Das Selbst als Netzwerk: Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag [1. Aufl.] 9783839415993

Seit Michel Foucault werden mit »Technologien des Selbst« Praktiken bezeichnet, mit denen die Menschen derart auf sich u

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German Pages 228 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Technologien des Selbst im Alltag: Eine Einführung in relational-materielle Perspektiven
Die materielle Realität der Virtuellen Treppe: Ethnographische Gang-Analyse von Gesunden und Schlaganfall-Patienten in der Reharobotik
Lernen zu mukoviszidieren: Translationen bei der Stabilisierung einer therapeutischen Beziehung
Mit implantierter Kontinuität zu imaginierter Neutralität: Transformation mit dem Hormonimplantat
Körper mit Profilen: gayromeo.com: Eine Dating-Plattform als Mediator und Quasi-Matchmaker?
„Umrechnen auf täglich“: Wie in Pflegegutachten Zahlen entstehen
Gesund, bewusst und richtig: Ethnographie einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation
Medizinische Praxis in einem Zentrum für Brustkrebserkrankungen: Somatische Individualität und Biosozialität im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Kollektivbildung
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Das Selbst als Netzwerk: Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag [1. Aufl.]
 9783839415993

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Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk

Band 12

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.)

Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Lydia-Maria Ouart Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1599-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Technologien des Selbst im Alltag: Eine Einführung in relational-materielle Perspektiven Michalis Kontopodis & Jörg Niewöhner | 9 Die materielle Realität der Virtuellen Treppe: Ethnographische Gang-Analyse von Gesunden und Schlaganfall-Patienten in der Reharobotik Stefanie Zimmer | 25 Lernen zu mukoviszidieren: Translationen bei der Stabilisierung einer therapeutischen Beziehung Stefan Reinsch | 55 Mit implantierter Kontinuität zu imaginierter Neutralität: Transformation mit dem Hormonimplantat Nora Walther | 85 Körper mit Profilen: gayromeo.com: Eine Dating-Plattform als Mediator und Quasi-Matchmaker? Markus Quetsch | 109 „Umrechnen auf täglich“: Wie in Pflegegutachten Zahlen entstehen Lydia-Maria Ouart | 135 Gesund, bewusst und richtig: Ethnographie einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation Denny Chakkalakal | 167

Medizinische Praxis in einem Zentrum für Brustkrebserkrankungen: Somatische Individualität und Biosozialität im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Kollektivbildung

Mirjam Staub | 197

Vorwort J ÖRG N IEWÖHNER & M ICHALIS K ONTOPODIS

Am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin werden seit über zehn Jahren so genannte Studienprojekte durchgeführt. Studienprojekte sind dreisemestrige Arbeitsgemeinschaften, die dem Konzept des ‚forschenden Lernens‘ folgen. Sie werden zwar von Lehrenden initiiert, erhalten ihre Qualität, Kreativität und Lebhaftigkeit aber vor allem durch die Eigeninitiative und den Enthusiasmus der Studierenden. Die Vielfalt, die durch einen solchen Ansatz entsteht, spiegelt sich auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes wieder. Unter dem Titel „Transformationen des Selbst“ ging es im Projekt zunächst unabhängig von konkreten Fallstudien um die Erarbeitung eines spezifischen Zugangs: einer relational-materiellen Perspektive im Sinne der Arbeiten von Donna Haraway, Bruno Latour, John Law und anderen. Ausgehend von diesem Ansatz haben sich die Studierenden dann ihre eigenen Fallstudien, Zugänge und Schwerpunkte gesucht, haben ihre eigenen empirischen Arbeiten durchgeführt und erste Aufsatzentwürfe vorgelegt. Diese Entwürfe wurden in ungezählten Auseinandersetzungen mit den Herausgebern diskutiert, vor allem aber auch im Austausch untereinander so lange überarbeitet, bis die Versionen vorlagen, die in diesem Band abgedruckt sind. An mancher Stelle erscheinen die Texte vielleicht ungestümer, als man dies von Sammelbänden etablierter Wissenschaftler_innen gewohnt ist. In ihrer Gesamtheit allerdings bieten sie eine Vielzahl von empirischen Einblicken, ungewöhnlichen Problematisierungen und überraschenden Ideen, die, so hoffen wir als Herausgeber, für die Leserschaft eine Bereicherung darstellen werden. Berlin, Dezember 2009

Technologien des Selbst im Alltag Eine Einführung in relational-materielle Perspektiven J ÖRG N IEWÖHNER & M ICHALIS K ONTOPODIS

Mit Beginn der 1990er Jahre kommt eine Entwicklung zu ihrer vollen Entfaltung, die den Geistes- und Sozialwissenschaften insofern neues Terrain eröffnet, als sie die wechselseitige Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen symmetrisch konzipiert. Paradigmatisch für diese Entwicklung stehen zwei Monographien: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen von Donna Haraway (1995a) und Wir sind nie modern gewesen von Bruno Latour (1995). Während Haraway vor allem eine Kritik der dichotomen Konzeptionalisierung von Natur und Kultur im Blick hat und sich dabei auf anthropologische wie wissenschaftshistorische Arbeiten stützt (z.B. Knorr-Cetina 1984, Hagner et al. 1994; Rheinberger 1992; Rheinberger/Hagner 1993), steht für Latour zunächst die kategorische Unterscheidung zwischen dem ‚Sozialen‘ und verschiedenen Formen von Technik im Vordergrund. Beide jedoch sehen die Lösung ihres Problems letztlich in Praxiskonzepten, die menschliche und nichtmenschliche Akteure bzw. Handlungsträgerschaft symmetrisch konzipieren: materiell-semiotische Praxis und Akteur-Netzwerke. Seit diesen wegweisenden Monographien sind die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen zunehmend und auf verschiedenste Art und Weise symmetrisch untersucht worden (Beck 1997; Haraway 1995b; Kneer et al. 2008; Latour 1996; 2001; 2007; Rheinberger et al. 1997). Nach den diskursiven, bildlichen und performativen ‚turns‘ (Wulf 2004) etabliert sich somit durch diese hier skizzierte Entwicklung eine Perspektive, die häufig als ‚relational-materiell‘ bezeichnet wird

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(Law/Hassard 1999). Diese Perspektive stellt sowohl die Konstitution von Subjekt und Objekt als Entitäten in Frage als auch die herkömmliche Verteilung von Handlungsträgerschaft auf eben diese Entitäten. Der relationale Materialismus markiert eine prozessuale Perspektive, die Handlungsträgerschaft nicht a priori lediglich menschlichen Subjekten zuordnet, sondern prinzipiell symmetrisch auf menschliche und nicht-menschliche Akteure verteilt und als jeweils in spezifischen Praxen aktualisiert konzipiert. 1 Der Soziologe und Wissenschaftsforscher John Law benennt zwei Grundannahmen eines solchen relationalen Materialismus: (1) Im Rekurs auf Semiotik wird zunächst davon ausgegangen, dass die Formen und Attribute aller Entitäten immer durch die Beziehungen zu anderen Entitäten produziert werden. Sie sind relational zu verstehen. Diese Relationalität der Entitäten wird nicht nur auf linguistische Phänomene angewandt, sondern im Sinne einer Semiotik der Materialität auf jede Art von Phänomen ausgedehnt. 2 (2) Diese Form der Relationalität verweist auch auf die zentrale Stellung von Performativität 3 . Nicht nur gewinnen die Entitäten ihre Form und Attribute durch Beziehungen, sondern sie werden performiert in, durch und mit diesen Beziehungen (Law 1999). Phänomene existieren also in relevanter Weise überhaupt nur so, wie sie in spezifischen Praxisformen aufeinander bezogen sind bzw. sich beziehen. Diese Perspektive richtet den Blick auf das Unfertige, das Unsichere und die Reversibilität von alltäglichen Ordnungen. Im Prinzip kann jede Be-

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Als Vorfahren dieser ‚Wende‘ in den Sozialwissenschaften können die psychologischen Arbeiten von Vygotsky (1978/1930) und Leont’ev (1978) wie auch die philosophischen Positionen von James (1904) und Dewey (Hickman 2004) gesehen werden. Zu einem erweiterten Kreis von Vorläufern müssen ebenfalls naturphilosophische und prozessontologische Positionen gezählt werden, die gegen Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts versucht haben, etablierte Dualismus zu überwinden; insbesondere zwischen Natur und Kultur (z.B. Buchanan 2008; Koutroufinis 2007; Latour 2007; Stengers 2002).

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Hierin zeigt sich die Nähe des relationalen Materialismus zu anthropologischen Theoriesträngen, die davon ausgehen, dass Phänomene vor allem auch dadurch Bedeutung erlangen, dass sie durch (Alltags)Praxen zueinander in Beziehung gesetzt werden.

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Zu einer plausiblen Unterscheidung von Performativität und Performanz siehe Schuegraf (2008).

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ziehung immer auch anders aktualisiert werden. Daher fragt der relationale Materialismus vor allem nach den kontingenzreduzierenden Ordnungsmechanismen, die spezifische Konstellationen stabilisieren und bestimmte Dualismen sichtbar machen: Wie wird Beständigkeit erreicht? 4 Das ‚Selbst‘, um das es in den Beiträgen dieses Bandes vor allem geht, stellt aus relational-materieller Perspektive ebenfalls keine Entität dar. Vielmehr wird jedes ‚Selbst‘ in einem Netz von Beziehungen immer wieder neu produziert. Im Gegensatz zu vielen gängigen Selbstkonzepten der Sozialforschung hat es daher weder eine Zeitlichkeit in sich (wie etwa in den Identitätstheorien von Freud oder von Erikson: Cole 1971; Erikson/Hügel 1966), noch lässt es sich als klar definierbares System begreifen, welches zu einem Minimum von Tätigkeit tendiert, wie beispielsweise in der Luhmannschen Systemtheorie (Luhmann 1987). Das Selbst stabilisiert sich nicht nur in Beziehungen zu anderen Subjektivitäten (Mead 1968), 5 sondern auch in Beziehungen zu Objektivitäten (Law/Hassard 1999; Law/Moser 2003). Parasiten, Rhizome, Akteur-Netzwerke und Cyborgs sind dabei Metaphern, die das Selbst als kontingente und mannigfaltig verschränkte Prozesse charakterisieren (Deleuze/Guattari 1980/1987; Haraway 1995c; 1997; Kneer et al. 2008; Latour 1999; Serres 1980/1982). Diese Metaphern sind vor allem dazu genutzt worden, das ständige materiell-semiotische ‚Hin-und-her-Schieben‘ der Grenzen des Körpers zu problematisieren. Foucault hat hierfür den Begriff Technologien des Selbst entwickelt, der nicht nur die diskursiven Praxen der Konstitution des Selbst bezeichnet, sondern auch ihre materiellen Aspekte: Die Überwachung des Selbst in staatlichen Institutionen setzt eine bestimmte Architektur voraus (Foucault/Seitter 1976) und das Schreiben von Tagebüchern ist nicht ohne das Objekt ‚Tagebuch‘ zu denken (Martin et al. 1993). Besonders

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Diese ontologisch-epistemologischen Grundannahmen rekurrieren auf die Semiotik von Peirce und die Prozessphilosophie von Whitehead vom Anfang des 20. Jahrhunderts und markieren damit einen Bruch mit der kontinentalen ‚Substanzphilosophie‘, die bisher weite Teile der Sozialforschung untermauert hat (Pape 1988; Whitehead 1978/1929).

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Weiterführend hierzu sind Ansätze aus der Sozial- und Kulturpsychologie (Gergen 1996; 2002; Hermans/Kempen 1993; Simão/Valsiner 2007) wie auch aus der Soziologie (Goffman 1971).

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anschaulich wird diese notwendige Verschränkung von semiotischen und materiellen Aspekten des Selbst in den zahlreichen Analysen von ‚Biopolitik‘ (Foucault 1982; 1986; Lemke 2008; Rose 2006). In den letzten etwa zehn Jahren sind überwiegend im englischsprachigen Raum eine Reihe von Arbeiten entstanden, die Körperpraxen z.B. der Reproduktion, des Altwerdens, des Krank- und Gesundseins oder der Behinderung aus relational-materieller Sicht erforschen. 6 In der deutschsprachigen Fachliteratur setzt diese Entwicklung mit einer gewissen Verzögerung ein (z.B. Beck 2005; Knecht 2006; Niewöhner et al. 2008). Der vorliegende Band nimmt diese Anfänge auf und entwickelt sie mit Blick auf medizinische und technologische Eingriffe in Körper und körpernahe Praxen (Warneken 2006).

B EITRÄGE ZU EINER RELATIONAL - MATERIELLEN P ERSPEKTIVE IN DIESEM B AND Relationaler Materialismus hat zumindest zwei wichtige methodologische Konsequenzen: Erstens folgt er einem symmetrischen Zugang und zweitens wird besonderes Augenmerk auf Praxis gerichtet. Der symmetrische Zugang ermöglicht eine Unterwanderung der kategorischen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, die viele als kennzeichnend für westliche Modernen identifiziert haben (Latour 1995). Als solche bestimmt diese Trennung vor allem wissens- und technologiebasierte Untersuchungsfelder. Die Fähigkeit, diese Dualismen von Subjekt und Objekt oder allgemeiner von Natur und Kultur zu reproduzieren, gilt als Ausweis einer modernen, d.h. vernünftigen, reflektierten und produktiven Haltung und Organisation.

6

Siehe z.B. zur Analyse von technoscience Asdal et al. (2007); zu AIDS und der Arbeit von Patientenorganisationen Epstein (1996); zur Entwicklung der Biowissenschaften Franklin/Lock (2003); zu Hirntod und Organtransplantation im Kulturvergleich Lock (2002); allgemeiner zu kritischen medizinanthropologischen Perspektiven auf Körper und körpernahe Praxen Lock/Farquhar (2007); zum weiblichen Körper in der Reproduktionsmedizin Martin (1987); zur Produktion multipler Körper in klinischen Praxen Mol (2002) oder zur Praxis der Amniozentese und ihren sozialen Auswirkungen Rapp (1999).

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Viele Ansätze aus einer sozialkonstruktivistischen Tradition laufen Gefahr, diese Dualismen unter umgekehrten Vorzeichen zu reproduzieren. Sie implizieren ein präformiertes Soziales. Der relationale Materialismus hingegen versteht materiell-semiotische Praxis als die grundlegende analytische Einheit und untersucht diese mittels ethnographischer Methoden. Diese Perspektive bietet eine wichtige Alternative gerade in Feldern mit einem hohen Reflektionsgrad (Marcus 2008), da sie auf eine genaue Beschreibung von Ereignissen und Aktivitäten abzielt, statt auf die Beschreibungen dieser Ereignisse durch die beteiligten Akteure (Mol 2002). Praxiographisches Arbeiten eröffnet damit erstens eine wichtige Möglichkeit, den vielen Unstimmigkeiten, Variationen und Widersprüchen von moderner Wissensarbeit auf die Spur zu kommen. Zweitens ermöglicht es, der Materialität der Praxen in der sozialwissenschaftlichen Analyse gerecht zu werden und die Eigenschaften konkreter Objekte zu berücksichtigen (Mol 2002; 2008; Mol/Law 2004; Moser 2008). Da eine solche Analyse Wissen aus anderen Fachdisziplinen wie z.B. den Lebenswissenschaften voraussetzt, und außerdem Erfahrungswissen von TechnologieNutzer_innen oder von Patient_innen miteinbeziehen soll, kommen häufig auch ethnographische und Experteninterviews als Forschungswerkzeug zum Einsatz. Eine relational-materialielle Perspektive ermöglicht es den Sozialwissenschaften, in einen Dialog mit den Natur-, Lebens- und Technikwissenschaften zu treten und durch Alltagsethnographien zur Herstellung von transdisziplinären Wissensbeständen beizutragen. Exemplarisch dafür sind in diesem Band sowohl der Beitrag von Stefanie Zimmer als auch der Beitrag von Stefan Reinsch, die sich beide explizit der Lösung offener Fragen anderer Disziplinen und Praxisfelder widmen. Zimmers Beitrag Die materielle Realität der Virtuellen Treppe: Ethnographische Gang-Analyse von Gesunden und SchlaganfallPatienten in der Reharobotik wendet sich der Problematik der Gangrehabilitation nach einem Schlaganfall zu. Die Analysen ihrer einjährigen Feldforschung in der Reharobotik zu den Gangmaschinen GT1, HapticWalker und Lokomat wie auch ihre eigenen KörperErfahrungen weisen darauf hin, dass der Gang im Sinne des symmetrischen Ansatzes der Akteur-Netzwerk-Theorie als punktualisiertes Netzwerk begriffen werden kann. Mit Hilfe des praxiographischen Ansatzes des „Doing Body“ (Mol/Law 2004)

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untersucht Zimmer, inwiefern die Muskelaktivität beim Treppensteigen mit dem HapticWalker Aufschluss über den TherapieErfolg geben kann. An einem konkreten Fall, bei dem ein Gesunder auf der Maschine gehen lernt, wird aus einer vergleichenden Perspektive argumentiert, dass das aktualisierte Muster nicht einer Treppe als Objekt, sondern einer personenspezifischen Technik entspricht, es jedoch der Artikulation verkörperten Wissens bedarf, um die Mannigfaltigkeit sowie den relationalen und kontingenten Charakter der emergenten Ontologie des Ganges zu begreifen. In seinem Beitrag Lernen zu mukoviszidieren: Translationen von Jugendlichen und Therapeuten bei der Stabilisierung einer therapeutischen Beziehung widmet sich Reinsch der Thematik des Lebens mit Mukoviszidose. Auf der Basis der Soziologie der Translation beschreibt er, wie die Herstellung und Stabilisierung einer therapeutischen Beziehung zwischen Patient und Ärztin gezielt die Grenzen zwischen Krankenhauswelt und Lebenswelt problematisiert und bedingt auflöst. Durch diese Auflösung wird Leben mit Mukoviszidose zu einer medizinischen Lebensform. Diese Perspektive deutet ebenfalls an, wie eine behandlerzentrierte Konzeption – „Compliance mit einem Therapieregime“ – zugunsten einer partnerschaftlichen Konzeption – „Verhandlung der Therapie“ – verändert werden kann. Der Frage nach der Veränderung und Erweiterung des menschlichen Körpers durch technische und medizinische Interventionen widmet sich auch der Beitrag von Nora Walther. Vor dem Hintergrund medizinanthropologischer und kulturhistorischer Frauenforschung untersucht Walther im Kapitel Transformation durch ein kontrazeptives Hormonimplantat: Mit implantierter Kontinuität zu imaginierter Neutralität hormonelle Verhütung durch das ‚Stäbchenimplantat‘. Durch die kontinuierliche Abgabe von Etonogestrel, einem Hormon aus der Gruppe der Gestagene, wirkt dieses Implantat verhütend. In Interviews mit Nutzerinnen, gynäkologischen Fachärzt_innen und Informationen von Pharmafirmen und Internetforen untersucht die Autorin verschiedene Metaphern über Hormone z.B. als ‚selbst agierende‘ Instanzen oder als ‚Haushalt‘. Sie analysiert die Wirkung des Implantats auf die Selbstwahrnehmung der Nutzerinnen und entwirft das Konzept der ‚imaginierten Neutralität‘, um eine spezifische Form der Geschlechtsidentität zu bezeichnen.

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Der Prozess, den Zimmer, Reinsch und Walther charakterisieren, ist vor allem als materielles Werden zu verstehen. Es geht nicht vornehmlich um postmoderne Identitäten oder nicht-lineare biographische Erzählungen (siehe z.B. Allolio-Näcke et al. 2005; Brockmeier 1999), sondern um materiell-semiotische Praxen (Haraway 1997), die das Selbst in Beziehung zu Werkzeugen, Technologien, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten stellen und es dabei reterritorialisieren (Deleuze/Guattari 1980/1992). Dinge werden dabei konzipiert als „a stabilizing and destabilizing process of iterative intraactivity“ wie Karen Barad (2003: 821f.) schreibt. Der vermittelnden Rolle von Technologie in Reterritorialisierungsprozessen widmet sich auch Markus Quetsch – allerdings nicht in einem medizinischen Kontext. Vielmehr untersucht er in seinem Text Körper mit Profilen:gayromeo.com: eine DatingPlattform als Mediator und Quasi-Matchmaker? die Online-Datingund Social-Web-Plattform gayromeo.com als Vermittler spezifischer Prozesse des Kennenlernens und Kontakte-Pflegens. Durch die Analyse von Interviews mit Nutzern und die teilnehmende Beobachtung von Nutzung stellt Quetsch dar, wie Nutzer mit ihrem Online-Profil eine neue Handlungseinheit bilden, die sowohl auf der Ebene neuer Fähigkeiten als auch auf der Ebene neuer (Selbst)Wahrnehmung zum Tragen kommt. Besonderes Augenmerk wird hier auf die Plattform an sich gerichtet, die als ‚Quasi-Objekt‘ eine aktive Rolle bei der Kommunikation und Profilbildung spielt (Serres 1982/1980), d.h. auf spezifische Art und Weise stabilisierend wirkt. Dieser Frage nach der Stabilisierung heterogener Netzwerke – nun wieder in medizinischen Kontexten – wird auch in den Beiträgen von Lydia-Maria Ouart und Denny Chakkalakal nachgegangen. In ihrem Kapitel „Umrechnen auf täglich.“ Wie in Pflegegutachten Zahlen entstehen beschreibt Ouart anhand von teilnehmender Beobachtung, wie die Minutenangaben in den Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) zur Pflegebedürftigkeit von Patient_innen zustande kommen. Die Analyse deutet darauf hin, dass die Festlegung von Pflegestufen keine mechanische Implementierung des Sozialgesetzes ist. Stattdessen ist es für die Entstehung eines Gutachtens notwendig, dass eine Vielzahl von Aktanten in der Begutachtung kooperiert. Die Gutachterinnen des MDK bringen außerdem ein spezifisches Erfahrungswissen in die Gutachten ein und transformieren die vielschichtigen Aspekte des Alltagslebens der

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Begutachteten durch drei Mechanismen – Fokussieren, Sequenzieren und Übersetzen – in zählbare Angaben. Anschließend daran untersucht Chakkalakal in seiner ethnographischen Studie Gesund, bewusst und richtig: Ethnographie einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation den Versuch der Lebensstilveränderung innerhalb einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation. Neben einer Beschreibung der Implementierung und Stabilisierung einer Gesundheitsvorstellung über die Begriffe Risiko und Wahrscheinlichkeit geht es um die Produktion eines inhärent kranken Körpers über routinisierte Gesundheitspraxen wie Blutdruckmessen bzw. -beobachten. Patient_innen müssen innerhalb dieses Gesundheitskonzepts zu risikobewussten Personen und damit zu Risikomanagern ihres Körpers werden. Letztlich wird versucht, die Reha als Ort einer Selbstaktivierung von Patient_innen zu verstehen, zum einen in der Überwindung ihrer Krankheit und zum anderen im Kampf gegen routinisiertes Alltagsverhalten. Die Frage nach der Entstehung neuer Formen von Selbstinterpretation und Alltagspraxis durch medizinisches Wissen greift der Beitrag von Mirjam Staub auf: Medizinische Praxis in einem Zentrum für Brustkrebserkrankungen: Somatische Individualität und Biosozialität als Ergebnis von Differenzierungspraxen im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Kollektivbildung. Die Autorin untersucht hier die Frage, wie sich Selbstinterpretationen und soziale Alltagspraxen von Brustkrebspatientinnen als Folge medizinischer Praxis verändern. Ihre explorative Forschung in einem deutschen Zentrum für Brustkrebserkrankungen kombiniert teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews mit Patientinnen und Vertreter_innen der Klinik. Das Forschungsmaterial weist darauf hin, dass Individualisierungen einerseits als Folge biomedizinischen Wissens und der medizinischen Praxis zu betrachten sind. Sie werden andererseits von den Patientinnen gleichzeitig als Distanzierungen gegenüber der Krankheit praktiziert – und führen dadurch zu neuen Gemeinschaftsbildungen. Staub leistet hiermit einen kritischen Beitrag zur Diskussion über Biosozialität (Rabinow 1992) und weist darauf hin, dass somatische Individualität und Biosozialität als Folge dieser medizinischen Praxis in einem Spannungsverhältnis stehen, so dass es nicht zu einer Kollektivbildung über die gemeinsame Diagnose Brustkrebs kommt. Alle diese Beiträge verdeutlichen ebenfalls, dass Materie im Rahmen des relationalen Materialismus relational-prozessual konzipiert

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wird. Es geht um ‚Prozesse‘ und ‚Genealogien‘ und nicht um ‚Evolution‘ wie in naturwissenschaftlichen Epistemologien – auch nicht um ‚Logik der Geschichte‘ wie im Historischen Materialismus 7 . Die Analysen von Deleuze sowie die von Foucault, Braidotti, Haraway und anderen weisen darauf hin, dass die relational-materielle Annäherung keine ‚neue Mode‘ darstellt, sondern ein äußerst politisches Unternehmen ist (Barad 2003; Braidotti 1994; Law 2004). Dabei wird nicht in erster Linie Hierarchie oder Widerstand thematisiert, wie in einer Tradition der kritischen Theorie verbreitet (Horkheimer/Adorno 1969), sondern vor allem Normalisierung bzw. Homogenisierung oder auch Differenz, Flucht und Brüche (Braidotti 1994; Deleuze 1992; Foucault 1972; Haraway 2003). In den Vordergrund rücken ‚Politics of Life‘ und neue Formen von Sozialität, die das moderne Verständnis von Politik grundsätzlich in Frage stellen (Agamben 1998; Rabinow 1992; Rose 2006).

A USBLICK Das vorliegende Buch versucht, auf die in Psychologie und Sozialforschung etablierten Konzepte des ‚Selbst‘ ein etwas anderes Licht zu werfen. Dabei wird besonderes Augenmerk auf Materialitäten und deren Beziehungen gerichtet. Deleuze und Guattari folgend könnte man auf der Grundlage der in diesem Buch präsentierten Forschungen und theoretischen Analysen sagen, dass das ‚Selbst‘ als Rhizom zu konzipieren ist: „Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und Knollengewächse sind Rhizome

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Deleuze folgend entsteht aus der Perspektive der Dialektik nichts radikal Neues, sondern nur Rekombinationen vom Alten (Deleuze 1994/1968). In dem Sinne ist die Hegelsche Philosophie wie auch der Historische Materialismus ‚Substanzphilosophie‘. Stattdessen definiert Deleuze in seiner Philosophie alle Entitäten relational d.h. in Bezug auf andere Entitäten. Wenn sich eine Beziehung zwischen Entitäten verändert, entstehen neue Entitäten. Es gibt nichts, das als Substanz in der Zeit existiert – die Zeit als solche wird auch relational geschaffen und prozessual performiert oder enacted (Kontopodis 2009; Latour 1994).

