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German Pages XI, 395 [398] Year 2020
Interkulturelle Studien
Nina Berding
Alltag im urbanen Quartier Eine ethnografische Studie zum städtischen Zusammenleben
Interkulturelle Studien Reihe herausgegeben von Wolf-Dietrich Bukow, Institut für Bildungsforschung, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Christoph Butterwegge, Institut für Bildungsforschung, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Gudrun Hentges, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Julia Reuter, Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Hans-Joachim Roth, Institut für vergleichende Bildungsforschung, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Erol Yildiz, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
Interkulturelle Kontakte und Konflikte gehören längst zum Alltag einer durch Mobilität und Migration geprägten Gesellschaft. Dabei bedeutet Interkulturalität in der Regel die Begegnung von Mehrheiten und Minderheiten, was zu einer Verschränkung von kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschieden sowie sozialen Ungleichheiten beiträgt. So ist die zunehmende kulturelle Ausdifferenzierung der Gesellschaft weitaus mehr als die Pluralisierung von Lebensformen und -äußerungen. Sie ist an Anerkennungs- und Verteilungsfragen geknüpft und stellt somit den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes, die politische Steuerung und mediale Repräsentation kultureller Vielfalt sowie die unterschiedlichen Felder und Institutionen der pädagogischen Praxis vor besondere Herausforderungen: Wie bedingen sich globale Mobilität und nationale Zuwanderungs- und Minderheitenpolitiken, wie geht der Staat mit Rassismus und Rechtsextremismus um, wie werden Minderheiten in der Öffentlichkeit repräsentiert, was sind Formen politischer Partizipationen von MigrantInnen, wie gelingt oder woran scheitert urbanes Zusammenleben in der globalen Stadt, welche Bedeutung besitzen Transnationalität und Mehrsprachigkeit im familialen, schulischen wie beruflichen Kontext? Diese und andere Fragen werden in der Reihe „Interkulturelle Studien“ aus gesellschafts- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive aufgegriffen. Im Mittelpunkt der Reihe stehen wegweisende Beiträge, die neben den theoretischen Grundlagen insbesondere empirische Studien zu ausgewählten Problembereichen interkultureller als sozialer und damit auch politischer Praxis versammelt. Damit grenzt sich die Reihe ganz bewusst von einem naiven, weil kulturalistisch verengten oder für die marktförmige Anwendung zurechtgestutzten Interkulturalitätsbegriff ab und bezieht eine dezidiert kritische Perspektive in der Interkulturalitätsforschung.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12594
Nina Berding
Alltag im urbanen Quartier Eine ethnografische Studie zum städtischen Zusammenleben
Nina Berding Köln, Deutschland Dissertation, Universität zu Köln, 2018
Interkulturelle Studien ISBN 978-3-658-29292-8 ISBN 978-3-658-29293-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29293-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zum Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2 Meine Arbeit als Ausschnitt eines dynamischen Quartiers. . . . . . . . 8 2 Die diversitätsgrundierte Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Urbanisierungsdynamik und ihre Kritiker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Urbane Distanziertheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Ein differenzlogischer Blick auf das städtische Zusammenleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3.1 Othering und die Konstruktion von Fremdheit . . . . . . . . . . . 31 2.3.2 Mobilitätsspezifische Fremdheitskonstruktionen. . . . . . . . . . 34 2.3.3 Veralltäglichung von Grenzziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt. . . . . . . . . . . . . . 54 2.4.1 In- und Exklusion in diversitätsgeprägten Stadtteilen. . . . . . 59 2.4.2 Urbanität im Ankunftsquartier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive auf das alltägliche Zusammenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1 Alltagshandeln und Routinen in der polykontextuellen Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2 Exkurs: Die drei Säulen der Stadtgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.3 Verortung im diversitätsgeprägten Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.4 Alltägliche Bewegung im StadtRaum: Der öffentliche Raum. . . . . . 98 3.4.1 Begegnungen im öffentlichen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.4.2 Handeln im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
V
VI
Inhaltsverzeichnis
4 Zusammenfassung: Das theoretische Grundgerüst im Überblick und der Blick auf den diversitätsgeprägten städtischen Raum in dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5 Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.1 Ethnografie des Ortes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.2 Methodologischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.2.1 Grounded Theory. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.2.2 Das Vorgehen im Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.3 Datenauswertung und -analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6 Oberbilk – Ein Blick auf den Stadtteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.1 Die Stadt Düsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.2 Düsseldorf-Oberbilk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 6.2.1 Industrie- und Arbeiterstadtteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 6.2.2 Lage des Stadtteils und soziokulturelle Entwicklung . . . . . . 152 6.2.3 Revitalisierungsprozesse in Oberbilk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.3 Der Lessingplatz im urbanen Kontext: Ein erstes Forschungsbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 7 Ortslogiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 7.1 Der Alltagsort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 7.1.1 Strukturen im Quartier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 7.1.2 Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.2 Der bunte Ort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7.2.1 Vielfaltsverarbeitungsroutinen und Ambivalenzen im urbanen Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7.2.2 Sonderfall des Ambivalenten: ‚Ethnische‘ Grenzziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 7.2.3 Platzierung im bunten Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 7.2.4 Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 7.3 Der umkämpfte Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 7.3.1 Die Stammnutzer*innen-Community . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 7.3.2 Lokale Platzierung der Jugendlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 7.3.3 Lokale Platzierung von Vereinen und Initiativen. . . . . . . . . . 288 7.3.4 Der Fußballplatz als Ort multipler Aushandlungsprozesse und als Beispiel für Situationsrahmungen. . . . . . . . . . . . . . . 297 7.3.5 Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Inhaltsverzeichnis
VII
7.4 Der unsichere Ort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 7.4.1 Unsicherheitswahrnehmungen im Quartier. . . . . . . . . . . . . . 310 7.4.2 Irritationsnarrative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 7.4.3 Müll und Lärm im urbanen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 7.4.4 Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 8 Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.1 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . 340 8.2 Worauf die Ergebnisse im Hinblick auf den Umgang mit einer postmigrantischen Stadtgesellschaft hindeuten . . . . . . . . . . . . 351 8.3 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2.1 Abb. 6.1 Abb. 6.2 Abb. 6.3 Abb. 6.4 Abb. 6.5 Abb. 6.6 Abb. 6.7 Abb. 7.1 Abb. 7.2 Abb. 7.3 Abb. 7.4 Abb. 7.5 Abb. 7.6 Abb. 7.7 Abb. 7.8
Doing-Mobility (Bukow 2018, o. S.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Überblickskarte Oberbilk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Blick vom Lessingplatz 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Blick vom Lessingplatz 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Oberbilk im Düsseldorfer Stadtgefüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Sozialraum Nordwestlich der Kruppstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Forschungsbereich umgrenzter urbaner Raum LP im Stadtgefüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Detailansicht des Forschungsbereichs umgrenzter urbaner Raum LP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Nachbarschaftshäuschen/Treffpunkt der Stammnutzer*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Bestimmung neuer Außenseiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Jugendliche beim Fußballspielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Veranstaltungsplakate Lessingplatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Einladung zum Bürgerforum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Einladung zur Podiumsdiskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Einladung zum ‚Maghreb Fest‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Müll 1/Müll 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
IX
Tabellenverzeichnis
Tab. 5.1
Übersicht über den Datensatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
XI
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Einführung
„Ich würde sagen, man erträgt es. Mich stören die Trinker, die da tagtäglich sitzen. Aber das gehört glaube ich dazu, wenn man in einem bunten Stadtteil leben will“ (FN 4).
Das alltägliche Zusammenleben in dichten und heterogenen städtischen Räumen ist konstitutiv durch Irritationen und Störungen geprägt, die aus den vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten und -ansprüchen sowie aus den unterschiedlichen Chancen der Stadtbewohner*innen, ihre Nutzungsinteressen durchsetzen zu können, entstehen. Dabei sind Irritationen immer subjektiv: Was die einen stört, nehmen die anderen noch nicht einmal wahr. Wie Handlungen bewertet werden, hängt in besonderem Maße von der Situation, in der sie auftreten, ab. Im komplexen urbanen Alltag vollziehen die Stadtbewohner*innen kontinuierlich Prozesse der Situationsrahmung und -bewältigung. Die jeweilige Situationsrahmung ist u. a. mit dem Wissensvorrat, über den die Situationsbeteiligten verfügen (sei es als aktiv Handelnde/r oder als Beobachter*in der Situation) verknüpft. Hinzu kommen die Erwartungen und die Haltung, die die Situationsteilnehmer*innen dem städtischen Raum und der jeweiligen Situation entgegenbringen. Das alltägliche Zusammenleben im urbanen Raum erfordert also ein hohes Maß individueller Anpassungsperformance. Diese alltägliche Anpassungsperformance in heterogenen Quartieren ist das Thema dieser Arbeit. Diese Arbeit will Antworten darauf geben, wie Menschen alltagspraktisch zusammenleben und Diversität und Mobilität verhandeln: Wie schaffen es die Stadtbewohner*innen, sich trotz konfligierender Interessen, Erwartungen und Haltungen im Alltag miteinander zu arrangieren? Wie funktioniert das Mit- oder Nebeneinander, ohne dass ständig Konflikte ausbrechen? Wie lassen sich die vielfältigen Nutzungsvorstellungen im öffentlichen Raum
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Berding, Alltag im urbanen Quartier, Interkulturelle Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29293-5_1
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1 Einführung
iteinander vereinen? Wie können Rentner*innen, Konsument*innen harter m Drogen, Biertrinker*innen, Sportler*innen, Marktbesucher*innen, Jugendliche, Spaziergänger*innen, Händler*innen, Müßiggänger*innen und Kinder, die beim Spielen lärmen, friedlich nebeneinander existieren? Wie können sie dies unter der Voraussetzung, dass unterschiedliche individuelle Wahrnehmungen und Bedeutungsstrukturen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen und häufig konfligieren? Und welche Rolle spielen hegemoniale Deutungshoheiten, die das Handeln der Menschen vor Ort und das Entwicklungspotenzial des Quartiers implizit und explizit beeinflussen? Die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bildet eine ethnografische Untersuchung des diversitätsgeprägten urbanen Raums Lessingplatz in Düsseldorf Oberbilk. Oberbilk ist ein gewachsener, innerstädtisch gelegener, ehemaliger Arbeiterstadtteil, der im öffentlichen Diskurs ambivalent wahrgenommen und zwischen den Schlagworten ‚Underdog‘ und ‚Brennpunkt‘ diskutiert wird.1 Ein Ort, der seit jeher durch Diversität und Mobilität geprägt ist und damit auch ein hohes Maß an alltäglichen Irritationen aufweist. Seitens der Stadtentwicklung wurde Oberbilk gegenüber anderen Stadtteilen in Düsseldorf lange Zeit vernachlässigt. Statt die Potenziale der Heterogenität zu fördern, wurde versucht, die Situationen vor Ort unter dem Primat einer bürgerlichen Nutzung kontrollierbar zu machen. Betrachtet man jedoch genauer, wie die unterschiedlichen Nutzer*innen mit der Diversität im urbanen Raum Lessingplatz alltagspraktisch umgehen, so wird deutlich, dass das alltägliche Zusammenleben zwar von Störungen und Irritationen geprägt ist, aber dennoch funktioniert. Die Stadtbewohner*innen verfügen über ein breites Repertoire an Vielfaltsverarbeitungsroutinen und Platzierungsmechanismen, die in Anlehnung an Simmel (1903), Bahrdt (1961) und Lindner (2001) als urbane Kompetenzen bezeichnet werden können und mit denen sie der Komplexität und einer von außen oft angenommenen Unkontrollierbarkeit und Überforderung begegnen.
1Wie
im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch deutlich wird, ist es eine der größten Herausforderungen wissenschaftlicher Forschung, tradierte Diskurslinien, von denen man sich eigentlich abgrenzen möchte, nicht durch das Sprechen und Schreiben darüber zu reproduzieren. Um Diskussionen wiederzugeben und zu erklären, ist es notwendig, die diese Diskussion beschreibenden Termini zu nutzen. Um meine Distanz zu Begrifflichkeiten auszudrücken, werden in dieser Arbeit Anführungsstriche (‚…‘) verwendet. Hervorhebungen werden kursiv kenntlich gemacht.
1 Einführung
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Die zentralen Leitfragen im Forschungsprozess lauteten: • Wie leben Menschen im Quartier alltagspraktisch zusammen? Wie erfolgt die alltagspraktische Verarbeitung von Diversität und Mobilität in der Stadtgesellschaft? Wie gehen die Akteur*innen mit unterschiedlichen Lebensräumen im urbanen Alltag um? Wie gehen die Akteur*innen mit Fremderfahrung und Differenz um? Wann treten Irritationen und Störungen im Alltag auf? Wie werden sie individuell verhandelt? Welche Bedeutung haben sie im Alltagsleben? • Zu welchen Menschen, Orten oder Gruppierungen fühlt sich der/die Einzelne zugehörig und was sind wichtige Bezugspunkte im Quartier? Welche Bedeutung spielt das Quartier überhaupt für die Verortung und Zugehörigkeit der Quartiersbewohner*innen? • Wie wird das alltagsweltliche Arrangement der Quartiersbewohner*innen durch Vertreter*innen formaler Strukturen aufgenommen? Wie wirken sie auf das Zusammenleben ein? Wie modifizieren, ordnen oder normieren sie das städtische Gesamtarrangement? Theoretisch knüpfen die Leitfragen dieser Arbeit an grundsätzliche Überlegungen an, wie Zusammenleben in urbanen Ballungszentren unter stetigem Wachstum und damit verbundener zunehmender Dichte und Diversität nachhaltig und inklusiv gestaltet werden kann. Neben ganz pragmatischen städtebaulichen Überlegungen etwa zur Schaffung von Wohnraum und der Gestaltung öffentlicher Räume steht im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs immer wieder die lebenspraktische Frage im Vordergrund: Wie können Menschen aus unterschiedlichen Milieus und mit unterschiedlichen Lebensstilen konfliktfrei neben- oder miteinander auskommen? Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Diversität und dem Umgang mit Anderem und Fremdem im städtischen Raum. Vielfalt wird in diesen Debatten – so eine leitende Annahme in dieser Arbeit – meist extrem paradox verhandelt. Einerseits wird Vielfalt z. B. im Stadtmarketing bewusst als ein wertvolles Merkmal und Verkaufsargument herausgestellt und damit in einem positiven Sinne verbesondert (Globetrotter, der globale Jetset, Internationaler Standort, größte Japanische Community, etc.). Andererseits wird das Fremde stets auch als Problem diskutiert und in einem negativen Sinne verbesondert: Die gleiche bunte Farbenpracht, die zuvor noch als kreativitätsbeförderndes und lässiges urbanes Phänomen gefeiert wird, wird dann als überfordernd, chaotisch und bedrohlich beschrieben (Parallelgesellschaft, Ghetto, ‚Kriminelle Asylbewerber‘, etc.) (vgl. dazu Bukow 2010, 2017; Bukow et al. 2001; Römhild 2009, 2011, 2014; Yildiz 2012, 2017; Terkessidis 2005; Bauman 2016). Ob Diversität aber nun bejubelt oder verteufelt wird: Statt die konstitutive Normalität von
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1 Einführung
Vielfalt anzuerkennen, avanciert sie in beiden Fällen zu etwas Außergewöhnlichem, wobei häufig die (unausgesprochene) Ahnung mitschwingt, man müsse nur an dieser einen Schraube drehen und es würden sich alle oder zumindest die meisten gesellschaftlichen Probleme auf einen Schlag lösen. Diese Dialektik zwischen gewollter/guter Diversität versus ungewollter/schlechter Diversität gilt es im Folgenden zu berücksichtigen und deren Auswirkungen auf das urbane Zusammenleben hervorzuheben. Im Mittelpunkt öffentlicher Debatten steht aus einer problemorientierten Perspektive oftmals nicht das, was im Alltag sehr gut funktioniert, sondern nur das, was davon abweicht und nicht funktioniert (vgl. dazu kritisch Yildiz 2018; Bukow 2016). Dies führt zu einer isolierten Konfliktdebatte, die die alltagspraktisch funktionierenden Phänomene als Referenzrahmen ignoriert und deshalb zu sozial indifferenten bis kontraproduktiven Lösungen tendiert (vgl. Berding et al. 2018). Doch sind die mitunter kontraproduktiven, einseitig gedachten stadtpolitischen Lösungen, die aus der defizitorientierten Sichtweise abgleitet werden, nicht das einzige daraus resultierende Problem. Durch die stetige Markierung der Abweichung werden sich reproduzierende Verbindungslinien zwischen der Krise der Stadt und vermeintlich krisenauslösenden Personen(gruppen) gezogen. Die Marginalität und Randständigkeit eines Stadtteils wird dann mit der Marginalität und Randständigkeit bestimmter, häufig ethnisch markierter Gruppen verknüpft. Von diesen Desintegrations- und Abwertungsprozessen sind vor allem Gruppen betroffen, die nicht selten bereits benachteiligt sind, weil sie, etwa aufgrund ihres geringeren sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals, weniger Möglichkeiten zur Platzierung und zur Einforderung ihres Rechts auf Stadt haben als voll inkludierte Gesellschaftsmitglieder (vgl. kritisch dazu Lanz 2007, 2015, 2016; Römhild 2014; Hess und Moser2009; Tsianos 2009; Butterwegge 2004). Die vorliegende Arbeit möchte einen solchen problemorientierten, negativistischen Zugang vermeiden und nimmt daher gezielt Praktiken in den Blick, die – unter dem Vorzeichen der kompakten Stadt – auf die positiven Entwicklungen in heterogenen Quartieren verweisen. Im Fokus stehen die für den urbanen Raum typischen, nicht unmittelbar formellen, alltäglichen Arrangements, die sich in der Alltagspraxis der Bevölkerung bewährt haben (vgl. Hess und Moser 2009; Römhild 2011). Ich stütze mich damit auf die Tradition alltagssoziologischer Forschung, die insbesondere mit Schütz und Luckman (1984), Berger und Luckman (1966), Goffman (1959) und Garfinkel (1967) Eingang in die ethnografische Forschung gefunden hat. Die Verfremdung vertrauter Verhaltensweisen und die Fokussierung des ‚ethnografischen Blicks‘ auf die praktisch-impliziten Prozesse des Zusammenlebens bilden die Voraussetzungen in diesem Forschungsparadigma, auf das ich mich in dieser Arbeit beziehe.
1 Einführung
5
Die Identifikation von bewährten Alltagspraktiken ist aus meiner Sicht von höchster gesellschaftspolitischer Relevanz. Zwar ist Urbanität weltweit längst zum dominierenden Narrativ avanciert, aber die Alltagspraktiken der Stadtbewohner*innen und die damit verknüpften Handlungspotenziale, die diese Urbanität erst zukunftsfest machen, wurden, abgesehen von einigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und politischen Initiativen (z. B. HABITAT III), bislang viel zu wenig in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gerückt. Mit der zunehmenden Verdichtung der Großstädte wird eine bewusst gestaltete, komplexitätsangemessene Urbanität jedoch immer wichtiger. Eine die Lebenswirklichkeit abbildende Perspektive ist nötig, um die Verflechtungen gesellschaftspolitischer Faktoren im urbanen Raum identifizieren und für eine integrale, soziale und nachhaltige Stadtentwicklung nutzbar machen zu können. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive reicht es daher nicht aus, auf die bestehenden Probleme in der Stadt und im urbanen Zusammenleben hinzuweisen (Integrationsdebatte, Spaltung der Städte, Zersiedlung, Umweltfolgen großflächiger Mobilität usw.). Es ist im Gegenteil eine die unterschiedlichen Facetten der Diversität aufgreifende Diskussion nötig, die die Potenziale urbanen Zusammenlebens herausstellt. Im Rahmen postmigrantisch und postkolonial geprägter Debatten beginnen sich allmählich neue Facetten der Stadtplanung abzuzeichnen, in der Diversität und Mobilität als Bedingungen und Ressourcen nachhaltiger stadtgesellschaftlicher (Selbst-)Organisation in den Vordergrund gerückt werden. Im deutschsprachigen Raum werden etablierte Programme, wie etwa das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt, zunehmend kritisch betrachtet und stattdessen Perspektiven einer integralen Stadtentwicklung thematisiert (vgl. dazu Lanz 2015; Hess und Moser 2009). Bislang wird diese Debatte vor allem in Bezug auf Untersuchungen in heterotopischen Räumen geführt, z. B. über die Kölner Keupstraße (vgl. Bukow et al. 2011) oder über die Lerchenfelder Straße (vgl. Heide et al. 2010) und die Ottakringer Straße in Wien (vgl. Dika et al. 2011). Zentral ist dabei die Betonung des konstruktiven Umgangs mit Mobilität und Diversität und die Fokusverschiebung von ‚Integrationsdefiziten‘ auf die längst entwickelten Stärken eines gemeinsamen diversitätsgeprägten Alltags im urbanen Zusammenleben (vgl. Römhild 2014; Yildiz 2017; Gilroy 2004; Noble 2013; Sassen 2008; Bukow 2018). Widersprüche, Konflikte und Störungen werden in diesen Arbeiten als konstitutiver Teil städtischen Lebens aufgefasst: „Die für die (Selbst-) Organisation großstädtischen Lebens konstitutive Urbanität macht darauf aufmerksam, dass es nur asymmetrische Gleichgewichtszustände gibt. Die Stadt ist im Gleichgewicht, wenn sie die kulturelle Kraft aufbringt, Ungleichgewichte auszuhalten“ (Hasse 2014, S. 142).
6
1 Einführung
Diese Arbeit schließt an diese Debatten unmittelbar an. Zugrunde gelegt werden insbesondere praxeologische und stadtanthropologische wie -soziologische Ansätze (vgl. u. a. Löw 2001; De Certeau 2006; Schroer 2006; Bukow 2010).
1.1 Zum Aufbau der Arbeit Die vorliegende ethnografische Untersuchung ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil dieser Arbeit (Kap. 1–4) lege ich die gesellschaftstheoretische Basis der vorliegenden Untersuchung dar. Das grundlegende, alle theoretischen Teilaspekte überbauende Gerüst ist das städtische Zusammenleben in der Diskussion. Dabei gliedert sich der theoretische Teil in zwei Themenkomplexe. Erstens werde ich in Kap. 2 auf die Aspekte der diversitätsgrundierten Stadt eingehen. Dazu umreiße ich zunächst die wissenschaftliche Diskussion, die die Entstehung der großen Städte zwischen Verfallssemantik und anziehendem Agglomerat begleitet. Im Anschluss daran stelle ich einerseits die städtische Anonymität und andererseits den Fremden als im Simmelschen Sinne neutrale Figur des städtischen Lebens als zentrale Grundkonstituenten globalisierter, mobilitäts- und diversitätsgeprägter Städte heraus. Im Anschluss daran werfe ich einen differenzlogischen Blick auf das städtische Zusammenleben. Die Herstellung von Differenz ist ein trivialer Prozess im Alltagshandeln des Individuums (Hall 2008). Der/Die Fremde als anonyme/r Mitbürger*in im urbanen Raum ist eine unhinterfragte Begleiterscheinung städtischen Lebens. Dennoch wird Fremdheit in unterschiedliche Richtungen nutzbar gemacht. Fremdheitsnarrative tragen dazu bei, dass bestimmte Fremdheiten immer wieder als Sonderfälle in den urbanen Alltag eingespeist werden und der/dem Fremden die Inklusion in die Stadtgesellschaft auf diese Weise verwehrt bleibt, bzw. erschwert wird. Die hinter den verbesonderten Fremdheiten stehenden (Macht-)Mechanismen und Konstruktionslogiken sollen aufgezeigt und reflektiert werden. Vor allem mobilitätsspezifische Fremdheitskonstruktionen und darauf bezugnehmende Ethnisierungsprozesse (vgl. Bukow und Llaryora 1988) werden hier fokussiert, da sie im Stadtgefüge eine besondere Dynamik entwickeln. Die theoretischen Ausführungen verweisen darauf, dass diversitätsspezifische und insbesondere migrationsspezifische Fremdheit immer wieder als Sonderfall betrachtet und die eigentlich für Städte konstitutive Diversität nicht als ‚stadtinhärent‘ und ‚stadterschaffend‘, sondern als ‚stadtbesonders‘ und mitunter sogar ‚stadtgefährdend‘ behandelt wird. Im Anschluss daran folgt schließlich ein Blick darauf, wie städtisches Zusammenleben im Spannungsfeld von Differenz und
1.1 Zum Aufbau der Arbeit
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Vielfalt aus unterschiedlichen Richtungen (Segregationsprozesse, Ankunftsstädte, (Ent-)Mischung) gemanagt wird. In Kap. 3 betrachte ich das städtische Zusammenleben aus alltagssoziologischer Sicht. Der Alltag und die für den Alltag besonders relevanten Routinen werden in ihrer Funktion für das urbane Zusammenleben beleuchtet. Die den Alltag überwölbenden drei Säulen der Stadtgesellschaft werden in ihrer Bedeutung für die In- und Exklusion des Individuums in die Stadtgesellschaft hervorgehoben (vgl. Bukow et al. 2001). Daran anknüpfend wird der Prozess der lokalen Verortung und Platzierung als ein zentrales Bedürfnis eines jeden Individuums betont und die Bedeutsamkeit der Möglichkeit lokaler Platzierung in komplexen Gesellschaften dargestellt. Im Anschluss daran definiere ich den öffentlichen Stadt-Raum als relationales, durch menschliche Praxis entstandenes Gebilde und diskutiere die Rolle des öffentlichen Raums als Begegnungs- und Interaktions- und damit als zentralen menschlichen Handlungs-Raum für das urbane Zusammenleben. In Kap. 4 fasse ich die theoretischen Grundlagen in ihrer Relevanz für die vorliegende Arbeit noch einmal zusammen. Im zweiten Teil dieser Arbeit (Kap. 5–7) stelle ich die konkreten Ergebnisse meiner Feldforschung vor. Dafür wird in Kap. 5 zunächst der methodische Rahmen dieser Arbeit dargelegt. Während einer sechszehnmonatigen Feldforschungsphase (2015–2016) in Düsseldorf-Oberbilk wurde der Stadtteil und im speziellen der umgrenzte urbane Raum Lessingplatz mithilfe verschiedener qualitativer Erhebungsmethoden untersucht. Dazu gehörten systematische und teilnehmende Beobachtungen, teilnarrative und leitfadengestützte Interviews und zahlreiche informelle Gespräche, die neben Textmaterial zum Quartier (Pressestimmen/ Beiträge der Stadt Düsseldorf usw.) die Datengrundlage dieser Arbeit darstellen. Im Methodenkapitel werde ich die unterschiedlichen verwendeten Erhebungsmethoden nach einer kurzen Einleitung in die Ethnografie vorstellen und den Prozess der Datengewinnung, -auswertung und -analyse skizzieren. In Kap. 6 lege ich die Entwicklung Düsseldorf Oberbilks dar. Deutlich wird, dass Oberbilk als ehemaliger Industrie- und Arbeiterstadtteil ein aus Diversität gewachsener Stadtteil ist, der aufgrund seiner Lage und soziokulturellen Zusammensetzung immer schon Stigmatisierungs- und Marginalisierungsprozessen ausgesetzt war, die mittels stadtentwicklungspolitischer Maßnahmen teilweise noch verstärkt wurden. Aktuell zeichnet sich eine zunehmende Attraktivität des Stadtteils ab, da Oberbilk als Stadtteil der kurzen Wege (Nähe zum Hauptbahnhof, Zentrumslage, Nähe zum Volksgarten als grüne Lunge, etc.), aufgrund seiner für Düsseldorf noch verhältnismäßig günstigen Mieten und seines heterogenen Stadtbildes besonders viele Vorteile für das Leben in der Stadt mit sich bringt.
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1 Einführung
In Kap. 7 werden die empirischen Ergebnisse vorgestellt. Entlang der Ortslogiken Alltagsort, Bunter Ort, Umkämpfter Ort und Unsicherer Ort wird die Dynamik, die das Zusammenleben im urbanen Raum Lessingplatz entfaltet, schrittweise aufgefächert und verdichtet. Dabei nehmen die verschiedenen Ortslogiken Bezug auf die unterschiedlichen Repräsentationen des Ortes, die ich aus den Stimmen der Bewohnerschaft, aus meinen Beobachtungen und aus dem urbanen öffentlichen Diskurs abgeleitet habe. Die Ortslogiken umfassen sowohl die inneren Repräsentationen, d. h. die individuellen Wahrnehmungen und Aneignungen der Bewohner*innen, als auch die Repräsentationen des Stadtteils von außen, etwa die Darstellung des Stadtteils im urbanen Diskurs. Dabei verschwimmen die Repräsentationen von außen mit den inneren Wahrnehmungen der Bewohner*innen und stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Die Ortslogiken sind nicht als geschlossene, aufeinander aufbauende Einheiten zu verstehen. Vielmehr greifen sie ineinander über. Sie können zwar als abgeschlossene Kapitel gelesen werden, sind aber durch vielfältige Verbindungslinien miteinander verknüpft. Die Komplexität der Darstellung spiegelt insofern die Komplexität des städtischen Lebens wider, das sich nicht immer linear wiedergeben lässt. In Kap. 8, das den dritten Teil dieser Arbeit bildet, werden die Ergebnisse abschließend zusammengefasst und die Bedeutung der Befunde im Hinblick auf den Umgang der wissenschaftlichen und stadtpolitischen Akteur*innen mit einer postmigrantischen Gesellschaft diskutiert. Das Kapitel endet mit einem Ausblick auf das Quartier als Referenzrahmen für Forschung und Praxis.
1.2 Meine Arbeit als Ausschnitt eines dynamischen Quartiers „Allgemeiner formuliert heißt das, dass sich in jeder Stadt spezifische Wissensbestände herausbilden, die auf habitualisierter Erfahrung basieren und in Benennungen münden. Im Prozess des Vertrautwerdens mit einer Stadt bilden sich Erfahrungsgemeinschaften heraus, die Regelzusammenhänge vor Ort kennen und ihnen Sinn zuschreiben, die diese Erfahrung in Wort und Bild jedoch auch verbreiten. Dieser Prozess der existenziellen Bezogenheit auf die Stadt kann als „Eigenlogik der Städte“ auf den Begriff gebracht werden (…). „Eigenlogik“ erfasst praxeologisch die verborgenen Strukturen der Städte, als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnformung mitsamt ihrer körperlich-materiellen Einschreibung (vgl. zur „praktischen Logik“ Bourdieu 1976, S. 228 ff.). In diesem Sinne bezeichnet „Eigenlogik“ auch eine Konstellation spezifisch zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, mittels derer
1.2 Meine Arbeit als Ausschnitt eines dynamischen Quartiers
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sich Städte zu Sinnprovinzen (Berger und Luckmann 1980, S. 28 ff.) verdichten. Eigenlogiken werden in regelgeleitetem, routinisiertem und über Ressourcen stabilisiertem Handeln permanent aktualisiert und gegebenenfalls mehr oder weniger spürbar (wiederum „eigenlogisch“, das heißt auf eine für die jeweilige Stadt typische Weise) verändert“ (Löw 2011, S. 63 f.).
Stadtteilgeschichten gibt es mittlerweile viele. Zu nennen sind zum Beispiel die Forschungsarbeiten von Franz Voll (2016) zu Duisburg-Marxloh, von Estar Baumgärtner (2009) zum Mannheimer Jungbusch oder von Sonja Preißing (2016) zu Köln-Porz, aber auch die Arbeiten österreichischer Forscher*innen zu einzelnen Straßenzügen in Wien oder Innsbruck (Dika et al. 2011; Heide et al. 2010). Trotzdem ist jeder Stadtteil in seiner Eigenlogik anders und bedarf eine diese Eigenlogik erfassende und berücksichtigende Forschung. Die Eigenlogik Oberbilks und die Dynamiken rund um die Prozesse des Zusammenlebens, die in der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen werden, können mit den gewählten ethnografischen Forschungsmethoden umfassend und detailliert analysiert werden. Die Forschungsfragen dieser Arbeit sind durch das gewählte ethnografische Vorgehen beantwortbar. Nichtsdestotrotz habe ich in meiner Arbeit dynamische, das heißt, sich stetig wandelnde Prozesse in den Blick genommen. Denn der urbane Raum Lessingplatz verändert sich als ein von starker Mobilität und Diversität geprägter Raum natürlicherweise stetig. Diese Arbeit kann damit also nur ein Ausschnitt aus einem dynamischen, sich stets wandelnden urbanen Alltag sein. Eine Arbeit über einen Stadtteil wie Oberbilk zu schreiben ist kein leichtes Unterfangen, wie ich während meiner Forschungsphase im Stadtteil erfahren musste. Oberbilk polarisiert in jeglicher Hinsicht. Die einen loben den Stadtteil als buntes Mosaik, die anderen bewerten den Stadtteil als ‚sozialen Brennpunkt‘ mit unendlich vielen Problemen. In meiner Rolle als Forscherin habe ich versucht, meinem Objektivitätsanspruch gerecht zu werden und mich nicht von den in den Medien zumeist negativen und, seltener, positiven Berichterstattungen beeinflussen zu lassen. Ich wollte mir ein eigenes Bild vom Stadtteil und seiner Eigenlogik machen und die alltäglichen Strukturen im Quartier beobachten und erfragen, um so die eigene Atmosphäre (vgl. Hasse 2014; Wildner 2003) des Stadtteils aufspüren. Dies ist ein sehr herausfordernder Prozess, da die Menschen im Stadtteil, mit denen ich in Kontakt getreten bin, mir als Forscherin unterschiedliche Erwartungen entgegengebracht haben. Für manche war ich die Hoffnungsträgerin, die am Ende der Forschung alle Probleme im Stadtteil gebündelt aufdecken und Lösungen bereitstellen kann. Für einige war ich wiederum nur eine weitere Person unter vielen, die sich mittlerweile für den Stadtteil
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1 Einführung
interessieren, in dem doch alles einfach ganz „normal“ abläuft. Für wieder andere war ich eine Person, die sich die individuelle Lebensgeschichte anhörte und sich mitreißen ließ, mitzulachen oder mitzuweinen. Im Laufe des Forschungsprozesses lernte ich die unterschiedlichsten Akteur*innen im Stadtteil kennen. Zu einigen hatte ich im Rahmen meines Forschungsprozesses immer wieder Kontakt und es hat sich ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufgebaut. Doch gerade als Forscherin geriet ich oftmals auch in einen Rollenkonflikt. So habe ich erste Forschungsergebnisse beispielsweise im Rahmen unterschiedlicher Veranstaltungen (Bürgerforen, politischen Veranstaltungen, Runder Tisch, Vorträge) vorgestellt. Mit zunehmender Zuspitzung meiner Ergebnisse kamen schließlich auch Konflikte mit unterschiedlichen Akteur*innen auf. Mir wurde vorgeworfen, die Probleme im Stadtteil zu beschönigen, bzw. die unsichtbaren Grenzen, die es doch im Stadtteil gebe, auszublenden und damit zentrale Probleme im Stadtteil zu verharmlosen. Mit diesen Kritiken umzugehen, war für mich sehr belastend, da ich das zu unterschiedlichen Akteur*innen aufgebaute Vertrauensverhältnis nicht zerstören wollte. Im Nachhinein spiegelten diese Prozesse in meinen Augen jedoch genau das Dilemma wider, das aus einer dekonstruktivistischen Forschungsarbeit – in der stärker das Funktionierende, Triviale und Banale dargestellt und hegemoniale tradierte Deutungslinien dekonstruiert werden – resultiert: Natürlich hat die Beobachtung dessen, was im „Dauerablauf des Alltags“ (Bukow et al. 2001) funktioniert, für den Einzelnen kaum Bedeutung: Es funktioniert ja! Das Störende, das Irritierende, das, was aus dem Dauerablauf des Alltags herausfällt, erlangt stets besondere Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ist das Nicht-Funktionieren für viele Aktuer*innen im Stadtteil auch Lebensgrundlage, etwa, wenn sie sich für dort verortete ‚benachteiligte Personen(gruppen)‘ einsetzen und diese unterstützen. Herauszustellen, was funktioniert, ist also nicht für alle Menschen im Stadtteil gleich relevant. Und genau an dieser Stelle kommt die Relevanz dieser Arbeit zum Ausdruck. Das Funktionierende in den „Niederungen des Alltags“ (Yildiz 2017) muss in seiner Bedeutung für das Zusammenleben stärker herausgearbeitet und dialogisiert werden. Denn es zeigt, wozu Stadtgesellschaft fähig ist und was sie aus sich heraus kann. Das Wissen um diese vorhandenen urbanen Kompetenzen kann die Stadtgesellschaft nur stärken. Natürlich werden in dieser Arbeit auch Konflikte im öffentlichen Raum sichtbar, denn diese werden, wie oben bereits angedeutet, als normaler Bestandteil städtischen Lebens betrachtet. Auch die Probleme im Stadtteil Oberbilk sollen in keiner Weise verschwiegen werden, nur die Perspektive auf sie soll eine sozial adäquate sein:
1.2 Meine Arbeit als Ausschnitt eines dynamischen Quartiers
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a) Die Probleme sollen nicht über den Dingen stehen, die funktionieren. b) Wenn Probleme aufgegriffen werden, dann auch in den für die Probleme relevanten, sie erzeugenden und interpretierenden Zusammenhängen. Die Forschung in einem und über einen Ort, der den dort lebenden Menschen viel bedeutet, den sie lieben oder an dem sie sich reiben, in dem sie sich verorten und ihren Alltag – also einen bedeutsamen Teil ihres Lebens – gestalten, ist komplex und manchmal schwierig. Am Ende ist es schwierig, den unterschiedlichen Erwartungen, die mit den verschiedenen Ortsrepräsentationen der Bewohner*innen zusammenhängen, gerecht zu werden. Ich hoffe trotzdem, dem Stadtteil Oberbilk mit meiner Arbeit zumindest insofern gerecht zu werden, als ich mit meinem Blick auf den Stadtteil, der durch zahlreiche Beobachtungen und Gespräche sowie Interviews mit Bewohner*innen geschärft wurde, eine differenzierte Perspektive auf Oberbilk bieten kann. Dennoch ist diese Arbeit natürlich (nur) ein Ausschnitt, sie ist eine Momentaufnahme eines dynamischen Stadtteils.
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Die diversitätsgrundierte Stadt
„Dass Stadtentwicklung und Urbanität ohne Migration nicht denkbar sind, grenzüberschreitende Migrationsbewegungen wesentlich zur Kosmopolitisierung und Pluralisierung unseres Alltags beigetragen haben und Sesshaftigkeit über mehrere Generationen eher der Ausnahmefall ist, scheint bisher im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen zu sein […]. Der Umgang mit Migration wird bisher von geradezu mystischen Konzepten wie ‚Integration‘, ‚ethnische Identität‘ oder ‚multikulturelle Gesellschaft‘ bestimmt“ (Yildiz 2009, S. 153). „Die Frage nach der Integrationsfähigkeit der Stadt wird in letzter Zeit vermehrt auch in wissenschaftlichen Debatten und Publikationen gestellt. Im Zentrum stehen sozialräumliche Polarisierungen infolge von wirtschaftlichen und politischen Globalisierungsprozessen, verstärkte Segregation, die Entstehung und die Auswirkungen benachteiligter Stadträume und die Gefahren zunehmender Migration für den Zusammenhalt von Stadtgesellschaften“ (Fretz 2011, S. 1).
Städte sind Anziehungspunkte und vor allem Newcomer*innen1 zieht es in die urbanen Zentren, wo sie ihre Chancen auf Arbeit und Selbstverwirklichung suchen (vgl. Schmal et al. 2016, S. 67). Laut Statistiken des Bundes und der Länder hat jeder Vierte in Deutschland einen sogenannten ‚Migrationshintergrund‘.2
1In
der vorliegenden Arbeit verwende ich den Begriff Newcomer*innen für Menschen, die kürzlich landes-, stadt- oder quartiersweite Umzüge vollzogen haben. Um Menschen nicht auf ihr ‚migrantisch sein‘ festzuschreiben oder ihnen ‚Wurzeln‘ anzudichten, distanziere ich mich in der vorliegenden Arbeit von Begriffen wie beispielsweise ‚Person mit Migrationshintergrund‘. 2https://www.demografie-portal.de/SharedDocs/Informieren/DE/ZahlenFakten/Bevoelkerung_Migrationshintergrund.html;jsessionid=40D31D9A4607BC764F07097DB641A7EA.2_ cid389 vom 10.08.2017. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Berding, Alltag im urbanen Quartier, Interkulturelle Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29293-5_2
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
igrationsbedingte Diversität ist also der städtische Normalfall. Dabei setzen Städte M Diversität bewusst in Szene. Sie präsentieren und inszenieren sich als internationale, multikulturelle Zentren, wie auch das Beispiel Düsseldorf zeigt: „Weltoffenes Düsseldorf, sympathisch international: Rund 40 konsularische Vertretungen und über 30 ausländische Handelskammern und Außenhandelsorganisationen erleichtern in Düsseldorf Wirtschaftskontakte und fördern das Geschäftsklima. Einen besonderen Stellenwert unter den Ländern hat Japan, für das seit vielen Jahren der Wirtschaftsraum Düsseldorf mit 480 Firmen in Europa der wichtigste Standort ist. Die Zahl chinesischer Unternehmen entwickelt sich rasant, 340 sind zurzeit in Düsseldorf ansässig“ (Homepage Stadt Düsseldorf).3
Vielfalt wird hier als ein positives Format präsentiert, dessen Lifestyle für ein lebenswertes Zusammenleben nutzbar gemacht wird und dessen politische und ökonomische Auswirkungen in den Vordergrund gerückt werden. Römhild (2014) stellt fest, dass nicht mehr nur das Multikulturelle, sondern auch die „ökonomische Bereicherung“ der „kreativen Stadt“ den Begriff der Diversität markiert (vgl. ebd., S. 257). Im Umgang mit migrationsspezifischer Diversität wird hier jedoch ein Widerspruch sichtbar: Zwar wird Diversität als urbanes Phänomen z. B. für das Stadtmarketing nutzbar gemacht (die internationale Stadt; die multikulturelle Stadt; die Stadt, die Vielfalt lebt; die offene Stadt; die Stadt der vielen Kulturen etc.), doch so wie Diversität in einem positiven Sinne verbesondert wird, um bestimmte politische, gesellschaftliche oder ökonomische Ergebnisse zu erzielen, wird sie häufig auch in der gegenteiligen Weise negativ verbesondert – etwa, wenn Fremde diskriminiert und stigmatisiert werden. Diese Problematisierungen finden sich jedoch nur selten in den Hochglanzbroschüren, mit denen die Städte für sich als Wirtschafts- und Tourismuszentren werben, sondern sie sind an vielfältigen Stellen im öffentlichen Diskurs verankert und wirken sich über den Diskurs unmittelbar auf das Alltagsleben der Bewohner*innen aus. Unter diesen Prämissen wird der Zuzug von Newcomer*innen, vor allem derjenigen, die vielleicht zunächst Hilfe aus dem Sozialsystem benötigen, zumeist als Herausforderung oder sogar Problem verstanden: „Die Heterogenität der Städte wird in Deutschland per se als Niedergang betrachtet – der Blick richtet sich kaum einmal auf das, was funktioniert, sondern grundsätzlich auf das Problematische“ (Terkessidis 2005, o. S.).
3https://www.duesseldorf.de/en/touristik/duesseldorf-vom-fischerdorf-zur-metropole.html
2 Die diversitätsgrundierte Stadt
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Im folgenden Kapitel wird der städtische Raum in seiner Entwicklung und in seinen zentralen Eigenschaften beschrieben. Migrationsbedingte Diversität, so eine leitende Grundannahme dieser Arbeit, ist für das Entstehen großer Städte konstitutiv. Vor diesem Hintergrund skizziere ich, wie die eigentlich konstitutive Vielfalt in den Städten immer wieder verbesondert wird und zwischen einer guten und einer schlechten mobilitätsbedingten Vielfalt unterschieden wird. Mit dem Narrativ der „desintegrativen Ethnizität“ (Tsianos 2013, S. 32), das heute noch in hohem Maße die „urbanistische Wissensproduktion“ (ebd., S. 58) prägt, werden kulturelle Unterschiede immer wieder für sozialräumliche Problemlagen verantwortlich gemacht (vgl. Mecheril et al. 2010; Ronneberger und Tsianos 2009). So werden ökonomische, räumliche und soziale Problemlagen auf Ethnizität und Migration zurückgeführt; die eigentlichen Gründe (Stigmatisierung und Diskriminierung) sowie hegemoniale Deutungsmuster finden hingegen kaum Berücksichtigung (vgl. Lanz 2007, 2016). Um diese Zusammenhänge deutlich zu machen, muss in einem kurzen historischen Abriss zunächst die Entstehung der Großstadt skizziert (Abschn. 2.1) und das daraus resultierende, konstitutive Phänomen der hier aus einer neutralen Sicht heraus betrachteten großstädtischen Fremdheit dargestellt werden (Abschn. 2.2). In Anlehnung an die Überlegungen von Georg Simmel soll deutlich werden, dass das Zusammenleben auf Basis von Fremdheit selbstverständlich organisiert wird. Darauf aufbauend werden Fremdheitsnarrative in den Blick genommen (Abschn. 2.3). Denn die in Abschn. 2.2. als konstitutiv für das städtische Zusammenleben herausgearbeitete Fremdheit wird im gesellschaftspolitischen Diskurs immer wieder verbesondert und zur Exklusion bestimmter Gruppen nutzbar gemacht (Abschn. 2.3.1). Derartige Fremdheitskonstruktionen werden in der vorliegenden Arbeit als Fremdheitsnarrative bezeichnet, da sie oftmals manifeste Wahrnehmungsmuster sind, die sich aus hegemonialen Deutungsstrukturen gebildet und verfestigt haben. In aller Regel stammen sie aus dem Fundus nationalistischer Narrative, die ‚Ausländer‘, ‚Fremde‘ oder kulturelle, bzw. religiöse Minderheiten verbesondern und in gute versus schlechte Vielfalt und Migration differenzieren (Abschn. 2.3.2). Ein umfassendes Diversitäts- und Migrationsregime, also ein vielfalts- und migrationsspezifisches Managementsystem, strukturiert, reproduziert, institutionalisiert und veralltäglicht diese Sicht auf Migrationsprozesse. Diversität wird damit essentialisiert und nationalistisch imprägniert. Die Adressat*innen einer vermeintlich ‚schlechten‘ Diversität werden auf die Weise als homogene Gruppe ethnisiert, mit der Folge, dass sie als „urbane Andere“ (Preißing 2016) manifestiert werden (Abschn. 2.3.3). Obwohl migrationsbedingte Mobilität ein triviales und alle Lebensbereiche durchdringendes globales Phänomen ist, das sich in den unterschiedlich fragmentierten
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
Subkulturen im städtischen Raum niederschlägt, wird die daraus resultierende Diversität in gegenwärtigen postmodernen Gesellschaften nicht weniger verbesondert. Es zeigt sich eher, dass Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozesse noch an Schärfe gewonnen haben. An diese Überlegungen anschließend arbeite ich eine sozialwissenschaftliche und öffentliche Diskursebene heraus, auf der das diversitätsgeprägte Zusammenleben eher problematisierend beschrieben wird – mit häufig negativen Folgen für die diverse Gesellschaft und die Träger*innen dieser Diversität (Abschn. 2.4). Besondere Aufmerksamkeit erlangt hier die sozialräumliche Segregation, genauer die „wirkmächtige Ideologie“ (Tsianos 2013) der räumlichen Abschottung der ‚ethnisch‘ Anderen, die ihre Ausgrenzung angeblich selbst verschulden und darüber hinaus den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt ins Ungleichgewicht bringen (Abschn. 2.4.1). Die Sichtweisen auf Segregationsprozesse sind vielschichtig und divers, etwa wenn zunehmend auch die Potenziale segregierter Stadtteile als Arrival Cities ins Blickfeld genommen werden. Allerdings zeigt sich auch aus diesem Blickwinkel oft noch eine binäre Logik zwischen dem nationalen Wir und den fremden Anderen, wenn die Einwander*innen jetzt zu erfolgreichen Held*innen stilisiert werden, die auf wundersame Weise ihre Wege suchen, um sich in irgendeiner Form (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) in der Gesellschaft zu platzieren. Dadurch erhält das Bild, das von den Anderen gezeichnet wird, zwar schönere Farben, verändert aber nicht den „naiven und gefährlichen Empirismus“ (Tsianos 2013, S. 32). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gehe ich kurz auf die Transformation des städtischen Raums durch demografische, ökonomische und soziokulturelle Faktoren ein, die unter dem Schlüsselbegriff der Urbanität oder dem Label der urbanen gemischten Stadt diskutiert werden. Viele der sogenannten urbanen Zentren werden zunehmend attraktiv für die unterschiedlichsten Bevölkerungsteile und die innerstädtischen Gebiete erfahren eine Aufwertung. In einem Exkurs ‚Ankunftsquartiere‘ sollen deshalb kurz die aktuellen Herausforderungen diskutiert werden, die sich aus diesen Entwicklungen für das Zusammenleben ergeben (Abschn. 2.4.2). Die skizzierten Überlegungen verdeutlichen eine für die Untersuchung insgesamt fundamentale Grundannahme: Sie zeigen auf, dass die Sichtweise auf das diversitätsgeprägte städtische Zusammenleben von einem ethno-natio-kulturellen „Repräsentationsregime“ (Hall 2008) geprägt ist, das sich aus der Differenz zum (u. a. nationalen) Anderen heraus konstruiert. Dies führt zu einer „diskursiven und ideologischen Schließung“ der Stadtgesellschaft (ebd., S. 130), die wiederum dazu führt, dass nicht alle Stadtbewohner*innen gleichermaßen ihr „Recht auf Stadt“ (Lefebvre 2016) ausleben können.
2.1 Urbanisierungsdynamik und ihre Kritiker
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2.1 Urbanisierungsdynamik und ihre Kritiker „Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein“ (Rilke 1996, S. 455 f.).
Paris wird in R.M. Rilkes Roman Malte Laurids Brigge zu einem Ort des Elends und des Lärms, der Entindividualisierung, Verdorbenheit und Anonymität. Die überfordernden Reize der pulsierenden Großstadt, die selbst in der Nacht noch auf den Protagonisten einstürzen, stoßen ihn gleichermaßen ab, wie sie ihn anziehen. Die Großstadt war und ist Sehnsuchtsort und überfordernder Moloch zugleich, Zielscheibe beißender Kritik und Adressatin überschwänglichen Lobes. Je mehr sich das Leben in die Städte verlagerte und damit Missstände wie auch Gegensätze zutage traten, desto größer wurde die Kritik an der Großstadt, deren „Verfallssemantik“ (Bukow und Yildiz 2002, S. 11) trotz des Lobes bis heute fortwirkt und den Blick auf die Stadt prägt. Mit der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Bevölkerungswachstum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auch der Prozess der Verstädterung eingeleitet, ein Begriff, der zunächst nur auf rein „quantitativ meßbare, demographische Veränderungen“ abzielt (Siebel 2015, S. 113).4 Nach dem Ausbau der mittelalterlichen Stadt stagnierte das Wachstum der Städte bis in das 18. Jahrhundert hinein (vgl. Schäfers 1996, S. 23; siehe ausführlich hierzu auch Schulze 2003, S. 26 f.). Charakteristisch für die Verstädterung im Rahmen der Industrialisierung war die enorme Geschwindigkeit des Wachstums. Mit dem quantitativen Zuwachs der Bevölkerung gingen gleichermaßen Veränderungen in der Gesellschaft, im Zusammenleben und der Lebensweise insgesamt einher (Arbeits- und Wohnformen, Infrastruktur und Versorgung, Freizeit. Alltag etc.), die unter dem Begriff der Urbanisierung zusammengefasst werden (vgl. Siebel 2015, S. 113; Häußermann et al. 2004, S. 11 f.).
4Siehe
auch Kap. 6 in dieser Arbeit.
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
Die Verstädterung veränderte das gesellschaftliche Zusammenleben grundlegend. Sie evozierte „fundamentale Veränderungen in praktisch jeder Phase des gesellschaftlichen Lebens“ (Wirth 1974), sei es im Bereich der Arbeit (Arbeitsteilung und Rationalisierung), des Wohnens (Verdichtung des städtischen Wohnraums, Verlagerung des Wohnstandortes) oder der Freizeitgestaltung (Pluralisierung der Lebensstile). Der Lebensmittelpunkt der Bevölkerung verschob sich. War zuvor das ländlich-agrarische Leben die dominierende Gesellschaftsform, so wurde die Stadt schnell zum zentralen Lebensort der Menschen.5 Aufgrund besserer Arbeitschancen zogen große Bevölkerungsteile aus den ländlichen Regionen in die städtischen Agglomerationen, wie das Beispiel Düsseldorf zeigt: Lebten um 1840 nur etwa 35.000 Menschen in Düsseldorf, so verdoppelte sich die Zahl der Einwohner*innen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Textil- und Eisenindustrie in nur 30 Jahren auf über 70.000. Die Hälfte der Einwohner*innen zog aus dem Bergischen Land, aus Preußen sowie Polen und den Niederlanden zu (vgl. Looz-Corswarem 2018, o. S.). Um 1900 betrug die Einwohnerzahl in Düsseldorf bereits 213.711 (vgl. Statistisches Jahrbuch Düsseldorf 2012, S. 49). Mit dem Wachstum veränderte sich auch die Gestalt der Städte, aber eben nicht das gesellschaftliche Format. So musste für eine Vielzahl von Menschen in relativ kurzer Zeit Wohnraum und eine städtische Infrastruktur eigentlich nicht neu geschaffen, sondern ausgebaut werden.6 Das Leben in der Stadt wurde nicht unbedingt mit Idylle assoziiert, wie der oben zitierte Ausschnitt aus Rilkes Malte Lauris Brigge andeutet. Lärm, Dreck, Isolation und Anonymität wurden mit dem Leben in städtischen Zentren gleichgesetzt und obwohl es durchaus Autor*innen gab, die die Freiheit und die Lebenschancen, die die Städte boten, betonten (zum Großstadtlob siehe weiter unten in diesem Kapitel) dominierten eher pessimistische Bestandsaufnahmen und Beschreibungen. Bei vielen Zeitgenoss*innen war die Stadt der Sündenbock für gesellschaftliche Missstände (vgl. Riehl 1854; Mitgau 1941; Tönnies
5Entscheidend
für eine Stadt ist nicht die Größe, sondern das gesellschaftliche Format: Arbeitsteilung, Gewerbe, Vielfalt, eine begrenzte Verweildauer, Platzierung durch Interaktion (auf Basis von Kapitalien). Auf der Basis dieser Prinzipien können Städte Millionen Einwohner aber auch „nur“ einige tausend Einwohner*innen haben. Werden diese Prinzipien vernachlässigt, löst sich das gesellschaftliche Format zunehmend auf: – durch Kriege, Konflikte oder Abwanderung unabhängig von der Größe der Stadt – bei der Kleinstadt und dem Quartier genauso wie bei Megacities. 6Welche zum Teil negativen Auswirkungen diese Entwicklungen für einige Arbeiter- und Industriestadtteile hatten, wird in Kap. 6 am Beispiel Düsseldorf-Oberbilk beschrieben.
