik begonnen hatte. Ziel ist, dass Angelika Siebert die verschiedenen Gemeinschaftsräume des Heims wieder nutzen kann, das sich über sechs Stockwerke erstreckt. Die Ergotherapeutin bietet zudem jeden Tag einen Gruppenspaziergang in den gegenüberliegenden Park an, an dem Angelika Siebert regelmäßig teilnimmt. Das Engagement der neuen Therapeutin empfindet Angelika Siebert als großen Glücksfall. Vorher hätte sich im Heim von den Mitarbeitenden niemand für sie interessiert oder ihr Verständnis entgegengebracht. Vor ihrer Krankenhausbehandlung hatte sie ihr Zimmer in dem Pflegewohnheim kaum noch verlassen, sie konnte aufgrund ihre Angstzustände und Panikattacken weder alleine vor die Tür noch in ein anderes Stockwerk. Als es in der Klinik schließlich um die Planung der Entlassung ging, hatte Angelika Siebert zu Beginn große Bedenken, wieder in das Pflegewohnheim zurückzukehren. Sie hatte Angst davor, wieder in einen ähnlichen Zustand wie vor dem Klinikaufenthalt zurückzufallen. Gleichzeitig schien es keine Alternative zur Rückkehr in das Pflegewohnheim zu geben. Das Pflegewohnheim, in dem Angelika Siebert lebt, ist eine vollstationäre Pflegeeinrichtung, die auf die „Dauerpflege für chronisch psychisch kranke Menschen“ ausgerichtet ist, wie es in der Selbstbeschreibung der Einrichtung erläutert wird.30 Betreut werden vor allem „Menschen mit erheblichen Persönlichkeitsveränderungen, die nicht mehr mit Anspruch auf Rehabilitation thera-
30 Dieser Wortlaut wie auch die folgenden sind der Selbstbeschreibung der Einrichtung entnommen; aus Gründen der Pseudonymisierung gebe ich an dieser Stelle keine Quelle an.
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piert werden können“. Dass Angelika in dieser Einrichtung lebt, ist auf den ersten Blick ungewöhnlich. Für sie würden eigentlich Versorgungsangebote aus dem Bereich der Rehabilitation und Teilhabe in Frage kommen, die im Sozialgesetzbuch IX geregelt sind und sozusagen den Weg, der in der Klinik mit der „Anleitung zu Eigenständigkeit“ eingeschlagen wurde, fortsetzen würden. Nach SGB IX steht das Ziel der Wieder-Eingliederung in die Gesellschaft und rehabilitative Maßnahmen im Vordergrund. Rehabilitation, so schreibt es das Sozialrecht vor (SGB IX, § 31), hat Vorrang vor Leistungen aus dem Bereich Pflege.31 Angelika Siebert hatte in dem Pflegewohnheim deswegen ein Zimmer bekommen, weil es zum damaligen Zeitpunkt die einzige Einrichtung war, die ein Zimmer im Erdgeschoss mit Vollversorgung zur Verfügung hatte (sie zog damals sogar aus ihrem eigentlichen Bezirk um). Da Angelika unter anderem weder in der Lage war, Treppen zu steigen (also beispielsweise nicht in eine TWG einziehen konnte, die im zweiten Stock liegt), noch ohne Begleitung einkaufen konnte (was ebenfalls gegen eine TWG oder ein BEW sprach, die bestimmte Alltagskompetenzen voraussetzen), fand man schließlich das Zimmer in dem Pflegewohnheim für schwer chronisch Kranke, das in seinen Strukturen und Angeboten auf schwer beeinträchtigte Menschen ausgerichtet ist. Die Unterbringung in einem Pflegewohnheim, so stellen auch Zaumseil und Kolleginnen in einer Studie über die Versorgung psychisch Kranker in Heimen in Berlin fest, hat von ihrem Auftrag her „die Aufgabe, Kompetenzdefizite zu kompensieren und nicht zu rehabilitieren, oder gar zu therapieren.“ (Zaumseil et al. 2007: 394) Für Angelika Siebert bedeutet das Leben im Heim, dass sie – neben dem Treppenhaustraining mit der Ergotherapeutin – zwar die Pflege- und Beschäftigungsangebote im Heim nutzen kann, diese aber nicht an ihren speziellen Anforderungen und Bedürfnissen orientiert sind. Für die meisten Ziele, die in der Klinik zentraler Bestandteil ihres täglichen Trainingsprogramms waren (beispielsweise den Bewegungsradius außerhalb der Einrichtung erweitern), wäre sie auf andere Formen der Unterstützung angewiesen, als sie ihr im Heim zur Verfügung stehen. Problematisch ist aus ihrer Sicht, dass die meisten Mitarbeitenden im Heim nicht differenzieren, wie eigenständig und psychisch wie physisch fit jemand ist. Sie beklagt sich mitunter, dass sie von einigen Mitarbeitenden herablassend behandelt würde, ihr nichts zugetraut werde und sie in ihrer Selbst-
31 Siehe hierzu SGB IX, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, insbesondere §§ 1-4. Einen hilfreichen und differenzierten Überblick zur rechtlichen Regulierung von Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen im deutschen Sozialrecht sowie Ausführungen zur Situation in Berlin geben Zaumseil et al. 2007, insbesondere S. 36-47.