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[...]. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen. [...] Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen

oder

anderen

Segmentierungslinien,

Linien

nach

weiter.

denen

es

[...]

Jedes

geschichtet

ist,

Rhizom

enthält

territorialisiert,

organisiert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, an denen es unaufhaltsam flieht [...]. Es kann nicht wie im Baummodell entschieden werden, welches Element das grundlegendste, der ‚Stamm‘ ist, von dem alle anderen abhängen. Je nach Betrachtungsperspektive kann das Zentrum eines Rhizoms überall und nirgends sein. Seine einzelnen Punkte können

und

sollen

untereinander

verbunden

werden

(‚Konnexion‘).

Unterschiedlichste Sachverhalte können miteinander in Verbindung treten (‚Heterogenität‘). Jedes Rhizom ist nicht in sich abgeschlossen, sondern existiert einzig in seinen internen Beziehungsfeldern und in den Verhältnissen, die es zu externen anderen Beziehungsfeldern hat. Aus all diesen Eigenschaften folgt, dass das Rhizom keine abstrakte Einheit als ideelle Vorstellung sein kann, sondern eher der Name für einen Prozess“. (Deleuze/Guattari 1980/1992)

In der Gesundheitsforschung und -politik, in der Psychiatrie, aber auch in den Minderheitenstudien und in Bereichen wie Pädagogik oder Migrationspolitik ist relationaler Materialismus nicht nur mit neuen theoretischen Sichtweisen, sondern auch mit neuen Praxen verbunden (Bowker/Star 1999; Kontopodis 2007; 2008; Papadopoulos et al. 2008). Äußerst signifikant sind die Anwendungen von relational-materiellen Ansätze auch im Bereich der so genannten ‚politischen Ökologie‘ (Haraway 2008; Latour 2001). Brüche, dezentrale Organisation und Heterogenität rücken gegenüber modernen Ordnungen in den Vordergrund. Wir betrachten dieses Buch als einen Beitrag zu einer Diskussion über diese Themen im deutschsprachigen Raum. Wir sind uns bewusst, dass die Texte in ihrer Gesamtheit viele Fragen offen und andere gänzlich unberührt lassen. Doch zugleich stellen sie viele bekannte Fragen auf ungewohnte Art und Weise, und wir hoffen, dass diese neuen Problematisierungen Wissen darstellen, um das herum unsere Leserschaft Neues wird erfinden können (Strathern 2002).

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Die materielle Realität der Virtuellen Treppe Ethnographische Gang-Analyse von Gesunden und Schlaganfall-Patienten in der Reharobotik S TEFANIE Z IMMER

D ISABILITY S TUDIES , STS UND DIE F RAGE NACH DEM G EHEN Jedes Jahr erleiden allein in Deutschland rund 200.000 Menschen einen Schlaganfall und es ist aufgrund der demographischen Entwicklung zu erwarten, dass diese Zahl in Zukunft enorm steigen wird (Foerch et al. 2008). Der Schlaganfall ist weltweit die häufigste Ursache für erworbene Behinderungen im Erwachsenenalter. Obwohl Behinderung, insbesondere in der westlichen Welt, ein wachsendes Problem mit hoher gesellschaftlicher Signifikanz darstellt, wird sie in der sozialanthropologischen Forschung erstaunlich wenig problematisiert (McKevitt et al 2004). Die „Disability Studies“, die sich dieser Thematik annehmen könnten, sind im deutschen Sprachraum noch wenig etabliert (Waldtschmidt 2007; Dederich 2007). Aus ihrer Perspektive wird Behinderung bislang als analytische Kategorie vornehmlich für die Untersuchung soziokultureller Konstruktionsmechanismen und Differenzierungspraxen herangezogen: „In ihrem konsequenten Fokus auf die Kulturwissenschaften bieten die Disability Studies auch für die Soziologie einen neuartigen Zugang, das Phänomen ‚Behinderung‘ zu reflektieren. […] Daher gilt es, von einer ‚dezentrierten‘ Po-

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sition aus, Behinderung als Erkenntnis leitendes Moment für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft zu benutzen.“ (Waldschmidt 2007:15)

Dieser Ansatz berücksichtigt meines Erachtens zu wenig die Bedeutung der materiellen Realität von Praxis, in der Dis-Ability gemacht wird. Zwar entstehen an der Schnittstelle zwischen empirischer Wissenschaftsforschung (Science & Technology Studies, STS) und „Disability Studies“ Studien, die Behinderung jenseits der normativ-diskursiven Position hinterfragen und auf einer performativen Ebene analysieren. Aktuelle Arbeiten thematisieren jedoch hauptsächlich die Emergenz von Subjektivität (Moser/Law 1999; Schillmeier 2007) und die materielle Konstitution von „Dis-Ability“ durch soziotechnische Praxen (Winance 2006). Damit geht die STS-Position zwar über den dominanten Diskurs hinaus, der hauptsächlich auf Ein- und Ausschlussmechanismen durch Normalisierung, Integration und Kompensation fokussiert ist, konzentriert sich jedoch weiterhin auf den Begriff der Person als analytisches Leitmotiv. Aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie möchte ich dagegen am Beispiel von Gangmaschinen, die für die neurologische Rehabilitation von Schlaganfall-Patienten entwickelt wurden, fragen, was den Gang als fundamental wichtige Funktion des menschlichen Körpers ausmacht und wie diese Fähigkeit in Interaktion mit einer Maschine, die das Gehen und Treppensteigen simuliert, erlernt werden kann. Anstatt also diese aufgrund der Neuroplastizität, die das Wiedererlernen des Gehens ermöglicht, nicht notwendigerweise dauerhafte Behinderung als „erkenntnisleitendes Moment für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft“ (Waldschmidt 2007: 15) zu nutzen, könnte ethnographische Arbeit zum Thema Gehbehinderung einen Beitrag zum anthropologischen Verständnis des Gehens als Körpertechnik (Mauss 1989) leisten, denn dieses Thema wurde bislang in den empirisch arbeitenden Kultur- und Sozialwissenschaften in zu geringem Maße überhaupt reflektiert, wie Tim Ingold und Lee Vergunst in ihrer Arbeit über das Gehen kritisch anmerken: „Ethnographers […] are accustomed to carrying out much of their work on foot. But while living with a group of people usually means walking around with them, it is rare to find ethnography that reflects on walking itself, least of all from a comparative perspective“ (Ingold/Vergunst 2008: 3).

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Eine vergleichende Perspektive kann dementsprechend in zweiter Linie möglicherweise auch als Reflexion der Möglichkeiten zur Enthinderung von durch einen Schlaganfall betroffenen Menschen, die das Gehen wieder erlernen möchten, genutzt werden. Darüber hinaus ermöglicht eine solche Arbeit auch die kritische Betrachtung des den Gangmaschinen zu Grunde liegenden therapeutischen Ansatzes sowie der bisherigen Entwicklungen technischer Umsetzungen dieses Prinzips. Zu diesem Zweck betrachte ich die Artikulation verkörperten Wissens der Gehtechnik von normalen Gehern und durch einen Schlaganfall körperlich transformierter Menschen als Wissensquelle, die man mithilfe videographischer Analyse vergleichend in Gesunden/Patienten-Studien mobilisieren kann. Ich gehe dabei von dem Konzept des „Doing Body“ (Mol/Law 2004) aus, um verschiedene Wissensmodi so miteinander zu verknüpfen, dass es möglich ist zu begreifen, was der Gang ist und was beim Gehenlernen mit Gangmaschinen passiert.

G ANGFORSCHUNG

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Ein Schlaganfall ist ein Krankheitsereignis, bei dem ein Teil des Gehirngewebes beispielsweise durch eine Sauerstoffunterversorgung oder eine Blutung beschädigt oder zerstört wird. Die Auswirkungen dieses Gehirnschadens sind komplex und betreffen diverse motorische, sensorische, kognitive und sprachliche Funktionen des menschlichen Körpers. Die häufigste und daher bekannteste Folge ist die halbseitige Lähmung der der geschädigten Hirnhälfte gegenüber liegenden Körperhälfte, die zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Behinderung führt. Ich selbst leide aufgrund einer Gehirnblutung unter den komplexen Folgen der Schlaganfall-Symptomatik, insbesondere der Lähmung meines linken Beines und Fußes sowie relativ starken Sensibilitätsund Wahrnehmungsstörungen. Mein Hauptproblem ist dementsprechend das Gehen, welches wiederzuerlernen mein wichtigstes Ziel ist. Im Gegensatz zu anderen, dauerhaften Behinderungen besteht bei bestimmten Verletzungen des Gehirns nach neueren Erkenntnissen der Neurowissenschaft zu Plastizität prinzipiell die Möglichkeit, Hirnfunktionen therapeutisch wiederherzustellen. Allerdings ist es in der neurologischen Rehabilitationsforschung eine offene Frage, wie der Wiederherstellungsprozess optimal umgesetzt werden kann und in-

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wieweit alte Fähigkeiten neu erlernt werden können. Insbesondere für die Rehabilitation der Gehfähigkeit werden daher neben der konventionellen Physiotherapie zunehmend Technologien in der Forschung eingesetzt, die diesem neueren Denken in den Neurowissenschaften Rechnung tragen. Die Entwicklung von Übungsgeräten stellt die Entwickler vor das Problem, dass die komplexen Auswirkungen eines Schlaganfalls für Gesunde 1 so gut wie nicht nachzuvollziehen sind bzw. nicht sicht- und erfahrbar gemacht werden können. Dieses Wissen ist jedoch elementar für die Konzeption der Maschinen. Ein methodischer Ansatz, der von Seiten der „Disability Studies“ gefordert und eingesetzt wird, ist der „Participatory Action Research Approach“ (Seelman 2001), bei dem von Behinderung betroffene Menschen sich in einem aktiven Forschungsprozess an der Entwicklung von Geräten und Assistenzsystemen, die für sie selbst bestimmt sind, beteiligen, um diese mit zu gestalten. Die Realisation eines solchen Unternehmens setzt allerdings den Zugang zu medizintechnischer Forschung voraus, der sich in der Regel als schwierig bis unmöglich erweist. Indem ich mich jedoch der neurowissenschaftlichen Forschung als „Forschungsobjekt“ angeboten habe, war es mir möglich, Zugang zu einem interdisziplinären Spezialgebiet, der Rehabilitationsrobotik, zu erhalten. Im Moment gibt es im Bereich der Gang-Rehabilitation zwei Arten von Laufrobotern: Beim Exoskelett-Ansatz wie dem Lokomat (Abb. 2) befinden sich Servomotoren an den Knie- und Hüftgelenken, die entsprechend des Gangzyklus gebeugt und gestreckt werden, so dass der Patient auf dem Laufband gehend stabilisiert und geführt wird. Beim End-Effektor-Ansatz wie dem HapticWalker (Abb. 1) werden die Füße auf zwei Fußplatten befestigt, die sich entlang einer als Trajektorie bezeichneten Bewegungsbahn abwechselnd so vor- und zurückbewegen, dass sie das Gehen auf einer Ebene simulieren.

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Ich werde der Verständlichkeit halber im Folgenden von Gesunden, Patienten, Ingenieuren, Medizinern und Therapeuten sprechen, weil dies einerseits der gängigen Sprachpraxis entspricht, andererseits soll diese Klassifizierung auf die unterschiedlichen körperlichen und epistemologischen Voraussetzungen verweisen. Mit Gesunden meine ich alle Nicht-Patienten. Als Patienten bezeichne ich in dieser Arbeit alle von der Schlaganfall-Symptomatik betroffenen Menschen.

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Abb. 1: Haptic Walker

Abb. 2: Lokomat

(Foto: Stefanie Zimmer)

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Ich habe beide Maschinen als Patientin ausprobiert und diese zum Gegenstand meiner Forschung gemacht, die sowohl die Geräte selbst als auch das dazu gehörige Forschungsfeld aus Medizinern, Ingenieuren, Therapeuten, Patienten und Geräten umfasst. Dabei habe ich versucht, dieses völlig unbekannte und meines Wissens noch nie untersuchte Feld kennenzulernen und zu verstehen, denn „ethnography works best when conducted by an outsider with considerable inside experience“ (Forsythe 2001: 149). Ich schließe mich damit anderen von lähmungsbedingten Geh-Behinderungen betroffenen Anthropologen an, die ihre Erfahrung für ihre kritischen Reflektionen über Kultur und Gesellschaft fruchtbar gemacht haben (Murphy 1987; Robillard 1999; Wendell 1996). Die besondere Herausforderung meiner Feldforschung lag darin, dass ich wie in der klassischen Ethnologie, erst die Sprache der Neurologie, Biomechanik und Robotik lernen, sowie die Denkweisen, Bräuche und Rituale des Feldes erkunden musste, um zu verstehen, was dort eigentlich passiert. Die Teilnehmende Beobachtung stellt eine geeignete Methode dar, in einer Expertenkultur den „Umgang mit Technik“ (Beck 1997) aus einer anderen Perspektive zu beleuchten, als die Entwickler es selbst aufgrund ihrer epistemologischen und paradigmatischen Voraussetzungen tun. Die Arbeit der Ethnographin Lucy Suchman, die bei dem Technologie-Unternehmen Xerox zum Thema Mensch-Maschine-Interaktion

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geforscht hat, ist ein Beispiel dafür, wie man die tatsächliche Praxis im Umgang mit technischen Geräten, die nicht der vorgesehenen oder angenommenen Verhaltensweise des Users entsprechen müssen, untersuchen kann (Suchman 2006). Einen ebensolchen Beitrag hat die Kulturanthropologin Diana Forsythe im Bereich der KI 9 -Forschung geleistet, in dem sie ethnographisch erworbenes Wissen während des Design-Prozesses von Expertensystemen beigesteuert hat, damit die „Knowledge Engineers“ die Unordnung der Praxis in ihren Konzeptionen vom Nutzer mehr berücksichtigen konnten und somit nicht nur Aussagen von Medizinern über stereotypes Verhalten von Patienten als Wissensgrundlage herangezogen wurde (Forsythe 2001). Ich habe mehr als ein Jahr lang eine Multi-Sited-Ethnography (Marcus 1995) betrieben und bin dabei dem Gang-Wissen als Gegenstand meines Interesses an verschiedene Orte gefolgt. Mithilfe der Teilnehmenden Beobachtung habe ich sowohl an dem technischen Forschungsinstitut, wo der HapticWalker entwickelt wird, als auch in der Rehabilitationsklinik geforscht, wo das elektromechanische Vorgänger-Model, der Gangtrainer 1 (GT1), im Einsatz ist. Die meisten Ereignisse habe ich mit einer Video-Kamera aufgezeichnet, weil sich die Multiplizität der Geschehnisse sowie die mit dem Gehen verbundenen Bewegungen videographisch besser fassen und analysieren lassen (Schubert 2006). Ich habe Experten-Interviews mit dem medizinischen Leiter (Video-Aufnahme: 35min) und dem technischen Leiter (Audio-Aufnahme: 165min) des HapticWalker-Projektes geführt. Zusätzlich habe ich bei öffentlichen Präsentationen des Gerätes bei einer Automatisierungstechnik-Konferenz, beim Dreh eines Fernsehbeitrages sowie bei öffentlichen Vorführungen teilnehmend beobachtet (4 Video-Aufnahmen: jeweils ca. 120min). Den HapticWalker selbst habe ich bei einem Foto-Shooting, in einer vierwöchigen Fallstudie, in der ich das „Forschungssubjekt“ war, und bei einer Präsentation benutzt (Tagebuch-Notizen). Das Vorgänger-Model, den Gangtrainer GT1, habe ich in einer sechswöchigen Forschung in einer Rehabilitationsklinik selbst getestet sowie dessen Nutzung in fünf Therapiesituationen beobachtet und fünf verschiedene Physiotherapeuten und Patienten dazu befragt (Video-Aufnahmen: jeweils ca. 45min). Das Alternativ-Produkt, den Lokomat, habe ich in einer anderen Klinik zweimal benutzt und vier Therapeuten diesbezüglich befragt (2 Video-

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Künstliche Intelligenz.

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Aufnahmen: jeweils ca. 30 min). Zudem habe ich meine Forschungsergebnisse dem Entwickler-Team des zweiten HapticWalker präsentiert und an der Besprechung des neuen Entwurfs im Gang-Labor der Klinik teilgenommen (2 Video-Aufnahmen: jeweils ca. 60min). Die folgenden Ergebnisse über die Annahmen und Ansichten der Mediziner, Therapeuten und Ingenieure sollen nicht als distanzierte Kritik verstanden werden. Da ich selbst, sowohl als Patientin als auch als Ethnographin, an diesem interdisziplinären Projekt teilgenommen habe, ist mir wichtig, einen konstruktiven Beitrag zur Verbesserung der Therapie-Ergebnisse zu leisten. Meine problemorientierte Argumentation in diesem Artikel kann man somit auch als fortgesetzten Dialog zwischen meinem Feld und mir begreifen. Da es dort hauptsächlich um Gang-Rehabilitation geht und ich aufgrund meiner Verletzung unter einer Art „Gang-Agnosie“ leide, also nicht mehr weiß, wie Gehen überhaupt funktioniert, habe ich neben der allgemeinen Frage, wie die Problematik wissenschaftlich bearbeitet und in der physiotherapeutischen Praxis umgesetzt wird, gleichzeitig ein persönliches Interesse gehabt zu erfahren, was dieser Gang eigentlich ist, der da rehabilitiert werden soll, und wie er gemacht wird.

„O RGANIZING B ODY “: F ABRIKATION

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G ANGES

Die Grundlage der Entwicklungen in der Reharobotik ist das Paradigma des „motorischen Lernens“ (Carr/Shepherd 1987), das besagt, dass der Patient die motorische Aufgabe, die er können soll, wiederholt performieren muss und durch audio-visuelles Feedback sich selbst so korrigieren soll, dass seine Muskeln in einem physiologischen Muster aktiviert werden. Das viel zitierte Credo dieses behavioristischen Ansatzes, der Gehenlernen als Gang-Training konzeptualisiert, lautet: „Wer gehen will, muss gehen“. Ich spreche bewusst von Performierung eines Musters, denn die Bewegungen sollen wiederholt möglichst identisch sein. Ausgangspunkt der maschinentechnischen Verkörperung ist die so genannte „Laufbandtherapie mit Gewichtsentlastung“, bei der der Patient in einem Fallschirmgurt gesichert auf einem Laufband geht, wobei im Falle gelähmter Körper menschliche Therapeuten das Setzen der Beine und das Stabilisieren des Oberkörpers unterstützen müssen. Diese Arbeit ist für Menschen extrem schwer und so wurden Maschinen gebaut, die diese übernehmen kön-

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nen, um die Trainingsintensität und Bewegungsgenauigkeit zu erhöhen. In der bislang größten klinischen Studie mit dem GT1, wurde anhand von 155 subakuten Schlaganfall-Patienten die Wirksamkeit des repetitiven, aufgabenspezifischen Übens mithilfe einer Gangmaschine nachgewiesen (Pohl 2007). Nach diesem Erfolg für das Prinzip an sich wird davon ausgegangen, dass man auch die Treppensteigfähigkeit mit dieser Methode verbessern könnte. Aus diesem Grund wurde der HapticWalker, entwickelt, der diese Aufgabe erfüllen und mithilfe freiprogrammierbarer Plattenbewegungen das Treppensteigen simulieren kann. Die Idee ist also, dass der Patient lernt, wie man Stufen überwindet, wie mir der medizinische Leiter (ML) erklärt: ML: Unser Ziel ist natürlich immer, dass der Patient wieder gehen lernen soll. Und zwar haben viele Patienten den Wunsch, dass sie auch Treppen bewältigen. Sicherlich, denn das gehört ja zu unserer Alltagsmobilität dazu. Sie steigen jeden Tag so und so viele Treppen auf- und abwärts. Also das heißt, wir folgen dem Prinzip: Man lernt nur das, was man auch übt. Man kann also lange das Stehen üben und gleichmäßige Gewichtsverteilung, aber dadurch wird noch lange nicht das Gehen oder gar das Treppensteigen besser. Das heißt, wenn Sie das Treppensteigen verbessern wollen, müssen Sie es auch tatsächlich üben. Und zwar viel und häufig. Das ist die Idee der Maschine. (Interview ML 07-10-04)

Das Ziel, dass der Patient Treppen steigen kann, ist somit gleichzeitig auch die Methode. Die virtuelle Treppe muss dabei einer realen Treppe entsprechen, um einen alltagsrelevanten Therapieerfolg zu haben. Beim HapticWalker wurden so genannte Gesunden-Studien durchgeführt, die belegen, dass die Muskelaktivität der Beine von Gesunden beim Treppensteigen auf der Maschine nahezu identisch ist mit dem Steigen einer echten Treppe (Hussein et al. 2008). Das heißt, dass es für die Elektromyographie (EMG), einem Verfahren, mit dem man Muskelaktivität messen kann, keinen Unterschied macht, ob die Treppe real oder virtuell ist. Das ist deshalb relevant, weil man davon ausgeht, dass eine korrekte Aktivierung der Muskeln in einem physiologischen Muster ein Indikator für den Therapie-Erfolg ist. Diese Annahme beruht auf der Feststellung in anderen Studien, dass es eine Korrelation zwischen Muskelaktivität und Gehfähigkeit gibt. Die empirische Frage ist allerdings, ob das in der Praxis so funktioniert.

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Wie kann man etwas über das Gehenlernen und ob es funktioniert wissen? Das erscheint zunächst als eine Frage der Perspektive. Man kann das Treppensteigen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, wie der medizinische Leiter mir (I) erläutert: I: Worauf ich noch mal hinaus wollte: Wie geht denn der Mensch nun? Woher wissen Sie denn das? ML: Na ja, wir haben uns ja viel mit Ganganalyse beschäftigt. Sie müssen das Gehen analysieren. Da können Sie Verschiedenstes analysieren: Die Bewegung der Gelenke im dreidimensionalen Raum, dann können Sie die Kräfte erfassen, die auftreten beim Gehen, und Sie können die Muskelaktivitäten erfassen. (Interview ML 07-10-04)

Die bei der Ganganalyse verwendeten Messverfahren wie das EMG und Motion Tracking, mithilfe dessen man die Bewegung von Körpern im Raum misst, ermöglichen die biomechanische Beschreibung eines Gangbildes. In der Reharobotik liegt dieses biomechanische Modell sowohl dem Therapiekonzept als auch den programmierten Gangmustern zu Grunde. Am Lokomat kann man dieses Verständnis vom Gang als Muster besonders gut nachvollziehen, weil dieser die Beine an den maßgeblichen Knotenpunkten bewegt und den zu gehenden Körper in die Form fügt, die er produzieren soll. Beim HapticWalker kann man den Geher als Bild nur erkennen, wenn sich tatsächlich jemand auf den Fußplatten befindet, weil man bei jenem – wie bei seinem Vorgängermodell dem Gangtrainer 1 – davon ausgeht, dass es genügt allein die Füße zu bewegen und der Rest des Körpers ordne sich entsprechend automatisch an. Bei beiden Maschinen kann man somit sehen, dass das Gehen allein auf die Bewegung der unteren Gliedmaßen reduziert wird. Implizit bedeutet die paradigmatische Konzentration auf die Biomechanik, dass man von einer Art Standardgang ausgeht, der gewissermaßen „da draußen“, das heißt objektiv messbar, existiert, und nicht etwa als Resultat einer kontingenten Körperpraxis, die beim Gehen selbst zu einer Multiplizität von Gangarten führt. Andere alternative Modelle des Gehens oder Konzepte des Gehenlernens finden meines Wissens keine Erwähnung in der wissenschaftlichen Literatur der Reharobotik und werden meinen Beobachtungen und Befragungen zufolge nicht wahrgenommen oder akzeptiert, was zu einer gewissen Dogmatik in Bezug auf die Frage, wie Mensch und Maschine den Gang produzieren können sollen, führt. Ein

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Konzept, auf das sich sowohl die HapticWalker- als auch die Lokomat-Gruppe beruft, ist die Idee, es gäbe im Gehirn „Generalisierte Motorische Programme“ (Schmidt 2005). Dementsprechend müsste die Mobilisierung der Akteure eben diese Programme im Gehirn (re-) aktivieren. Eine Therapeutin (T), die mit dem GT1 in der Klinik arbeitet, erklärt mir das Funktionsprinzip, dass Muster-Performierung in einem internen Kommunikationsprozess rekursiv zur Reaktivierung der Eigenproduktionsfähigkeit führe: T: Naja, man geht ja davon aus oder man weiß ja, dass das, was wir erlernt haben, der Körper speichert, in irgendeiner Form … ne, das Laufen. Das kennen Sie aus eigener Erfahrung, ne? Aber auch andere Sachen, wie Aufstehen und Hinsetzen. Auch Essen… alle möglichen Abläufe, die sich wiederholen im Leben, ne? Die haben wir seit Kindheitszeiten eintrainiert. Da geht man davon aus, dass man die wieder umschalten kann… I: Achso. Und wenn man das Gerät benutzt, passiert was? T: Dann werden die Muskeln wieder aktiviert. Dann kommt die Information vom Körper: ‚Ich tue das… ach das kennst du doch! Erinnere dich doch mal dran!‘ Die Muskeln, die der Zentrale sagen (pfeift): ‚Ding Dong: Hallo! Du konntest das mal!‘ (Video: Klinik/GT1 07-11-23)

Die Idee, es gäbe Basis-Muster, die durch die Mobilisierung der Muskel-Akteure wieder reaktiviert werden könnten, setzt voraus, dass (1) diese Aktivierung in einem Muster stattfindet, das „die Zentrale“ erinnert und (2) diese Erinnerung zu einer Form von Self-Agency führt. Das funktioniert jedoch leider in einigen Fällen nicht, wie die Therapeutin an ihrem Patienten erläutert, der von außen betrachtet das Muster auf dem Gangtrainer mitproduziert, jedoch nicht in der Lage ist, Kontrolle über seinen Körper zu übernehmen und nicht weiß, wie er sich bewegen soll: T: Herr Jähnich 10 ist in letzter Zeit eher negativer. […] Also, er kann ja alles, er kann alles. Wenn er nur mal zuhören würde! Wenn er nur mal die Tür aufkriegt in seinem Kopf und sagt: ‚So ich kann jetzt!‘ Ja, wenn mal jemand diese Tür mal eintreten würde, dann könnte er ganz viel, aber er kann’s nicht. Er ist so ganz in sich selber gehemmt… das ist echt traurig. I: Ja? Sonst könnte er laufen?