2.1 Urbanisierungsdynamik und ihre Kritiker
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1887, Wirth 1974 [1938]). Wilhelm Heinrich Riehl hatte mit seiner Großstadtkritik „Naturgeschichte des Volkes“ (seit 1850) eine besonders „große Wirkung auf das bürgerliche Bewußtsein in Deutschland“ zu dieser Zeit (Bahrdt 1961, S. 14). Riehl nimmt den klassischen stadtbürgerlichen Blick ein, mit dem die Stadt nicht als Gesellschaft, sondern als eine patriarchalisch geleitete Großfamilie betrachtet wird. Er beschreibt die Beseitigung der traditionellen und für eine funktionierende Wertegemeinschaft essenziellen Familienbande, aber auch die Zerstörung der Natur durch die Städte und prophezeit deren Untergang: Die „Welt der Großstädte“ werde „zusammenbrechen und diese Städte (…) als Torsos stehen bleiben“ (Riehl 1854, hier zitiert nach Bahrdt 1961, S. 60). Der Gegensatz zwischen dem ländlich-agrarischen und dem städtischen Leben wurde von den Großstadtkritikern immer wieder aufgegriffen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die Vorstellung vom Zusammenhalt im Leben auf dem Land mitunter auch stark romantisierend war: „Die moderne Verstädterung löst die Reste der Großfamilie […] in Einzel- und Kleinfamilien auf, ja zu Zeitfamilien […] und zu außerehelichen Verbindungen. Folgeerscheinungen sind: Schwund der völkischen und kulturellen Funktion der Familie als Lebens-, Gesittungs-, Erziehungs- wie Auslese- und Wirtschaftsgemeinschaft […] Lockerung, ja Zerstörung eines organischen und gesunden Volksaufbaues, Entwurzelung und Heimatlosigkeit ganzer Generationen“ (Mitgau (1941), hier zitiert nach Bahrdt 1961, S. 13).
Die Großstadtkritiker beklagten die Überwindung und den Verlust familiärer Strukturen und Traditionen, die aus ihrer Sicht durch Gemeinschaft, Fürsorge und ein Miteinander gekennzeichnet waren und machen die städtische Isolation und Anonymität für den Verlust von Gemeinschaft verantwortlich. Mit der Vermassung wurde Vereinzelung gleichgesetzt. Aufgrund der enormen Heterogenität der Lebensstile und des schnellen und teilweise chaotischen Wachstums in den Städten, das mit zum Teil miserablen Lebensbedingungen vor allem für die sozial schwächeren Bevölkerungsteile einherging, betonten viele Autor*innen, dass das Leben in Städten nicht zukunftsfähig sei, bzw. früher oder später zur totalen gesellschaftlichen Desintegration führen werde (vgl. Durkheim 1996 [1893]; Wirth 1974 [1938]). Louis Wirth vertrat in „Urbanität als Lebensform“ die Ansicht, dass das Leben in der Stadt zur Auflösung einer „gefühlsmäßigen und seelischen Bande“ führe und den „Geist ständigen Konkurrenzkampfes, eigener Bereicherung und gegenseitiger Ausbeutung“ (Wirth 1974 [1938], S. 55) fördere. Zwar kann Wirth dem Prozess der Individualisierung aufgrund der damit einhergehenden zunehmenden persönlichen Freiheiten auch positive Aspekte abgewinnen, er bezeichnet das städtische Leben aber vor allem als einen Ort „der
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
Vereinsamung, des Zerfalls sozialer Bindungen, des krassen Gegensatzes von Arm und Reich, der Nivellierung und Vermassung“ (ebd.). Für die Emanzipation und Freiheit, die der/die Einzelne im städtischen Leben erlangt, büßt er/sie „moralische Haltung und das Zugehörigkeitsgefühl ein“ (vgl. ebd., S. 52). Ähnlich wie Durkheim (1996 [1893]) ist Wirth der Meinung, dass das gesellschaftliche Zusammenleben in der Stadt zu „anomischen Zuständen“ führt – also zum Verlust der Werte und Normen, die das gesellschaftliche Zusammenleben ordnen. Betrachtet man die Lebenswirklichkeit in den industriellen Stadtquartieren deutscher Großstädte in dieser Zeit, etwa Essen (vgl. Tenfende 2005), Hamburg (vgl. Grüttner 1983), Duisburg (vgl. Sittel 1966),7 so hatte der pessimistische Blick auf das Leben in den Städten durchaus seine Berechtigung. Das Leben vieler Menschen, insbesondere der Fabrikarbeiter*innen, war durch harte Arbeit, Hunger, überfüllte Wohnungen und einen unzureichenden Arbeitsschutz geprägt. Viele Menschen lebten in den überbevölkerten und aufgrund der schnellen und dichten Bebauung viel zu engen Quartieren unter menschenunwürdigen sozialen Bedingungen. „Die Folgen der freien Entfaltung der privatkapitalistischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert haben soziales Elend, den Niedergang tradierter Berufe und Erwerbszweige, Landflucht, ungezügeltes Wachstum in den Städten, wachsende Unzufriedenheit und Kriminalität und nicht zuletzt den Verlust kultureller und religiöser Bindungen zur Folge gehabt“ (Glaeßner 2003, S. 119).
Doch auch wenn die schlechten Lebensumstände einen Teil des städtischen Lebens ausmachten, entsprach der einseitig pessimistische Blick auf die Städte als Orte sozialer Desintegration nicht (nur) den gesellschaftlichen Realitäten. Nicht die Großstadt an sich war Schuld an den sozialen Verwerfungen und katastrophalen Lebensumständen innerhalb der Städte, sondern viel grundlegender das kapitalistische Gesellschaftssystem und die damit einhergehende Industrialisierung.
7Sittel
(1966) beschreibt die Situation in Duisburg bspw. folgendermaßen: „Die Sanierung der Altstadt von Ruhrort ist eine vordringliche Sanierungsmaßnahme zur Beseitigung sozialer und wohnhygienischer Missstände. Diese haben schon längst die Grenzen des Tragbaren überschritten. Man erkennt hier deutlich, dass das Alte durchaus nicht immer schön ist – von den hygienischen Verhältnissen ganz zu schweigen – sondern auch von seiner Kehrseite gesehen werden muss. […] Wer einmal einen Blick über die Türschwelle in die entzauberte Welt der dort wohnenden, geplagten Großstadtinsassen tun darf, dessen Sinne werden betäubt durch erschütternde Eindrücke. Hier leben noch Menschen in einer zivilisatorisch rückständigen Umwelt“ (vgl. ebd., S. 34).
2.1 Urbanisierungsdynamik und ihre Kritiker
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Die Großstadtkritik war damit nur die Projektionsfläche für die Kritik an der Transformation der Zivilisation insgesamt (vgl. Bahrdt 1961). Dass die defizitäre Perspektive auf die Stadt den öffentlichen und auch stadtsoziologischen Blick lange Zeit dominierte, lag mitunter daran, dass sie eine „ideologische Funktion“ besaß, wie Bahrdt (1961) konstatiert. Die Großstadt, hier insbesondere die industrielle Großstadt, wurde seiner Meinung nach schon beklagt, ehe sie wirklich existierte (vgl. ebd., S. 16).8 Auch Oswald (1966) merkte kritisch an, dass die mit der Stadt assoziierte Vorstellung von der Auflösung tradierter Bindungen und Wertesysteme zu einem Kulturpessimismus führte, der im Großstadtleben den Grund eines jeden Übels sah. Natürlich machten sich auch Gegenstimmen zur Großstadtkritik bemerkbar, die Wolfgang Sonne (2014) unter dem Begriff des „Großstadtlobs“ zusammenfasst. Zu denjenigen, die das Stadtleben als besonders lebenswert, reizvoll und farbenfroh wahrgenommen haben, gehörte jedoch insbesondere die bürgerlich-liberale und künstlerisch-bohemienhafte Klientel. Die Pariser Schriftsteller Gustav Kahn (1901) und Emil Magne (1908) beschrieben mit L’Esthétique de la rue und L’Esthétique des villes die besondere Ästhetik des urbanen Großstadtlebens, die im bunten Treiben auf den öffentlichen Straßen und Plätzen kulminierte. Der Großstadtsoziologe Max Rumpf (1931) umriss in „Die Großstadt als Lebensform und in ihrer sozialen Prägekraft“ seine Faszination vom Leben in der Stadt als Ort der vielfältigsten Lebensformen. Der österreichische Architekt Otto Wagner (1911) sah keine Alternative zum Leben in der Großstadt, da sie die meisten Bedürfnisse, die ein Mensch an das Leben stellt, gebündelt vereint (Kultur, Komfort, Zeitvertreib) (vgl. dazu ausführlich Sonne 2014): „Die Anzahl der Großstadtbewohner, welche vorziehen, in der Menge als ‘Nummer’ zu verschwinden, ist bedeutend größer als die Zahl jener, welche täglich einen ‘guten Morgen’ oder ‘wie haben sie geschlafen’ von ihren sie bekrittelnden Nachbarn im Einzelwohnhaus hören will“ (Wagner 1911, S. 7, hier zitiert nach Sonne 2014, o. S.).
Global cities Die aktuellen Debatten um die ‚Spaltung der Städte‘ oder die Angst vor ‚Parallelgesellschaften‘ sowie die Etikettierung bestimmter Orte als ‚soziale Brennpunkte‘ (vgl. Häußermann et al. 2004; Häußermann und Siebel 1980) machen die konfliktorientierte Sichtweise auf das Zusammenleben in der Stadt deutlich.
8Vgl.
hierzu auch Schulze (2003).
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Allerdings hat das Leben in der Stadt trotz aller über die Jahrhundertwende konstatierten Gefahren und Problemlagen nicht an Reiz verloren, denn wäre dem so, würde nicht mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben, Tendenz steigend. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die Städte im Laufe der Zeit zunehmend zu Steuerungszentren wirtschaftlicher, politischer und soziokultureller Zusammenhänge manifestiert haben. Die großen Städte sind zu „Macht- und Kommunikationszentralen“ geworden (Opaschowski 2005, S. 5), zu sogenannten global cities (vgl. Sassen 1991, 2007): „The city here is not a bounded unit but a complex structure that can articulate a variety of crossboundary processes and reconstitute them as a partly urban condition (Sassen 2001). Furthermore, this type of city cannot be located simply in a scalar hierarchy that puts it below the national, regional, and global. It is one of the spaces of the global, and it engages the global directly, often bypassing the national. Some cities may have had this capacity long before the current era, but today these conditions have been multiplied and amplified to the point where they can be read as contriburing to a qualitatively different urban era“ (Sassen 2007, S. 102).
Global cities sind die zentralen Knotenpunkte globaler Netzwerke, in denen die globalen wirtschaftlichen, politischen und sozio-kulturellen flows zusammenlaufen und koordiniert werden: „Financial, migratory, and other cultural flows are concentrated and coordinated in urban centers“ (Pooch 2016, S. 30). Die ökonomische Globalisierung wird zum bestimmenden Referenzrahmen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Sie beeinflusst die Praktiken im urbanen Alltag, die Produktionssysteme, Organisationsprozesse und Finanzmärkte. Aber auch die Steuerung von Mobilitätsprozessen wird mehr und mehr ökonomisch globalisiert (vgl. Sassen 2007, S. 97). Sassen deutet damit einen zunehmenden Machtkampf der globalen Städte an, da unterschiedliche Standortvor- und nachteile (wirtschaftliche, infrastrukturelle usw.) der Städte und Regionen in Erscheinung treten. Dies bedeutet, dass Städte und Regionen zunehmend um die Teilhabe am globalen Netzwerk kämpfen müssen, mit der Folge, dass die global cities immer mächtiger werden und andere Städte und Regionen immer stärker ins Abseits gelangen (vgl. Sassen 2007; Bauman 2005). Sassen (2007) spricht in diesem Zusammenhang von einer „geography of centrality“ (ebd., S. 98). Der Wanderungstrend in die Städte und das stetige Wachstum urbaner Räume bestätigt diese Annahme. Bis heute migrieren große Teile der Bevölkerung in die Städte und bilden global miteinander verflochtene urbane Zentren, die mittlerweile als „the world’s dominant social structure“ (Lehan 1998, S. 287 f.) betrachtet werden können. In der internationalen Stadtforschung werden Städte wie Caracas, São Paulo, Mumbai oder Lagos als Megacities bezeichnet, in denen sich aufgrund
2.1 Urbanisierungsdynamik und ihre Kritiker
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der explosionsartigen Zuwanderung und der damit einhergehenden Veränderung des städtischen Wohnraums große Herausforderungen für das Zusammenleben ergeben (vgl. Heeg 2008, S. 1). Auch hier steht wieder – wie im Entstehen der industriellen Großstadt – die Frage nach der Funktionstüchtigkeit der Stadt im Raum, wenngleich auch die Bedeutung der Stadt für das Zusammenleben nun nicht mehr infrage gestellt werden kann, da die Existenz der/des Einzelnen in gegenwärtigen Gesellschaften unabwendbar mit der Stadt verknüpft ist. Mit anderen Worten: Die Stadt ist alternativlos geworden. Die urbanen Zentren sind „the predominant form of settlement“ (Clark 1996, S. 186). „Während 1950 New York die einzige Stadt war, in der mehr als 10 Millionen Menschen lebten, gibt es heute 25 solcher Mega-Cities. Von manchen Städten nimmt man an, dass sie in den kommenden 20 Jahren ihre Einwohnerzahl erneut verdoppeln werden: Dazu zählt Dhaka in Bangladesch, Lagos in Nigeria und Karachi in Pakistan. Noch wird ein Fünftel der globalen Wirtschaftskraft in wenigen Städten der Industrieländer erarbeitet, aber überall auf der Welt liegt die Produktivkraft eines Landes in den Städten“ (Löw 2010, S. 611).
Mit der Ballung vieler Menschen auf verdichtetem Raum geht auch eine komplexere Regier- und Steuerbarkeit einher. Der hier skizzierte Wandel einiger Städte zu großen urbanen Knotenpunkten, von denen aus die globalen wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen flows gesteuert werden, deutet diesen Transformationsprozess an. Lokale Angelegenheiten werden in der Folge dezentral, das heißt in diesen globalen Steuerungszentren, gelöst. Reproduktion sozialer Ungleichheit Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität, die als konstitutiver Teil der Urbanisierungsprozesse betrachtet werden kann, sind ungleiche Entwicklungen und widersprüchliche Tendenzen verbunden, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte. Der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und die Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse haben „nachhaltige Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen“ (Schimank 2013) bewirkt.9 Mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus ging eine Flexibilisierung der Gesellschaftsstrukturen und damit die Pluralisierung aller Lebensbereiche einher (vgl. Schimack 2013; Beck 1986). Für das Individuum bedeutete die Flexibilisierung größere Möglichkeitsräume der persönlichen Entfaltung. Der
9Vgl.
Sozialer Wandel bei Schimank (2013).
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urbane Raum wurde dadurch zunehmend zu einem Ort, an dem unterschiedliche Lebensstile, Lebenseinschätzungen und Lebensweisen und damit diverse kulturelle Praktiken aufeinandertreffen. Gleichzeitig hat aufgrund technologisierter, automatisierter Produktionsweisen und deren Auslagerung in Entwicklungsländer und aufgrund der Aufspaltung traditioneller Unternehmen eine Flexibilisierung der Produktionsformen stattgefunden (vgl. Bauman 2005). Daraus ergibt sich mehr Spielraum für eine zunehmende Fragmentierung und auch Informalisierung der Arbeit, die für breite Bevölkerungsgruppen allerdings Nachteile mit sich bringt. Auf ökonomischer Ebene wurde durch die Neustrukturierung der Arbeit im Rahmen vereinfachter globaler Mobilität zwar eine sozioökonomische Wohlstandssteigerung der Mehrheitsgesellschaft erreicht, allerdings nicht für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen: „In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangten, ging es für die anderen nach unten“ (Butterwegge 2006, S. 70). Mit der grenzübergreifenden, mitunter freiheitsversprechenden Mobilität und der damit einhergehenden Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte ließ sich eine „Auf- und Abstiegsmobilität“ beobachten (Cudak 2017, S. 62; vgl. auch Chin 2013; Komlosy et al. 1997). Für die einen verspricht der gesellschaftliche Wandel also einen Aufstieg durch bessere Jobchancen, zunehmenden Wohlstand und Bildung, für die anderen wiederum bedeutet er einen sozialen Abstieg durch Arbeit in besonders prekären Verhältnissen: „Nicht die Globalisierung selbst, wohl aber der verbreitete Irrglaube, ihre dominante Erscheinungsform – die ich als neoliberale Modernisierung bezeichne – mehre den Wohlstand aller „Wirtschaftsstandorte“ (Städte, Regionen, Nationen) und sämtlicher Bürger/innen, ist ein Mythos, welcher von den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und dem Machtmissbrauch jener Kreise ablenkt, die davon am meisten profitieren“ (Butterwegge 2006, S. 57 f.).
Auch räumlich schlägt sich die zunehmende Ungleichheit nieder. Dies wird in der stadtsoziologischen Forschung unter den Begriffen Kontext-, Quartiers-, Orts- oder Nachbarschaftseffekte diskutiert (vgl. Kurtenbach 2017; Nieszery 2014; Häußermann und Siebel 2003; Kronauer und Vogel 2004). In diesen Ansätzen werden Zusammenhänge zwischen der Benachteiligung eines Quartiers und einem sich reproduzierenden benachteiligenden Effekt auf die Bewohnerschaft gesucht. „Sag’ mir, wo du wohnst und ich sag’ dir, wer du bist“ – auf diese Weise hat Jens Dangschat die Verquickung zwischen sozialem Status und Wohnort beschrieben (Dangschat 1997). Die Verteilung unterschiedlicher sozialer Gruppen im städtischen Gesamtgefüge geschieht nicht zufällig, wie Volkmann (2012) konstatiert. Sie ist abhängig von „Wohnungsmarkt, Belegungspolitik, durch die Wünsche und Gewohnheiten der BewohnerInnen und durch Restriktionen“ (ebd., S. 14).
2.2 Urbane Distanziertheit
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Die oben genannten ungleichen Entwicklungen im Rahmen globalisierter Prozesse spiegeln sich in neueren stadtsoziologischen Ansichten in einer zunehmenden Polarisierung der Städte in sogenannte ‚Armutsquartiere‘ oder ‚stabile Quartiere‘ wider (vgl. Dangschat 1998, S. 207; Farwick 2004; Volkmann 2012; Häußermann et al. 2004). Auf diese Weise schreiben sich die dargelegten Urbanisierungsprozesse und die zunehmend globalisierte Welt in das urbane Alltagsleben ein und verändern die urbane Struktur.
2.2 Urbane Distanziertheit „Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in Paris und London und dann auch in anderen westlichen Hauptstädten ein Verhaltensmuster, das sich von allem unterschied, was man hundert Jahre zuvor in London oder Paris gekannt hatte oder heutzutage im größten Teil der westlichen Welt kennt: die Vorstellung, daß Fremde kein Recht hätten, miteinander zu sprechen, daß jedermann das öffentliche Recht auf einen unsichtbaren Schutzschirm besitze, das Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ (Sennett 2013, S. 64).
Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich das städtische Leben empirisch als zentrale Lebensform durchgesetzt. In den Städten pulsierte das Leben. Die Stadt war nicht nur Wohn- und Arbeitsstätte, sondern der „initiatorische und beherrschende Mittelpunkt des ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens, der die entlegensten Völker der Welt in seinen Bannkreis zieht und die verschiedenartigsten Gebiete, Menschentypen und Tätigkeitsbereiche zu einem Kosmos zusammenflicht“ (Wirth 1974 [1938], S. 42 f.). Anonymität und Fremdheit waren dabei immer schon zentrale städtische Elemente, die als Gegensätze zum Leben im ländlichen Raum beschrieben werden, in dem sich die Mehrheit der Bewohner*innen kennt und miteinander vertraut ist.10 „Das Kleinstadtleben in der Antike wie im Mittelalter legte dem Einzelnen Schranken der Bewegung und Beziehungen nach außen, der Selbständigkeit und Differenzierung nach innen hin auf, unter denen der moderne Mensch nicht atmen könnte noch heute empfindet der Großstädter, in die Kleinstadt versetzt, eine wenigstens der Art nach gleiche Beengung“ (Simmel 2006, S. 28).
10Vgl.
dazu Wirth 1974 [1938], Sennett 2013. Auch Max Weber erklärte, dass eine große Siedlungsdichte mit vielen Einwohner*innen logischerweise dazu führe, dass all diese Menschen nicht bekannt miteinander seien, sich also als Fremde begegnen (vgl. ebd. 2002 [1921]).
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Es ist somit eine triviale, aber doch grundlegende Erkenntnis, dass sich Menschen in Städten fremd sind. Doch lange Zeit wurde diese Fremdheit, vor allem für „soziale Zerrüttung“ (Wirth) und „anomische Zustände“ (Durkheim) verantwortlich gemacht, da – so die Befürchtung – das Individuum durch Anonymität und Vereinzelung zunehmend zum Einzelkämpfer werde und soziale Beziehungen sowie traditionelle Werte von Zusammenhalt und Gemeinschaft gleichermaßen verloren gingen (vgl. Schulze 2003, S. 32 ff.). Dieser defizitorientierten Sichtweise auf das städtische Zusammenleben und die alltägliche Organisation desselben, setzten neben Georg Simmel vor allem die Vertreter der Chicago School eine pragmatische Perspektive entgegen (vgl. Kap. 5). Sie betrachteten in erster Linie die Verhaltensweisen der Menschen im urbanen Raum und machten das Städtische an eben diesen menschlichen Praktiken fest: „The city is, rather, a state of mind, a body of customs and traditions“ (Park 1925, S. 1). Aus der pragmatischen Perspektive heraus galt es, vor allem das „Konfliktfeld“ (Sonne 2014, S. 6) zwischen Individuum und Gesellschaft herauszuarbeiten und dabei die Leistung des Individuums herauszustellen, sich in komplexen und multidiversen Zusammenhängen zu bewegen. Dabei ging es Simmel, Park und Co eher um eine nüchterne Bestandsaufnahme als um eine Wertung des städtischen Verhaltensstils (vgl. Sonne 2014)11. Aus einer neutralen Beobachterperspektive heraus hat vor allem Simmel in „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) den Verhaltensstil der Blasiertheit herausgearbeitet, den Stadtmenschen anwenden, um sich im städtischen Alltag relativ unbedarft bewegen zu können. Simmel zufolge muss das einzelne Individuum eine blasierte Haltung gegenüber den Reizen des Großstadtlebens entwickeln, die die Verarbeitung des tagtäglich Erlebten erst ermöglicht. Blasiertheit definiert Simmel folgendermaßen: „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird“ (Simmel 1903, S. 121).
11Eine
solch pragmatische Sichtweise fokussiert automatisch eher auf das, was in komplexen Gesellschaften funktioniert und nimmt weniger die desintegrativen Elemente im städtischen Zusammenleben in den Blick – eine Vorgehensweise, die die Wahrnehmung und den Ausbau städtischer Potenziale erst ermöglicht. Aus diesem Grund betrachte ich die Überlegungen, die durch die Chicago School in die wissenschaftliche Forschung eingegangen sind, auch als zentral für die vorliegende Arbeit (siehe hierzu auch Kap. 5).
2.2 Urbane Distanziertheit
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Die Blasiertheit ist eine Schutzfunktion des Individuums, um den Alltag entsprechend organisieren zu können und nicht an einer psychischen Überbelastung durch Neues zu zerbrechen. Die diversen Lebensformen, die auf das Individuum im städtischen Alltag selbstverständlich einwirken, kann ein Individuum – würde es sich in all die Lebensformen emotional involvieren – gar nicht bewältigen: „Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten, wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten“ (ebd., S. 122–123).
Die Blasiertheit ist damit eine Form der Gleichgültigkeit und Reserviertheit gegenüber fremden Menschen, Dingen und Verhaltensweisen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass Blasiertheit bei Simmel nicht negativ konnotiert ist. Im Gegenteil: Simmel betrachtet eine gleichgültige Haltung gegenüber den unterschiedlichen Facetten des städtischen Alltags als überlebenswichtig für die Bewältigung des Alltags. Blasiertheit bedeutet nicht, abgestumpft zu sein, sondern den Unterschieden zwischen den Individuen sachlich zu begegnen. Natürlich kann eine ins Extreme gesteigerte Blasiertheit auch negative Folgen für das Zusammenleben der Stadtbewohner*innen haben: Das Individuum grenzt sich ab und zeigt sich teilnahmslos gegenüber seinem Umfeld. Im schlimmsten Fall stumpft es ab und lässt damit gleichzeitig auch Missstände und Konflikte, die im alltäglichen Leben sichtbar werden, unbeteiligt an sich abprallen. Mangelnde Empathie und zunehmendes Desinteresse an den Lebensumständen anderer können die Folge sein. In gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen tauchen diese negativen Begleiterscheinungen einer ins Extrem gesteigerten blasierten Haltung immer wieder auf. Man denke hier an den Vorfall in einer Essener Bankfiliale 2017, als mehrere Bankkund*innen über einen offensichtlich bewusstlosen Mann stiegen, ohne ihm zu helfen. Doch trotz dieser hier exemplarisch skizzierten negativen Folgen eines blasierten Alltagshabitus deutet die von Simmel psychologisierende Betrachtung des großstädtischen Alltagslebens vor allem auf „zivilisatorische Errungenschaften, wie individuelle Freiheit, soziale Vielfalt und gesellschaftliche Toleranz“ (Schöller-Schwedes 2008, S. 653) hin, die im Verhalten des Städters sichtbar werden. Es deutet die Fähigkeit der/des Einzelnen an, sich an einen globalisierten und mobilitätsdurchdrungenen Alltag anzupassen. Simmels pragmatische Sicht auf das Zusammenwirken der Menschen in den Städten ist bis heute ein zentraler Bezugspunkt der Stadtsoziologie. Armin Nassehi
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hat die mit Simmel eingeleitete pragmatische Sichtweise auf das Zusammenleben aufgegriffen und die Blasiertheit und damit die individuelle Distanz im Alltag als eine positive Ressource hervorgehoben (vgl. etwa 1997, 2010, 2017): „Distanz ist in unserer urbanen Welt eine wichtige Ressource geworden, weil wir den ganzen Tag mit Fremden zu tun haben. Gemeinsam einsam zu sein ist keine Bedrohung, sondern Voraussetzung für das Zusammenleben in der modernen Gesellschaft“ (Nassehi 2017a; Welt o. S.).
Bahrdt (1956) beschreibt die hinter der Ignoranz und Gleichgültigkeit verborgene Haltung des Städters als „resignierende Humanität“, die „die Individualität des anderen auch dann respektiert, wenn keine Hoffnung besteht, sie zu verstehen“ (Bahrdt 1956, S. 656). Goffman (1994) bezeichnet das Verhalten der Menschen im Alltag als eine „höfliche Nichtbeachtung“. Auch Radtke (1991) hat die Aspekte der Gleichgültigkeit und Reserviertheit, die mit der Blasiertheit gemeint sind, aufgegriffen und um die Figur des „neutralen Fremden“ erweitert, die insbesondere in der öffentlichen Sphäre auftritt: „Man hat gelernt, auf wahrgenommene Differenzen mit Nichtentscheidung, also mit Gleichgültigkeit und Indifferenz zu reagieren“ (ebd., S. 91). Die Menschen, denen das Individuum im öffentlichen Alltag begegnet, werden in erster Linie nicht per se als Fremde wahrgenommen, sondern im Kontext der Situationsrahmung als Funktionsträger*innen, z. B. als Verkäufer*innen, Kund*innen oder Nutzer*innen öffentlicher Infrastrukturen. Aus der/dem Fremden wird aus dieser Sichtweise ein „familiar stranger“ (Lofland 1998, S. 60). Die vielfachen Facetten des einzelnen Individuums werden so in ihrer Komplexität auf eine – im Alltag relevante – Funktion reduziert: „The person who is not „personally known“ but, because of a shared daily path or round […], is recognizable“ (ebd.). Im alltäglichen städtischen Gesamtsetting werden dann lediglich die für die Situation relevanten Aspekte wichtig, alles andere wird ausgeblendet. Wirth (1974 [1938]) problematisiert gerade diesen Aspekt der oberflächlichen, bzw. kontextbezogenen Wahrnehmung des Anderen: Durch die Wahrnehmung der Menschen als Funktionsträger*innen könnten nur visuelle Erfahrungen und Erkenntnisse gemacht werden, hinter denen das wahre Gesicht, also die wahren Eigenarten des Menschen verborgen blieben: „Wir sehen die Uniform, welche die Rolle des Funktionärs bezeichnet, und sind blind gegenüber der persönlichen Eigenart, die sich hinter der Uniform verbirgt. Wir neigen dazu, ein gewisses Feingefühl einer Welt künstlicher Erzeugnisse gegenüber zu erlangen und zu kultivieren“ (ebd., S. 54).
2.2 Urbane Distanziertheit
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Doch dieser oberflächliche Blick ist es, wodurch das Leben in der Stadt gekennzeichnet ist: In der Stadt kann selbst der nächste Nachbar fremd sein. Und so konstatiert Siebel (1997) richtigerweise, dass die „Dschungelhaftigkeit“, die seitens der Stadtkritik immer wieder kritisiert wird, gleichzeitig die Hoffnungen ausdrückt, die mit der Stadt verbunden sind, nämlich, dass sie die Stadt zu einem Ort macht, „wo man unbehelligt von Verwandten, Nachbarn und Polizei sein eigenes Leben“ leben kann (ebd., S. 34). Gleichzeitig stellt Siebel heraus, dass von der/dem Fremden viel abverlangt werde. Sie/er muss, so sie/ er denn in eine neue Situation und in ein neues Lebensumfeld eintritt, enorme Leistungen vollbringen, um sich im Rahmen dieses Verhaltensstils an die lokale Situation anzupassen. Die „Integration des Fremden“ erklärt Siebel als langen und konfliktbeladenen Prozess (vgl. ebd., S. 37). Mit Alfred Schütz beschreibt er den Alltag als ein System, das durch „vorbewußte Interpretationsmuster verinnerlichter Normen und habitualisierter Verhaltensschemata, die sich im Verlauf der Geschichte entwickelt und im individuellen Sozialisationsprozeß angeeignet werden“ (ebd., S. 36), geprägt ist. Doch gerade die/der Fremde hat andere Erinnerungen, andere Verhaltensschemata und andere Selbstverständlichkeiten gelernt und muss zunächst die Regeln der neuen Kultur, ähnlich die einer neuen Sprache, erlernen. Das Orientierungswissen, welches Schütz als konstitutiv für den Alltag bezeichnet, ist für eine fremde Person nicht selbstverständlich, denn selbst die „selbstverständlichsten Dinge der Welt bleiben ihm [dem Fremdem] unverständlich. […]. So wird er dem Einheimischen doppelt fremd: er bringt fremde Verhaltensweisen mit und er stellt in Frage, was doch die natürlichste Sache der Welt ist. Seine Haltung des sorgfältigen, distanzierten, intellektuellen Beobachters gegenüber den Selbstverständlichkeiten läßt ihn als grundsätzlich kritisch, unzuverlässig und potenziell illoyal erscheinen“ (Siebel 1997, S. 37).
Mit der Problematisierung der „Integration des Fremden“ spricht Siebel einen zentralen Aspekt an, der in der Debatte um Fremdheit in der Stadt immer wieder zum Vorschein kommt: Während Simmel mit seiner Blasiertheit auf den per se fremden Mitstädter anspielt und das Fremdsein als eine „positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform“ (Simmel 1992, S. 765) beschreibt, wird die Figur des fremden Mitstädters in vielen folgenden Studien vor allem in seinen fremden Eigenschaften diskutiert. Auf diesen Aspekt werde ich im nächsten Kapitel vertiefend eingehen und eine ganz bestimmte Form der Fremdheit beleuchten, das ‚Fremdmachen von Anderen‘.
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2.3 Ein differenzlogischer Blick auf das städtische Zusammenleben „Das Zusammenleben spielt sich in immer weiter gedehnten transnationalen Räumen ab, in denen immer wieder zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘ oszilliert wird“ (Pfaff-Czarnecka 2012, S. 18).
Mit dem Bevölkerungswachstum in den Städten und der damit verbundenen räumlichen und sozialen Mobilität, entwickelte sich Fremdheit im Simmelschen Sinne zu einer konstitutiven Begleiterscheinung des städtischen Lebens, wodurch wiederum auch das ‚Eigene‘ als besondere Form hervorgehoben wurde. Denn das Fremde wird, wie ich hier darlegen möchte, immer in Abgrenzung zu dem wahrgenommen, was man als sein ‚Eigenes‘ bezeichnet. Je größer der lebensweltliche Zusammenhang, je mehr Lebensstile und Wertevorstellungen aufeinandertreffen, desto stärker wird das ‚Eigene‘ in Abgrenzung zum ‚Fremden‘ hervorgehoben. Hier deutet sich die inhärente „Ambivalenz des Fremden“ (Bauman 1995) an. Einerseits ist das Fremde ein normales, städtisches Alltagsphänomen, andererseits wird Differentes jedoch häufig als Störfaktor wahrgenommen, den es in unterschiedlicher Form zu bearbeiten gilt. Wehrheim (2009) zeigt alltägliche „Bearbeitungsmodi großstädtischer Fremdheit“ (ebd., S. 44 ff.) auf. Die Integration der/ des Fremden durch Selbstkontrolle und urbane Indifferenz sowie durch eingeübte Performances im Goffman’schen Sinne (1971), z. B. der Wechsel der Straßenseite, die Ausrichtung des Blicks auf etwas anderes oder die Nivellierung der/des Fremden durch Exklusion (durch Segregation oder soziale Kontrolle). Integration kann letztlich aber auch durch Gewohnheit vollzogen werden, weil Diversität etwas relationales (eine Frage der Gewohnheit) ist. In diesem Kapitel soll herausgearbeitet werden, wie städtische Fremdheit konstruiert wird. Dazu zeige ich zunächst auf, wie Fremdheit in Abgrenzung zum ‚Eigenen‘ konstruiert wird (Abschn. 2.3.1). Im Anschluss daran nehme ich Fremdheitsnarrative in den Blick. Im städtischen Zusammenleben wird Fremdheit oftmals mit spezifischen Verhaltensweisen oder Personen/Gruppen in Verbindung gebracht, die aus der ihnen entgegengebrachten Fremdheitszuschreibung nur schwer entkommen können. Ich bezeichne derartige Konstruktionen in der vorliegenden Arbeit deshalb als Fremdheitsnarrative, weil es manifeste Wahrnehmungsmuster sind, die sich häufig aus hegemonialen Deutungsmustern heraus entwickelt und verfestigt haben; Deutungsmuster, die in aller Regel aus dem Fundus nationalistischer Narrative stammen, die für solche Fälle seit Jahrzehnten immer wieder ‚Ausländer‘, ‚Fremde‘ oder kulturelle, bzw. religiöse Minderheiten ins Spiel bringen. Entsprechend lege ich den Fokus an dieser Stelle einerseits
2.3 Ein differenzlogischer Blick auf das städtische Zusammenleben
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auf die ‚unerwünschten Öffentlichkeiten‘ im urbanen Raum, also auf Personen, die die soziale Ordnung im städtischen Miteinander durcheinanderbringen und deshalb als fremd etikettiert werden und andererseits auf mobilitätsspezifische Fremdheitskonstruktionen. Die mobilitätsspezifischen Fremdheitskonstruktionen sollen im Rahmen dieser Arbeit besonders intensiv ausgeleuchtet werden, da sie im städtischen Kontext eine bedeutende Dynamik entfalten können. Durch Ethnisierungsprozesse, die sich bereits in die Tiefenstruktur der Gesellschaft eingelagert haben, werden Newcomer*innen als ‚ethnisch Andere‘ und ‚urbane Andere‘ manifestiert. In Anbetracht städtischer Vielfalt und vor dem Hintergrund postmoderner Individualisierungs- und Flexibilisierungsprozesse auf ökonomischer und soziokultureller Ebene erlangen die ‚ethnischen‘ Fremdheitskonstruktionen eine besonders krisenhafte Dynamik, die letztlich in einer Kriminalisierung von ‚ethnisch‘ markierter Fremdheit münden kann.
2.3.1 Othering und die Konstruktion von Fremdheit Benennungs- und Klassifizierungsmechanismen erleichtern es dem Menschen, Sachverhalte und Personen zuzuordnen. Jedes Individuum entwickelt Rahmungen, mit denen der Alltag möglichst problemlos bewältigt und (Handlungs-) Unsicherheit minimiert werden kann. Als ein relationales soziales Produkt ist Fremdheit jedoch durch einen Moment der Unbestimmtheit und Ambivalenz gekennzeichnet. Fremdheit beruht auf einer sprachspezifischen Unordnung, einem „Versagen der Nenn- (Trenn-) Funktion“ (Bauman 1995, S. 13) und durchbricht auf diese Weise den routinierten Alltag des Individuums. Die Tatsache, dass etwas nicht eindeutig klassifiziert werden kann, macht es fremd. Vor allem milieu-, kultur-, oder religionsspezifische Differenzen können Fremdheit erzeugen (vgl. Wehrheim 2009, S. 34; Bauman 1995). Häufig reichen dazu rein visuelle Merkmale, wie das Aussehen, die Kleidung oder bestimmte Verhaltensweisen aus. Fremdheit lässt sich also als lebensweltliche Differenz definieren. Dabei ist die Abgrenzung des Selbst zu anderen Individuen ein normaler sozialpsychologischer Prozess, der der eigenen Identitätskonstruktion dient (vgl. Hall 1994). Darüber hinaus spielt der spezifische, situative Kontext eine bedeutende Rolle bei der Bewertung und Wahrnehmung von Fremdheit: Nicht alles ‚Andere‘ ist in jeder Situation immer etwas ‚Fremdes‘ (vgl. Makropoulos 1993, S. 41): „Der chinesische Immigrant ist nicht in China Town, wohl aber in Little Italy fremd und der Fremde ist im Opernhaus ein anderer als der Fremde im Bordell. Fremdheit ist immer abhängig von der eignen in-group und der eigenen Lebenswelt“ (Wehrheim 2009, S. 33).
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Ich verfolge in dieser Arbeit die Annahme, dass die Situation auf einer pragmatischen Alltagsebene der entscheidende Referenzrahmen in der Bewertung von Fremdheit ist, dass dieser eigentlich intrinsische Bewertungsprozess jedoch stets von hegemonialen Deutungsmustern überlagert wird, die sich im Alltag niederschlagen. Problematisch werden die mit den Abgrenzungsprozessen zusammenhängenden Wirklichkeitskonstruktionen, wenn die wahrgenommenen Unterschiede – etwa aufgrund hegemonialer Deutungsstrukturen – besonders markiert werden. Dieser Prozess des zum Anderen machen und damit verfremdet oder eben ‚ver-andert‘ werden, wird auch als „Othering“ bezeichnet (Reuter 2002; Sökefeld 2004; vgl. dazu auch Hall 1994). Das Andere stellt genau die entgegengesetzten Eigenschaften des ‚Eigenen‘, also dessen „umgekehrtes Spiegelbild“ (Hall 1989, S. 919), dar. Das Eigene, also das Ich (oder im Falle einer Gruppe das Wir) bezeichnet das Andere als dieses Andere. Damit betrachten das Ich oder Wir sich/uns selbst als Maßstab für die Zuschreibungen der/des Anderen (vgl. Bauman 1995). Das bedeutet, dass das Andere erst zum Fremden gemacht wird. Auf diesen Prozess der Fremdzuschreibung wirken gesellschaftliche Machtdisparitäten ein. Die Zuschreibungen des Anderen als Fremden verlaufen innerhalb eines (Macht-)Diskurses, der die Differenzen zwischen der in-group und der out-group festschreibt. Unter Diskurs ist in Anlehnung an Foucault (1973) die Anordnung von Zeichen innerhalb einer Kultur gemeint, wodurch Wirklichkeit konstruiert und Gesellschaft strukturiert wird. Diskurse haben eine produktive Macht, indem sie das hervorbringen, was sie auch bezeichnen (vgl. Breitung 2012; Butler 1993; Bublitz 2003). Ein ‚Flüchtling‘ wird im gesellschaftlichen Diskurs deshalb als ein ‚Flüchtling‘ mit allen positiven und negativen Konnotationen wahrgenommen, weil genau die Art und Weise des Sprechens darüber diesen Begriff bestimmt und ihn stetig reproduziert. Der/Die Andere wird dementsprechend erst diskursiv hervorgebracht, d. h. auf seine/ihre Fluchtgeschichte reduziert, auf Herkunftsfremdheit fixiert und zum Anders-Sein verurteilt. Durch die ständige diskursive Reproduktion wird ein Wissen produziert, das die Differenz zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ als Teil eines normalen Wissensvorrats bereithält (vgl. Hall 2008). Wehrheim (2009) stellt heraus, dass Fremdheit häufig mit Verunsicherungen und der Furcht vor Kriminalität kontextualisiert wird: „Obwohl nirgends so viel gemordet, totgeschlagen und vergewaltigt wird wie unter Verwandten und Bekannten, ist die Angst vor Kriminalität meist die Angst vor dem Fremden auf den Straßen der großen Städte“ (vgl. ebd., S. 37). Auch andere Autor*innen betonen die Verknüpfung von Kriminalitätsangst und der Furcht vor Fremden (vgl. Häfele 2013; Keller 2007; Bigo 2002). Die Angst vor dem Fremden geht in erster
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Linie mit der Sorge um die Zerstörung der eigenen sozialen Ordnung einher, weil das mehrdeutige Fremde den Kategorien des gesellschaftlichen Systems nicht eindeutig zuzuordnen ist und die Ordnung der modernen Welt zu zerstören droht (vgl. Bauman 1995, S. 14; vgl. auch Nassehi 1995; Wehrheim 2009). Die gesellschaftliche Durchsetzung der Markierungen und Klassifizierungen hängt dabei in hohem Maße von der Definitionsmacht der klassifizierenden Gruppe ab, die von der/dem Einzelnen als Bezugsgruppe akzeptiert und gleichzeitig hegemonial gewürdigt wird. Gerade in „aufstiegsorientierten Gesellschaften“ (Wehrheim 2009, S. 34 ff.) werden negative Klassifikationen soziokultureller Differenzen dazu genutzt, Machtverhältnisse zu stabilisieren und Distinktionsgewinne zu verstärken. Fremdzuschreibungen fungieren also vor allem als „Legitimationslegende“ (Rommelspacher 2011, S. 26) für Ungleichund Ausgrenzungspraktiken. Wehrheim konstatiert, dass verschiedene Lebensstilgruppen und Milieus, so etwa die bürgerliche Mittelschicht, seltener als fremd konstruiert werden als andere soziale Milieus, die weniger dem Bild einer geregelten sozialen Ordnung entsprechen. Der öffentliche Drogen- und Alkoholkonsum von ‚unerwünschten Öffentlichkeiten‘ im öffentlichen Raum wird von Menschen aus anderen sozialen Schichten als besonderes fremd wahrgenommen, weil der Konsum im öffentlichen Raum einerseits besonders sichtbar ist (dreckige oder verwahrloste Kleidung, als ‚abnormal‘ gewertetes Verhalten etc.), andererseits aber auch, weil der/die Konsument*in einen anderen sozialen Status verkörpert und nicht dem vertrauten Milieu des ‚Befremdenden‘, angehört. Den ‚unerwünschten Öffentlichkeiten‘ wird im gesellschaftspolitischen Diskurs schließlich eine andere Wertebasis unterstellt, sie werden als Randgruppe oder „gefährliche Klasse“ stigmatisiert (Wehrheim 2009, S. 34 f.; vgl. auch Cudak 2017; Morris 1994). Der eigene Status wird durch negativ attribuierte Fremdzuschreibungen Anderer gesichert und erhöht. Norbert Elias und John L. Scotson (1993 [1965]) stellen in ihrer Etablierten- vs. Außenseiter-Figuration, die sie im Rahmen einer Fallstudie über die Suburbs von Leicester erstellt haben, ein Muster in Ausgrenzungsund Marginalisierungsprozessen heraus. In einem Arbeiterstadtteil, in dem über Jahre hinweg sogenannte ‚Außenseiter‘ neben alteingesessenen ‚Etablierten‘ lebten, zeigte sich, dass die ‚Außenseiter‘ im Laufe der Zeit zu ‚Etablierten‘ wurden. Mit der Etablierung der ‚Außenseiter‘ ging jedoch ein neuer Außenseiterprozess einher, indem die nun etablierten Außenseiter wiederum andere Bewohner*innen im Quartier zu neuen ‚Außenseitern‘ deklarierten. Ceylan (2018) hat in Anlehnung an diesen Ansatz die Etablierten-Außenseiter-Figuration im Stadtteil Duisburg Hochfeld untersucht. Er zeigt auf, dass insbesondere die neu eingewanderte Gruppe der türkischsprachigen Roma von den alteingesessenen,
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türkischstämmigen Quartiersbewohner*innen, die selbst früher in der Außenseiterposition gegenüber anderen Alteingesessenen waren, zu ‚Außenseitern‘ deklariert wurden. Um ihre über Generationen hinweg oft schwierige Platzierung in der Gesellschaft zu bewahren, liegt es für die alteingesessenen, türkischstämmigen Bewohner*innen nahe, potenzielle Konkurrenz klein zu halten. Sie wollen ihre mühsam errungenen Privilegien gegenüber den anderen Alteingesessenen sichern und deklarieren wiederum andere Gruppen – anhand spezifischer negativ attribuierter Merkmale – als neue ‚Außenseiter‘. Wer durch was und durch wen zur/zum ‚Außenseiter*in‘ und damit zur Minderheit erklärt wird, hängt also von „machtvollen, ethno-natio-kulturellen Diskursen“ ab (Cudak 2017, S. 89). Hier wird eine binäre Logik entlang ‚ethnischer‘ Markierungen angedeutet, die sich mit der Zeit als quasi natürlich-bestehender gesellschaftlicher Wissensvorrat manifestiert hat. So konstatieren Schäfer und Schlöder (2012), dass der sogenannte ‚Ausländer‘, der woanders geboren ist, im Alltagsverständnis den „Prototyp des Fremden“ darstellt (ebd., S. 5). Sie deuten damit die homogenisierende und manifeste Zuschreibung ‚natio-kulturell Anderer‘ als Fremde an, die im Folgenden in ihrer Dynamik aufgeschlüsselt werden soll. Für die vorliegende Arbeit ist dieser Aspekt besonders relevant, da Oberbilk ein stark durch Diversität geprägtes Quartier ist. Die Wahrnehmung und die damit verbundene Ausgrenzung von Newcomer*innen als Fremde hat entsprechend Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Platzierung der Newcomer*innen im umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz und damit auf das Zusammenleben im Quartier insgesamt.
2.3.2 Mobilitätsspezifische Fremdheitskonstruktionen Um die Besonderheiten mobilitätsspezifischer Fremdheitskonstruktionen herausarbeiten zu können, ist es zunächst sinnvoll, auf die für diese Arbeit relevanten Definitionen von Migration einzugehen und die unterschiedlichen Facetten im Umgang mit Migration (Migrationsregime und -formate) zu skizzieren. Hoffmann-Nowotny (1970) definiert Migration schlicht als „jede Ortsveränderung von Personen“ (ebd., S. 107), während Eisenstadt (1954) beispielsweise ein engeres Begriffsverständnis an den Tag legt und Migration als den Übergang „eines Individuums oder einer Gruppe von einer Gesellschaft zur anderen“ (ebd: 1 zitiert nach Treibel 2003, S. 19) definiert. Andere Begriffsbestimmungen verweisen auf Aspekte wie Dauerhaftigkeit oder signifikante Entfernung, um Migration fassbar zu machen. Einzig das Moment der Bewegung steht in allen Definitionen an zentraler Stelle. In der folgenden Arbeit meint Migration mit Oltmer (2013) die
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längerfristige „räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen“ (ebd., S. 31). In Deutschland werden Personen, die mobil sind und zuwandern oder zugewandert sind, seit 2005 offiziell als „Personen mit Migrationshintergrund“ statistisch erfasst. Laut Statistischem Bundesamt wird diese Bezeichnung verwendet, wenn eine Person „selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist“ (Statistisches Bundesamt 2017).12 In der vorliegenden Arbeit distanziere ich mich von Zuschreibungen dieser Art, denn als ‚Person mit Migrationshintergrund‘ werden die Menschen über eine lange Lebensspanne hinweg als ‚ethnisch Andere‘ auf ihre ‚fremden Wurzeln‘ und ihr ‚migrantisch sein‘ festgeschrieben. Um lediglich den Akt der Bewegung in den Vordergrund zu stellen, spreche ich von Newcomer*innen. Unter Migration verstehe ich eine Form der doing mobility, eine Art der Mobilität. Bevor ich auf die mobilitätsspezifischen Fremdheitskonstruktionen eingehe, möchte ich zunächst ein paar Fakten nennen, die die Alltäglichkeit und Vielfalt internationaler Mobilität belegen: Laut der International Organization for Migration (IOM) lebten 2015 etwa 244 Mio. Menschen (kurzweilig oder langfristig) außerhalb ihres Geburtslandes – Tendenz steigend.13 Global zeichnet sich dabei ein Trend in die Städte ab, die mit der fortschreitenden Globalisierung immer diversitätsgeprägter werden. Betrachtet man Ausschnitte der Berichterstattung der letzten fünfzig Jahre über das Thema ‚Zuwanderung‘ so zeigt sich, dass Mobilität ein alltäglicher, historischer Normalfall ist und sich lediglich die Entfernungen im Laufe der Zeit vergrößert haben (vgl. auch Bukow 2012; Yildiz 2011, siehe auch TAZ: November 2015). Auch die Mobilitätsgründe sind bis heute im Kern gleichgeblieben: Die einen streben nach einem besseren Leben für sich und ihre Familie, die anderen fliehen aus Furcht vor politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung oder werden Opfer gewaltsamer Vertreibung. Wieder andere wollen einfach nur ein neues Land und eine neue Kultur kennenlernen. Die Gründe, einen Mobilitätsprozess auf sich zu nehmen, sind divers und oft genug trivial. Es gibt politisch, ökonomisch, technologisch und informationell bedingte Mobilitätsformate: Langfristige Wanderungsbewegungen, generationenübergreifende Aus- und Einwanderungen,
12Als
‚Personen mit Migrationshintergrund‘ werden zugewanderte Ausländer der ‚1. Generation‘, in Deutschland geborene ‚Ausländer‘ der ‚2. und 3. Generation‘, ‚zugewanderte Deutsche mit Migrationshintergrund‘ und nicht ‚zugewanderte Deutsche mit Migrationshintergrund‘ bezeichnet. (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). 13https://migrationdataportal.org/data?i=stock_abs_&t=2017
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Altersnomaden
Wir-Gruppen gebunden
INTENSITÄT
Wanderarbeiter Saisonarbeit zirkuläre Migration
BINDUNG
klassische Nomaden
nomadische Lebensweise
Klassische Einwanderer
daily mobility Konsumpendler
spezielle Migrationsformate
“Gastarbeiter”
Tourismus
Mitarbeiter internationaler Betriebe u. Einrichtungen
Einwanderer Flüchtlinge
weitgehend quartiergebundene Mobilität
Berufspendler
work and travel Backpackers
Menschen ohne Papiere “Braindrain”
extrem individuelle Alltagsmobilität
Abb. 2.1 Doing-Mobility (Bukow 2018, o. S.)