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bestimmung massiv beschnitten werde. Es sind Kleinigkeiten: Dass sie nichts daran ändern kann, dass die Putzfrau morgens um sieben in ihr Zimmer kommt und lautstark zu putzen beginnt. Angelika würde ihr Zimmer gerne selbst sauber machen, aber das verstoße gegen die Regeln. Abschließen kann sie ihr Zimmer zu keiner Zeit. Wann sie sich in der Gemeinschaftsküche etwas zum Essen macht, ist ebenfalls zeitlich reglementiert. Bei einem unserer Treffen erzählte sie mir, dass sie im Wohnheim eine Unterschriftenaktion gestartet hatte, um gegen die Entlassung einer anderen Beschäftigungstherapeutin zu protestieren. Als sie die Liste der Heimleiterin übergeben wollte, schickte diese sie aus ihrem Büro mit den Worten: „Diese Dinge bespreche ich nicht mit den Heimbewohnern.“ Auch andere Versuche, Abläufe oder Bestimmungen zu ändern und ihren Alltag selbständiger zu regeln, verliefen meist im Sand. Wie Angelika selbst meinte, gäbe es „zu wenig fitte Leute“ in dem Heim, mit vielen Anliegen stünde sie eben alleine da. Im Gegensatz zur Behandlungskonferenz und dem dort gelegten Fokus auf die Ressourcen und die Bestärkung der Eigenständigkeit positionieren die spezifischen Routinen und pflegerischen Angebote im Heim Angelika als unterstützungsbedürftige und dauerhaft auf Hilfe angewiesene Klientin. Nicht ihre Ressourcen und ihre Eigenständigkeit stehen im Fokus der alltäglichen Versorgung und Pflege, sondern ihre Defizite und ihre Bedürftigkeit. So werden keine weiteren Ziele und entsprechenden nächsten Schritte vereinbart, keine Einschätzungen und Rückmeldungen bezüglich der erreichten Ergebnisse gegeben. Eine ähnliche Differenzierung unterschiedlicher Praktiken des Versorgens hat die niederländische Gesundheitswissenschaftlerin Jeanette Pols in ihrer Arbeit über die Praxis des Waschens in verschiedenen psychiatrischen Langzeiteinrichtungen herausgearbeitet. (Pols 2006) Pols beschreibt, wie in einer Einrichtung das Waschen als Form der Pflege eines bedürftigen Menschen mit dem Ziel der Sauberkeit verstanden wurde, während in einer anderen Einrichtung die Mitarbeitenden das tägliche Waschen therapeutisch-rehabilitativ einsetzten: zur Aktivierung des Patienten zur Selbstsorge. Diese Unterscheidung zwischen der Logik der Pflege und der Logik der Rehabilitation, wie ich sie nur knapp an Angelikas Sieberts Beispiel darstellen konnte, produziert grundlegend unterschiedliche Erwartungen an und Bedingungen für Handlungsfähigkeit. Im Heim geht es um die konstante, gleichbleibende Versorgung von schwer beeinträchtigten Menschen, die „fachlich optimal versorgt und liebevoll betreut werden“, aber „nicht mehr mit Anspruch auf Rehabilitation therapiert werden
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können“.32 Angelika Sieberts Wunsch hingegen ist es, in Zukunft in einer Wohngemeinschaft oder in einer eigenen Wohnung zu leben. Dafür müsse sie aber noch sehr viel selbständiger werden. „Zwei Jahre brauch ich noch“, ist ihre Einschätzung, dann könne sie hoffentlich aus dem Heim ausziehen. Bis dahin müsse sie weiter an sich arbeiten. Als ich sie frage, wer sie dabei unterstützen würde, diesen Schritt zu gehen, ob es im Heim eine Mitarbeiterin gäbe oder ob beispielsweise ihre gesetzliche Betreuerin dafür zuständig sei, mit ihr nach anderen Wohnformen zu suchen, verneint sie beides. Sie hofft auf die Unterstützung ihrer Freunde. Wie am Beispiel der poststationären Versorgung von Angelika Siebert noch einmal deutlich wird, ko-konstituiert die spezifische carescape der jeweiligen Versorgungsinstitution die Formen der Handlungsfähigkeit, die dem Klienten möglich sind. In der carescape des Pflegewohnheims, in dem Angelika Siebert nach ihrer Entlassung lebt, gelten ein anderes therapeutisches Programm und andere Bedingungen und Möglichkeiten für die Betroffenen zu agieren. Mir geht es mit dieser Kontrastierung nicht um ein Bewerten, was als bessere Form des Versorgens gilt. Meine Diskussion zielt auf die unterschiedlichen Bedingungen für Handlungsfähigkeiten, die in den poststationären Alltagen zur Verfügung stehen. Diese determinieren nicht das Handlungspotential der Betroffenen – das wurde nicht zuletzt durch das Beispiel von Olaf Mattes offensichtlich. Aber gerade bei Menschen, die auf die psychiatrische komplementäre Versorgung angewiesen sind, kann dies grundlegende Konsequenzen haben. In Angelikas Lebenswelt gibt es ein weiteres „Sorge-Kollektiv“, das für sie eine entscheidende Rolle spielt und das ich bereits kurz angedeutet habe: ihr Freundeskreis. Es gibt in ihrem Leben vier, fünf Freunde und Bekannte, die sich unterschiedlich intensiv, aber regelmäßig um sie kümmern, sie zum Spazierengehen abholen, sie mit dem Auto oder Taxi zum Abendessen oder Brunchen ausführen, mit ihr Einkaufen gehen oder ihr Hygieneartikel oder Lebensmittel mitbringen, die sie sich nicht leisten kann. Wenn ihr Geld für den Monat verbraucht ist, wird sie darüber hinaus von einigen Freunden finanziell unterstützt.33 Nur auf diese Weise ist sie in der Lage, ihr direktes Lebensumfeld mit den Einkaufsmöglichkeiten, Cafés und Parks zu nutzen und sich außerhalb des Pflegewohnheims zu bewegen. Insbesondere ein Freund kümmert sich intensiv um sie und fordert sie regelmäßig dazu heraus, ihre Hemmschwellen zu
32 Siehe Fußnote 30. 33 Aufgrund der Vollversorgung im Pflegewohnheim bekommt Angelika Siebert nur ein Taschengeld von 80 Euro ausbezahlt. Davon muss sie alle Hygieneartikel, ihre Handyrechnung sowie alle „Genussmittel“ wie Tabak oder ein Getränk in einem Café bezahlen.