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T: Er kann eigentlich alles frei bewegen. Wenn er weiß, wohin. (Video: Klinik/GT1 07-11-23)

Die Erwartung der Therapeutin, ihr Patient müsste endlich die „Tür aufkriegen“ und sich selbst dazu entscheiden, Kontrolle über seinen Körper zu übernehmen, entspricht dem Therapie-Konzept des „motorischen Lernens“, das erfordert, dass der Patient sozusagen intentional seinen Körper steuern können soll. Das heißt, dass bei den Gangmaschinen die Körperteile entsprechend des gewünschten Bildes angeordnet werden, diese Übersetzungsleistung auf Muskelebene jedoch auch zu einer weiteren Translation auf kortikaler Ebene führen müsste, was jedoch, wie von der Therapeutin im weiteren Verlauf des Gesprächs erzählt wurde, sowohl bei diesem als auch anderen Patienten nicht passiert. An diesem Beispiel zeigt sich, dass musterkonforme Muskelaktivität nicht automatisch zu einer Ganzkörper-Kontrolle führt, was bedeutet, dass der EMG-Nachweis nicht notwendigerweise ein Beweis für einen Lerneffekt sein muss. Stattdessen offenbart sich hier die Schwäche des Therapie-Konzeptes des „motorischen Lernens“, das auf einem mechanistischen Körperverständnis beruht und den menschlichen Körper als eine Art von Muskeln angetriebene Maschine sieht, über die der Geist des Menschen im Sinne des kartesianischen Dualismus herrschen soll. Ich möchte alternativ vorschlagen, den menschlichen Körper und seinen Gang aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zu verstehen, d.h. aus symmetrischer Perspektive, die menschliche und nicht-menschliche Akteure in denselben analytischen Kategorien fasst. So verstanden wären sowohl der Mensch als auch der Gang als Muster-Effekt und nicht als Entität zu betrachten, denn „[f]alls ein Netzwerk als einziger Block handelt, verschwindet es, um von der Handlung selbst und dem anscheinend simplen Autor dieser Handlung ersetzt zu werden. Gleichzeitig wird die Art, in der der Effekt erzeugt wird, gelöscht: Zum gegebenen Zeitpunkt ist sie weder sichtbar noch relevant. Auf diese Weise maskiert zu bestimmten Zeiten ein einfacheres Element – ein funktionierendes Fernsehgerät, eine gut verwaltete Bank und ein gesunder Körper – das es produzierende Netzwerk.“ (Law 2006: 436).

Ich habe diesen Ansatz gewählt, weil er den Fokus auf Performativität und Funktionalität legt und betont, dass Ordnung nicht allein von

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Menschen gemacht wird. Der Gang im Sinne der ANT ist kein natürliches Artefakt, sondern ein emergentes Phänomen. Die Komplexität dessen wird erst ersichtlich, wenn das Netzwerk zusammenbricht und man mit der Frage konfrontiert ist, wie man, beispielsweise nach einem Schlaganfall, ein System wieder zum Laufen bringen kann. So verstanden bildet der menschliche Körper, der geht, eine Organisation heterogener Elemente wie Körperteile, Empfindungen, Vorstellungen und Verfahrenswissen, die in bestimmten Relationen zueinander stehen und eine bestimmte Ordnung bilden, wie der Soziologe John Law formuliert: „We are all artful arrangements of bits and pieces. If we count as organisms at all, this is because we are networks of skin, bones, enzymes, cells – a lot of bits and pieces that we don’t have much control about at all“ (Law 1994: 33). Die ANT-Konzeptualisierung scheint zunächst in gewisser Weise analog zu dem biomechanischen Verständnis vom Gang als Prozess des Gehens, in dem verschiedene Körperteile wie Füße, Beine, Hüfte und Rumpf eine vorübergehend stabile Einheit bilden, die sich im Raum fortbewegen kann und dadurch ein Gangbild erzeugt. Das Wechselspiel aus Stabilität/Mobilität ist charakterisiert durch die in der biomechanischen Fachliteratur beschriebenen Gangphasen bestehend aus Stand- und Schwungbeinphase (Perry 1991). Die Muskeln kann man als Akteure verstehen, während Knochen und Sehnen gewissermaßen eine interne Struktur vorgeben, die jedoch aufgrund der Vielzahl der möglichen Gelenkstellungen eine flexible Form annehmen kann. Bei den bisher entwickelten Gangmaschinen ist die Flexibilität der Anordnung jedoch insofern beschränkt, als der Patient den Gang re-produzieren soll, den die Maschinen vorgeben. Dementsprechend wird davon ausgegangen, dass sich die Anordnung, die als Gang des Menschen biomechanisch erfassbar ist, rein physisch vollzieht. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass der Gang eine Organisation heterogener Elemente ist, erscheint die Produktion eines Ganges als nichttrivialer Ordnungsprozess. Dieser Ordnungsprozess erfordert in der Realität des Menschen Arbeit, für die John Law den Begriff „Heterogeneous Engineering“ (Law 2006: 111) geprägt hat. Gemeint ist damit die Notwendigkeit der Koordination sehr verschiedener Dinge, damit Gehen funktionieren kann. Die Muster-Produktion ist dann erfolgreich, wenn die Koordinations- und Bewegungsarbeit zeitgerecht gelingt und die Ordnung nicht zerfällt. Die Übersetzungsleistung ist notwendig, weil „es fast immer eine Divergenz gibt zwischen dem, was

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die Elemente eines Netzwerkes täten, wenn man sie ihren eigenen Bestrebungen überließe, und dem, wozu sie verpflichtet, ermutigt oder gezwungen werden, wenn sie in ein Netzwerk eingebunden werden“ (Law 2006: 217). Somit kann man auch Menschen und Maschinen, die diese Koordinationsarbeit leisten als „Heterogeneous Engineer“ (Law 2006: 216) oder Systembauer bezeichnen, der seine Körperteile, Empfindungen und Wissen so zueinander in Beziehung setzen muss, dass ein stabiler Ablauf entsteht. Zum Erstaunen und Entsetzen der Entwickler funktioniert die Übertragung des Musters von der Maschine auf den Menschen jedoch trotz der Plausibilität des Ansatzes „Wer gehen will, muss einfach gehen“ nicht in gewünschter Weise. Der paradigmatische Fokus auf die Biomechanik des Gehens – nicht aber auf die dazu gehörigen neurophysiologischen und -psychologischen Aspekte menschlicher Körperhandlung einerseits und die krankheitsspezifischen Einschränkungen von Schlaganfall-Patienten andererseits – kann als ein Grund gesehen werden, warum das scheinbar einfache Prinzip der Muster-Reproduktion in der Praxis bislang nicht funktioniert. In der rehabilitativen Praxis und den klinischen Tests wird der relative Misserfolg, den Patienten das „richtige“ Gangmuster beizubringen, oft mit individuellem Versagen, geringer Motivation oder Mangel an Potential erklärt. Wenn man allerdings grundsätzlich davon ausgeht, dass das Gehirn plastisch ist und jeder Patient theoretisch ein unbegrenztes Potential hat, alle Funktionen wiederzuerlernen, fassen solche monokausalen Erklärungen zu kurz. Wie lässt sich das zu Grunde liegende Problem also begreifen?

„D OING B ODY “

ALS

W ISSENSMODUS

Wenn es Patienten nicht gelingt, das gewünschte Muster zu reproduzieren, muss man sich fragen, womit das zusammenhängen könnte. Allerdings ist genau diese Wissensmobilisierung das Hauptproblem bei Schlaganfall-Patienten, die aufgrund der Hirnverletzung fast immer unter Sprachstörungen und kognitiven Störungen leiden. Wie die Therapeutin stellvertretend für andere Gesunde sagt, ist es schwer zu verstehen, warum Patienten die Anweisungen nicht umsetzen können, weil unbekannt ist, was Patienten besonders in der Akutphase überhaupt wahrnehmen:

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T: Naja, man weiß halt nicht, was er selber wahrnimmt, ne? Also er kann ja auch keine Arbeitsaufträge erfüllen in dem Sinne: ‚Kommen Sie mal nach vorne mit dem Oberkörper. (beugt sich vor) Heben Sie mal den Arm. (hebt den Arm) Setzen Sie das Bein zurück.‘ (zuckt die Schultern). Man versteht es nicht. (Video: Klinik/GT1 07-11-23)

Diese Therapeutin bestätigt mit ihrer Aussage unbewusst die Unzulänglichkeit des kognitivistischen Ansatzes, reflektiert jedoch nicht, inwiefern dieser unangemessen sein könnte für ein Krankheitsbild, das gerade durch einen fundamentalen Kontrollverlust über Körperteile und die Einschränkung kognitiver Leistungen gekennzeichnet ist. Von außen betrachtet können demnach selbst viele Therapeuten die Patienten schwer einschätzen, weil deren Schwierigkeiten nicht immer sichtbar sind. Aber neben der objektiven Beobachtung könnte man diese Dis-Artikulation dadurch beheben, dass man Patienten wie Gesunde nach der Selbstwahrnehmung fragt. Das Interesse an diesem Wissen über das subjektive Empfinden der Probanden ist von Seiten der Entwickler sehr groß, da es ihnen wichtig ist, Maschinen zu bauen, die dem User auch gefallen und nützen. Allerdings konnte dieses Wissen mit den bisherigen Methoden nicht mobilisiert werden, wie mir der technische Leiter (TL) des Projektes erklärt, als wir darüber sprechen, welchen Beitrag meine Arbeit leisten könnte: TL: Bisher ist die ganze Diskussion von Ärzten und Therapeuten getrieben. Das sind die, die sich bisher damit auseinandersetzen in Fachkreisen und da besteht ja auch der engste Kontakt. Ingenieure kommunizieren eben mit Ärzten und Therapeuten, bei denen die Geräte aufgestellt werden. Aber das ist, soweit ich das mitbekommen habe, noch nicht systematisch untersucht worden und es hat auch noch keine Patientenbefragung gegeben. Natürlich wird gefragt: ‚Wie gefällt Ihnen das? Finden sie das gut oder nicht?‘ Aber mir ist nicht bekannt, dass das mal systematisch erfasst worden ist. Also ihre Digitalparameter (lacht) haben wir, also EMGs und so. Dann werden klinische Tests gemacht und gefragt, wie ist die Gehfähigkeit? Hat die sich verändert? Oder da werden Scores aufgenommen… Aber wie fühlt sich der Patient da? Oder wie ist das für ihn anders, als wenn er jetzt klassisch therapiert wird? Das ist bisher unbekannt. (Interview TL 07-11-09)

Das EMG als Wissensbasis für Therapie-Erfolge wird zwar in der Reharobotik nicht als ausreichend empfunden, aber die normalerweise

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angestellten informellen Befragungen zielen bislang nur auf die UserPerspektive in Hinblick auf das Design der Maschine ab, nicht auf den Interaktionseffekt des Gehens selbst. Gesunde und soweit möglich auch Patienten werden gefragt, wie sie sich fühlen. Die Antworten darauf sind Qualitätsbeschreibungen, also die Verbalisierung von Körper-Erfahrungen im Sinne der Phänomenologie (Merleau-Ponty 1966). Aber diese Aussagen wurden bislang nicht in Relation dazu gesetzt, was auf der Maschine passiert. Nur in Verbindung mit dem äußerlich beobachtbaren Verhalten und den innerlichen Empfindungen in der Handlungspraxis ist es m. E. überhaupt möglich, situatives und emergentes Wissen über den praktischen Effekt des Gangtrainings zu erwerben. Es handelt sich hier um das Phänomen, dass Menschen allgemein ein verkörpertes, implizites Wissen (Polanyi 1985) besitzen, das normalerweise nicht zur Sprache kommt. Dieses ist ohne Körperbewegungen selbst für Gesunde nach meiner Erfahrung schwer explizierbar, so dass die meisten Menschen, die ich beobachtet habe, in der Konfrontation mit der Frage nach dem Gehen erst darüber nachdenken und ihren Körper bewegen müssen wie beispielsweise diese Journalistin (J): TL: Da denkt man überhaupt erstmal darüber nach, wie man das macht. J: Ja genau, teilweise dieses: ‚Mein Gott! Ich mach hier was total Kompliziertes!‘ (lacht, setzt weiten Schritt nach vorn und schaut auf ihren Fuß)… Nach dem Fußballroboter da hatte ich so zwei Tage, wo ich so nachgedacht habe: Es ist schon merkwürdig, wie man so geht. Wie kompliziert das ist. Wo man überhaupt nicht drüber nachdenkt… (Video: TV-Dreh 07-09-04)

Gerade das (Nach-)Denken allein ist nicht ausreichend, wenn man erfahren will, wie Gehen als habituierte Körperfunktion gemacht wird. Dieses Unternehmen erfordert eine andere Herangehensweise, denn „[w]e all have and are a body. But there is a way out of this dichotomous twosome. As part of our daily practices, we also do (our) bodies. In practice we enact them. If the body we have is the one known by pathologists after our death, while the body we are is the one we know ourselves by being selfaware, then what about the body we do? What can be found out and said about it? Is it possible to inquire into the body we do?“ (Mol/Law 2004: 35)

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Dieses Konzept des „Doing Body“ bzw. „Enactments“ kann man so verstehen, dass es nicht ausreichend ist, den Körper nur objektiv oder subjektiv zu betrachten, sondern dass er in seiner Lebendigkeit praxiographisch betrachtet werden muss. Anders formuliert sollte man der Frage nachgehen, ob und wie das Treppensteigen als Lernprozess funktioniert, indem man das Enactment der Treppe ethnographisch erfasst und analysiert, was in der Interaktion passiert und welche Artikulationen von Körperwissen sich daraus ergeben. Wie kann man das beobachtbar machen? Im Gegensatz zu den in der Reharobotik üblichen Methoden habe ich untersucht, wie ein Gesunder auf der Maschine gehen lernt. Konrad 11 , ein ehemaliger Kollege des technischen Leiters, durfte bei einer öffentlichen Vorführung die Maschine ausprobieren. Ich habe dieses Ereignis auf Video aufgezeichnet und dahingehend analysiert, was Konrad macht, weiß und wahrnimmt. Dies habe ich in Relation zu meiner eigenen Erfahrung gesetzt, auch um zu begreifen, wo meine eigenen und damit vermutlich auch die Schwierigkeiten anderer Patienten liegen könnten. Ich werde im Folgenden vergleichend betrachten, was in der Interaktion passiert, wenn die motorischen Programme bei Mensch und Maschine aktiviert werden, um zu zeigen, dass Treppensteigen nicht nur eine Mobilisierung von Körperteilen, sondern ein vielschichtiger, reflexiver Lernprozess ist, der neben Muskelaktivität auch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Artikulationsvermögen erfordert. Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, weil es nach meiner Beobachtung repräsentativ ist für die Art der Erfahrung, die Gesunde auf der Maschine machen, und weil die Praxiographie Aufschluss über den Lerneffekt beim Gehen geben kann.

E NACTMENT DES „I NGENIEURSCHEN N ORMALGANGS “ In der ersten Phase steht Konrad (K) auf der Maschine und ist zunächst völlig überrascht, als sich die Platten zu bewegen anfangen. Da er abgelenkt ist, ist er nicht konzentriert auf das, was die Maschine gleich mit ihm machen wird:

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Konrad steht auf den Fußplatten und schaut sich um. Die Platten bewegen sich langsam auseinander in die Ausgangsposition. Plötzlich fangen die Platten an, sich vor und zurück zu bewegen. Konrad fängt dadurch an, hin- und herzuschaukeln und schaut überrascht. Er tritt mit und schaut an sich hinunter, während er sich mit beiden Armen links und rechts an Haltegriffen festhält. (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Konrad verliert für einen Moment das Gleichgewicht, kann sich dann jedoch schnell fangen und macht, scheinbar automatisch, mit. Er schaut sich dabei selbst auf die Beine und beobachtet die Eigenbewegung seines Körpers im Zusammenspiel mit der Maschine. Nach einigen Augenblicken der Selbstbeobachtung fragt er den Ingenieur, der die Maschine bedient, ob die Bewegungsbahn, auf der ihn die Fußplatten führen, eine Standardtrajektorie sei oder ob man diese modifizieren könne. Der Ingenieur (S), der die Maschine bedient erklärt, dass die Anpassung der Trajektorie auf personenspezifische Körpermaße bei der Treppe nicht notwendig sei, denn das sei ja eine „normale“ Treppenstufe: K: Oh, (schaut auf seine Füße) offenbar hatte ich eine kurze Denkpause. […] Und die Trajektorie ist jetzt immer die gleiche für alle, oder könnt ihr das umstellen? S: Man könnte das jetzt umstellen… Die Treppe, bei der Treppe macht es jetzt nicht so viel Sinn, weil es ja eine normale Treppenstufe quasi ist. K: (verwundert) Das hier ist jetzt Treppe? S: Das hier ist jetzt ‚Treppe-Auf‘. K: Also, ich geh anders Treppe, aber gut, das haben bestimmt schon viele gesagt. (schaut wieder an sich hinunter) S: (scherzhaft) Das ist der ‚Ingenieursche-Normalgang‘. K: (lacht und schaut hoch) Ja, der ‚Ingenieursche-Normalgang‘. (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Als Konrad hört, dass diese Bewegung „Treppe-Auf“ sein soll, ist er überrascht. Offenbar hat er die Bewegung nicht als ein Treppensteigmuster erkannt und hat vermutlich gar keine Treppenstufe gefühlt, die er angeblich gehen soll. Er überprüft diese Information noch einmal, indem er an sich hinabschaut, und stellt in Abgleichung mit dem audiovisuellen Feedback fest, dass er anders Treppe gehe. Das heißt, dass er ein Bewegungsmuster spürt, das nicht seiner eigenen Körper-

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Erfahrung entspricht. Die Erinnerung an sein eigenes Muster lässt ihn jedoch deutlich zwischen dem eigenen und dem fremden unterscheiden. Dieser Unterschied scheint so prägnant zu sein, dass Konrad hinzufügt, dass das wahrscheinlich schon sehr viele gesagt hätten. Er erkennt also, dass es sich nicht um ein zu besteigendes Objekt handelt, das ihm simuliert wird, sondern um eine spezifische Anordnungsstrategie: eine Treppenstufe zu überwinden. Als der technische Leiter von seinem Telefonat zurückkehrt, fangen beide an, sich zu unterhalten: K: Ich hatte eine Diskussion mit ein paar Physikern in London […] Naja, ganz so einfach ist es nicht, wenn es um magnetisches Potenzial geht: Du hast keine Geschwindigkeit im Magnetfeld zum Beispiel (macht eine Sprechpause) Aber dieser… der ‚Ingenieursche Treppen-Normalgang‘ ist schon stark anders als meiner… also ich hab eher so das Gefühl, ich mach so nen ‚Schottischen Spezialtanz‘ (beide lachen). TL: Ja, das ist so wie ‚Eric-Clapton Slow-Hand‘ oder ‚Slow-Foot‘. (ruft zum anderen Ingenieur) Mach mal ‚Treppe-Ab‘ hier. Da wird das noch besser! (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Nachdem er sich an das Muster angepasst hat, kann Konrad seine Konzentration auf etwas anderes lenken. Im Gespräch mit dem technischen Leiter diskutiert er eine abstrakte Fragestellung und während dieser intellektuellen Anstrengung tritt die Körperlichkeit in den Hintergrund. Dann jedoch, in einer kurzen Pause, in der er wieder in sich hineinspürt, bemerkt Konrad, dass das doch ein sehr stark abweichendes Muster sei. In humorvoller Art stellt er sich vor, dass sei wie ein „Schottischer Spezialtanz“. Der Entwickler amüsiert sich darüber, denn offensichtlich weiß er, dass es eine äußerst spezielle Art zu gehen ist und diese sich wohl noch witziger anfühlt, wenn man die Treppe hinuntersteigt. Diese Szene zeigt, dass Treppensteigen keine triviale und universelle Handlung darstellt, sondern eine individuell spezifische Koproduktion aus Treppe und einem in sich bereits heterogenen Individuum aus Muskeln, Wissen, Empfindungen und Erfahrungen. Ich möchte daher argumentieren, dass Gehenlernen nicht einfach das Erlernen eines mehr oder weniger standardisierten Bewegungsablaufes, d.h. eine muskuläre Koordinationsarbeit darstellt, sondern das die Koordination sehr heterogener Akteure erreicht werden muss. Muskeln, Empfindung, Wissen und Erfahrung einerseits und Treppe andererseits stehen in wechselseitigem Austausch und stabilisieren auf

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diese Weise das, was als Gang sichtbar wird. Der Ausfall auch nur einer Komponente in diesem Netzwerk, bspw. Wissen, verschiebt das gesamte Netzwerk und ist nicht auf triviale Weise durch eine Maschine zu ersetzen. Die Erfahrung auf der Maschine produziert also nicht einfach einen Normalgang, indem sie einen Teil des alten Akteur-Netzwerks mit einer Maschine substitutiert, sondern trägt zur Produktion und Stabilisierung eines völlig neuen Netzwerks, eines neuen Gangs bzw. einer neuen Gehtechnik bei. Technik kann man als „eine Familie von Methoden definieren, um andere Entitäten und Kräfte – sowohl menschliche als auch nicht menschliche – zu verbinden und zu kanalisieren. Sie ist eine Methode – eine Methode unter anderen – zur Ausführung heterogenen Engineerings, d.h. zur Konstruktion relativ stabiler Systeme verbundener Einzelteile mit emergenten Eigenschaften in einer feindlichen oder gleichgültigen Umgebung“ (Law 2006: 218). Als Patient wurde Konrad somit einerseits mobilisiert und aktiviert, so dass sich ein Gangmuster in Relation mit der Maschine gebildet hat. Andererseits hat er aber zusätzlich durch aktives Spüren beim Tun erfahren, wie jemand anders geht als er selbst. Die aktive Anordnung seines Körpers als Lernprozess basiert offenbar auf der Verbindung der drei Wissensmodi (Law/Mol 2004) und führt zu neuen Erkenntnissen, die Konrad allein durch äußere Beobachtung, inneres Spüren oder einfache Performierung nicht gewonnen hätte. Ich bin überrascht über diese scheinbar für einen Gesunden selbstverständliche Feststellung, denn ich hatte bis zu diesem Moment angenommen, es handle sich in der Tat um eine simple Treppe. Dass ich zum Zeitpunkt der Benutzung der Maschine weder meinen Körper richtig spüren noch meine Körperteile so anordnen konnte, dass mein Gang einem symmetrischen Muster entsprochen hätte, sah ich als einen Grund, warum mir dieses Wissen verborgen geblieben war. Tatsächlich, und im Nachhinein auch logisch nachvollziehbar, ist es so, dass das Treppensteigen eine personenspezifische Technik ist und die aus dem Motion Tracking in eine Trajektorie transformierten Daten nicht den raumzeitlichen Koordinaten eines Objektes, sondern eines menschlichen Gehers entsprechen. Wenn man von dieser Annahme ausgeht, ist es also nicht möglich, dass der Patient lernt die Treppe zu besteigen, denn das vermeintliche Objekt selbst ist multipler Natur. Es gibt so viele verschiedene Treppen, wie es Geher gibt. Da man jedoch nicht im pluralistischen Sinne unendlich viele Gangarten simulieren

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kann, sind diese „more than one but less than many“ (Strathern 1991: 35). So gesehen, ist der Gang eben keine singuläre Entität, sondern besitzt einen polyvalenten Charakter mit praxisrelevanten Implikationen, denn „attending to the multiplicity of reality is also an act. It is something that maybe done – or left undone. It is an intervention.“ (Mol 2002: 6). Dieses Problembewusstsein zeigt auch der technische Leiter, als ich ihn auf die vielfach geäußerte Kritik, die Gangmaschinen würden einen Standardgang aufzwingen, anspreche: I: Ich dachte, ihr hättet Durchschnitte genommen…? TL: Nee, bei dem nicht. I: Ach, bei der einzigen Sache, wo es wichtig gewesen wäre…! Jetzt kann ich nicht mehr in meine Arbeit reinschreiben, dass ihr nicht den Standardgang aufzwingt… TL: Richtig, na gut, aber einer wäre es immer gewesen… selbst wenn es ein Mittelwert gewesen wäre! (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Welche Realität ausgewählt wird, ist in gewisser Weise auch eine politische Entscheidung mit lebensweltlichen Konsequenzen, denn „if reality is multiple, it is also political“ (Mol 2002: 7). Das bedeutet, dass die Entscheidung für eine spezifische Gangart, die in die Maschine als Referenz-Trajektorie einprogrammiert wurde, auch immer eine Entscheidung darüber ist, was der Gang ist und wie er in der Therapie gemacht wird. Beim HapticWalker wie auch beim Lokomat, auf den ich hier nicht weiter eingehen kann, musste ein Gang, nämlich jeweils der eines bestimmten Mannes, angesichts knapper Zeit und Ressourcen ausgewählt werden und dessen Gang-Habitus (Mauss 1999) bildet nun gewissermaßen die normative Grundlage des Gehens mit den Maschinen. Die von mir artikulierte Kritik bezieht sich darauf, dass es sicherlich aus Sicht der Entwickler notwendig war, diese pragmatische Entscheidung zu treffen, die Implikationen jedoch zu wenig reflektiert wurden, denn „‚mere pragmatism‘ is no longer a good enough legitimization either, because each event, however pragmatically inspired, turns some ‚body‘ (some disease, some patient) into a lived reality – and thereby evacuates the reality of another“ (Mol 2002: 6). Die ‚Spezifik des „Ingenieurschen Normalganges“ wurde weder von mir noch von anderen von mir befragten Patienten erkannt, die lediglich äußern konnten, dass es sich „komisch“ anfühle, ohne

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dieses Gefühl einordnen oder erklären zu können. Im Gegensatz dazu steht die Erkenntnis, die Konrad im Folgenden macht.