Migrations- und Fluchtbewegungen, temporäre, bzw. Pendelmigration, diverse Formate des Reisens, daily mobilities, kurzum verschiedene Versionen von „doing mobility“ (vgl. Bukow 2018): Gesellschaftliche Diversität entsteht weniger aus internationalen Migrationsprozessen, sondern ist im erheblichen Maße einer daily mobility geschuldet, die über alltägliche Interaktion und Informationsaustausch, über Moden, Essgewohnheiten, Trends und Techniken vermittelt wird und im Alltagsleben überall anzutreffen ist (vgl. Bukow 2018). Der moderne Alltag ist an sich diversitätsdurchdrungen. Die Vielfalt schlägt sich im Alltag in individuellen und milieuübergreifenden Bezügen nieder (gender-, religion-, familienspezifisch, globale Netzwerke usw.), die genauso und sogar noch viel stärker ausschlaggebend für die Diversifizierung der Gesellschaft sind, als es Migrationsprozesse sein können (vgl. Bukow 2018; Cudak 2017). Vergegenwärtigt man sich die Ubiquität von Mobilität und Diversität, wird offenkundig, dass nur bestimmte Diversitäts- und Mobilitätsaspekte einer besonderen staatlichen Steuerung unterliegen.14 In Abb. 2.1 wird Mobilität in
14Damit
ist gemeint, dass die alltägliche Diversität, also die im Dauerablauf des Alltags stetig vorhandene Überlappung mannigfacher Diversitätsbezüge nicht ‚gesteuert‘ oder ‚dosiert‘ werden kann, da sie sich wie selbstverständlich aus dem Alltag der Vielen als Viele heraus ‚schält‘.
2.3 Ein differenzlogischer Blick auf das städtische Zusammenleben
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ihren vielfältigen Transferdynamiken sichtbar, auch hinsichtlich einer Autonomie der Mobilität gegenüber nationalen und europäischen Migrationsregimen (vgl. Bojadžijev und Karakayali 2007). Mit dem Begriff des Migrationsregimes (auch: Diversitätsregime) ist die Organisation und Steuerung der unterschiedlichen Mobilitätsformate „durch ein (je spezifisches) Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure“ (Oltmer 2017, S. 5) gemeint, das im Laufe der Jahrhunderte zunehmend ausgebaut wurde. Mithilfe unterschiedlicher Instrumente (etwa Verfahren und Gesetzgebungen) verfolgen Migrationsregime das Ziel, Mobilität zu managen, zu regulieren, „alltagspraktisch sowie verwaltungslogisch einzuebnen, zu unterdrücken oder zu fördern“ (Cudak 2017, S. 71). Der Begriff Regime spielt dabei auf die inhärente autoritäre und einschränkende Funktion desselben an. Das Migrationsregime bestimmt über den Einschluss und den Ausschluss und über die Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Platzierung der Newcomer*innen in der Gesamtgesellschaft: „Insbesondere Staaten verfügen über eine enorme regulative Kraft, die Grenzen schützt, den Zugang regelt, die Modalitäten des Aufenthaltsrechts definiert und den Ansässigen – ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft – zivilbürgerliche Pflichten abverlangt. So müssen Migranten sich widerholt als würdig erweisen“ (Pfaff-Czarnecka 2012, S. 81).
Auf die Paradoxität des Migrationsregimes, das einerseits zwischen „flexiblen Einwanderungsquoten“ und totaler „Abschottung“ agiert, weisen unterschiedliche kritische Migrationsforscher*innen hin (Hess 2009, S. 237; vgl. auch Bukow 2011; Yildiz 2014, 2018; Hill 2016; Cudak 2017; Römhild 2014, Butterwegge 2004; Hess und Moser 2009). So ist es weniger die Wohlstands- oder Lifestyle-Mobilität der reicheren Bevölkerungsschichten, die ihren Wohnort ständig und problemlos wechseln können, sondern die Mobilität von z. B. Flüchtlingen und Arbeitsmigrant*innen, die mit den nationalistisch fundierten Grenzen konfligiert (vgl. Oltmer 2013; Butterwegge 2004; Bukow 2012). Während Migration von hoch qualifizierten Zuwander*innen explizit gewünscht ist, werden niedrig qualifizierte Newcomer*innen systematisch abgeschreckt. Die gehobene Bürgerschicht kann ihre Mobilitätsbestrebungen im Rahmen von Praktika, Arbeitsplatzwechseln oder Pendelmigration ungehindert ausüben. Die Mobilität von Newcomer*innen, die mit wenig ökonomischem Kapital in Deutschland eintreffen, wird hingegen spektakulär und defizitär inszeniert (Begriffe wie ‚Flüchtlingswelle‘, ‚Armutsflucht‘, ‚Armutsflüchtling‘, ‚Wirtschaftsflüchtling‘, ‚Asylmissbrauch‘ etc. verweisen auf die Art und Weise der defizitären Bericht-
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erstattung). Neben weniger anerkannten Mobilitäten ist auch die Ökonomisierung von Migration ein zentraler Aspekt gegenwärtiger Migrationsnarrative. ‚Zuwanderung‘ wird dann als Bereicherung betrachtet, wenn sie einen finanziellen Nutzen für den Nationalstaat, bzw. für die empfangende Gesellschaft mit sich bringt. Auf diese Weise entsteht ein hoch selektives Migrationsregime, das den einen den Zugang erleichtert und den anderen den Zugang schon von vornherein verunmöglicht. Schroer (2006) verweist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Grenzen in Abhängigkeit vom sozialen Status und der jeweiligen Lebenssituation: „Hinzu kommt, dass die größere Wählbarkeit der räumlichen Bezüge, der Wandel von Raumvorgabe zur Raumwahl, die erhöhte Mobilität, die stärkere Unabhängigkeit vom Raum und die Möglichkeit der Grenzüberschreitung keineswegs für alle in gleichem Maße gilt. Wie eine Grenze wahrgenommen wird, hängt entscheidend davon ab, in welcher Situation man sich befindet und welchen Status man innehat: Ob man sich als Migrant, als Flüchtling, als Botschafter oder als Tourist einer Grenze gegenübersieht – das macht einen erheblichen Unterschied“ (ebd., S. 224).
Am Beispiel der Glaubwürdigkeitsprüfung im Asylverfahrensprozess wird beispielhaft deutlich, wie staatliche Verfahren in einem global agierenden Migrationsregime Newcomer*innen (in diesem Fall Asylsuchenden) das Ankommen erschweren oder sogar verunmöglichen. Regeln und Normen der Nationalstaaten treffen hier auf transnationale, multilokale Biografien, die nicht im Rahmen standardisierter Verfahren abgefragt und getestet werden können – von den Diskriminierungen, Stigmatisierungen und Entmündigungen, die die Newcomer*innen im Rahmen dieses Prozesses erfahren, einmal abgesehen (Blommaert 2009, S. 425, 2012; Scheffer 2001). So berichtet Jacquemet (2011) in ihrer Feldforschung im United Nations High Commission for Refugees in Albanien von ihren Erfahrungen in den Asylanhörungsprozessen unmittelbar nach dem Kosovo Krieg. Während der Anhörung wechselten einige Asylsuchende in die englische Sprache, um eine einfachere Verständigung mit den Beamten zu ermöglichen. Doch dieses normale kommunikative Verhalten, um Verständigung zu erreichen, war für die Antragsteller*innen nicht von Vorteil, da die Beamten davon ausgingen, dass ein ‚Kosovo-Flüchtling‘ in der Regel kein Englisch sprechen kann. Der ‚Flüchtling‘ darf also nicht zu kosmopolitisch wirken, da dies in den Augen der Beamten seine Authentizität schmälert und für den ‚Flüchtling‘ die Chance auf Asyl mindert (vgl. ebd., S. 482). In Verknüpfung mit den in Abschn. 2.3.1 aufgeführten Gedanken zur Konstruktion von Fremdheit verweisen die in diesem Unterkapitel skizzierten Überlegungen darauf, dass bestimmte Mobilitäten bereits mit negativen Imaginationen
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verknüpft sind, die die betroffenen Newcomer*innen schon von vornherein als Fremde abstempeln. Dabei steht nicht der nüchterne Aspekt der Fremdheit eines/einer Jeden im städtischen Kontext im Vordergrund, wie es Simmel (1906) andeutet, sondern die für Städte eigentlich konstitutive Fremdheit wird zu einem Narrativ geformt und verbesondert. Migrationsspezifische Diversität wird also nicht nur Fremdheit attestiert, sondern sie wird gleichzeitig innerhalb „eines nationalistisch imprägnierten Gesellschaftsmodells“ diskreditiert (Bukow 2011, S. 47 f.). Hier deutet sich bereits ein Aspekt an, den ich in Kap. 3 noch ausführlicher behandeln werde: Es gibt eine Differenz, zwischen dem, wie im Alltag gelebt wird, nämlich auf Basis alltäglicher Mobilität und gegenseitiger Fremdheit, und dem, wie über den Alltag gesprochen wird. Ein grundierendes Migrations- und Diversitätsregime prägt, unterstützt und reproduziert dabei stetig Ungleichheiten im Hinblick auf die Mobilitäts- und Lebenschancen. Der dahinterliegende Konstruktionsprozess und die Dynamiken, die dadurch im Umgang mit bestimmten Mobilitäten entstehen, sollen im folgenden Unterkapitel dargestellt werden.
2.3.3 Veralltäglichung von Grenzziehungen „Inwieweit Menschen von den Einheimischen als Ausländer/innen oder Fremde wahrgenommen werden, ist folglich nicht unbedingt von ihrer Staatsbürgerschaft oder Herkunft abhängig. Innerhalb eines Landes können Menschen, auch wenn sie die entsprechende Staatsbürgerschaft besitzen, schon lange in einem Land leben oder dort geboren sind, trotzdem von der Mehrheit der Bevölkerung als Migrant/ innen, Ausländer/innen oder Fremde wahrgenommen werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sie als Mitglied einer als fremd definierten Gruppe identifiziert werden, das heißt, einer Gruppe, die in ethnischer, kultureller oder religiöser Hinsicht als ‚anders‘ kategorisiert und mit negativen Stereotypen belegt wird“ (Zick 2009, S. 22).
Den Grundstein für formal-ethno-nationale Unterscheidungen legt der Nationalstaat. Die Zugehörigkeit (oder auch nur die ehemalige Zugehörigkeit) zu einem anderen Nationalstaat markiert Menschen – zumindest in einem zunächst formal-politischen Sinn – als Andere. Dies ist dem Begriff des Nationalstaats sogar inhärent, denn Nation, von lat. natio: Volk, Sippschaft, Menschenschlag, meint den Zusammenschluss einer Gruppe von Menschen, denen Verwandtschaft und Sprache, aber auch gemeinsame Traditionen und Werte als gemeinsamer Ursprung zugeschrieben werden (vgl. Stichweh 2000, S. 48). Auch wenn die direkte Verwandtschaft in gegenwärtigen Gesellschaften nicht als nationen-
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und damit gemeinschaftsbildend gilt, so ist die Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs entlang bestimmter tradierter Faktoren, wie etwa der Sprache, der Geschichtsschreibung, der Literatur und der Kunst ein überdauerndes Narrativ, das immer wieder zur Abgrenzung von Anderen eingesetzt wird. Die Vorstellung einer gemeinsamen Tradition wird als Teil einer gemeinschaftlichen Entwicklung standardisiert, kulturalisiert, nationalisiert und immer wieder reproduziert (vgl. dazu Hazard 1939). „Die Konstellation hängt mit dem Erstarken des ethnischen Aktivismus zusammen und seiner Inspiration durch Identitätspolitiken. Solche nostalgischen Politiken zeichnen sich durch rückwärtsgewandte Aufwertung gemeinsamer Wurzeln aus sowie durch das Beharren auf dem Erstkommrecht“ (Pfaff-Czarnecka 2012, S. 82).
Die nationale Identität als ein kollektives Gefühl basiert Montserrat Guibernau (2013) zufolge auf dem Glauben von Zugehörigkeit zu einer Nation und dem mehrheitlichen Teilen der Eigenschaften, die diese Nation von anderen Nationen unterscheidet. Man glaubt, in eine gemeinsame Kultur, Geschichte, Sprache, Religion oder ein gemeinsames Territorium hineingeboren zu sein. Nationalstaaten versuchen, das nationale Einheits- und Identitätsgefühl mithilfe unterschiedlicher Methoden zu konstruieren, deren gemeinsamer Nenner die Loyalität der Angehörigen sowie die Exklusion der Nicht-Mitglieder ist. Dieser Prozess des nation building ist als stetiges Wechselspiel zwischen Symbolen und Individuen zu verstehen, wobei die Individuen, obwohl sie nicht immer alle etablierten Symbole akzeptieren, dennoch in der stetigen Rekreation dieser nation building-Prozesse gefangen sind (vgl. Montserrat Guibernau 2013, S. 39 ff.). Symbole und Rituale sollen die Gemeinsamkeiten der Bevölkerung verstärken und verstetigen. Auch zivile, politische und sozio-ökonomische Rechte und Pflichten, die man als Staatsbürger*in erhält, bzw. erfüllen muss, tragen zur Ausbildung eines Einheitsgefühls bei. Max Weber spricht von der Vorstellung einer geglaubten Gemeinschaft (Weber 1973), die weniger auf Realität, als auf Fiktion und Mythos beruht. Anderson (2006) verwendet den Begriff der „imagined communities“, weil die nationale Gemeinschaft nur auf der Imagination einer schon immer qua Natur gegebenen, geteilten „Schicksalsgemeinschaft“ (Cudak 2017, S. 64) basiert. Balibar (1992) konstatiert unter dem Stichwort der „fiktiven Ethnizität“, dass keine Nation historisch betrachtet auf einer ethnischen Basis entstanden ist, aber dass jede Nation „mittels ihrer Institutionen eine fiktive Ethnizität“ (Balibar 1992, S. 76) konstruiert. Kaschuba (2007) verweist auf die lange Tradition kultureller „Identitätspolitik“, in der sich vor allem
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„seit dem 18 Jahrhundert und unter dem Vorzeichen nationaler Verstaatlichung und Vergemeinschaftung kollektive Bilder und Stereotype herausbildeten, um sich und andere zu identifizieren […] schon in den ersten „Völkertafeln“ aus der Mitte des 18 Jahrhunderts wurden die Deutschen als „treu“ und die Franzosen als „treulos“ beschrieben“ (ebd., S. 67 ff.).
Aus diesem Verständnis heraus wird Migration in Deutschland in erster Linie als eine „Integrationsaufgabe“ bezeichnet. Diese „Integrationsaufgabe“ definiert beispielsweise die Landesregierung NRW in ihrem ersten Zuwanderungsbericht von 1995 „als einen interkulturellen, dynamischen Prozess, in dem sich Zuwanderer und Aufnahmegesellschaft aufeinander zu bewegen.“ ‚Integrationsarbeit‘ wird als eine staatliche Aufgabe verstanden, die sich politisch, ökonomisch und soziokulturell in der Gesellschaft niederschlägt. In nationalen und kommunalen Integrationskonzepten werden die Leitlinien zur Eingliederung von Newcomer*innen in die Stadtgesellschaft formuliert.15 Diese wurden im Laufe der Jahre immer wieder transformiert und ausgearbeitet. So wurde 2007 beispielsweise der Nationale Integrationsplan (NIP) mit dem Ziel erarbeitet, die „Integrationspolitik noch wirksamer gestalten zu können“ (Homepage Bundesministerium o. S.). Verschiedene Maßnahmen, etwa die Sprachförderung oder die Förderung interkultureller Kompetenzen, gehören zu den Handlungsfeldern innerhalb der Integrationskonzepte. Dabei wird die Integration der „Menschen mit Migrationshintergrund“ systematisch beobachtet und anhand unterschiedlicher Integrationsindikatoren messbar gemacht (vgl. NIP 2007, S. 13). Auch wenn Integration im NIP als ein ‚Aufeinander zubewegen‘ verstanden wird, bekommen die Auswirkungen des von den verantwortlichen staatlichen Stellen jeweils verfolgten Integrationskonzeptes in erster Linie die Newcomer*innen zu spüren, die verschiedene ‚Integrationsaufgaben‘ leisten müssen, wenn sie in Deutschland leben möchten. Bukow (2017) verweist auf eine
15Im
Düsseldorfer Integrationskonzept heißt es etwa: „Die Landeshauptstadt Düsseldorf wird die Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des gleichberechtigen Miteinanders weiter fördern. Sie wird die eigene Angebotsstruktur unter migrationsspezifischen Erfordernissen weiterentwickeln und mit denen der Träger vernetzen. Sie wird die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ausweiten und die interkulturelle Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern […]. Laut Erlass orientiert sich Integration als Querschnittsaufgabe hierbei an den Bedarfen der Menschen mit Migrationshintergrund in ihren verschiedenen Lebenslagen sowie an den Prinzipien der Interkulturalität, der Mehrsprachigkeit, des Diversity Managements und der Potenzialansätze“ (Stadt Düsseldorf: Düsseldorfer Integrationskonzept 2017a, S. 3 f.).
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von der etablierten Politik auf Landes- oder Bundesebene immer wieder „nationalistisch imprägnierte, hegemonial ausgerichtete, abgehobene und vor allem ubiquitär geltend gemachte […] nationale Integrationslyrik“ die einen „sehr folgenreichen Normalisierungsdruck nicht nur gegenüber Newcomer*innen, sondern auch gegenüber Minderheiten und marginalisierten Alteingesessenen ausübt“ (Bukow 2018a, o. S). Terkessidis (2006) fasst die Auswirkungen des staatlichen Integrationskonzeptes für das diversitätsgeprägte Zusammenleben folgendermaßen zusammen: „Seit der ersten Einführung des Integrationskonzeptes in den mittleren siebziger Jahren wurden von Seiten der Politik und der Medien immer wieder Skalen kultureller Nähe zum als Norm betrachteten »Deutschen« konstruiert, in welchen die letztlich synonym verwendeten Begriffe »Türken« und »Islam« die größtmögliche Entfernung zu dieser Norm ausdrücken. In der Bundesrepublik wird »der Ausländer« durch »den Türken« verkörpert und konkretisiert, so dass die Skala auf eine bloße Dichotomie zwischen »uns« und »ihnen« zusammenschrumpft. Aus der Reduzierung aller Einwanderer auf »die Türken« und die Verkoppelung mit »dem Islam« ergibt sich wiederum eine spezifische Problemagenda, die von Politik und Medien stets auf Neue aufgerufen wird, und die nur wenige Punkte beinhaltet: Sprachdefizite, Parallelgesellschaften/Ghettobildung, kulturelle Entwurzelung, Kopftücher, Machismüs“ (ebd., S. 4).
Nationalstaaten definieren maßgeblich das gesellschaftliche Verständnis von Migration.16 Durch die vom Nationalstaat verliehene Staatsangehörigkeit gehört das Individuum zum ‚Nationalen Wir‘. Damit werden Privilegien verknüpft, die dem/der Einzelnen Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Die Staatsangehörigkeit bedeutet zwar die formale Zugehörigkeit, aber sie impliziert auf keinen Fall immer die vollwertige Gesellschaftsmitgliedschaft, denn Newcomer*innen unterstehen oftmals nicht nur einem, sondern mehreren Zugehörigkeitsregimen (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012, S. 80). So mögen Newcomer*innen irgendwann als Staatsbürger*innen anerkannt sein, aber trotzdem nicht als Teil einer Gemeinschaft betrachtet werden. Es sind also Nationen, die die ‚Einheimischen‘ und ‚Fremden‘ entlang bestimmter Konstruktionen (wie etwa dem
16Erst vor dem Hintergrund des methodologischen Nationalismus mit seinen jeweils unterschiedlichen politisch- und wirtschaftlich geprägten Machtstrukturen wird Migration zu einem problematischen Sonderphänomen in den gesellschaftlichen Alltag eingeebnet, das mit speziellen Instrumenten und Programmen behandelt werden muss (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2002).
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‚Migrationshintergrund‘) formen. Sie schaffen ein kollektives Bewusstsein, mittels derer sie das ‚Eigene‘ und ‚Nationale‘ vom ‚Fremden‘ abgrenzen. „Nationalstaaten fördern den »Nativismus«, die Bevorzugung der Einheimischen vor den Einwanderern, und verstehen unter ihren Untertanen »die Einheimischen«. Sie unterstützen und fördern die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität“ [Hervorhebung im Original] (Bauman 1995, S. 87).
Die Bildung kollektiver nationalstaatlicher Identitäten, die das Fremde aufgrund fehlender passender Merkmale aussondern, bzw. isolieren, beruht auf einem zu diesem Zweck eigens eingeführten gesellschaftlichen Prozess. Wie die Nationalstaaten etwas Künstliches, von der Gesellschaft selbst Erschaffenes sind, so ist es der/die Fremde auch. Um die/den Fremden auch als etwas Fremdes von sich fernhalten zu können, verfügt die Mehrheitsgesellschaft über verschiedene Möglichkeiten des Unberührbar-machens (Othering). Der gesellschaftliche Kontakt mit der/dem Fremden kann reduziert werden, indem die/der Fremde mit seinen Eigenarten (andere Bräuche und Traditionen, andere Kultur, anderes Aussehen) vom Rest der Gesellschaft isoliert wird. Die/Der Fremde wird diskreditiert, indem Äußerlichkeiten oder leicht zu entdeckende Eigenschaften der/des Fremden als Beweis für seine schlechten, gefährlichen und bedrohlichen Qualitäten gewonnen werden. Bauman beschreibt dies als die „gesellschaftliche Institution des Stigmas“, das die Ausgrenzung rechtfertigt und der Legitimation der/des Fremden dient (vgl. Bauman 1995, S. 90 f.; vgl. auch Goffman 2016). Diesen Prozess der Minderheiten-Zuschreibung versucht auch der Labeling Approach (auch: Etikettierungsansatz) zu erklären. Er bezieht sich auf gesellschaftliche Konstruktions- und Definitionsprozesse von Kriminalität und abweichendem Verhalten. Dadurch, dass bestimmte Handlungen und Personen als abweichend klassifiziert werden, wird eben diese Abweichung zum Bestandteil der Identität des einzelnen Individuums und als „persönlichkeitskonform perzipiert“ (Lamnek 1993 [1977], S. 89 f.). Aufbauend auf dem Etikettierungsansatz entwickelten Bukow und Llaryora (1988) den Ethnisierungsansatz. Sie postulierten die innerhalb der Gesellschaft existierende Belanglosigkeit ‚ethnischer‘ Differenz. Moderne Industriegesellschaften sind systemisch und funktional organisiert und eben nicht entlang ‚ethnischer‘ Differenzlinien. Die Kategorisierung bestimmter Menschen und Gruppen als Minderheiten und Andere ist durch den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit eben diesen Minderheiten allein sozial erzeugt. Die Zuschreibungen beruhen einerseits auf einer als different wahrgenommenen Kultur der Newcomer*innen (Kulturdifferenzhypothese) und andererseits auf der Annahme, dass Newcomer*innen lediglich durch vorindustrielle, traditionelle
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Gesellschaften geprägt und den Anforderungen der modernen Gesellschaft damit nicht gewachsen seien, sie also der Mehrheitsgesellschaft in Modernitätsaspekten unterlegen sind (Modernitätsdifferenzhypothese). Bukow und Llaryora beschreiben den Prozess der Minorisierung und Ethnisierung wie folgt: In einem ersten Schritt wird die in-group von den Mitgliedern als privilegierte Gruppe herausgearbeitet. Vor dem Hintergrund der eigenen privilegierten Stellung wird die out-group dann zum Nicht-Gesellschaftsmitglied erklärt. Mittels abwertender Attribute (‚kriminell‘, ‚integrationsunfähig‘ oder ‚-willig‘, ‚Schmarotzer‘ etc.) wird die Differenz zur eigenen Gruppe vergrößert. Die o ut-group wird als defizitär beschrieben und damit als Problemgruppe identifiziert. Die in-group wird in einem nächsten Schritt komplementär zu den Eigenschaften der outgroup eingestuft (‚integriert‘, ‚arbeitswillig‘ etc.). In einer dritten Phase gewinnt der Ethnisierungsprozess an sozialer Realität. Die Folgen sind u. a. Selbstethnisierungsprozesse der out-group. Einmal real geworden, richtet sich die ethnisierte Gruppe in der ihr zugeschriebenen Rolle ein. Als abweichend etikettiert, bedienen sie sich der Etikettierung, weil ihnen andere Möglichkeiten der Platzierung verwehrt bleiben; ein Prozess der von Bukow und Llaryora „als primäre Devianz“ und in der Folge als „sekundäre Devianz“ bezeichnet wird (vgl. Bukow und Llaryora 1988, S. 57 ff.). Auch Ottersbach (1997) betont die Paradoxie, die sich aus der „Produktion von Minoritäten“ ergibt (ebd., S. 235). Aufgrund struktureller Einschränkungen haben die Betroffenen oftmals gar keine Möglichkeit sich normal zu etablieren, obwohl sie sich bemühen, dem Bild eines/r normalen Bürger*in zu entsprechen. Sie können gar nicht in eine andere Ebene der Normalität aufsteigen, da ihnen dies von vornherein verunmöglicht wird. Die Konstruktionen der in-group, also des ‚nationalen Wir‘, bestimmen über die Spielregeln der In- oder Exklusion und erschaffen auf diese Weise das „Regime der Zugehörigkeit“ (Pfaff-Czarnecka 2012, S. 79). Bukow beklagt, dass die Trennung zwischen dem ‚nationalen Wir‘ und den ‚ethnisch Anderen‘ schon zu einer Art Grundkonsens avanciert ist, „der bis heute immer wieder reproduziert wird. So ist ein Narrativ entstanden, welches sich nicht nur methodologisch, sondern schließlich auch interpretativ, also hermeneutisch verfestigt hat“ (Bukow 2017, S. 4). Chin (2013) geht davon aus, dass sich die national-konstruierten Grenzen bereits in die Tiefen des gesellschaftlichen Alltags (Institutionen, Einzelakteure) eingeschrieben haben: „Work sites, eateries, airports, shopping malls, homes, factories, construction sites, and so forth are considered internal borders of the nation and are monitored by citizens and security forces. A person needs only appear to be an ‘illegal – in ways framed by negative public discourse associating migrants’ physiognomies, nationa-
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lities, cultures, and genders with different expressions of illegality – for them to be questioned and detained by the authorities. Such actions exemplify racial-ethnicized and gendered petit apartheid practices“ (ebd., S. 83).
Auch Hall (1994) betont die Veralltäglichung ‚ethnischer‘ Grenzziehungen in seiner Rassismuskritik und beschreibt, wie defizitäre und damit rassistische Bilder, Figuren und Diskurse gesellschaftlich als normaler binärer Gegensatz festgeschrieben werden. Die Differenz zwischen den ‚Deutschen‘ und den ‚Anderen‘ (meist ‚Migrant*innen‘) scheint in Deutschland als eine natürlich gegebene Tatsache wahrgenommen zu werden, die sich schon im selbstverständlichen Alltagswissen festgesetzt hat (vgl. Mecheril 2010), weshalb Terkessidis (2005, o. S.) auch von „rassistischem Wissen“, oder „ethnischem Rezeptwissen“ spricht. Hierbei handelt es sich um ein Wissen um Differenzen, welches jedoch nicht weiter hinterfragt wird. Dieser veralltäglichte binäre Gegensatz manifestiert schließlich Formen der Ungleichheit, der Ausgrenzung, Stigmatisierung und Marginalisierung von Newcomer*innen im sozialen Raum: „Die kollektivierende Linse erzeugt dabei nicht nur horizontale, sondern auch vertikale Trennungen: Armut, Unterprivilegierung oder Race werden oftmals ethnisiert; sie werden als dauerhafte (das heißt kaum anzulegende) kollektive Zuweisungen thematisiert, die über die Chancen und Grenzen im sozialen Raum entscheiden“ (Pfaff-Czarnecka 2012, S. 98).
Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die Art und Weise, wie von und über Migration gesprochen und berichtet wird, durch eine starke Defizit- und Problemorientierung gekennzeichnet ist (vgl. Bukow 2001, 2010, 2011, 2016; Bauman 2016; Yildiz 2001; Römhild 2014; Schiffauer 2002; Bigo 2002; Sökefeld 2004). So hat Marc Hill (2016) Dystopien in klassischen Texten herausgearbeitet, in denen Migration als eine Gefährdung für das Wirtschaftsleben, für die Stadtgesellschaft und für die Psyche dargestellt wird (vgl. Hill 2016, S. 15). Mit Integrationskonzepten und einem die Gesellschaft durchdringenden Migrationsregime haben sich die Fremdheitsnarrative in der Gesellschaft zu festen Konstruktionen manifestiert, die den Alltag überbauen. Die Exklusionsbestrebungen sind im Laufe der Zeit sogar noch aggressiver geworden, wie ich im folgenden Unterkapitel darlegen möchte. Ausgrenzung und Ungleichheit in postmodernen Gesellschaften Angesicht einer Welt, in der Mobilität und Diversität selbstverständliche Bestandteile globalisierter Biografien geworden sind und einzelne Nationalstaaten im Zuge der Liberalisierungs- und Flexibilisierungstendenzen an
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Bedeutung verloren haben, ließe sich vermuten, dass ‚ethnische‘ Fremdheit immer unbedeutender wird und sich in der diversitätsgrundierten Gesellschaft auflöst. Aktuelle gesellschaftspolitische Prozesse, etwa der zumindest zeitweise regionale Erfolg der PEGIDA-Bewegungen, der politische Erfolg der AfD sowie ein wieder erstarkender antimuslimischer Rassismus verweisen jedoch darauf, dass die Anerkennung migrationsbedingter Vielfalt in Deutschland keinen gesellschaftlichen Konsens darstellt. Aus einer Untersuchung von Andreas Zick (2011) zum Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geht hervor, dass negative und abwertende Einstellungen gegenüber Newcomer*innen – insbesondere gegenüber Muslim*innen – in Europa besonders stark verbreitet sind und zunehmen. Die Ausgrenzung des/der ‚ethnisch‘ Fremden wird im wissenschaftlichen Diskurs vor allem auf die mit der Flexibilisierung und der Individualisierung der Gesellschaft eingeleiteten strukturellen Ungleichheiten zurückgeführt (vgl. u. a. Bauman 1995, 1997, 2001; Hall 2008; Nachtwey 2017; Butterwegge 2004). Aus dieser Sicht heraus lassen sich Ethnisierung, Rassismus und Nationalismus als Eingriffe in das urbane Zusammenleben identifizieren, die sich im Laufe der Jahrzehnte verselbstständigt haben und als bestehende Diskursformationen im gesellschaftspolitischen Handeln reproduziert werden (Bauman 1995). Nachtwey (2017) fasst die aktuelle gesellschaftliche Lage als „Abstiegsgesellschaft“ zusammen. Die sozialen Ungleichheiten und Unsicherheiten, die sich aus der Liberalisierung und Globalisierung der Märkte ergeben, wachsen vor allem für die unteren Bevölkerungsschichten weiter an. Das Versprechen des gemeinsamen Aufstiegs aller Bevölkerungsgruppen gilt nicht mehr. An die Stelle des Fahrstuhls, mit dem alle Gesellschaftsmitglieder gemeinsam nach oben fahren und somit ihren sozialen Status verbessern (wobei sie in unterschiedlichen Etagen aussteigen) ist ein System von Rolltreppen getreten. Während Teile der Bevölkerung mit der Rolltreppe nach oben fahren, fahren vor allem Arme, Erwerbslose und Newcomer*innen, die oft nur wenige Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg haben, stetig abwärts. Auch für Waquant (2001) bedeutet die „Postindustrielle Modernisierung“ einerseits die Ausweitung von Arbeitsmöglichkeiten für Hochqualifizierte, andererseits aber auch „das Verschwinden von Millionen von Jobs sowie [die] gleichzeitige Vermehrung von Gelegenheitsarbeiten für ungelernte Arbeitskräfte“ (ebd., S. 482). Eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich, in chancenvoll und chancenlos ist die Folge. Bauman (1995, 2016) hat die Dynamiken der Ausgrenzung innerhalb unterschiedlicher gesellschaftlicher Phasen – von der Moderne, über die Postmoderne
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hin zur flüchtigen Moderne – erklärt.17 Er beschreibt den Übergang von der festen zur flüssigen Moderne, also von der Produzenten- zur Konsumentengesellschaft. Die heutige westliche Gesellschaft ist nach Bauman (1995) in der flüssigen Moderne angekommen, die durch das Aufbrechen und Auflösen fester Bindungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene und durch den Gestaltungsverlust des einzelnen Nationalstaats gekennzeichnet ist. Durch die zunehmende Flexibilisierung aller Lebensbereiche öffnen sich Räume für Konflikte zwischen „differierenden, mannigfachen und eben auch antagonistischen Partialinteressen“ und werden zunehmend Verteilungskämpfe auf allen gesellschaftlichen Ebenen sichtbar (um materielle Güter, Konzepte der Lebensführung, Werte usw.) (vgl. Schulze 2003, S. 75).
17Bauman zufolge handelt der Nationalstaat als Gärtner. Der sogenannte Gärtnerstaat unterteilt die Bevölkerung in nützliche und unnütze Pflanzen, wobei die Nützlichen gekräftigt werden und die unnützen Pflanzen, in diesem Falle als Unkraut beschrieben, mitsamt ihrer Wurzeln entfernt werden. Mit dieser Metapher zeigt Bauman, dass der Staat versucht, Ambivalenzen mittels verschiedener Exklusionsstrategien aus der gesellschaftlichen Ordnung zu verbannen. Im Weiteren geht Bauman mit der Metapher des Gärtners auf die Dynamiken von ethnischen und rassistischen Konflikten ein. Wie der Gärtner Nützliches vom Unnützen trennt, so werden auch Menschen in der modernen Gesellschaft mittels verschiedener Ausgrenzungsstrategien ausgesondert. Eigentlich wirken die Werte der Moderne, die sich in Chancengleichheit, Selbstbestimmung und der Verantwortung des Individuums für sein eigenes Schicksal zeigen – einer Stigmatisierung des Fremden entgegen (vgl. Bauman 1995, S. 92). Dass die Stigmatisierung des Fremden dennoch zur gesellschaftlichen Realität in der Moderne gehört, ist für Bauman der Beweis für die Unvollkommenheit der Moderne. Die grenzenlosen Möglichkeiten, die eine moderne Welt verspricht, werden durch das Stigma und den Mangel an Freiheit und Grenzenlosigkeit als Blendwerk entlarvt. Der Nationalstaat spielt hier sozusagen ein doppeltes Spiel, indem er mittels Verbreitung von Werten, wie Chancengleichheit und Selbstbestimmung, die Auflösung der Exklusion des Fremden fordert. Gleichzeitig unterstützt er diese aber, indem er Grenzen innerhalb der Gemeinschaften zieht. Aufgrund dieser strikten Grenzziehung ist nach Bauman auch jegliche Anpassung des Fremden zum Scheitern verurteilt. Durch die Proklamation zur Aufhebung der Differenzen, ist der Fremde immer mehr versucht, seine eigenen, für die Gesellschaft fremden Eigenschaften zu verstecken und zu vernichten, um zur Gemeinschaft gehören zu können. Damit beginnt der Fremde ein Leben der nicht gänzlichen Zugehörigkeit, weil er nie richtig der Fremde, aber auch nie ganz der Dazugehörige sein kann und darf: „Definiert man das Problem der Aufhebung der Entfremdung, der Eingemeindung des Fremden als eine Frage des Anstands und der Bemühung des Fremden um eine Assimilation-durch-Akkulturation, heißt das nur die Minderwertigkeit, Unerwünschtheit und die Deplatziertheit der Lebensformen des Fremden zu bestätigen; zu verkünden, daß der Urzustand des Fremden ein Fleck sei, der abgewaschen werden müsse; zu akzeptieren, daß der Fremde von Geburt an schuldig ist und daß es an ihm liege, Buße zu tun und seinen Anspruch auf Absolution zu beweisen“ (Bauman 1995, S. 96).
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Die Verflüssigung der Gesellschaft wird vor allem durch die Deregulierung, Liberalisierung und Flexibilisierung des gesellschaftlichen Lebens vorangetrieben und breitet sich in raschem Tempo über alle Bevölkerungs- und Gesellschaftsschichten hinweg aus (vgl. Bauman 2005, S. 203). Dies führt zur Unterwerfung beinahe aller Lebensbereiche (Arbeitsmärkte, Gesundheitsmärkte, Grundstücksmärkte, Geldmärkte etc.), unter die Prämisse des Marktes (vgl. Ritzer und Murphy 2007 zu den Texten von Bauman: 56; Bauman 2003, S. 5). Alle Hindernisse, die eine flüssige Welt, bzw. den Fluss von Geldakkumulation hemmen könnten, müssen ausgelagert werden, sodass die flüssige Welt im flow bleibt und ungestört weiter fließen, bzw. konsumieren kann. Die soziale Interaktion zwischen den Individuen wird ebenso wie die Identität jeder/jedes Einzelnen von den Kräften der Verflüssigung, also von Flexibilisierung und Diskontinuität, dominiert. Es kommt zur Wandlung der Werte von Dauer auf Flüchtigkeit (vgl. ebd.). Alle sozialen Bindungen, ob im Arbeitsleben oder innerhalb der Intimbeziehungen, sind durch Flüchtigkeit gekennzeichnet. Auch der Bestimmungsort der/des Einzelnen ist nicht fest, sondern flüchtig. Nichts gilt ewig, sondern nur bis auf Weiteres. Das In-Bewegung-Bleiben ist die wichtigste Aufgabe des Individuums, denn es muss in jeder Situation darauf vorbereitet sein, sich schnell und flexibel auf alles und jede/n einzustellen. Jedwede Festigkeit würde die Bewältigung neuer Situationen und Hindernisse gefährden. Somit heißt der „Angelpunkt der postmodernen Lebensstrategie nicht […] Identitätsbildung, sondern Vermeidung jeglicher Festlegung“ (Bauman 1997, S. 146; vgl. dazu auch Schroer 2006, S. 436). Nachtwey (2017) konstatiert, dass der eingeforderten Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung des Individuums das Bild eines „fairen Wettkampfs“ zur Seite gestellt wird, in dem „postkoloniale Unterschiede“ lediglich als Ergebnis dieser Leistung hervortreten (vgl. ebd., S. 113). Für den Nationalstaat ergeben sich gravierende Veränderungen aus der zunehmenden Flexibilisierung. Um seinem traditionellen Selbstverständnis gerecht zu werden und seinen Herrschaftsanspruch und die damit verbundenen Machtfunktionen durchsetzen zu können hat sich der Nationalstaat von einem Sozialstaat in einen Sicherheitsstaat und von einem Wohlfahrtsstaat in einen strafenden Staat entwickelt (Bauman 2005, S. 127 ff.; vgl. dazu Wacquant 1997, 2001, 2009; Garland 2002; Hess 1999; vgl. auch Schroer (2007) und Junge (2007) zu Zygmunt Bauman). „Trat der Wohlfahrtstaat erstmalig als Netz auf, um die aus dem Arbeitsprozess vorübergehend Ausgeschiedenen aufzufangen, so ist das Netz inzwischen zur Hängematte mutiert, in der sich angeblich diejenigen bequem machen, die sich mit ihrer eigentlich nur vorübergehenden Lage längst arrangiert haben […] Doch der sich von seinen sozialen Aufgaben mehr und mehr zurückziehende
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Staat zeigt sich inzwischen entschlossen, nicht nur die Hängematten abzubauen, sondern auch die Netze einzuziehen“ (Junge 2007, S. 437 zu Zygmunt Bauman). Um vor seinen Bürger*innen weiterhin die Legitimation als machtvoller Staat zu haben, konzentriert sich der Staat vor allem auf die vermeintliche Beseitigung von Unsicherheiten (vgl. Legnaro 2008). Er erzeugt neue Ordnungen des Strafens und verstärkt seinen Repressionsapparat (vgl. Wacquant 2009), weil er auf dem Feld der Sicherheitspolitik noch vorzeigbare Ergebnisse präsentieren und staatliches Handeln signalisieren kann, während er auf die Prozesse der Globalisierung, die das Leben innerhalb des Staates eigentlich beeinflussen, keine nationalstaatlichen Antworten mehr geben kann (vgl. Bauman 2005, S. 129).18 Dies trägt letztlich zur Vereinzelung und Entpolitisierung der Gesellschaft bei (vgl. Schroer 2007, S. 444). Situationen der Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder Krankheit verwandeln sich mehr und mehr zu einem selbstverschuldeten Problem, da jedes Individuum für sich selbst verantwortlich ist/verantwortlich gemacht wurde. Dies macht es für die/den Einzelne/n allerdings auch immer schwieriger aus der Abwärtsspirale herauszutreten (vgl. Schroer 2007, S. 440). Ist ein Individuum in der Rolle des „Nichtkonsumenten“ (Bauman 2005) gefangen, ist es für ihn/sie fast unmöglich, Teil der Konsumgesellschaft zu werden, da diese in schnellen Schritten voranschreitet (vgl. Schroer 2007, S. 441). Einmal im Kreis der Ausgegrenzten, besteht kaum die Möglichkeit einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die Unfähigkeit des Individuums, für sich selbst sorgen zu können, macht es zur/zum Ausgegrenzten. Klassenstrukturierungen, die sich durch Marktpositionen und Mobilitätschancen charakterisieren, verdichten sich in der flüchtigen Gesellschaft in systematische Benachteiligungen und lassen eine neue „Unterklasse“ entstehen (vgl. Giddens 1984, S. 129 ff.; vgl. auch Wehrheim 2015) „Für befristet Beschäftigte, Leiharbeiter, Teilzeit- und Werkvertragsbeschäftige, Niedriglohnbezieher, Minijobber, Clickworker, […] bündeln sich Formen der Unterprivilegierung mit Defiziten an sozialen wirtschaftlichen Bürgerrechten. Sie bilden den Kern einer neuen Unterklasse“ (Nachtwey 2017, S. 174). Neue „gefährliche Klassen“ werden zunehmend sichtbar, die die Sicherheit des Staates gefährden:
18Die Rolle des Staates wird in der liquid modernity noch intensiver und ausführlicher dargelegt, siehe dazu: Bauman, Zygmunt (2003).
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt „Wieder im Fokus sozialer Kontrolle steht in jüngerer Zeit der Lebensstil unterer Schichten. Eine Rückkehr des Bildes ‚gefährlicher Klassen‘ und der ‚unwürdigen Armen‘ wird hervorgehoben, und diese mit unterschiedlichen Bedrohungsszenarien belegt, die bereits der ‚gefährlichen‘ Arbeiterklasse und dem Lumpenproletariat während der Industrialisierung zugeschrieben wurden“ (Menzel und Wehrheim 2010, S. 519).
Wurde Armut viele Jahre als ein Phänomen der sogenannten ‚Dritten Welt‘ beschrieben, wird Armut seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend auch wieder in ‚westlichen Gesellschaften‘ sichtbar, wie Wacquant (2001) konstatiert: „[…] obdachlose Männer, Familien, […] Bettler in den U-Bahnen […]; Suppenküchen, die nicht nur von Obdachlosen, sondern auch von Arbeitslosen oder Menschen mit zu geringem Einkommen aufgesucht werden […]“ (ebd., S. 481). Im Lichte dieser Ausführungen wird auch nachvollziehbar, warum sogenannte ‚arme Menschen‘, und ‚unerwünschte Öffentlichkeiten‘, aber eben auch ‚Fluchtmigration‘, ‚Armutsmigration‘ und ‚irreguläre Migration‘ in öffentlichen Diskursen in erster Linie innerhalb eines Sicherheitsdiskurses thematisiert werden. Die Verbesonderung bestimmter sozialer Milieus stärkt die eigene nationale Identität und dient der Reproduktion bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Spannungsfeld einer globalen Gesellschaft. Allen voran dienen ‚ethnische‘ Differenzen als Projektionsfläche für die Unsicherheiten, die der soziale Wandel für viele Teile der Bevölkerung mit sich bringt (vgl. Bauman 2016, S. 64; Hall 2008), wie am Beispiel der Kölner Silvesternacht 2015/2016 deutlich wird: Zum Jahreswechsel 2015/2016 kam es in Köln zu vermehrten sexuellen Übergriffen auf Frauen. Medial wurde weit über die Bundesgrenzen hinweg über diese Vorfälle berichtet. Die Berichterstattung war besonders durch ein einseitiges, populistisch gefärbtes Täterbild geprägt. Relativ schnell wurden ‚asylsuchende Nordafrikaner‘ als Täter identifiziert. Auch wenn im Nachgang viele voreilig getätigte Darstellungen relativiert wurden, blieb das Bild des ‚bedrohlichen Flüchtlings‘ und ‚kriminellen Nordafrikaners‘ haften. In der Konsequenz wurden ‚Asylsuchende‘ und insbesondere ‚Menschen aus Nordafrika‘ rassifiziert. Zunehmende Sicherheits- und Kontrollprogramme (Stichwort Projekt Casablanca),19 die vornehmlich in den Stadtquartieren vollzogen wurden, in denen
19Seit
Juni 2014 wird von der Direktion Kriminalität des Polizeipräsidiums Düsseldorf das sogenannte Projekt „Casablanca“ geführt. Ende 2016 lief das Projekt aus. Im Abschlussbericht (2016) vom Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen werden die Ziele des Projekts noch einmal zusammengefasst: „Ziel des Projekts ist
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man die Täter vermutete, wurden durch die Vorfälle legitimiert. Plötzlich war ein breites sicherheitspolitisches Feld entstanden, auf dem der Staat seine Handlungsfähigkeit eindrucksvoll demonstrieren konnte. Nicht zuletzt fand die Rassifizierung mit der Erklärung der Staaten Tunesien, Algerien und Marokko zu sicheren Herkunftsländern auch hier ihre Bestätigung. In ihrer Untersuchung „Wenn mit Lügen über sexualisierte Gewalt Haß geschürt wird“ verweist die Amadeu Antonio Stiftung (2016) auf den Mythos des „übergriffigen Fremden“, der sich mit Kriminalitätszahlen nicht nachweisen lässt und trotzdem überdauert. „Statt über Schutzkonzepte für Opfer und über deren Situation nachzudenken, wurde die Diskussion mit rassistischen Bildern aufgeladen. Obwohl es kaum Wissen darüber gibt, was tatsächlich passiert ist, wurden online und offline Mutmaßungen als Fakten präsentiert, mit denen letztlich das Vorurteil vom »übergriffigen Fremden« bedient und verbreitet wurde“ (Amadeu Stiftung 2016, S. 2).
Anhand dieses Beispiels wird die rassistisch fundierte Verknüpfung von ‚falscher‘ Mobilität und pseudo-ethnischen Zuschreibungen sowie einer Kriminalisierung des unerwünschten Anderen deutlich. Margarete Jäger (1999) fasst derartige Repräsentationen als eine „Ethnisierung des Sexismus“ zusammen, die von identitären Gruppen aufgegriffen und instrumentalisiert wurden (etwa die Begriffe Rapefugee not welcome oder Sex-Terrorismus, mit denen die identitären Gruppen gegen Flüchtlinge hetzten) (vgl. hierzu von Grönheim 2018). Bigo (2002) hat bereits vor über einem Jahrzehnt treffend beschrieben, dass migrationsbedingte Vielfalt in erster Linie mit einer Versicherheitlichung in Verbindung gebracht wird. Mit symbolischer Sicherheitspolitik versucht der Staat seine Handlungsfähigkeit zu beweisen. Diversität wird hierbei verbesondert, weil sich im Umgang mit ihr (Asylgesetz, Grenzkontrollen, etc.) eine vermeintliche staatliche (Handlungs-) Macht demonstrieren lässt, die der Staat auf anderen Feldern offensichtlich längst eingebüßt hat (Kontrolle der Finanzmärkte, Einfluss auf global operierende Unternehmen). Bigo (2002) stellt dar, dass sich das pseudo-gemeinsame europäische Migrationskonzept vor allem auf die
es, durch spezifische Auswertung von Straftaten der Eigentums-, Gewalt- und Betäubungsmittelkriminalität nordafrikanischer Tatverdächtiger vertiefte Erkenntnisse – u. a. zu möglichen Täterstrukturen – zu erlangen. Mit der spezifischen Aufgabe sind zwei Analysten betraut. Im Projektverlauf wurden bisher Daten zu mehr als 4300 Straftaten und zu mehr als 2200 Straftätern nordafrikanischer Herkunft erfasst und analysiert. Gesicherte Erkenntnisse zu Bandenstrukturen konnten hierdurch bisher nicht erlangt werden“ (ebd., S. 26).
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Bekämpfung von Migration konzentriert und die Zuwanderung von bestimmten Bevölkerungsgruppen als gesellschaftsschädigend in den Alltag eingeebnet wird. Die EU-weite Zusammenarbeit stärkt den Kontroll- und Sicherheitscharakter der Abschottung/Abgrenzung gegenüber Anderen. Auch die grenzenlose Freiheit von Personen wird vom Nationalstaat im Gegensatz zum freien Fluss von Geld, Arbeit und Dienstleistungen als Sicherheitsproblem für die öffentliche Ordnung und den Rechtstaat inszeniert. Die zunehmenden Sicherheitsmechanismen sind also besonders durch den gesellschaftlichen und sozialen Wandel entstanden: „Der systematische Rückzug wohlfahrtsstaatlicher Planungen und Verteilung wurde (und wird) flankiert von einer Zunahme an Sicherheitsmaßnahmen und Kontrolle“ (Schmidt 2011, S. 1). Die Auswirkungen dieses Kontrollnetzes auf Migrationsprozesse sind dabei sehr unterschiedlich. Schiffauer (2009) hat in seiner ethnografischen Forschung „Nach dem Islamismus“ am Beispiel der Milli Görüs aufgezeigt, wie migrantische Gruppen von diesem Kontrollnetz betroffen sind. Alles, was die Organisation für ihre ‚Integration‘ in Deutschland (mit der Wahrung gewisser islamischer Traditionen) versucht, wird als Unterminierung der ‚deutschen Kultur und Werte‘ abgewertet, die Milli Görüs mit dem Ziel verfolgt, die eigenen (islamischen) politischen Interessen durchzusetzen. Wurde Differenz lange Zeit in die Nähe von Verfassungsfeindlichkeit gerückt, so beschreibt Schiffauer, dass sie seit 2005 zunehmend als Sicherheitsrisiko thematisiert wird. Die Gemeinden der Milli Görüs wurden als Basis verstanden, an die radikale Gruppen als terroristisches Vorfeld andocken könnten. Diese Grundmelodie lässt sich in zahlreichen Beispielen fortsetzen – ein Blick auf den aktuellen Umgang mit ‚Flüchtlingen‘ beweist, wie selbstverständlich Migration, Flucht und Sicherheit als gemeinsames Worttrio genannt werden: „Die Integration der nach Deutschland geflüchteten Menschen wird neben Fragen der Sicherheit im Jahr 2017 zur zentralen Herausforderung für Städte und Gemeinden“ (Homepage Deutscher Städte- und Gemeindebund o. S.). Darüber hinaus lässt sich ein Wandel von einer zentralistischen zu einer dezentralistischen Kontrollgesellschaft beobachten: Es steuern und regieren nicht mehr nur „Autoritäten von ‚oben‘ und ‚von außen‘; stattdessen ist der ‚kontrollierende Blick‘ in das ‚Innere‘ der Menschen, ihre Körper und ihren Geist, vorgedrungen“ (Cudak 2017, S. 94). Dies bedeutet, dass eine zunehmende Versicherheitlichung auf kleinräumlicher Ebene erfolgt: Neben dem Ausbau des traditionellen Kontrollapparates (Polizei, Ordnungsämter etc.) sind auch Ämter des Inneren (Jugendamt, Soziale Arbeit, Schulen etc.) zu einem Teil des Kontrollapparates gemacht worden. Auch die Institution Schule offenbart ihren kontrollierenden Charakter, etwa wenn mit Auffangklassen Newcomer*innen als Randgruppen
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in den Schulalltag eingeschrieben werden (vgl. dazu Cudak 2017; Heger 2010; Belina 2007; Mattissek 2008; Wehrheim 2009). Die Adressat*innen der unterschiedlichen Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen im öffentlichen Raum sind neben ‚Flüchtlingen‘ vor allem Kriminelle, Verbrecher*innen, unerwünschte Öffentlichkeiten/Randgruppen, Gefährder*innen etc. Auch sogenannte ‚Incivilities‘, also sowohl abweichende Handlungen als auch materielle Verwahrlosung im urbanen Raum, sind Ziel der unterschiedlichen Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen. Dazu gehören öffentlicher Alkoholkonsum, Drogenkonsum und Drogenverkauf, Betteln, Prostitution, lautes Herumschreien oder lautes Musikhören, Müll etc., sowie verfallene Gebäude, Straßenzüge usw. (vgl. Skogan 1990; Häfele 2013). Die Sozialraumkontrollen werden von institutionell oder formell angedockten Personen durchgeführt. Polizist*innen, das Ordnungsamt oder auch private Sicherheitsdienste sind befähigt, Menschen aus öffentlichen Räumen zu vertreiben, präventive Ausweiskontrollen vorzunehmen etc. Auch die Stadt- und Raumplanung übernimmt eine zentrale Funktion im Kontroll- und Sicherheitsgefüge. Öffentliche Räume werden so gestaltet, dass unerwünschte Öffentlichkeiten keinen Platz finden. Genaugenommen sind in der Gestaltung vieler Räume bereits Kontrollfunktionen impliziert (vgl. Wehrheim 2009). Auch Kameraüberwachungen in (halb)öffentlichen Räumen sollen den politischen Kampf gegen Kriminalität und Unsicherheit symbolisieren. Von den Sicherheitsmaßnahmen ist zunächst einmal jede Person betroffen, die sich in (halb)öffentlichen Räumen aufhält, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen (vgl. Wehrheim 2009). Die etablierten Personen, die selbst nicht Objekte der Kontrolle sind, weil sie im gesellschaftlichen Diskurs nicht als ‚abweichend‘, ‚anders‘, ‚kriminell‘, ‚verbrecherisch‘ markiert sind oder nicht ‚anders‘ aussehen, sind durch die zunehmenden Kontrollen nicht in ihrer Freiheit eingeschränkt. Nur die stigmatisierten Gruppen sind von den Sicherheitsmaßnahmen betroffen und in ihrer Freiheit beschnitten (vgl. Wehrheim 2009, S. 202 f.). Belina (2009) verweist in diesem Zusammenhang auf die Verquickung von Raum und Sicherheit/Kriminalität. In Anlehnung an Konzepte aus der Kriminalsoziologie, die in unterschiedlichen Ansätzen die Verknüpfung von signs of incivility (materielle Verwahrlosungen u. ä.) und social incivilities herausgestellt haben, spricht Belina von kriminell eingestuften Orten (unter dem Label Brennpunkt, Ghetto etc. siehe Abschn. 2.4.1), an denen die Personen, die sich dort aufhalten oder dort leben, mitsamt dem Ort als Gefährder*innen und Kriminelle manifestiert werden: „In diesen Gegenden gilt, dass es ausreicht, dort zu wohnen oder sich dort aufzuhalten, um als überflüssig und potenziell kriminell zu gelten und entsprechend behandelt zu werden“ (Belina 2007, S. 227; vgl. auch Bauman
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2005, S. 114). Stadtentwicklungspolitische Maßnahmen agieren schließlich auf Basis dieser Zuschreibungen und verstärken damit die sozialräumliche Marginalisierung. Als Reaktion auf die diskursive manifeste Abwertung sollen sie Stadtteile aufwerten, verfestigen damit aber gleichzeitig den abwertenden Charakter, den sie bekämpfen wollte (vgl. etwa die Diskussion zum Programm Soziale Stadt in Abschn. 2.4.1). Die Diskurslinien werden handlungspraktisch und schlagen sich im Alltag und schließlich in alltäglichen Kontrollpraktiken nieder, die sich gegen vermeintliche Gefährder*innen und Kriminelle richten. In Anlehnung an das Konzept des Panoptismus und den Begriff der Sicherheitsdispositive20 von Michel Foucault (1978) können die zunehmenden Sicherheits- und Kontrollmechanismen als Folge und Konsequenz anderer Machtdiskurse betrachtet werden. Auch der Mittelpunkt meiner Forschung, der umgrenzte urbane Raum Lessingplatz, ist zunehmenden sozialen Kontroll- und Sicherheitspraktiken ausgesetzt, die sich institutionell (etwa im Projekt „Casablanca“) ausdrücken. Aber auch auf der Mikroebene werden Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen sichtbar, etwa durch tägliche Polizeikontrollen im urbanen Raum oder durch Platzwarte (etwa Streetworker, Spielplatzpaten etc.). Die unterschiedlichen Kontrollbestrebungen dienen der Aufrechterhaltung einer symbolischen Ordnung. Welche Bedeutung und Auswirkungen diese verschiedenen kontrollierenden Instanzen und die symbolische Ordnung für das Zusammenleben und für einzelne Personen, bzw. bestimmte ver-anderte Gruppen im urbanen Raum Lessingplatz haben, gilt es im empirischen Teil näher zu beleuchten.