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überwinden, beispielsweise eine Brücke zu überqueren oder auf einem Wochenmarkt, wo viel Hektik und Trubel herrscht, einkaufen zu gehen. Diesen Freund von Angelika hatte ich bereits in der Klinik kennen gelernt und später bei verschiedenen Gelegenheiten wieder getroffen. Auch hatte Angelika ihn einmal in die Klinik zu einer Angehörigenvisite eingeladen. In der Angehörigenvisite, bei der die Sozialarbeiterin, der behandelnde Arzt, eine Krankenschwester und die Oberärztin anwesend waren, wurde sehr schnell offensichtlich, dass Angelikas Freund das therapeutische Konzept „viele kleine Schritte, wenig Druck“ wenig überzeugend fand. Als ihn die Sozialarbeiterin in dem Gespräch nach seiner Einschätzung zum Behandlungsverlauf fragte, antwortete er knapp: „Sie richtet sich hier ein!“ Auf Nachfrage meinte er, er hätte den Eindruck, Angelika würde nicht mehr kämpfen, hätte sich mit ihrer Situation abgefunden. Auch das Pflegewohnheim wäre kein Ort für sie, er könne nicht nachvollziehen, dass sie wieder dorthin zurücksolle. Er hätte erwartet, man fände eine angemessenere Lösung für sie, und erzählt, was sie sich früher schon einmal alles wieder erarbeitet hatte, sogar mit dem Fahrrad sei sie unterwegs gewesen, große Straßen wären überhaupt kein Thema gewesen. Diesmal hätte er den Eindruck, sie mache es sich bequem. Angelika schien von seiner Einschätzung sehr getroffen, betonte immer wieder, wie hart sie an sich arbeiten würde. Die Professionellen sind angesichts seiner harschen Einschätzung ebenfalls überrascht. Wie eine Sozialarbeiterin mir nach dem Gespräch erklärt, wäre es gerade wichtig, die vielen kleinen Erfolge zu schätzen und Frau Sieberts Bemühungen nicht zu entwerten. Und sie betont noch einmal die grundsätzliche Ambivalenz von Frau Siebert bezüglich des Wohnheims: Sie möchte die dortige Vollversorgung, aber die Einrichtung wäre eben für schwer chronifizierte Menschen („mit denen ist wirklich nicht mehr viel los“, wie die Sozialarbeiterin es beschreibt) und eigentlich von ihrem Anspruch her kein angemessener Ort für sie. Aber: „Man kann Frau Siebert nicht zur Selbständigkeit zwingen.“ Im Team würde man sich ebenfalls wünschen, es ginge schneller, aber das würde bei ihr im Zweifelsfall „nach hinten losgehen“. Am Tag nach der Angehörigenvisite erzählt Angelika Siebert in der Morgenvisite, dass sie mit ihrem Bekannten am Tag zuvor nach der Visite einen längeren Spaziergang gemacht und sogar das Klinikgelände verlassen habe. Selbst die große Straße hätte ihr keine Angst gemacht, obwohl sie zum ersten Mal seit Jahren überhaupt wieder auf der Straße unterwegs war. Nach ihrer Entlassung aus der Klinik schafft sie gerade aufgrund der Unterstützung dieses Freundes große Fortschritte. Sie macht Spaziergänge an Hauptstraßen entlang, geht einkaufen oder besucht Freunde – allerdings nach wie vor nur solange sie in Begleitung ist. In ihrem Freundeskreis hat man zwar grundsätzlich Verständnis für ihre Erkrankung und die sich daraus ergebenden
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Einschränkungen. Gleichzeitig wird sie von ihren Freunden selbstverständlich in deren Freizeitaktivitäten wie beispielsweise spontane Ausflüge, Geburtstagsfeiern, Einkaufstouren involviert. Anders als die Familie von Martin Lehmann, die als Bezugspersonen eine Art therapeutische Haltung übernehmen, bringen die Freunde von Angelika eine Form der Normalität in ihren Alltag. Ihr wird keine grundlegend andere Form der Handlungsfähigkeit zugeschrieben als einem psychisch gesunden Menschen. Von ihr werden eigenständige Entscheidungen erwartet, aber vor allem ein Anspruch auf Kontrolle über die eigenen Lebensumstände. Viele Betroffene thematisierten gerade dies – den Mangel an Austausch mit gesunden Menschen jenseits von professionellen Helfern. Diese lokalen Formationen der Zugehörigkeit, sei es zur Familie, zu Freunden, einem Verein oder den Nachbarn, galten dabei als wichtige Ressource in der Gestaltung des eigenen Lebens – jenseits der Institutionen.
F AZIT : P OSTSTATIONÄRE K O -P RODUKTIONEN VON STABILER H ANDLUNGSFÄHIGKEIT Hatte ich im ersten Teil dieses Kapitels die Herstellungspraktiken von Handlungsfähigkeit im klinischen Kontext herausgearbeitet, zeigte sich in den Beschreibungen der poststationären Alltage, dass die sozialpsychiatrische Choreografie des Ver-Sorgens als Anleitung zu Aktivität und Eigenständigkeit in den Alltagen der Betroffenen nach deren Entlassung auf unterschiedliche Weise präsent bleibt. Anhand Martin Lehmanns Geschichte konnte ich beispielsweise darlegen, dass ein kontinuierliches professionelles und familiäres Assistieren notwendig sein kann, um die klinisch anvisierte Handlungsfähigkeit immer wieder herzustellen und aufrechtzuerhalten. Ähnlich wie im stationären Setting changiert die Art der professionellen Unterstützung zwischen einem stärker kooperativ ausgerichteten Modus (doing with) und einem fürsorglichen Modus (doing for), der Martin Lehmann in schwierigen Phasen Entscheidungen abnimmt und Strukturen und Abläufe von außen vorgibt. Handlungsfähigkeit zeigte sich in diesem Kapitel insgesamt gerade nicht als etwas, was einem Menschen aufgrund seiner Erkrankung oder einer akuten Krise „abhanden“ kommt, in der Klinik therapeutisch wiederhergestellt wird und damit dem Betroffenen nach seiner Entlassung wieder zur Verfügung steht. Vielmehr erfordert und ermöglicht der Übergang in das „normale soziale Umfeld“ wiederum eigene Formen der Stabilisierung von Handlungsfähigkeiten. An diesen Herstellungsund Stabilisierungspraktiken sind Betroffene mit ihren eigenen Deutungs- und Handlungsansprüchen beteiligt. Insbesondere am Beispiel von Olaf Mattes und
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seiner kritisch-distanzierten Reflexion und Nutzung des Behandlungs- und Versorgungssystems konnte ich herausarbeiten, dass das Navigieren im Versorgungssystem von den Betroffenen zumindest ko-gesteuert werden kann. Aber auch Martin Lehmann ist keineswegs „nur“ passives Objekt des psychiatrischen Versorgungssystems, selbst wenn er sich nicht wie Olaf Mattes aktiv distanzierte oder sich der Meinung der Professionellen entgegensetzte. Die Beschreibungen von Angelika Sieberts poststationärem Alltag hingegen problematisieren, dass ein Wechsel des Versorgungs-Settings – von der „ermächtigenden“ carescape der Station zum versorgenden, auf Status quo bedachten Pflegewohnheim – grundlegende Konsequenzen für die Bedingungen der Handlungsfähigkeit haben kann. Die Anleitung zur Eigenständigkeit, die in den Behandlungskonferenzen im stationären Behandeln im Zentrum stand, spielt in der pflegerischen Logik des Heims keine Rolle mehr. Insbesondere das Changieren zwischen Fürsorge und Kooperation, das es nicht zuletzt ermöglichen soll, ihr mehr Eigenständigkeit zu vermitteln, ist zumindest den Erzählungen von Angelika Siebert nach kein Bestandteil der Sorge-Praktiken im Pflegewohnheim. In der Beschreibung und Diskussion der drei poststationären Alltage zeigte sich, dass auch andere Kontexte und sorgende Akteure relevant werden, die ich mit Das und Das als „formations of belonging“ (Das und Das 2006, 2007) bezeichne: Familie und Freunde spielen in den Lebenswelten von Angelika Siebert, Olaf Mattes und Martin Lehmann auf unterschiedliche Weise eine wichtige Rolle und stellen aus ihrer Sicht maßgebliche Ressourcen in der Gestaltung ihres Alltags dar. Die Diskussion der poststationären Alltage als Ökologien des VerSorgens stellt die lokalen Anforderungen und Bedingungen heraus, die die verschiedenen Pfade ermöglichen bzw. verhindern.