K ONTINGENTE T ECHNIK : D IE „V ORDERFUSS-K ONTROVERSE “ Beim Programm „Treppe-Ab“ nimmt das haptische Erleben an Intensität noch zu. Wieder schaut Konrad an sich herab und beobachtet, was mit ihm geschieht: K: Ach, und jetzt, ah, (schaut an sich hinunter, während die Platten sich abwechselnd absenken) lerne ich gerade mal Treppe runter gehen… ist ja Angst einflößend (lacht). TL: (zum Ingenieur) Mach mal langsamer. K: Echt? So geht jemand Treppe? TL: Ja gut, dass ist ja schnell jetzt. Du veränderst ja die Trajektorienform immer ein bisschen von Kadenz zu Kadenz (zeigt mit beiden Händen kürzere und längere Abstände oder Stufen). (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Das Abwärtssetzen der Beine kommt Konrad so merkwürdig und schwierig vor, dass er es, wenn auch scherzhaft, fast beängstigend findet. Da diese Technik offenbar extrem abweicht von dem, was er kennt, bezeichnet er dieses Erleben als Lernvorgang, den er gerade durchmacht. Der technische Leiter erklärt, dass die Form der Trajektorie aber auch etwas mit der Gehgeschwindigkeit, der Kadenz, zu tun habe. Das heißt, dass die Art der Treppensteigbewegung nicht nur von den biometrischen Parametern und der spezifischen Technik desjenigen abhängt, dessen Gang vermessen wurde, sondern von der zeitlichen Verlaufsform. Hier wird noch deutlicher, dass man ein Muster nur dann erfolgreich performieren kann, wenn man die spezifische Technik durch aufmerksame Beobachtung und Wissen erlernt hat. Die Technik selbst ist jedoch ebenfalls eine fluide Technologie (De Laet/Mol 2000), die in Abhängigkeit zu raumzeitlichen Gegebenheiten ihre Form verändert. Diese objektiv scheinbar eindeutige Verkörperung als von den Platten vorgegebene Trajektorie und die adaptierte Anordnung des bewegten Körpers des Gehers, ist jedoch alles andere als selbst-evident für einen außenstehenden, nichtwissenden Betrachter. Offenbar fühlt sich die spezifische Technik nämlich nicht nur für den Geher auf der Maschine befremdlich an, sondern sieht auch

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merkwürdig aus, so dass ein Zuschauer (Z), das, was er sieht, mit einer absurden Vorstellung verbindet. Der Zuschauer kann nicht erkennen, was Konrad da macht, bis dieser, der ja bereits weiß, dass das „Treppe-Ab“ sein soll, ihn aufklärt: Z: So und jetzt machen Sie den ‚Himalaya-Rückwärts-Hoch‘, oder was wird das? K: Das soll eigentlich normales Treppensteigen nach unten sein. (scherzhaft) Allerdings dann schon für den fortgeschrittenen Patienten. I: Eher was für den fortgeschrittenen Gesunden. (Video: Vorführung HPW 0806-14)

Als Patient verhält sich Konrad also in einer für den Beobachter nicht verständlichen Art und Weise. Da er sich aber verständlich machen kann und versteht, was er tut, kann er seine Performance Außenstehenden näher bringen. Ich meine, dass man hier einen wesentlichen Grund sehen kann, warum spezifische Probleme, die Schlaganfall-Patienten beim Gehenlernen haben, ungewusst bleiben. Viele Patienten, selbst wenn sie ihr Sprachvermögen noch besitzen, sind nicht in der Lage, sich und anderen zu erklären, was ihr Körper tut. Ohne ein tieferes Verständnis dafür, was der eigene Körper macht oder eine Möglichkeit dies zu artikulieren, kann man offenbar nicht verstehen, was in der Interaktion mit einem menschlichen oder nicht-menschlichen Therapeuten passiert, der den Körper führt. In der Konsequenz bedeutet das, dass vermutlich viele Aspekte therapeutisch bisher nicht berücksichtigt werden können, weil niemand von ihnen weiß oder sie in einer Sprache ausdrücken kann, die andere verstehen. Die notwendige Artikulation steht jedoch immer auch in Relation zu einem emergenten Wissen, das durch die Integration objektiv, subjektiv und performativ erworbener Informationen in der Praxis des Gehens selbst entsteht. Eine Befragung von Gehern ohne Bezug zum Handeln/Wissen kann daher vermutlich schnell zu Missinterpretationen führen, die einem tieferen Verständnis von mit dem Gehenlernen verbundenen körperlichen Transformationsprozessen und der daraus (nicht) resultierenden Agency entgegenstehen. Auf meine Frage beispielsweise, ob er finde, dass sich das nicht wie eine Treppe anfühle, antwortet Konrad mit einer Erklärung, die ich als Gang-Agnostiker nicht verstehe. Offenbar hat das Treppensteigen abwärts normalerweise etwas mit dem „Knick im Vorderfuß“ zu tun:

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I: Also Sie finden, das ist nicht wie eine Treppe? K: Naja, das fühlt sich vor allen Dingen nicht wie eine Treppe an. Gut, der entscheidende Punkt ist, dass der Knick im Vorderfuß fehlt. Allein dadurch fühlt sich’s anders an. Allein dadurch. I: Welcher Knick im Vorderfuß? (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Diese Szene hat für mich als Patientin überraschendes Gangwissen eines Gesunden mobilisiert, das einen Aspekt betrifft, der mir noch nicht aufgefallen war. Im weiteren Verlauf artikuliert sich nun zusätzliches Gangwissen innerhalb des Projektes, das mir bis dahin durch Befragung der Ingenieure und Mediziner ebenfalls noch nicht zugänglich gewesen war. Die Spezifität und gleichzeitig Kontingenz der Treppe wird evident und die Assoziationen evozierenden Eindrücke ergeben einen Sinn, als der technische Leiter erklärt, dass das äußerst befremdliche Gefühl beim Hinuntersteigen daher rührt, dass der Ingenieur, dessen Gangmuster Konrad nachvollzieht, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen mit der Ferse zuerst aufsetzt und nicht mit dem Vorderfuß-Ballen: TL: Der Punkt ist… was der macht, was offenbar alle anderen nicht machen, ist: Er senkt die Ferse auf die Treppenstufe ab beim Runtergehen. (macht einen Schritt, setzt die Ferse zuerst auf) Alle anderen hüpfen irgendwie so (tippt mit den Fußspitzen auf) auf den Ballen. (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Wenn man davon ausgeht, dass das Gangmuster eines Gehers nicht determiniert und unveränderbar ist, kann man sagen, dass „die Stabilität und Form von Artefakten als eine Funktion der Interaktion heterogener Elemente gesehen werden sollte, so wie diese in einem Netzwerk geformt und dort assimiliert werden. In dieser Sichtweise ruht die Erklärung technischer Form auf einer Untersuchung sowohl der Bedingungen als auch der Taktiken des Systembauens.“ (Law 2006: 216) Anders gesagt hängt die Art und Weise, wie jemand Treppen steigt, damit zusammen, wie derjenige gelernt hat, die Füße zu setzen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, und vorwärts zu kommen. Ich habe im Anschluss an diese Erkenntnis andere Menschen im Alltag beobachtet und festgestellt, dass die meisten Menschen tatsächlich hauptsächlich nur mit der Fußspitze auf einer Treppenstufe aufsetzen, insbesondere dann, wenn sie schneller laufen. An mir selbst habe ich festgestellt, dass ich immer mit der vollen Sohle auftrete, dann jedoch

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nicht in der Lage bin, den Fuß so anzuheben, dass er nicht an der nächsten Stufe hängen bleibt. Dazu wäre es nämlich notwendig, mit der Fußspitze kurz nach unten zu drücken, was ich überhaupt nicht kann. Es kann sein, dass die Bedeutung des Vorderfußes aus Sicht der Biomechanik für das Gehen auf der Ebene nicht von besonders großer Bedeutung ist und dessen funktionelle Abwesenheit durch die Fixierung des Fußes als unveränderliches Ganzes auf der Fußplatte keinen signifikanten Unterschied für das ebene Gehen macht. Aber beim Treppensteigen scheint mir der Fußspitzen-Kontakt eine wichtige Rolle für den Erhalt der Balance beim Setzen des Fußes auf die nächste Stufe zu spielen. Das heißt, dass die Abwesenheit eines Körperteils, dessen aktiver Beitrag zur Netzwerkstabilität nicht in seiner Aktivität wahrgenommen wird, auch nicht als De-Stabilisator erkannt wird und dass man dem Fuß viel mehr Aufmerksamkeit schenken müsste, wenn Stabilität nicht mehr nur in der Ebene, sondern auch beim Überwinden von Hindernissen gewährleistet werden soll. Sowohl beim Lokomat als auch beim HapticWalker wird der Fuß zur Zeit fixiert. Wie die Vorderfuß-Kontroverse jedoch zeigt, ist er eben nicht unveränderlich, so dass diese Funktion beispielsweise in Form einer geteilten Fußplatte realisiert werden müsste, um ein Erlernen der Treppentechnik zu optimieren. Im Gegensatz zu mir scheint die Medizinstudentin (M), die über das Treppensteigen promoviert hat, ebenfalls die Vorderfuß-Ferse-Kontroverse zu kennen: M: Gab’s da nicht mal diese Kontroverse, ob jemand so auftritt mit oder Ferse oder so oder mit den Zehen? (macht einige Schritte, bei denen sie die Fußspitze hoch- und runterklappt) oder platt? (stellt den Fuß als Ganzes auf den Boden) TL: Nein, ob man die Ferse überhaupt aufsetzt beim Runtergehen. M: Achja genau. Manche gehen ja so ‚platsch, platsch‘. (macht ein paar plattfüßige Schritte und lacht) (Video: Vorführung HPW 08-06-14)

Das bedeutet, dass auch die Gang-Forscher durch ihre Arbeit ein implizites Wissen besitzen, das erst expliziert wird, wenn die Sprache auf spezifische Feinheiten des Gehens kommt. Dieses „Tacit Knowledge“ (Nonaka 1994) ist zwar innerhalb des Forschungsprojektes vorhanden, nicht jedoch in der Standardliteratur, die normalerweise für die Entwicklung von Gangmaschinen herangezogen wird. Im Gegensatz zu dem biomechanisch eingehend erforschten „Standardgang“ (Perry 1992), war es daher beim Bau einer Maschine, die das Treppensteigen

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simulieren kann, ein Problem, dass es keine Daten dazu gab, wie ein Mensch überhaupt Treppen steigt, so dass dieses Verfahrenswissen erst mit Hilfe des Motion Trackings mobilisiert werden musste. Die Tatsache, dass die zur Simulation notwendigen Daten im Entwicklungsprozess erhoben und mathematisch transformiert werden mussten, liefert gleichzeitig eine Bestätigung dafür, dass der „Ingenieursche Normalgang“ kein standardisiertes Artefakt, sondern eine Abbildung eines ausgewählten relationalen Prozesses ist und es sich somit um eine kontingente, personenspezifische Technik handelt, die von jedem Menschen unterschiedlich umgesetzt wird.

B EDEUTUNG

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G ANG -A NALYSE

Dieser Artikel hat das Problem des Gehenlernens mit Gangmaschinen, die für die Rehabilitation von Schlaganfall-Patienten entwickelt wurden, thematisiert und die Frage gestellt, welchen Effekt der Einsatz einer Maschine auf ein heterogenes Akteursnetzwerk hat, das beim Gehen mobilisiert wird. Aus einer symmetrischen Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie wurde daher am Beispiel des Lokomat betrachtet, was der Gang ist, und untersucht, was beim Gehenlernen eines Gesunden auf dem HapticWalker passiert. Dabei wurde herausgearbeitet, (1) dass der Gang nur unzureichend als Objekt verstanden werden kann, sondern vielmehr einen Prozess darstellt, in dem und durch den so heterogene Akteure wie Körper, Wissen und Erfahrung in spezifischer Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden; (2) dass der HapticWalker nicht eine Treppe als Objekt simuliert, sondern das Treppensteigen als personenspezifische Technik und Interaktion eines bestimmten Menschen mit einer bestimmten Treppe; (3) dass das Gehenlernen nicht nur die Mobilisierung von Körperteilen im Sinne eines Trainings ist, sondern ein vielschichtiger, reflexiver Lernprozess, der neben Muskelaktivität auch ein intaktes Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen und dessen direkte und technisch vermittelte Artikulation erfordert. Daraus ergeben sich folgende Implikationen: (1) Die Methoden der Reharobotik – Ganganalysen, die das Bewegungsverhalten und die Muskelaktivität beschreiben, sowie Gesunden- und Patientenbefragungen als Modellierungsgrundlage des Maschinendesigns – produzieren unzureichendes Wissen, um Gehen als Prozess und als Koordination

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eines heterogenen Akteur-Netzwerks zu verstehen. (2) Das Paradigma des „Motorischen Lernens“, das auf einem mechanistischen Körperverständnis und einem behavioristischen bzw. kognitivistischen LernModell basiert, berücksichtigt zu wenig die Zusammenhänge in ihrer Komplexität der aus einem Schlaganfall resultierenden Symptomatik jenseits der offensichtlichen Schwäche gelähmter Muskeln. (3) Das Gehen als naturalisierte Kategorie sollte in der Kultur- und Sozialanthropologie sowohl theoretisch, beispielsweise als Grundlage des Habitus-Konzeptes, als auch praktisch als körperliche Voraussetzung für die Ethnographie stärker reflektiert werden. Neben der feldbezogenen Analyse war es das Anliegen dieser Arbeit, einen Beitrag zur Entwicklung und Verbesserung der TherapieErgebnisse durch die Artikulation verkörperten Wissens zu leisten und sowohl als selbst von der Schlaganfall-Symptomatik Betroffene als auch als Ethnographin den kritischen Dialog mit einer Experten-Kultur fortzusetzen. Die Aussagekraft und Gültigkeit meiner hier präsentierten Argumentation wird allerdings dadurch limitiert, dass es sich um den Vergleich zweier Einzelfälle handelt. Eine umfassendere Studie des Gehens mit den Maschinen, die die Erfahrungen von mehreren Patienten, Gesunden und Therapeuten untersucht, wäre sicherlich sinnvoll, um zu einem fundierteren Verständnis der Praxis zu kommen. Ebenso wäre die Diskussion dieser Ergebnisse mit anderen Experten des Feldes eine große Bereicherung für die Interpretation und Erweiterung der Reflektion der empirischen Daten. Auf der konzeptionellen Ebene habe ich mich durch die Wahl des Akteur-Netwerk-Ansatzes argumentativ innerhalb derselben Logik bewegt, die das Prinzip des „Motorischen Lernens“ ausmacht, weil sie den Erkenntnis-Fokus auf materiell verortbare Aktivität legt. Ich habe mich vor allen Dingen deshalb dazu entschieden, weil das symmetrische und handlungsorientierte Netzwerk-Konzept eine interdisziplinär kommunikative Basis für die Auseinandersetzung mit einem medizintechnischen Feld darstellt, das teilweise analoge Begriffe verwendet und abgesehen von der Verwendung positivistischer Evaluationsinstrumente wie klinischen Studien als Entscheidungsgrundlage hauptsächlich in einer konstruktivistischen Denk-Tradition verwurzelt ist. Dementsprechend habe ich versucht zu zeigen, dass beim Treppensteigen mehr passiert als Muskelaktivierung und dass Performativität als Wissensmodus sowohl bei Patienten und Gesunden als auch innerhalb des Projektes neue Aspekte des Gehens zum Vorschein bringen kann.

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Die Behebung von Dis-Ability durch die Entwicklung neuer Technologien kann wahrscheinlich nur durch ein relationales Verständnis von Körperlichkeit erfolgreich sein, das ausbleibende Therapieerfolge nicht notwendigerweise als Versagen einzelner Komponenten oder gar individuellen Mangel an Motivation und Potential, sondern immer als Verschiebung eines Akteur-Netzwerks begreift. Vielleicht muss man den zu rehabilitierenden Gang in seiner Multiplizität von einem agnostischen Standpunkt, wie ich ihn unfreiwilligerweise eingenommen habe, und wie er auch in den „Science and Technology Studies“ vertreten wird, als emergente Ordnung neu betrachten, um Therapie in der Praxis besser zu machen. Anstelle distanzierter Kritik stellt meine Feldforschung somit zum einen den Versuch dar, Möglichkeiten der Einflussnahme und des Problemlösungspotentials sozialanthropologischer Forschung aufzuzeigen und damit dem aktuellen Diskurs des „mattering“ in der STS Rechnung zu tragen, denn „[c]ritique tries to contribute to the world by showing the absence of goodness, a failure to serve the right values. Puzzle-solving searches for facts that lack usually with scientific tools. It matters because it helps to solve a problem within a set of supposedly shared values“ (Law 2004: 5). Zum anderen ist dieser Artikel ein Plädoyer dafür, dass die „Disability Studies“ aus ihrer marginalen Rolle befreit und deren Potential nicht länger nur als „erkenntnisleitendes Moment für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft“ (Waldschmidt 2007:15) genutzt werden sollten.

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Lernen zu mukoviszidieren Translationen bei der Stabilisierung einer therapeutischen Beziehung 1 S TEFAN R EINSCH

12. November in einer Spezialklinik für Mukoviszidose David (16) sitzt auf seinem Bett, neben ihm seine Mutter. Davids Haut ist blass, grau. David sitzt abgemagert und eingesunken da, neben sich einen Laptop auf dem „Solitär“, ein Kartenspiel, läuft. Während der Unterhaltung spielt David an seinem Infusionsschlauch. Mich erschreckt, wie schüchtern er da sitzt und spricht. Er sagt kaum etwas. David geht es seit ein paar Wochen schlecht. Er ist nicht zur Schule gegangen. Heute ist er ins Krankenhaus gekommen. Er wird Antibiotika gegen die Lungeninfektion bekommen und er soll essen und trainieren, damit er kräftig wird. Morgen soll er zu einer Sportgruppe gehen. Später stehe ich mit seiner Ärztin auf dem Gang. Sie sei sich nicht sicher, wie direktiv sie mit David sein sollte. In diesem Fall aber hätten sie sich dafür entschieden, direktiv zu sein und auch Dinge zu sagen, die wehtun. Als ich frage, was sie mit „wehtun“ meint, überlegt sie kurz, stockt und schaut mich an. „Dinge die jemandem wehtun, die man nicht wissen will“. Sie meint, dass jetzt „der letzte Zeitpunkt“ sei. Wenn sie David und die Eltern jetzt nicht überzeugen könne, sei der Junge verloren. Er müsse entweder in einem Jahr auf die Lungentransplantationsliste „oder wird sterben gelassen“. Und die Behandeln-

1

Diese Arbeit ist Teil einer laufenden Dissertation an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Den Neologismus ‚mukoviszidieren‘ verdanke ich Jörg Niewöhner.

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den glauben nicht, dass David transplantationsfähig sei: dazu sei er nicht kooperativ genug. 13. November Ich fahre mit David und einem älteren Patienten zum Sport. Auf der Hinfahrt schiebe ich Davids Sauerstoffgerät. Während des Sports wird David lebhafter. Er sagt, dass es immer leichter würde. Auf dem Rückweg schiebt er sein Sauerstoffgerät selber. Auf die Frage, ob er wiederkommen wolle, antwortet er: „mindestens einmal in der Woche“. 3. Dezember. CF- Besprechung David ist seit 2 Wochen wieder zu Hause. Bei der wöchentlichen Untersuchung letzten Freitag wog er 45,7 kg, ein bisschen mehr als bei der Entlassung. Seine Haut war rosig, nicht so grau und eingefallen. Ein Arzt meint „Er saß ganz stolz da. Wir stellen ihn immer auf die Waage. David erzählte, dass er zwei [Energiegetränke] am Tag trinkt. Er hat sein mobiles Sauerstoffgerät mitgebracht.“ Er sei „zufrieden und stabil“. Eine junge Ärztin fragt, wann die Grenze zur Magensonde 2 sei. Der erste Arzt darauf „Wenn David nicht mehr zunimmt.“ Davids Ärztin: „Das funktioniert jetzt. Das hat bei ihm immer funktioniert, wenn es sein musste, aber bei der nächsten Infektion nicht mehr.“ 11. Januar. Im Krankenhaus treffe ich den Vater von David vor dem Fahrstuhl. Er bedeutet mir, mich zu setzten. David geht es wieder schlecht. Diesmal sind sie gleich ins Krankenhaus gekommen. Der Vater organisiert sich den Tag mittlerweile so, dass er David zum Sport fahren kann. „Ich hab gesehen, dass es ihm gut tut. Es ist [durch den Sport] von Tag zu Tag besser geworden“ 3. März. CF-Besprechung David geht es nicht besser. Er wird morgen eine Ernährungssonde durch die Bauchdecke gelegt bekommen. Als die Nachricht verkündet wird, herrscht einen Augenblick Stille im Besprechungsraum. Dann bricht ein Durcheinander aus. Die Ärzte, Schwestern, Psychologen und Physiotherapeuten reden durcheinander. Die Szene erinnert mich an Situationen nach Bekanntgabe von Wahlergebnissen.

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„Perkutane endoskopische Gastrostomie“ ist eine Ernährungssonde, die durch die Bauchwand in den Magen gelegt wird.

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Dieser Auszug aus meinen Feldnotizen ist die Geschichte eines Jugendlichen, den ich über einen Zeitraum von 4 Monaten begleitet habe. Sie zeigt einige Herausforderungen der Mukoviszidose für Jugendliche und Behandelnde: Einerseits die Durchführung zeitaufwändiger Therapie und gleichzeitig die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild. Was ist in den vier Monaten passiert? Etwas ist passiert, was Davids Interesse an der Therapie der Klinik geweckt hat. Die Therapie wurde für Davids Interessen essentiell. Ich werde argumentieren, dass dies das Ergebnis der Arbeit der Mitarbeiter der Klinik ist. Sie haben David klar gemacht, dass ihm die Therapie dabei hilft, seine eigenen Ziele zu verwirklichen. Wie sie dies erreicht haben, versuche ich in diesem Artikel zu zeigen.

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Cystische Fibrose (CF, Mukoviszidose) ist die häufigste autosomalrezessive Erkrankung der weißen Bevölkerung. Während in den 70er Jahren die mittlere Lebenserwartung bei 15 Jahren lag, war sie Anfang der 90er Jahre bei 29 Jahren und liegt heute bei 36,5 Jahren (CFF 2005). Der Anstieg wird auf einen verlangsamten Verlauf der Krankheit zurückgeführt. Dies wurde weniger durch neue Therapiemethoden als vielmehr eine intensivere, umfassende Therapie in spezialisierten Kliniken erreicht (Davis 2006). Die Krankheit äußert sich vor allem in den Atemwegen durch einen verminderten Schleimabtransport, Entzündungen und Besiedlung mit Bakterien bis zur progressiven Zerstörung der Lunge, was bei 90% der Betroffenen letztendlich zum Tod führt. Durch die chronische Lungenentzündung haben Betroffene einen erhöhten Energieverbrauch und einen verminderten Sauerstoffaustausch. Gleichzeitig haben 90% eine verminderte Aufnahme von Nährstoffen, da die Bauchspeicheldrüse durch verdickte Sekretionen die Verdauungsenzyme nur ungenügend in den Darm befördern kann (Ratjen/Döring 2003) 3 . Die gängigen Therapieansätze verlangen eine aktive Rolle der Betroffenen, was sich vor allem bei Jugendlichen im-

3

Alle medizinischen Angaben, soweit nicht besonders gekennzeichnet, beziehen sich auf diese Review. Eine Übersicht und freien Zugang zu aktuellen Publikationen über CF für Behandelnde und Betroffene gibt es unter www.sgpp-schweiz.ch/go2/de/swgcf/publikationen.

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mer wieder problematisch gestaltet. Während der Pubertät verschlechtern sich klinische Messwerte der Erkrankung wie z.B. die Lungenfunktion stärker als davor und danach. 4 Epidemiologische Studien zeigen, dass nur ein geringer Teil der Therapieempfehlungen umgesetzt wird. Myers und Horn (2006) berichten, dass nur 29,5% der Patient_innen täglich Atemtherapie machen – obwohl angenommen wird, dass dadurch der Krankheitsverlauf gemildert wird und die Lebenserwartung steigt. Eine Erklärung lautet, Jugendliche würden den Nutzen nicht erkennen bzw. die Therapie zu zeitaufwendig finden (Myers/Horn 2006). Eine andere geht davon aus, dass Jugendliche etwa beim Schlucken von Verdauungsenzymen in der Frühstückspause eine Abnormität sichtbar machen, was mit ihrem Bedürfnis nach Normalität kollidiert (Badlan 2006). Normalität bildet für Menschen moderner Gesellschaften ein Orientierungsraster, dessen Selbstverständlichkeit durch „ein Ensemble von institutionalisierten und nicht institutionalisierten Praktiken garantiert und (re-)produziert wird.“ (Sohn 1999: 9). Normalität ist demnach nicht „natürlich“, sondern muss hergestellt werden und ist ein Effekt spezifischer Ordnungstätigkeiten (ebd.: 10). Dass Jugendliche „normal“ sein wollen, kann Motivator für die Therapie und zugleich Hindernis sein. Willis et al. (2001) argumentieren in diesem Sinne, der stärkere Abfall der Lungenfunktion von Mädchen während der Pubertät könnte auf die Erfüllung normativer weiblicher Rollenbilder zurückzuführen sein. Diese forderten eine weniger aktive Haltung als jene der jungen Männer. Wie Jugendliche in diesem Raster lernen, ihre Therapie und ihr Leben zu integrieren ist das, was ich lernen zu mukoviszidieren 5 nenne. Die Rolle des medizinischen Personals sollte dabei die Unterstützung bei einer informierten Entscheidungsfindung zu Lebensweise und Gesundheitsverhalten sein (Badlan 2006). Bei dieser Unterstüt-

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Ich nutze Pubertät nicht als festgelegten Zeit- und Identitätsrahmen, sondern als vorläufige Kategorie, die aus dem Feld stammt. Behandelnde fragen sich: „Wie schaffen wir es, die Jugendlichen erfolgreich durch die Klippen der Pubertät zu bekommen?“ (Zitat einer Ärztin).