2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt „Freilich sahen die Engländer angesichts der ständig anwachsenden Zahl der Deutschen ihr Land „durch eine zunehmende Germanisierung gefährdet“ (Charnitzky). Schon 1717 fürchtete der pennsylvanische Gouverneur Keth „sehr gefährliche Konsequenzen“ für seine Kolonie durch „die große Zahl der Fremden aus Deutschland, die mit unserer Sprache und Verfassung nicht vertraut sind“ (Colonial Records).
20Der
Begriff Sicherheitsdispositiv meint die Verknüpfung unterschiedlicher diskursiver Praktiken zu einem strategischen Netz: Ein Dispositiv meint „ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt“ (Foucault 1978, S. 119 f.).
2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt
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[…] In der Tat neigten die Deutschen dazu, Parallelgesellschaften zu bilden, in den man deutsch sprach, deutsche Sitten pflegte und unter sich blieb. In Philadelphia gab es sogar deutsche Druckereien und periodische deutsche Druckzeugnisse. […] In einem 1751 verfassten Pamphlet bemängelte Franklin auch die Hautfarbe der deutschen Zuwanderer – „Warum sollte das von den Engländern gegründete Pennsylvania eine Kolonie von Ausländern werden; bald werden sie so zahlreich sein, dass sie uns germanisieren statt das wir sie anglizieren; niemals werden sie unsere Sprache und unsere Sitten annehmen, geschweige denn unsere Hautfarbe“. Die der Deutschen nämlich sei „swarty“, also dunkel, Ausnahme seien nur die „saxons“, die Sachsen, die – zusammen mit den Engländern – die einzige wirklich Weißen seien“ (Mittelberger 2017, S. 7 ff.).
In der Hoffnung, ein besseres Leben zu finden, nahmen im 18. Jahrhundert ca. 200.000 deutsche Auswanderer*innen den langen und beschwerlichen Weg nach Nordamerika auf sich. Existenznot, politische Verfolgung, Kriegswirren und die Suche nach dem persönlichen Glück waren die Triebfedern der Nordamerika-Emigration. Bis 1920 wanderten insgesamt sogar etwa 7 Mio. Deutsche nach Amerika aus (vgl. ebd.). Gottlieb Mittelberger war einer von ihnen – er emigrierte 1750 aus Schwaben nach Pennsylvania und erlebte, dass die Deutschen zwar als fleißige und sparsame Arbeiter*innen und Bäuer*innen geschätzt wurden, gleichzeitig aber nicht besonders willkommen waren, obwohl sie einen wichtigen Beitrag zum Aufschwung des Landes leisteten. Stattdessen schlug ihnen die Angst vor einer „Germanisierung“ und Überfremdung entgegen (vgl. ebd., S. 14). Benjamin Franklin befürchtete damals, dass Pennsylvania, wo sich die deutschen Flüchtlinge vermehrt niederließen, „in wenigen Jahren eine deutsche Kolonie“ werden würde, in der die Engländer, „statt dass sie [die Deutschen] die englische Sprache lernen, […] die ihre Lernen oder wie in einem fremden Land leben [müssen]. Schon jetzt beginnen einige Engländer, bestimmte Wohngegenden zu verlassen, die von Deutschen eingekreist worden sind, weil sie sich dort aufgrund der abstoßenden, ungehobelten Manieren der Deutschen nicht mehr wohl fühlen; und wahrscheinlich werden erhebliche Mengen die Provinz aus ebendiesen Gründen verlassen (Brief von James Parker, 20.März 1751)“ (ebd., S. 14).
Mittelbergers Reisebericht liest sich wie ein zeitloser Kommentar zu aktuellen Migrationsprozessen: Die lange und gefährliche Überfahrt, die Mittelberger beschreibt, die Abhängigkeit von Schleppern und Menschenfängern, die hohen Kosten, die mit der Migration verbunden waren, aber auch die Hoffnungen auf ein besseres Leben und die Ängste, die seitens des Nationalstaats vor einer Überfremdung und vor der Entstehung von Parallelgesellschaften in den Städten
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geschürt werden, sind Aspekte, die auch in der aktuellen ‚deutschen‘ Debatte über Migration und ihre Folgen immer wieder thematisiert werden. In Anlehnung an Bukow und Ottersbach (1999) konstatiert Lanz (2007), dass der Mainstream der wissenschaftlichen Studien, die sich mit Analysen sozialräumlicher Entwicklungstendenzen auseinandersetzen, „mehr oder weniger explizit dem ›Desintegrations-Theorem‹ von Wilhelm Heitmeyer“ (ebd., S. 163) folgt. Dem Desintegrations-Theorem zufolge funktioniert die „Integrationsmaschine Stadt“ aufgrund gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse, die in zunehmenden sozialen und politischen Desintegrationsprozessen zum Ausdruck kommen, nicht mehr. Die Zahnräder, die das städtische Getriebe am Laufen halten, seien blockiert und die Zerstörung urbaner Kultur und Vielfalt die Folge. Besonders problematisch an den Studien von Heitmeyer ist meines Erachtens die Verquickung von städtischen Krisendiagnosen in Zusammenhang mit ‚Ausländern‘, ‚ethnischen Kolonien‘ und ‚ethnisch‘ segregierten Stadtteilen, wie auch andere kritische Autor*innen herausstellen (vgl. Lanz 2007; Schulze 2003; Preißing 2016; Yildiz 2009; Bukow et al. 2002). Vor allem im Zusammenhang mit segregierten Stadteilen wird in den Heitmeyer-Studien ein Bild vermittelt, in denen die Newcomer*innen ihre Ausgrenzung selbst verschuldet und produziert haben. Ökonomische, räumliche und soziale Problemlagen werden auf ‚Ethnizität‘ und Migration zurückgeführt. Zahlreiche weitere Veröffentlichungen, wissenschaftlicher, medialer und politischer Art, haben diese Grundmelodie dieser Desintegrationslyrik in unterschiedlichen Ausprägungen fortgeführt (vgl. etwa Strukturförderungsprogramm Soziale Stadt; Häußermann et al. 2004; Heitmeyer et al. 1997, 1997; Heckmann 1998) und damit in der breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung eine Verquickung von ‚Armut‘, ‚rückständigen, sozial benachteiligten Quartieren‘ und ‚Ausländer*innen‘ gestärkt.21 Selbst wenn die
21Yildiz
(2004), Schulze (2003) und Ronneberger und Tsianos (2009) verweisen kritisch auf die politisch einflussreiche Studie „Überforderte Nachbarn“ (1998), die vom GdW Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen in Auftrag gegeben wurde (1998). Die Studie enthält zahlreiche rassistische Stereotype. Es geht um eine sozialpolitische Neuausrichtung in sogenannten Problemquartieren, in denen vor allem Ausländer*innen neben Einheimischen leben und nicht miteinander klar kommen würden. Daher auch der Begriff der Überforderung. So führe das Verhalten der Ausländer*innen, etwa Aggression und zunehmenden Konfliktbereitschaft dazu, dass die Einheimischen ‚überfordert‘ seien. Die Ausländer*innen verfügen nicht über geeignete Techniken, sich im Alltag durchzusetzen, da sie sich eher über Aggression und körperliche Kampftechniken ausdrücken würden. Ein weiteres Beispiel deutet die „rassistischen Untertöne“ in dieser Studie an (vgl. Tsianos 2013, S. 69): „Vor allem den Einheimischen erscheinen die Sozialämter als Orte der Inquisition und der Erniedrigung. Robuster und unbekümmerter gehen demgegenüber
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Potenziale segregierter Gebiete in den Blick genommen werden, wie es etwa Elwert (1982) unter dem Label ‚Integration trotz Segregation‘ versucht haben, werden Newcomer*innen doch wieder nur als ‚urbane Andere‘ wahrgenommen, die separat beforscht werden müssen. Die Großstadtkritik, die also schon im 19. Jahrhundert die Diskussion um die Großstädte prägte (vgl. Abschn. 2.1), wirkt immer noch fort, nur das die Newcomer*innen zu den zentralen Sündenböcken der Krisendiagnosen gemacht wurden (vgl. Yildiz und Ottersbach 2004; Tsianos und Ronneberger 2009). Insgesamt zeigt der hier nur kurz umrissene Diskurs um die wissenschaftliche Darstellung von Ethnizität, wie Marginalisierung im Kontext von Ethnisierung und Rassismus wissenschaftlich immer wieder reproduziert und gestärkt wird. In der wissenschaftlichen Forschung wird häufig noch von ‚ethnischer Segregation‘, von ‚Deutschen‘ und ‚Zuwanderern‘, gesprochen, die in ‚Brennpunkt-Quartieren‘, ‚marginalisierten Quartieren‘ oder ‚Quartieren der Ausgrenzung‘ wohnen (vgl. Heitmeyer et al. 1998; Siebel 2012, S. 208; Häußermann et al. 2004; Friedrichs und Triemer 2009; Bicer et al. 2014). Auf diese Weise vereinfacht und reproduziert auch die wissenschaftliche Forschung immer wieder die vermeintlichen Differenzen zwischen den ‚Migrant*innen‘ und den ‚Deutschen‘. Indem Armutsprobleme und räumliche Verwahrlosung in den Quartieren als ‚ethnische‘ Phänomene gedeutet werden, verstärken diese Forschungen darüber hinaus eine vereinfachte Assoziationskette von Newcomer*innen zu s ozial-räumlichen Problemlagen (vgl. Bukow 2001, 2011; Yildiz 2004, 2012, 2014; Schulze 2003, S. 39; vgl. auch Waltz 2002; Ronneberger und Tsianos 2009; Hess 2013; Lanz 2007): „Begriffe wie „Parallelgesellschaft“ oder „Ghetto“ sind genau das, was Loic Wacquant (2006, 79) in Anlehnung an Pierre Bourdieu einen „wissenschaftlichen Mythos“ nennt, also eine diskursive Formation, die in wissenschaftlicher Codierung und auf scheinbar neutrale Weise soziale Fantasien über Unterschiede zwischen Uns und den Denen konstruiert“ (Yildiz 2014, S. 146).
viele Ausländer vor. Für sie sind die Leistungsträger offensichtlich ein großer Teppichhandel, den man mit Zähigkeit und Cleverness bis zur Erschöpfung der Schalterbeamten führt“ (zitiert nach Krings-Heckemeier und Pfeiffer 1998, S. 37). In diesem Bericht werden die Ausländer*innen zur sogenannten A-Gruppen gezählt, wozu Arbeitslose, Menschen mit Suchtproblemen etc. gehören, die überwiegend in marginalisierten Stadtteilen unterkommen (vgl. dazu Schulze 2003).
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Doch auch jüngere stadtsoziologische und kulturanthropologische Forschungen, in deren Rahmen Lebensräume als spezifische Orte ‚ethnischer‘ oder ‚subkultureller Gruppen‘ untersucht werden (vgl. etwa Lang 1998; Bourgios 2003; Kurtenbach 2017), verstärken ebenfalls Grenzlinien. Baumgärtner (2009) verweist zu Recht auf die Tatsache, dass „die daraus gewonnenen subalternen Einsichten in spezifische, oftmals marginalisierte Gemeinschaften“ oftmals auch wieder daraus hinauslaufen, das ‚Fremde‘ im urbanen Raum zu suchen (vgl. ebd., S. 51). Die wissenschaftliche Forschung über ‚ethnische Gruppen‘ an bestimmten Orten (etwa über die ‚Hispanics‘ in den USA, der ‚zweiten‘ oder ‚dritten Generation‘ oder den ‚Deutschtürken‘ in Deutschland) trägt auf diese Weise maßgeblich zur gesellschaftlichen Polarisierung und zur weiteren Marginalisierung bereits benachteiligter Gruppen bei. Im Folgenden werde ich die Diskussion um die zweigeteilte Stadt insbesondere vor dem Hintergrund der Segregations- und Parallelgesellschaftsdebatte darlegen. Diese Aspekte sind deshalb besonders relevant für die vorliegende Arbeit, weil auch in meinem Forschungsfeld immer wieder die Frage nach der Abschottung bestimmter Bevölkerungsteile aufkam, die sich, so der Vorwurf, nur in ihren eigenen Communities aufhalten und sich nicht in das Zusammenleben einbringen würden. Als Folge ergibt sich aus dieser Wahrnehmung, dass die sich möglicherweise aufgrund empfundener Diskriminierungen abgrenzenden Stadtbewohner*innen schließlich als urbane Andere in den städtischen Diskurs eingeschrieben werden. Darüber hinaus verweist die Diskussion um Segregationstendenzen und Parallelgesellschaften auf einen normativistischen Blick auf Stadt, in der von Gesellschaft als ein von „Normen durchzogenen und von Werten überwölbtem Block“ (Lanz 2007, S. 164) gesprochen wird, dem die spontanen und latenten Strukturen der Alltagsorganisation entgehen. Diese Aspekte gilt es im nachfolgenden Kapitel vertiefend in den Blick zu nehmen. Dabei wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen, dass die Betrachtung des Quartieralltags und die alltägliche Performance der Bewohner*innen einen entdramatisierenden Blick (Yildiz 2010) hervorbringt, der nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten, nicht nur das Differente, sondern auch das Vertraute sieht. Damit knüpfe ich an sozialwissenschaftliche Forschungen an, die die Alltagssituationen in diversitäts- und mobilitätsgeprägten Quartieren untersuchen und die mit dem urbanen Raum verbundenen hegemonialen Imaginationen (vgl. Said 1978), die auf den Ort und ihre Bewohner*innen wirken, berücksichtigen (vgl etwa Eckardt und Eade 2011; Hess und Moser 2009; Vertovec 2010; Bukow et al. 2011; Heide et al. 2010; Dika et al. 2011).
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2.4.1 In- und Exklusion in diversitätsgeprägten Stadtteilen Das Bild segregiert lebender sozialer Gruppen begleitet die Diskussion um das diversitätsgeprägte Zusammenleben. So wird in der wissenschaftlichen Debatte etwa von der „Dual City“ (Mollenkopf und Castells 1991), der „divided city“ (Murie und van Kempen 2009) oder der „gespaltenen Stadt“ (Willems 1999) gesprochen. Segregation meint zunächst nur die ungleiche Verteilung verschiedener sozialer Gruppen über die Stadt (vgl. Häußermann und Siebel 2001, S. 28). Han (2000) erweitert diese Definition, wenn er auf die Mehrheitsgesellschaft als Urheber verweist und Segregation als „die soziale und territoriale Ausgrenzung von Minderheiten [versteht], die die Angehörigen der dominanten Mehrheit zum Zweck der Verteidigung bzw. des Ausbaus ihrer Interessen und Privilegien formell oder informell vornimmt“ (ebd., S. 235).
Diese Definition impliziert allerdings, dass es sich bei Segregation immer um einen von der Mehrheitsgesellschaft erzwungenen Ausgrenzungsprozess handelt. Völlig ausgeblendet wird hierbei der Fakt, dass es durchaus eine erhebliche freiwillige Segregation von Minderheiten gibt. Die Villenviertel reicherer Bewohnerschichten (gesteigert bis hin zu gated communities), deren Bewohner*innen weder die Mehrheit der Bevölkerung stellen, noch gezwungen wurden, in relativ abgeschotteten Stadtvierteln unter ihresgleichen zu wohnen, belegen, dass Segregation ein durchaus beabsichtigter Prozess sein kann. Aus dieser Perspektive folgt, dass Segregation kein Problem an sich ist, sondern, dass sie lediglich unter bestimmten Bedingungen zu einem Problem werden kann. Solange die Menschen sich aufgrund freiwilliger Abgrenzung in gleiche Lebenslagen oder aufgrund ähnlicher Interessen in Stadtquartieren zusammenfinden, ist Segregation erst einmal kein defizitär besetztes Phänomen, sondern ein normaler Vergesellschaftungsprozess. Vor dem Hintergrund der ab Abschn. 2.3 dargestellten Diskussion, dass in Deutschland eine Grenze zwischen ‚Alteingesessenen‘ und Newcomer*innen strukturgebend ist, kommt eine weitere Perspektive auf Segregation zum Ausdruck: Die Segregation gutsituierter Bürger*innen oder gesellschaftlich akzeptierter Gruppen würde von niemandem als problematisch angeprangert werden, während die Segregation von Newcomer*innen eher argwöhnisch begutachtet wird. In einer Untersuchung der Alternativszene in der Kölner Südstadt stellen Kißler und Eckert (1990) fest, dass das, was in der „alternativen Szene geschieht,
60
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zweifellos als Ghettobildung in der öffentlichen Meinung kritisiert würde, wenn eine ‚ethnisch‘ definierte Gruppe so vorginge“ (ebd., S. 73). Die Differenzierung zwischen ‚guter‘ bzw. nicht hinterfragter und ‚schlechter‘, bzw. hinterfragter Segregation, die letztlich zu einer defizitären Perspektive auf die Segregation von Newcomer*innengruppen führt, hat eine lange Tradition, die durch die Diskussion um die sogenannten ‚Ghettos‘ in den USA geprägt wurde.22 Ronneberger und Tsianos (2009) stellen heraus, dass es in Deutschland seit den 1990er-Jahren Befürchtungen gibt, dass sich „Ausländer Ghettos mit ethnisch homogenen und armen Bevölkerungen herausbilden, die als gefährliche Unterklasse zudem ein wachsendes Gefährdungspotenzial für die städtische Mehrheitsgesellschaft darstellen würden“ (ebd., S. 137). Sie konstatieren, dass der ‚Ghetto-Diskurs‘ eine Raum-Ideologie darstellt, die in Deutschland die Dimension der ‚Parallelgesellschaft‘ und die „sozialräumliche Spaltung in den Städten“ symbolisiert, da es in Deutschland keine Ghettos gebe (ebd., S. 145). Die Beschwörung des Ghettos hat Folgen für die Newcomer*innen in Deutschland: Die Angst vor dem Zerfall von Stadtquartieren in ghettoähnliche Strukturen führte in den Jahren 1975 und 1989 in Berlin beispielsweise dazu, dass eine Ausländerzugangssperre für bestimmte Quartiere ausgesprochen wurde, um die Zahl der nicht-deutschen Bewohner*innen zu reduzieren und die der deutschen Bewohner*innen zu maximieren (vgl. Kapphan 2000, S. 141; Schulze 2003, S. 39). Auch aktuell kommen solche Tendenzen in vielfacher Weise zu Ausdruck, wenn etwa die Residenzpflicht von ‚Flüchtlingen‘ gesetzlich festgeschrieben und deren „Lagerung“ (Bauman 2005; Agir 2002) in extra für sie geschaffene – teils in der Peripherie gelegenen – Räumen (häufig Kasernen, die beschönigend als ‚Ankerzentren‘ bezeichnet werden) organisiert wird. Auch in der Diskussion um die Verteilung der ‚Flüchtlinge‘ innerhalb Europas und Deutschlands wird dies deutlich. Wie eine Ware werden die Newcomer*innen, die niemand haben will, innerhalb der Länder verteilt. Häußermann und Siebel (2001) führen Segregationsprozesse auf ein Zusammenspiel aus sozialer und räumlicher Ungleichheit zurück und nennen insbesondere vier Faktoren, die für Segregation verantwortlich sind (vgl. Häu-
22Als
‚Ghettos‘ wurden Stadtteile bezeichnet, die durch einen überdurchschnittlichen hohen Anteil an ‚Einwanderern‘ geprägt sind und vor allem mit negativen und desolaten Zuständen assoziiert werden, etwa Kriminalität, Verfall, Verwahrlosung und Armut. Sie sind „Abladeplätze“ für Menschen, für die „die Gesellschaft draußen keine wirtschaftliche oder politische Verwendung hat“ (Bauman 2005, S. 115).
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ßermann und Siebel: 2001, S. 31 ff.): Die Angebotsseite (1) und Nachfrageseite (2) des Wohnungsmarktes sowie die Diskriminierungen (3) und die subjektiven Präferenzen (4) auf dem Wohnungsmarkt. Auf der Angebotsseite führen Häußermann und Siebel politische, ökonomische, symbolische und soziale Differenzierung als Gründe für Segregation an. So werden durch die Mittel der Stadtplanung und Wohnungspolitik unterschiedliche Wohnqualitäten geschaffen und Preisdifferenzen erreicht. Architektur, Geschichte und Infrastruktur sorgen für die symbolische Differenzierung des Raums. Darüber hinaus differenzieren sich Wohn- und Lebensräume in der sozialen Dimension nach der Bewohnerschaft und dem damit zusammenhängenden Sozialprestige. Die Nachfrageseite des Wohnungsmarktes wird durch die Wohnraumsuchenden bestimmt. Aufgrund ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen ergibt sich die Verteilung über das Stadtgebiet. Es können also zunächst jene die Wahl treffen, die über das meiste Geld, die besten Kontakte oder das beste Insiderwissen verfügen, erst dann wählen diejenigen mit einer geringeren Ressourcenausstattung. Harvey (1973) vergleicht das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage deswegen auch mit einem sich langsam füllenden Theater. Derjenige, der zuerst seinen Platz auswählen kann, hat noch n-Wahlmöglichkeiten, der zweite n-1, der dritte n-2, usw., bis das Theater voll ist und der letzte nur noch eine Wahlmöglichkeit hat. Darüber hinaus herrschen bei der Vergabe von Wohnraum diskriminierende Praktiken vor, die Newcomer*innen und anderen ‚sozial schwächeren Gruppen‘ die Wohnungssuche erschweren. Letztlich sind auch persönliche Präferenzen Gründe für Segregation. Wie oben bereits aufgezeigt wurde, ist freiwillige Segregation ein normaler Vorgang, der sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Darüber hinaus sehen Siebel und Häußermann Ausgrenzungs-, Marginalisierungs- und Segregationsprozesse vor allem als eine Folge des ökonomischen und sozialen Wandels der Städte insgesamt an. Vor allem der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat sich auf das Zusammenleben in den Städten ausgewirkt. Durch das Verschwinden unqualifizierter Arbeitsmöglichkeiten, den Abbau von Sozialwohnungsleistungen, den Rückzug des Staates aus der Wohnversorgung und die Deregulierung der sozialen Sicherungssysteme wurde eine zunehmende Polarisierung zwischen den reicheren und den ärmeren Bevölkerungsschichten ausgelöst, die sich im Stadtbild niederschlägt. Als Folge dieser Entwicklungen prognostizieren Häußermann und Siebel (2001) eine dreigeteilte Stadt, die in Armutsmilieus, eine „integrierte Mittelschicht“ und in Orte gegliedert ist, in denen die Oberschicht angesiedelt ist.
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Diese Tendenz führt Häußermann zufolge zu einer Stadt, in der die urbane K ultur und der städtische Frieden zerstört werden (vgl. Häußermann 1998, S. 169). Für Dangschat (2000) ist die „Spaltung der Städte“ die Folge einer Stadtpolitik, die die Stadt nicht als einen Ort sozialer Inklusion betrachtet, sondern sie zum Zwecke globaler Konkurrenz- und Machtspiele ausnutzt. Auch für Wacquant (2001) ist die Schaffung, bzw. Konstruktion sogenannter ‚Elendsquartiere‘ eine Folge des postmodernen Gesellschaftwandels. Im Zuge dieses Wandels kam es zu einer „Modernisierung des Elends“ (ebd., S. 480), die sich räumlich niederschlägt. „[…] Brixton in London, Nieuwe Westen in Rotterdam, Les Minguettes in der Suburbia Lyons und Bobigny in der Pariser Banlieu: diese Elendsquartiere stehen als Markenzeichen für alle Großstadtseuchen unserer Zeit und sind Orte, vor denen man Abscheu und Angst empfindet“ (Wacquant 2001, S. 481). Den Bewohner*innen haftet nicht zuletzt durch die „zahlreichen dämonisierenden Beschreibungen […] ein untilgbares territoriales Stigma an, das die Last der Armut erschwert und die Vorurteile gegenüber ‚ethnischen‘ Minderheiten und Migranten“ (ebd., S. 485) erhöht. Die Auswirkungen ‚ethnischer‘ Segregation werden unter zwei unterschiedlichen Annahmen diskutiert. Die erste Annahme lautet, dass sich durch die einseitig ‚ethnische‘ Konzentration Parallelgesellschaften bilden. Mit Parallelgesellschaft ist die „Vorstellung von ethnisch homogenen Bevölkerungsgruppen verbunden, die sich räumlich, sozial und kulturell von der Mehrheitsgesellschaft abschotten“ (Belwe 2006, S. 2). Dass die sogenannte Abschottung oft jedoch das Produkt sozialer Ausgrenzung ist, wird dabei kaum berücksichtigt (vgl. Bauman 2005; Siebel 2012). Es wird angenommen, dass die Bewohner*innen der segregierten Stadtteile in ihren Werten und Normen, aber auch in ihrem Alltagshandeln von der sich als Mehrheitsgesellschaft konstruierenden Gesellschaft abweichen. Häußermann spricht von Werteverlust und dem Entstehen „abweichender“ Kulturen in den segregierten Stadtgebieten (vgl. Häußermann und Siebel 2001, S. 80 f.). Dieser Vorstellung liegt die weitere Annahme zugrunde, dass die im Quartier unter ihresgleichen lebende einseitig ‚ethnisch‘ geprägte Community im Alltag aufgrund der räumlichen Abschottung keinerlei Berührungspunkte zur Mehrheitsgesellschaft hat. Auf diese Weise, so die Annahme, leben die Mitglieder der ‚ethnisch‘ geprägten Community weiterhin ihre eigene Kultur, ihre eigenen Bräuche und Traditionen aus, was wiederum die Integration in die Mehrheitsgesellschaft be- oder verhindert. Die räumliche Abschottung, so die Annahme des Soziologen Ismail Ermagen (2007), wirke sich auch auf das Alltagsleben der Menschen aus, die
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63
sich beispielsweise in ihren türkischen Teestuben abschotteten und die Integration verweigerten (vgl. ebd. taz-Interview).23 Die Bestrebungen der Newcomer*innen, sich im Quartier zu platzieren und eigene Orte zu schaffen, können mit Foucault (1992) auch als Heterotopien bezeichnet werden, als „Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, […] gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte“ (ebd., S. 39). Foucault meint mit Gegenräumen, Räume, die sich als Resonanzräume auf gesellschaftlichen Verhältnissen gebildet haben. Marc Terkessidis (2005) zufolge sind heterotope Räume, „Orte, die von jenen geschaffen wurden, die einbezogen sind und gleichzeitig ausgeschlossen“ werden (ebd: o. S.). Interessant ist in diesem Zusammenhang die relationale Haltung gegenüber derartigen Organisationsprozessen unterschiedlicher Communities, die deutlich wird, wenn man sich andere Beispiele anschaut. Während das sogenannte ‚JapanViertel‘ in Düsseldorf eher mit kulinarischen, exotischen und urbanen Attributen verknüpft und explizit zu Marketingzwecken der Stadt eingesetzt wird (siehe Homepage der Stadt Düsseldorf), werden die Quartiere und Rückzugsräume (wie etwa Shishabars), in denen sich insbesondere Newcomer*innen aus dem globalen Süden aufhalten, mit negativen Assoziationen in Szene gesetzt (vgl. Berding 2017). Wie bereits in Abschn. 2.3.2 kurz dargelegt wurde, zeigt sich hier ein ambivalentes und hoch-selektives Migrationsregime. Inklusionsleistung von Ankunftsorten Der zuvor skizzierten negativen Perspektive auf ‚ethnisch segregierte‘ Stadtviertel lässt sich eine Perspektive gegenüberstellen, die die aus der Segregation entstehenden Potenziale für den Ankunftsprozess der Newcomer*innen in den Blick nimmt. Dieser Annahme liegt das Verständnis zugrunde, dass die vermeintlich
23„Die
türkischen Männer halten sich in einer Parallelwelt auf – sie vernachlässigen ihre Familien, reden nur türkisch und bleiben unter sich. Es gibt keine integrationsfördernden Tätigkeiten in diesen Stuben.“ Imran Ayata hat diese Sichtweise in seinem Text „Sabri Abis Männercafe. Über einen Ort, der mir gefällt“ (1998) ironisch aufgegriffen und die Teestuben überspitzt als einen Ort beschrieben, „wo schnauzbärtige Alis im Macho-Club den ganzen Tag rumhängen, böse Blicke nach draußen werfen, sodass Allemanninnen sich an solchen Cafés nicht vorbei trauen.“ Abgesehen von der auch gegenwärtig noch stets reproduzierenden Verquickung von Teestuben oder Shishabars mit Begriffen wie ‚Kriminalität‘, ‚Illegalität‘, ‚Geldwäsche‘ oder eben dem Stigma des ‚Problemviertels‘ (vgl etwa Fokus 2018; WZ 2018), werden Orte des Rückzugs im Zusammenhang mit Praktiken der Newcomer*innen weniger als normaler gesellschaftlicher Platzierungsprozess verstanden, sondern argwöhnisch als Zeichen der ‚Integrationsverweigerung‘ betrachtet.
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‚ethnisch segregierten‘ Stadtteile eine Inklusionsleistung für die gesamte Stadt übernehmen und den Bewohner*innen das Ankommen und die Platzierung in der neuen Umgebung erleichtern (vgl. dazu Dangschat 2000). Aufgrund dieser Leistungen für die Gesamtstadt sollten diese Quartiere „durch besondere Maßnahmen der sozialverträglichen Stadterneuerung, durch eine besonders intensive Infrastrukturausstattung und eine besonders gute verkehrliche Anbindung `belohnt werden´“ (IBA 2013, S. 26; vgl. auch Dangschat 2000). Ein einschlägiges und viel zitiertes Modell ist die von Saunders (2011) beschriebene Arrival City. Saunders spielt mit dem Begriff der Arrival City auf das Quartier als Ankunftsort für Newcomer*innen an. Er beschreibt am Beispiel unterschiedlicher Quartiere, wie sogenannte Ankunftsorte durch fehlende städtebauliche Unterstützung, Migrationsregime, mangelnde Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten, Ausgrenzung und geringe Teilhabemöglichkeiten zu Brutstätten von Gewalt und Kriminalität werden können. Er beschreibt aber auch, dass diese Quartiere Katalysator und Sprungbrett für eine erfolgreiche Zukunft der Newcomer*innen sein können, wenn den einzelnen Akteur*innen in ihren Quartieren nur genügend Möglichkeiten zur Partizipation, Entwicklung und vor allem zur Geschäftigkeit geboten werden. Die Ankunftsorte, die Saunders beschreibt, zeichnen sich meist durch eine langjährige Migrationsgeschichte aus. Sie halten gewerbliche Strukturen, günstigen Wohnraum, religiöse Einrichtungen, lokale Arbeitsmöglichkeiten, aber auch eine global funktionierende Infrastruktur für neue Newcomer*innen bereit, wie Saunders u. a. am Beispiel der Tower Hamlets in London aufzeigt: „In den Hauptstraßen wimmelt es nur so von Läden, in denen man Geldüberweisungen tätigen kann, islamischen Finanzierungsbüros, auf Bangladesch spezialisierten Reisebüros, Internet-Cafés, Beratern für Einwanderungsfragen, Heiratsvermittlern“ (Saunders 2011, S. 53). Beispiele für Ankunftsorte in Deutschland sind etwa Köln-Kalk (Friedrichs 2016), Köln-Mülheim (Bukow und Yildiz 2002a, 2005), Duisburg-Marxloh (Voll 2016), Mannheim-Jungbusch (Baumgärtner 2009), Berlin-Neukölln (Saunders 2011), Düsseldorf-Oberbilk (Berding 2017), uvm. Saunders betrachtet das Ankunftsquartier vor allem als Sprungbrett für den sozialen Aufstieg. Haben die Newcomer*innen sich einmal etabliert, verlassen sie die Ankunftsquartiere (vgl. Saunders 2011, 2016; El-Mafaalanie et al. 2015). Sie ziehen in andere Stadtteile, die ihnen eine ‚bessere‘, den eigenen Bedürfnissen entsprechende Urbanität verheißen. Inszenierungspraktiken Das Quartier kann durch die Etablierung als Ankunftsort aufgewertet werden, wie Bukow und Yildiz (2005) beispielsweise anhand der Keuppstraße in Köln-Mülheim aufzeigen. Dort sei eine „orientalische Inszenierung“ zu
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beobachten, die sich in allen vergleichbaren Metropolen von Toronto über LA bis Sydney beobachten ließe: „Die Mischung der präsentierten Elemente, die nur scheinbar der Herkunftskultur der Migranten entstammt, erweist sich schlicht als eine praktische Geschäftsstrategie, als eine Verbeugung gegenüber den lokalen, hier den deutschen Vorstellungen vom „Orient“ (Bukow und Yildiz 2005, o. S.).24
In vielen Städten weltweit sind diese sogenannten ‚Ethnic-theme-parcs‘ zu Quartieren herangewachsen, die die Menschen bewusst aufsuchen, um in die Inszenierung einer chinesischen, japanischen, indischen oder südamerikanischen Welt einzutauschen. Dabei entspricht die Inszenierung dieser ‚fremden Kultur‘ nicht unbedingt den Realitäten der Bewohner*innen im Quartier, eher bedient sie sich an den von der Mehrheitsgesellschaft konstruierten Vorstellungen ihrer Kultur, um sich auf diese Weise in der Stadtgesellschaft platzieren zu können. Gerd Baumann (1997) erklärt die Dynamik hinter diesen Inszenierungsprozessen mit dem sogenannten dominanten und demotischen Diskurs. Der demotische Diskurs entwickelt sich schließlich aus dem dominanten Diskurs oder ist vielmehr eine Reaktion darauf.25 Sowie ‚Migrant*innen‘ einer bestimmten Kultur und Gemeinschaft zugeordnet werden, sind sie in der Rolle, diese reifizirte Kultur auch nach außen zu repräsentieren. Reifiziert deshalb, weil eben diese kulturellen Merkmale und Kategorien von den Menschen selbst künstlich und aktiv geschaffen werden. Die Kultur und Gemeinschaft entwickelt sich schließlich aus den Identitäten, die der jeweiligen Minderheit auferlegt werden. Als Beispiel nennt er die ‚asiatische Kultur‘ im Londoner Stadtteil Southall: „The endorsement of an Asien community of culture can be seen as a response to classification by others. The young Southallians who, in their teens, begin to apply the term of themselves are far less likely to have heard it from their parents than from Afro-Caribbean and white peers at school, from teachers, and notably from television“ (ebd., S. 218).
Der Bildung einer ‚asiatischen Kultur‘ liegen also nicht ‚ethnische‘ oder ‚kulturelle‘ Kategorien zugrunde, vielmehr unterliegt sie einer S elbst-Kategorisierung 24https://heimatkunde.boell.de/2005/11/18/urbaner-wandel-durch-migration-am-beispiel-
eines-einwandererquartiers-koeln-muelheim-die the dominant discourse equates ´culture´ with ´ethos´ or ´ethnic community`, its demotic counterpart disengage these very conceptions. Ideas of ´culture` and ´community` are thus negotiable in the social process“ (Bauman 1997, S. 215).
25„Where
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und Transkodierung (Hall 1994), die sich die Minderheiten aufgrund ihrer Rolle in der jeweiligen Gesellschaft auferlegen. Regina Römhild (2014) nennt diese Techniken auch „Ethnomimetische Identitätsspiele“.26 Die Definitionsmacht besitzt vor allem die dominante Gruppe, die den dominanten Diskurs bildet und damit den Inhalt und die Konzeption und somit auch die Kommunikation über das Andere bestimmt (vgl. Bauman 1997). Anhand dieser Identitätspiele wird deutlich, welche Auswirkungen die natio-kulturellen Diskursformationen auf das alltägliche Leben der New comer*innen haben. Dieser Aspekt ist auch für die vorliegende Untersuchung relevant. Denn, wenn von Oberbilk gesprochen wird, ist oftmals gleichermaßen vom sogenannten ‚Maghreb Viertel‘ oder ‚Marokkanischem Viertel‘ die Rede, Begriffe, die im öffentlich-urbanen Diskurs vor allem negativ verknüpft werden (vgl. Berding 2017; von Grönheim 2018). Dabei haben diese Zuschreibungen kaum etwas mit dem alltäglichen Leben im Stadtteil zu tun, sie sind von außen herangetragene Konstruktionen und Imaginationen, die jedoch eine hohe Deutungsmacht haben und den Stadtteil und damit gleichsam auch bestimmte Bevölkerungsgruppen weiterhin als ‚brennpunktartig‘ oder ‚rückständig‘ manifestieren. In der zunehmenden Berücksichtigung der Potenziale der Ankunftsviertel wird ein Perspektivwechsel deutlich, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Debatte um das diversitätsgeprägte Zusammenleben in den Städten vollzogen wurde. Wenn vorher in erster Linie problemorientiert auf segregierte Stadtteile und Abschottung im Sinne einer ‚Parallelgesellschaft‘ geblickt wurde, hat sich eine positivere Grundmelodie hinsichtlich der Betrachtung diversitätsgeprägten Zusammenlebens durchgesetzt. Folgende Aspekte kommen in dem Perspektivwechsel besonders zum Vorschein: Die Perspektive, mit der seitens der Wissenschaft auf den städtischen Raum geblickt wird, wird im Rahmen postmigrantischer, intersektionaler und postkolonialer Forschungsansätze zunehmend infrage gestellt. Die mit der
26„Ethnomimetische
Identitätsspiele gehören nicht nur in der Gastronomie zum Alltag der Selbstbehauptung in der Einwanderungsgesellschaft. Besonders in der „Illegalität“ undokumentierter Migration können Formen des „Passing“, der eigenen Unsichtbarmachung durch das Abtauchen in eine andere kulturelle Sichtbarkeit, überlebensnotwendig werden. Diese Praktiken zählen zu einem breiten Repertoire kreativer Umgangsweisen mit den die europäischen Gesellschaften und ihre Grenzen beherrschenden ethnischen Repräsentationen (vgl. Römhild 2007, S. 172 f.)“ hier zitiert nach Römhild (2014, S. 261).
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‚ethnischen Segregation‘ und Vergesellschaftung verbundene Annahme, Newcomer*innen schotteten sich ab und wirkten damit dem, was unter ‚Integration‘ verstanden wird, entgegen, beruht kritischen Forscher*innen zufolge auf einer Romantisierung und Idealisierung traditioneller Lebensformen, die es so noch nie gegeben hat (vgl. dazu Ronneberger und Tsianos 2009; Lanz 2007, 2016; Bukow 2001, 2011; Yildiz 2009; Hess und Moser 2009; Hill 2016; Nassehi 1995, 1997; Lang 1999; Krämer-Badoni 2002; Röhmhild 2014). Die Stadt als Ort „sozialer Einheit“ gibt es nicht (vgl. Schulze 2003, S. 49). „Wenn mit einem friedlichen Zusammenleben ein von einem allgemeinen Konsens geprägter Zustand gemeint ist, dann handelt es sich um ein Ideal, das nicht erreicht werden kann“ (Berding 2007, S 12). In der Stadt lassen sich immer Tendenzen sozialer Desintegration finden, wenn man denn welche sucht (vgl. Krämer-Badoni 2002, S. 53). Auch Bahrdt (1961) weist darauf hin, dass das Städtische durch eine „unvollständige Integration“ gekennzeichnet ist, die sich aus Vielfalt entwickelt hat. Nassehi (1992) konstatiert, dass moderne Gesellschaft „nicht durch einen überwölbenden Gesamtsinn, durch normative Ordnungen oder durch das moralische Gesetz integriert werden“ könne (ebd., S. 119). In der wissenschaftlichen Debatte wird man sich zunehmend darüber bewusst, dass die Stadt ein Ort der Widersprüche ist: „Urbanität hält Differenz aus, ohne sie begrüßen zu müssen“ (Nassehi 2017, S. 8). Abgrenzungsprozesse in die eigene Community werden als trivialer, sozial-psychologischer Handlungsmechanismus verstanden, den jedes Individuum nutzt, um sich emotional verorten zu können und unterschiedliche Zugehörigkeiten und Platzierungen zu erschaffen. In Anlehnung an Schroer (2006) ist der Rückzug in eigene Communities weniger als eine Strategie der Abgrenzung zu verstehen, sondern als ein Handlungsmechanismus, der vor dem Hintergrund der Tatsache erfolgt, dass „die meisten Menschen gerne mit Menschen zusammenleben, mit denen sie einen Lebensstil teilen“ (ebd., S. 246). Dass der triviale, individuelle Prozesses der Abgrenzung in der wissenschaftliche Forschung über einen langen Zeitraum mangelnde Anerkennung erfuhr, führte laut Schroer dazu, dass die Heterogenität, die sich hinter dieser vermeintlich einheitlichen Gesellschaftsformation verbirgt, nicht gesehen wurde und wird. Communities werden mit einem ethnisierenden „Blick von außen“ wahrgenommen, „dem die inneren Differenzierungen entgehen“ (Schroer 2006, S. 249; vgl. auch Niedermüller 2004; Neef und Keim 2007). Dieser Blick ins Innere wird im Rahmen postmigrantischer Ansätze jedoch zunehmend vorgenommen. So wird vor allem aus einer konstruktivistisch-alltagsbezogenen Perspektive auf den städtischen Raum und die sogenannten segregierten Stadtteile geblickt. Postmigrantische Ansätze wenden sich nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch dem konkret
68
2 Die diversitätsgrundierte Stadt
erlebbaren, alltäglichen urbanen Zusammenleben, seinen Chancen und Risiken zu – eine Perspektive, die für die vorliegende Arbeit richtungsweisend ist (vgl. Römhild 2011, 2014; Heide et al. 2010; Dika et al. 2011; Baumgärtner 2009; Hess 2009; Yildiz 2018; Cudak 2017; Sennett 2013; Roy und Ong 2011). Analysiert werden urbane Aushandlungsräume, an denen exemplarisch gezeigt werden kann, wie diverse, unterschiedlich positionierte Akteur*innen in einem geteilten gesellschaftlichen Alltag zueinander in Beziehung treten und diesen Alltag organisieren (vgl. Yildiz 2013, 2016; Preißing 2016). Mit dem Blick auf die alltäglichen Arrangements und Routinen ist es möglich, gesellschaftliche Zusammenhänge im Zusammenleben fernab binärer Logiken zu erfassen. Migration verweist in diesem Zusammenhang höchstens auf die konstitutive „Superdiversität“ (Meissner und Vertovec 2017) des Alltags, ist aber ansonsten belanglos. Segregierte Stadtteile, in denen die Newcomer*innen in den Blick geraten, werden aus dieser Perspektive nicht zu Ankunftsquartieren erklärt, weil dort sogenannte ‚Migrant*innen‘ leben, sondern, weil die Individuen sich alltagspraktisch und an ihren glokalen Routinen orientierend durchgesetzt haben. Es geht also um eine postethnische, bzw. postmigrantische Perspektive und eine Neubesinnung auf urbane Routinen und ihre immer wieder neuen lokalräumlichen Arrangements. Dieser Perspektivwechsel, der sich in der postmigrantischen Forschungsausrichtung im Hinblick auf den urbanen Raum abzeichnet, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung überwiegend noch ein „sortierender Blick“ vorherrscht (Baumgärtner 2009). Auch wenn in neueren Forschungsansätzen der Blick auf den Alltag der Stadtteilbewohner*innen gelenkt wird, hat die binäre Logik immer noch Relevanz, die dadurch deutlich wird, dass nach dem ‚Fremden‘ im Vertrauten gesucht wird, etwa nach subalternen, bzw. subkulturellen Communities. So gibt es mittlerweile viele kritische Forschungsarbeiten, in denen hegemoniale Deutungsmuster zwar reflektiert und aufgebrochen werden, jedoch wird auch hier oftmals eine bestimmte Community beleuchtet und diese damit – das liegt in der Natur der Sache – verbesondert (vgl. Hanhörster 2014 über „Türkeistämmige Eigentümer in Migrantenvierteln“; Barwick 2016 über „Social Mobility and Neighborhood Choice: Turkish-Germans in Berlin“; Polat 2006 über „Soziale und kulturelle Identität der türkischen Migranten der zweiten Generation“ oder auch die TIES Studie, die im November 2011 unter dem Titel „Die Integration der zweiten Generation in Deutschland -Studie zur türkischen und jugoslawischen Einwanderung“ veröffentlicht wurde). Zwar finden die Potenziale der Quartiere und damit auch die der Newcomer*innen im Rahmen dieser Arbeiten Erwähnung, dennoch impliziert diese
2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt
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Sichtweise immer noch ein Verständnis von den ‚Anderen‘, deren Leistung als ‚anders‘ herausgestellt werden muss/sollte. Insofern könnten diese Entwicklungen natürlich auch als „Erfolgsgeschichte der EinwanderInnen“ (Yildiz 2010, S. 101) betrachtet werden, sind damit aber eben noch das Gegenteil eines Bekenntnisses zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel. Lanz (2016) verweist auf die immer noch überdauernde Diskursformation, die sich nur hinsichtlich ihrer Adressaten ändert, wie etwa der „antimuslimische Urbanismus“ (Tsianos 2012) beweist.27 Hier wird deutlich, wie schwierig es auch für die wissenschaftliche Forschung ist, einer Reproduktionsdynamik zu entkommen und Forschung über etwas zu betreiben, ohne auf vorstrukturierte Kategorisierungen und Ordnungsmuster zurückzugreifen. Meiner Meinung nach lässt sich diese Problematik am ehesten vermeiden, wenn der Alltag als Referenzrahmen in den Blick genommen wird. Denn im Alltag handeln die Menschen gleich im anders sein – nämlich anhand praktischer und individuell ausgerichteter, routinierter Maximen, die sie situationsspezifisch anwenden, wie ich in Kap. 3 noch vertiefend darlegen werde.
2.4.2 Urbanität im Ankunftsquartier Schmal et al. charakterisieren die Arrival City wie folgt (vgl. Schmal et al. 2016): • Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt. • Die Arrival City ist bezahlbar.
27Lanz
(2016) beklagt die Überdauerung der hegemonialen Diskursformationen, die den urbanen Anderen manifestieren: „Dazu gehört gerade in Deutschland deren systematische Weigerung, das gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnis, in dem in der Stadt Fremdes und Eigenes definiert, in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gestellt und in eine „praktische Mechanik des Ausschlusses“ (Terkessidis 2004, S. 99) übersetzt wird, mit postkolonial informierten Rassismustheorien zu analysieren, anstatt mit Integrations- und Multikulturalismus-Paradigmen zu hantieren. Denn deren unhinterfragte Prämissen basieren auf den „natio-ethno-kulturellen“ Unterscheidungen zwischen ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ (Mecheril 2002, S. 105), die in der historischen Tradition einer essenzialistischen Konstruktion der deutschen Nation als Kulturgemeinschaft stehen (vgl. Lanz 2007). Nur so ist es beispielsweise zu erklären, dass regelmäßig aufflackernde Ghetto- und Parallelgesellschaftsdiskurse oder ein sich formierender „antimuslimischer Urbanismus“ (Tsianos 2013) nicht als Bestandteile einer historischen Diskursformation erkannt werden. Vielmehr werden sie mit Konzepten wie Ausländer oder Fremdenfeindlichkeit bearbeitet, die längst einheimische Nachkommen von Einwanderern immer wieder zu ‚Fremden‘ machen“ (Lanz 2016, S. 12).
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• • • •
2 Die diversitätsgrundierte Stadt
Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit. Die Arrival City ist informell. Die Arrival City ist im Erdgeschoss. Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern.
Bei der Betrachtung der Annahmen wird deutlich, dass Ankunftsquartiere strukturell durch eine Funktionsmischung geprägt sind28: Sie bieten formelle und informelle Arbeitsmöglichkeiten. Im besten Fall sind die gewerblichen Strukturen in den Erdgeschossen der Wohnbauten zu finden, wodurch sich Arbeit und Leben leicht verknüpfen lassen. Ankunftsquartiere ermöglichen schnelle Mobilität durch eine gute Infrastruktur, bieten günstigen Wohnraum und ein glokales Netzwerk, an das Newcomer*innen andocken können. Vor allem kleinteilige Gründerzeitquartiere, die durch eine dichte Bebauung und eine besonders heterogene Bewohnerschaft gekennzeichnet sind, ermöglichen die Ankunft und Platzierung der Newcomer*innen (ebd., S. 177). Darüber hinaus sind es Quartiere, die vor einigen Jahrzehnten „von der einheimischen Bevölkerung kaum nachgefragt wurden. Heute sind sie hingegen vielfach einem hohen Aufwertungsdruck ausgesetzt und ihre Gewerbeflächen sind nicht mehr günstig zu haben, weil schicke Bars und Boutiquen mit der ethnischen Ökonomie konkurrieren“ (ebd., S. 179). Verschiedene Autor*innen verweisen auf den Trend der Gentrifizierung, der sozio-ökonomische Auswirkungen auf die Bewohnerschaft dieser Quartiere hat (vgl. Holm 2010; Friedrichs und Kecskes 1996; Üblacker 2018). Mit dem Begriff der Gentrifizierung wird die Attraktivitätssteigerung eines Stadtteils durch einkommensstärkere Bevölkerungsgruppen bezeichnet. Der Zuzug dieser Gruppen hat zur Folge, dass in Häuser und Wohnungen stärker investiert wird, wodurch die Wohnqualität gesteigert wird und immer mehr gentrifier in den Stadtteil ziehen. Gentrifizierung hat zur Folge, das einkommensschwächere Gruppen irgendwann aus dem Stadtteil verdrängt werden, weil sie mit der Mietmarktentwicklung nicht Schritt halten können. Der Austausch ganzer Bevölkerungsteile ist typisch für den Gentrifizierungsprozess, der sich in zahlreichen deutschen Stadtquartieren bereits vollzogen hat oder aktuell vollzieht (z. B. Kreuzberg und Neukölln in Berlin, Flingern in Düsseldorf, Ehrenfeld in Köln). Gentrifizierungsprozesse verlaufen in drei Phasen: Als erstes kommen die sogenannten Pionier*innen auf der Suche nach günstigem Wohnraum in den
28Ich
spreche in der vorliegenden Arbeit von Ankunftsquartieren und nicht von der Arrvial City, auch wenn die Funktionen sich überschneiden. Mir ist es jedoch wichtig, das Quartier in seiner Funktion als Ankunftsort zu betonen und nicht die Gesamtstadt.