Schluss: Choreografien und Pfade als Stabilisierungsprozesse
Ausgangsfrage meiner Arbeit war, wie eine psychiatrische Klinik spezifisches Wissen und einen zeitlich-räumlichen Rahmen bereithält, um Menschen in akuten psychischen Krisen wieder in möglichst „normale“ Alltage zu überführen. Menschen, die stationär psychiatrisch behandelt werden, sind an einem Punkt angelangt, an dem sie aufgrund der Erkrankung mit ihren bisherigen Fähigkeiten und ihrem praktischen Wissen, wie man Alltage, Körper, Beziehungen etc. handhabt, nicht mehr weiterkommen und selbstverständliche Routinen, Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen nicht mehr einfach abrufbar sind. Wie ich anhand der Diagnose- und Behandlungspraktiken herausgearbeitet habe, werden im klinischen Alltag dabei nicht einfach „nur“ medizinisch-psychiatrische Probleme, sondern ebenso soziale Phänomene bearbeitet und modifiziert. In meiner Arbeit habe ich gezeigt, wie im Diagnostizieren und Behandeln psychische Erkrankungen in der Mittendamm-Klinik auf lokal spezifische Weise hervorgebracht, d.h. gewusst und bearbeitbar werden (v.a. Kapitel 2), und bestimmte therapeutische Interventionen als legitim und relevant gelten. So diskutierte ich, wie „ver-rückte Erfahrungen“ artikuliert und interpretiert werden (Kapitel 3), wie Körper wahrgenommen und bearbeitet werden (Kapitel 4) und wie Alltagsroutinen stabilisiert und navigiert werden (Kapitel 5). In diesen Diskussionen habe ich sowohl die Praktiken des Behandelns thematisiert – Wie wird psychiatrische Expertise im Alltag reproduziert und praktiziert? – als auch die Transformationsprozesse, in die Menschen gebracht werden (sollen): Wie werden Menschen in den psychiatrischen Behandlungspraktiken auf unterschiedliche Weise positioniert, mobilisiert, transformiert und limitiert? Quer zu den thematischen Schwerpunkten der einzelnen Kapitel habe ich in meiner Arbeit folgende vier Aspekte verschiedentlich aufgegriffen und bearbeitet: Erstens habe ich psychiatrisch-wissenschaftliches Wissen als Praxis beschrieben. Die Klinik, in der ich geforscht habe, ist als Bezirkskrankenhaus den
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üblichen medizinischen Standards und administrativen wie rechtlichen Anforderungen verpflichtet, definiert sich in ihrem Behandlungsansatz aber vor allem in der Tradition der Sozialpsychiatrie. In den verschiedenen Beschreibungen klinischer Alltagspraktiken habe ich herausgearbeitet, wie in diesem lokalen Setting Sozialpsychiatrie praktiziert wird und welche Konzepte von psychischer Erkrankung (und Gesundheit) hier reproduziert werden. Im Verlauf der Arbeit habe ich immer wieder auf (sozial-)psychiatrische Diskurse zurückgegriffen, um zu zeigen, wie klinische Alltagspraktiken in (psychiatrie-)historischen Entwicklungen verortet sind. Diese den Praktiken gewissermaßen vorgängigen psychiatrischen Ideologien und therapeutischen Konzeptualisierungen sind an der Konfiguration des Repertoires an Diagnose- und Behandlungspraktiken maßgeblich beteiligt: das, was im Klinikalltag als selbstverständliche und legitime Praktiken verstanden wird, ist immer bereits das Ergebnis von Schließungen und Übersetzungen, die sozialpsychiatrische Expertise in Alltagspraktiken einfließen lassen. Das spezifische Repertoire und Arrangement sozialpsychiatrischer Diagnose- und Behandlungspraktiken habe ich zweitens als Choreografie analysiert. Sozialpsychiatrisches Choreografieren, das sowohl der Ordnung der Arbeitsabläufe wie der therapeutischen Aufgaben dient und Routinen und Akteure bündelt und koordiniert, zielt darauf ab, den Menschen in „Richtung Eigenständigkeit“ zu begleiten, seine Handlungsfähigkeit zu ermöglichen und zu stabilisieren. In dieser Logik werden Patient und Professionelle zu Partnern in der Behandlung und Stabilisierung zu einer Form des enskilment. (Ingold 2000) Choreografien stellen damit ähnlich, wie Bowker und Star dies für Infrastrukturen beschrieben haben (Bowker und Star 1999), selbstverständliche, mehr oder weniger unsichtbare Gerüste des Stationsalltags dar, die Menschen auf bestimmte Pfade bringen (sollen). Gerade diese scheinbare Selbstverständlichkeit führt allerdings auch dazu, dass implizite normative Konzepte und Wertungen kaum mehr hinterfragt und reflektiert werden, wie ich weiter unten noch ausführlicher diskutieren werde. Drittens habe ich gezeigt, welche längerfristigen Effekte sozialpsychiatrisches Choreografieren hat. Dies herauszuarbeiten wurde insbesondere durch die Geschichten der drei Menschen, die ich nach ihrer stationären Behandlung über eine längere Zeit in ihren poststationären Alltagen getroffen habe, möglich. Psychiatrische Expertise wird von den Betroffenen dabei unterschiedlich aufgegriffen und in deren „objektive Selbst-Gestaltung“ (Dumit 1997) integriert. Patienten sind in diesen Prozessen keineswegs passive Rezipienten, sondern mit eigenen Vorstellungen und Erwartungen in diese Praktiken involviert. Zugleich
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wirken Choreografien auf Menschen ein und ermöglichen bestimmte Formen der Subjekt-Werdung, während andere potentiell pathologisiert werden. Und viertens: Um diesen verschiedenen Bewegungen – sowohl des Hervorbringens von psychischer Stabilität wie des Stabil-Werdens – nachzugehen, habe ich im Verlauf der Arbeit Ansätze aus der Medizin- und Wissenschaftsanthropologie (Lock 2001; Martin 2007; Young 1995), praxisorientierte Ansätze aus der empirischen Wissenschafts- und Technikforschung (Law 2004; Mol 2002) und (anthropologische) Theoretisierungen von Wissen, Lernen und Werden (Dewey 2001 [1929]; Ingold 2011) herangezogen. Mein Anliegen bei der Kombination dieser Ansätze war es, der Persistenz von Praktiken in zweifacher Weise nachzugehen: Mich interessierte sowohl die Frage nach der Stabilität der Praxis als auch nach der Stabilisierung durch Praxis. Was hält die klinischen Praktiken bzw. die Choreografie als spezifisches Gefüge von Praktiken stabil? Und: Welche anhaltenden Stabilisierungseffekte produzieren diese Praktiken? Diese Fragen sind an sich nicht neu. In ähnlicher Weise fragt sich beispielsweise John Law, wie angesichts von Prozess und Wandel Stabilität überhaupt möglich werden kann: „So my question (not such a novel question, to be sure) is this: if everything is process, everything is change, if everything is flow, then how come so much stays in place? How is it that through those flows some kind of quasistability is secured? Some kind of obduracy is assured?“ (Law n.d.: 3) Meines Erachtens eröffnet gerade ein Feld wie das der (Akut-)Psychiatrie neue Perspektiven auf diese Fragen, wird doch im psychiatrischen Klinikalltag jegliche Selbstverständlichkeit und jeder common sense immer wieder in Frage gestellt. Stabilität zeigt sich in psychiatrischen Praktiken besonders offensichtlich als Phänomen, das angesichts der grundlegenden Kontingenz des psychiatrischstationären Alltags sowie der krisenhaften, instabilen Zustände der Patientinnen kontinuierlich hervorgebracht werden muss. Ich werde nun abschließend verschiedene empirische Befunde und zentrale Problematisierungen meiner Arbeit aufgreifen und diese zusammen mit den Implikationen, die sich hieraus auf konzeptioneller Ebene ergeben haben, diskutieren.