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Mukoviszidieren ist das Verb für Mukoviszidose ‚machen‘. Es betont die Herstellung der Mukoviszidose in der Praxis von Krankheit, Diagnostik und Therapie und grenzt sie gegen die Rolle des ‚Muko‘ ab. Lernen meint hier die Aneignungs- und Integrationsprozesse der Normalisierung, auf die ich ausführlicher in meiner Dissertation eingehe.

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zung ist für die Behandelnden wiederum die Frage zentral, wie die Therapie außerhalb des Krankenhauses umgesetzt, und mit dem Leben vereinbart werden kann. Bisherige Arbeiten aus medizinischer und psychologischer Perspektive haben vor allem auf Interviewbasis die Rollenvorstellungen und Behandlungsbarrieren aus individueller Sicht thematisiert. Das ethnographische Arbeiten, das dieser Arbeit zugrunde liegt, nimmt hingegen die Konstellation Patient_in, Behandler_in, Klinik in ihren verschiedenen Alltagen als Akteur-Netzwerk in den Blick. Eine solche Perspektive kann Spannungen sichtbar machen, die zu Problemen bei der Integration von Therapie und Alltag führen. Gleichzeitig kann sie Strategien zeigen, wie diese Probleme von den Betroffenen gelöst werden (Kleinmann 1995: 116; Mol/Law 2004: 58).

M ETHODISCHES V ORGEHEN Anhand von empirischem Material aus meiner Feldforschung mit Jugendlichen und Behandelnden beschreibe ich die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung. Dabei analysiere ich den Transfer von Praxen zwischen Krankenhaus und Lebenswelt, zeige Strategien der Normalisierung im Umgang mit Mukoviszidose auf, und diskutiere, wie die Gestaltung einer therapeutischen Beziehung dabei helfen kann, ein weitgehend normales Leben mit einer langfristigen Leistungsfähigkeit zu verbinden. Um meine Informanten in ihren Lebens- und Arbeitspraxen zu verstehen, habe ich die Methode der teilnehmenden Beobachtung gewählt. Ich bin Jugendlichen und medizinischem Personal in ihrem alltäglichen Tages- und Arbeitsablauf gefolgt, habe sie beobachtet und an ihren Aktivitäten teilgenommen. Ich habe die Spuren und Verbindungen nachgezeichnet, die von den Akteuren hinterlassen wurden. Um allen Spuren nachgehen zu können und die Analyse nicht durch Vorannahmen über Kategorien von vornherein zu begrenzen, bin ich induktiv vorgegangen und habe meine Kategorien vornehmlich aus dem Material heraus entwickelt und explizite Vorannahmen am Material überprüft. Dabei habe ich mich hauptsächlich aus

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dem analytischen Repertoire der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bedient. 6 Drei Schlüsselkonzepte aus der ANT, die für meine Analyse von Bedeutung sind, bedürfen einer kurzen Erläuterung: Das „Prinzip der Symmetrie“, die „Delegation von Handlungsträgerschaft“ und die „Translation“. Das Prinzip der Symmetrie fordert das Einbeziehen heterogener Entitäten – Bakterien, Inhalationsgeräte, Ionenkanäle, Jugendliche, Therapeut_innen und Selbsthilfegruppen – in die Analyse der Frage, wie man mit Mukoviszidose lebt. Akteure in diesem Sinne sind nicht nur Menschen. Akteur ist, wer oder was jemanden zum Handeln bringen kann, also Handlungsträgerschaft besitzt. Nichtmenschlische Akteure werden also menschlichen Akteuren gleichgestellt. Die beiden Kategorien werden symmetrisch behandelt. (Latour 1994). Prout (1996) hat dies am Beispiel eines Inhalators gezeigt. Braucht ein Inhalator zum Vernebeln eines Medikaments fünf Minuten, muss der Jugendliche ebenso lang das Atmen mit einer bestimmten Technik durchführen, um ihn zu nutzen. Diese Intention des Entwicklers ist in den Inhalator eingebaut. Seine Handlungsträgerschaft oder agency, die andere Akteure zum Handeln bringt, definiert den Inhalator hier als Akteur. Allerdings bestimmt er nicht allein, wie Inhalieren im Alltag abläuft. Therapeuten können sich aufgrund der technischen Konstruktion gegen die Verordnung gerade dieses Inhalators entscheiden oder Nutzer können ihn in der Ecke stehen lassen. Die ‚Ursachen‘ für die tatsächlichen Abläufe verstehe ich als ‚Möglichkeiten zur Handlung‘, die durch die Ausführung zu ‚aktualisierten Virtualitäten‘ werden (Latour 2005: 59). Die Ergebnisse dieser Interaktionen führen einerseits zu einer Weiterentwicklung des Gerätes. Andererseits muss jede Therapie in das Leben der Jugendlichen eingefügt werden. Dabei verändert jede neue Beziehung viele bestehende. Wenn es um therapeutische Wirksamkeit im Alltag geht, interagieren Fragen danach, ob man mit dem neuen Inhalator nebenbei Fernsehen kann oder ob man sich zu sehr auf die Inhalation konzentrieren muss, mit Fragen nach Vernebelungszeit und der minimalen Tröpfchengröße um die kleinen Atemwege zu erreichen. ANT betont die relationale Natur eines solchen Gefüges von Beziehungen und versteht sie als Ergebnis kontinuierlich produzierter

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Theorie steht hier für ‚Perspektive‘ oder ‚Art, die Welt zu sehen‘. Sie ist also keine Erklärung, sondern ein Werkzeug (Latour 2005: 143).

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und reproduzierender Aktivitäten. Ich gehe nicht von einem festgelegten Verhältnis zwischen Jugendlichen und Behandelnden, Gesunden und Kranken, Patient_innen und Behandlungsgeräten aus, welches nur noch freigelegt werden muss. Stattdessen interessiere ich mich für die Frage, wie es dazu kommt, dass diese Beziehungen und Grenzen sich stabilisieren oder verändern (Law 1999; Fox 2005; Latour 2005). Diese Veränderungen bezeichnet der französische Soziologe Michel Callon als Translationen. Mittels seiner „Soziologie der Translation“ analysiert er, wie Akteur-Netzwerke sich verändern, wenn neue Wissensbestände oder Handlungsabläufe integriert werden (Callon 1999/1986). Translation untersucht also Veränderungs- und Lernprozesse als Netzwerkverschiebungen und nicht, wie herkömmlicherweise verstanden, als Wissensaneignung durch individuelle Akteure. Aus molekularer wie epidemiologischer Sicht ist Mukoviszidose heutzutage gut erforscht (Ratjen/Döring 2003). Weniger gute Daten existieren hingegen zum Ablauf und zur Integration von Therapie in verschiedene Alltage speziell bei Jugendlichen und dies obwohl gerade die epidemiologischen Daten auf die Bedeutung sozialer Faktoren hinweisen. CF-Patient_innen in niedrigen Einkommensgruppen haben beispielsweise während jedes Lebensjahres eine um 44% höhere Mortalitätswahrscheinlichkeit als solche aus der höchsten Einkommensgruppe (O’Connor et al. 2003). Bisherige Arbeiten in der Medizin zur Arzt-Patienten-Beziehung nutzen vorwiegend Fragebögen oder Interviews. Diese haben zum einen die Limitierung des Reporting-Bias, da den Patient_innen die soziale Erwünschtheit der akkuraten Therapiedurchführung bewusst ist. 7 Des Weiteren prüft man mit Fragebögen vor allem vorhandene Hypothesen und zwingt dadurch dem Gegenüber den eigenen Interpretationsrahmen auf. Zum anderen sind Fragebögen und Interviews nicht in der Lage, Alltagspraxis direkt zu erfassen. An diesem Punkt setze ich an, indem ich mich der Methode der teilnehmenden Beobachtung bediene. Akteure haben implizites Wis-

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So schränken etwa Tyc und Throckmorten-Belzer (2006) ihre Ergebnisse aufgrund eines möglichen Reporting-Bias ein: Die Häufigkeit des Rauchens scheint nicht den Gesundheitszustand der Jugendlichen zu beeinflussen. Gesunde Jugendliche (29,6% regelmäßige Raucher) füllten den Fragebogen jedoch in einer anonymen Umgebung, CF-Patienten (3% regelmäßige Raucher) füllten den Bogen in der Klinik nach einem Gespräch aus.

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sen. Dieses kann nicht abgefragt, aber dessen Umsetzung in Praxis kann beobachtet werden (Fetterman 1998; Marcus 1998). Zusätzlich im Feld geführte ethnographische Interviews entsprechen weitgehend dem ersten Teil eines mehrphasigen Interviews (Honer 1993). Sie sind narrativ, also unstrukturiert, und ermöglichen dadurch Prioritätensetzungen durch die Probanden (Bourdieu 1997). Bei den Feldbesuchen habe ich Feldnotizen und Fotos gemacht und diese meinen Informanten wieder vorgelegt (Emerson et al. 1995; Pink 2001). Ich kartographiere damit die Geschichten und Beziehungen zwischen den Akteuren und suche neue Wege für Erklärungen, die ich später in Einzelinterviews und Gruppendiskussionen ins Feld zurück spiegele. An ‚Fällen‘ habe ich Probleme kristallisiert und meine Informanten gebeten, diese einzuordnen, zu kommentieren und zu kontextualisieren. Abb. 1: Auszug aus der Reportage, die mir als Interviewvorlage diente.

Eine erste Auswahl von Material habe ich als Reportage aufgearbeitet (s. Abb. 1) und den Informanten vorgelegt. Sie stellt die Geschichte eines Patienten auf der Warteliste für eine Lungentransplantation dar. Ich folge hier der Strategie, Fotos als Referenzpunkt für die Diskussionen über geteilte Aspekte der Realität zwischen Informant und Ethnograph zu nutzen (Pink 2001: 69). Zu dieser Spiegelung von strukturierten Feldnotizen kamen vertiefende Interviews mit den Probanden, ausgewählten Ärztinnen, Physiotherapeuten und Psychologinnen. In den Interviews habe ich keine Themen vorgegeben, sondern nur Erzählanstöße mit ‚Fällen‘ aus dem ersten Teil der Feldforschung. Die Gruppendiskussionen habe ich auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert (Fettermann 1998). Um die Einzelfälle einzuordnen, habe ich Fokusgruppen genutzt, bei denen Fallgeschichten vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen kontextualisiert werden (Morgan

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1997). „Diskutieren [ist] die Strategie, bei der Argumente sinnvoll zur Geltung gebracht werden“ (Dreher/Dreher 1991). Fokusgruppen eignen sich deshalb dazu, Legitimationsstrategien deutlich zu machen. Interviews und Fokusgruppen fanden im Januar bis Februar 2008 statt. Die Forschung für diesen Artikel entstand im Rahmen meiner medizinischen Dissertation. Zuerst habe ich im Rahmen eines zweiwöchigen Praktikums innerhalb des Medizinstudiums Jugendliche und Mitarbeiter der Klinik kennen gelernt und Kontakt zu den ‚Gatekeepern‘ aufgebaut. Mein Feldzugang und das Arbeiten im Feld wurde durch mein Alter (25), mein Medizinstudium (8. Semester) sowie meine Dissertation bei der leitenden Oberärztin erleichtert. Beides ermöglichte es mir, mich bei Behandelnden und Jugendlichen als Student, der hier seine Doktorarbeit schreibt, einzuführen. Zur Rolle eines Medizinstudenten gehören Untersuchungen wie das Abhören von Lungen, und man erklärte mir bereitwillig die Hintergründe einer Behandlung. Mein Alter erlaubte mir, in der Gruppe der Jugendlichen den Aktivitäten, Ausflügen und Gesprächen als Teilnehmer beizuwohnen. Ich habe mich darüber hinaus aktiv am Tagesablauf beteiligt und meine Ziele allen Informanten offen gelegt. Meine Forschungsfragen und Methoden habe ich mit einigen Behandelnden und Jugendlichen diskutiert. Sie haben meine Arbeit aktiv unterstützt, so dass unsere Beziehung dem Modell der „Komplizität“ entsprach (Marcus 1998: 107). Insgesamt habe ich mit 13 Behandelnden, 15 Jugendlichen und sechs Angehörigen gearbeitet. Die Rekrutierung der Informant_innen erfolgte über die Ambulanzsprechstunde im Christiane-Herzog-Zentrum der Helios-Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie und Immunologie am Charité-Campus Benjamin Franklin. Die Jugendlichen und ggf. die Erziehungsberechtigten unterschrieben einen „Informed consent“ (Ethikantrag EA4_099_07, Ethikkommission der Charité am CBF) und erhielten eine Teilnehmerinformation über die Forschung. Die Auswahl der Informant_innen erfolgte durch ein „judgemental sampling“ (Fetterman 1998: 33). 18 Jugendliche wurden initial zusammen mit einer Ärztin und einer Psychologin ausgewählt, damit sie das breite Spektrum an Schweregraden der Erkrankung und psychologischen Probleme abdecken. Acht dieser Jugendlichen habe ich begleiten und interviewen können. Weitere sieben Kontakte habe ich mit nicht vorausgewählten Jugendlichen während der Forschung hergestellt.

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Die Feldforschung begann mit einem zehntägigen Aufenthalt auf Station im April 2007. Dieser Aufenthalt diente der Knüpfung von Kontakten sowie der Generierung von Material für die späteren Interviews. Die Feldtagebücher und die 200 Feldfotos von einem professionellen Fotografen habe ich als Reportage in Buchform veröffentlicht. 8 Die Reportage wurde von einer Patientin auf einer FundraisingGala verlesen. Die Klinikforschung sowie Besuche zu Hause erfolgten im Zeitraum November 2007 bis Februar 2008. Die Datenerfassung erfolgte mit den Methoden der Teilnehmenden Beobachtung, mehrphasigen Interviews und Fokusgruppen. Insgesamt umfasste mein Material 60 Tage Beobachtungsprotokolle und Transkripte von über 50 Gesprächen und Diskussionen, 14 Transkripte von digitalen Bandaufnahmen, davon acht Einzelinterviews und sechs Gruppendiskussionen, sowie 300 Feldbilder. Bei der teilnehmenden Beobachtung bin ich meinen Informanten in ihrem Lebens- und Arbeitsablauf gefolgt und habe sie um Einordnung und Erklärung ihres Alltags gebeten. Meine Beobachtungsstationen waren 30 Arzt-Patienten-Gespräche in der Ambulanz bei drei Ärztinnen. Acht Patient_innen habe ich von dem Moment an, in dem sie die Ambulanz betraten, über den gesamten Parcours begleitet (Anmeldung, Aufnahme bei der Schwester, Lungenfunktion, Physiotherapie, Sputum abgeben, Ärztegespräch, Rezeptausgabe). Ich war bei 12 wöchentlichen Besprechungen der Teams von Ambulanz und Station anwesend. Bei den Besprechungen werden aktuelle Patient_innen und Probleme und die Vorgehensweise diskutiert. Fünf Patient_innen habe ich zu Hause besucht, mit zwei Patienten war ich bei ihrer Arbeit, mit einer in der Universität. Fünfmal war ich bei der „Muko-Sportgruppe“, viermal bin ich mit Patient_innen während eines Krankenhausaufenthaltes einkaufen und essen gewesen. Dreimal war ich bei Besuchen von Jugendlichen auf der Lungentransplantationsstation. Wo ein teilnehmendes Beobachten zeitlich nicht möglich oder unerwünscht war, habe ich angeboten, dass die Jugendlichen Fotos von Situationen, die für sie relevant sind, machen, und wir dann über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in meiner und ihrer Abbildung des Lebens reden. Nach zwei Monaten Feldforschung habe ich begonnen, Einzelgespräche und Gruppendiskussionen auf Band aufzunehmen.

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Ausgewählte Bilder können unter www.johannesrascher.de/download/ webgalerie/index.htm eingesehen werden.

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E RGEBNISSE Ich werde anhand der eingangs geschilderten Geschichte von David die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung exemplarisch nachzeichnen und mit dem Modell der Soziologie der Translation analysieren. Davids Geschichte habe ich als Beispiel gewählt, weil ich sie über einen langen Zeitraum verfolgen konnte und in dieser Zeit viele Schwierigkeiten für David und die Behandelnden auftraten. Da die Beziehungen noch nicht routinisiert waren, trat hier deutlicher als bei anderen Geschichten hervor, wie Beziehungen und Verbindungen geknüpft werden – die Arbeit der Translationen wurde sichtbar (Latour 2005: 118-119). Zuerst analysiere ich, wie die Rollen in dem Netzwerk aus Behandelnden, Patient_innen, Therapiegeräten und -praxen hergestellt und verhandelt werden. Im zweiten Teil gehe ich darauf ein, wie sich das Beziehungsgefüge so stabilisiert, dass eine langfristige therapeutische Beziehung entsteht. Wie eine therapeutische Beziehung entsteht Davids anfängliches Desinteresse an der Therapie wird im Laufe von vier Monaten zu einem aktiven Teilnehmen. David geht regelmäßig zur Sportgruppe. Er hat ein Sauerstoffgerät in seinem Zimmer stehen und lässt sich eine Magensonde legen. Seine Infektionen lässt er im Krankenhaus behandeln. Wie kam es dazu? Der Prozess, der hierfür notwendigen Translationen, ähnelt einem „strategischen change-management“ bei dem eine Seite (Behandelnde) eine Lösung für das Problem (Krankheit) des Partners (Jugendlicher) anbietet, und ein „buy-in“ des Partners erreicht werden soll (Fox 2005). Ich analysiere den Prozess anhand von vier teilweise überlappenden Momenten (Callon 1999/1986). Die Problematisierung ist die vorgeschlagene Lösung eines Problems, das Interessement die dazu vorgesehene Rollenverteilung, das Enrollment sind die Strategien um die Rollenverteilung umzusetzen. Die Mobilisierung sind die Strategien des Ausspielens der neuen Rollen, die ich im zweiten Teil der Analyse beleuchte. Ich werde in diesem ersten Teil argumentieren, dass bei der Herstellung einer therapeutischen Beziehung Jugendliche in ein Netzwerk von Akteuren rekrutiert werden, wobei bereits involvierte Akteure bei der Rekrutierung von weiteren Akteuren helfen und Akteure selbst er-

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leben sollen, dass sie ihre eigenen Ziele über den Umweg der Therapie erreichen. Problematisierung David wird Anfang November ins Krankenhaus aufgenommen. Er kann nicht zur Schule gehen. Er ist abgemagert, hat keine Kraft am Leben teilzunehmen und fühlt sich nicht wie seine Klassenkameraden. Seine Ärztin sagt, Davids Problem mit wiederholten Lungeninfektionen liegt an seiner Mukoviszidose. Dass er Mukoviszidose hat, ist seit Jahren bekannt. 9 Was bedeutet die Diagnose „Mukoviszidose“ und die vorgeschlagene Therapie praktisch für ihn? Genauer: Was ist aus Sicht seiner Ärztin Davids Prognose und was kann getan werden? „Die Mukoviszidose ist […] die häufigste tödlich verlaufende Erbkrankheit der weißen Bevölkerung. […] Während vor 50 Jahren etwa 80% der kranken Kinder im ersten Lebensjahr starben, liegt heute die mittlere Lebensdauer bei ca. 30 Jahren. […] Etwa 95% der Todesfälle sind auf die bronchopulmonale Erkrankung zurückzuführen.[…] Die frühzeitige Diagnose und die rein symptomatische Behandlung in spezialisierten Zentren hat zu der erheblichen Verbesserung der Prognose geführt.“ (Baenkler 1999, kursiv SR)

Dieses Standardlehrbuch erläutert, dass banale Infektionen für von Mukoviszidose Betroffene wie David tödlich verlaufen. Was tun? Wenn Betroffene eine bessere Prognose wollen, brauchen sie eine „rein symptomatische Behandlung in einem spezialisierten Zentrum“. Die Ziele dieser Behandlung sind eine gute Lungenfunktion und ein ausreichendes Gewicht. Davids Ärztin schlägt ihm vor, eine Therapie mit Antibiotikainfusionen, Sport und mehr Essen zu machen. Für die Infusionen braucht David einen Infusionsschlauch. Um Muskeln aufzubauen, soll er regelmäßig zu einer Sportgruppe. Wenn David nicht zunimmt, soll er sich eine Ernährungssonde legen lassen, über die er nachts künstlich ernährt wird. Die Analyse von Davids Problem und der Lösungsvorschlag ist die „Problematisierung“. Sie lautet: „Wenn du am Leben teilnehmen willst, musst du die von mir vorgeschlagene Therapie machen.“ Dabei wird die Therapie in der Spezialambulanz zu einem obligatorischen Durchgangspunkt zur Lösung von

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Im Schnitt erfolgt die Diagnose mit 2,1 Jahre (O’Connor 2003).

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Davids Problemen. Und diese Therapie verlangt eine Transformation Davids. Wie machen die Therapeuten ihm das schmackhaft? Interessement „David ist am Scheideweg“ sagt Dr. D auf dem Flur. Ein Kollege stimmt zu: „Ich vermute, das ist ihm noch nicht ganz klar.“ […] Die Ärzte wollen David noch eine Woche da behalten. Sie sagen aber auch, dass die intravenöse (i.v.) Antibiotikatherapie ein Vorwand ist. David hat noch ein bisschen erhöhtes CRP [ein Entzündungsmarker] d.h. man kann den längeren Krankenhausaufenthalt medizinisch begründen, aber es geht ihnen darum, ihn zum Sport zu bringen. [Feldnotizen vom 12.11.]

Über die vorgeschlagene i.v.-Therapie wollen die Ärzte erreichen, dass David im Krankenhaus bleibt. Während er im Krankenhaus ist, können sie ihn zum „Muko-Sport“ schicken. Der Sport ist Teil ihrer Therapie. Dr. D und ihr Kollege wollen eine Veränderung in Davids Verhalten herbeiführen: Er soll regelmäßig zum Sport gehen, auch wenn er nicht mehr im Krankenhaus ist. Das ist nicht so einfach. David will wieder in die Schule zu seinen Freunden gehen und seinen Führerschein machen. Die Eltern wollen, dass ihr Kind kräftig wird. Für David und die Eltern hat die Therapie „Muko-Sport“ nichts mit ihren eigenen Zielen zu tun. Die Ärztin muss sie also davon überzeugen. Sie muss eine Verbindung herstellen, die sowohl Davids Ziele als auch die seiner Eltern mit der Therapie verbindet. Dies ist das Inter-essement: den Durchgangspunkt „Therapie“ zwischen den Akteuren und ihren Zielen positionieren. Inter-esse verwende ich hier also in seinem etymologischen Sinn als dazwischen-sein. Die Therapeuten müssen diese Form des Interesses schaffen. Um dies zu erreichen, nutzen sie den Vorwand der i.v. Therapie. Der Messwert „erhöhtes CRP“ ist dabei ihr verbündeter Akteur. CRP zeigt an, dass eine Infektion behandelt werden muss und macht Davids Verbleib im Krankenhaus notwendig. Die Eltern stimmen zu. Der erste Schritt des Interessement ist akzeptiert. Nun werden weitere Akteure mobilisiert: David sagte zu Dr. D, er hätte heute drei Treppen zu Fuß geschafft, und darauf meinte sie „Dann schaffen wir sieben bis zum Ende der Woche. Du kannst auch ein tragbares Sauerstoffgerät benutzen, Sportler trainieren damit auch, um nicht so viel Muskelkater zu bekommen.“ [Feldnotizen vom 12.11]

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Treppensteigen ist ein Gradmesser für den Fortschritt der Therapie, den David vorbringt und den die Ärztin aufnimmt. Damit David die „Sport-Therapie“ machen kann, soll er ein Sauerstoffgerät bekommen. Damit wird die Atemluft mit Sauerstoff angereichert und die Sauerstoffsättigung seines Blutes während der Anstrengung angehoben. Das Gerät überbrückt zu einem gewissen Grad die verminderte Sauerstoffaufnahme durch ein Überangebot. David kann länger trainieren, bevor er erschöpft ist. Die funktionierende Therapie verlangt an diesem Punkt die Mitarbeit eines weiteren Akteurs, der hier sichtbar wird: die Krankenkasse, die die Sauerstoffgeräte neben Antibiotikatherapien, Physiotherapeuten und Kuren für die Jugendlichen bezahlen soll. Warum sollen die Akteure die Therapie unterstützen? Abbildung 2 zeigt, dass für alle Akteure die Problematisierung von einem Ziel ausgeht, zu dem ihnen die Mukoviszidose den Weg versperrt. Über den Umweg der Therapie können sie es jedoch erreichen.

Akteure

Hindernis/ Problem

Ziele

Therapeuten

Therapie

David soll nicht sterben und am Leben teilnehmen; Wissen über Mukoviszidose steigern

David

Keine Kraft, oft krank

Zu Freunden in die Schule gehen, Führerschein machen

Eltern

David ist oft krank

David soll kräftig sein

Krankenkasse

David schafft Ausbildung nicht

Leistungsfähige Arbeiter, möglichst später Berentung

Abb. 2 zeigt, wie über den Umweg der Therapie die Akteure ihre Ziele ereichen können, welche ansonsten unerreichbar sind.