2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt
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Stadtteil. Dazu gehören meistens Gruppen, die ein hohes s ozio-kulturelles Kapitel mitbringen, wie etwa Student*innen, Künstler*innengruppen, etc. In der zweiten Phase folgen die eigentlichen Gentrifizierer*innen mit entsprechend höherem ökonomischem Kapital. Diese kommen in den Stadtteil, weil er als besonders chic und urban gilt. Schließlich folgen in einem letzten Schritt „kapitalintensive Aufwertungsmaßnahmen“, die die finanziellen Möglichkeiten der Pionier*innen, aber auch eines Großteils der dort zuvor bereits ansässigen Bevölkerungsteile längst überschreiten, wodurch einkommensschwächere Bevölkerungsschichten, die sich die Mieten in den sanierten und modernisierten Wohnungen nicht mehr leisten können, verdrängt werden (vgl. Häußermann und Siebel 1987, S. 19). Als Folge dieser Entwicklungen prophezeit Rettich (2016) eine wieder zunehmende Nachfrage nach Flächen, also Wohnungen in Großwohnsiedlungen, am Rande der Stadt. Die Städte Hamburg und Berlin haben entsprechende Pläne (Stichwort „Pionierwohnungsbau“) bereits in ihren Stadtentwicklungsprogrammen berücksichtigt. Die Urbanität, die in den innerstädtischen Gebieten gesucht wird, muss also zunehmend auch in die Randbezirke getragen werden. So gilt es bei der „Neuauflage von Quartieren in Stadtrandlage alte Fehler zu vermeiden“ (Rettich 2016, S. 91): „Das Angebot nachhaltiger und inklusiver Quartiere, sozusagen neuer und neuartiger Innenstädte muss ebenso in den verstädterten Peripherien gestärkt werden“ (Feldtkeller 2018).29 Es ist wichtig, die Innenstädte zu re-urbanisieren und die Vorstädte nach-zu-urbanisieren. Saunders (2016) merkt zurecht an, dass die „Migrantenquartiere der großen Metropolen“ seit dem 21. Jahrhundert im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (vgl. ebd., S. 23). Sie werden zunehmend attraktiver für breite Bevölkerungsteile. Zog es die Menschen in den 1960er-Jahren zunehmend in die Randbezirke der Stadt, sind
29Gleichwohl
wird zunehmend erkannt, dass ein urbanes Quartier anders aussehen könnte. In einer Konzeptskizze des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst an der TU Dortmund vom Januar 2017 heißt es unter dem Titel Stadtquartier 2020: „Das gemischte Stadtquartier und die gemischte Stadt sind heute nicht nur aktuelle Leitbilder des Städtebaus, sondern gehören auch zu dessen nachhaltigsten und anpassungsfähigsten Produkten. Dies betrifft die Anpassungsfähigkeit an veränderte gesellschaftliche, ökologische, kulturelle, aber auch an ökonomische Rahmenbedingungen sowie die Wandlungsfähigkeit im Hinblick auf Krisen. Obwohl dies in der Fachwelt prinzipiell kaum strittig ist, stehen der Umsetzung in konkreten Projekten (von der Parzelle bis zum Quartier) oftmals gravierende Hindernisse und fehlendes Wissen im Weg. So werden Struktur und Gestalt der Quartiere oft hinter funktionalen Aspekten wie der wirtschaftlichen Rentabilität, den Belangen des Verkehrs, oder hinter die einseitige Betrachtung energetischer Fragen zurückgestellt“ (Deutsches Institut für Stadtbaukunst, Konzeptskizze 2017, S. 1).
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
es nun vermehrt die innerstädtischen Stadtquartiere: „Nach mehreren Jahrzehnten der Suburbanisierung ist die Mittelschicht zurückgekehrt in die Großstädte“ (Rettich 2016, S. 89; vgl. auch Wehrheim 2015; Ley 1996; Atkinson 2000). Die Re-Urbanisierung der Mittelschicht erfordert ein Umdenken in der Stadtpolitik, denn die urbanen Quartiere in Innenstadtlage werden nicht aus einer Laune heraus plötzlich nachgefragt. Das Bevölkerungswachstum in den innerstädtischen Gebieten geht mit demografischen (Verjüngung), kulturellen (Urbanität) und ökonomischen (Verknüpfung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit) Faktoren einher. Neben dem Zuzug vor allem jüngerer Bevölkerungsteile bieten die Quartiere eine gewachsene Ankommensstruktur, die den Menschen das Leben im Spannungsfeld von Wohnen, Arbeiten und Freizeit in einem hohen Maße ermöglicht. Darüber hinaus sind es „diese Viertel, in denen sich das eigentliche Leben der Stadt abspielt“ (Saunders 2016, S. 23). Das Leben im innerstädtischen Quartier wird gewählt, weil damit bestimmte Hoffnungen, etwa die Erfüllung der individuellen Grundbedürfnisse (needs) verknüpft werden. Urbanität wird vor diesem Hintergrund zu einem Ort, der die individuellen Bedürfnisse und Hoffnungen erfüllt.30 Es sind die Quartiere, wo das zu finden ist, was Bukow (2018) als Urbanitätsnarrativ bezeichnet: „Urbanität ist längst zu einem diskursiv verankerten und global verbreiteten Narrativ geronnen. Dieses Narrativ lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine spezifische gesellschaftliche Konstruktion, die urbane Welt und das durch sie gerahmte urbane Zusammenleben und seine Besonderheiten, sondern es motiviert offenbar auch nicht zuletzt angesichts der zunehmenden politischen, sozialen und ökologischen Verwerfungen an den Peripherien zu globaler Mobilität. Und es fördert mit seiner zunehmenden globalen Akzeptanz zugleich auch die Bereitschaft zu einer global ausgebildeten Diversität. Die Bedeutung dieses Urbanitätsnarrativs sollte angesichts seiner ubiquitären Präsenz, seiner narrativen Überzeugungskraft und seiner motivationalen Stärke nicht unterschätzt werden“ (Bukow 2018a, o. S.).
Mit dem Begriff urban knüpfe ich in dieser Arbeit an das von Bukow skizzierte Narrativ an. In der stadtsoziologischen Forschung wird Urbanität in Zusammenhang mit der planerisch-gebauten oder konkret-erlebten Stadt diskutiert. Vor allem seit dem letzten Jahrzehnt wurde Urbanität als eine Art „Wertebegriff“ 30Welfing
(1998) beschreibt das urbane Lebensgefühl anhand von Gerüchen, Geräuschen usw: „Kaffeeduft in der Luft liegt, leichter Wein in beschlagenen Gläsern moussiert und Stimmen, Rufe, Autohupen sich kakophonisch verwirren. Eine Stadt, die tags und nachts trubelt, sommers wie winters, bei Wind und Wetter, stets quirlig, laut und lärmend. Eine Stadt der flüchtigen Begegnungen, der werthaltigen Gespräche und zivilen Umgangsformen, wo hinter den großen Fenstern der Cafés und Restaurants die Gabeln klirren und schöne Frauen leise über die Reden der Dichter lachen“ (ebd., S. 86).
2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt
73
verstanden (vgl. Sonne 2014, S. 14; Feldtkeller 2018; Dirksmeier 2015; Nassehi 2017; Bukow 2018).31 Dirksmeier (2015) beschreibt Urbanität als einen habituellen Umgang mit Indifferenz und Abweichung. Nicht ein Raum und ein Ort und damit eine Stadt sind per se ein durch Urbanität geprägter space, sondern Urbanität erschließt sich erst aus den Handlungsweisen der Akteur*innen im Raum: „Die Frage, ob noch Räume in der modernen Gesellschaft bestehen, die als nicht-städtisch zu beobachten sind, ist eine Frage nach dem Habitus ihrer Bewohner[innen]“ (Dirksmeier 2015, S. 147). Daran knüpft auch Nassehi (2017) an: „Urbanität als äußere Struktur zeigt sich als Habitus der Städter. Urbanität ist mehr als eine Idee, mehr als eine Theorie, mehr als ein Anlass für höhere normative Sätze, mehr als ein Konzept. Urbanität ist eine Praxis, die habituell eingeübt werden will“ (vgl. ebd., S. 7). Damit kann alles und nichts urban sein. Eine Stadt kann genauso wenig urban sein wie ein ländlicher Raum, genauso kann es aber auch urbane ländliche Räume geben. An dieser Stelle wird deutlich, dass Urbanität nicht zwangsläufig mit der Großstadt – im Sinne hoher Bevölkerungszahlen und Dichte – verknüpft ist. Urbanität kann es auch im Speckgürtel, im Dorf oder in ländlichen Gebieten geben. Die Menschen zieht es meist dahin, wo sie Urbanität individuell am besten organisieren können. Urbanität ist zu einem Schlüsselbegriff avanciert, mit dem verschiedene Assoziationen, wie etwa ein spannendes, lebendiges und partizipatives Stadtleben,
31Walter
Siebel stellt in seinem Aufsatz „Was macht eine Stadt urban?“ (1994) unterschiedliche Ansätze vor, die das Konzept der Urbanität im Laufe der Jahre zu fassen versucht haben: Mit den in der Charta von Athen verfassten Leitlinien sollte eine Stadt beispielsweise die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr entsprechend differenziert erfüllen. Dabei plädierte der Verfasser, Le Corbusier, für eine Funktionstrennung: Wohnsiedlungen, die dann zum reinen Wohnen gedacht sind, Grün- und Erholungsflächen, die man wunderbar mit seinem Auto erreichen kann. Und auch die Arbeitsstätte befindet sich in einem Gewerbegebiet (städtebaulicher Funktionalismus). Im letzten Jahrzehnt verbreitete sich jedoch eher die Auffassung, dass Urbanität ganz im Sinne der Tradition der Europäischen Stadt, sich vor allem durch kleinteilige (funktions-)Mischung auszeichnet. Auch die Dichte einer Stadt und die Anzahl von Menschen in Städten, die sich mitunter fremd sind (Simmel 1984; Wirth 1974) werden oftmals an den Begriff der Urbanität gebunden. Aus sozialpsychologischer Perspektive (Bahrdt 1961) ist Urbanität an die Polarität von Privatheit und Öffentlichkeit gebunden. Je mehr sich diese beiden Pole vermischen desto urbaner ist das Alltagsleben. In der politischen Soziologie wird Urbanität durch Partizipation und Emanzipation hergestellt. Edgar Salin definierte in seinem Vortrag zur Eröffnung des Deutschen Städtetags 1960 seine Vorstellung von Urbanität, die „nicht losgelöst zu denken ist von der aktiven Mitwirkung einer Stadtbürgerschaft im Stadtregiment. Urbanität ist Bildung, ist Wohlgebildetheit“ (Salin 1960, S. 13 f., hier zitiert nach Sonne 2016, S. 25).
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
verbunden sind (vgl. Wüst 2004).32 Das Urbanitätsnarrativ ist zum städtebaulichen Leitbild avanciert, da es vor allem für eine nachhaltige, integrative Stadtentwicklung nutzbar gemacht werden kann (vgl. etwa „Die Stadt für morgen „umweltschonend – mobil – lärmarm – grün – kompakt – durchmischt“ Umweltbundesamt 2017). Die Tatsache, dass zunehmend mehr Menschen auf dichten Raum zusammenleben, um die sozialen, ökologischen und finanziellen Vorteile des städtischen Lebens nutzen zu können, hat dazu geführt, dass seitens der Stadtplanung mehr für diese Quartiere getan wird, bzw. dass versucht wird, Urbanität auch in suburbanen Gebieten zu fördern. Im deutschsprachigen Raum zeichnet sich in verschiedenen Kontexten eine neue Debatte zu Fragen der Stadtplanung ab, in der die aktuellen Entwicklungen als Bedingungen und Ressourcen nachhaltiger Stadtplanung thematisiert werden. Aufgrund der Kompaktheit und der guten Infrastruktur (Kleingewerbe, Verkehr etc.) ermöglichen urbane Gebiete vor allem kurze Wege. Mit verkehrsvermindernder Verknüpfung durch den ÖPNV, der die räumliche Distanz von Wohnen, Arbeit, (Nah-)Versorgung und Dienstleistungen gering halten soll, soll der urbane Raum stärker sozial und funktional verdichtet und gemischt werden. Mobilität und Diversität, Arbeit und Versorgung, Wohnen und Kultur sollen auf hohem Niveau quartierzentriert, kleinräumig und ökologisch qualifiziert reorganisiert werden. Hier haben auch die Städte selbst begonnen, Perspektiven einer „integralen Stadtentwicklung“ zu thematisieren und mitzugestalten (vgl. etwa: UBA: Die Stadt für Morgen 2017; Feldtkeller 2018).33 Dabei wird die Bedeutung der Funktionsmischung für das Zusammenleben in der Stadt von Städtebauer*innen und Wissenschaftler*innen bereits seit Jahren hitzig diskutiert. Während die einen, angestiftet von „den Erfolgen fordistischer Massenproduktion“ (Siebel 2015, S. 153) das fordistische Stadtmodell, also die Trennung der Funktionen (Wohn-, Gewerbebiet) als besonders trag- und zukunftsfähig betrachteten (vgl. auch Charta von Athen 1933), proklamierten andere wiederum die zunehmende Zerstörung der Stadt durch das fordistisch geprägte Leitbild, da die lebendige Mischung, die durch die unterschiedlichen Nutzungen
32Wüst
(2004) geht in „Urbanität - Ein Mythos und sein Potential“ der Begriffsgeschichte nach und setzt den Begriff Urbanität mit dem Begriff des Mythos gleich. 33Auch wenn dieser Perspektivwechsel für einige Autor*innen sehr spät kommt und dabei auch nicht das beinhaltet, was er eigentlich verspricht (vgl. Feldtkeller 2018; Bukow 2018). So wurde zwar das „Urbane Gebiet“ Mai 2017 in die Bau-NVO eingefügt, es ist jedoch bereits mit der Charta von Leipzig vor mehr als 10 Jahren eigentlich schon in Deutschland angekommen, wurde nur nicht aufgegriffen. Darüber hinaus betonen Feldtkeller et al. die geringe Mischungskonsequenz als Planungsziel.
2.4 Der urbane Raum zwischen Differenz und Vielfalt
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entstehen kann, verloren geht – mit extremen Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben, etwa Verkehrsproblemen oder Segregationserscheinungen (vgl. etwa Jacobs 1993; Lynch 1960, Mumford 1963, Venturi 1978, 1979; Mitscherlich 1999 [1965]; Läpple 2016; Läpple und Walter 2000; Feldtkeller 2018).34 Die Diskussion um die geeignete Mischung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit im Stadtquartier hält bis heute an. Mit Feldtkeller lässt sich kritisieren, dass die „Tabuisierung der Funktionsmischung die in der Gesellschaft vorhandenen Kohäsionskräfte unwirksam gemacht und die Stadt als robuste Integrationsmaschine außer Kraft gesetzt“ hat (Feldtkeller 2012, S. 40; vgl. auch 1995; 2018). Neben rein ökologischen Argumenten spricht für diese Perspektive meines Erachtens ebenso, dass die strukturelle Heterogenität in Stadtteilen Auswirkungen auf die Inklusionsfähigkeit von Quartieren hat, da durch die unterschiedlichen Nutzungsweisen des Raumes, Orte des sozialen, lebenspraktischen Miteinanders und der Begegnung geschaffen werden: Erstens erlaubt die kleinteilige Mischung den Stadtteilbewohner*innen ihre Bedürfnisse im Quartier auf kleinräumlicher Ebene zu erledigen, zweitens wird durch die Dichte und Mischung mehr Raum für (Zufalls-) Begegnung, Gespräche und informelle Kontakte geboten.35
34Feldtkeller
dazu: „Ein solcher städtebaulicher Fordismus – so unsere These – stellt eine intellektuelle Konstruktion dar, die nicht (evolutionär) aus der Geschichte der Stadt entwickelt ist, sondern einen Bruch mit ihr darstellt. Dies nicht wegen der Radikalität ihrer Vorstellung, sondern wegen dem Anspruch des Alleingültigen. Kleinräumliche Nutzungsmischung ist eine entscheidende Voraussetzung für die Wirksamkeit der Stadt als Ort des gelingenden Zusammenlebens mit den und dem Fremden“ (Feldtkeller 2018, S. 46). 35In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder der Aspekt der sozialen Mischung diskutiert. Häußerman und Kapphan (1999) plädierten bereits 1999 für eine soziale Mischung der Bewohnerschaft in Stadtteilen, da die Mittelschicht als Orientierungsgröße für Verhaltensstandards diene und auf diese Weise ein gesundes Gleichgewicht in den Quartieren aufrechterhalten werden könne (vgl. ebd., S. 202). Der Abschottung, bzw. Segregation und Ausgrenzung von bestimmen Bevölkerungsteilen sollte durch gesunde Durchmischung entgegengewirkt werden, mit dem Ziel, Vielfalt quasi durch informelles Lernen zu veralltäglichen. Die ‚sozial durchmischte Stadt‘ wird in diesem Zusammenhang zunehmend zu einem Ideal heraufbeschworen, das die ‚Integration von Newcomer*innen‘ befördert und zum Zusammenhalt der Stadtgesellschaft insgesamt beiträgt (vgl. kritisch dazu: Ronneberger und Tsianos 2009). Ob diese Sichtweise nicht auf eine verzerrte und normativistische Wahrnehmung des urbanen Zusammenlebens zurückgreift, kann an dieser Stelle nicht vertiefend diskutiert werden. Fakt ist jedoch, dass die Diskussion um eine verträgliche soziale Mischung sich bis heute trägt und im Spannungsfeld zwischen Mythos, Utopie, Ideologie und Wirklichkeit diskutiert wird (u. a. vgl. Schneider 2016; Dangschat 2000, 2013; Harlander und Kuhn 2012; IBA-Studie 2013; Maier-Solgk 2012; Holm 2009; Andersson et al. 2009; Musterd und Andersson 2005; Bartelheimer 1998; Göddecke-Stellmann 2009).
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
Der in dieser Arbeit fokussierte Stadtteil Oberbilk unterliegt einem extremen Wandel, da es aufgrund seiner Lage und der Infrastruktur, aber auch aufgrund seiner sozio-kulturellen Zusammensetzung für breite Bevölkerungsteile immer attraktiver wird. Oberbilk ist als ehemaliger Industriestadtteil Stück für Stück zu einem urbanen, dichten Raum (an)gewachsen. Kurze Wege zwischen Wohnung, Arbeit, Freizeit und Konsum (Funktionsmischung) prägen das heutige Oberbilk, eine Funktionsmischung, die auch für viele andere ehemalige Industrie- und Arbeiterstadtteile charakteristisch ist (vgl. Waltz 2002; siehe auch Kap. 6). Im empirischen Teil komme ich auf Oberbilk als einen Ankunftsort zurück und stelle die Funktion und Qualitäten des urbanen, dichten und gemischten Stadtteils für seine Bewohner*innen vor. Außerdem komme ich im empirischen Teil auf die Verschränkungen der Debatte um sozialräumliche Segregation und aufwertungsorientierten Interventionen auf lokaler Ebene zurück und stelle dar, wie sie das Zusammenleben und den Alltag im Quartier beeinflussen.
2.5 Zwischenfazit Im Mittelpunkt dieses Kapitels standen die Entstehung der Städte und die damit einhergehende Dynamik des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Insbesondere im Zuge der Industrialisierung und dem sie begleitenden rasanten Bevölkerungswachstum haben sich Städte zu ökonomischen und kulturellen Kristallisationspunkten entwickelt. Daraus gehen neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders hervor. Allen voran die Tatsache, dass sich Menschen zunehmend als Fremde begegnen. Im urbanen Raum überlagern sich zahlreiche individuelle Lebensstile in deren Gesamtheit sich Jeder/Jede fremd sein kann. An diesen Tatbestand anknüpfend wird Fremdheit in dieser Arbeit als ein konstitutives und zunächst neutral-belangloses Merkmal des Städtischen verstanden. Fremdheit, als spezielles Konstrukt kann jedoch zur Exklusion anderer nutzbar gemacht werden. Prozesse der Ver-anderung stellen dabei zunächst einen aus sozialpsychologischer Sicht trivialen Mechanismus dar, um sich selbst im sozialen Raum – in Abgrenzung zu anderen – zu positionieren. Gleichzeitig werden insbesondere migrationsspezifische Phänomene häufig als fremd und problematisch eingeordnet, beispielsweise dann, wenn Migration als ‚unqualifiziert‘ oder ‚irregulär‘ abgewertet wird. Unterschiedliche Migrationsregulative, die in einem umfassendem Migrations- und Diversitätsregime zum Ausdruck kommen, formieren die unterschiedlichen Migrationsformate und tragen zur institutionellen und organisationalen Veralltäglichung von ‚guter‘ versus ‚schlechter‘ Migration bei. Auf diese Weise wird die/der ‚Migrationsandere‘ als eine natürliche D ifferenz
2.5 Zwischenfazit
77
im sozialen Raum platziert. Die hegemonialen, nationalstaatlich motivierten Absichten (etwa die Sicherung von Macht und Herrschaft), die diesen Prozess der Ver-anderung grundieren, wurden anhand postfordistischer Transformationen (Individualisierungs- und Flexibilisierungsprozesse) zunehmend ausgehebelt und dadurch gleichzeitig aggressiver. Wie sich dieses nationale Narrativ auf die lokalen und regionalen Strukturen auswirkt, wurde am Beispiel der Kriminalisierung bestimmter Gruppen deutlich. In einem weiteren Schritt wurde der städtische Raum als Folie für das urbane Zusammenleben stärker in den Blick genommen. Mit dem Prozess der Urbanisierung und einer zunehmend mobilisierten und globalisierten Stadtgesellschaft sind ungleiche Folgen verbunden, die sich auch räumlich niederschlagen. Städte dehnen sich zu Orten aus, in denen sich, so die Ängste vieler, „die schärfsten sozialen Gegensätze zeigten“ und wo „Armut und Ausgrenzung“ sichtbar werden (vgl. Häußermann et al. 2004, S. 7 f.). Die Segregation von Newcomer*innen wird in diesem Exklusionsdiskurs häufig als Prozess der Abschottung aufgefasst, der mit ‚Integrationsverweigerung‘, ‚abweichenden Verhaltensweisen‘ sowie ‚Randständigkeit‘ verbunden wird. Das hat Folgen, denn die Newcomer*innen geraten auf diese Weise in einen circulus vitiosus: Zu Ausgegrenzten erklärt, die ihre Ausgrenzung gleichzeitig selbst verschuldet haben, werden ihnen die Möglichkeit der Platzierung erschwert. Aus der städtebaulichen Praxis und der wissenschaftlichen Forschung heraus erfolgende Beschreibungen der Wohnorte als ‚Brennpunkte‘ oder ‚rückständige Stadtquartiere‘ befeuern die krisenbehaftete Dynamik und reproduzieren die Marginalisierung der Quartiere und deren Bewohnerschaft. Die aufgeführten Überlegungen verweisen auf die Überdauerung einer hegemonial-kulturellen, binären Logik. Es existiert immer noch das Bild eines lokalisierten Kollektivs, das seine Grenzen gegenüber anderen abschottet – anstatt davon auszugehen, dass jeder Mensch auch woanders ankern kann (vgl. Pfaff-Czarnecka 2012). Eine Migrationsforschung, die sich vielfach als For schung über ‚ethnische Gruppen‘ (Römhild 2014) versteht, trägt immer wieder zu Reproduktion dieser Logik bei, „mit dem Effekt einer sich immer wieder nur selbst illustrierenden und reproduzierenden „Migrantologie“, die ihren vermeintlichen Gegenpart – die Gesellschaft der weißen, nationalen, sesshaften Nicht-Migrantinnen – gleich mit konstruiert“ (Römhild 2014, S. 264). Gleichzeitig wurde in diesem Kapitel an die Sichtweise auf Quartiere als sogenannte Ankunftsquartiere angeknüpft, die in erster Linie die Praxen der Bewohnerschaft marginalisierter Quartiere in den Blick nimmt und dabei die Potenziale, also die für das funktionierende Zusammenleben erfolgreichen Handlungsweisen und Arrangements der Bewohnerschaft, offenlegt. Hier deutet sich ein Perspektivwechsel an, der sich sowohl in der wissenschaftlichen
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2 Die diversitätsgrundierte Stadt
Forschung als auch in der städtebaulichen Praxis niederschlägt. Die veränderte Sichtweise auf gemischte Stadtquartiere verläuft parallel zu einem Wandel in den Städten, in denen innerstädtische Stadtteile eine Renaissance erleben und sich die gewachsenen Strukturen in den Quartieren umformen. Doch auch dieser Wandel, der zur Aufwertung vieler Stadtquartiere beiträgt, bringt Prozesse der Ausgrenzung und Marginalisierung mit sich (Stichwort Gentrifizierung). Städtischer Raum und migrationsbedingte Mobilität sind untrennbar miteinander verknüpft. Stadt ist nur durch Mobilität und den Zuzug unterschiedlicher Menschen entstanden. Diese Sichtweise manifestiert Diversität einerseits zu einem trivialen und konstitutiven Teil der Städte. Die Positionierung und soziale Praxis der Bewohnerschaft im urbanen Raum ist andererseits jedoch mit Diskursen, Bildern und Imaginationen vom urbanen Raum und von Diversität und Mobilität verwoben, wodurch aus einem eigentlich trivialen Setting eine komplexe Gemengelage entsteht. Die Etikettierung einer Randständigkeit bestimmter sozialer Milieus wirkt sich auf die Möglichkeiten und Praktiken der Bewohnerschaft aus. Für diese Arbeit ist daher, erstens, eine kritische Wissensproduktion bedeutend, die die hegemonial-kulturellen Muster aufbricht und infrage stellt. Darüber hinaus muss, zweitens, eine adäquate Herangehensweise zur Erforschung der Praktiken des urbanen Zusammenlebens bedacht werden, die das Aufbrechen hegemonialer Bilder auch forschungspraktisch berücksichtigt. In der vorliegenden Arbeit wird daher der Alltag, auf den ich in Kap. 3 noch detailliert eingehen werde als Referenzpunkt gewählt. Meine Untersuchung knüpft grundsätzlich an einen dekonstruktivistischen Forschungsansatz an, im Rahmen dessen bestehende normative Vorstellungen von Migration und Vielfalt herausgearbeitet und Migration als ein triviales, basales Mobilitätsformat verstanden wird, das konstitutiv für Gesellschaften ist (vgl. dazu Scambor 2015; Römhild 2014; Yildiz 2016; Bukow 2014). Kategorisierungen sollen dekonstruiert und die Betroffenen nicht als Opfer, sondern als Handelnde in den Vordergrund gestellt werden, die mittels unterschiedlicher Praktiken mit den auf sie bezogenen Zuschreibungen hantieren.
3
Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive auf das alltägliche Zusammenleben
„Es ist der soziale Prozess des Zusammenlebens, der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten“ (Blumer 1973, S. 99).
Moderne Gesellschaften sind komplexe, durch Mobilität und Diversität geprägte Gesellschaften. Die Komplexität des gesellschaftlichen Miteinanders findet sich in besonderer Weise im kompakten, urbanen Raum wieder, wo die heterogenen Interessen, Imaginationen, Wünsche und Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen unmittelbar aufeinandertreffen. Im Alltag sind die Menschen in eine Vielzahl unterschiedlicher Relevanzstrukturen, Handlungskontexte und Situationsformate involviert, die sie in irgendeiner Form bewältigen müssen. Um sich im urbanen Alltag zurechtzufinden, werden dem Individuum besondere Kompetenzen abverlangt, die es – wie die Alltagsnormalität in den Städten beweist – in der Regel auch anzuwenden weiß (vgl. Bukow et al. 2001, S. 41). Dass es solche „urbanen Kompetenzen“ (Lindner 2002) im städtischen Miteinander gibt, zeigt (allein schon) die Tatsache, dass städtisches Zusammenleben in vielen Fällen ja konfliktfrei funktioniert (vgl. Bukow et al. 2001, S. 42 f.). Die urbanen Kompetenzen können als das Vermögen des Individuums verstanden werden, sich in der Stadt bewegen und „städtisch mit der Stadt“ (Ipsen 1997, S. 2) umgehen zu können. Daher ist die Alltagswelt der Stadtbewohner*innen der zentrale Bezugspunkt des städtischen Zusammenlebens. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die Aushandlungsprozesse, die ein Zusammenleben erfordern, besonders deutlich. In stadt- und quartierssoziologischen Arbeiten wird der Erforschung des Alltags zunehmend Bedeutung beigemessen, um Prozesse gesellschaftlichen Zusammenlebens verstehen zu können. Dem defizitorientierten
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Berding, Alltag im urbanen Quartier, Interkulturelle Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29293-5_3
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
Forschungsparadigma, das durch das duale Denken von ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ geprägt ist und das die Diskussion um die Städte, wie bereits dargelegt, nachhaltig geprägt hat und auch heute noch dazu führt, dass bestimmte Gruppen als Sündenböcke für städtische Verwerfungen verantwortlich gemacht werden, wird damit entgegengewirkt. Will man Migrationsforschung als Gesellschafts- bzw. Stadtgesellschaftsanalyse betreiben, so muss man den Fokus geradezu pragmatisch auf die banalen Interaktionen des alltäglichen Lebens und damit auf die „Niederungen des Alltags“ (Yildiz 2017) legen. Denn erst dort wird sichtbar, wie Menschen wirklich zusammenleben und was das Leben ausmacht – fernab einer Differenzlogik, die die Forschung im Kern unbrauchbar macht, weil sie bestehende Konstruktionen nur wieder reproduziert (vgl. Kap. 3). Der Blick auf den Alltag umfasst einen Blick auf die Gemeinsamkeiten im Zusammenleben. Betrachtet man die latenten und spontanen Strukturen und Praktiken des Alltags, wird in erster Linie nicht die soziale Desintegration deutlich, die Quartieren und deren Bewohnerschaft häufig zugeschrieben wird, sondern eine triviale Alltagsdynamik, die dadurch entsteht, dass alle Stadtbewohner*innen gemeinsam eine alltägliche soziale Ordnung herzustellen versuchen. Der Alltag wird zum Funktionieren von den Bewohner*innen aufrechterhalten und reproduziert. Er impliziert sozusagen den gemeinschaftlichen Willen etwas Funktionierendes aufrechtzuerhalten. „Die Niederungen des Alltags vermitteln ein anderes Bild des urbanen Lebens. Vielheit und Vielstimmigkeit sind integraler Bestandteil urbaner Entwicklungen. Wir sehen uns mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Biographien, einzigartigen Lebenswelten, verschiedenen Visionen und Alltagspraxen konfrontiert. Dieser alltagsnahe Blick ermöglicht, das Verhältnis zwischen „Uns und den Anderen“ neu zu lesen und fördert Aspekte und Geschichten zutage, die in nationalen Erzählungen bisher marginalisiert, ignoriert oder verdrängt wurden“ (Yildiz 2016, S. 7).
Mobilität und damit einhergehende Diversität sind elementare Bestandteile komplexer Gesellschaften. Um die vielfältigen Formate und Bedingungen urbaner Mobilität und Diversität sowie die Formen des alltäglichen Umgangs damit angemessen berücksichtigen zu können, plädiere ich in der folgenden Arbeit dafür, das Konzept der Mobilität über dessen oft nur deskriptive Verwendung hinaus zu schärfen und für die Erweiterung und Anschlussfähigkeit eines bislang aus meiner Sicht zu exklusiven Migrationsbegriffs zu nutzen. Analog ist auch das Konzept einer kulturalistisch reduzierten Diversität zu revidieren und zu erweitern (vgl. Glick-Schiller und Caglar 2010). Vielversprechend ist eine die
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unterschiedlichsten Momente von Diversität (Gender, Klasse, race) aufgreifende Diskussion (vgl. Hess et al. 2009; Römhild 2014), die den Blick über bislang fokussierte intrapersonale Überschneidungen von Diversitäten und Differenzmarkierungen hinaus auf urbane Aushandlungsprozesse und die Entwicklung einer intersektionalen Perspektive auf Räume und Raumproduktion richtet. Daher ist eine Hinwendung zu Ansätzen notwendig, die Alltagssituationen in fluktuierenden, heteromorphen und mobilitätsgeprägten Quartieren untersuchen (vgl. Eckardt und Eade 2011; Scambor 2015; Hess 2009; Cudak 2017; Römhild 2003; Dika et al. 2011) und intersektionale Perspektiven berücksichtigen (vgl. Yildiz 2014; Römhild 2013; Scambor 2015). In diesem Sinne soll im Folgenden der Begriff des Alltags und der alltäglichen Routinen geschärft und schließlich im Kontext einer gegenwärtigen metropolitanen Gesellschaft, in der der Alltag zunehmend komplexer wird, diskutiert werden (Abschn. 3.1). Darauf aufbauend sollen die den Alltag der Stadtbewohner*innen tragenden drei Säulen der Stadtgesellschaft (systemische, lebensweltliche und zivilgesellschaftliche Säule) untersucht werden, die über In- und Exklusion des Individuums entscheiden und so Einfluss auf die alltäglichen Praktiken nehmen (Abschn. 3.2). Im Anschluss daran stelle ich den Prozess der lokalen Verortung und Platzierung vor (Abschn. 3.3), der in dieser Arbeit als ein zentrales Bedürfnis eines jeden Individuums verstanden wird. Daran anknüpfend nehme ich den öffentlichen Stadtraum in den Blick und skizziere das Raumverständnis in dieser Arbeit (Abschn. 3.4). Ich stelle die normative Grundhaltung der urban policy vor, die immer wieder eine Rolle spielt, wenn es zur Bewertung und Beurteilung gesellschaftlichen Zusammenlebens kommt. Zentral ist in diesem Abschnitt, inwiefern der öffentliche Raum ein Begegnungsraum ist und welche Bedeutung diese Begegnungen im Umgang mit dem Fremden haben (Abschn. 3.4.1). Abschließend gehe ich auf die Konstitution des öffentlichen Raums ein. Als eigentlich für jedermann zugänglicher Ort schließt der öffentliche Raum qua Gestaltung und durch die von vornherein herbeigeführte Verunmöglichung von Verhaltensweisen bereits Individuen aus. Wie gestaltet sich demnach also eine einigermaßen konfliktfreie Ordnung im öffentlichen Raum bzw. wie wird dessen Nutzung verhandelt (Abschn. 3.4.2)? Im Zusammenhang mit dem zuvor skizzierten differenzlogischen Blick auf die Stadtgesellschaft verweist die Darstellung des Alltags auf eine zunächst konstitutive Belanglosigkeit der Differenzen und eine an praktischen Handlungen orientierte situative Problemlösungseinstellung im alltäglichen Handeln der Stadtbewohner*innen.
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
3.1 Alltagshandeln und Routinen in der polykontextuellen Gesellschaft „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis“ (Marx 1973, S. 7).
Der Mensch handelt im Alltag in erster Linie im Rückgriff auf sein praktisches Bewusstsein (vgl. Giddens 1992; Garfinkel 1967).1 Giddens (1992) zufolge besteht das praktische Bewusstsein „aus der Kenntnis der Regeln und Taktiken, aus denen sich das Alltagsleben aufbaut und über Raum und Zeit hinweg immer wieder aufgebaut wird“ (ebd., S. 144). Der Alltag ist der zentrale Handlungsbereich des Individuums, in dem das praktische Bewusstsein zum Ausdruck kommt. Ihn nehmen wir als „unmittelbare Wirklichkeit wahr, aus ihm heraus denken wir, und in ihm handeln wir“ (Abels 2009, S. 86). Die unmittelbare Wirklichkeit des Alltags entsteht dabei immer erst durch das situative Handeln und durch die intersubjektive Zuordnung von Sinn- und Bedeutungsstrukturen auf die umgebende Umwelt. Daher ist alltägliches Handeln immer auch räumliches Handeln, wie Goffman in seinen Arbeiten zur Interaktion im öffentlichen Raum aufgezeigt hat (vgl. Goffman 1982). Schütz und Luckmann (1979) haben auf die unterschiedlichen Wissensvorräte hingewiesen, auf die das Individuum im Alltag zurückgreift, um sich möglichst selbstverständlich und störungsfrei fortbewegen zu können. Sie münden letztlich in den bereits skizzierten urbanen Kompetenzen. Auch Bereswill und Götz (2012) halten fest, dass die Nutzung des öffentlichen Raumes, „die Befolgung ganz bestimmter expliziter und impliziter Regeln“ erfordert, „die die meisten Menschen kennen und praktizieren, ohne sich ständig [darüber] bewusst zu sein“ (ebd., S. 10). Einen zentralen Wissensbereich bildet hierbei das Routinewissen, auf das das Individuum unhinterfragt und selbstverständlich zurückgreift, etwa das Setzen des Blinkers vor dem Abbiegen, die Betätigung des Lichtschalters in der Wohnung, wenn es zu dunkel ist oder aber das Ausweichen vor einer Person, die den eigenen Weg auf dem Bürgersteig kreuzt. Für das Individuum besitzen Routinen
1Die
Untersuchung von Alltagstrukturen gewann vor allem durch das ethnomethodologische Forschungsparadigma an Bedeutung. Die Ethnomethodologie knüpft an die Überlegungen von Schütz und Luckmann (1979) an, die wiederum durch die philosophische Phänomenologie von Edmund Husserl geprägt wurden.
3.1 Alltagshandeln und Routinen in der polykontextuellen Gesellschaft
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eine besondere psychologische Relevanz (vgl. Giddens 1992). Durch die stetige Reproduktion von Handlungen, also durch Gewohnheit, erlangt das Individuum im Alltag Selbstsicherheit. Alltägliche Gewohnheiten sind der zentrale Referenzpunkt, um „Vertrauen“ in das eigene Handeln und eine „ontologische Sicherheit“ (Giddens 1992, S. 116) reproduzieren zu können. Routinen dienen also der Stabilisierung im Alltag:2 „Das Bewußtsein ist für das Komplizierte, das nicht Eingeübte, das Neue, das Anspruchsvolle da. Diesen Zustand versucht das Gehirn aber zu vermeiden, weil er […] stoffwechselphysiologisch teuer ist. Er ist überdies fehleranfällig, anspruchsvoll und kompliziert. Folgerichtig sprechen wir von geistiger Anstrengung. Das Gehirn versucht deshalb Bewusstsein zu vermeiden, wo immer es geht, versucht, immer alles ‚ohne großes Bewußstein‘ in Routinen zu gießen. Neunundneunzig Prozent dessen, was wir tun, sind Routinen, über die wir nicht nachdenken müssen“ (Roth 2003, S. 65).
Routinen werden in einem heuristischen Verfahren erzeugt, da sie in erster Linie der praktischen Bewältigung problematischer Situationen dienen (vgl. Schütz und Luckmann 1979). Das Individuum sucht einen Lösungsweg für eine Situation, in der der vorhandene Wissensvorrat infrage gestellt wird. Die gefundene adäquate Lösung wird – sofern sie sich denn als praktisch erweist und mehrmalige Verwendung findet – als Lösungsweg zu einer unhinterfragten Routine habitualisiert, die als Normalität ins praktische Bewusstsein eingeht (vgl. ebd., S. 140 f.). Der Routine geht daher also immer eine problematische oder zumindest fragliche Situation voraus, die das Individuum stets in eine unproblematische Situation umkehren will, wie Berger und Luckman anhand des folgenden Beispiels deutlich machen: „Suppose that I am an automobile mechanic who is highly knowledgeable about all American-made cars. Everything that pertains to the latter is a routine, unproblematic facet of my everyday life. But one day someone appears in the garage and asks me to repair his Volkswagen. I am now compelled to enter the problematic world of foreign-made cars. I may do so reluctantly or with professional curiosity, but in either case I am now faced with problems that I have not yet routinized. At the
2Neben
der hier herausgestellten Bedeutung von Routinen für das einzelne Individuum, besitzen Routinen aber auch eine zentrale Funktion für das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt: „Ritual, Zeremonie, Wiederholung haben eine wichtige gesellschaftliche Funktion, was die meisten Institutionen einschließlich der Regierungen auch begriffen und deshalb zur Grundlage ihres Handelns gemacht haben“ (Giddens 2001, S. 61).
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive … same time, of course, I do not leave the reality of everyday life. Indeed, the latter becomes enriched as I begin to incorporate into it the knowledge and skills required for the repair of foreign-made cars. The reality of everyday life encompasses both kinds of sectors, as long as what appears as a problem does not pertain to a different reality altogether (say, the reality of theoretical physics, or of nightmares). As long as the routines of everyday life continue without interruption they are apprehended as unproblematic. But even the unproblematic sector of everyday reality is so only until further notice, that is, until its continuity is interrupted by the appearance of a problem. When this happens, the reality of everyday life seeks to integrate the problematic sector into what is already unproblematic“ (Berger und Luckman 1966, S. 38).
Giddens (1992, S. 116 f.) beschreibt eindrücklich die psychologischen Folgen für das Individuum, wenn Routinen zerstört oder gar unmöglich gemacht werden. Aus der Situation der gestörten Routine heraus, versuchen Menschen immer wieder, gewohnte Handlungsabläufe aufrecht zu erhalten und die Kontrolle über die alltäglichen Routinen zu bewahren.3 Dadurch bestätigt sich für Giddens die Bedeutung der Routinen für die Seinsgewissheit des Individuums. Er betont jedoch, dass Routinen nicht mit Stabilität gleichgesetzt werden können. Der Wandel und die Veränderung von Routinen sind genauso möglich, wie die stetige Reproduktion der Routinen (vgl. Giddens 1992). Der „selbstverständlichen Gewohnheit“ der Routinen wird zwar eine „gleichsam ‚bewusstlose‘ und zugleich feste Struktur“ (Paris 1975, S. 108; hier zitiert nach Bukow 1984, S. 57) zugeschrieben, trotzdem bilden Routinen kein unveränderliches und starres System. Dies konnte Goffman (1973) in seinen Untersuchungen der Alltagswelt in totalen Institutionen, wie Heimen oder Gefängnissen, zeigen.
3Anhand
kritischer Situationen, in denen die Routinen des Einzelnen massiv infrage gestellt werden, stellt Giddens heraus, wie die Personen versuchten, gewohnte Verhaltensweisen aufrecht zu erhalten (vgl. Giddens 1992, S. 113). Giddens belegt seine Überlegungen unter anderem anhand der Darstellung von Bettelheim (1964), der Grenzerfahrungen in Konzentrationslagern beschreibt. In den Konzentrationslagern wurden die individuellen Routinen permanent zerstört. Er zeigt, wie die Häftlinge trotzdem versuchten, neue Alltagsroutinen zu schaffen, um die extremen Belastungen und Ängste zu verarbeiten: „Die Auflösung und der vorsätzliche Angriff auf die normalen Routinen des Lebens erzeugen ein hohes Maß an Angst; sie entkleiden den Menschen seiner anerzogenen Reaktionen, die mit der Sicherheit der Körperbeherrschung und einem vorhersehbaren Rahmen des gesellschaftlichen Lebens verbunden sind. Ein derartiges Aufwallen von Angst drückt sich in regressiven Verhaltensweisen aus und erschüttert die Fundamente des grundlegenden Sicherheitssystems“ (Giddens 1992, S. 115).
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Auch Garfinkel (1967) hat die Dynamik von Routinen in seinen Krisenexperimenten (breaching experiments) verdeutlicht. In diesen Experimenten gelang es ihm, Routinen durch Brüche und Störungen infrage zu stellen, um sie sichtbar zu machen. Er bat bspw. Student*innen, sich gegensätzlich zu den Erwartungen des Gegenübers an die Situation zu verhalten (bspw. Siezen der eigenen Eltern). Garfinkel kommt zu dem Ergebnis, dass das Individuum, wenn die Alltagspraxis ins Stocken gerät, über Verfahren verfügt, um die soziale Ordnung wiederherzustellen, es also stets versucht, die erschütterten Routinen wieder handhabbar zu machen: „Procedures for making those settings accountable“ (ebd., S. 1; vgl. auch Abels 2009, S. 86). Unter accounts versteht er Darstellungshandlungen, die zeigen, wie sich Akteur*innen eine Situation erklären und auf diese Weise die soziale Ordnung wiederherstellen.4 Dabei stellt er zwei Elemente des Handels heraus. Erstens das routinierte Alltagswissen und zweitens die Tatsache, dass im Falle des Scheiterns der Routinen Verfahren zur Verfügung stehen, um diese Routinen ‚routiniert‘ wieder in Ordnung zu bringen – Routinen können durch Metaroutinen also immer wieder stabilisiert werden. Garfinkel stellt besonders die situative Ordnungsherstellung von Moment-zu-Moment heraus. Er zeigt auf, dass die Interaktionsmitglieder Alltagsregeln auf Basis ihres als selbstverständlich erscheinenden Alltagswissens ständig rekonstruieren. Für Garfinkel sind Routinen also ein Mittel zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Werden die Routinen gebrochen, tritt immer ein Prozess der Überwindung der Störung ein; es wird also immer ein Lösungsweg gesucht, mit dessen Hilfe sich das Individuum die gestörte Situation zu erklären versucht, um die (individuelle) soziale Ordnung zu reproduzieren. Der Mensch vollzieht stetig Verfahren der Einebnung. Wenn, wie bereits erläutert wurde, Routinen nicht nur gelebt werden, sondern ggf. auch aus einer problematischen Situation heraus entstehen, sind Störungen und Irritationen damit gleichsam konstitutiv für die Erschaffung der Routine und damit für die Entstehung von routiniertem Alltagshandeln. Schütz und Luckman
4Begonnen hat Garfinkel Ende der 1940er Jahre mit der Beobachtung von Gerichtsverfahren. Er analysierte die Erklärungen, mit denen die Richter ihre Entscheidung begründet hatten, um die soziale Ordnung wieder herzustellen. Garfinkel stellt die gesellschaftliche (Re-)Konstruktion sozialer Ordnungsprozesse und damit die Arbitrarität dieser Prozesse besonders heraus, etwa wenn bei Fällen, in denen über Straftaten der Colored People geurteilt wurde, andere Verfahren gewählt bzw. Begründungen genannt wurden, als bei weißen Straftäter*innen. Dabei stützen sich die Richter*innen auf eine konstruierte soziale Ordnung, die sie als Legitimationslegende ihrer Urteilsverkündungen (hier dann accounts) verwenden und mit ihren Urteilen gleichzeitig immer wieder reproduzieren.
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(1979) haben diesbezüglich die pragmatische Grundhaltung des Individuums gegenüber der Lösung von Problemen aufgezeigt. Unter dem Begriff des „plan-bestimmten“ Interesses zeigen sie auf, dass die Lösung von Situationen aus einer bestimmten „Dringlichkeitsstufe“ heraus eingeordnet wird und entsprechende Handlungen eingeleitet werden, die für die Bewältigung der Situation relevant und „pragmatisch genügend“ sind (vgl. ebd., S. 151 ff.). Schütz/ Luckman stellen heraus, dass problematische Situationen, erstens, entsprechend des individuellen Relevanzsystems unterschiedlich in ihrer Problematik eingestuft werden und dass, zweitens, die Lösung der Probleme auf pragmatische Weise erfolgt. Dem Problem wird nicht „auf den Grund“ gegangen, wenn es für die Lösung der problematischen Situation nicht relevant ist (vgl. auch Habermas 1981).5 Goffman hat dies in seiner Rahmenanalyse (1977) ebenfalls herausgestellt. Halten wir für das theoretische Grundgerüst dieser Arbeit zunächst fest, dass der Alltag in erster Linie aus Routinen besteht und der Mensch diese Routinen entlang pragmatischer Maximen in einem kontinuierlichen, dynamischen Prozess konstruiert. Das situative Auftreten von Problemen, die individuelle Bewältigung der Probleme, die Habitualisierung und die darauffolgende Routinisierung sind basale Praktiken im individuellen Handlungsrepertoire zur Bewältigung des Alltags. Irritationen und Störungen können die Routinen unterbrechen. Sie sind jedoch ebenso konstitutiv für die Erschaffung derselben. Diese Dialektik entfaltet im Alltag ihre eigene Dynamik. Denn wie Bukow feststellt, entwickelt sich die Routine im Alltag zum „Orientierungspfad“ und gleichzeitig auch zum „Maß der Dinge“ (Bukow 2001, S. 446). Dies bedeutet, dass Irritationen und Störungen, die aus der Routine herausfallen, logischerweise besonders auffallen: Dinge, Menschen und Situationen werden deshalb als alltäglich betrachtet, weil sie „sich mitsamt allen Besonderheiten, Kontrasten und Abweichungen in die Alltagsroutine einfüg[en], und deshalb wird etwas abgelehnt und als ungewöhnlich empfunden, weil es sich mit den „normalen“ Störungen […] nicht verträgt“ (ebd., S. 447). Gleichzeitig müssen diese Störungen jedoch auftreten, um den eigenen routinierten Dunstkreis zu erweitern
5„Aus der situationszugewandten Perspektive erscheint die Lebenswelt als ein Reservoir von Selbstverständlichkeiten oder unerschütterten Überzeugungen, welche die Kommunikationsteilnehmer für kooperative Deutungsprozesse benutzen. Einzelne Elemente, bestimmte Selbstverständlichkeiten werden aber erst in der Form eines konsentierten und zugleich problematisierten Wissens mobilisiert, wenn sie für eine Situation relevant werden“ (Habermas 1981, S. 189).
3.1 Alltagshandeln und Routinen in der polykontextuellen Gesellschaft
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und sich individuell an die Realitäten eines komplexen und diversitätsdurchdringenden Alltags anpassen zu können. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten ambivalenten Ausbildung von Routinen ist es wichtig, einen weiteren Aspekt bei der alltäglichen Routinisierung von Alltagspraktiken zu berücksichtigen. Das Alltagsleben gründet sich aus den unterschiedlichen Routinehandlungen der Individuen, die letztlich der eigenen Seinsgewissheit und Stabilisierung im Alltag dienen, nicht aber – und dies ist eine wichtige Unterscheidung – der Reproduktion „institutionalisierte[r] Aspekte“ sozialer Systeme (vgl. Giddens 1992, S. 216 ff.). Um diesen Aspekt deutlich zu machen, muss der Begriff des Handelns, so wie Giddens ihn versteht, kurz erklärt werden. Für Giddens bezieht sich der Begriff des Handelns einerseits auf den Prozess des Tuns, der im praktischen Bewusstsein angelegt ist und aus dem sich das routinierte Handeln in erster Linie bedient. Andererseits bezieht sich der Begriff des Handelns aber auch auf den intentionalen Akt der Handlung. Diese Trennung zwischen dem eigentlichen Tun und der Intention ist besonders relevant, denn meistens ist die Grundannahme leitend, dass Individuen ihr Tun unter Kontrolle haben. Das heißt, dass sie sich über die Folgen ihres Handelns bewusst sind (vgl. ebd., S. 19). Giddens betont jedoch, dass Handlungen auch unberücksichtigte Folgen haben können. Beispielsweise bemüht sich das Individuum, korrekt Auto zu fahren. Durch die tagtäglichen Autofahrten reproduziert es den korrekten Autofahrstil. Dabei ist das Autofahren im Moment der Fahrt intentional, die Reproduktion des korrekten Autofahrstils hingegen ist nicht intentional. Die Verknüpfung der eigenen Handlung mit der Intention, sprich die Handlungsfolge, kann also unbewusst geschehen. Giddens stellt heraus, dass die Verknüpfung des eigentlichen Handelns mit dem intentionalen Akt des Handelns in modernen Gesellschaften zunehmend in Vergessenheit gerät, obwohl diese Verknüpfung besonders folgenreich sein kann, da nicht intendierte Handlungen wiederum Bedingungen für neues Handeln werden können. Dies bedeutet: Individuen bewegen sich im Alltag mit Rückgriff auf ihre Routinen, verfolgen im normalen Alltagshandeln aber nicht die Absicht, unterschiedliche soziale Teilsysteme zu produzieren, da sie in erster Linie situativ und kontextspezifisch handeln. Der Reproduktionsprozess sozialer Teilsysteme ist unbeabsichtigt – schwingt in den Routinen der Akteur*innen aber sozusagen mit. Hier bahnt sich eine hermeneutische Problemstellung an: Das Individuum handelt zwar im Alltag überwiegend aus dem praktischen Bewusstsein heraus (routinemäßig und damit implizit habituell und unreflektiert), ist aber stets in diskursives Wissen eingebunden, woraus eine Diskursivierung der Handlungen des praktischen Bewusstseins erfolgt:
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive … „Die Grenze zwischen practical Consciousness und discursive Consciousness ist nicht eindeutig, da es kein aktualisiertes Wissen zur Handlungssteuerung gibt, das vollständig einer dieser Ebenen zuordbar wäre (vgl. Petzing 1993). Jedes routinisierte Handeln basiert größtenteils auf implizitem Wissen, da die Prozesse der Handlungssteuerung so komplex sind, dass stets nur ein kleiner Teil diskursiv verfügbar sein kann“ (Schallnus 2006, S. 69).