S OZIALPSYCHIATRISCHES C HOREOGRAFIEREN ALS „ FLEXIBLE S TABILISIERUNG “ In den verschiedenen empirischen Kapiteln habe ich gezeigt, wie der Patient in der Mittendamm-Klinik kontinuierlich aufgefordert wird, sich aktiv an den Therapien zu beteiligen und Schritt für Schritt an seiner Gesundung zu arbeiten. Dies geschieht in der Regel nicht unter Druck oder mit eindeutigen Aufforderun-
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gen, ein bestimmtes Erklärungsmodell zu übernehmen oder eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Vielmehr soll der Patient in einem kontinuierlichen Austausch mit der „stationären Umwelt“ seinen eigenen Weg finden. Durch die Art der Angebote, die durchgängige Strukturierung des Tages, die Organisation des Stationsalltags, die kontinuierlichen Rückmeldungen durch die Professionellen soll der Patient auf einen bestimmten Pfad gelenkt werden. Diese implizite und gleichzeitig allgegenwärtige Anleitung zur Stabilisierung bezeichne ich als Choreografie. Das grundlegende Anliegen sozialpsychiatrischen Choreografierens ist ein gesteuerter Lernprozess, der auf eine möglichst dauerhafte Ermächtigung der betroffenen Subjekte abzielt. Sozialpsychiatrisches Behandeln unterscheidet sich damit zum einen von einem autoritären Disziplinieren, wie es Studien über psychiatrisches Wissen und Behandeln in anderen historischen Kontexten (Ankele 2009; Foucault 2006 [1961]; Goffman 1961), beschrieben haben. Psychisch Kranke wurden hier primär als Objekte institutioneller Regulierung und medizinisch-autoritärer Intervention verstanden. Sozialpsychiatrisches Diagnostizieren und Behandeln hebt sich zum anderen von zeitgenössischen Ansätzen ab, die klinisches Arbeiten zunehmend als Ausführung universeller Standards verstehen und dabei vor allem auf biologisch-orientierte Konzeptualisierungen von psychischen Erkrankungen zurückgreifen. Anstelle eines autoritär-disziplinierenden oder standardisiert-objektivierenden Zugriffs wird die Patientin in der sozialpsychiatrischen Sorge-Choreografie als „soziales Wesen“ in den Blick genommen, das auf vielfältige Weise in der Wiederherstellung psychischer Stabilität unterstützt wird. In den verschiedenen empirischen Beispielen zur Choreografie von Erfahrung, von Körperlichkeit und von Handlungsfähigkeit zeigte sich, dass im sozialpsychiatrischen Behandeln Patienten als Partner in den Behandlungsprozess einbezogen werden sollen. Diese Partnerschaft wird dabei von den Professionellen der Klinik maßgeblich gesteuert und changiert zwischen einem stärker fürsorglichen Modus (doing for) und einem kooperativen Modus, der den Patienten mehr Eigenständigkeit zugesteht (doing with). (Floersch 2002) Sozialpsychiatrische Choreografien des Sorgens, so hatte ich mehrfach herausgearbeitet, ermöglichen ein flexibles und situiertes Anpassen klinischer Praktiken an den einzelnen Patienten. Die Stabilität des Patienten wird nicht als Endergebnis von Behandlung und endgültig erreichbarer Zustand verstanden, sondern als kontinuierlicher Prozess der „flexiblen Stabilisierung“. Aber gerade angesichts dieser Flexibilität und des Primats der Anpassung zeigten sich Choreografien im Stationsalltag als äußerst robuste Gefüge. Was also hält wiederum Choreografien stabil?