Die Therapie muss ein obligatorischer Durchgangspunkt sein. Die Therapeuten müssen der Krankenkasse daher zeigen, dass nur die Therapie dazu führt, dass David nicht als „arbeitsunfähig“ berentet werden muss oder gar stirbt. 10 Den Eltern müssen sie zeigen, dass David nur

10 Dass die Behandlung effektiv ist, wird unter den Therapeut_innen sowie zwischen ihnen und den Krankenkassen in medizinischen Zeitschriften verhandelt, und es gibt dazu Leitlinien von Fachgesellschaften. Hierauf haben die Therapeuten mittelbar Einfluss über die Durchführung von Be-

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mit Hilfe der Therapie kräftig wird. Vor allem aber müssen sie David davon überzeugen, dass er nur mit Sport, Sauerstoffgerät und Magensonde in der Lage sein wird, in die Schule zu gehen und den Führerschein zu machen. Diesen Durchgangspunkt können sie jetzt etablieren, weil ein Indikator wie CRP ihnen hilft Dinge zu tun, die ohne diesen Indikator nicht möglich wären. 11 Ich werde im folgenden Abschnitt darauf eingehen, welche Tricks und Strategien sie nutzen, um David für die vorgeschlagene Therapie „Muko-Sport“ zu rekrutieren. Enrollment Die Tür zu Davids Zimmer ist halb offen. Seine Mutter kniet vor ihm, hält ihm ein Getränk hin. Ich gehe ins Zimmer. Guten Tag, ich bin Stefan. Ich fahre mit David zum Sport. Vater „Als Begleitperson?“ Ich sage ja. Der Vater mustert mich und sagt „gut.“ Auf dem Gang steht ein Patient und misst seine Sauerstoffsättigung. Es ist Christoph, der mit David zum Sport fahren soll. Die Stationsschwester füllt ein Sauerstoffgerät. Auf dem Weg schlurft David neben mir her, versichert sich, ob sein Handy angeschaltet ist. Ich schiebe sein Sauerstoffgerät in einem kleinen Wagen. Ein durchsichtiger Schlauch läuft von der 70 cm großen Flasche zu David und endet in einer „Nasensonde“, zwei Stöpseln, durch die David den Sauerstoff atmet. [FN 12.11.]

handlungsstatistiken und Studien zur Effektivität von Behandlungen. An diesen Verhandlungen ist auch der Selbsthilfeverband Muko e.V. beteiligt, der Forschungsförderung mit Hilfe von eingeworbenen Spenden betreibt. Im Vorstand des Muko e.V. sitzt wiederum Davids Ärztin. Zum Einfluss von Selbsthilfegruppen vgl. Callon/Rabeharisoa (2008) und speziell zur Mukoviszidose Gawande (2004). 11 Bevor CRP als verlässlicher Alliierter eine Entzündungsreaktion im Körper anzeigte, mussten Studien und Experimente stattfinden und die Ergebnisse in medizinischen Zeitschriften verhandelt werden. Die Therapeuten können jetzt für das CRP sprechen, weil dieses für die Artikel spricht, in denen gezeigt wurde, das CRP mit Entzündung korreliert. Die Artikel sprechen wiederum für die Laborexperimente und klinischen Studien. Die Therapeuten sind überzeugend, weil sie ein Netzwerk von Verbündeten hinter sich haben, für die sie sprechen und die bei Anfechtung ihrer Aussagen mobilisiert werden könnten. Ausführlich dazu Latour (1987: 21-100).

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David fährt heute mit Christoph, einem älteren Mitpatienten, zum Sport. Mit Christophs Hilfe soll er überzeugt werden regelmäßig wiederzukommen. Damit das möglich ist, wurde bereits Arbeit geleistet: Die Entzündung, die dazu führt, dass David nicht aufstehen kann, wurde mit Hilfe von Antibiotika bekämpft. Er ist noch im Krankenhaus und hat somit „Zeit“ zum Sport zu gehen. Seine schlechte Sauerstoffsättigung, die dazu führt, dass er schnell außer Atem ist, wird durch ein tragbares Sauerstoffgerät gemindert. Die Verbindungen zum Akteur „Entzündung“ wurden zeitweilig gelockert. Der nächste Schritt auf dem Weg zur Rekrutierung ist die Verminderung der „Kontrolle durch die Eltern“ und des „Gefühls, nicht normal zu sein“. Hier hilft Christoph, da er es den Therapeuten ermöglicht, David für zwei Stunden aus der ständigen Kontrolle durch seine Eltern zu lösen. Und David hat einen Begleiter, der wie er selber Mukoviszidose hat und die Situation kennt. Wir nutzen das ganz bewusst. Ich sag dann [zu einem Patienten] ‚Redet mal drüber, wie es Dir mit deiner Ernährungssonde ergangen ist‘ oder ‚Nimm David mal mit zum Sport‘. [Dr. D FN_amb_märz]

Die Angst, mit einem Sauerstoffgerät nicht normal auszusehen, kann bei Jugendlichen dazu führen, dass der Umweg, den die Therapie auf dem Weg zum Ziel bedeutet, zu groß ist. Die Ärzte nutzen hier „ganz bewusst“ die Hilfe eines Mitpatienten. Während des Sports wird David lebhafter. Langsam wird die Belastung gesteigert. David sagt, dass es immer leichter würde. Auf dem Rückweg zum Auto schiebt er das Sauerstoffgerät selber. [FN12.11]

Beim Sport erlebt David, dass er viel leistungsfähiger ist, als er erwartet hat, und ihm der Sauerstoff dabei hilft. Für das Training wurden Rahmenbedingungen hergestellt, die an Experimente erinnern, bei denen ein Beweis geführt werden soll. Innerhalb des Prozesses der Translation verstehe ich dieses Training im Sportzentrum als eine Aufführung, bei der die Wirksamkeit der Therapie erlebbar wird. Die Sorge von Davids Eltern und die langwierigen Vorbereitungen der Therapeuten zeigen, wie bedeutsam der Ausgang für die Teilnehmer ist.

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Was aber ist die Auswirkung des Trainings auf die Weiterentwicklung des Prozesses der Translation? Die angestrebte Verhaltensänderung setzt voraus, dass David davon überzeugt wird, dass ihm der Sport hilft, seine eigenen Ziele zu erreichen. Das Training muss also eine ‚Initialzündung‘ bieten. Während der Rückfahrt setze ich mich im Auto nach hinten, um in Ruhe Feldnotizen zu machen. Daraus wird nichts, da mich sofort das Gespräch in den Bann zieht, das David (D) und Christoph (C) vorn führen: C: Was hattest du denn. (Keine Antwort) Mukoviszidose? (Beide lachen) D: Irgendein Virus. C: Was ist deine Lungenfunktion? D: FEV1 oder was? Irgendwas mit 40 ist bei mir normal. C: Das ist ja noch ziemlich gut. Meine Frau hat auch 41. Die kann noch richtig Sport machen. D: Jetzt hab ich 21. C: Das ist nicht mehr so gut. Ich hab auch 23. Aber wenn bei dir 40 normal ist, da kann man noch ordentlich was rausholen. D (schweigt) C: Wie ist’s so im Alltag? Schule? D: Ganz gut C: Kommst du noch hinter deinen Freunden hinterher? D: ’S gibt einige, die ein bisschen schnell laufen. C: Da kannst du mit Sport noch viel machen. D (schweigt) C: Willst du wiederkommen? D: Mindestens einmal in der Woche. C: Cool. D: Ist ja sowieso zweimal die Woche. (lacht) [FN_L_50-80]

Christoph beginnt damit, Davids Zustand zu erfragen. „Was ist deine Lungenfunktion?“ David hat schon gelernt, diese in Zahlen anzugeben. Die Lungenfunktion FEV1 (forced expiratory volume) misst, wie viel Luft in einer Sekunde maximal ein- und ausgeatmet werden kann. 40 % bedeutet, dass David 40% vom Nomalwert für einen Jugendlichen desselben Alters und Gewichts schafft. Normalerweise, denn jetzt schafft er noch 21%. Christoph ordnet Davids Lungenfunktionswerte als „nicht mehr so gut“ ein. Er meint aber auch, David könne da „noch ordentlich was rausholen“. Hoffnung ist da, weil für David „40 normal

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ist“. 40 ist „gut“, weil man damit noch „richtig“ Sport machen kann – das bedeutet Sport aus Freude und nicht als Therapie. David erzählt mir später, dass er gern wieder Fußball spielen würde. Christoph fragt daraufhin gezielt nach Problemen in Davids Alltag. Als David sagt, einige seiner Freunde würden „ein bisschen schnell laufen“, meint Christoph, David könne da „mit Sport noch viel machen“. Christophs Botschaft ist: „Wenn du deine Ziele erreichen willst, mach Sport!“ Der erste Teil des Ausflugs ergab für David das „selbst Erleben“, dass er Sport machen kann. Dazu war die Herstellung eines menschlich-materiellen Hybrids aus „David und dem Sauerstoffgerät“ notwendig, was durch ein bestehendes therapeutisches Netzwerk aus CRP, Antibiotika und Christoph stabilisiert wurde. Im zweiten Teil verband Christoph Davids Ziel, mit seinen Freunden mithalten zu können, mit dem, seine „Normalwerte“ wieder zu erreichen. Dazu wiederum soll David zur Sportgruppe kommen. Das Ergebnis: David will wiederkommen. Das Enrollment ist geglückt. Es ist zwar nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, worin Davids Interesse besteht, wieder zum Sport zu kommen. Sicher ist, dass dieses Interesse vorher nicht da war. Es ist während des Trainings und der Diskussion geschaffen worden. Parallel ist eine Veränderung des „Netzwerks David“ geschaffen worden, die notwendig ist, damit er im therapeutischen Netzwerk teilnehmen kann. 12 Mobilisierungen von Lebenswelt und Krankenhaus zur Stabilisierung der therapeutischen Beziehung Das Dilemma einer therapeutischen Beziehung liegt darin, dass selbst wenn sie im Krankenhaus gut funktioniert, chronisch Kranke den Großteil ihrer Probleme außerhalb des Krankenhauses bewältigen müssen. Im zweiten Teil gehe ich nun auf die Frage ein, welche Strategien zur Stabilisierung des Gefüges „Mukoviszidose-Therapie“ im Leben außerhalb des Krankenhauses verwendet werden. Dabei konzentriere ich mich auf die Strategien durch die Jugendlichen, die sie nutzen, wenn die Therapie mit den Bedürfnissen nach Normalität kollidiert. Ich werde erstens zeigen, wie die therapeutische Allianz auf spezifische Bereiche der Lebenswelt der Jugendlichen ausgedehnt wird. Zweitens werde ich analysieren, wie dort, wo diese Ausdehnung

12 Dieses ‚Geschaffen-Werden‘ ist der Grund, warum es nicht ‚network‘, sondern ‚work-net‘ heißen sollte.

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zu Spannungen führt, ein Prozess der Selbstmedikalisierung greifen und die Jugendlichen in der therapeutischen Beziehung halten kann. Ausweitung der therapeutischen Allianz auf die Lebenswelt Davids Vater ist erst zögerlich, ob der Muko-Sport das Richtige für seinen Sohn ist. Am Tag nach der ersten Teilnahme am Muko-Sport erzählt er, sein Sohn habe Rückenschmerzen und könne nicht erneut zum Sport. Dieses Verhalten durchkreuzt das Interessement der Behandelnden. Die therapeutische Allianz wird in Frage gestellt. Ein Arzt sagt daraufhin zu David, wenn er Rückenschmerzen habe, könne er eine Schmerztablette bekommen, zum Sport solle er trotzdem gehen. Als ich dem Vater ein paar Wochen später begegne, hat sich diese Beziehung verändert: Er erzählt, er habe gemerkt, dass der Sport David gut tut. Deshalb entscheidet er sich, die Teilnahme am Sport zu unterstützen. Er legt seinen Tagesablauf so, dass er den Sohn zweimal in der Woche zum Sport fahren kann. Das Interessement, David an die Sportgruppe anzubinden, ist verstärkt durch das zusätzliche Rekrutieren eines weiteren Alliierten: Davids Vater wird vom Gegner zum Verbündeten. David rekrutiert seinen Vater, und beide sind nun Teil des therapeutischen Netzwerkes, das dadurch stabiler wird. Diese Ausweitung der therapeutischen Allianz habe ich wie bei David innerhalb mehrerer Familien erlebt. Sie fordert dort jeweils die Arbeitskraft eines zweiten Menschen, um die Normalität des Jugendlichen herzustellen. In gewissen Graden kann die Allianz auf die Schule ausgeweitet werden, indem Regeln für die Jugendlichen gelockert werden. David wurde auf Intervention seiner Ärztin hin erlaubt, in den Pausen im Klassenzimmer zu bleiben, und seinen Sauerstofftank mitzunehmen. Auch hier handelt es sich um eine Ausweitung der therapeutischen Allianz auf die Lebenswelt. An diesem Punkt jedoch tritt der Jugendliche sichtbar aus der Normalität heraus. Seine Therapie verlangt die Verkörperung des Abnormen. Im nächsten Abschnitt gehe ich darauf ein, welche Strategien die Jugendlichen entwickelt haben, um mit dieser Doppelkodierung der Therapie als Herstellung der Normalität und Abnormität umzugehen. Ich stelle dieses Problem in einer Fokusgruppe mit fünf Informant_innen, die zwischen 18 und 30 Jahren alt sind, zur Diskussion

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Artikulierung der sick-role als Selbstmedikalisierung Djamila: Es gibt da so zwei Welten, entweder du hast die Krankheit und baust deinen Alltag drum rum oder du hast deinen Alltag, und baust die Krankheit drumrum. Und für uns ist das glaub ich so, ja du versuchst halt so irgendwie in das, was du so normal machst, deine Therapie und das alles irgendwie unterzukriegen. – Toni: Mhm. Tanja: Aber dadurch hab ich mittlerweile (Toni hustet) als Nachteil, weil man zu keiner Gruppe gehört. Du gehörst nicht zu den Gesunden, weil da biste einfach die Blinde unter den Einäugigen, aber zu den Kranken gehörst du eigentlich auch noch nicht richtig, weil dafür bist noch die Sehende unter den Blinden. Und das macht’s irgendwie total schwer, weil egal wo du dich integrierst, musst du dich rechtfertigen, ne? (Toni und Djamila: mhm) Eigentlich gehörste noch nicht so richtig dazu, musst dich aber eigentlich entschuldigen für das was de irgenwo nicht hast.

Tanja und Djamila versuchen, die Krankheit in den Alltag einzubauen. Wenn man zur Gruppe der Normalen gehören will, muss man die Krankheit unterdrücken. Die Gruppenzugehörigkeit zu den Kranken entsteht durch erlebbare Krankheit. Wenn man die Krankheit erfolgreich in den Alltag integrieren kann, wo sie nicht sichtbar sein darf, entsteht ein ständiger Rechtfertigungsdruck. Tanja: Das ist irgendwie auf Arbeit biste total diese ‚Sorry ich schon wieder‘ (hebt Hand) und ‚Tanja, du siehst schon wieder so schlecht aus.‘ – ‚Ja, ignoriert’s einfach.’ Und dann irgendwie zwei, drei Tage schaffste’s noch und dann ist wirklich, ‚Ok ihr habt recht, ich kapituliere, geht nicht mehr.‘

Djamila und Tanja thematisieren das Verkörpern der Mukoviszidose als Nicht-Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Tanja kommt ins Krankenhaus, als sie die Spannungen zwischen der Rolle, die sie auf der Arbeit verkörpert, und ihrer Rolle als Patientin nicht mehr aushält. Sie fordert ihre Kollegen zunächst auf, ihren sich verschlechternden Gesundheitszustand zu ignorieren. Die Rolle, die sie einnehmen möchte, – wertvolle Arbeitskraft, die nicht immer sofort schlapp macht, – kann sie manchmal nur auf Kosten ihrer Gesundheit herstellen. In den Wochen vor ihrem Krankenhausaufenthalt führten Probleme mit ihrem Freund dazu, dass sie sich keine Zeit für sich und ihre Therapie nehmen konnte. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. An diesem Punkt entschied sie sich für eine Einweisung ins Krankenhaus.

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Tanja: Das ist ja auch eine Semi-soziale iv, das ist mir ja schon klar. Das habe ich auch mit [Ärztin] besprochen.

Ihre sich verschlechternde Lungenfunktion und ihre persönlichen Probleme sind beides akzeptierte Gründe, sich selbst ins Krankenhaus einzuweisen. Mit der Einweisung schafft Tanja die Möglichkeit und den Raum, sich um sich selbst zu kümmern. Die Diagnose Mukoviszidose versetzt Tanja in ein labiles Gleichgewicht, das die Gefahr einer rapiden Verschlechterung in sich trägt. Dieser chronische Risikozustand ermöglicht Tanja eine Selbsteinweisung ins Krankenhaus. Dies Risiko wird anhand „objektiver Werte“ gemessen (schlechte Lungenfunktion, zu geringe Sauerstoffsättigung), die durch therapeutische Maßnahmen (Antibiose, Physiotherapie) zum Positiven beeinflusst werden. Diese Normalisierung medizinischer Intervention kann als eine „moralische Ökonomie“ (Hess 1999) verstanden werden. Wenn es ‚normal‘ ist, „at-risk“ zu sein, folgt daraus, dass es ‚normal‘ ist, ins Krankenhaus zu gehen. Sich den objektiven Messdaten zu unterwerfen ermöglicht, ohne emotionalen Aufwand in sozial akzeptierter Weise entscheiden und dies mitteilen zu können, bspw. nicht zur Arbeit zu gehen sondern ins Krankenhaus. Moralische Ökonomie als eine „besondere Rationalität medizinischer Normalisierungen“ (Hess 1999: 241) kann erklären, wieso Jugendliche im therapeutischen Netzwerk „mitarbeiten“. Adrian zu Sandra: Manchmal, wenn du Probleme mit deiner Mutter und ich Probleme mit meinem Vater hatte, haben wir uns ja auch angerufen, und sind gemeinsam ins Krankenhaus gegangen. Sandra: [Eine befreundete Patientin] zieht nächste Woche um. Sie ist noch mal zur Therapie gekommen, um sich fit machen zu lassen.

Die Jugendlichen mobilisieren hier das Krankenhaus, um Abstand zu ihren Eltern zu gewinnen. Eine andere Patientin hat sich vor ihrem Umzug „fit machen lassen“. Ebenso wie Tanja nutzen sie den Krankenhausaufenthalt bewusst, um Problemen in ihrem Leben zu begegnen. Beziehungen zu ihren Eltern und Behandelnde sind manipulierbar, da ihre chronische at-risk-Rolle sie zur Nutzung des Krankenhauses berechtigt. Diese Beobachtungen zur moralischen Ökonomie der Normalisierungspraxen decken sich mit der These von Mark Nichter (Nichter/Lock 2002), das Annehmen der „sick-role“ (Parsons

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1951) sei auch als eine Form der Selbstmedikalisierung zu verstehen, die einen Raum zur „Artikulierung von sozialen Beziehungen“ ermöglicht: „An at-risk role enables [the patient] to make decisions that are beneficial to [him] without going against [...] expectations. Assuming a sick role [...] constitutes a form of self-medicalisation enabeling the patient to mobilize and manipulate a therapy management group organized around support.“ (Nichter/Lock 2002: 15)

Die Artikulation der sick-role ermöglicht es, die Grenzen zwischen Medikalisierung und Vergesellschaftung von Problemen so zu verschieben, dass sie für die Jugendlichen von Vorteil sind (Kleinmann 1995). Diese Mobilisierungspraxen ermöglichen eine langfristige Stabilisierung des therapeutischen Netzwerks.

D ISKUSSION Anhand des Modells der „Soziologie der Translation“ habe ich die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung in einem Akteur-Netzwerk verortet. Darin konstruieren die Behandelnden die Therapie als einen obligatorischen Durchgangspunkt, über welchen die Jugendlichen und alle anderen Beteiligten ihre eigenen Ziele erreichen können. Ich habe ebenfalls eine Strategie der Rekrutierung in die therapeutische Beziehung beschrieben, bei welcher die Behandelnden das ‚Überzeugen durch Erleben‘ nutzen, um ein Interesse an der Therapie zu schaffen. Um eine langfristige Stabilisierung dieses therapeutischen Akteur-Netzwerks zu erreichen, rekrutieren Behandelnde zusätzliche Akteure aus der nicht-klinischen Lebenswelt des Patienten. Wenn sie daraufhin eine normale Leistungsfähigkeit hergestellt haben, stehen Jugendliche unter dem Legitimationsdruck, Vorteile zu rechtfertigen, die sie aus ihrer Rolle als Kranke ziehen. Um dieser gespannten Situation zu begegnen, mobilisieren einige Jugendliche das Akteursnetwerk in einer Strategie der „Selbstmedikalisierung“, bei der sie Diagnosen und Therapien artikulieren. Durch diese gegenseitigen Translationen von Behandelnden und Jugendlichen kommt es nicht zu einer Ausweitung des Krankenhauses auf die Lebenswelt. Vielmehr wird eine lose Koppelung von Krankenhaus und Lebenswelt erreicht, die eine

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zeitweilige Verkörperung und Ausblendung der Therapie in der Lebenswelt respektive der Lebenswelt im Krankenhaus erlaubt. Medizinische Lebensformen Die komplexen Praxen des Aushandelns von Therapieregimen und Normalisierungsstategien, die ich untersucht habe, führen zu einer Hybridisierung der Jugendlichen mit technischen Artefakten und Therapiepraxen. Da diese hybride Form immer wieder in den Alltagen der Patient_innen reproduziert wird, gewinnt sie für die Jugendlichen enorme Bedeutung. Es entsteht eine medizinische Lebensform (Rose 2007; Hacking 2006). Latour arbeitet am Beispiel der „Nasen“ in der Parfümindustrie die körperliche Dimension dieses Artikulationsprozesses heraus: „It is not by accident that the person is called ‚a nose‘ as if, through practice, she had acquired an organ that defined her ability to detect chemical and other differences. Through the training, she learned to have a nose that allowed her to inhabit a (richly differentiated odoriferous) world. Thus body parts are progressively acquired at the same time as ‚world counter-parts‘ are being registered in a new way. Acquiring a body is thus a progressive enterprise that produces at once a sensory medium and a sensitive world.“ (Latour 2004: 207)

Ebenso wie „Nasen“ in der Parfümindustrie lernen Jugendliche, sich mithilfe eines Akteur-Netzwerks in der Welt zu artikulieren. Sie lernen, Sauerstoffgeräte zur Leistungssteigerung zu nutzen und das Krankenhaus zu mobilisieren, um sich um sich selbst kümmern zu können. Anstatt durch die Hybridisierung weniger lebhaft zu sein, wird ein aktiver Alltag zugänglicher. ‚Lernen zu mukoviszidieren‘ bedeutet, sich durch Diagnosen und Therapien, medizinische Geräte und Beziehungen zu Behandelnden und anderen Akteuren zu artikulieren. Atmen mit Inhalationsgeräten, Essen nach Diätplänen, Selbsteinweisungen ins Krankenhaus sind Artikulierungen, die sie lernen müssen, um an unserer Gesellschaft ‚normal‘ teilzunehmen, um Ziele zu erreichen und Konflikte zu lösen. Dementsprechend sind Diagnosen und Therapien

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„not just instruments of surveillance in the sense of Foucault’s writings on biopower, they also provide a space within which social relations and agency may be articulated in a relatively self-conscious manner“ (Nichter/Lock 2002: 15).

Beyond compliance & sick-role In ihrer Überblicksarbeit „Adherence to Medicine“ zeichnen Osterberg/Blaschke (2005) das Dilemma der therapeutischen Beziehung folgendermaßen: „Drugs don’t work in patients who don’t take them“. Dieses Problem der Therapie-Compliance möchte ich anders darstellen, indem ich die Arzt-Patientenbeziehung und nicht die Medikamenteneinnahme in den Fokus rücke. Extensive Forschung ergab „little consistent information other than the fact that people do not always follow the doctors orders“ (Morris/Schultz 1992: 295). Eine MetaAnalyse von Interventionen zum Verbessern der Patientenmitarbeit bei chronischer Krankheit attestiert ihnen einen hohen Aufwand mit „geringem Effekt“ (Weingarten et al. 2002). Die am häufigsten eingesetzte Intervention – Patientenschulung – geht häufig am Ziel vorbei. In einer experimentellen Studie mit 108 Patient_innen mit Bluthochdruck, bei denen die Krankheitsvorstellungen diskutiert wurden, schlussfolgern Theunissen et al. (2003): „It seems that a better understanding of one’s medical condition may not automatically result in increased motivation to do something about it.“ In der Psychologie werden diese Non-Compliance-Phänomene häufig entlang zweier Argumentationslinien erklärt: (a) Unter „riskbehaviour-syndrome“ zusammengefasste Verhaltensweisen wie Autofahren unter Alkoholeinfluss oder Zigarettenkonsum können Entscheidungen für einen bestimmten, ihrem jugendlichen Selbstbild entsprechenden Lebensstil sein (Springgarn, in Melzer-Lange 1998 und Tyc/Throckmorton-Belzer 2006). (b) Ebenso kann unregelmäßige Teilnahme an Atemtherapie eine ‚rationale‘ Entscheidung darstellen, weil die Jugendlichen den Nutzen nicht erkennen und/oder die Therapie zu zeitaufwendig finden (Myers/Horn 2006). Diese ‚rationalisierenden‘ Deutungen von Non-Compliance implizieren, dass es ‚irrationale Gründe‘ gibt. In der Medizinanthropologie wird argumentiert, Non-Compliance könnte auch als Akt des Widerstandes verstanden werden (Lock/Sheper-Hughes 1996). Ich meine, dass der Idee von Compliance hier ein Rollenverständnis zugrunde gelegt wird, das eng an die Konzeption der sick-role gekoppelt ist, welche bei chonischen

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Erkrankungen nicht angemessen ist, da man nicht aus der Rolle heraus kann und nie die Norm erreicht. An dieser Stelle hilft die vorgeschlagene Konzeption der medizinischen Lebensform. Denn jemand, der die Rolle des Kranken nicht verlassen kann, hat auch keinen Anreiz, mit allen Mitteln compliant zu sein. Er darf auch entscheiden, sich nicht der ‚Norm‘ der Gesunden zu unterwerfen. Er muss vielmehr seine eigene Norm schaffen lernen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich will keine Essentialisierung von „Mukos“ vornehmen. Der ‚Unterschied‘ zwischen gesund und krank ist nicht gegeben. Er entsteht vielmehr durch die Art, wie man sich und die Differenz zum Anderen artikuliert. Deshalb sollten Behandelnde alles tun, es den Jugendlichen zu ermöglichen, ein so normales Leben wie möglich zu führen. Aber dies sollte immer auch bedeuten, ihnen die Möglichkeit zu geben, durch die Artikulation ihres Krankseins, d.h. durch Mukoviszidieren, aktive Partizipation und Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Im Sinne des Empowerment (Rappaport 1981) sollten sie zusammen mit Gesetzgebern und Angehörigen den Jugendlichen nicht als Lehrer gegenübertreten, sondern als Lebenspartner. Das Bild der Partnerschaft habe ich in Rückgriff auf Badlan (2006) bereits in der Einleitung angedeutet. Es greift das Konzept der „Concordance“ auf (Marinker et al. 1997; Marinker 1997), dessen Intention ist, „to help the patient make as informed a choice as possible about the diagnosis and treatment“. Dementsprechend könnte der oben zitierte Epigraph umformuliert werden in: „Patients take drugs only if they agree that these agents are more beneficial than disruptive.“ 13 (Campbell et al. 2005: 1973) In meiner Arbeit habe ich gezeigt, dass diese Entscheidung besser verstanden werden kann, wenn man die Effekte sichtbar macht, die eine Therapie außerhalb des Raumes des Krankenhauses hat. Diese grundlegende Spannung wird auch in veränderten Arzt-Patienten-Modellen wie Concordance und Empowerment nicht verschwinden, solange die Aufmerksamkeit von den materiellen Umständen des Lebens von Patient_innen abgelenkt und die politische Dimension von Veränderungsmöglichkeiten ausgeblendet bleibt (Greene 2004; Bissell et al. 2004; Mackenbach et al. 2008). Meine Arbeit ist insofern ein Plädoyer für die Fruchtbarkeit einer Perspektive, die Medikamente nicht nur biochemisch betrachtet, sondern in ihrer Gesamtwirkung als Teil eines Akteur-Netzwerks.