In die impliziten Handlungen des Menschen sind bereits diskursive Wissensmuster eingewoben. Das diskursive Bewusstsein wird häufig erst dann offensichtlich, wenn Situationen besonders problematisch sind und nicht anhand routinierter Praktiken ausgehandelt werden können. Dann wird das pragmatische Bewusstsein verlassen und Deutungen werden aktiv. Wird die Routine gestört, setzt je nach Grad der Störung ein Reflexionsprozess ein und die Situation wird im Rahmen der oben genannten individuellen Relevanzsysteme gedeutet. Ein Aspekt, auf den Schütz und Luckmann (1979, S. 154 ff.) bereits mit den unterschiedlichen „Wissensvorräten“ des Individuums (Fertigkeiten, Gebrauchswissen, Rezeptwissen etc.) aufmerksam gemacht haben und der bereits in Kap. 2 unter dem Aspekt des ‚ethnischen Alltagswissens‘ (Terkessidis 2005) erläutert wurde.6 Dies ist gleichsam das Fenster, durch das etwa auch national aufgeladene Deutungsmuster (‚Deutscher‘ vs. ‚Ausländer‘) Eingang in den Alltag finden können, sich fest verankern und selbstverständlich zur Erklärung problematischer Situationen verwendet werden. Bukow (1984) nennt es auch das „Wissen über
6In
„Strukturen der Lebenswelt“ (1979) begreifen Schütz/Luckmann den durch Husserl geprägten Begriff der Lebenswelt als eine sinnhafte, intersubjektiv geschaffene Welt, an der Menschen durch ihre alltäglichen Handlungen und ihre Erfahrungen teilhaben. Aus der „Wirkwelt“ heraus bildet der Mensch seine „Lebenswelt“. Der Mensch steht im Zentrum dieser alltäglichen Lebenswelt und deutet aus einer subjektiven Perspektive heraus seine Umwelt. Die Lebenswelt ist für jeden Menschen also intersubjektiv angelegt. Sie vollzieht sich durch die tagtäglichen Handlungen, die der Mensch vornimmt. Geprägt durch unterschiedliche Erfahrungen auf Basis der Sozialisation, der sozialen und materiellen Lebensumstände etc. ist die erfahrene Welt für jeden Menschen gleichzeitig auch eine andere, individuelle Welt. Auf diese Weise kommen mannigfache Wirklichkeiten in der Lebenswelt zum Ausdruck. Schütz fragt sich, wie auf Basis dieser Intersubjektivität schließlich ein gemeinsames geteiltes gesellschaftliches Miteinander erklärt werden kann. Dies erfolgt anhand des Rückgriffs auf einen gemeinsamen Wissensvorrat und auf gleiche „Idealtypen“. Um in den unterschiedlichen alltäglichen Situationen handlungsfähig zu bleiben, greift das Individuum auf diese Idealtypen zurück. Auf diese Weise wird eine gemeinsame alltägliche Ordnung hergestellt. Alltagswissen ist demnach Rezeptwissen, ein Leitfaden, dem das Individuum folgt, um die soziale Ordnung in Situationen zu reproduzieren (vgl. Schütz 1982; Schütz und Luckmann 1979, S. 25).
3.1 Alltagshandeln und Routinen in der polykontextuellen Gesellschaft
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[die] Alltagswelt“, das den „Horizont vor dem man lebt, reflexiv aufleuchtet“ (ebd., S. 76 f.). Für die vorliegende Arbeit ist relevant, dass Individuen im Alltag, dadurch, dass sie versuchen, ihre Handlungen in Routinen zu gießen, möglichst praktisch und komplexitätsreduzierend handeln. Bezieht man diese Überlegungen auf die wissenschaftliche Analyse des städtischen Alltagslebens, folgt daraus, dass man für die Erklärung bestimmter Handlungsweisen zunächst praktische Implikationen berücksichtigen sollte: Blickt man beispielsweise auf die unterschiedliche Verortung von Gruppierungen im öffentlichen Raum und möchte die Separierung der Gruppen nachvollziehen, so bilden sich Gruppen im Quartier vielleicht nicht unbedingt nur nach ‚sozio-kulturellen‘ oder vermeintlich ‚ethnischen‘ (‚Türken‘, ‚Deutsche‘, ‚Marokkaner‘ etc.) Merkmalen, sondern entlang bestimmter Kontexte und Szenen, die die Situationen rahmen (Fußballspieler*innen, Boulespieler*innen, Marktbesucher*innen, Spielplatznutzer*innen, Platznutzer*innen). Betrachtet man nur die Szenen, werden spezifische situationsrelevante Merkmale sichtbar. Bezieht man darüber hinaus öffentliche Diskursformationen, in die die Routinen eingebettet sind, mit in die Analyse ein, erhalten die Situationen eventuell eine andere Bedeutung. Spielplatznutzer*innen sind dann nicht einfach nur Spielplatznutzer*innen, sondern werden als Spielplatznutzer*innen eines als Brennpunkt gelabelten Stadtteils gedeutet. Fußballspieler*innen sind nicht einfach nur Fußballspieler*innen, sondern eine ‚ethnisch‘ markierte Gruppe, die andere Gruppen vom Platz verdrängen (siehe Abschn. 7.3). Die eigentliche Szene wird durch weitere Deutungen angereichert, die unterschiedlich relevant – von gar nicht bis hoch-relevant – für die jeweilige Szene sein können. Hier ist das Deutungsfenster, durch das Ungleichheiten, hegemoniale Deutungsmuster und machtvolle Codes den Blick auf alltägliche Szenen rahmen, auf das alltägliche Gesamtarrangement einwirken und dieses verzerren. Doch was bedeuten diese Überlegungen für eine postmoderne Wirklichkeit und einen Alltag, der zunehmend komplexer wird? Für einen Alltag, in dem die Menschen ständig diversitätsgeprägten Situationen ausgesetzt sind und diese bewältigen müssen? Ulfert Herlyn (1999) formuliert die Auswirkungen, die eine sich stetig ausdifferenzierende Gesellschaft auf den Alltag des Individuums hat, folgendermaßen: „Die durch die Prozesse der Entnormierung gewissermaßen frei gewordenen Aktionsfelder verlangen nach eigenen Entscheidungen (…). Das Alltägliche als das, was ‚alle Tage‘ geschieht, bekommt in Zeiten, in denen Individualisierungsprozesse verstärkt um sich greifen, eine neue Qualität für die Bewältigung von notwendig werdenden Orientierungsleistungen und für die Sicherung von unsicher gewordenen Lebensentwürfen“ (ebd., S. 11).
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
Für Bukow et al. (2001) bedeutet die Anpassung des Individuums an komplexe Situationen, dass alte Fertigkeiten – also die Bewältigung sozialer Situationen durch die oben erwähnten Praktiken – neu akzentuiert und erheblich „radikalisiert“ werden (müssen) (vgl. ebd., S. 54). Sie nennen drei Formen des Alltagshandelns, die sich aus der zunehmend polykontextuellen Gesellschaft und der damit verbundenen Verdichtung und Vervielfältigung von Handlungssituationen ergeben: Die thematische Konzentration (1) und damit die Verengung der Sichtweise auf Situationen. Die Vielzahl an Möglichkeiten, die das Individuum nutzen kann, erzwingt eine räumliche, zeitliche und inhaltliche Konzentration und Begrenzung auf Situationen und damit Themen. Es erfolgt sozusagen das, was Luhmann bereits unter den Begriff der Komplexitätsreduktion gefasst hat (vgl. Luhmann 2009). Die Bereitschaft zum reflexiven Perspektivwechsel (2) ermöglicht ein erweitertes Alltagshandeln der Individuen. Das Individuum ist aufgrund der vielfältigen Kontexte, die ihm angeboten werden, zu einer stärkeren Reflexion der Situationen aufgefordert. Aufgrund der Fülle von Reizen und Einflüssen – also aufgrund der alltäglichen Komplexität – muss das Individuum stetig bereit sein, „sich neu zu arrangieren, einen neuen Anschluss an das Konsumangebot, an Bildungsmöglichkeiten, an Arbeit“ (Bukow et al. 2001, S. 54) zu suchen. Das Agieren aus der Betroffenheit heraus nennen die Autor*innen als weiteres Alltagshandeln (3). Damit verweisen sie auf die in modernen Gesellschaften existierenden, vielfältigen Bedeutungen und Sinnzusammenhänge, die einer Situation inhärent sind und sie auf diese Weise komplexer werden lassen. Das Individuum ist aufgrund der Deutungsvielschichtigkeit, die den Situationen in zunehmend komplexen Gesellschaften angehaftet sind, aufgefordert, mit konfliktreicheren und problembeladeneren Situationen umzugehen. In Bezug auf die Überlegungen zur Routinisierung des Alltags im vorigen Abschnitt zeigen die Überlegungen von Bukow et al. auf, dass im polykontextuellen Alltag viele Situationen aufkommen können, die die Routinen des jeweiligen Individuums stören und spontane Reaktionen erfordern. Dies impliziert, dass das Individuum sein Alltagswissen kontinuierlich erweitern muss, in dem es, angeregt durch die Störungen, die im diversen Alltag auftreten, Handlungsabläufe in neue Routinen gießt. Der Alltag wird dabei zu einer „ununterbrochenen situativen Hervorbringung von immer wieder neu gewichteter Wirklichkeit“ (Bukow 2001, S. 58). Wenn sich das Individuum Situationen (accountables) entsprechend seiner individuellen sozialen Ordnung sinnhaft erklärt, wendet es ein praktisches Verfahren der Vielfaltsbewältigung an. Blickt man also auf den Alltag und damit auf die alltäglichen Handlungsverläufe der
3.2 Exkurs: Die drei Säulen der Stadtgesellschaft
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Individuen, dann ist es möglich zu beobachten, wie Wirklichkeit praktisch verhandelt wird. Der alltäglich konstruierte, gesellschaftliche Zusammenhalt erfolgt dann weniger unter einem gemeinsamen nationalstaatlichen Wertedach, wie es immer wieder als gemeinschaftsbildend beschworen wird, sondern vielmehr unter dem durch viele Einflüsse schattierten, freien Himmel des Alltags, in dem die Wirklichkeit praktisch verarbeitet wird.
3.2 Exkurs: Die drei Säulen der Stadtgesellschaft Im Alltag hochdifferenzierter Gesellschaften wird das Individuum – und damit schließe ich an die Überlegungen von Bukow et al. (2001) sowie Bukow (2002, 2010, 2014) zur ‚Grammatik des urbanen Zusammenlebens‘ an – mit drei unterschiedlichen, die Stadtgesellschaft grundierenden Kontexten konfrontiert. Es lässt sich zwischen dem systemischen (formalen), lebensweltlichen (individuellen) und zivilgesellschaftlichen (metakommunikativen) Kontexten unterscheiden, „die sich im Verlauf der Geschichte der Stadt herausgebildet haben – und die im Kern in jeder Stadtgesellschaft“ (Bukow 2018a, S. o. S.) erwartet werden. Bukow et al. bezeichnen diese drei stadtgesellschaftlichen Kontexte als die Drei Säulen der Stadtgesellschaft. „Wir leben in einer postmodernen Gesellschaft, die aus systemischer Perspektive als eine formal-rationale Gesellschaft, aus lebensweltlicher Perspektive als eine multikulturelle Gesellschaft und aus einer metakommunikativen (verständigungsorientierten) Perspektive als eine Zivilgesellschaft zu beschreiben ist“ (Bukow 2001, S. 42).
Die Grammatik des urbanen Zusammenlebens bildet einen zentralen theoretischen Hintergrund dieser Arbeit und ist besonders relevant, um Dynamiken der Ungleichheit im Quartier aufzufächern, die häufig den Individuen oder bestimmten Gruppen als selbst verschuldet zugeordnet werden, jedoch genauso mit der mangelnden Inklusion in die drei Säulen der Stadtgesellschaft erklärt werden können. Der systemische Kontext beschreibt die im Rahmen gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse herausgebildeten formalen ökonomischen, politischen und rechtlichen – also infrastrukturellen – Teilsysteme, in die das Individuum eingebunden ist (das Gesundheitssystem, das Bildungssystem etc.). Der lebensweltliche Kontext umfasst die in der polykontextuellen Gesellschaft möglichen individuellen Lebensstile und persönlichen Einstellungen im Gesamtgefüge der
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
Stadtgesellschaft. Unter dem zivilgesellschaftlichen Kontext (von den Autor*innen auch metakommunikativer Kontext genannt) wird der diskursive Gesamtzusammenhang verstanden. Er beinhaltet den öffentlichen Diskurs, der aus den institutionell bzw. systemisch gerahmten, raum-, zeit- und lebensweltspezifischen Kontexten zusammengesetzt ist und durch entsprechende Machtstrukturen geprägt ist (vgl. Weber 2013, S. 575 ff.). Diese drei Kontexte bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und erfordern jeweils unterschiedliche Inklusionsleistungen. So hängen die individuellen lebensweltlichen Entfaltungsmöglichkeiten maßgeblich vom systemischen Kontext ab, in den das Individuum eingebunden ist. Andererseits wirken sich die individuellen Lebensweisen wieder auf den systemischen Kontext aus, wenn beispielsweise als Reaktion auf flexiblere Lebensentwürfe oder eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen ganztägliche Betreuungsangebote für Kinder geschaffen werden. Im Rahmen dieser drei Kontexte erfährt das soziale Handeln in Stadtgesellschaften im Alltag unterschiedliche Ausprägungen. Am Beispiel der undefinierten Situation eines ‚Flüchtlings‘, dem die Abschiebung droht, lassen sich die Verflechtungen innerhalb dieser drei Kontexte exemplarisch verdeutlichen: Die Lebenswelt eines ‚Flüchtlings‘, der systemisch kaum integriert ist und eventuell nur über eingeschränkte Rechte verfügt (beispielsweise die Arbeitserlaubnis oder den Wohnortwechsel betreffend), ist als Folge durch unzureichende Entfaltungsmöglichkeiten gekennzeichnet, da er/sie, einerseits in ständiger Angst vor Abschiebung lebt und andererseits in seiner/ihrer persönlichen Entfaltung räumlich, zeitlich und lebensweltlich eingeschränkt ist. Im zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang wirkt sich diese Situation z. B. in politischen Forderungen nach einem veränderten Asylgesetz oder durch Unterstützungsleistungen seitens der Bevölkerung aus. Die mangelnde Inklusion schon in einen der drei Kontexte kann dann wiederum Auswirkungen auf das lebenspraktische Miteinander im Alltag haben. In allen drei Kontexten ins gesellschaftliche Abseits manövriert, entwickeln Individuen schließlich Praktiken des Abseits (illegale Arbeit, kriminelle Strategien), die ihnen die lokale Platzierung in irgendeiner Form möglich machen sollen. Sie sind genötigt, sich jenseits der ihnen unzugänglichen Migrationsformate eine illegale Existenz in Nischen aufzubauen, in denen sie ein entsprechendes informelles Wissen und informelle Kompetenzen erwerben, die vom Leben unter illegalen Bedingungen geprägt sind. Die Inklusion oder Exklusion in die Stadtgesellschaft hängt also in unterschiedlichen Ausprägungen von den Kontexten, aber auch von den unterschiedlichen
3.2 Exkurs: Die drei Säulen der Stadtgesellschaft
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Relevanzstrukturen ab. So kann die Zugehörigkeit zur Peer-Group für die/den Einzelne/n lebensweltlich von höchster Relevanz sein, für die Gesellschaft (systemisch und zivilgesellschaftlich) insgesamt hat es aber keinerlei Bedeutung (vgl. Bukow 2011, S. 42 ff.). Der Dauerablauf des Alltags, also das alltagspraktische Miteinander, bildet die erste zentrale Basis für das Zusammenleben. Die drei Säulen der Stadtgesellschaft, die auf den Alltag und das Individuum zurückwirken, sind in Beziehung zum alltagspraktischen Miteinander zu betrachten. Sie garantieren die Organisation des Zusammenlebens der Vielen als Viele unter systemisch-zweckrationalen, lebensweltlich und sinnhaft-individuell sowie w ert-rational-metakommunikativ geprägten Gesichtspunkten (vgl. Bukow et al. 2001; Bukow 2011, 2017). Je nach Einbindung des Individuums in die drei Kontexte, wirken sich diese unterschiedlich auf das Individuum und seinen Alltag aus. Mit dem Drei-Säulen-Modell ist es möglich, die alltagspraktischen Routinen und die in die darauf bezogenen institutionellen Strukturen eingebetteten Praxen zu erforschen. Für die Forschung im Quartier bedeutet die Berücksichtigung dieses Modells einen multiperspektivischen Blickwinkel (vgl. Schulze 2003). Die Stadt erscheint auf diese Weise „entweder als ein Netzwerk von formalen Strukturen, als eine Vielfalt subjektiver Spielräume, Lebensformen und Lebensstile oder aber als ein Forum für diverse Formen der Partizipation“ (ebd., S. 15). Diesem Ansatz folgend ist die Inklusion des Individuums in die Stadtgesellschaft in erster Linie über die Einbindung in die drei genannten Säulen möglich. Die drei Säulen liefern das Gerüst für den „Zusammenhalt der Gesellschaftsmitglieder“ (Bukow et al. 2001, S. 71). Die „soziale Grammatik“ des Zusammenlebens insgesamt gerät dann ins Ungleichgewicht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen nicht an alle Systeme angekoppelt sind und von einem oder mehreren Bereichen ausgeschlossen werden. Dynamiken der Ungleichheit setzen ein, da die „im lokalen Rahmen arbeitenden Systeme, Lebensstile und Diskurse“ nicht mehr wie üblich funktionieren können (vgl. ebd.). Besonders problematisch wird es, wenn die Ungleichheit, die im Kern aus der Abkopplung von einem der Kontexte entsteht, in einer Vernachlässigung ganzer Bevölkerungsteile oder Quartiere mündet. Dann entstehen so genannte ‚Brennpunkte‘, die sich „in der Struktur der Stadtgesellschaft“ (ebd.) verankern. Der eigentliche Kern, der die Ungleichheiten hervorbringt, verschwindet aus der Wahrnehmung, da die als ‚Brennpunkt‘ etikettierten Stadtteile eine Eigendynamik entwickeln, die ihre benachteiligte Stellung im gesamten Stadtgefüge manifestiert.
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
3.3 Verortung im diversitätsgeprägten Alltag „Die Menschen handeln heute in weit größerem Umfang in translokalen bis globalen Zusammenhängen, aber die lokalen Bezüge haben für die individuelle Alltagsorganisation und das Zusammenleben vielleicht sogar an Bedeutung gewonnen“ (Feldtkeller 2012, S. 55).
Immer mehr Menschen zirkulieren zwischen verschiedenen Orten auf der Welt, lösen sich aus den ihnen vertrauten Bindungen und müssen an neuen Orten, mit neuen Menschen, Gewohnheiten und Routinen ankern. Der gesellschaftliche Umgang mit diesen alltäglichen mobilitätsgeprägten Prozessen ist, wie in der bisherigen Diskussion (vgl. Kap. 2 und 3) deutlich wurde, oftmals von ‚ethnischen‘ und kulturalisierenden Diskursen geprägt, die den Menschen die Verortung an ihnen zuvor physisch unbekannten Orten erschweren.7 Oftmals wird aus dieser Perspektive dort, wo ‚migrantisches‘ Leben beobachtet wird, von der „fremden Heimat“ gesprochen und festgestellt, dass Newcomer*innen „zwischen den Kulturen“ leben (Binder 2008, S. 7). Auf diese Weise wird Zugehörigkeit und Verortung wenn nicht verunmöglicht, so doch erschwert – ein Phänomen, das sich nicht nur in Bezug zu Newcomer*innen feststellen lässt. Auch unerwünschten Öffentlichkeiten (Trinker*innen, Drogendealer*innen, Drogenkonsument*innen, Menschen ohne festen Wohnsitz, sozial abgehängten Gruppen, Armen, usw.) wird Zugehörigkeit oftmals abgesprochen. Ganz banal beispielsweise dann, wenn Menschen durch städtebauliche Maßnahmen von Orten verdrängt werden, weil sie nicht den gewünschten Verhaltensstandards der anderen Nutzer*innen entsprechen und als ‚anders‘, ‚fremd‘ oder ‚nicht normal‘ abgestempelt werden. Pfaff-Czarnecka (2013) zufolge ist Zugehörigkeit eine „emotionsgeladene soziale Verortung“ (ebd., S. 12), die mit machtvollen Codes durchsetzt ist. Die polykontextuelle, superdiverse Gesellschaft bietet mannigfache Zugehörigkeitsfolien. Man kann sich zu Vielem zugehörig fühlen bzw. Vieles kann das Gefühl von Zugehörigkeit auslösen, sei es eine Gruppen- oder Gemeinschaftszugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einem Ort, einer Landschaft, zu einem Gefühl oder auch nur die Vorstellung von einem Gefühl. Aber auch das Iphone, das Auto, die eigene Wohnung, das Wetter oder Nahrungsmittel können Gefühle der Zugehörigkeit auslösen. In der wissenschaftlichen Debatte verweisen die Begriffe
7Vgl.
hier Reist (2012), die auf die imaginativen Geografien von Orten hinweist. Demzufolge haben sich bereits Bilder und Vorstellungen von bestimmten Orten entlang tradierter Geschichten festgesetzt, auch wenn diese Orte noch nie physisch erfahren worden sind.
3.3 Verortung im diversitätsgeprägten Alltag
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„translocational positioning“ (Anthias 2006), „multiple Belonging“ (Calhoun 2003; Vieten 2006) oder „mehrheimische Alltagspraxen“ (Yildiz 2016)8 auf die Möglichkeiten, sich im polykontextuellen Alltag zu verorten. Betrachtet man Zugehörigkeit nationalstaatlich, rückt automatisch die Her kunft statt des situativ-lokalen, das für das Alltagshandeln der M enschen relevant ist, ins Zentrum der Aufmerksamkeit – auch wenn vielfache D iversityInszenierungen den Anschein erwecken, dass man sich zu allem zugehörig fühlen dürfe. Nationalstaatlich gedacht, kommt eine weitere Funktion von Zugehörigkeit zum Tragen: Sie entfaltet machtgesteuerte Grenzziehungen und wird häufig als ein Wert verteidigt, auf deren Basis Gruppen ausgeschlossen werden (vgl. PfaffCzarnecka 2013, S. 8 f.). Häufig wird der bereits im Nationalsozialismus instrumentalisierte und heute noch nationalstaatlich imprägnierte Begriff der ‚Heimat‘9 verwendet, um auf die nationale Zughörigkeit zu verweisen.10
8„Jugendliche
und Heranwachsende, die sich als „mehrheimisch“ fühlen, sehen sich als Kölner_innen, Berliner_innen oder Wiener_innen und entwickeln eine provokante autonome ‚Kanak_innenkultur‘ oder ‚Tschusch_innenkultur‘ eine Art kollaborativer Wissensproduktion“ (Yıldız 2016, S. 6). 9Dass das Wort „Heimat“ nur im deutschsprachigen Raum existiert, gilt fast als Allgemeinplatz. Es leitet sich von dem mittelhochdeutschen Begriffen heimuot(e), heimōt(e), heimōde, heimüte ab, die allesamt mit „Stammsitz“ übersetzt werden können. Bis ins 19. Jahrhundert bedeutete Heimat im sachlichen Sinne also den Besitz von Haus und Hof. Heute wird Heimat konstant als differenzierender Begriff gebraucht, der gleichzeitig einen nationalen Rahmen benötigt, „innerhalb dessen ‚Heimat‘ als eigenständiges, partikulares Phänomen entwickelt wird […]“ (Schumann 2001, S. 64). 10„No Way – You will not make Australia home“ stand auf einem Flyer, den die australische Regierungsbehörde für Zoll und Grenzsicherheit im Herbst 2014 drucken ließ. In verschiedenen Sprachen wurde potenziellen Newcomer*innen deutlich gemacht, dass sie gar nicht erst versuchen sollten, Australien zu erreichen. Der Flyer zeigt die grundlegende Problematik, die mit dem ‚Heimatbegriff‘ verbunden ist. Die australischen Behörden definieren Zugehörigkeit auf der Basis eines Heimatbegriffs im Sinne einer ‚ortsgebundenen Identität‘, die auf nationalstaatlichen Grenzen beruht und ihnen deshalb erlaubt, Menschen den Zugang zum Landesinneren und somit Zugehörigkeit zu verwehren. Dass potenziellen Newcomer*innen diese auf einer ortsgebundenen Zugehörigkeit basierenden Identität aber explizit nicht zugestanden wird, macht zugleich indirekt deutlich, dass Menschen durchaus in der Lage sind, neue Zugehörigkeiten und ‚Heimaten‘ zu erwerben – wenn es ihnen denn erlaubt wird. Denn könnten sie dies nicht, bräuchte man (in dem Fall die australische Regierung) ihnen das Recht dazu nicht absprechen. Interessant ist darüber hinaus, dass der australische Flyer nicht an alle Menschen, sondern lediglich an ‚Bootsflüchtlinge‘ als nicht willkommene Newcomer*innen, adressiert ist.
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
Der Begriff ‚Heimat‘ hat sich abseits seiner Funktion als kollektivierendes und exkludierendes Konstrukt jedoch auch als emotionale Größe festgeschrieben. Brah (1996) beschreibt mit dem Begriff „homing desires“ das Bedürfnis nach Sicherheit, Vertrautheit und Gemeinsamkeit, wozu unabdingbar das Gefühl der Zugehörigkeit gehört. ‚Heimat‘ als Synonym für eine ‚nationale Identität‘ stellt Brah damit infrage. In Anknüpfung an die vorherigen Überlegungen zur Bedeutung alltäglicher Routinen im Alltag (vgl. Abschn. 3.1) hebt Hannerz (1996) in seinem Aufsatz „The Local and the Global“ die Bedeutung von Gewohnheiten für die Vorstellung von ‚Heimat‘ und Zugehörigkeit hervor. Dementsprechend ist es nicht der Ort an sich, der der/dem Einzelnen das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt, sondern die Ausführung gewohnheitsmäßiger Handlungen (vgl. ebd., S. 27 ff.).11 Damit löst Hannerz den Heimatbegriff von der Vorstellung eines statischen territorialen Ortes ab und bezieht ihn auf eine rein sinnliche Erfahrungssituation. Binder (2008) führt den Ansatz von Hannerz weiter, indem sie von home als eine „Praxis der Beheimatung“ spricht. Sich zu Hause zu fühlen bezieht sich ihrzufolge auf bestimmte gefühlsgesteuerte Taktiken und das Beibehalten von Routinen (vgl. ebd., S. 11; Rapport und Dawson 1998, S. 7).12 Orientiert man sich am Verständnis von Heimat als Raum gemeinsamer Routinen, wie ich es in Anlehnung an Hannerz, Binder sowie Rapport und Dawson tue, dann ermöglicht dies eine situations- und lokationsbezogene Forschungsweise, die den konkreten Lebensort und die mit dem Ort individuell verwobenen glokalen Bedeutungsstrukturen in den Blick nimmt. Ein solches Verständnis von Heimat ‚schützt‘ den/die Forschenden davor, nationalstaatliche Zuschreibungen und Etikettierungen vorzunehmen. Der Alltag bildet dann einen Rahmen, in dem Menschen Praktiken der Verortung ausführen, um sich zugehörig fühlen zu können. ‚Heimat‘ bedeutet in diesem Sinne Zugehörigkeit, aber nicht auf Basis nationalstaatlicher oder ‚ethnischer‘ Grenzen, sondern aufgrund geteilter Erfahrungen in einem miteinander geteilten Alltag. Dementsprechend hat das Alltagsleben – also die „routinierten, sozialen Praktiken, die im Alltag erzeugt und in der Alltagswelt wirksam werden“ (Lange und Bergmann 2012, S. 21) – eine
11Zur
ausführlichen Diskussion zum Thema home, emotionale Ortsbezogenheit und Zuhause als Praxis, siehe Klückmann (2013). 12„Home comes to be found in a routine set of practices, a reception of habitual interactions, in styles of dress and adress, in memories and myths, in stories carried around in one’s head. People are more at home nowadays, in short in words, jokes, opinions, gestures, actions“ (Rapport und Dawson 1998, S. 7).
3.3 Verortung im diversitätsgeprägten Alltag
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besondere Relevanz, um Zugehörigkeitskonstruktionen, Einschluss und Ausschluss nachvollziehen zu können. Schroer (2006) und Feldtkeller (2012) verweisen auf die Annahme, dass das Lokale – gerade im Kontext globaler Entwicklungen – zunehmend an Bedeutung gewinnt. Nur weil sich die Welt diversifiziert und Menschen zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten hin und her wechseln bzw. aufgrund der modernen Kommunikation jeden Flecken der Erde zumindest virtuell entdecken können, bedeutet dies nicht, dass der Ort, an dem sich das Individuum physisch befindet, an dem es wohnt und arbeitet, zwingend an Bedeutung verliert. Eher – und so ist auch das Verständnis von Lokalität in dieser Arbeit – lebt es in glokalen Zusammenhängen: „Wenn wir das so oft zitierte Mantra ernst nehmen, dass sich das Lokale und das Globale »gegenseitig konstituieren«, dann sind lokale Orte nicht einfach »Opfer« und nicht einmal nur die Produkte des Globalen. Im Gegenteil: Sie sind auch die Momente, durch die das Globale konstituiert wird, das heißt, es gibt nicht nur die globale Konstruktion des »Lokalen«, sondern auch die lokale Konstruktion des »Globalen«“ (Massey 2006, S. 29).
Das Individuum ist in seinem lokalen Alltag immer in globale Zusammenhänge eingebunden, sei es durch Konsumgüter oder durch transnationale Netzwerke. Jedes Ereignis irgendwo auf der Welt muss entsprechend in einem regional-lokalen und einem global-überregionalen Kontext gedacht werden. Im Quartier, also im Lokalen, bilden sich Räume, in denen Praktiken der Beheimatung und Verortung ausgeführt und konstruiert werden. Dabei können ‚Heimatbilder‘ und Imaginationen von Zugehörigkeit auch bewusst als Ressource und Praxis genutzt werden. Lokale Praxen, die sich möglicherweise auf ein irgendwie geartetes ‚Heimatland‘ beziehen, werden nicht unbedingt als nationaler Bezugspunkt, sondern beispielsweise aus wirtschaftlichen Aspekten (Orientalimus, China Town) benutzt. Rückkehrabsichten werden besprochen, aber nicht weil sie zwingend real verfolgt werden (vgl. hierzu: Rückkehrmythos, D ietzel-Papakyriakou 1993; Safran 1991), sondern weil sie als soziale Praxis der Zugehörigkeit, als Inszenierung oder gar als Imagination fungieren, die der Platzierung und Verortung in der Stadtgesellschaft dienen. Sie können teils auch als Versuch gedeutet werden, sich trotz unvollständiger Inklusion in die drei Säulen der Stadtgesellschaft erfolgreich zu verorten. Die Frage nach der Bedeutung des Lokalen für das Individuum stellt in der vorliegenden Arbeit einen zentralen Ausgangspunkt dar. Dieser Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen in der Lage sind, aus ihrer aktuellen Lebenssituation heraus und unter Rückgriff auf translokale Erfahrungen, eine tragfähige
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
Zugehörigkeit zu konstruieren und dass das Konstruieren von Zugehörigkeiten und Heimaten (ganz gleich zu welchen Formen) sogar ein Grundbedürfnis eines jeden Einzelnen befriedigt. Nationalstaatliche Restriktionen (z. B. durch restriktive Auflagen im Asylverfahren) und die Gruppierung und Marginalisierung von Minderheiten entlang bestimmter Kategorisierungen erschweren und verwehren solche individuellen Zugehörigkeitskonstruktionen. Ähnlich wie es im Konzept der Biographizität beschrieben wird, wird in dieser Arbeit angenommen, dass sich Beheimatungspraktiken und Zugehörigkeitskonstruktionen immer wieder aus der konkreten Situation und der in dem Moment gültigen Gemengelage heraus neu ausbilden und dann durch die individuelle Geschichte und den gesellschaftlichen Kontext in einer Rückschau stets neu arrangiert und angereichert werden (vgl. Alheit 1990; Lutz und Schwalgin 2006; Schiffauer 2009). In diesen Prozess wirken natürlich Inklusions- und Exklusionsmodalitäten ein (Luhmann 2005). Auf dieser Annahme basierend frage ich in meiner Forschung danach, wie Menschen um Zugehörigkeit kämpfen, wie sie sich verorten, auf welche Barrieren sie dabei stoßen und welche unterschiedlichen Zugehörigkeitskonzeptionen sich aus superdiversen Lebensweisen entwickeln.
3.4 Alltägliche Bewegung im StadtRaum: Der öffentliche Raum „Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Aber Räume helfen uns auch zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie kanalisieren, in welche Situationen wir kommen und welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. Räume dienen insofern der Komplexitätsreduktion“ (Schroer 2006, S. 41 f.).
Städte und Quartiere sind komplexe Räume, die sich in ihrer Eigenlogik (vgl. Berking und Löw 2008) voneinander unterscheiden. Deshalb ist es an dieser Stelle wichtig, das Verständnis von Raum in dieser Arbeit knapp darzulegen. Der Raum hat für die Erforschung gesellschaftlicher Diskurse und Prozesse in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ausgehend vom sogenannten spatial turn der 1980er Jahre (vgl. Soja 1989) haben sich innerfachlich unterschiedliche Schwerpunkte im Hinblick auf den Zugriff und die Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff ergeben. Wildner (2003) nennt die „inhärente Dichotomie“, von der in den meisten Raumdefinitionen in unterschiedlicher Begrifflichkeit gesprochen wird, als zentrale Gemeinsamkeit vieler Raumdefinitionen (vgl. ebd., S. 58). So unterscheidet Bourdieu (1997) zwischen dem
3.4 Alltägliche Bewegung im StadtRaum: Der öffentliche Raum
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physischen und dem sozialen Raum, De Certeau (2006) zwischen dem abstrakten und dem bewohnten Raum, Soja (1989) zwischen dem konkreten und dem metaphorischen Raum und Augé (1994) zwischen dem anthropologischen und dem nicht-anthropologischen Raum (vgl. dazu Wildner 2003, S. 58). Alle genannten Dichotomien betonen den konstruierten Charakter des Raumes, in dem der Mensch soziale Handlungen und damit soziale Praxis vollzieht. Ein weiteres zentrales Merkmal, das in unterschiedlicher Ausprägung in den verschiedenen Raumdefinitionen herausgestellt wird, ist die „Prozeßhaftigkeit und Relationalität des Raumes“ (Ecarius und Löw 1997, S. 8; vgl. u. a. Schuster 2010; Scambor und Frank 2012). Es gibt nicht den Raum, der in einem euklidischen Sinne als fester Behälter oder Container verstanden werden kann, vielmehr entsteht Raum durch menschliche Praxis immer neu und wird im Zusammenspiel von materiellen, diskursiven und symbolischen Anordnungen individuell unterschiedlich wahrgenommen und konstruiert (Lefebvre 1991). Diese Arbeit orientiert sich vor allem an den Konzepten des Sozialen Raums (vgl. Foucault 2005 [1967]; Lefebvre 1974; De Certeau 2006; Bourdieu 1989) und an diesen Überlegungen anknüpfenden Arbeiten von Martina Löw (2001, 2008) und Katrin Wildner (2003). In Anlehnung an das relationistische bzw. konstruktivistische Raumverständnis von Bourdieu (1991), dem zufolge sich Menschen je nach Kapitalvermögen im sozialen Raum positionieren und ihn hervorbringen, betrachtet Löw die Entstehung des konkret physischen wie auch sozialen Raums als ein relationales soziales Phänomen, das abhängig von gesellschaftlicher Praxis und Entwicklungen ist. Körper (soziale Güter und Menschen) und ihre relationale Anordnung erzeugen den Raum (Spacing), der dann je nach kulturell-sozialer Erfahrungs- und Wahrnehmungsbiografie wiederum individuell unterschiedlich wahrgenommen wird. Durch den individuellen Prozess der Raumbildung entstehen unterschiedliche Räume an einem Ort (Syntheseleistung) (vgl. ebd., S. 158 f. und 198 ff.). Die unterschiedlichen Positionen (Kapitalien), über die die Menschen im Raum verfügen, spiegeln sich entsprechend auch in den Anordnungen des Raumes wider. Bestehende Klassenstrukturen, soziale Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstetigen, reproduzieren und manifestieren sich auf diese Weise im sozialen Raum (vgl. Löw 2001, S. 182): „Routinen, Institutionen und Gegenkulturen bieten Regeln und Ressourcen an, die den Raum gesellschaftlich und die Gesellschaft räumlich werden lassen. Die Raumproduktionen werden als Erinnerungsspuren und Habitus verinnerlicht. Sie werden von den Prinzipien der Klassengesellschaft und der hierarchisch organisierten Zweigeschlechtlichkeit durchzogen“ (Eckardt 2004, S. 47 f.).
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Halten wir also für den theoretischen Rahmen dieser Arbeit fest: Raum existiert nicht per se, sondern wird durch Prozesse immer wieder neu hervorgebracht und ausgehandelt. Ein Raum ist jedoch nicht einfach die Summe der Beziehungen zwischen den physischen Voraussetzungen und den sozialen Praktiken, sondern er ist gleichzeitig eine „wesentliche Voraussetzung für die kulturelle und symbolische Reproduktion der alltäglichen Praxis“ (Wildner 2003, S. 59). Der Raum setzt sich also aus materieller Praxis sowie sozialen und diskursiven Eigenschaften zusammen. Die materielle Praxis meint die bauliche und infrastrukturelle Gliederung des Raumes (Architektur, Bebauung etc.). Der soziale Raum meint die Handlungen, die im Raum vollzogen werden und der diskursive Raum bezieht sich in erster Linie auf die öffentliche Darstellung des Raumes. Die verschiedenen, auf den Raum einwirkenden Praxen sind nie statisch, sondern dynamisch. Damit ist auch der Raum konstitutiv dynamisch. Sie gehen ineinander über und können sich stetig verändern. Gleichwohl werden Raumproduktionen auch verinnerlicht bzw. manifestieren sie sich an Orten. Die Vorstellung von einer Stadt, die häufig durch Bilder, Medien und Gespräche konstruiert ist, prägt das Bild einer Stadt: „Bilder bilden nicht nur die Wirklichkeit ab, sondern sie konstruieren sie auch“ (Löw 2008, S. 171). Das aus der postkolonialen Kritik stammende Konzept der Imaginativen Geografien (vgl. Reist 2012; Lossau 2002; Gregory 2004; Said 1978) knüpft an diese Idee an. Demnach sind Imaginative Geografien handlungsleitende Repräsentationen sozialer Gruppen, durch die Räume erst geschaffen werden. Was bedeutet dieses Raumverständnis also für die konkrete Forschung im urbanen Raum Lessingplatz? Die Betonung der relationalen und prozessualen Perspektive auf den Raum und die Fokussierung auf die situative Hervorbringung des Raumes ist insofern wichtig, da nur so die komplexen Verflechtungen, die von diesem konkreten Ort weg- und zu ihm hinführen sowie die unterschiedlichen Perspektiven der Akteur*innen auf den Raum und deren Praktiken im Raum sichtbar werden. Kontroll- und Steuerungsfunktionen, die Veränderungen in der Struktur des Raumes bewirken (Aufwertungsprozesse, Sanierungen, Umbau von öffentlichen Räumen etc.) sowie die diskursive Prägung des Raumes kommen als Einflussfaktoren auf das Handeln der Akteur*innen hinzu. Räume sind entsprechend auch Orte ungleicher Macht- und Ressourcenverteilung, sie können inkludierend, aber genauso exkludierend wirken. Diese unterschiedlichen Raumproduktionen gilt es im empirischen Teil vertiefend zu untersuchen.
3.4 Alltägliche Bewegung im StadtRaum: Der öffentliche Raum
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3.4.1 Begegnungen im öffentlichen Raum „Die Stadt beginnt auf der Straße. Straßen sind die Transporteure des städtischen Lebens. Sie bewegen, sie verbinden, sie handeln, sie kommunizieren, sie manifestieren. Entlang der Straße lässt sich erleben und begreifen, was die Gegenwart einer Stadt ausmacht“ (Dika et al. 2011, S. 8). „Fremdheit ist das zentrale Charakteristikum von Urbanität und ex definitione von öffentlichem Raum, als ein Raum in dem idealtypisch alle Personen, unabhängig von Herkunft oder sozialem Status, die gleiche Chance haben, ihn zu nutzen. Fremdheit muss insofern mit ihrem räumlichen Bezug gedacht werden, denn das Fremde resultiert gerade aus den Rollenausschnitten und Verhaltensweisen, die im öffentlichen Raum nicht offenbart werden“ (Wehrheim 2009, S. 32).
Nachdem nun deutlich wurde, was Alltag, Routine und Raum in der vorliegenden Arbeit bedeuten und die Funktionen der drei Säulen der Stadtgesellschaft im Kontext dazu skizziert wurden, steht im folgenden Unterkapitel die alltagspraktische Begegnung von Menschen im öffentlichen Raum im Vordergrund. Der öffentliche Raum wird in dieser Arbeit als Spiegel der Gesellschaft betrachtet, in dem sich die individuellen Alltagsroutinen zu einer städtischen Gesamtperformance verdichten. Öffentliche Räume sind „all jene Areale einer Gemeinde, die ihren Mitgliedern frei zugänglich sind“ (Goffman 1971, S. 21). Es sind damit Orte, die erst einmal niemanden ausschließen, Orte der alltäglichen Begegnung, in denen unterschiedliche Persönlichkeiten, soziale Positionen, Lebensstile und Weltsichten aufeinandertreffen. In Stadtentwicklungsplänen der Kommunen spielt die Gestaltung von öffentlichen Räumen eine zentrale Rolle. Die Attraktivität des öffentlichen Raumes wird als Grundgerüst und Aushängeschild der Innenstädte verstanden (vgl. BBSR 2015). Umso folgenreicher ist damit eine Gestaltung öffentlicher Räume, die bestimmte Nutzer*innen ausschließt oder marginalisiert (vgl. Kap. 3). Im Positionspapier „Öffentlicher Raum und Mobilität“ des Deutschen Städtetages vom September 2016 heißt es: „Das Präsidium des Deutschen Städtetages hebt die besondere Verantwortung der Städte für die Gestaltung des öffentlichen Raums hervor, da dieser in den verdichteten Städten nur begrenzt zur Verfügung steht“ (Deutscher Städtetag 2016, S. 10). Öffentliche Räume seien zentral für die Kommunikation und Begegnung der Bürger*innen, für das „Sehen und Gesehen werden“ (ebd.). Als eine bestimmende Konstituente öffentlicher Räume wird daher ihre Zugänglichkeit betrachtet. Auch die Stadt Düsseldorf schreibt beispielsweise auf Ihrer Homepage: „Der öffentliche Raum spielt für
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die Lebensqualität in der Stadt eine bedeutende Rolle. Er umfasst innerstädtische Plätze und Freiflächen, die für Bürgerinnen und Bürger, sowie Besucher und Besucherinnen der Stadt frei zugänglich und öffentlich nutzbar sind“ (Homepage Stadt Düsseldorf).13 Die Bedeutung öffentlicher Räume für die Interaktion mit Anderen wird im wissenschaftlichen Diskurs vielfach diskutiert (vgl. hierzu ausführlich Berding und Karow-Kluge 2017). Zusammenfassend lassen sich zwei unterschiedliche Diskussionsebenen festmachen, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte: Während auf der einen Seite Autor*innen den öffentlichen Raum als zentralen Ort beschreiben, an dem Individuen in Kontakt miteinander treten und die Gesellschaft Toleranz lernt (vgl. etwa Jacobs 1993; Sennett 2013, 1991), warnen andere Autor*innen (vgl. Belina 2006; Straub 2015; Wiesemann 2015; Dangschat 2000) vor einer zu starken Romantisierung des öffentlichen Raums, weil der gewünschte soziale Austausch innerhalb unterschiedlicher sozialer Milieus kaum stattfinden würde, der öffentliche Raum im Gegenteil sogar eher ein Ort des Ausschlusses und der Distanzierung sei. Jane Jacobs hat in „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (1993) auf die Funktion öffentlicher Orte für das Zusammenleben hingewiesen. Demnach fördern und ermöglichen öffentliche Räume den Kontakt und Austausch unter Stadtbewohner*innen. Insbesondere „Straßen und ihre Bürgersteige sind die wichtigsten öffentlichen Orte einer Stadt, sind ihre lebenskräftigsten Organe“ (ebd., S. 27). Für Jacobs ist die Stadt eine „komplexe und hochentwickelte Form von Ordnung“ (ebd., S. 158) und Grundlage für Toleranz und Akzeptanz anderer Lebensstile und Weltsichten. Anknüpfend an die Ideen von Jacobs hat auch Sennett (1991, 2013) im englischsprachigen und Feldtkeller (1995) im deutschsprachigen Raum die Bedeutung des öffentlichen Raumes für den Umgang mit Differenz herausgestellt. Für Sennett ist die zentrale Funktion des öffentlichen Raumes, dass er „Personen miteinander mischt und eine Vielfalt von Aktivitäten anzieht“ (Sennett 2008, S. 38). Durch die tagtägliche Begegnung mit der/dem Fremden und mit andersartigen Lebensstilen und -weisen hat man im anonymisierten Schutzraum des öffentlichen Raums die Möglichkeit ‚fremde‘ Lebenswelten kennenzulernen und sei es nur durch die schlichte Wahrnehmung der
13https://www.duesseldorf.de/index.php?id=700002255&L=1
vom 31.08.2017. Wenn allerdings Sitzmöbel abgebaut werden, um bestimmte Öffentlichkeiten von öffentlichen Räumen fernzuhalten, dann wird deutlich, dass unter Zugänglichkeit häufig eine Zugänglichkeit unter bestimmten (in der Regel von den Interessen durchsetzungsstarker gesellschaftlicher Gruppen beeinflussten) Bedingungen verstanden wird.
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differenten Gruppen, ein Prozess, der öffentliche Räume vor allem angesichts der zunehmenden Mobilität und Diversität in den Städten, zu den für das Zusammenleben wichtigsten Schauplätzen einer Stadt macht (vgl. Feldtkeller 1995; Sennett 1991). Schon die reine Sichtbarkeit von differenten Alltagspraxen ist für Vaiou und Kalandide (2009) eine wichtige Voraussetzung für Toleranz und Akzeptanz. Durch die alltägliche Präsenz von den für das einzelne Individuum eventuell fremden, gelebten Lebensweisen wird der öffentliche Raum zu einem Interaktionsraum: „Thus, the borders between familiar and strange, insider and outsider are renegotiated and even challenged, while public space acquires new meanings“ (ebd., S. 18). Die routinierte Berührung mit vermeintlich fremden Handlungsweisen führt schließlich dazu, dass diese sichtbar werden und an Fremdheit verlieren: „By exposing their everyday practices in public, these outsiders gain visibility and perhabs become less strange through contact“ (ebd., S. 18). Anknüpfend an diese Ideen haben sich zahlreiche Autor*innen mit der Bedeutung dieser Erfahrungen für das Zusammenleben und den Umgang mit Differenz auseinandergesetzt (vgl. Shaftoe 2008; Wiesemann 2009; Berding 2007). Differentes wird in diesen Ansätzen als eine Bereicherung aufgefasst. Durch die Möglichkeit, im öffentlichen Raum passiv Erfahrungen mit Differentem sammeln zu können, können individuelle Denk- und Erfahrungsmuster irritiert und aufgebrochen, Werte und Normvorstellungen schneller hinterfragt und andere Lebensformen ausprobiert werden. Mit dem Recht, in „Ruhe gelassen zu werden und schweigen zu können“ und sich nicht konkret beteiligen zu müssen (Sennett 2013, S. 64), kann der/die Beobachter*in passiv am Geschehen im öffentlichen Raum teilnehmen. Ihm/Ihr ist es dadurch möglich, Erfahrungen mit dem Fremden und Anderen in der Öffentlichkeit machen zu können, ohne den Schutz der Anonymität aufgeben zu müssen. Mit dem Wissen um die Isolationsfähigkeit in der Öffentlichkeit kann man sich dem „chaotischen und doch anziehenden Gefilde der Öffentlichkeit“ hingeben (vgl. ebd., S. 64). Damit ist Erfahrung „nicht länger Produkt von gesellschaftlichem Austausch“ (ebd.), sondern kann durch schlichte Beobachtungsgabe gemacht werden. Differenzen müssen dabei nicht positiv affimiert (respektiert), aber in gemeinschaftlich geteilten Grenzen ausgehalten (toleriert) werden. Die Erfahrung von Differenz trägt dazu bei, dass sich das Individuum wichtige soziale Kompetenzen aneignet, um mit Differentem im Alltag umgehen oder es zumindest tolerieren zu können. „However, convivial public spaces are more than just arenas in which people can have a jolly good time; they are the heart of democratic living (Carr et al. 1992) and are one of the few remaining loci where we can encounter difference and learn to understand and tolerate other people“ (Shaftoe 2008, S. 5).
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Als Orte der unmittelbaren Interaktion werden öffentliche Orte damit gleichzeitig auch zu Lern- und Erfahrungswelten. Die Form der Interaktion hat dabei eine bestimmte Qualität, wie einige Autor*innen herausgestellt haben (vgl. Häußermann und Siebel 2001; Goffman 1971; Loftland 1993, 1998; Young 1990). Besonders Goffman macht deutlich, das es im öffentlichen Raum darauf ankommt, sich angemessen zu präsentieren. Das Individuum ist hier nicht privat gefragt, nicht im Rahmen von Institutionen und auch nicht als politischer Mensch, sondern einfach nur „als einer von Vielen“, als ein/e Mitspieler*in im Kontext urbaner Wirklichkeit. Dabei werden die Menschen, die einem tagtäglich begegnen, mit einer gewissen Gleichgültigkeit betrachtet. Was zunächst nicht unbedingt positiv klingt, deuten Häußermann und Siebel (2001) mit Simmel als eine Schlüsselkompetenz, da diese Gleichgültigkeit gleichzeitig auch ausdrückt, dass jedes Individuum so respektiert wird, wie es in der flüchtigen Begegnungssituation eben ist: „Dadurch ist er trotz aller Verschiedenheit gleichgültig im Sinne von gleichwertig. So wird die Blasiertheit, die gegenseitige Reserviertheit, die Gleichgültigkeit zu einer Bedingung individueller Freiheit“ (ebd., S. 6).
Verschiedene Autor*innen beschreiben Höflichkeitsgesten und Rücksichtnahme als kennzeichnend für den öffentlichen Raum (vgl. Lofland 1978; Boyd 2006; Goffman 1971). Bei genauerer Beobachtung wird nämlich deutlich, dass die Mitspieler*innen im Kontext urbaner Wirklichkeit auf Grundlage dieser Gesten miteinander agieren – auch unabhängig ihrer Unterschiedlichkeit: „Persons in the public space of cities can truly learn the lesson that they can act together […] without the necessity to be the same“ (Lofland 1993, S. 102). Gerade ganz triviale Gesten wie Danke und Bitte, die dem Gegenüber einen grundlegenden Respekt entgegenbringen, bezeichnet Boyd als konstitutiv für das Funktionieren moderner Gesellschaften, da sie Wege markieren, um mit Vielfalt in gegenwärtigen Gesellschaften umzugehen (vgl. Boyd 2006, S. 872). Bereswill und Götz (2012) beschreiben unterschiedliche Alltagsregeln, die das Individuum für eine gelungene Interaktion (und dazu gehört auch Abgrenzung) anwendet. Sie umfassen die Fähigkeiten „mit eigenen und fremden Körpergrenzen umzugehen, auf Grenzüberschreitungen nicht sofort aggressiv zu reagieren, Rücksichtnahme und Eigeninteresse auszubalancieren sowie Gleichgültigkeit und Empathie im Umgang mit Fremden abzuwägen“ (vgl. ebd., S. 10). Insbesondere die Autor*innen (Feldtkeller 1995, 2012; Selle 2004; Sennett 2013), die die Qualität des öffentlichen Raumes für Begegnungen herausstellen, diskutieren in den letzten Jahrzehnten auch die Gefährdung dieser Qualitäten
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durch Veränderungen im öffentlichen Raum. Stadträume, die Kontakte und Begegnungen ermöglichen, sind durch Verkehr, funktionale und soziale Entmischung (vgl. Feldtkeller 1995; Bahrdt 1961; Sennett 2013), zunehmende Privatisierung und eine Verinselung einzelner öffentlicher Räume (vgl. Siebel 2002; Brendgens 2005) sowie einen Kontroll- und Überwachungswahn (vgl. Wehrheim 2002; Belina 2007; Löw 2006) von Zerstörung bedroht. Immer mehr Forschungen untersuchen in diesem Zusammenhang auch den Wandel des öffentlichen Raumes durch neue Kommunikationstechnologien (vgl. Meier 2018; Berding et al. 2018; BBSR 2015; Hajer und Reijndorp 2001). Diese Entwicklungen führen insgesamt zu einer Veränderung des öffentlichen Raumes, der die für das gesellschaftliche Zusammenleben zentralen alltäglichen Begegnungen mit Differentem nicht mehr garantieren kann. Orte, die eine zweckfreie Begegnung mit Anderen ermöglichen, werden zunehmend rar und eine face-to-face Interaktion somit erschwert. Insbesondere ausgeschlossene Personen (-gruppen) und damit auch ihre vermeintlich unpassenden Lebensstile und Weltsichten werden auf diese Weise räumlich segregiert. Das Mitspielen im Kontext urbaner Wirklichkeit wird für sie unmöglich.14 Bahrdt beschreibt den Funktionswandel von öffentlichen Orten und Plätzen bereits 1961 in „Die moderne Großstadt“ und unterstellt, dass Begegnung und Interaktion als eigentliche Funktionen öffentlicher Orte dadurch zerstört würden, dass die Stadt in ein „Röhrensystem“ verwandelt werde, „das lediglich den technischen Funktionen des Verkehrs dient” (vgl. Bahrdt 1961, S. 125). Jacobs (1993) macht die postfordistische Funktionstrennung mitverantwortlich für die Zerstörung der „Mannigfaltigkeit der Stadt“ und argumentiert, dass die Architekten von einem völlig falschen Verständnis von Stadt ausgingen, wenn sie Räume nach Funktionen trennten. Der städtebauliche Fordismus der zwanziger Jahre, der das städtische Zusammenleben nach dem Leitbild der siedlungsräumlichen Aufspaltung von Gebieten nach Funktionen geordnet hat, hatte extreme Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben (Verkehrsprobleme, Segregationserscheinungen usw.). Feldtkeller zufolge entsteht der lebendige Alltag gerade aus der Vielfalt und Kleinteiligkeit der Nutzungen. Als Bühne für das Zusammenleben muss der öffentliche Raum so ausgestaltet sein, dass unterschiedliche Nutzungen möglich sind (vgl. Feldtkeller 2018, S. 40 f.). Folgt man Feldtkeller, so ist
14Die
Veränderungen im öffentlichen Raum schlagen sich schließlich auch auf einer sozioökologischen Ebene nieder, wenn etwa die Menschen auf der Suche nach öffentlichen Freiund Erholungsplätzen nicht von kurzen Wegen im Quartier profitieren, sondern auf das Auto umsteigen müssen.