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D IE H ARTNÄCKIGKEIT
DES
S OZIALEN
Ich hatte Choreografien in meiner Arbeit als sozio-materielle Gefüge beschrieben, die Praktiken auf spezifische Weise ordnen und ein flexibles Repertoire bilden. An diesem Gefüge partizipieren Menschen ebenso wie Dinge und Standards, Räume wie Dokumentationstechnologien, Arbeitsroutinen, Stationstüren und Krankheitsklassifikationen, Krankenschwestern und Blutproben. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Robustheit der Choreografie wäre der Verweis auf die Stabilisierung durch Dokumentationstechnologien und Standards. Wie ich im zweiten Kapitel meiner Arbeit thematisiert habe, sind beispielsweise Studien zu klinischen Diagnose- und Behandlungspraktiken vor allem auch daran interessiert, die Stabilisierung von Fallgeschichten, Klassifikationssystemen und Krankheitstrajektorien als Standardisierung und Festschreibung von klinischem Wissen durch Dokumentationstechnologien zu problematisieren. (Barrett 1996; Berg 1996; Prior 1993) Barrett hatte dies als „cycle of interpretation“ beschrieben (Barrett 1996: 107): Was einmal in den Akten dokumentiert und gespeichert wurde, forme den weiteren Behandlungsverlauf. Krankenakten und die darin reproduzierten Standards sind in dieser Logik als maßgebliche Stabilisatoren, als immutable mobiles (Latour 2000) von Behandlungstrajektorien zu verstehen, indem sie Wissen speichern, zirkulieren und entscheidend zu deren Verfestigung beitragen. Law wiederum bezeichnet dies als die Delegation von „nachhaltiger Hartnäckigkeit“ (obduracy) an Materialitäten. (Law n.d., 1994: 2f.) Dies stellt keinen deterministischen Blick auf Materialitäten dar, aber hebt deren spezifischen Stabilisierungscharakter in Akteur-Netzwerken hervor. Auch in meiner Arbeit diskutierte ich, wie Dinge an der Stabilisierung von Praxis partizipieren. Der Stuhl(kreis) beispielsweise schafft gerade in seiner Materialität eine bestimmte Kommunikationssituation, in der das therapeutische Konzept der Gruppenarbeit re-aktualisiert und wirksam wird. Allerdings wird meines Erachtens in den erwähnten Arbeiten und Ansätzen in der Betonung der Rolle von Dingen und/oder Standards in der Stabilisierung von Praxis-Arrangements oftmals der stabilisierende Effekt „des Sozialen“ unterschätzt. 1 Sozialpsychiatrisches Arbeiten, das sich skeptisch
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Mir ist bewusst, dass es in diesen Arbeiten gerade nicht um eine einseitige Hervorhebung der materiellen Partizipanden von Praktiken geht; allerdings scheint meines Erachtens in vielen Arbeiten insbesondere der Science and Technology Studies im Bemühen, Dinge als Akteure von Praxis herauszuarbeiten, die Rolle der menschlichen Akteure in den Hintergrund zu geraten. Mir geht es an dieser Stelle nicht um eine umfassende Inventarisierung der Dinge und Menschen in den entsprechenden
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gegenüber einer zunehmenden Standardisierung psychiatrischer Expertise zeigt und das Erfahrungswissen der Professionellen gegenüber standardisierenden Dokumentationstechnologien als entscheidend einstuft, lenkt den Fokus gerade auf die Stabilisierung durch soziale Austauschprozesse. So konnte ich in der Analyse der Diagnosepraktiken im zweiten Kapitel meiner Arbeit zeigen, dass durch das kollektive Austauschen von Erfahrung und dem „kommunikativen Gedächtnis“ des Teams Standards und Skills koproduziert werden und eigene, aber nicht weniger stabilisierende Effekte produziert werden. Die „nachhaltige Hartnäckigkeit“ von Praxis zeigte sich hier gerade nicht in einer Delegation in die Dinge oder als Replikation von Standards, sondern in der Reproduktion im epistemischen Milieu und damit vor allem als eine „Hartnäckigkeit des Sozialen“.
E INGESUNKENE N ORMEN DES S OZIALEN
UND DIE
P ATHOLOGISIERUNG
Neben der Diskussion sozialpsychiatrischen Sorgens, welche die beschriebene „flexible Stabilisierung“ klinischer Praktiken als Charakteristikum sozialpsychiatrischen Arbeitens hervorhebt, war es mir zugleich ein Anliegen, die impliziten Normen dieser „logic of care“ (Mol 2008) zu problematisieren. In den verschiedenen Kapiteln meiner Arbeit habe ich deshalb immer beides thematisiert: die spezifische Logik sozialpsychiatrischen Diagnostizierens und Behandelns als situiertes Aushandeln und Anpassen wie auch die normativen Wirkungen auf und die potentiell problematischen Konsequenzen für die Patientinnen, die im Klinikalltag zu beobachten waren. So geriet der Anspruch an Kooperation und aktive Teilhabe der Patientinnen an seine Grenzen, wenn diese die impliziten Normen und Erwartungen (Verantwortlichkeit für das Kollektiv, aktive Selbstsorge, Reflexion und Rationalisierung) in Frage stellten oder nicht in der Lage oder willens waren, sich diesen anzupassen. Sozialpsychiatrisches Choreografieren bedeutet zwar kein Disziplinieren im klassischen Sinne; dennoch findet hier ein Positionieren von und Einwirken auf Menschen statt, dem sich die Betroffenen schwer entziehen können. Zudem zeigte sich am Beispiel der Psychopharmakotherapie, dass sich sozialpsychiatrische Sorge und institutionelle Gewalt (in Form von Zwangsbehandlungen) nicht ausschließen, sondern derselben Logik folgen. Fürsorge setzt immer auch ein sorgebedürftiges
Studien, sondern um eine Problematisierung basierend auf meinem empirischen Material.
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Gegenüber voraus, das im Zweifelsfall durch das Versorgungssystem definiert und klassifiziert wird. Problematisch erscheint dabei, dass jegliche Verweigerung seitens der Betroffenen, diese Fürsorge zu akzeptieren, potentiell pathologisiert werden kann. Anders als beispielsweise in biomedizinischen Diskursen und Praktiken, in denen die Pathologie letztendlich dem Körper zugeschrieben wird, besteht im sozialpsychiatrischen Behandeln das Risiko, jeglichen Widerstand und Eigensinn als Symptom zu deuten und damit eine „Pathologisierung des Sozialen“ zu betreiben. Zudem erschwert die damit einhergehende Moralisierung sozialpsychiatrischer Standards (die solidarische Gruppe als Soziabilitäts-Norm, die aktive Teilhabe als Voraussetzung für Ermächtigung etc.) eine kritische Auseinandersetzung mit ebendiesen Standards und Normen. Mit der sozialpsychiatrischen Logik der Sorge lässt sich schwerlich streiten. Dieser Befund lässt sich in gewisser Weise auf einige theoretische Konzepte der Anthropologie und der Wissenschafts- und Technikforschung ausweiten, wie ich an verschiedenen Stellen meiner Arbeit herausgearbeitet habe. Konzepte wie Handlungsfähigkeit, Ermächtigung, Erfahrung oder Sorge (care) werden in wissenschaftlichen Kontexten meist ebenso als selbstverständlich vorausgesetzt, ohne deren Normativität und spezifische Einbettung in westlich-moderne Diskurse zu problematisieren. So setzt gerade auch das Konzept der Sorge, wie es von Annemarie Mol und Kolleginnen (Mol 2008; Mol et al. 2010; Pols 2006) vertreten wird, bestimmte Patienten-Subjekte voraus. Während die Erwartung einer kooperativen, aktiven Teilhabe an der Behandlung zum Beispiel für Diabetes-Patienten (Mol 2008) vergleichsweise unproblematisch und selbstverständlich erscheinen mag, ist dies bei psychiatrischen Patienten keineswegs so eindeutig. Vielmehr muss im sozialpsychiatrischen Arbeiten der aktive Patient oftmals erst hergestellt werden. Der aktive Patient ist hier weniger Voraussetzung als bereits ein Effekt sozialpsychiatrischer Sorge-Praktiken. Sorge-Praktiken sind in diesem Sinne als spezifische making-up-Prozesse zu thematisieren. Sich einer erneuten Dichotomisierung von Subjekt-Objekt oder von „either free or subjected“ (Mol 2008:113) zu verwehren, bedeutet meines Erachtens nicht, sich der Frage nach den Subjektivierungsprozessen und -effekten entziehen zu können. Somit hinterfragt meine Arbeit nicht nur das scheinbar Selbstverständliche im sozialpsychiatrischen Arbeiten, sondern betont insbesondere die analytische Notwendigkeit, nach den konkreten lokalen Herstellungspraktiken zu fragen.