13 Der Autor bezieht sich dabei auf das „Concordance“ Modell.

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Mit implantierter Kontinuität zu imaginierter Neutralität Transformation mit dem Hormonimplantat N ORA W ALTHER

I MPLANTIERTE K ONTINUITÄT In der medizinischen Fachliteratur ist zum Thema empfängnisverhütende Hormonimplantate nachzulesen, dass für die Erforschung und Entwicklung subkutaner Implantate vorzugsweise Ratten benutzt werden (Schoen/Hoffman et al. 2004: 763). Ratten haben sich schon immer als sehr flexibel erwiesen. Die von Clynes und Kline gegen Mitte des letzten Jahrhunderts klassifizierten Cyborgs waren Ratten mit einer an ihrem Schwanz eingesetzten osmotischen Pumpe. Vor dem Hintergrund der Raumfahrt-Forschung wollte man damals herausfinden, inwieweit ein Körper durch Unterstützung seiner organischen Funktionen in einer für ihn nicht lebensfreundlichen Umgebung lebensfähig gemacht werden kann. An diesen Ratten-Cyborgs wurde getestet, wie mittels eines einverleibten technischen Artefakts selbst-regulierende Mechanismen kontinuierlich zu manipulieren und kontrollieren sind. Der Rattenschwanz soll in diesem Artikel als Sinnbild dienen, wenn am Beispiel des Hormonimplantats bei jungen Frauen Cyborisierungseffekte im Kontext von Empfängnisverhütung analysiert werden. Das seit dem Jahr 2000 auf dem deutschen Markt zugelassene Hormonimplantat Implanon ist ein vier Zentimeter langes Kunststoffstäbchen mit einem Durchmesser von 2 Millimetern, das Frauen durch eine kleine Operation an der Innenseite ihres Oberarms, vorzugsweise in den weniger beanspruchten von beiden, eingesetzt wird. Dieses kontrazeptive Depotpräparat liegt unter der Fettschicht der Haut in ei-

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ner Muskelmulde und wird nach einem Zeitraum von drei Jahren operativ entfernt, kann aber nach Bedarf auch früher explantiert werden. Durch die kontinuierliche Abgabe von Etonogestrel, einem Hormon aus der Gruppe der Gestagene, wirkt das Implantat empfängnisverhütend. In seiner Wirkungsweise beeinflusst das Präparat den Hormonhaushalt des weiblichen Körpers. Es ist daher jener Gruppe hormoneller Kontrazeptiva zugehörig, die innersekretorisch in die Stoffwechselprozesse des weiblichen Körpers eingreifen. Indem man das System der Geschlechtshormone soweit manipuliert, dass es zu keinem Eisprung kommt, wird nicht nur die Empfängnisfähigkeit verhindert, sondern es bleiben häufig auch die ‚normalen‘ menstrualen Zykluserscheinungen aus. Als Implantat ist das Hormonstäbchen mit jenen Verhütungsmethoden vergleichbar, die durch einen mechanischen Eingriff langfristigen Schutz bieten, wie etwa verschiedene Arten der Spirale. Seine Besonderheit liegt darin, dass hier die Methode des Implantierens benutzt wird und dass spezifische Nebenwirkungen auftreten, die von den Nutzerinnen als positiv wahrgenommen werden. Denn im Unterschied zur Pille ist weder die Erinnerung an eine tägliche Einnahme (oder ein wöchentlicher Wechsel, wie bei einem Hormonpflaster) notwendig, noch muss sich die Frau mit Zykluserscheinungen auseinandersetzen. Über die Pille, die hier stellvertretend für hormonale Kontrazeption allgemein stehen soll, schreibt Duden: „Durch die tägliche Pille ist es gang und gäbe geworden, sich selbst zu regulieren. Die Pille wurde zum Paradigma für die Jetztzeit-Technik, mit der etwas nicht ‚getan‘ wird, sondern mit der ein Zustand nach Belieben ‚abgerufen‘ und ‚eingerichtet‘ werden kann.“ (Duden 2000: 141) Ähnlich verhält es sich mit dem Implantatstäbchen. Die bei Duden beschriebene „Selbstregulierung“ des weiblichen Körpers meint die Abrufbarkeit eines empfängnisverhinderten Zustandes. Das kann ebenso für die Anwendung des Hormonstäbchens geltend gemacht werden, mit der Einschränkung, dass hier der abrufbare Zustand durch einen einmaligen Eingriff und langfristig für einen Zeitraum von drei Jahren „eingerichtet“ wird. Die Definition von Selbstregulierung, wie Clynes und Kline sie vorschlagen, ist in Bezug auf die Anwendung des Hormonimplantats ebenso zutreffend: „The Cyborg deliberately incorporates exogenous components extending the self-regulatory control function of the organism in order to adapt it to new environments“ (Clynes/Kline 1960: 29-33). Der von ihnen verwendete Begriff Cyborg

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steht für einen durch Technik unterstützten Körperhybriden, der unter der Voraussetzung eines „exogenously extended organizational complex functioning as an integrated homeostatic system“ (ebd.: 30) entsteht. Für die Körper mit einem Hormonimplantat ergibt sich ein cyborgisierter Zustand, bei dem außer dem ‚Stäbchen‘ als technischem Utensil ebenfalls ein kontinuierlich sich selbst regulierender Injektionsmechanismus mit einverleibt wird. Dieser mechanische Dosierungsmechanismus steuert die Abgabe von Etonogestrel an den Körper, interagiert also mit diesem und greift somit in die hormonelle Selbstregulierung des Körpers ein. Donna Haraway erweitert Clynes und Klines Cyborg-Konzept um die Ebene der Textualität. In „the Reinvention of Nature“ (Haraway 1991) schreibt sie: „Bodies have become cyborgs – cybernetic organisms – compounds of hybrid techno-organic embodiment and textuality. The cyborg is text, machine, body, and metaphor – all theorized and engaged in practice in terms of communications.“ (ebd.: 212) Neben dem technisch-organischen Cyborgisierungseffekt, der sich mit der Implantierung des Hormonstäbchens ergibt, besteht für Haraway noch der materiell-semiotische Effekt der Cyborgisierung. Für sie ist das eigentlich Interessante nicht, dass Beziehungen zwischen Körper und Technik existieren und dabei hybride Systeme gebildet werden. Vielmehr geht es um die Tatsache, dass die Bedeutungsebenen dieser Systeme Teil dieser Beziehungen selbst sind. Relevant ist die Verknüpfung des Materiellen, aktualisiert in technisch vermittelter Körperlichkeit, mit dem Semiotischen, der Metaphorik dieser Körperlichkeit. Der Cyborg-Begriff beschreibt ein Hybrid aus Materie (Organismus und Technik) und Text (Bedeutungsebene). Vor dem Hintergrund dieses Harawayschen Cyborg-Modells wird im vorliegenden Text die These aufgestellt, dass durch die spezielle Art der hormonellen Implantatverhütung eine ‚Ent-schlechtifizierung‘ stattfindet. Mit diesem etwas sperrigen Begriff ist zunächst einmal grob der Zustand benannt, in den der weibliche Körper versetzt wird, wenn er durch das Implantat zu einem Technik-unterstützten Hybriden gemacht wird. Der Begriff Technik bezeichnet in diesem Kontext nicht nur das Implantat als ein Artefakt, sondern meint ebenfalls Technik als Praxis, als spezifische Methode, um längerfristig zu verhüten. Am Beispiel des kontrazeptiven Hormonimplantats soll analysiert werden, wie sich durch diese Verhütungsart – als Körperpraxis verstanden – das Körperbild und die Vorstellung von Körperlichkeit verändern können.

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Die Hypothese lautet, (1) dass die Praxis der Verhütung mit dem Hormonstäbchen Körper- und Selbstwahrnehmung verändert und (2) dass dies über die Veränderung von Geschlechts- und Körperbildern identitätsstiftend wirkt. Im Sinne von Haraway ist „the biomedical-biotechnical body […] a semiotic system, a complex meaning-producing field“ (ebd.: 211). Daher soll für die semiotische Ebene die Frage diskutiert werden, ob eine ‚neutralisierte Geschlechtlichkeit‘ geschaffen wird, d.h. ob mit dem Implantat bestehende Bilder von Weiblichkeit verschoben oder möglicherweise um eine neue Form ergänzt werden können. Denn es wird davon ausgegangen, dass bestimmte Diskurse über Technik und Körper die Bedingungen stellen, unter denen sich Deutungs- und Definitionsmuster von Körperlichkeit ändern.

M ETHODISCHES Die Datenerhebung erfolgte mittels qualitativer Methoden: Es wurden fünf Leitfaden-gestützte Interviews mit Nutzerinnen und drei Expertengespräche durchgeführt. Daneben wurden die Web-Inhalte sowohl von unabhängigen Aufklärungs- und frei zugänglichen Nutzerforen (talkteria.de, netdoc.de, ciao.de) als auch von pharmabasierten Internetplattformen (Implantat.de und organon.de) recherchiert 1 und für den Zeitraum März 2007 bis März 2008 ausgewertet. Die ethnographische Forschung fand in Berlin von November 2007 bis April 2008 statt. Zudem fließen die Erfahrungen und Reflektion als Nutzerin in diese Analyse ein. Geforscht wurde in zwei Phasen, wobei die erste Phase der Annäherung an das Feld galt und hauptsächlich von Recherchearbeit bestimmt war. Eine zweite Forschungsphase, in der die Mehrzahl der Interviews durchgeführt und transkribiert wurde, ergab sich aus der nicht absehbaren Schwierigkeit, ‚aktuelle‘ Nutzerinnen zu rekrutieren. Denn es erwies sich als Fehlannahme, in der Gleichgeschlechtlichkeit und der ungefähren Gleichaltrigkeit zwischen Forscherin und zu Beforschenden einen den Feldzugang begünstigenden Vorteil zu sehen. Wenn Nutzerinnen bereit waren, über ihre Erfahrun-

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Die besuchten Internet-Foren werden immer wieder auch durch einen mitunter börsenartigen Charakter bestimmt, wenn der Austausch von Informationen über verhütende Produkte für die Forenteilnehmerinnen im Vordergrund steht.

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gen mit dem Implantat zu reden, dann lagen sowohl das Implantieren als auch die Tragezeit meist mehrere Jahre zurück. Informantinnen, die derzeit per Hormonimplantat verhüten, konnten dagegen für diese Studie nicht gewonnen werden. Dies liegt zum einen in den relativ engen Grenzen des Studiendesigns begründet. Zum anderen verweist es aber auch auf die private Natur des Themas. So stellen die Internetplattformen nicht nur eine zusätzliche Informationsquelle dar, sondern ermöglichen vielmehr Anonymität sowie räumliche und zeitliche Distanz. Diese anscheinend andere Form des Austauschs befördert ein offenes Gespräch über private Themen. Die Nutzerinnen in den Foren thematisieren ihre Körpererfahrungen in Bezug auf Libido- und Verhütungsverhalten. Nicht ermittelt wurden bei der Analyse der Forenbeiträge Vorstellungen über die Form und Funktionsweisen der Hormone. Die Forschung hat sich dem Thema hauptsächlich aus zwei Perspektiven genähert. Auf der einen Seite stehen die Erfahrungswelten der Anwenderinnen, die hier im Kontext besser als Nutzerinnen (Nutzerin) zu bezeichnen sind, da es sich speziell bei dieser kontrazeptiven Methode um passive Konsumtion handelt und weniger um eine sich wiederholende konsumierende Tätigkeit, wie es vergleichsweise bei anderen chemischen Präparaten der Fall ist. Auf der anderen Seite aber in Bezug zur ersten Perspektive steht der Fachdiskurs hauptsächlich repräsentiert durch Expertenmeinungen. Dazu zählen gynäkologische Fachärzte und eine Vertreterin eines medizinisch orientierten Aufklärungs- und Betreuungszentrums für Frauen. Zusätzlich wurden Informationen von Pharmafirmen hinzugezogen. Auch wenn die Grenze zwischen Nutzerinnen und Expertinnen schwierig zu ziehen und vielfach problematisiert worden ist – gerade dann, wenn es sich um gut informierte Nutzerinnen handelt – soll hier Erfahrungswissen von Expertenwissen getrennt werden. Letzteres genügt zwar nicht in naiver Weise einem höheren Wahrheitsanspruch, unterscheidet sich aber erstens durch seine institutionelle Bindung und zweitens durch die Tatsache, dass ihm von den Nutzerinnen eine bestimmte Wissensautorität zugeschrieben wird. Für die Expertenseite wurden ein Gynäkologe und eine Gynäkologin (Experte1 und Experte2) sowie eine Soziologin eines feministischen Frauenzentrums befragt. Für die gesamte Analyse jedoch sind auch jene Expertenansichten hinzuzuaddieren, die durch die Reflexionen der Nutzerinnen sichtbar wurden. Bei der Auswahl der Interview-

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partnerinnen auf Nutzerseite wurde als Kriterium gewählt, implantiv und hormonell gleichzeitig zu verhüten, was aber für die Realisierung der Interviews optional gefasst wurde. Für das Ergebnis standen fünf Frauen (Nutzerin1-5) für mindestens ein Interview zur Verfügung, von denen eine mit einem Pflaster (Nutzerin2), also rein hormonell, nicht implantiv, und eine implantiv, aber nicht hormonell mittels der Spirale (Nutzerin1) verhütete. Der Fokus in den Interviews war auf die Zugangsgeschichte, die Informiertheit und Aufklärung, aber ebenso auf die Vorstellung von Körperlichkeit und das Wissen über hormonbestimmte Prozesse im weiblichen Körper gerichtet. Um Zugang zu Vorstellungen von Körperlichkeit seitens der Informantinnen zu erhalten, wurden in den Leitfaden-gestützten Interviews (Flick 2000) die Denkweise über Verhütung und Sexualität, die existierenden Bilder von Körperlichkeit 2 sowie das Wissen über das hormonale Haushaltssystem des weiblichen Körpers thematisiert. Für die Analyse des empirischen Materials wurde sich an der von Bohnsack eingeführten Methode der „Fokusanalyse“ orientiert (Bohnsack 1993).

V ERHÜTEN & V ERGESSEN „Verhütung ist eben Privatsache“ (talkteria.de).

Um herauszufinden, ob und wie unter Hormonimplantat-Nutzerinnen Sexualität und das Anliegen von Verhütung thematisiert werden, war der Einstieg in die Interviews und ein erster Aspekt bei der Analyse der Foren der Entscheidungsprozess der Nutzerinnen für oder gegen diese spezifische Form der Verhütung. Wenn die Recherche der Nutzerinnen in Internet und Print-Medien nicht sowieso schon zu einer Entscheidung gegen das Implantat geführt hatte, folgte der gezielte

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Dass hier nur über den Begriff Weiblichkeit und nicht auch Männlichkeit gesprochen wird, ergibt sich daraus, dass keine Debatte um hormonelle Kontrazeptiva in Bezug auf männliche Probanden existiert. Die Frage, ‚warum das so ist?‘ soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Wer dem dennoch nachgehen möchte, dem sei zur Lektüre die historische Studie zum Thema Bevölkerungstheorie und Geburtenkontrolle von Gunnar Heinersohn und Otto Steiger empfohlen (Heinersohn/Steiger 1985).

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Dialog mit dem Arzt. Besonders die Rolle des Arztes wird im Entscheidungsprozess immer wieder thematisiert und problematisiert. So berichtet eine Nutzerin der Plattform ciao.de, dass sie den Arzt auf das Hormonstäbchen angesprochen habe und „er dann beschloss, dass es perfekt für mich wäre“. In diesem Fall wird der Arzt über seine beratende Funktion hinaus zum Entscheidungsträger selbst. Auffällig bei den Gesprächspartnerinnen, aber auch unter den Forennutzerinnen ist, dass die letztgültige Entscheidung, ob und wie zu verhüten ist, meist von den Frauen allein getroffen wird. Wenn sie in Partnerbeziehungen involviert sind, hat es zwar in einem Zwischenschritt eine gemeinsame Überlegung und Abwägung gegeben, die tatsächliche Initiative zur Umsetzung, die relevante Entscheidung aber lag in allen Fällen allein bei der Frau. Im Fall einer Paarbeziehung wird die Möglichkeit der reversiblen Sterilisierung des Mannes zwar gelegentlich thematisiert. Diesen Überlegungen folgen jedoch keine Taten und am Ende ergreift doch die Frau die Initiative. Die Nutzerin: „Erst hat mein Mann gesagt, er lässt das mit der Verhütung machen. Den Termin hat er dann [...] absagen müssen und immer wieder verschoben. Und dann habe ich irgendwann gesagt: wenn du das nicht machst, mach ich es“ (Nutzerin3). Weil der Ehemann aus verschiedenen Gründen eine reversible Sterilisierung nicht vornehmen lässt, entscheidet schließlich die Frau zu handeln. „Irgendwie war klar, dass es an mir hängen bleibt“, fasst eine andere der Nutzerinnen das Ergebnis der gemeinsam begonnenen Entscheidungsfindung zusammen. Und eher resigniert denn enthusiastisch spricht sie über die erfahrene Unterstützung des Partners: „Ich glaube, dass ihn die gesundheitlichen Risiken nicht weiter interessiert haben, aber dass dafür ein operativer Eingriff nötig ist, hat ihn geschockt. Trotzdem hat er mich nicht davon abgehalten. [...] Ich hatte für mich die Entscheidung schon vorher getroffen, weil meine Frauenärztin mich überzeugt hat“ (Nutzerin4).

Die hier anklingende Enttäuschung wurde durch das Vertrauen überwunden, das die Nutzerin in die medizinische Expertin und deren Beratungskompetenz gesetzt hat. Ihr bot das Aufklärungsgespräch mit der Ärztin die Hilfe, die sie brauchte, um für sich die geeignetste Methode wählen zu können: Dass Frauenärzte im Allgemeinen sehr häufig und schnell hormonelle Präparate als Verhütungsmittel empfehlen, liegt nach Einschätzung einer Vertreterin des feministischen Bera-

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tungszentrums darin begründet, dass es für die Ärzte einfacher und bequemer ist, ein Rezept auszustellen, anstatt über alternative Verhütungsmethoden aufzuklären. Wenn es speziell um das Hormonstäbchenimplantat geht, sind unter den Ärzten sehr unterschiedliche Reaktionen festzustellen. Das Spektrum reicht von sofortiger Bejahung und dem unmittelbaren Verkauf des Produkts bis hin zu begründeter Zögerlichkeit bei der Zustimmung, verbunden mit vorsichtigem Austesten der hormonellen Situation am individuellen Körper. „Der Arzt hat mir das eigentlich recht schmackhaft gemacht. Er ist von dem Stäbchen voll begeistert gewesen und hat mir das Gefühl gegeben, es gäbe nichts Besseres“, erzählt eine Nutzerin (3), die nach der Geburt von zwei Kindern wusste, dass sie „in keinster Weise mehr schwanger werden“ wollte und deshalb besonderen Wert auf die hohe Sicherheit der verhütenden Eigenschaft des Stäbchens legte. Als sie nach einigen Monaten ihren Frauenarzt aufgrund nicht zu tolerierender Nebenwirkungen aufsuchen musste, habe er berichtet, dass 60 von 80 seiner Patientinnen, die diese Art der Kontrazeption anwandten, um ein vorzeitiges Entfernen des Stäbchens baten. Denn auch Misstrauen gegenüber der Methode oder gar ein Abraten davon war zu beobachten. So ist in einem der Forenberichte zu lesen, dass zunächst die Hormonverträglichkeit geprüft wurde, um einer vorschnellen Entscheidung zu entgehen. „Ich sprach die Frauenärztin auf diesen Hormonstab an, da ich sowieso schon Probleme mit meiner Verträglichkeit der Pille hatte. Die Frauenärztin fing an zu erzählen [über die Art der Anwendung und die Vorteile des Stäbchens], doch dann änderte sich ihr Gesicht zu einer leicht griesgrämigen Miene. Und nun fing sie mit den Nebenwirkungen an“ (ciao.de).

Die von der Nutzerin beschriebene Mimik ihrer Ärztin lässt eine sehr skeptische Haltung gegenüber dieser Methode deutlich werden, die auch von einer der interviewten niedergelassenen Frauenärzte geäußert wird: „Die Frauen fragen öfter danach, als ich das wünsche, weil ich das ganz schlimm finde. Das Stäbchen ist für mich das Letzte in der Reihe möglicher Verhütungsmethoden. Ich habe eine ganz persönliche Aversion dagegen. Ich lege nicht gerne ein Implanon ein, nur, wenn die Patientin das unbedingt will. Dann versuche ich sie davon abzubringen und wenn sie sich nicht davon abrin-

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gen lässt, lege ich unter Protest auch so ein Ding ein und hole es unter dem gleichen Protest nach drei Jahren wieder raus. Aber irgendwie habe ich immer ein ungutes Gefühl dabei. Ich weiß nicht, warum.“ (Experte2)

Auch auf ein Nachfragen konnte die Expertin nicht erklären, worin sich ihr „ungutes Gefühl“ begründet. Möglicherweise entspricht dieses, nicht durch medizinisches Wissen erklärbare, Grundgefühl einer Furcht vor etwas, das Duden mit „entkörperter Wahrnehmung des eigenen Organismus“ (Duden 2002: 241) meint. Oder aber es ist das nicht vorhandene medizinische Wissen selbst, das sie beunruhigt: „Den ganz genauen Eingriff, die reine Biochemie, wie das von Zelle zu Zelle funktioniert, das wissen wir teilweise überhaupt noch gar nicht.“ (Experte2). Die sehr skeptische Haltung der Ärztin wird vermutlich besser nachvollziehbar, wenn weiter unten auf die Nebenwirkungen eingegangen wird. Ein ganz wesentliches Argument bei der Entscheidung für das Ja zum verhütenden Hormonimplantat ist das Nicht-daran-denken-Müssen. „Die Patienten wollen nicht daran denken müssen und möchten, wenn möglich, keine Blutung haben. Deswegen lassen sie sich ja das Ding legen“, gibt eine Ärztin (Experte 2) zur Erklärung und verweist damit auf eine wichtige Nebenfolge. Im Vordergrund aber steht für die meisten Frauen das erstgenannte Argument: Der praktische Wert, nicht täglich an Verhütung denken zu müssen. „Und die Pille muss man doch regelmäßig einnehmen und an der Regelmäßigkeit scheiterte es dann natürlich auch, also brauchte ich für mich was, worum ich mich nicht kümmern musste und da war das Stäbchen eigentlich optimal, weil das war drinnen und fertig“ (Nutzerin3). „Ich war vorher immer eine Pillenschluckerin und war es einfach leid, dass ich sie oft vergaß“ (ciao.de). „Das Stäbchen fand ich halt praktisch, man muss nichts einnehmen und kann auch mal vergessen“ (talkteria.de).