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es der modernen Stadtplanung noch nicht gelungen, die von vielen Seiten betonte Bedeutung urbaner und kleinteiliger Mischung von Wohnen, Arbeiten und Leben umzusetzen. Auch die mit der funktionalen Entmischung des Stadtraumes einhergehende Privatisierung öffentlicher Räume beschränkt deren Zugänglichkeit. Damit etwa in Shopping-Malls der Kauf-Akt so reibungslos wie möglich ablaufen kann, werden rigoros bestimmte ‚unerwünschte Öffentlichkeiten‘, die nicht in das Setting einer angenehmen Kaufsituation passen, ausgeschlossen. Die Vertreibung von Obdachlosen aus Einkaufszentren oder Bahnhofshallen zeigt dies deutlich. Ein eigentlich für jedes Individuum zugänglicher Raum wird somit zu einem teil-öffentlichen Raum. Immer mehr solcher halböffentlicher und privat kontrollierter „zero-friction-Räume“ (vgl. Hajer und Reijndorp 2001) verändern nicht nur die sozialen Rahmenbedingungen für das Miteinander und die Möglichkeiten einer zufälligen Interaktion jenseits des Konsums, sondern führen auch zu einer „Verinselung des öffentlichen Raumes“ (Meier 2018, S. 131), wodurch der alltägliche Kontakt zwischen den Stadtbewohner*innen immer stärker eingeschränkt wird. Sennett (2013) argumentiert in „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ in eine ähnliche Richtung. Seiner Meinung nach stirbt der öffentliche Raum ab und verliert vor allem dadurch seine besondere Qualität, dass Intimität gefördert und die öffentliche Sphäre dadurch zurückgedrängt werde (vgl. ebd., S. 37).15 Der Bau von Wolkenkratzern und Großbauten drücke diese Entwicklung besonders plastisch aus. Die Straßen dienten als Durchgang ins Innere dieser Gebäude, seien ansonsten aber nur tote und leere Räume. Im schlimmsten Fall verdeckten sie, wie im Falle des Bloomsbury Hochhauses in London, einen der schönsten Plätze der Stadt (vgl. ebd., S. 39). Der öffentliche Raum im Mittelpunkt des dichten und gemischten Stadtquartiers wird dabei nicht nur durch eine funktionale Differenzierung untergraben, sondern auch durch Kommerzialisierung. Weiter attestiert Sennett, dass es einen zunehmenden individuellen Drang gebe, sich ins Private zurückzuziehen. Durch diese schleichende Auflösung von Öffentlichkeit zugunsten einer stärkeren Privatsphäre und Intimität seien die Menschen nicht mehr in der Lage, öffentliche Rollen auszuführen, sie hätten ihre „Ausdruckskraft“ verloren (vgl. ebd.).
15Sennett
bezieht sich hier auf die USA, wo es außerhalb einzelner großstädtischen Zentren keinen urbanen Raum mehr gibt, keine Bürgersteige und Plätze mehr, sondern nur noch unbeleuchteten Straßenraum. In den riesigen, dispersen Siedlungen ist der öffentliche Raum verschwunden.
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Sennett zufolge ist Intimität die größte Gefahr für öffentliches Alltagsleben, da sie, statt Offenheit und Weite, Enge erzeugt, die sich auch in den Köpfen der Menschen festsetzt. Ein „einziges Wahrheitskriterium“ wird dann als glaubwürdig festgesetzt und mit diesem „die gesamte soziale Wirklichkeit in ihrer Komplexität beurteilt“ (ebd., S. 585). Durch die Intimität entstünden Erwartungen an ein zwischenmenschliches Zusammenleben, die dem Alltagsleben nicht gerecht werden könnten. „Je weiter die Lokalisierung fortschreitet, desto mehr setzen die Menschen einander unter Druck, die Barrieren von Sitte, Regel und Gestik, die der Freimütigkeit und Offenheit entgegenstehen, aus dem Weg zu räumen. Sie hegen die Erwartung, Nähe erzeuge auch Wärme. Sie streben nach einer intensiven Geselligkeit, doch ihre Erwartung wird enttäuscht. Je näher die Menschen einander kommen, desto ungeselliger, schmerzhafter, destruktiver werden ihre Beziehungen zueinander“ (ebd., S. 586).
Intimität und verstärkte Privatheit führen zu einer beschränkten Irritationsbewältigungsfähigkeit, da einerseits die Formen der Aushandlung beschränkt sind, andererseits aber auch immer weniger ausgehandelt werden muss bzw. die Strapazierfähigkeit und der Rahmen, in dem das Individuum Irritationen zulässt, immer kleiner werden. Neben den Autor*innen, die dem öffentlichen Raum als Begegnungsraum eine zentrale Rolle für die Aushandlung gesellschaftlicher Differenzen und der Etablierung gegenseitiger Toleranz bzw. Akzeptanz zuschreiben, hinterfragen andere Autor*innen das Potenzial des öffentlichen Raumes als Bühne für Begegnungen (z. B. Amin 2002; Valentine 2008; Mitchell 1995; IBA Berlin 2013; Wiesemann 2015). Demnach seien es eher Idealvorstellungen, die mit dem Zusammenleben in der Stadtgesellschaft verbunden seien, die schließlich dazu führten, dass der öffentliche Raum als Ort der Begegnung romantisiert werde, während er Erwartungen jedoch nicht erfüllen könne, die im Zusammenhang mit der Etablierung eines funktionierenden Zusammenlebens an ihn gestellt würden. Ein zentrales Argument gegen den öffentlichen Raum als Begegnungsort lautet, dass der öffentliche Raum eben kein Ort ist, der für alle Menschen gleichermaßen zugänglich ist, vielmehr wird er als Ort des Ausschlusses gekennzeichnet. So werden bestimmte als Minderheiten attestierte Gruppen oder Personen, etwa ‚Homosexuelle‘, ‚colored people‘ oder ‚unerwünschte Öffentlichkeiten‘ jeglicher Couleur durch latente Gestiken oder Kommentare der Nutzer*innen darauf hingewiesen, dass sie unerwünscht sind und sich entsprechend zurückziehen und andere Orte aufsuchen sollten (vgl. Schmincke 2009; Baumgärtner 2009; Preißíng 2017; Ruddik 1996; Valentine 2008). Es gibt außerdem Studien, die
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belegen, dass eine dominante Nutzung durch Männergruppen die Verdrängung anderer Personen nach sich zieht (vgl. dazu Baumgärtner 2009). Auch das Wissen um Drogendealer*innen und vermehrte Kriminalität schreckt Menschen ab. Bestimmte Orte werden dann aus Unsicherheitsgefühlen nicht mehr aufgesucht. Dangschat (1998) hinterfragt die Ergebnisse jener Studien kritisch, die herausstellen, dass der Kontakt mit Fremden Verhaltensunsicherheiten verringert und Toleranz fördert. Er führt die Ergebnisse teils auf die „normativen Wertungen der Wissenschaftler_innen“ (vgl. ebd., S. 81; vgl. auch IBA Berlin 2013, S. 22) zurück, die die Integrationsprozesse positiv auslegen möchten. Nach Dangschat können Kontakte zu Fremden Einstellungen zwar verändern, jedoch sei unklar, ob es letztlich wirklich zu Änderungen im Hinblick auf Vorurteile und Meinungen gegenüber anderen Menschen und Gruppen kommt (vgl. ebd., S. 81). Bockland und Rae (2008) kritisieren, dass der „Imperativ der Begegnung“, den viele Städte verfolgen, die Alltagswirklichkeit in den Städten übersehe (vgl. ebd., S. 24). Wiesemann (2015), der im Rahmen einer Forschungsarbeit im Kölner Stadtteil Mülheim untersucht hat, ob Begegnungen im öffentlichen Raum Stereotype destabilisieren oder aber bekräftigen, kommt zum Ergebnis, dass die schlichte Annahme, Kontakt führe zu Toleranz und Akzeptanz, nicht den Alltagsrealitäten entspräche (vgl. ebd., S. 196). Die positive Wirkung, die Begegnungen entfalten können, hänge im entschiedenen Maße von der Qualität des Ortes ab. Öffentliche Orte können Kontakte und gesellige Begegnungen ermöglichen, dies sei aber vor allem der Fall, wenn Menschen zusammenkommen, um – wenn auch nur kurzweilig – gemeinsam bestimmten Interessen oder Aktivitäten nachzugehen (vgl. ebd., S. 198; Fincher und Iverson 2008). Doch diese Qualität sei dem öffentlichen Raum in der Regel nicht inhärent, vielmehr seien Kontaktaufnahme und Begegnung im öffentlichen Raum nicht die Regel: „Bitte nicht stören“ bzw. „in Ruhe lassen“ ist (wie immer) erste Bürgerpflicht im öffentlichen Raum und gerade nicht Ansprache und Kontaktaufnahme (wie es die Urbanisten gerne sähen)!“ (Tessin 2011, S. 162). „Es sind dann oft gerade normabweichende Gruppen, die einen Park oder Platz ‚in Besitz‘ nehmen, was sich erklären lässt. ‚Penner‘, Ausländer, Arbeitslose o. ä. vertreiben die ‚normalen‘ Parkbesucher häufig ja nicht deshalb aus dem Park, weil sie sich extrem normabweichend verhielten, sondern weil ihr bloßes Dasein als Gruppe bereits gegen das ‚Schöne-Heile-Welt-Bild‘ des Parks verstößt. Sie beeinträchtigen durch ihre gleichsam bloße Präsenz, die ja nicht ‚strafbar‘ ist, den ungetrübten Parkgenuss, also geht man lieber. Insbesondere aber irritiert die ‚normalen‘ Parkbesucher die drohende Verkehrung der gesellschaftlichen Status- und Machtverhältnisse von Mehrheit und Minderheit. Man entwickelt gegen gesellschaftliche Randgruppen ja vor allem erst dann Ressentiments, wenn die als gesellschaftlich diskriminierten Minoritäten auf einmal eine Szene zu prägen oder gar zu beherrschen beginnen, einen Stadtteil oder eben einen Teil eines Parks“ (ebd., S. 49).
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Für die theoretische Ausgangsbasis dieser Arbeit lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der öffentliche Raum meiner Meinung nach eine wichtige Lernund Erfahrungswelt ist und dass er prinzipiell für jedes Individuum zugänglich, sprich, ein Ort der Begegnung und Interaktion mit Fremden im Simmelschen Sinne ist. Mit Begegnung und Interaktion ist in der vorliegenden Untersuchung ein wertfreier Prozess gemeint. Interaktion bedeutet hier sowohl Hinwendung als auch Abgrenzung; das Abwenden des Blicks und das Wechseln der Straßenseite genauso wie ein freundliches Zunicken oder der morgendliche Gruß des Nachbarn. Im Grunde geht es im öffentlichen Raum, wie schon Goffman beobachtet hat, ‚nur‘ darum, dass Stadtbewohner*innen gewohnheitsmäßig miteinander umgehen. Es geht also nicht um direkte Erfahrungen mit der/dem fremden Stadtbewohner*in, sondern um Erfahrungen im Umgang mit einem mehr oder weniger dezidierten Nicht-Wissen von dem/von der fremden Stadtbewohner*in. Das setzt voraus, dass man der Logik der Stadtgesellschaft als Ort hoher Diversität und Mobilität vertrauen kann. Der öffentliche Raum ist eben nicht das soziale Feld, in dem Wir-Gruppen und Gemeinschaften entstehen (müssen), sondern ‚nur‘ ein Handlungsfeld, in dem die Stadtbewohner*innen ihren Bedürfnissen, Wünschen und individuellen Notwendigkeiten nachgehen können. Er ist eine urbane Passage auf dem Weg zur Familie oder zu Freunden, zur Arbeit und zum Einkauf. Gut gelegene und strukturierte öffentliche Räume ermöglichen eine Prolongierung der Passage und die Aufnahme von Aktivitäten im öffentlichen Raum, etwa das Verweilen im Park, der kurze Small Talk usw. Was letztlich aus den einzelnen Begegnungen und Interaktionen folgt, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Der Begegnung und Interaktion im öffentlichen Raum heftet oftmals eine bestimmte Erwartungshaltung an, die in den hier geschilderten verschiedenen Sichtweisen auf die Bedeutung des öffentlichen Raums zum Ausdruck kommt. Diese Erwartungshaltung, die an den öffentlichen Raum und an die Begegnungen in diesem gestellt werden, haben Auswirkungen auf das praktische Zusammenleben in urbanen Räumen, denn sie spiegeln sich auch in sozialen und stadtplanerischen Maßnahmen wider. Etwa wenn einerseits Nachbarschaftsprojekte initiiert werden, um Menschen zusammenzubringen und andererseits der öffentliche Raum monofunktionalisiert und bewusst so gestaltet wird, dass er unterschiedlichen Nutzungsweisen nicht (mehr) offen steht. Statt eine Prolongierung der Verweildauer wird die Reduzierung der Verweildauer zum obersten Ziel – mitunter noch durch Polizeikontrollen beschleunigt. Was erwarten die Menschen im urbanen Raum Lessingplatz, wenn sie den öffentlichen Raum nutzen? Welche Art von Begegnungen schätzen sie, welche Art von Interaktionen meiden sie, wenn man sie danach fragt? Aber auch die
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Beobachtungen spielen hier eine elementare Rolle: Wie interagieren Menschen im öffentlichen Raum schweigend miteinander und handeln auf diese Weise unterschiedliche Interessen im öffentlichen Raum aus? Dies sind Fragen, die es im empirischen Teil zu beantworten gilt. Exkurs: Der Platz als zentrales (städtisches) Element des öffentlichen Raumes An dieser Stelle soll kurz auf die Geschichte des urbanen Platzes und die Rolle seiner gewachsenen Bedeutungsformate (Marktplatz, Ort der Begegnung, Selbstdarstellung und Platzierung in der Öffentlichkeit, kommunale und staatlich inszenierte Symbolordnung etc.) eingegangen werden, um die Funktion des Platzes für die Gesellschaft und das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt und speziell für den Untersuchungsort herauszustellen. Ausgehend vom Platz lässt sich die „soziale Organisation, die materielle Gestalt und die Idee von Stadt im Sinne einer Ethnografie des Städtischen“ (Wildner 2003, S. 23) untersuchen. Dabei liegt in der vorliegenden Arbeit kein geschlossen-euklidisches Verständnis des öffentlichen Platzes zugrunde, sondern der städtische Platz wird in Anlehnung an die Definition des urbanen Raumes als Produkt sozialen Handels verstanden, der gesellschaftliche Strukturen widerspiegelt und soziale Interaktionen wiederum gleichermaßen beeinflusst: „Es geht um die Beschreibungen des physischen Raums und architektonischer Elemente, der visuellen und akustischen Merkmale und der Spuren der Nutzung; aber auch um die vielzähligen alltäglichen Handlungen und Interaktionen der Menschen auf einem Platz sowie die Erinnerungen und Erzählungen, durch die einem Platz seine spezifischen Bedeutungen zugeschrieben werden. Diese miteinander verwobenen Ebenen manifestieren sich an einem konkreten Ort, prägen ihn, bestimmen seine Identität und geben ihm einen „Platz“ im urbanen Kontext der Stadt“ (Wildner und Röhm 2009, S. 2).
Plätze sind städtische Orte, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Sie sind meistens so konzipiert, dass dort unterschiedliche Menschen zusammenkommen, um gemeinsamen oder individuellen Aktivitäten nachzugehen (vgl. Carr et al. 1992, S. 50). In der griechischen Antike war die Agora der zentrale städtische Platz, der als Ort des Geschehens, des Marktes, des Gerichtes, der Information und des Feierns wesentliche Funktionen für das gesellschaftliche Leben bereitstellte (vgl. dazu ausführlich Berding et al. 2018). Im gegenwärtigen städtischen Platz sind manche Aspekte der Agora bzw. des Forums weiter präsent. Er ist ein Schauplatz der unterschiedlichen
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esellschaftsmitglieder. Er ist ein Ort der Begegnung mit Differentem und er ist – G je nach Gestaltung – ein Ort auf dem unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten variieren können. Darüber hinaus wird dort Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinne (1962) erzeugt. Denn Plätze sind immer schon Orte gewesen, die zur politischen Demonstration genutzt wurden und auf denen das Recht auf Stadt eingefordert wurde – man denke etwa an die ägyptische Revolution und den Tahir-Platz in Kairo, die Demonstrationen auf dem Taksim Platz in Istanbul oder den Maidan Nesaleschnosti in Kiew, diese Plätze fungieren „als Bühne für die Forderungen sozialer Bewegungen“ (Müller 2014, S. 24). Der öffentliche Raum und damit der öffentliche Platz eignen sich besonders als Arena für den Kampf um Zugehörigkeit, weil hier die Strukturen einer Gesellschaft und damit die den Alltag längst durchdringende, globalgesellschaftliche Wirklichkeit besonders gut sichtbar werden. Am öffentlichen Raum und im besonderen Maße in seiner Verdichtung als Platz lässt sich ablesen, inwieweit im alltäglichen Zusammenleben die Effekte zunehmender Mobilität und Diversität routiniert hingenommen werden, sie gleichzeitig aber auch abgewiesen, marginalisiert oder kriminalisiert werden. Der öffentliche Platz ist der Ort, an dem sowohl das für-sich-inAnspruch-Nehmen als auch das Jemanden-Ausgrenzen alltagspraktisch sichtbar und ggf. gezielt inszeniert wird. Er ist der Ort, an dem um Inklusion und Teilhabe gerungen und ggf. die Sorge um Ausgrenzung und Marginalisierung artikuliert wird.
3.4.2 Handeln im Raum Rollen und Rollenerwartung im Raum „Handlung und Raum sind unteilbar. Die Handlung wird durch diese Art von Raum getragen. Der Raum trägt diese Art von Handlung. Die beiden bilden eine Einheit, ein Handlungs-Pattern im Raum. […] Die Menschen, die den Gehsteig bevölkern, sind insoweit von ihrer Kultur geprägt, als sie den Gehsteig als Pattern begreifen. Es ist dieses Pattern, das sich in den Köpfen festgesetzt hat und das verursacht, daß sich die Menschen auf Gehsteigen so verhalten, wie man sich eben auf ihnen verhält“ (Alexander 1995, S. o. S; zitiert nach Tessin 2011, S. 36).
Raum und Handlung sind miteinander verknüpft. Räume geben Handlungen vor und umgekehrt erzeugen Handlungen Räume. Tessin (2011) unterscheidet zwei Formen der Handlungsrahmung, die mit einer gewissen Verhaltenserwartung des
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Individuums verbunden sind. Erstens, die situationsspezifische Position des Individuums im Raum, das heißt der Kontext, in dem eine Handlung stattfindet und zweitens, der Ort an sich, etwa die Straße oder der Spiel-/Fußballplatz. Tessin bezieht sich bei seiner Beschreibung der Handlungsrahmungen auf das aus dem sozial-konstruktivistischen Ansatz angelehnte Rollenkonzept des symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead und dessen Erweiterung in Bezug auf das postmoderne Individuum, u. a. durch Krappmann (vgl. Mead 1968). Das Individuum kann im Gesamtgesellschaftsgefüge verschiedene soziale Rollen einnehmen. So kann ein Beamter gleichzeitig Vater von drei Kindern, Eishockeytrainer, Schauspieler, Hundebesitzer etc. sein. Im Alltag sind aber nicht alle Rollen zu jeder Zeit gleichermaßen relevant, weshalb Tessin (2011) von manifesten und latenten Rollenpositionen spricht. Ist die jeweilige Rollenposition manifest, so ist sie für eine konkrete Situation verhaltensrelevant, ist sie latent, so hat die Rolle in der konkreten Situation keine Bedeutung. Das Individuum trägt diese Rolle zwar, sie wird in der konkreten Situation jedoch nicht wirkmächtig. Im anonymisierten öffentlichen Raum einer großen Stadt sind die meisten Rollenpositionen latent. Es werden nur die manifesten Rollen wahrgenommen, die in der jeweiligen Situation zu erkennen sind, etwa der Hundebesitzer, der die Straße kreuzt, die ‚junge Frau‘, die ‚alte Dame‘ und der ‚jugendliche Mann‘, die auf einer Bank sitzen oder die Politesse, die das Knöllchen verteilt.16 Diese Rollen sind für den/die Beobachter*in wahrnehmbar. Ob diese Menschen jedoch stark verschuldet sind, Familien haben, welchen Hobbies sie nachgehen und welche vielfältigen Rollen sie in ihrem Leben noch erfüllen etc., wird aus der Situation heraus nicht ersichtlich und ist daher für das Funktionieren und Fortbestehen des individuellen Alltags irrelevant. Aus diesem Grund werden auch keine Erwartungen an das Individuum zur Erfüllung der jeweiligen Rolle gestellt: „Zwar werden diese eigenen Rollen einen selbst vielleicht veranlassen, sich so oder so zu verhalten, aber es werden von den anderen Situationsteilnehmern keine entsprechenden Erwartungen gestellt, eben weil sie ja gar nicht wissen, dass man Familienvater ist“ (Tessin 2011, S. 31).
16„Von
den vielen Positionen, die jeder Mensch innehat, sind insbesondere das Alter und das Geschlecht – da in jeder Situation sofort erkennbar – für das Freiraumverhalten fast immer relevant“ (Tessin 2011, S. 31).
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Anders verhält es sich Tessin zufolge in überschaubaren und weniger dem gesellschaftlichen Wandel unterworfenen kleinräumigen Siedlungsformen, wie sie beispielsweise enge Nachbarschaften, kleine Gemeinschaften oder dörfliche Strukturen kennzeichnen. Dort kommen latente Rollenpositionen zum Ausdruck, denn dort begegnen sich Menschen, die sich in ihren unterschiedlichen Rollen eventuell kennen. Dort ist der Vater vielleicht noch als Klassenclown, Polizist, Briefmarkensammler und Fußballnarr bekannt: „Der Dörfler muss in seinem Verhalten auf der Dorfstraße damit rechnen, dass sein Verhalten an diesen, jedem geläufigen Rollen gemessen wird“ (ebd., S. 31). An dieser Stelle ist zunächst die für diese Arbeit an unterschiedlichen Stellen immer wieder auftauchende Situiertheit von Praktiken im urbanen Raum zu betonen. In einem diversitätsgeprägten Raum sind, im Gegensatz zu überschaubareren engeren Systemen, in denen eine größere soziale Kontrolle vorherrscht, lediglich die für die Situation relevanten Rollen von Bedeutung. Wenn ich auf meinem Weg von A nach B zum Bäcker gehe, sehe ich auf der „Vorderbühne“ (Goffman 1973, 2003) die Bäckerin oder den Bäcker, die mir die Brötchen verkaufen. Ob diese Personen auf der „Hinterbühne“ (vgl. ebd.) noch andere Rollen und Funktionen ausfüllen, ist für mich in der jeweiligen Situation belanglos. Ich stimme Tessin (2011) zu, dass es in anonymisierten urbanen Räumen häufiger als in überschaubareren Räumen zu Situationen kommt, in denen manifeste Rollenpositionen zum Ausdruck kommen, allein schon deshalb, weil der/die Stadtbewohner*in stets in mannigfache Kontexte eingebunden ist. Allerdings kann, um beim Beispiel des Bäckers zu bleiben, dieser auch in stärker anonymisierten Räumen bekannt sein bzw. ein Vertrauter sein, der mehr über meine Rollenpositionen weiß (bzw. ich über seine). Der Unterschied liegt hier in meinen Augen jedoch in erster Linie in der Wählbarkeit. In urbanen Räumen habe ich eine größere Auswahl, was den Aufbau von Nähe und den Informationsgehalt, den ich weitergeben möchte, betrifft. Norm- und Normerwartung im Raum Tessin (2011) kennzeichnet den Ort, also bspw. die Straße oder den Park, als verhaltensrahmende Instanz, die anhand von Schildern oder informellen sozialen Codes das Verhalten vorgibt. Qua Gestaltung wird hier bereits ein bestimmtes Verhaltensrepertoire impliziert bzw. verunmöglicht (vgl. ebd). Tessin knüpft damit an das Theorem der Behavior Settings an (vgl. Barker 1968), nach dem Räume und Handlungen miteinander verknüpft sind, da Räume „als Behavior Settings von sich aus eine verhaltensregulierende Kraft besitzen und die jeweiligen Individuen zwingen, sich der dem Setting innewohnenden Ordnung und Gesetzlichkeit anzupassen, setting-konformes Verhalten zu zeigen“ (Tessin 2011,
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
S. 36). So lässt sich beispielsweise ein Basketballplatz als Basketballplatz identifizieren, weil er durch zwei Körbe und Spielfeldlinien eine bekannte räumliche Struktur aufweist. Man erkennt darüber hinaus aber auch an den Praktiken der basketballspielenden Nutzer*innen, dass diese Ordnung aufrechterhalten wird: Der Raum und die Norm, die für diesen Raum sozusagen einzuhalten ist, kann also nur durch menschliche Praxis zu realer Existenz werden (vgl. Klamt 2007, S. 86). Doch trotz vorgegebener räumlicher Struktur kann es natürlich dazu kommen, dass sich die spezifische, von außen an den Raum herangetragene Norm verändert, etwa wenn der Basketballplatz von den Nutzer*innen plötzlich zum Fahrradfahrbereich umfunktioniert wird. „Die soziale Norm ist eine durch soziale Sanktionen abgestützte Richtschnur des Handelns, wobei die Sanktionen entweder negative Sanktionen sind, die Bestrafungen für Regelverletzungen beinhalten oder positive, die Belohnungen für exemplarische Regelbefolgungen zum Inhalt haben. Die Bedeutung dieser Belohnungen und Bestrafungen liegt dabei nicht in dem ihnen innewohnenden substantiellen Wert, sondern in dem, was sie über den moralischen Status des Handelnden aussagen. Soziale Sanktionen sind Metanormen – geltende Techniken für die Absicherung von Konformität“ (Goffman 1982, S. 138).
Die soziale Norm kann nach Goffman (1982, 1977) in verschiedenen Formen auftreten, als Vorschrift und Verbot, Anforderung und Standard sowie substanzielle und rituelle Norm, die jeweils eine unterschiedliche Strenge in der Einhaltung nach sich ziehen und die je nach kultureller, sozialer, politischer und religiöser Ausrichtung einer Gesellschaft unterschiedlich stark gelten. Ein fundamentaler Unterschied besteht weiterhin zwischen formalen rechtlichen Normen und informellen sozialen Normen. Damit Normen ihre Gültigkeit erhalten, müssen sie internalisiert und akzeptiert werden. Regelkonformes Verhalten ist aufgrund gesellschaftlicher Zwänge entstanden, hat sich im Laufe der Jahrhunderte aber von einem gesellschaftlichen in einen individuellen Zwang und Automatismus verwandelt (vgl. Elias 1969, S. 317): „Zivilisierung bedeutet, dass sich die Stellung der einzelnen Menschen innerhalb der Staatsgesellschaft und ihre Persönlichkeitsstrukturen verändern. In diesem Prozess verloren die Regeln des Verhaltens und Empfindens im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr den Charakter von äußeren sozialräumlich gefassten Zwängen“ (Schubert 1999, S. 19). Folgt man dieser Annahme, führt dies dazu, dass das Individuum im sozialen Leben zwar stärker beschränkt wird, da der Normzwang zu ihm selbst gehört, dass es gleichzeitig aber autonomer handeln kann, da es die Norm stärker beeinflussen und steuern kann (vgl. Klamt 2007, S. 91 f.). Das Wissen über die Norm ist also zum Teil schon so weit in das
3.4 Alltägliche Bewegung im StadtRaum: Der öffentliche Raum
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Individuum und dessen Handlungen übergegangen, dass die Normen im impliziten und expliziten Wissen vorhanden sind und es kaum mehr erklärbar ist, warum man sich an gewisse Dinge sozusagen „blind“ hält. Wolfgang Durner (2003) nennt drei zentrale Hauptbeweggründe für die Einhaltung von Normen, wobei für den weiteren Verlauf dieser Arbeit besonders der dritte Faktor von Bedeutung ist: Erstens nennt er die autonome Zustimmung einer Norm. Damit ist die freiwillige Mitwirkung des einzelnen Individuums an der Normsetzung gemeint. Zweitens die Ausführung der Norm als Zugangsvoraussetzung, was bedeutet, dass die Einhaltung der Norm zunächst persönliche negative Sanktionierungen verhindert. Drittens führt ein persönlicher Vorteil durch die Norm zur Einhaltung der Norm (vgl. ebd., S. 250 ff.; vgl. auch Klamt 2007, S. 93). Dies ist sehr plausibel und wichtig für den hier vorliegenden Forschungsansatz wie im Analyseteil noch gezeigt werden soll. Denn wenn das Individuum einen Nutzen oder Vorteil aus der Einhaltung der Norm ziehen kann, plädiert es natürlich auch stärker für dessen Akzeptanz und Einhaltung. Soziale Normen machen den öffentlichen Raum funktionsfähig. Herbert Hörz (1994) zufolge regelt sich das Zusammentreffen vieler Menschen in einem öffentlichen Raum auf einer Makroebene über Selbstorganisation, die er wie folgt definiert: „Selbstorganisation ist die durch innere Determinanten bestimmte interne Strukturbildung von Systemen. Die Herausbildung neuer Strukturen in einem System kann die Stabilität des Systems fördern oder zerstören, seine Evolution erzwingen oder hemmen“ (ebd., S. 38).
Dadurch, dass aber die Selbstorganisation durch die Individuen determiniert ist, besteht ein wesentliches Merkmal der Selbstorganisation darin, „dass jeder Mensch in jeder Situation seinen Entscheidungsspielraum und Verantwortungsbereich hat“ (ebd., S. 30). Dies bedeutet, dass es auf einer face-to-face Ebene ein großes Maß an subtiler Verhandelbarkeit geben muss, da nicht jede Person den Verantwortungsbereich gleich interpretiert oder den Entscheidungsspielraum konvergent nutzt. Die Aushandlung zwischen den Individuen muss nicht zwangsläufig durch unmittelbare Interaktion, sondern kann vor allem auch durch nonverbale Zeichen und Gestiken sowie Körpersprache ausgedrückt werden (vgl. Goffman 1982). Dies bedeutet, dass die Vorstellung und Akzeptanz bestimmter Normen und Regeln primär situativ definiert und abgerufen wird und dass verschiedene Menschen eine Norm und die mögliche Abweichung von dieser Norm auf subjektiv unterschiedliche Art und Weise deuten. Einige finden Normabweichungen in
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3 Blick aus stadtgesellschaftlicher Perspektive …
einem bestimmten Umfeld beispielsweise weniger dramatisch, andere wiederum sind über dieselbe Normabweichung entsetzt. Die Differenzen in den jeweiligen Handlungsweisungen im öffentlichen Raum müssen dementsprechend ausgehandelt werden, denn sonst könnte eine friedliche öffentliche Ordnung nicht existieren. Kaltenbrunner (2003) beschreibt treffend die beiden Faktoren, die die Menschen im öffentlichen Raum zu Aushandlungsmechanismen zwingen: „Der öffentliche Raum liegt inmitten eines Spannungsfeldes zwischen Liberalität und Toleranz einerseits und gesellschaftlicher Konvention und öffentlicher Ordnung andererseits, wobei die Grenzen immer fließende sind“ (ebd., S. o. S.).
Für die theoretische Rahmung der vorliegenden Arbeit ist festzuhalten, dass der öffentliche Raum ein Verhandlungsraum ist, in dem sich die unterschiedlichen Akteur*innen positionieren. Eine zentrale These lautet, dass gerade Orte, die eine breite Auswahl an Nutzungsmöglichkeiten bieten, stetige Transformationen in Hinblick auf normbasiertem Verhalten durchmachen. Im empirischen Teil gilt es zu untersuchen, wie die unterschiedlichen Akteur*innen versuchen, ihre Nutzungsvorstellungen durchzusetzen oder sich mit bestehenden Nutzungsweisen arrangieren. Darüber hinaus wird durch Formen der Normeinhaltung, aber auch der Normveränderung oder -abweichung eine Botschaft an andere Nutzer*innen gesendet, die mit machtvollen Codes durchsetzt ist. Der öffentliche Raum fungiert also auch als eine Art Bühne, auf der die unterschiedlichen politischen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Interessen verhandelt werden und zum Ausdruck kommen (vgl. Wildner 2003). Wie funktioniert also die Aushandlung von Toleranz und gesellschaftlicher Konvention und wovon sind diese Aushandlungsmechanismen im jeweiligen Raum abhängig? Wer gewinnt den Aushandlungsprozess aufgrund welcher Kriterien und kann damit sein Normverständnis zumindest zeitweise durchsetzen?
3.5 Zwischenfazit In diesem Kapitel wurde zunächst der Alltag als ein bedeutsamer Referenzrahmen für das urbane Zusammenleben in den Fokus gerückt. Durch seine Relevanz für die/den Einzelnen gewinnt er gleichzeitig an Relevanz für die w issenschaftliche Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion des Zusammenlebens. Routinen sind der zentrale Anker im städtischen Alltag. Sie helfen dem Individuum dabei, co-orientiert zu handeln und insbesondere Irritationen zu bewältigen und sie am
3.5 Zwischenfazit
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eigenen Resilienzreportoire abfedern zu lassen. Außerdem ermöglichen Routinen die Platzierung und Verortung in der spezifischen Situation, im Raum, in der peer-group und in der Gesellschaft. Damit erlauben sie die Konstruktion von Zugehörigkeiten, ein Prozess, der in dieser Arbeit als eine für das Individuum wichtige Aufgabe verstanden wird. Auch wenn Routinen statisch erscheinen, sind sie dynamisch. Sie verändern sich und ebnen mit jedem Störungs-Bewältigungs-Habitualisierungs-Routinisierungs-Prozess zuvor Anderes in neu arrangierte Routinen ein. Dies bedeutet, dass alles was heute neu ist, schon morgen wieder Teil der Routine sein kann. Für das Leben in diversitätsgeprägten Stadtteilen ist dieses Handlungsrepertoire besonders relevant, da Vielfalt auf diese Weise immer wieder in die Alltagsroutinen eingefügt wird. Darüber hinaus wurde in diesem Kapitel der situative und spontane Handlungscharakter im Alltag hervorgehoben, in dem Rahmungen zur Lösung der auftretenden Situationen greifen. Durch die Rahmung der Situation erlangt die/der eigentlich Fremde möglicherweise einen anderen Status und wird schlichtweg zum/zur Flaneur*in oder Blumenkäufer*in, zum/ zur Hundebesitzer*in oder Radfahrer*in. Dabei changieren die Akteur*innen zwischen latenten und manifesten, aufgrund der Dichte an Situationszuordnungsmöglichkeiten meist wählbaren Rollenpositionen. Dies alles sind Mechanismen, mit denen die Individuen den Alltag in einer polykontextuellen und superdiversen Gesellschaft bestreiten. Für die zahlreichen Begegnungen mit Anderen im öffentlichen Raum sind diese Mechanismen besonders relevant. Dort überkreuzen sich die unterschiedlichen Alltagssphären der Individuen und kollidieren teilweise miteinander, denn der öffentliche Raum ist ein Ort, an dem unterschiedliche Machtkonstellationen und -verhältnisse sichtbar und relevant werden. Doch auch (soziale) Normen und etablierte Normvorstellungen, die ausgehandelt werden müssen, wirken auf die unterschiedlichen Alltagsspähren ein. Der öffentliche Raum wird damit zu einem „conflict space“ (vgl. Preißing 2016, S. 76), zu einem Verhandlungsraum, in dessen Rahmen sich das Individuum positioniert. Darüber hinaus wurde mit den drei Säulen der Stadtgesellschaft das Verständnis von Stadtgesellschaft in der vorliegenden Arbeit skizziert. Durch die nicht vollständige Inklusion in alle drei Kontexte (den systemischen, lebensweltlichen und metakommunikativen Kontext) wird auch der Alltag des Individuums beeinflusst. Die „Grammatik des urbanen Zusammenlebens“ droht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Aus dem gesellschaftlichen Abseits heraus bilden sich Praktiken des Abseits (informelle Arbeit, kriminelle Techniken), die die Betroffenen im Alltag anwenden müssen, um sich trotz aller Hindernisse irgendwie zu platzieren.
4
Zusammenfassung: Das theoretische Grundgerüst im Überblick und der Blick auf den diversitätsgeprägten städtischen Raum in dieser Arbeit
„Dem Kern der Stadtgesellschaft nähert man sich wohl am schnellsten, wenn man sich die das Zusammenleben ermöglichenden Alltagsroutinen mit ihren besonderen Fertigkeiten vergegenwärtigt“ (Bukow et al. 2018, S. 3).
Dem urbanen Zusammenleben als Thema dieser Arbeit habe ich mich theoretisch über die stadtsoziologische Diskussion (vgl. Sennett 2013; Römhild 2014; Hess et al. 2009; Yildiz 2014, 2016; Bukow 2014) über den differenzlogischen Blick der Ver-anderung und mit der Ausarbeitung einer alltagsoziologischen Sichtweise auf das städtische Zusammenleben genähert. Dabei wurde das Dreisäulenmodell als Grundgerüst der Stadtgesellschaft skizziert. Die In- und Exklusion der Gesellschaftsmitglieder verläuft entlang des Zugangs zu den drei Säulen der Stadtgesellschaft. Für die/den Einzelne/n, ist es bedeutsam, in die formal strukturierten Angebote (Arbeit, Wohnung, Bildung, Gesundheit usw.), in den Kontext eines lebensweltlichen Miteinanders im Hinblick auf die private Wir-Gruppe (Familien, Lebensgemeinschaften usw.) und in spezielle Bezugsgruppen und Milieus eingebunden zu sein. Es muss für das Individuum die vollwertige Möglichkeit bestehen, im Kontext einer bürger- und zivilgesellschaftlichen Beteiligung handeln zu können. Nicht für jedes Individuum ist die Inklusion in alle drei Kontexte selbstverständlich, wie die Ausführungen gezeigt haben. Vor allem eine binäre Logik, die Randgruppen (bestimmte Migrationen, aber auch ‚unerwünschte Öffentlichkeiten‘ etc.) zu ‚Anderen‘ entgegen einem (nationalen) ‚Wir‘ festschreibt, hat sich als quasi ‚naturgegebene‘ Differenzmarkierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen festgesetzt. In diesem Zusammenhang stand vor allem die migrationsspezifische Mobilität im Vordergrund der Diskussion. Gesellschaftliche Verwerfungen werden ‚Migrationsanderen‘ intrinsisch zugerechnet, die eigentlich für Stadtgesellschaften konstitutive Diversität wird auf diese Weise verbesondert. So kommt es zu einer Reifikation, die im Rahmen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Berding, Alltag im urbanen Quartier, Interkulturelle Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29293-5_4
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4 Zusammenfassung: Das theoretische Grundgerüst im Überblick …
der Stadtentwicklung schließlich zur Basis des Denkens und Handelns gemacht wird. Die Maßnahmen, die das verbesonderte Individuum ergreift, um sich in der Gesellschaft zu platzieren, sind zum Scheitern verurteilt, solange die Platzierung in der Stadtgesellschaft nicht für alle gleichermaßen möglich ist. Mit Blick auf Newcomer*innen stellt die Rede von ‚Parallelgesellschaften‘ oder ‚migrantischen Brennpunktquartieren‘ eine solche Reifikation dar. Dass diese Narrationen jedoch entlang umfassender Migrations- und Diversitätsregime gesteuert werden, wurde ebenfalls deutlich. Durch den Bedeutungsverlust des Nationalstaats werden die Ausgrenzungsbestrebungen noch aggressiver. Dem gegenüber steht jedoch der Alltag, den das Individuum konstruiert und in dem es sich überwiegend entlang praktischer, situativer Handlungsweisen bewegt. Im Alltag treten Differenzen auf einer praktischen Ebene als Störung oder Irritation auf, die schnellstmöglich vom Individuum gelöst werden. Die vorliegende Arbeit fokussiert in erster Linie auf diese trivialen „Niederungen des Alltags“ (Yildiz 2016, S. 6), in denen sich das Leben der Menschen abspielt. Diese Perspektive impliziert eine Sicht auf die Gemeinsamkeiten, da alle Menschen den Alltag entlang unterschiedlicher Handlungen bestreiten und damit gemeinsam einen Dauerablauf reproduzieren, der ihnen eine möglichst störungsfreie Bewegung in der Stadtgesellschaft ermöglicht. Damit deutet der Blick auf die Niederungen des Alltags eine Gegenperspektive zu überwiegend kategorialen und differenzlogischen Sichtweisen auf das urbane Zusammenleben an. Das bedeutet jedoch nicht, dass Alltag im Folgenden als ein konfliktfreies Phänomen verstanden wird. Im Gegenteil: Konflikt wird in dieser Arbeit als konstitutiver Bestandteil des städtischen Alltags betrachtet. „Wenn mit einem friedlichen Zusammenleben ein von einem allgemeinen Konsens geprägter Zustand gemeint ist, dann handelt es sich um ein Ideal, das nicht erreicht werden kann“ (Berding 2007, S. 12). Alltag bedeutet Kommunikation und Kommunikation bedeutet im Sinne Luhmanns Konflikt: „Selbstverständlich ist Kommunikation ohne jeden Konsens unmöglich; aber sie ist auch unmöglich ohne jeden Dissens (Luhmann 1988, S. 14, hier zitiert nach Berding 2007, S. 12). Auch Konflikte finden entsprechend Berücksichtigung im empirischen Teil dieser Arbeit. Es ist nur eine Frage der Perspektive, in welcher Weise auf bestimmte konflikthafte Situationen des Zusammenlebens in diversitätsgeprägten Gesellschaften geschaut wird, um diese zu bewerten. Darüber hinaus haben gängige Alltagsmythen und hegemoniale Diskurse, wie etwa das erwähnte ‚ethnische‘ Alltagswissen, Auswirkungen auf die Alltagspraktiken der Bewohner*innen. Insofern kann diese Differenzlogik nicht aus dem Alltag herausgedacht werden und wird entsprechend auch in dieser Arbeit Berücksichtigung finden. Jedoch
4 Zusammenfassung: Das theoretische Grundgerüst im Überblick …
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werden dahin gehend auch andere Formen und Praktiken der Alltagsorganisation aufgezeigt, die diese festgesetzten Wissensformationen aufzubrechen versuchen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die oben skizzierte althergebrachte Integrationslyrik mit ihren institutionellen Effekten problematisch wird, wenn es darum geht, Prozesse des Zusammenlebens nachzuvollziehen und die alltäglichen Aushandlungsräume und Routinen der Bewohner*innen aufzugreifen. Stattdessen werden Überlegungen zur Inklusion relevant. Inklusion beschreibt eine Systemleistung, bei der es darum geht, Individuen in relevante Teilsysteme einzubinden, um Segregation und Exklusion zu verhindern, während der traditionelle Integrationsbegriff auf eine individuelle Anpassungsleistung abzielt. Mit einer inklusiven Herangehensweise wird die gemeinschaftsimprägnierte, ursprünglich familienorientierte, heute nationalistisch aufgeladene Debatte anschlussfähig an internationale Stadtentwicklungskonzepte, die dem massiven Wandel der urbanen Wirklichkeit Rechnung tragen (vgl. Crul und Mollenkopf 2012). Insofern lässt sich das in dieser Arbeit verfolgte Ziel, nämlich das Aufspüren funktionierender alltäglicher Praktiken, auch als Suche nach Inklusionsspraktiken beschreiben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die vorliegende Arbeit an Forschungsansätzen orientiert, die im Gegensatz zu einer binären, mitunter nationalstaatlich geprägten Perspektive, darauf fokussieren wird, wie Diversität alltagspraktisch gemanagt wird und das Alltagsleben bereichert. Damit knüpft die Arbeit an Untersuchungen an, die postkoloniale, postmigrantische und intersektionale Perspektiven berücksichtigen und soziale sowie kulturelle Diversität als konstituierendes Moment urbaner Gesellschaften betrachten (vgl. Schiffauer 2008; Vertovec 2010; Römhild 2012, 2014; Bukow 2001, 2010, 2011; Yildiz 2014, 2016; Hill 2016; Baumgärtner 2009; Voll 2016; Fuhrop 2016; Dika et al. 2011; Cudak 2017; Preißing 2016 u.v.m.). Vielversprechend ist eine die unterschiedlichsten Aspekte von Diversität aufgreifende Diskussion (vgl. Bukow 2011; Hess und Moser 2009; Römhild 2014), die über bislang festgeschriebene Differenzmarkierungen und Kategorisierungen hinaus geht und den Blick auf den urbanen Alltag und das den Diversitätsrealitäten entsprechende Zusammenleben richtet und somit, erstens, überhaupt die Präsenz multilokaler, allesumfassende Zugehörigkeitskonstruktionen wahrnimmt und darüber hinaus, zweitens, auch die Potenziale und Qualitäten dieser Zugehörigkeitskonstruktionen in den Vordergrund rückt.
5
Forschungsdesign
„Das, womit es der Ethnograph tatsächlich zu tun hat – wenn er nicht gerade mit der routinemäßigen Kleinarbeit der Datensammlung beschäftigt ist (die natürlich auch sein muss) -, ist eine Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind und die er zunächst einmal fassen muß“ (Geertz 1987, S. 15).
Nach dem Motto What the hell is going on here? (Geertz 1987) versucht die vorliegende Untersuchung Bedeutungsstrukturen im alltäglichen Handeln der Quartiersbewohner*innen aufzudecken. Sie beruht auf einem breiten Repertoire an qualitativen, ethnografischen Erhebungsmethoden, deren gemeinsame Basis „die starke Orientierung am Alltagsgeschehen, bzw. am Alltagswissen“ (Schulze 2001, S. 116) ist und die den Anspruch verfolgen, „Lebenswelten von innen heraus“ zu beschreiben (vgl. ebd., S. 116). Methodisch orientiert sich diese Arbeit am Grounded Theory-Ansatz nach Glaser und Strauss (1998). Die Ausrichtung an ethnografischen Forschungsmethoden bedeutet, dass ich alle „denkbaren und ethisch vertretbaren Optionen zur Datengewinnung“ (Hammersley und Atkinson 1983, S. 2) in meinen Forschungsprozess einbezogen habe. Es standen dabei nie die Methode und die zwanghafte Umsetzung methodischer Schritte und Prinzipien im Vordergrund, vielmehr wurden die Methoden der Praxis nachgeordnet (vgl. Flick 2007, S. 218). Insgesamt wurden die jeweiligen methodischen Schritte danach ausgewählt, womit das dichteste Material erschlossen werden konnte. Die „dichte Beschreibung“ (Geertz 1987) soll dabei nicht „festhalten, ‚was der Fall ist‘, sondern verstehbar machen, für was etwas ein illuminativer Fall ist“ (Hirschauer 2001, S. 437). Im folgenden Kapitel werden nun das Vorgehen und die einzelnen forschungspraktischen Schritte dargestellt, die unternommen wurden, um die Alltagsstrukturen
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Berding, Alltag im urbanen Quartier, Interkulturelle Studien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29293-5_5
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5 Forschungsdesign
im Quartier zur untersuchen. Es wird das methodologische Vorgehen und die eigene Forschungspraxis begründet, um den langen Weg hin zu den Ergebnissen dieser Arbeit nachvollziehbar und transparent zu machen.
5.1 Ethnografie des Ortes „Die Besonderheit der Ethnographie besteht in der Vielzahl ihrer Perspektiven, der Reflexivität des Vorgehens sowie einer empathischen Nähe zum Forschungsgegenstand und spiegelt sich in einer methodischen Bandbreite, die sich in keiner anderen Disziplin in einem solchen Maß wie in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie/ Kulturwissenschaft entwickelt hat“ (Moser und Egger 2012, S. 175).
Im Rahmen meiner ethnografischen Feldforschung untersuche ich den umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz im Stadtteil Oberbilk mit dem Ziel einer dichten Beschreibung des Ortes und der damit verbundenen alltäglichen Handlungen der Raumnutzer*innen (Geertz 1987). Mit dichter Beschreibung bezieht sich Geertz auf einen semiotischen Kulturbegriff, der auf die Rekonstruktion von Bedeutungs- und Sinnsystemen abzielt. Für ihn ist nicht allein die Beschreibung sozialer Phänomene Gegenstand der Ethnografie, sondern vor allem deren Deutung: Ethnografie ist die Interpretation einer Vielzahl von Handlungen und Gestiken. Die Aufgabe des/der Ethnografen/in ist die Analyse von Situationen und das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen, die dann richtig interpretiert werden müssen. Geertz zielt darauf ab, dass eine Handlungsweise unterschiedliche Bedeutungen innehaben kann: Ich zwinkere, weil ich ein Augenleiden habe, ich zwinkere, um jemandem zuzustimmen, ich zwinkere, um mit jemandem zu flirten usw. Die Handlungsweisen werden je nach individuellem oder gesellschaftsspezifischem Kontextwissen und Referenzrahmen unterschiedlich erklärt. Um also Handlungen und Situationen richtig verstehen zu können, reicht das Festhalten an bekannten Bedeutungsmustern nicht aus. Als Ethnograf*in ist es wichtig, die differenten Bedeutungsstrukturen, die dem/der Forscher/in auch fremd sein können, zu beobachten, zu verstehen und zu deuten (vgl. Geertz 1987). Mit der Vorstellung eines Kulturbegriffs, der semiotisch und konstruktivistisch geprägt ist, richtet sich Geertz gegen ein tradiertes ethnografisches Selbstverständnis, in dem Kulturen als statisches Regelprodukt verstanden wurden. Eine Kritik, die in der wissenschaftlichen Debatte unter den Begriffen Writing Culture Debate oder Ethno- und Kulturzentrismus diskutiert wird (vgl. Summer 1940; Spivak 1985; Sökefeld 1999; Said 1978). Im klassischen Selbstverständnis der Ethnologie wurde der ‚exotische Andere‘ oder ‚Fremde‘ territorial festgemacht und in erster Linie im Gegensatz zu den als modern und fortschrittlich
5.1 Ethnografie des Ortes
125
beschriebenen westlichen Gesellschaften betrachtet (vgl. etwa Malinowski 1979; Lévi Strauss 1978 [1955]; Evans Pritchard (1940). So beschreibt Malinowsi (1979) die ethnografische Forschungsarbeit als das „Eintauchen in das Leben der Eingeborenen“ (ebd., S. 46). Der fremde Ort und damit auch die fremde Gemeinschaft wird zum Forschungslabor: „[Der Ethnograf] muss hinaus in die Dörfer gehen und den Eingeborenen bei der Arbeit in den Pflanzungen, am Strand und im Dschungel zusehen; Er muss mit ihnen zu entfernten Sandbänken und zu fremden Stämmen fahren und sie beim Fischen, Handeln und bei zeremoniellen Überlandexpeditionen beobachten. Die Information muss ihm, gewürzt mit eigenen Beobachtungen über das Leben der Primitiven, zukommen, und darf nicht tropfenweise aus widerwilligen Informanten herausgequetscht werden. (…) Ethnologie im Freien ist im Gegensatz zu Notizen vom Hörensagen harte Arbeit, aber sie macht auch großen Spaß“ (Malinowski 1973, S. 128 f.).
Das hier skizzierte klassische Selbstverständnis der Ethnologie wird seit dem postmodern turn in der Wissenschaft grundsätzlich kritisiert. Verstärkt rückte die Rolle der Ethnologie bei der (Re)Produktion von Imaginationen fremder Lebenswelten in den Mittelpunkt des Interesses (vgl. Said 1978; Clifford 1993).1 Im Kern ging es um die Frage, ob die klassische Ethnologie, dadurch, dass sich – meist männliche und weiße – Ethnologen ins Feld begeben und Rückschlüsse auf das Zusammenleben vermeintlich ‚primitiver‘ Lebenswelten ziehen, nicht eher einen stereotypenproduzierenden Diskurs über das Fremde konstruiert: „Once upon a time, the Lone Ethnographer rode off into the sunset in search of “his native”. After undergoing a series of trials, he encountered the object of his quest in a distant land. There, he underwent his rite of passage by enduring the ultimate ordeal of “fieldwork.” After collecting “the data,” the Lone Ethnographer returned home and wrote a “true” account of “the culture”“ (Rosaldo 1993, S. 30).
Die klassische ethnografische Feldforschung bleibt auf diese Weise in erster Linie eine „privilegierte und sanktionierte Datenquelle für exotische Völker“ (Clifford 1993, S. 113) und produziert entsprechend vereinfachte, durch die westliche Perspektive geprägte Imaginationen anderer Kulturen und Territorien mit. Diese Vereinfachungen nennt Appadurai (1988) „topological stereotypes“ (ebd., S. 46).