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S UBJEKTIVIERUNGSEFFEKTE
VON
S ORGEPRAKTIKEN
Sozialpsychiatrische Sorgepraktiken, so hatte ich oben ausgeführt, zeichnen sich insbesondere durch ein flexibles Changieren zwischen einem stärker fürsorglichen und einem kooperativen Modus aus. Deutlich wurde in meiner Arbeit aber auch, dass diese „flexible Stabilisierung“ in einem maßgeblich von den Professionellen gesteuerten Rahmen verbleibt. In meiner Arbeit hatte ich die Station daher als „Laboratorium“ beschrieben, das mit einem begrenzten Repertoire des Sozialen arbeitet. In den verschiedenen Beispielen zeigte sich, dass es im sozialpsychiatrischen Sorgen nicht um die Ermöglichung eines „originären Subjekts“ per se geht, das schlichtweg „zu sich selbst“ bzw. „seinen eigenen Weg“ findet, sondern mit vorbestimmten Idealen eines handlungsfähigen Subjekts gearbeitet wurde. Sozialpsychiatrische Sorgepraktiken „offenbaren“ in diesem Sinne keine authentischen Subjekte, sondern (re-)produzieren sozialpsychiatrische Subjekte innerhalb eines bestimmten Rahmens.2 Die normative Setzung dieses Rahmens blieb, und das habe ich bereits im letzten Abschnitt angedeutet, in der Regel implizit und wurde so selbstverständlich vorausgesetzt, dass Problematisierungen kaum möglich wurden. Das „ideale Subjekt“ sozialpsychiatrischer Behandlungspraxis ist das selbst-sorgende, aktive, kooperierende, solidarische und reflektierende Subjekt, das in seiner Selbstermächtigung vorübergehend unterstützt wird.3 In meiner Analyse der psychiatrischen Alltagspraktiken habe ich gezeigt, wie an der Formierung dieser Subjekte kontinuierlich im Kollektiv gearbeitet wird.4 Mit der situativen Anpassung und Omnipräsenz sozialpsychia-
2
Diese Unterscheidung zwischen „enframing“ und „revealing“ macht Pickering mit Verweis auf konventionelle und anti-psychiatrische Praktiken in den 1950er und 1960er Jahren in Großbritannien auf und zeigt, wie hier unterschiedliche Ontologien hervorgebracht werden. (Pickering 2010: Kap. 5)
3
In Kapitel fünf dieser Arbeit habe ich darauf hingewiesen, dass die Vorstellung eines aktiven und damit selbstermächtigten Subjekts nicht einfach ein sozialpsychiatrisches Konstrukt ist, sondern in verschiedenen Zweigen der Medizin, der Psychologie sowie anderen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise der Arbeitswelt, zu finden ist.
4
Diese Fokussierung auf Formierungsprozesse von Subjektivität findet sich in verschiedenen gegenwärtigen ethnografischen Studien, in denen das Subjekt nicht mehr als selbstverständliche analytische Entität vorausgesetzt, sondern sich zunehmend den vielfältigen Formierungs- und Transformationsprozessen gewidmet wird. (Biehl 2005; Das 2000; Petryna 2002; Tsing 2005) Einen Überblick über aktuelle anthropologische Debatten zu Subjektivität findet sich in Biehl et al 2007.
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trischen Sorgens verband sich vor allem auch ein allgegenwärtiges Korrektiv potentieller Pfadabweichungen. Die Subjektivierungsprozesse sozialpsychiatrischer Sorgepraktiken sichtbar zu machen wurde zudem dadurch möglich, dass ich mit den Erzählungen der Betroffenen – innerhalb wie außerhalb der Klinik – deren Pfade ein Stück weit nachzeichnen konnte. Während ich mit dem Fokus auf die Choreografien im Klinikalltag die Herstellungsbedingungen stabiler Pfade herausarbeiten konnte, ermöglichten mir gerade die poststationären Kontakte mit Martin Lehmann, Angelika Siebert und Olaf Mattes die vielfältigen längerfristigen Loopingeffekte zu diskutieren. Dabei zeigte sich, dass diese sozialpsychiatrischen Subjektivierungs- und Ermächtigungsprozesse keineswegs selbstverständlich in Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit mündeten. Während Angelika Siebert den in der Klinik angestoßenen Prozess der kollektiven Herstellung von Handlungsfähigkeit annahm und für sich als hilfreich und produktiv verstand, empfand und beschrieb Olaf Mattes hingegen die sozialpsychiatrische Choreografie des Sorgens mit ihren kontinuierlichen Aufforderungen und Rückmeldungen als entmündigend und kontrollierend. Zudem wiesen die verschiedenen Behandlungsgeschichten in sich Veränderungen auf: Martin Lehmanns Stabilisierungsprozess war beispielsweise geprägt von Phasen eigenständigen Selbst-Managements sowie einer Übernahme der Steuerung durch die Familie und/oder die Professionellen. In den Erzählungen der Betroffenen zeigte sich insgesamt, dass choreografierte Stabilisierungsprozesse immer wieder unterbrochen wurden oder stagnierten, sich wiederholten oder neue Richtungen einschlagen konnten. Am Beispiel von Olaf Mattes wurde zudem deutlich, dass dieses Changieren gerade auch von den Betroffenen aktiv gestaltet werden konnte – manchmal auch gegen die Sichtweise der Professionellen. Diese Loopingeffekte lassen sich weder einseitig als Ermächtigungs- oder als Disziplinierungsprozesse beschreiben, sondern eröffnen den Blick auf vielfältige Formen von Handlungspotentialen. Dabei kann gerade eine „assistierte Selbst-Ermächtigung“ als Objektivierung und Kontrolle problematisiert werden. Choreografien müssen daher immer in ihrer spezifischen lokalen Situiertheit und dem jeweiligen Arrangement betrachtet werden und können durchaus einer Konstituierung von Handlungsfähigkeit entgegenstehen. Damit komme ich zum letzten Punkt.
D IE K O -P RODUKTION
STABILER
P FADE
In der Beschreibung der Looping-Effekte zwischen sozialpsychiatrischem Choreografieren und den poststationären Pfaden war mein Anliegen keine ausschließliche Problematisierung der Effekte von Behandlung auf Patienten; viel-
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mehr ging es mir insgesamt um die Wechselwirkungen zwischen sozialpsychiatrischer Ideologie und therapeutischer Programmatik, dem zeitlich-räumlichen Arrangement der stationären carescape, den beteiligten Akteuren (Professionellen wie Betroffenen und anderen) und Partizipanden (Pillen, Akten, Stühlen etc.), den alltäglichen Praktiken des Diagnostizierens und Behandelns sowie den entsprechenden Lernprozessen. In meiner Arbeit hatte ich daher insbesondere die Kontextabhängigkeit von Praktiken und Lernprozessen hervorgehoben. Mit Kontext meine ich sowohl den konkreten materiellen Ort als auch das spezifische ideologische, therapeutische Programm, wie ich es für die Mittendammer Psychiatrie herausgearbeitet habe. Neben diesen bereits ausführlich problematisierten normativen Wirkungen sozialpsychiatrischer Ideologie als einem zentralen Kontext der Formierungsprozesse hatte ich insbesondere mit Ingold die zeitlich-räumliche Kontextualisierung der Praktiken hervorgehoben. Ich hatte Ingolds Konzept der taskscape, womit er die spezifische Verbindung von Aktivitäten und Menschen an einem Ort bezeichnet (Ingold 2000: 195), auf den psychiatrischen Alltag übertragen und als carescape diskutiert. Wie ich herausgearbeitet habe, basiert die carescape in der Mittendamm-Klinik auf einem sozialpsychiatrischen Programm in einem spezifischen soziomateriellen Gefüge, das bestimmte Aktivitäten und Erfahrungen für die Patientinnen wie auch für die Professionellen ermöglicht und andere problematisch macht. Die psychiatrische carescape hält damit bestimmte Affordanzen für psychiatrisches Arbeiten wie auch Erleben bereit. Allerdings meine ich mit Affordanz nicht ausschließlich den Aufforderungscharakter der Räume und Dinge, also der materiellen Umgebung, sondern eine Affordanz der carescape als einer spezifischen Verbindung von Raum, Aktivität und Menschen, die an der Ko-Produktion stabiler Pfade maßgeblich beteiligt ist. Wissen, Erfahrung und agency sind das Ergebnis der Herstellungsbedingungen und der entsprechenden Praktiken in der klinischen carescape. Es ist gerade in der Beziehung zum zeitlich-räumlichen Arrangement, in der sich Lernen ergibt. Offensichtlich wurde die Affordanz der sozialpsychiatrischen carescape in den Übergängen von der Klinik in die poststationären Alltage. Bereits in der Klinik in der Vorbereitung auf die Entlassung deutete sich an, dass sozialpsychiatrische Sorgepraktiken darauf angelegt sind, Patienten auf unterschiedliche Weise in den poststationären Alltag zu begleiten. Neben der Möglichkeit, therapeutische Angebote der Klinik wie die Psychiatrische Institutsambulanz oder die Gruppentherapien weiter zu nutzen, „wanderte“ sozialpsychiatrische Expertise in der ihr eigenen Kombination von soziotherapeutischen Angeboten und Medikation mit in den poststationären Alltag. Levinson hatte dies als die Ausweitung des „psychiatrischen Mandats“ auf alle Lebensbereiche psychisch
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Kranker in der Gemeinde beschrieben. (Levinson 2010) Die Praktiken der Stabilisierung psychisch Kranker beschränken sich damit nicht mehr auf die Behandlung und Versorgung in der psychiatrischen Fachklinik, sondern sind eingebettet in ein komplexes gemeindepsychiatrisches Versorgungssystem, das ich in meiner Arbeit nur in Ausschnitten beschreiben konnte. Gemeindepsychiatrisches Arbeiten, das heißt die enge Vernetzung von Klinik und Institutionen und Hilfsmaßnahmen, die in die Lebenswelt des Menschen reichen sollen, verändert dabei aber gerade nicht die Gemeinde, sondern die Wege der Partizipation, die vom Patienten/Klienten beschritten werden können und müssen. Deutlich wurde dies in der Fokussierung auf aktive Teilhabe, Behandlungskooperation und Anleitung zur Selbst-Sorge: Nicht das Kollektiv, die Gemeinde gilt es zu bearbeiten, sondern das psychisch kranke Individuum. Auch die poststationäre carescape bleibt in diesem Sinne institutionell geformt. Menschen wie Martin Lehmann, Angelika Siebert oder Olaf Mattes haben jede/r für sich gelernt, in bzw. mit diesem Versorgungssystem zu navigieren. Dabei wurde in den Beschreibungen ihrer Lebenswelten auch deutlich, dass die poststationären Alltage und das dort ver-sorgende Milieu wiederum andere Angebote und Aufforderungen bereithalten. Während die carescape der Klinik innerhalb eines gesteckten Rahmens und eines begrenzten Repertoires des Sozialen operiert, tauchten in den Beschreibungen der Sorge-Ökologien, wie ich sie am Ende des letzten Kapitels aufgemacht habe, unterschiedliche sorgende Akteure mit wiederum eigenen Erwartungen und Anforderungen auf. Insbesondere Freunde und Familie spielten im Leben der drei eine wichtige Rolle und prägten deren alltägliches Leben mit einer psychischen Erkrankung. Dies bedeutet aber keine Alternative zum psychiatrischen Versorgungssystem, sondern zeigt, wie sich in den poststationären Sorge-Ökologien wiederum neue Gefüge und damit neue Pfadmöglichkeiten für die Betroffenen ergeben. Entscheidend ist letztendlich, welche Räume zur Navigation zur Verfügung stehen und vor allem wie flexibel sich die Sorge-Ökologien an die Bewegungen der Menschen anpassen können – und nicht umgekehrt.
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Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1
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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Stefan Beck, Jörg Niewöhner, Estrid Sörensen Science and Technology Studies Eine sozialanthropologische Einführung 2012, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2106-8
Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl (Hg.) Herausforderung Biomedizin Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis
Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper 2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0
Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt?
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Sonja Palfner Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik
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Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag
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Thomas Mathar Der digitale Patient Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems 2010, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1529-6
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