1Unter
dem Stichwort orientalism stellt Said heraus, dass der Orient, wie er in wissenschaftlichen, aber vor allem auch literarischen Überlieferungen dargestellt wird, nur eine
126
5 Forschungsdesign
Sie bestimmen unsere Wahrnehmung von Orten und Kulturen und beeinflussen sie. So sind gleichermaßen auch die ethnografischen Forschungsthemen von diesen Imaginationen beeinflusst. Gupta und Fergerson (1997, S. 13) sprechen von einer „Hierarchy of purity of field sites“, Okely (1996, S. 3) sogar von einem „academic regionalism“. So kommt Clifford im Rückblick auf die ethnografischen Theorien der letzten Jahrzehnte zu dem Ergebnis, dass der Westen nach dem Zusammenbruch der Kolonialstrukturen nicht mehr in der Lage sei, „alleiniger Lieferant ethnografischen Wissens“ zu sein (Clifford 1993, S. 111). Mit dem postmodern turn wurde der ethnografische Blick zunehmend auf die Dynamik des lokalen Raums gelenkt. Es stand nicht mehr alleine die zu erforschende Lebenswelt im Fokus der ethnografischen Forschung, sondern es wurde auch die Forschungssituation sowie die Rolle, die der/die Forschende kontextspezifisch einnimmt, im Forschungsprozess und -ergebnis berücksichtigt (vgl. Haraway 1995). Dieser Umbruch führte zu einer Öffnung der Ethnologie und schlug sich in der Etablierung neuer Forschungsfelder nieder. Die zuvor gedachte Einheit von Kultur und Lokalität wurde von deterritorialisierten Ansätzen abgelöst, die vornehmlich die transnationalen Verflechtungen in den Blick nahmen (vgl. Kokot 2000). So untersuchten verschiedene Forschende den transnationalen, mobilen Charakter einzelner Gruppen (vgl. Cohen 1997; Clifford 1994; Bhabha 1994; Scheffer 2003; Brah 1996). Unter anderem begann in dieser Zeit auch eine intensive Diasporaforschung (vgl. Clifford 1994; Safran 1991). Trotz dieser Entwicklungen blieb die bewährte Forschungstradition – etwa die dauerhafte Anwesenheit vor Ort und die community-fokussierte Forschungsausrichtung – Baumgärtner (2009) zufolge lange Zeit unverändert. Die Gleichsetzung von Ort und Gemeinschaft ist immer noch der bestimmende Modus der ethnografischen Forschung: „Obwohl die ethnologische Forschung in situ stattfindet, ist der Ort hier in der Regel eher der Lokus als der Fokus der Forschung“ (ebd., S. 121). Als Beispiel nennt Baumgärtner Forschungsarbeiten, in denen etwa die ‚Hispanics‘ in den USA (vgl. Dürr 2002, 2005), die ‚türkischen Jugendlichen‘ in Kreuzberg (vgl. Kaya 2001) oder unterschiedliche ‚ethnische Gruppen‘ in Ujung Padangs (vgl. Antweiler 2000) untersucht wurden. Für den
Konstruktion westlicher, kolonialer Herrschaftsansprüche ist, die den Orient als Gegenbild zur westlich fortschrittlichen Gesellschaft manifestieren. Said (1978) spricht von „Imaginativen Geografien“, die bestimmte Repräsentationen von Städten, Orten, den Menschen und dem dortigen Alltagsleben auf Basis eines binären Gegensatz zwischen den eigenen und den anderen Orten beinhalten (vgl. auch Gregory 1995; Lossau 2003).
5.1 Ethnografie des Ortes
127
deutschsprachigen Raum ließe sich hier die Forschung über die sogenannte ‚zweite‘ oder ‚dritte Generation‘ der ‚Gastarbeiter*innen‘ ergänzen (vgl. Barwick 2016; Hanhörster 2014). In diesen community-orientierten Forschungen würden, so kommentiert Baumgärtner kritisch, ‚ethnische Gruppen‘ als unhinterfragt vorausgesetzt und die unterschiedlichen Lebensstile als „isoliertes Phänomen in der Stadt […] und nicht als konstruierendes Prinzip für die Stadt“ (vgl. ebd., S. 121) wahrgenommen. Auch Schroer (2006) kritisiert diese Forschungsausrichtung: „Um der Gefahr der immer wieder währenden Bestätigung der vorgefassten Bilder zu entgehen, wäre im Sinne einer ethnografischen Analyse städtischer Quartiere zu untersuchen, welche Bilder sich eigentlich die jeweiligen Bewohner dieser >problematischen Stadtviertel< von dem Raum machen, in dem sie leben. (…) Es gehört zu den Eigentümlichkeiten soziologischer Texte über die Ghettos, Slums, Banlieus und Favelas, die ausweglose Lage der Bewohner zu beschreiben und dies mit einer Klage über das politische Versagen zu verbinden – und es dabei zu belassen. Wie die Bewohner tatsächlich ihren Raum wahrnehmen, aneignen und gestalten und welche Bezüge sie dabei – weit über ihren Aufenthaltsort hinaus – herstellen, die gerade quer zu den üblichen räumlichen Einteilungen liegen, darüber schweigt eine sich mit Zuschreibungen begnügende Soziologie, die auf die Deutungen der Akteure schlicht verzichtet“ (Schroer 2006, S. 250 f.).
Vor allem mit dem Ansatz der Cultural Studies (Hall 2000), der die vorliegende Arbeit wesentlich prägt, etablierte sich ein anderes Verständnis der Ethnologie. In Anlehnung an Max Weber (1988 [1922]), der „soziales Handeln deutend“ verstand und in seinen „Wirkungen ursächlich“ erklären wollte (vgl. ebd., S. 1), begreift der Ansatz der Cultural Studies Kultur und Gesellschaft als sozial konstruierte Produkte. Die binäre Logik, die in der Ethnologie häufig zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ oder dem ‚Vertrauten‘ und dem ‚Exotischen‘ reproduziert wurde, löst sich im Rahmen dieser Ansätze zunehmend auf. Es geht um eine Verfremdung des Blicks und um die Dekonstruktion vertrauter, bzw. traditioneller Blickweisen, die eine „Befremdung der eigenen Kultur“ (vgl. Hirschauer und Amann 1997; Hirschauer 2002; Berli und König 2015) evozieren. Chicago School Für die vorliegende Arbeit sind darüber hinaus die Forschungsarbeiten der Chicago School of Sociology ein wichtiger Referenzpunkt. Die Vertreter der Chicago School, etwa Robert Park (1925), Ernest W. Burgess (1925) und
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5 Forschungsdesign
Florian Znaniecki (1918) haben bei der Öffnung und Diversifizierung der Ethnologie eine zentrale Rolle gespielt. Ihre Arbeiten folgen einem ethnomethodologischen, ethnografischen Blick – also einem nur in methodologischer Hinsicht ethnologischen Blick, der mithilfe ethnologischer Methoden alltägliche statt ‚ethnische‘ Phänomene rekonstruiert. Die Vertreter der Chicago School haben insbesondere die sozialen Folgen der Urbanisierung in den Jahren 1920–1940 untersucht. Die beteiligten Forscher*innen haben die Stadt und ihre Mikrokosmen vor dem Hintergrund der Ideen des symbolischen Interaktionismus (vgl. Mead 1968) in den Blick genommen. Sie betrachteten die Stadt als einen Ort, der die gesellschaftliche Realität als „Real Relation Circle“ zu spiegeln vermag. Die Ethnografen der Chicago School verstanden ihre Untersuchungen als wissenschaftliche Reportagen über den urbanen Raums und dessen Nutzer*innen und verbanden sie mit der klaren Aufforderung an die Forscher*innen, auf die Straße zu gehen, herumzustöbern und detailliert zu beobachten. Robert Park schrieb unzählige Zeitungsartikel und Reportagen über die Vielfalt des sozialen Lebens in Chicago, einer zu dieser Zeit extrem schnell wachsenden Stadt, die beste Voraussetzungen für die dichte Beschreibung des städtischen Lebens bot: „Man muss sich Park als einen unermüdlichen Fußgänger vorstellen, der die Stadt Chicago kreuz und quer durchstreifte und seine Beobachtungen notierte. Seine einzigartige Kunst der Beobachtung bestand darin, dass er – im Gegensatz zu den späteren – mit schwerer Forschungstechnologie ausgestatteten Soziologen – noch mit bloßen Augen zu sehen verstand“ (König 1978, S. 58; hier zitiert nach Breidenstein et al. 2013, S. 23).
Im Mittelpunkt der Untersuchungen stand die Frage nach dem Zusammenhang von Stadt als zentralem Lebensraum und dem Verhalten der Stadtbewohner*innen in diesem. Zwar wurden auch in den Forschungsarbeiten der Chicago School immer wieder kleinere soziale Welten im Stadtgefüge herausgearbeitet, jedoch wurden diese nicht als statische, sondern als hybride, dynamische Gebilde betrachtet, die sich aufgrund der diversen und mobilisierten Stadtgesellschaft immer wieder neu herausbilden. „Die Stadt unter den Bedingung globaler Migration als Mosaik unterschiedlicher Lebenswelten zu untersuchen und dabei die Eigenleistungen und Handlungsprobleme der Akteure vor dem Hintergrund der jeweiligen ökonomischen Bedingungen in den Blick zu nehmen, gehört sicherlich zu den wesentlichsten Beiträgen dieser Forschungstradition“ (Berli und König 2015, S. 74).
5.1 Ethnografie des Ortes
129
In aktuellen Arbeiten (vgl. Roy und Ong 2011; Schneider et al. 2015; Vertovec 2016) tritt anstelle einer bestimmten Community allmählich das konkret erlebbare Quartier in den Vordergrund. Zunehmend findet in der modernen Ethnologie eine postethnische, bzw. postmigrantische Neubesinnung auf die eigentlich althergebrachten urbanen Routinen und ihrer immer wieder neuen lokalräumlichen Arrangements statt (vgl. Hess und Moser 2009; Römhild 2014; Cudak 2017; Moser und Egger 2012; Yildiz 2016). In diesen Untersuchungen wird bewusst eine Gegenperspektive zu Untersuchungen gewählt, die nur eine spezifische lokale Community in den Mittelpunkt stellen, oftmals sogar eine ‚ethnische Gruppe‘. Inwieweit jedoch auch in der modernen Ethnologie immer noch bewährte und traditionelle Narrative bedient werden, ist auch ein Thema dieser Arbeit. Wie ist es möglich, binäre Logiken zu dekonstruieren, wenn sie sich doch bereits im Alltag der Stadt- und Einwanderungsgesellschaft festgeschrieben haben und somit auch die Wahrnehmung der Forschenden (mit)bestimmen? In meiner Forschung stellte sich mir diese Frage vor allem in Bezug auf stigmatisierte ‚unerwünschte Öffentlichkeiten‘ und auf die Newcomer*innengruppe der sogenannten ‚Marokkaner*innen‘ im Stadtteil. Sie wurden von den Gesprächspartner*innen teilweise als eine gesonderte Gruppe im urbanen Raum wahrgenommen, die auch gesondert erforscht und befragt werden müsse. Meine Antwort auf die Frage, wie man diesen Verbesonderungsprozessen als Forscherin entgegenwirken kann, lautet: Die „ethnomethodologisch“ (Garfinkel 1986, 2002) geschulte Betrachtung des Quartiers als Referenzrahmen für das Alltagshandeln der Bewohner*innen und die Fokussierung auf die im Quartier vorhandenen Alltagspraktiken lenken den Blick auf basale Funktionen gesellschaftlicher Ordnung – ein Blick, der nicht die binäre Logik reproduziert, sondern die konkret erlebte Situation in den Vordergrund der Forschung rückt. In der Ethnomethodologie wird mit der Konzentration auf die Herstellung der sozialen und praktischen Ordnung des alltäglichen Lebens als situativ erzeugte Lebenswelt die Schützsche’ intersubjektive Perspektive verlassen (vgl. Garfinkel 1986, 2002; Eberle 1984). Die Annahme, dass die Handlungen der Bewohner*innen stets situationsspezifisch gerahmt sind und sich im diversitätsgeprägten, dynamischen Alltag vielfach Situationen überlagern, steht damit im Gegensatz zur traditionellen ethnografischen Forschung, die eher geschlossene Gruppen fokussierte. Mit der Forschung im urbanen Raum Lessingplatz wurde also keine closed community, sondern eine der Logik des urbanen Zusammenlebens geschuldete Fragmentierung und Heterogenität der Handelnden im Hinblick auf Prozesse der Vergemeinschaftung untersucht. Damit ist dieses ethnografische Projekt keine klassische, ethnografische Feldforschung, sondern es bewegt sich am ehesten
130
5 Forschungsdesign
in einem Zwischenbereich von soziologischer Subkulturforschung im Sinne der Chicago School und einer Alltagssoziologie, die einer postmigrantischen, postkolonialen und intersektionalen Perspektive folgt. Meine Forschung schließt insofern an den Ansatz der Cultural Studies an, als sie versucht, den Blick auf die „Niederungen des Alltags“ (Yildiz 2016) zu lenken und damit festgefahrene Narrative über Andere zu dekonstruieren und im Rahmen einer mobilisierten Stadt- und Einwanderungsgesellschaft als konstitutiv belanglos herauszustellen.
5.2 Methodologischer Rahmen „Erst durch das sorgfältige Sammeln von verschiedensten Materialien, aber auch von Sinnen und Statements der Stadtbewohnerinnen, von Ortsbeschreibungen und Fakten kann der polyphone Ausdruck der Stadt vermittelt werden. Anhand all dieser einzelnen Bilder, Situationen und Geschichten verdichtet sich langsam der Blick auf die Stadt, der allerdings nicht vor Verwirrungen schützt“ (Wildner 1995, S. 18).
Um die Dynamik des urbanen Alltags und die ihn konstruierenden Alltagsroutinen zu untersuchen, kann man sich nicht (nur) in der Theorie verorten, sondern sollte sich vor allem die konkrete Alltagspraxis anschauen. Ich betrachte den urbanen Raum im Sinne Löws als ein dynamisches Gebilde, das in Handlungsverläufe integriert ist (vgl. Löw 2001, S. 224). Mein alltagssoziologischer Blick bezieht sich auf die Verfremdung alltäglicher Praktiken im urbanen Raum, mit dem besonderen Fokus auf das Handeln der Menschen in und um den urbanen Raum Lessingplatz. Wie Menschen sich auf diesem Platz verhalten, ob sie sich auf ihm längere Zeit aufhalten, ihn zu sportlichen Aktivitäten nutzen oder ihn einfach nur überqueren (mit anderen Worten: ihre vermeintlich routinierte Praxis im Dauerablauf des Alltags), ist Teil der Untersuchung. In Anlehnung an Blumer (1954), der in seinem Beitrag What is wrong with social theory? weniger die Rekapitulation von sozialen Theorien, sondern vielmehr Konzepte fordert, die auf der empirischen Wirklichkeit beruhen, habe ich versucht, Wirklichkeit und soziale Theorie zusammenzubringen. Es ist nicht das Ziel meiner Feldforschung, nach einer Bestätigung sozialer Theorien in der empirischen Welt zu suchen. Theorie ist Blumer zufolge in der empirischen Wissenschaft nur dann nützlich, wenn sie logisch mit der empirischen Wirklichkeit verbunden wird. Insofern habe ich keinen hypothesengeleiteten Forschungsprozess verfolgt, der lediglich der Verifizierung bestehender Theorien dient, sondern habe versucht, den Forschungsprozess bewusst offen zu halten. Auf diese Weise konnte ich vermeiden, dass vor Beginn der Forschung schon ableitbare Beziehungen, die sich
5.2 Methodologischer Rahmen
131
im Forschungsprozess möglicherweise ergeben, ausgeschlossen werden (vgl. Glaser und Strauss 2008, S. 199). Hypothesen, die im Forschungsprozess aufgestellt wurden, hatten also immer einen vorläufigen Charakter.
5.2.1 Grounded Theory „Methodologisch gesehen ist die Analyse qualitativer Daten nach der Grounded Theory auf die Entwicklung einer Theorie gerichtet, ohne an spezielle Datentypen, Forschungsrichtungen oder theoretische Interessen gebunden zu sein. In diesem Sinne ist die Grounded Theory keine spezifische Methode oder Technik. Sie ist vielmehr als ein Stil zu verstehen, nach dem man Daten qualitativ analysiert“ (Strauss 1998, S. 29 f.).
Für die Betrachtung und Analyse der Prozesse im urbanen Raum bietet sich die Methode der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1967) an. Kennzeichnend für diese Methode ist ein theoriegenerierendes Vorgehen, bei dem die Theorie aus dem empirischen Material heraus entwickelt wird (vgl. Glaser und Strauss 1967, 2008; vgl. auch Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008, S. 359). Das zentrale Verfahren, das im Rahmen der Grounded Theory angewendet wird, ist das Theoretical Sampling. Hier entscheidet der/die Forscher*in auf Basis des bisher analysierten Datensatzes, welche Daten als nächstes zu erheben sind. Die empirischen Daten werden dann „systematisch und intensiv“ und „oft Satz für Satz oder Abschnitt für Abschnitt“ analysiert (Strauss 1998, S. 37). Entsprechend werden die einzelnen Forschungsphasen (Planung, Feldforschung, Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung) nie autonom, sondern im stetigen Wechsel zueinander betrachtet, um eine gegenstandsbegründete Theorie zu entwickeln. Dabei bewegt sich der/die Forscher*in ständig zwischen induktivem (Kategorienbildung) und deduktivem Denken (Überprüfung der Kategorien mit anderen Textstellen) (vgl. Strauss 1998, S. 37; Flick 2007, S. 266). Die Kodierung stellt dabei ein grundlegendes Verfahren für die Analyse des Forschungsmaterials dar. Der Prozess der Datenauswertung und -analyse entlang der Maxime der Grounded Theory Methodologie wird in Abschn. 5.3 detailliert beschrieben. Im Folgenden wird zunächst das Vorgehen im Feld expliziert.
5.2.2 Das Vorgehen im Feld Der Zugang zu dem hier interessierenden urbanen Alltagsleben (everyday life) erfolgt mittels ethnografischer Methoden. Folgendermaßen bin ich dabei vorgegangen:
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5 Forschungsdesign
• Begonnen habe ich mit einfachen Wahrnehmungsspaziergängen, Erkundungsspaziergängen, Beobachtungen des öffentlichen Raumes und Stadtteilführungen. Erste Eindrücke vom Quartier und erste Gespräche en passsant mit Bewohner*innen oder Menschen, die im Stadtteil arbeiten, kamen so zu Stande. • Für die Beantwortung der Forschungsfragen ist es wichtig, die Akteur*innen und das sie umgebende Umfeld, sprich: die Alltagspraxen in diversitätsgeprägten Quartieren, als Folie in den Blick zu nehmen. So folgten systematische Beobachtungen und teilnehmende Beobachtungen im öffentlichen Raum, gepaart mit ersten Gesprächen mit Quartiersnutzer*innen, die mir bei meinen Beobachtungen begegneten. Außerdem habe ich mir einen Eindruck über die Initiativen und Vereine im Stadtteil gemacht. In dieser Phase der Forschung wurde aufgrund der Größe und den kleinräumlichen Strukturen des Stadtteils Oberbilks deutlich, dass ich mich auf einen stärker umgrenzten urbanen Raum beschränken muss. So entschied ich, die Straßenzüge rund um den zentralen Lessingplatz und den Lessingplatz an sich zu meiner zentralen Forschungsarena zu bestimmen. Die getätigten Beobachtungen im Rahmen der teilnehmenden und systema tischen Beobachtung zielten dabei auf eine von Routinen geprägte urbane Vorderbühne, während die Interviews der Erkundung der durch formale Strukturen präsentierten Hinterbühne diente. Dieses von Goffman (1973, 2003) geprägte Bild verweist auch darauf, dass es am Ende wichtig ist, zwischen dem Dauerablauf des Alltags und den diesem Dauerablauf dienenden, speziell organisierten Handlungen, bzw. den entsprechenden Situationen und Institutionalisierungen zu unterscheiden. Goffman verwendet hier eine Theatermetapher: Der Dauerablauf des Alltags spielt sich wie auf einer Bühne ab und wird ggf. durch Aktionen hinter der Bühne koordiniert werden. Die/Der Sozialwissenschaftler*in beobachtet die Vorder- und Hinterbühne als Zuschauer*in. Sie/Er sieht die Handlungen und beobachtet die sie ordnenden Maßnahmen. Es ist deshalb wichtig, beide Bühnen in ihrer Relation zueinander zu betrachten. Dadurch wird auch die Methodenauswahl und entsprechend die Handhabung der Methoden bestimmt. So bieten sich teilnarrative/leitfadengestützte Interviews an, um die Hinterbühne zu erfassen und die Situationsdeutungen, Handlungsmotive, Alltagstheorien und das Expertenwissen über das entsprechende urbane Forschungsfeld zu erheben. • Im Rahmen meiner Beobachtungen nahm ich aktiv an Vereinsveranstaltungen teil, um in Kontakt zu den unterschiedlichsten Quartiersbewohner*innen zu treten.
5.2 Methodologischer Rahmen
133
• Ich sammelte Zeitungsausschnitte, statistisches Material, sprach Expert*innen an, sammelte Pressemeldungen und Veröffentlichungen zum Stadtteil. Dies war besonders spannend, da während meiner Forschung der Ruf des Quartiers und das Zusammenleben im Stadtteil medial besonders stark diskutiert wurden. Das gesammelte Material wurde einer Sekundäranalyse unterzogen, bzw. wurden die gesammelten Dokumente ausgewertet. • Zuletzt führte ich teilnarrativ/leitfadengestützte Interviews mit Bewohner*innen und Expert*innen aus dem Stadtteil. Ziel war es, einen Querschnitt an Menschen aus dem umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz zu interviewen. Um dies zu erreichen, habe ich über Facebook, diverse Vereinsverteiler und einen Aushang in Cafés/Kneipen über mein Forschungsvorhaben informiert. Darauf bezugnehmend haben sich einige Gesprächspartner*innen gemeldet. Andere wiederum habe ich einfach im öffentlichen Raum angesprochen. Darüber hinaus habe ich auch Einzelhändler*innen/Geschäftsinhaber*innen interviewt, die ich persönlich angefragt habe. • Im Rahmen meiner Forschung wurde ich mit der Zeit auch als Forscherin im Stadtteil bekannt und für kleinere Vorträge u. ä. eingeladen. In Abschn. 1.2 berichte ich über die teils schwierige Situation in meiner Rolle als Forscherin im Stadtteil. Durch die Teilnahme an unterschiedlichen Veranstaltungen und Aktivitäten und durch meine Präsenz an verschiedenen Orten konnten Kontexte und Zusammenhänge, aber auch Relevanzstrukturen, die im urbanen Raum Lessingplatz eine Rolle spielen, deutlich werden. Wahrnehmungsspaziergänge Die Wahrnehmungsspaziergänge greifen die Figur des Flaneurs auf, der auf seinen ausgedehnten Spaziergängen die Eindrücke und Reize der lebendigen Stadt mit offenen Augen auf sich wirken lässt. Walter Benjamin nutzte den Modus des Flaneurs in seinen Reportagen, in denen er das Alltagsleben in modernen Großstädten dokumentierte (vgl. Benjamin 1983 [1928]). Auch ich habe mich dem urbanen Ort als Flaneurin mit offenen Augen angenähert. Das Flanieren steht dabei „im Gegensatz zu einer theoretischen Betrachtung von Stadt“ (Wildner 2003, S. 27), da der/die Flaneur*in nicht mit einem Blick von oben, sondern von innen heraus, sozusagen als Teil des städtischen Gesamtensembles, auf den urbanen Raum blickt. Der Akt des Gehens wird von de Certeau (2006 [1980], S. 188 f.) als zentrale Praxis beschrieben, um die Stadt erfahren zu können. Bei meinen Wahrnehmungsspaziergängen habe ich mich vor allem auf die Atmosphäre, die sich durch die Geräusche, Gerüche und Bewegungen der Menschen im Quartier ausdrückt, konzentriert. Dabei ging ich unzählige Male vor allem den Weg vom Hinterausgang des Hauptbahnhofes Düsseldorf in
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5 Forschungsdesign
Richtung Lessingplatz und nahm jedes Mal unterschiedliche Eindrücke auf. Die von mir hier gesammelten Assoziationen nehmen einen großen Stellenwert in der Forschung ein, da auch ich als Forscherin meine Wahrnehmung und meine Eindrücke nicht aus dem Material herausdenken kann. Sie sind mit den in der vorliegenden Arbeit skizzierten Befunden verwoben. Durch die Wahrnehmungsspaziergänge entwickelte sich auch eine erste räumliche Struktur des urbanen Raums Lessingplatz, die eine wesentliche Grundlage für die weitere Entwicklung der Feldforschung insgesamt bildete. Systematische Beobachtung „Perec schreibt auf, was scheinbar ohne Bedeutung ist, nicht nur Dinge und deren Farben, den Habitus von Menschen, sondern auch Geräusche, die Art des Lichts, in dem das eine und andere zur Erscheinung kommt, einen Geruch, der ihm zuweht, oder die sich wandelnden Stimmungen von Menschen, die mitunter wiederholt, aber doch stets situativ andere im Feld der Beobachtungen auftauchen […] So gesehen steckt in Perecs Arbeiten zugleich die Mahnung an die allein handlungstheoretisch sich konstituierenden Wissenschaften, ihren Blick über die Grenzen des Rationalen und (vermeintlich) Berechenbaren hinaus zu öffnen“ (Hasse 2014, S. 169 f. über Georges Perec: „Versuch einen Platz zu erfassen“ von 1974).
Nach den Wahrnehmungsspaziergängen folgte eine lange Phase einer relativ statischen Beobachtung, in dem Sinne, dass ich länger an einzelnen Orten Platz genommen habe, um das Alltagshandeln der Nutzer*innen im umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz zu beobachten. Oftmals saß ich an ein und demselben Ort auf dem Lessingplatz und beobachtete das Treiben zu verschiedenen Tageszeiten. Diese Form der Beobachtung nenne ich systematische Beobachtung, da ich meine Beobachtungen durch verschiedene Beobachtungsschritte strukturiert habe. Bei diesem Vorgehen habe ich mich an Kathrin Wildner (2003) orientiert, die diese Form der Beobachtung für den Zócalo – den zentralen Platz in Mexico City – mit dem Ziel anwendete: „ein Register von Merkmalen eines spezifischen Ortes zu erstellen“ (ebd., S. 28). Folgende Beobachtungsschritte waren für meine systematische Beobachtung essenziell: Zunächst stand die physische und materielle Struktur des Ortes im Zentrum der Beobachtung, also die Infrastruktur am Platz, die städtebaulichen Elemente und deren funktionale Gestaltung. Darüber hinaus gibt es, zweitens, auch Elemente im städtischen Raum, die aus keiner ursprünglichen stadtplanerischen Absicht entstanden sind: Müllreste, Zigarettenkippen, Kunst, etc. Diese Dinge sind Spuren der (spontanen) Aneignung der Orte. Darüber hinaus sind es, drittens, aber auch spezifische Stimmungen, die den Ort einnehmen, wie Geräusche, Gerüche oder auch Wetterbedingungen.
5.2 Methodologischer Rahmen
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Viertens sind die Akteur*innen zu erwähnen, die den Ort mittels ihrer Praktiken einnehmen und den Raum beleben. Dabei unterscheiden sich die Praktiken der Bewohner*innen je nach Nutzungscharakter, aber auch nach Tageszeit und Tagesform. Jeder Ort hat eine bestimmte Zeitfunktion. So unterscheiden sich die Tätigkeiten und Nutzungen je nach Uhrzeit. Am frühen Morgen war der Platz meistens sehr leer und vor allem durch funktionale Nutzung geprägt (Queren des Platzes, Menschen auf dem Weg von A nach B). Erst gegen neun Uhr versammelten sich einzelne Personen oder Gruppen auf dem Platz, die sich auch länger dort aufhielten. Richtig voll wurde es erst um die Nachmittagszeit, wenn die Kinder und Jugendlichen auf den Platz kamen. Abends wirkte der Platz auf mich manchmal etwas düster und leer, was aber auch mit der Struktur des Platzes zusammenhängt. Der Lessingplatz hat sehr viele Ecken und Nischen, sodass nicht direkt ersichtlich ist, wie viele Personen sich auf dem Gesamtplatz aufhalten. Teilnehmende Beobachtung „Teilnehmende Beobachtung dient als Kürzel für ein ständiges Hin- und Herlaufen zwischen dem Inneren und dem Äußeren von Ereignissen. Einerseits greift sie mit Entschiedenheit nach dem Sinn spezifischer Vorkommnisse und Gesten, andererseits tut sie einen Schritt zurück, um diese Bedeutungen in weiteren Kontexten zu situieren“ (Clifford 1993, S. 126).
Durch meine systematischen Beobachtungen hatte ich allmählich einen Überblick, welche Personen und Gruppen den Platz auf welche Weise nutzen. Durch meine Beobachter*innenposition fiel ich im umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz auf. Ich wurde angesprochen und gefragt, was ich denn auf dem Platz mache. Auf diese Weise kam ich mit vielen Raumnutzer*innen ins Gespräch. So sprachen mich auch die damaligen Streetworker*innen an, die ich zuvor schon längere Zeit einfach nur beobachtet hatte. Einmal im Gespräch besuchte ich die Streetworker*innen bei meinen Runden über den Platz regelmäßig, um mit ihnen Gespräche über den Stadtteil oder auch einfach nur über den Alltag auf dem Platz zu führen. Daneben besuchte ich zwei Vereine im umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz, einen davon über einen längeren Zeitraum relativ regelmäßig. Diese Vereine boten viel Programm, u. a. auch auf dem Lessingplatz, sodass ich einen guten Einblick in das Vereinsleben im urbanen Raum Lessingplatz erlangen konnte. Auf diese Weise fand ich eine Reihe von Interviewpartner*innen, die ich gezielt zum Leben im Quartier befragte. Dadurch, dass der Lessingplatz ein öffentlicher Raum ist, hatte ich kaum Schwierigkeiten bei meiner Beobachtung. Ich konnte mich relativ unauffällig an unterschiedlichen
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5 Forschungsdesign
Stellen auf dem Platz niederlassen. Dennoch gab es einige Situationen – vor allem wenn Personen mich dabei beobachteten, wie ich mir Notizen machte – in denen ich fragend und irritiert angeschaut wurde. Letztlich kam ich mit vielen dieser Personen ins Gespräch. Irgendwann, so mein Gefühl, wurde ich einfach als unhinterfragter Teil des Platzes wahrgenommen. Gesprächsprotokolle Bei den meisten Interviews habe ich ein Aufnahmegerät genutzt und mir darüber hinaus handschriftliche Notizen gemacht. Die Mitschrift war nicht nur zur Datensicherung von großer Bedeutung, sondern auch, weil es nach der offiziellen Interviewsituation oft noch zu informellen informativen Gesprächen kam. Nach jedem Interview wurde von mir ein Postskriptum verfasst, damit wichtige Eindrücke nicht verloren gehen oder zu weit abstrahiert werden (vgl. Flick 2007, S. 248). Doch einige Interviewpartner*innen waren durch das Transkriptionsgerät verunsichert und baten mich entweder von vorneherein oder mitten im Gespräch, das Gerät auszuschalten. In diesen Fällen war ich natürlich stärker auf meine Gesprächsnotizen angewiesen, mit deren Hilfe ich daher im Anschluss an die Interviews, wenn die Interviewsituation noch sehr präsent war, Gesprächsprotokolle angefertigt habe. Darüber hinaus habe ich zahlreiche Gespräche en passant auf dem Platz geführt. Ich habe die Gespräche bewusst gesucht, da es ein Ziel der Beobachtungen war, mit den Menschen auf dem Platz ins Gespräch zu kommen. Diese Gespräche habe ich in meine Beobachtungsprotokolle eingebaut, sofern sie nicht einen längeren Zeitraum eingenommen haben. Bei längeren Gesprächen habe ich ein separates Gesprächsprotokoll erstellt. Teilnarrative/leitfadengestützte Interviews Eine besondere Rolle innerhalb meiner Feldforschung spielen teilnarrative, leitfadengestützte Interviews. Insgesamt sind 24 teilnarrative/leitfadengestützte Interviews in den Forschungsprozess eingegangen. Sie bieten im geplanten Forschungsfeld die Möglichkeit, Situationsdeutungen, Handlungsmotive und Alltagstheorien über das jeweilige Feld zu erheben (vgl. Flick 2007). Um die Praxen der Verortung, also die Konstruktion von Zugehörigkeiten, zu untersuchen, boten sich teilnarrative Interviews mit den Quartiersbewohner*innen an, mit dem Ziel „erfahrungsnahe, subjektive Aussagen über Ereignisse und biografische Abläufe“ im Hinblick auf die Verortungsprozesse generieren zu können (Diekmann 2003, S. 449; vgl. auch Flick 2007, S. 228). Mit der teilnarrativen Komponente beziehe ich mich auf den ‚biografischen Narrationsprozess‘, der den Interviews stets inhärent war.
5.2 Methodologischer Rahmen
137
Darüber hinaus habe ich Gruppeninterviews mit jeweils zwei Paaren geführt, die gerade erst nach Oberbilk gezogen sind. Diese Interviews unterschieden sich in ihrer Struktur – bis auf die Anzahl der Interviewbeteiligten – nicht von den Einzelinterviews. Auch Interviews mit Expert*innen (Pädagog*innen, Repräsentant*innen kommunaler Instanzen und Institutionen) boten sich an, um Hinweise und Stellungnahmen zur Einschätzung der Situation im urbanen Raum zu gewinnen. Für alle Interviews, ob mit Bewohner*innen oder Expert*innen, wurde ein Interviewleitfaden erstellt, der den zweiten Gesprächsteil strukturierte und mir die Möglichkeit gab, abschließend gezielt Fragen zu stellen. Meistens wurden die Fragen jedoch bereits im Laufe des Interviews beantwortet, sodass ich mich nicht immer strikt an den Leitfragen ‚abarbeiten‘ musste. Durch die Interviews erhielt ich Informationen über die Lebensgeschichte im Kontext der lebensweltlichen Positionierung, sprich über vor Ort relevante Themen und erfahrungsnahe, personale Informationen über urbane Lebens- aber auch Zwischenräume. Die zuvor auf Basis der Beobachtung gemachten Einschätzungen über die Alltagspraxis und über die Kontexte, die sie in Rechnung stellen, wurden durch die Interviews angereichert und verdichtet. Die narrationsgeleiteten Interviews und teilnehmenden Beobachtungen können meines Erachtens zu einer unmittelbaren, fast mikroskopisch feinen Rekonstruktion des Forschungsfeldes beitragen und verhelfen, zu expliziten und latenten Sinndeutungen und Kontextualisierungen. Ich begann jedes teilnarrative Interview mit einer offenen Erzählaufforderung, die darauf abzielte, dass die Gesprächspartner*in etwas über sich und ihre biografischen Hintergründe erzählte. Darüber hinaus gab ich mittels vorbereiteter Leitfragen Impulse zur Lebenssituation, zum Alltag im Quartier, zur Nutzungsweise des öffentlichen Raumes, zu Routinen und tagtäglichen Handlungen, zur individuelle Einschätzung vom Leben im Quartier und zu persönlichen Zugehörigkeiten und Zukunftsperspektiven in Bezug auf den Stadtteil. Nach meiner Erzählaufforderung waren die Reaktionen der Interviewpartner*innen sehr unterschiedlich. Mir fiel auf, dass einige sofort mit der Erzählung ansetzten, andere Interviewpartner*innen wiederum unsicher waren, bzw. trotz Aufforderung nicht wussten, wie sie beginnen sollten. Hier war eine Abweichung vom Ideal des narrationsgeleiteten Interviews, nach dem die/der Erzählende selbst entscheidet, wann und wo sie/er ihre/seine Erzählung beginnt, notwendig, indem ich eine Hilfestellung gab, um in die Gesprächssituation einzuleiten. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen, wird es auch nachvollziehbar, warum manche Interviews mehrere Stunden dauerten, andere jedoch nach ca. zwanzig Minuten abgeschlossen waren.
138
5 Forschungsdesign
Ich habe mich immer an die Interviewsituation und den/die Interviewpartner*in angepasst. Nicht jede/r kann und/oder möchte gleichermaßen erzählen. Manchmal waren auch die Voraussetzungen für eine angenehme Interviewatmosphäre nicht gegeben, da sich die Befragten bspw. im öffentlichen Raum oder im Café treffen wollten. Bei den Interviews ging es mir nicht darum, die Methode allumfassend einzuhalten, sondern Erfahrungen und Erlebnisse der Gesprächspartner*innen mitzunehmen. Wichtig war es mir, das Interview so angenehm wie möglich zu gestalten und nicht die Interviewsituation in den Vordergrund zu stellen, sondern vielmehr die Begegnung und das Treffen an sich (siehe Tab. 5.1: Übersicht über den Datensatz). Erzählen bedeutet Identität zu konstruieren Gerade bei narrationsgeleiteten Interviews ist der Aspekt der retroperspektivischen Deutung relevant, auf den ich im Folgenden kurz eingehen möchte. Die Bedeutung, die die einzelnen Erfahrungen für die Interviewpartner*innen haben, wird durch den Erzählvorgang offengelegt (vgl. Becker 2001, S. 38). Dabei kommt der Deutung der Erfahrung eine entscheidende Rolle zu. Ohne Deutung sind Erlebnisse „sinnlos“ und „nichtssagend“ (Schiffauer 2000, S. 235). Gleichermaßen bleiben Deutungen, die nicht aus eigenen Erlebnissen heraus generiert werden, auf einer oberflächlichen Ebene. So beruht die Erfahrung auf dem Erlebnis und der Deutung dieses Erlebnisses. Deutungen finden aber nie simultan in der erlebten Situation statt, sondern entstehen stets rückwirkend (vgl. ebd., S. 235). Dies bedeutet, dass die Gegenwart die Ausgangslage für die Rekonstruktion der Erfahrung ist. Im biografischen Erzählvorgang wird das Erlebte aus der Gesprächssituation, dem gegenwärtigen Standpunkt und der gegenwärtigeren Rekonstruktion heraus erläutert (vgl. Becker 2001, S. 39). Mit dem Rückblick auf die Vergangenheit werden Erlebnisse aufgegriffen, die den Zustand in der Gegenwart erklären. Dies ist von besonderer Relevanz, da Erfahrungen zu dem Zeitpunkt, an dem sie gemacht wurden, nicht dieselbe Bedeutung tragen wie zum späteren Erzählzeitpunkt (vgl. Schiffauer 2000, S. 235). Bei einer narrationsgeleiteten Erzählung steht daher nicht die chronologische Rekapitulation der Lebensgeschichte im Vordergrund, sondern die Herausstellung der „Geschichte des Ichs“, anhand der die Gesprächspartner*innen ihre Identität offenlegen und „in denen sie die Beziehung zwischen Identität und Lebensgeschichte bewusst ausdrücken und reflektieren“ (Becker 2001, S. 39 f.). Becker wirft die Frage auf, welchen Wert lebensgeschichtliche Erzählungen für die Forschung haben. Denn wenn jemand seine Geschichte erzählt, wisse man als Zuhörer nicht, was Wahrheit oder Lüge, Erlebtes oder Erzähltes ist (vgl. ebd.). Damit, so könnte man meinen, wäre das biografische Interview im Hinblick auf
5.2 Methodologischer Rahmen
139
den Validitätsanspruch wertlos. Um diesem Dilemma zu entgehen, bedarf es laut Becker, nur einer veränderten methodischen Sichtweise. Denn durch die eigenständige Gewichtung der Ereignisse und die damit einhergehende Formierung der Biografie können die Erzählstrukturen als rhetorische Konstruktion betrachtet werden. Im Vordergrund der Analyse muss die Frage danach stehen, wie die/der Einzelne ihre/seine Vergangenheit aus der Gegenwart heraus entwirft, und nicht, ob seine Aussagen wahr oder unwahr sind. Das narrationsgeleitete Erzählen wird damit zu einem persönliches „Identitätsstatement“: „Nicht die Biographie erklärt das Selbstbild, sondern das Selbstbild erklärt die Biographie“ (Schiffauer 2000, S. 237). Für die in der vorliegenden Arbeit verfolgte Fragestellung ist die Erzählung als Konstruktionsmoment der eigenen Identität, bzw. auch der eigenen Moment-zuMoment Herstellung von Kohärenz, zentral. Anhand teilnarrativer Interviews lässt sich herausfiltern, wie die Befragten ihren Alltag im urbanen Raum Lessingplatz einschätzen, warum sie dort leben und wie sie das Leben vor Ort wahrnehmen. Dabei deutet und bewertet das Individuum eigene Entscheidungen, aber eben auch öffentliche Diskurse, die den urbanen Raum und das Alltagsleben im Quartier mitbestimmen. Es wird in den biografischen Interviews also auch deutlich, wie das Individuum Bestätigungen für Entscheidungen und Begründungen für Handlungsweisen sucht. Dabei ist die Gegenwartsperspektive zentral, mit der die Personen aus der momentanen Situation heraus ihre Erfahrungen rekapitulieren und so einen retroperspektivischen Blick auf frühere Ereignisse werfen. Dahinter steht das Bedürfnis „die Vergangenheit in der Gegenwart sinnfällig und Identität als in sich konsistente Einheit eines Sinnzusammenhanges faßbar zu machen“ (Becker 2001, S. 38). Dokumentenanalyse Die Dokumentenanalyse bezieht schriftliche als auch bildliche Dokumente in den Forschungsprozesses ein: Dazu gehören eigene Fotografien, städtische Integrationskonzepte oder Statements lokal politischer Akteur*innen, Dokumente der Stadt Düsseldorf zur Stadt- und Quartiersentwicklung, Flyer von Veranstaltungen, Stadtteilinitiativen oder Vereinen, Artikel aus Lokalzeitungen oder überregionalen Zeitungen, Homepage-Ankündigungen sowie Sozialberichte über das untersuchte Quartier, bzw. den umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz. Die analysierten Dokumente werden als situiertes Wissen unterschiedlicher Akteur*innen und Repräsentationen sozialer Wirklichkeit gedeutet. Sie sind wichtig, um die Kontexte der alltäglichen Routinen in den Blick zu nehmen und die darauf bezogenen sozialen Systeme mit dem dort jeweils dominierenden Wissen, den Zuschreibungen und Sinn-Ordnungen transparent zu machen (vgl. Keller 2007). Die Analyse der Dokumente trägt dazu bei, ein dichtes Bild über
140
5 Forschungsdesign
den Hintergrund der auf der Vorderbühne erhobenen Befunde zu erlangen – sprich also das Verhältnis von Vorder- und Hinterbühne herauszuarbeiten. Übersicht über den in der vorliegenden Arbeit zitierten Datensatz2 Siehe Tab. 5.1. Tab. 5.1 Übersicht über den Datensatz Interviewpartner*innena
Zeit des Interviews
I1 Ella
01.02
I2 Lola und Martin
01.04
I3Vasi und Fine
01.10
I4 Alexander
00.45
I5 Birgit
00.21 (m. A)/01.20 (insgesamt)
I6 Lili
01.21
I7 Gabriel
00.49
I8 Tim
00.33
I9 Tomek
00.58
I10 Alma
00.35
I11 Klaus
00.40
I12 Gaja
00.26; 00.04
Mehrmalige Treffen/Gesprächeb I13 Interview: Adriano
00.32 (m. A); 01.15 (o. A.)
I14 Interview: Anton
02.15 (m. A.) 02.00; 00.20 (o. A.)
I15 Interview: Alu
00.52; 01.05 (o. A.)
Gesprächsprotokoll 1 (GP1) – Uwe
0.30/0.5/0.5/0.10 (o. A) (Fortsetzung)
2Insgesamt
habe ich im Rahmen meiner Feldforschung neben umfangreichen Feldnotizen 35 Feldprotokolle verfasst. In der Tabelle sind die Feldprotokolle aufgeführt, aus denen in der vorliegenden Arbeit zitiert wird, nicht aber darüber hinausgehendes Material, auch wenn es implizit natürlich in meine dichte Beschreibung eingegangen ist. Ich habe darauf geachtet, dass die teils sehr persönlichen Feldprotokolle keine Rückschlüsse auf Personen zulassen, da viele, der von mir in den Feldprotokollen aufgeführten Personen, regelmäßig im umgrenzten urbanen Raum Lessingplatz unterwegs sind und man als Lessingplatzbewohner*in erahnen kann, von welchen Personen die Rede ist.
5.2 Methodologischer Rahmen
141
Tab. 5.1 (Fortsetzung) Interviewpartner*innena
Zeit des Interviews
Expert*innen/Bildungsbeauftragte ExpertIn 1
00.54
ExpertIn 2
00. 51
ExpertIn 3
00.18
ExpertIn 4
01.24
ExpertIn 5 – Gesprächsprotokoll (GP 9)
01.30 (o. A.)
Gesprächsprotokolle Gesprächsprotokoll (GP 2) – Musaf
02.25; 00.30 (o. A.)
Gesprächsprotokoll (GP 3) – Anna
00.45 (o. A.)
Gesprächsprotokoll (GP 4) – Elran
00.25 (o. A.)
Gesprächsprotokoll (GP 5) – Anastasia
00.45 (o. A)
Gesprächsprotokoll (GP 6) – Adriano
01.15 (o. A.)
Gesprächsprotokoll (GP 7) – Anton
02.00 (o. A.)
Gesprächsprotokoll (GP 8) – Alu
01.05 (o. A.)
Feldprotokolle Feldnotizen (FN)c
(FN 1: 1. Oktober 2015, 15.00 Uhr), (FN 2: 15. Oktober 2015, 12.30 Uhr) (FN 3: 7. April 2016: 17.15 Uhr), (FN 4: 23. Mai 2016, 14.00 Uhr), (FN 5: 27. September 2015 19.00 Uhr)
Feldprotokoll (FP 1)
4. März 2015, 13.50–16.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 2)
11. März 2015, 12.50–15.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 3)
14. August 2015, 14.00–15.00, 19.00– 21.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 4)
16. April 2015, 12.00–14.50 Uhr
Feldprotokoll (FP 5)
18. Mai 2015, 13.00–15.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 6)
11. August 2015, 15.00–17.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 7)
3. Juni 2015, 15.00–18.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 8)
9. September 2015, 14.30–16.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 9)
13. September 2015, 13.00–16.00 Uhr (Fortsetzung)
142
5 Forschungsdesign
Tab. 5.1 (Fortsetzung) Interviewpartner*innena
Zeit des Interviews
Feldprotokoll (FP 10)
18. September 2015, 14.15–16.15 Uhr
Feldprotokoll (FP 11)
23. Mai 2015, 12.00–16.00 Uhr
Feldprotokoll (FP 12)
20.Mai 2015, 14h30–18.00 Uhr
Memo (Interaktion)d Abkürzungen: Alle Interviews wurden mit einem Aufnahmegerät aufgenommen, es sei denn es steht explizit o. A. (Ohne Aufnahme) dabei oder es gibt einen Wechsel (im Interview oder weil mehrere Treffen stattgefunden haben) den ich zur Verdeutlichung mit m. A. (Mit Aufnahme) markiert habe. GP = Gesprächsprotokoll, I = Interview, FP = Feldprotokoll, FN = Feldnotizen, M = Memo aAllen Interviewpartner*innen habe ich den Schutz der personenbezogenen Daten vor jedem Interview mündlich garantiert. Das bedeutet, dass die erhobenen Daten keine Rückschlüsse auf befragte Personen oder die besuchten Institutionen im Quartier zulassen. Selbst bei Interviewpartner*innen, die nicht zwingend eine Anonymisierung ihre Daten gefordert haben, habe ich mich schließlich für eine vollständige Anonymisierung entschieden. Vor allem zum Schutz der Personen, die beruflich im Quartier tätig sind (insb. Pädagog*innen, Expert*innen im Bereich der Stadtplanung/-entwicklung) ist die Anonymisierung relevant, auch wenn es für die Präsentation der Forschungsergebnisse zugleich nachteilig ist. Denn die Aussagen der unterschiedlichen Expert*innen stehen natürlich oftmals in Beziehung zur individuellen Funktion und Rolle im Quartier. Der Schutz der befragten Personen steht jedoch an oberster Stelle, sodass ich im Folgenden nur von Expert*innen (Ex) und Interviewpartner*innen (Ix) sprechen werde, ohne die Personen, bzw. deren Funktion im Quartier näher einzugrenzen. bMit einigen Interviewpartner*innen habe ich mich im Rahmen meiner Forschung mehrmals getroffen und entsprechend auch mehrere (informelle) Gespräche über den Stadtteil und das Leben im Stadtteil geführt. cZu den Feldnotizen gehören – zur vereinfachten Lesbarkeit/und Nachvollziehbarkeit in dieser Arbeit –szenische, kurze Beobachtungen, kurze Interaktionen oder Begegnungen, die im Rahmen des Forschungsprozesses entstanden sind und die ich nicht zu längeren Feldprotokollen verdichtet habe. dIm Laufe des Forschungsprozesses habe ich fünf Memos zu verschiedenen Themen, die sich im Zuge des Forschungsprozesses aufgetan haben, erstellt. Zitiert wird in dieser Arbeit letztlich nur ein einziges Memo.
5.3 Datenauswertung und -analyse
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5.3 Datenauswertung und -analyse Aufgrund des ausdifferenzierten und komplexen Untersuchungsdesigns ist vielfältiges Material in den Auswertungsprozess eingegangen: Daten über das Quartier (statistische Daten, Pressemitteilungen, Veröffentlichungen, Flyer und Statements zum Stadtteil), Feldnotizen und Gesprächsprotokolle sowie Interviews bilden das Fundament der Analyse. Meine Feldnotizen habe ich als dichte Beschreibungen in meine Feldprotokolle eingearbeitet und digitalisiert. Die Audiodateien habe ich mit dem Programm f4 wörtlich transkribiert. Meine Beobachtungs- und Gesprächsprotokolle sowie Interviewtranskriptionen habe ich mithilfe der Software MAXQDA ausgewertet und analysiert. Folgendermaßen bin ich dabei vorgegangen: Die Interviews wurden im Rahmen des Forschungsprozesses sukzessive transkribiert (mittlere Transkriptionsgenauigkeit).3 Ich habe nach dem vierten Beobachtungsprotokoll bereits mit dem offenen Kodieren begonnen und dabei ein eröffnendes und intensives Kodieren bevorzugt. Dies gab mir ein Gefühl für das Potenzial der Beobachtungsprotokolle in Bezug auf meine offenen Forschungsfragen. Anschließend habe ich die freie offene Kodierung aller Interviews, Feld- und Gesprächsprotokolle durchgeführt. Das offene Kodieren ähnelt einem Puzzlespiel. Es gilt die Informationen, die man anhand der Kode-Notizen gesammelt hat, zu ordnen, ohne dem Material „deutende und ordnende Kategorien von außen aufzudrängen und überzustülpen“ (Schmidt 2010, S. 474). In diesem Prozess werden zunächst zahlreiche Kategorien gebildet, die schließlich Stück für Stück enger zusammengefügt werden. Die Feldnotizen erscheinen im ersten Moment als undifferenzierte Masse, die sich im Laufe des Kodierens allerdings immer weiter strukturiert. In Memos habe ich Ideen, Orientierungen und Denkanstöße formuliert, die im weiteren Forschungsprozess, also während der nächsten Beobachtungen und Interviews, berücksichtigt werden sollten. Aus dem Material heraus ergaben sich Rückgriffe auf bestimmtes theoretisches Hintergrundwissen, „um die theoretische Sensibilität zu erhöhen und dem weiteren theoretischen Sampling eine Richtung zu geben“ (Strauss 1996, S. 179). In den Planungs-Notizen für die nächsten Beobachtungen und Interviews habe ich eine Richtung und Fokussierung für die weitere Datenauswahl festgelegt, die in den nächsten Interviews und Beobachtungen beachtet werden sollte. Anschließend folgte das axiale Kodieren. Hier habe ich Codes zu größeren Kategorien angeordnet und selektiert,
3Die in dieser Arbeit aufgeführten Interview- und Gesprächsausschnitte wurden für die Veröffentlichung sprachlich geglättet.
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5 Forschungsdesign
einige Codes, die mir doch unwichtig erschienen, aus meiner Liste entfernt oder weitere Subcodes gegründet. Daraufhin habe ich die einzelnen Überkategorien zueinander in Beziehung gesetzt. Das Erstellen von Grafiken hat mir dabei sehr geholfen, da ich mich so noch einmal der wichtigsten Über- und Unterkategorien vergewissern konnte. Dadurch konnte ich mir erneut die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Ereignissen und dessen Folgen und Ursachen vor Augen führen. Sowohl Memos als auch Diagramme haben sich als elementare Elemente im Analyseverfahren herausgestellt. Im Laufe der Forschung gewannen die Memos und Diagramme an Komplexität, Umfang, Dichte, Genauigkeit und Struktur. Letztlich bin ich anhand der selektiven Kodierung zu zentralen Kernpunkten meiner Forschung gelangt. Beim selektiven Kodieren werden weitere Konzepte rund um die Kernkategorie integriert und Kategorien angereichert, die noch weiterer Entwicklung und Verfeinerung bedürfen. Memos und Diagramme dienen nun als Spiegel der sich entwickelnden Theorie. „Die Diagramme bei selektivem Kodieren veranschaulichen die Tiefe und Komplexität der Theorie. Das Revidieren und wiederholte Erstellen eines integrativen Diagramms geht Hand in Hand mit der Konstruktion der konzeptuellen Dichte, die für das selektive Kodieren charakteristisch ist“ (Strauss 1996, S. 191).
Beim wiederholten Lesen der Memos und beim anschließenden Sortieren habe ich herausgearbeitet, wie die „Kategorien rund um eine Kernkategorie“ zusammengehören (ebd.). Jedoch war die Kategorienbildung nicht allein Teil des Analyseprozesses. Vielmehr war der Auswertungsprozess durch verschiedene analytische „Suchbewegungen“ (Geertz 1987, S. 286 f.) gekennzeichnet, aus denen sich allmählich Strukturen, Muster und Zusammenhänge ergaben: „Je länger man liest, desto mehr werden Ereignisse und Personen, die während des Protokollierens noch eine enge Bindung an persönliche Erinnerungen hatten, nun primär zu textuellen Objekten, die bestimmte theoretische und argumentationsstrategische Möglichkeiten bieten. Personen werden zu >FigurenSzenen