Die Reihe solcher lobenden Statements ließe sich beliebig fortsetzen. Es wird deutlich, dass die betonte Vorteilhaftigkeit der Methode in der einmaligen Anwendung liegt, wodurch die Frauen längerfristig von alltäglichen Maßnahmen befreit sind, die eine gewisse Disziplin erfor-

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dern. Das von den Nutzerinnen erwähnte ‚Mal-vergessen-Können‘ impliziert den Wunsch nach ‚Vergessen-Dürfen‘ und setzt voraus, dass Frauen vergessen wollen. Es stellt sich die Frage, ob Frauen hier wirklich nur einem pragmatischen Wunsch nach weniger Disziplin im Alltag Ausdruck verleihen oder ob dieser Wunsch nicht auch eine gesellschaftliche Konfiguration signalisiert, in der Verhütung erstens Privatsache und zweitens Frauensache, niemals aber öffentliches Thema bzw. öffentlich handhabbar ist? Die Tatsache, dass viele Implantatnutzerinnen ihre Besuche beim Gynäkologen vernachlässigen und für die Zeit des Tragens fern bleiben, und „nur diejenigen kommen, die Nebenwirkungen haben oder es gewechselt haben möchten“ (Experte2), weist darauf hin, dass der hormonell manipulierte Körperzustand im Alltag der Frauen auch Auswirkungen auf ihr Körperbewusstsein hat. Denn die technisch-körperliche Hybridisierung verursacht nicht nur ein Ausbleiben der Menstruation. Es verändern sich damit auch die Körperpraxis und Vorstellung der eigenen Körperlichkeit bei den Frauen. Dies geschieht zum einen direkt über weniger Arztbesuche und ausbleibende Blutungen. Zum anderen wirkt es mehr indirekt, aber verstärkend auf einen gesellschaftlichen Diskurs, in dem Hybridbildung und damit die Manipulierung des Frauenkörpers akzeptabel wird. Diese diskursive Verschiebung wiederum hat zumindest das Potential auf Frauen Druck auszuüben, indem Hybridisierung als Normalzustand festgeschrieben wird. Dass technisch manipulierte Körperlichkeit auch Manipulierbarkeit von Bewusstsein bedeutet und wie das Konzept dieser Körperlichkeit von den Frauen in ihre Alltagsstrategien eingebunden wird, zeigt sich im Forenbeitrag einer Nutzerin bei talkteria.de: „Ich suchte etwas für drei bis fünf Jahre, das sich gut mit meinem Schichtdienst vereinbaren lässt. Mir ist da nur das Stäbchen untergekommen.“ Schichtdienstarbeiten sind so angelegt, dass nicht nur der zeitliche Alltagsablauf regelmäßigen Verschiebungen unterliegt, sondern vor allem der menschliche Bio-Rhythmus dauerhaft einer Diskontinuität ausgeliefert ist. Um dieser Diskontinuität zu begegnen und die Erwartungen ihrer Arbeitswelt erfüllen zu können, wählt die Nutzerin strategisch das Stäbchenimplantat, das sie zwar einerseits einer kontinuierlichen hormonellen Manipulation aussetzt und ihr damit Wahlmöglichkeiten nimmt. Andererseits ist es aber gerade diese automatisierte Kontinuität, die es ihr ermöglicht, den Anforderungen ihrer Arbeit zu entspre-

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chen. Hier zeigt sich, wie die Kombination aus Verhütung als Privatsache einerseits und andererseits Sachzwängen, die sich aus einer modernen Arbeitswelt scheinbar unvermeidlich ergeben, die Wahl einer permanenten hormonellen Manipulation nahe legt. Strategisches Verhalten erscheint als die sinnvolle Antwort auf vielfältige Erwartungen. Dass hier gesellschaftlich zumindest mit-produzierte Konflikte zu Lasten des eigenen Körpers aufgelöst werden, wird meist nicht reflektiert. Im Gegenteil: Vielfach wird die durch diese Konfliktlösung erreichbare Freiheit gelobt. Viele der Aussagen von Forennutzerinnen und in den Interviews decken sich mit dem, was von Seiten der Experten empfohlen wird: dass das Hormonimplantat besonders für Frauen geeignet sei, die einen unregelmäßigen Lebensrhythmus haben. Die auf beiden Seiten in den Vordergrund tretende pragmatische Einstellung mündet in einem fast identisch angelegten Konzept von Freiheit: befreit zu sein vom Zwang zur regelmäßigen Einnahmepraktik und daran gebundene Erinnerungsstrategien. Diese Befreiung von Maßnahmen der Selbstdisziplinierung wird von Stimmen auf der Expertenseite für werbedienliche Zwecke benutzt, aus der Perspektive der Frauen aber als körperpraktisches Optimum erlebt. Die Freiheit besteht nicht nur in der Entlastung von Einnahme- und Erinnerungspflichten, sondern speziell in der erlebten Unabhängigkeit, die sich für den weiblichen Körper ergibt, wenn bestimmte Bioprozesse, wie der menstruale Zyklus, nicht mehr stattfinden. Fast durchweg wird die Abwesenheit der Menstruationserscheinungen Blutung und Schmerzen als Befreiung von Bewegungseinschränkung und Leistungsschwäche sowie von hygienetechnischen Maßnahmen und emotional-sozialer Indisponiertheit verstanden. Die Krankheit Fertilität „Nachgewiesen ist, dass Frauen, die die Pille über lange Zeit genommen haben“, argumentiert eine Gynäkologin für die Anwendung von hormonellen Kontrazeptiva, „weniger Eierstockkrebs haben. Das ist doch etwas Gutes. Das hängt zusammen.“ (Experte2) Die Tatsache, dass das Produkt Implanon wie alle hormonellen Kontrazeptiva als Arzneimittel klassifiziert wird und als solches verschreibungspflichtig ist, lässt Verhütung per Hormonstäbchen in die Nähe einer medizinischen Behandlung rücken. Es ginge vielleicht zu weit zu behaupten, dass damit Fertilität als Krankheit dargestellt wird. Gerade die Beto-

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nung des medizinischen Nutzens von hormoneller Verhütung auf Expertenseite trägt jedoch zu einer Medikalisierung des Phänomens insofern bei, als medizinische Akteure und technische Interventionen nahe gelegt werden. Bei bestimmten Erkrankungen allerdings wird hormonelle Manipulation auch gezielt als Behandlungsmethode eingesetzt, wie beispielsweise bei Frauen mit PCO -Syndrom (Polycystisches Ovar- Syndrom): „Da macht man sich die Funktion der hormonellen Kontrazeption zu nutze, indem man bei diesen Frauen versucht, die Eierstöcke ruhig zu stellen, so dass nicht weitere kleine Zystchen gebildet werden, damit man eventuell, wenn man schwanger werden möchte, das noch normale Eierstocksgewebe zur Verfügung hat und dort dann gezielt einen Eisprung induzieren kann.“ (Experte2)

Die von der Expertin zum Vergleich gezogene Präventionsmaßnahme bei Eierstockkrebs funktioniert nach exakt demselben Prinzip wie das Hormonimplantat. Die Übereinstimmung manipulierter Körperlichkeit im Vergleich mit tatsächlich erkrankten Körpern kann ein Argument sein, um Fertilität als Krankheit zu deuten. Denn für das hormonale Stäbchenimplantat gilt ebenso, dass mittels Medikamentierung der empfängnisfähige, eigentlich ‚gesunde‘ Körper einer Behandlung unterzogen wird, die zum Ziel hat, einen empfängnis-unfähigen Körper zu schaffen. Die verhütende Wirkung des Implantats beruht primär auf der Hemmung des Eisprungs, wobei die ovarielle Aktivität aber nicht vollständig unterdrückt, sondern der Eierstock nur ruhiggestellt wird. „Im Grunde genommen ist das etwas sehr schönes, wenn der Eierstock über lange Zeit ruhen kann und man die Eier dann haben kann, wenn man sie braucht“, erklärt eine Gynäkologin (Experte2). Darin ist also kein wirklicher Nachteil zu erkennen, weil der Vorrat an Eizellen begrenzt ist und der weibliche Körper sehr großzügig mit seinem Eierkontingent umgeht, wenn mit der Bereitstellung von einem befruchtungsfähigen Ei noch circa 100 weitere Eier heranreifen, die ungenutzt absterben. Paradoxerweise bedeutet dieser von der Expertin oben als „schön“ beschriebene Zustand für die Frauen zwar einen gesunden Zustand, da ihre Eierstöcke geschont werden, im Kontext der Medikation gesehen aber ist er mit einem Krankheitszustand vergleichbar. Denn das als Medikament gehandelte Präparat wird so eingesetzt, als wäre der zu erreichende infertile Zustand der ‚gesündere‘ und der Zustand von

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Fertilität wäre das vorausgesetzt ‚kranke‘ und zu behandelnde Leiden. Unter Implantatbefürworterinnen wird dieser medikamentös konstruierte ‚kranke‘ Zustand jedoch nicht als solcher wahrgenommen, es sei denn, dass sich beschwerliche Nebenwirkungen bemerkbar machen. Überhaupt spielt der Aspekt der Nebenwirkungen nur dann eine wesentliche Rolle, wenn es abzuwägen gilt, welche der verhütenden Maßnahmen die angemessene ist. Von Weiblichkeit und anderen Nebenwirkungen „Es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkungen. Selbst die Aspirineinnahme ist gefährlich – ich weiß nicht, wie viele tödliche Magenblutungen auf die regelmäßige Aspirineinnahme zurückzuführen sind, aber es gibt überall Nebenwirkungen. Das Nebenwirkungsprofil der hormonellen Verhütung ist relativ gering“ (Experte1).

Das im Implantat enthaltene Hormon Gestagen (Etonogestrel) bewirkt die Unterdrückung des Eisprungs, d.h. der Rhythmus des weiblichen Zyklus wird soweit durcheinander gebracht, dass es für die Eizelle sehr viel schwieriger ist zu reifen. Der Eisprung wird gestört, aber nicht in so zuverlässigem Maße, als dass man allein durch diesen Effekt verhüten könnte. Zusätzlich wird eine hormonelle Verschiebung von zyklisch bestimmter Gestagenfreisetzung in Richtung permanenter Gestagengabe erzielt, wodurch die Schleimbildung im Uterus gestört wird. Diese Veränderung der Gebärmutterschleimhaut verhindert das Einnisten einer (befruchteten) Eizelle, und die Verdickung des Schleims in der Cervix führt außerdem dazu, dass Spermien nur schwer oder gar nicht in die Gebärmutter eindringen können. Die Nebenwirkungen, so klärt die Fachwelt auf, reichen von Kopfschmerzen und Aknebildung, über Gewichtszunahme und Brustschmerzen, bis hin zu Libidoverlust und Blutungsstörungen. Damit weisen sie keine großen Unterschiede im Vergleich zu anderen Hormonpräparaten auf. 3

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„Die Frauen werden in aller Regel etwas dicker, weil das Gestagen an sich eine gewisse Adipositas hervorruft. Und wenn sie Pech haben, ist es auch noch ungesundes Fett. Dann steht man drei Jahre daneben und kann nichts tun. Das macht mir auch keine Freude.[...] Man hat herausgefunden, dass alles Fett, das „draußen“ dran ist, also unter der Haut angelegt ist, nicht unbedingt ungesund ist, das ist nicht weiter schlimm, da passiert nicht viel,

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Einzig das Detail „extremen Haarausfalls“, das in keinem Beipackzettel Erwähnung findet und nach Expertenansicht auch nur in sehr seltenen Fällen auftritt, gibt Anlass zur Beunruhigung unter den Nutzerinnen sowohl auf Foren- als auch Interviewebene und führte in jedem beobachteten Fall zum Abbruch der Anwendung. Der Produkthersteller Organon informiert seine Kundinnen mit dem dezenten Hinweis, dass „dieses Arzneimittel einen Stoff enthält, der in der medizinischen Wissenschaft noch nicht allgemein bekannt ist“. 4 Das Ausbleiben der Zykluserscheinungen ist nicht nur eine Nebenwirkung des Präparats, sondern wird von den Nutzerinnen als positive Nebenfolge geschätzt und ist ein ganz wesentliches Argument bei der Entscheidung für die Methode. Das sehr häufig mit Superlativen attributierte Ausbleiben von Blut und Schmerz („das Wichtigste“, „ein absoluter Pluspunkt“) und auch die in Äußerungen wie „total toll“ oder „äußerst praktisch“ enthaltene Bewertung ihrer mitunter als „Glückszustand“ empfundenen Situation lassen eine Begeisterung erkennen, die in diesem Kontext die Nebenwirkung oder eben Nebenfolge ihrer lexikalischen Rolle beraubt und sie von der Nebenerscheinung zum Hauptanliegen werden lässt. Das primäre Ziel, vor Schwangerschaft zu schützen, rückt in den Hintergrund und wird zur Nebensache. Die fast durchweg positive Bewertung des neuen Zustands ohne Menstruationserscheinungen deutet auf eine umfassende Normalisierung hin. Die neue technisch vermittelte Körperlichkeit wird rasch als wünschenswert und normal verstanden und gelebt. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass ein solch rascher Wechsel vor allem möglich ist, weil der technisch vermittelte, hybridisierte und manipulierbare Körper bereits als Vorstellung in gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken verankert ist. Dominante Vorstellungen von Körperlichkeit entsprechen schon lange nicht mehr einfachen Bildern von Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit in einem vormodernen Sinne. Körpervorstellungen ändern sich hier also im Kontext dessen, was die Körperhistorikerin Duden als „Entkörperung“ bezeichnet, wenn es um hormonale

die sind einfach nur fett, weiter nichts. Aber es gibt andere Frauen, bei denen das Fett auch zwischen den Därmen eingelagert ist, also innen, zwischen den Organen. Und das ist, was uns Kummer macht, weil die Patienten oft Kreislauferkrankungen bekommen“ (Experte2). 4

Fachinformation der Nourypharma GmbH Oberschleißheim.

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Wirkungsweisen von Kontrazeptiva geht (Duden 1996: 72). Bei der Analyse des Interview- und Forenmaterials zeigte sich ganz deutlich, dass dieser neue Zustand technisch manipulierter Körperlichkeit von den Nutzerinnen nicht als Problem empfunden, sondern bewusst konstruiert wird: „Der größte Vorteil ist, dass ich meine Regel nicht mehr bekomme. Und ich habe auch ein bißchen Angst davor, wie das wird, wenn das Stäbchen wieder rausgenommen wird, weil ich unerträglich bin, wenn ich meine Regel habe, [...] aber es geht mir auf jeden Fall sehr viel besser als vorher“ (Nutzerin4).

Die von der Nutzerin geäußerte Angst vor einem Zurückkehren in den alten Normalzustand untechnischer Körperlichkeit und die wahrgenommene Verbesserung der Situation in dem technisch vermittelten Normalzustand, lassen den Wunsch nach dauerhaft eingerichteter Veränderung erkennen. Vor allem aber kann hier das Argument geltend gemacht werden, dass es sich um bewusst konstruierte Manipulierbarkeit handelt. Im Rahmen dieses Diskussionskontexts sticht neben der Entkörperung auch der pragmatische Umgang mit Körperlichkeit hervor. Die Veränderungen, die eine technische Manipulation im Körper hervorruft, werden auch fast ausschließlich im Kontext von biologischer Körperlichkeit diskutiert. Dies mag zum Teil mit der Thematik der Diskussionen und ihren Formaten zu tun haben. Es entbehrt aber nicht jeder Aussagekraft, dass die symbolische Komponente weiblicher Körperlichkeit nicht zur Sprache kommt. Man könnte vermuten, dass Menstruationserscheinungen mit einem Empfinden von Weiblichkeit in Verbindungen stehen oder dass temporär unterbrochene Fruchtbarkeit mit Frau-sein verknüpft würde. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass die Auswirkungen des Implantats eng auf Nützlichkeit für den eigenen Körper reduziert sind. Und dieser Körper wiederum wird stark von pragmatischer Denkweise geprägt und „sex, sexuality and reproduction are theorized in terms of local investment strategies“ (Haraway 1991: 211). Die Vorteile dieser eben nicht nur körperfunktionalen Strategien liegen in den positiven Nebenfolgen begründet: die Vermeidung von Schmerz oder unvorhersehbaren Stimmungswechseln, befreit zu sein von der regelmäßigen Berührung mit Blut und außerdem Leistungsund Bewegungsfreiheit erleben zu können. Diese Liste kann noch um

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den Aspekt der ökonomischen Rentabilität ergänzt werden. Denn durchgehend in jedem der geführten Interviews und auch in den Forenbeiträgen kam zur Sprache, „dass es eben doch eine Geldfrage“ ist, das Implantat legen zu lassen. In seiner Anschaffung zunächst eine stärkere finanzielle Belastung, ergibt die Hochrechnung an Zuzahlungen über diesen längeren Zeitraum im Vergleich zu anderen Präparaten eine höhere Rentabilität. Sicherlich ist die finanzielle Mehrbelastung durch eine Pillenlösung in vielen Fällen ein kritischer Punkt. Allerdings stehen auch dort ökonomische Abwägungen im Vordergrund, wo das Budget keineswegs das Limit erreicht zu haben scheint. In diesen Diskussionen wird erneut deutlich, wie pragmatisch der Umgang mit der Manipulation des eigenen Körpers geworden ist. In einem Gesamtprofil des Implantats stehen positive Nebenwirkungen und niedrige Kosten ganz oben. Der Ton der Diskussion ist dabei eher vergleichbar mit einem beliebigen Konsumgut, z.B. Unterhaltungselektronik, und erinnert nicht wirklich an die Diskussionen über ein Medikament und einen signifikanten Eingriff in die eigene Körperlichkeit. Obwohl nicht garantiert ist, dass unter Anwendung des Implantats die Menstruation ausbleibt, wird die aus pharmazeutischer Sicht als Störung benannte Veränderung des Blutungsverhaltens von vielen Nutzerinnen meist als etwas sehr Positives betrachtet. Allerdings gibt es immer auch kritischere Stimmen. Frauen, die das Implantat nicht nutzen wollen, nehmen das veränderte Blutungsverhalten sehr häufig als Verunsicherungsfaktor wahr. Mit den Worten „was mich wiederum beunruhigt hätte“ (talkteria.de) wird in einem Forenbeitrag die fehlende Menstruationserscheinung bei einer implantatnutzenden Freundin kommentiert. Hier sind Menstruationserscheinungen nicht nur Störung eines geschäftigen Alltags, sondern auch Erkennungsmerkmal für einen normal funktionierenden Frauenkörper. Die Abwesenheit dieses Merkmals wird in einem der Nutzerinterviews folgendermaßen dargestellt: „Drei Jahre lang keine Tage zu haben, also, wenn ich sie nicht ein Mal pro Monat hätte, würde mir etwas fehlen. Ich käme mir dann vor, wie jemand, der drei Jahre lang seinen Müll nicht runter bringt“ (Nutzerin2). Dass hier die Abwesenheit von regelmäßig erscheinendem Blut als Defizit empfunden wird, gibt den Verweis darauf, dass die Identifikation als weibliches Wesen über das Blutungsverhalten selbst geschieht. Das läge ganz in der Philosophie von Duden, die sagt: „Das Geblüt ist der rote Faden [...] in der Selbstwahrnehmung der Frauen. Geblüt ist der Stoff, dessen Wesen [...] die narrationes der

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Frauen durchströmt“ (Duden 2002: 62). In dem narratio dieser Nutzerin wird die menstruale Blutung nicht nur als Zeichen ihrer Fruchtbarkeit wahrgenommen, sondern gar als ein Reinigungsprozess erlebt, und gerade das mögliche dauerhafte Ausbleiben der zyklischen Blutung wird mit einem Verunreinigungsprozess verglichen.

D IE H ORMONE ( H ) AUSHALTEN „Das Schlimmste aber war, dass ich seit dem Einsetzen des Stäbchens absolut keine Lust mehr auf Sex hatte.“ (netdoc.de), ist das Statement einer Forennutzerin, die sich für ein vorzeitiges Entfernen des Implantats entschieden hat. Dies wird durch die Beobachtungen eines Experten untermauert: „Was viele Patienten berichten, die reine GestagenPräparate nehmen, ist, dass sie eher müde werden. Depressionen sind nicht allzu selten, Libidoverlust spielt noch eine Rolle und Gewichtszunahme durch Appetitsteigerung“ (Experte1). Etonogestrel ist das Gelbkörperhormon und gehört zur Gruppe der Gestagene. Gestagen ist ein weibliches Keimdrüsenhormon, das der Vorbereitung und Erhaltung der Schwangerschaft dient. Mit der permanenten Gestagengabe werden dem Körper Signale gegeben, durch die er in einen Zustand versetzt wird, der dem einer Befruchtung ähnlich ist. Es besteht für den Körper nicht die Notwendigkeit, weiterhin eine Empfängnisbereitschaft vorzubereiten und ein daraus resultierendes Verlangen nach Reproduktion in Form von sexueller Lust zu entwickeln. Das stark verringerte Libidoempfinden bei den Nutzerinnen erklärt sich durch den künstlich herbeigeführten Überschuss an Gestagen 5 , wie die Soziologin des Frauenzentrums im Interview bestätigt. Sie berichtet, dass mit der Entwicklung der Minipille, anfangs ein reines Gestagenpräparat, das Phänomen auftrat, dass das Libidoempfinden der Frauen zurückging. Entgegen seiner Bestimmung, Frauen in die Lage zu versetzen, ihre Libido selbstbestimmt ausleben zu können,

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An dieser Stelle sei auf den Physiologen Ludwig Haberlandt (1885-1932) verwiesen, der das Prinzip der Pille entwickelt hat. „Er knüpft an die Hypothese an, dass bei Schwangeren die Sexualhormone dafür sorgen, dass keine neuen Eisprünge geschehen. Daraus folgerte er, dass man durch die Verabreichung von Hormonen einen schwangerschaftsähnlichen Zustand herbeiführen kann“ (Köstering 1996: 115).

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hielt die Anwendung dieses Pillenpräparats eher einschläfernde Konsequenzen bereit. Wie aber steht es auf Seiten der Nutzerinnen um die Kenntnis solcher hormonellen Prozesse? „Auf jeden Fall würde ich mich hormonell usw. gut untersuchen lassen, damit eine Eignung festgestellt werden kann“ (netdoc.de). Der hier verwendete Ausdruck von „hormonell usw.“ steht exemplarisch für das, was in den Aussagen vieler Nutzerinnen deutlich wird: dass nur eine vage Vorstellung von der Funktionsweise des weiblichen Hormonhaushalts existiert und nur eine auf Schulwissen basierende Kenntnis darüber vorhanden ist. Die Hormone rücken immer dann ins Bewusstsein, wenn es um negative Begleiterscheinungen geht. Dann wird den meisten klar, dass das irgendwie mit den Hormonen zusammenhängt. „Ich merke, dass ich zu Kopfschmerzen neige, mehr als früher. Und auch wenn ich meine Regel nicht bekomme, spüre ich, dass da was los ist, von der Stimmung her“ (Nutzerin4). Was auf Expertenseite zum Standardwissen über Nebenwirkungen von spezifischen Hormonpräparaten gehört, wird von der Nutzerin vorwiegend körperlich erfahren. Die Diskrepanz zwischen explizierbarem, rationalem Verständnis und einem unbestimmbaren Gefühlszustand und Körperempfinden, führt dazu, dass Äußerungen zu dieser Thematik immer vage bleiben. Dies wird nicht gerade dadurch gemildert, dass das Expertenwissen auf einer allgemeinen Ebene bleibt, da dass Wissen über Effekte von spezifischen Präparaten auf spezifische Körper sehr gering bzw. nicht vorhanden ist. Konsens innerhalb der Expertinnengemeinde ist folgendes: Hormone sind körpereigene Informationsübermittler, die in den Drüsenzellen der einzelnen Organsysteme (u.a. Niere, Bauchspeichel- und Schilddrüse) gebildet und ins Blut abgegeben werden. Mit Hilfe von Transporteiweißen gelangen sie zum Zielorgan, wo ihre Nachrichten von bestimmten Rezeptoren gelesen werden. Das Zusammenspiel der einzelnen hormonellen Systeme ergibt sich durch komplizierte Rückkopplungsmechanismen und lässt den Hormonhaushalt wie ein Netzwerk funktionieren. Die Geschlechtshormone im speziellen werden zwar auch im Fettgewebe gebildet, die wesentlichen Produzenten aber sind die Eierstöcke, die im Kreislauf des weiblichen Zyklus das Zielorgan darstellen. Für die Freisetzung von Östrogen und Gestagen bedarf es zusätzlicher Steuerungshormone, die in der Hirnregion des Hypothalamus gebildet werden, und nur durch die Wechselwirkung zwischen allen wird der empfängnisbereite Zustand erreicht (Diedrich

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2003; Keck et al 1997; Mason 1958). Die Soziologin Köstering bezeichnet Hormone „als eine Art Kommunikationssystem“, das mit dem Nervensystem nicht nur analog zu setzen, sondern auch mit diesem verbunden ist (Köstering 1996: 114). Duden geht noch einen Schritt weiter, indem sie sagt, dass Regelkreise und „ein Denken in Rückkoppelungen, Vernetzung, Kommunikation [...] und ähnlichen Abstrakta“ die Selbstwahrnehmung bestimmen (Duden 1996: 71). Auch kann für die Interpretation des Hormonsystems übernommen werden, was Haraway bei ihrer Analyse des menschlichen Immunsystems als ein „networking techno-organic-textual-mythic system“ beschreibt (Haraway 1991: 219). Demnach ist der Hormonhaushalt als ein Gefüge zu verstehen, das sich aus mehreren ‚kleinen‘ Systemen zusammensetzt. Dieser enormen Komplexität ist durch rein rationale, biomedizinische Expertise nicht beizukommen. Sie ist schon allein deswegen nicht einfach reduzierbar, weil keine individuelle Diagnostik verfügbar ist, die im Einzelfall den Zustand des „persönlichen“ Systems zu bestimmen in der Lage wäre. Aussagen über die Effekte von Präparaten auf das Hormonsystem bleiben daher auf einer allgemeinsystemischen Ebene und lassen so notwendigerweise immensen Spielraum für eigene Interpretationen der Nutzerinnen. Darüber hinaus sind Hormon- und Immunsystem selbstverständlich in einen Körper und ein Selbst integriert, das von Haraway als „strategic assemblage“ (ebd.: 212) bezeichnet wird, um zu zeigen, dass Körpervorstellungen nicht mehr einfach mittels unproblematischer Verweise auf irgendwie geartete ‚gesunde‘ oder ‚natürliche‘ Körper definiert werden können. Dieser strategische Aspekt wird auch in der Vielfalt der Deutungs- und Erklärungsmodelle von hormoneller Aktivität unter den Nutzerinnen deutlich. So beschreibt eine Nutzerin, die erzählt, wie bei einer Bekannten mittels hormoneller Manipulation ein vorübergehend menopausaler Zustand erzeugt wurde, um das eigentliche Ziel einer Ei-Einnistung zu erreichen, ihre eigene Vorstellung dieser Prozedur: „So denke ich mir halt einfach, dass der Körper seine Hormone ausschüttet, so wie er es für richtig empfindet, dass er das so macht wie er das für richtig hält. Und wenn er der Meinung ist, wir brauchen viele Hormone, dann schüttet er einfach viele aus“ (Nutzerin3).

Dem Körper wird hier der Charakter von etwas eigenständig Handelndem mit eigener Empfindungsfähigkeit zugeschrieben, als wäre er

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vom Willen des agierenden Subjekts getrennt und würde unabhängig von diesem ‚selbst entscheiden‘. Er ist ein eigennützig handelnder Akteur, der zwar mit dem zu organisierenden Netzwerk verbunden ist, sich aber nach ‚eigenen‘ Kriterien entscheidet, Hormone zu produzieren. Doch auch die Hormone werden als etwas „selbst Agierendes“ dargestellt, das zwar innerhalb der bewussten, körperlich-physischen Begrenzung liegt, aber außerhalb der eigenen bewussten Kontrollierbarkeit. Die Geschlechtshormone werden innerhalb des hormonellen Netzwerks zu Akteuren, die den Körper manipulieren können. So bringt eine Nutzerin ihre Abneigung gegenüber Hormonpräparaten wie folgt zum Ausdruck: „Wenn ich drei Jahre lang durch ein chemisches Präparat nicht schwanger werden kann, dann ist mir die Chemie einfach zu hoch. Dann habe ich einfach Angst, dass mein Körper zu sehr angegriffen wird. Ich hätte dann das Gefühl, dass ich dann von etwas anderem geleitet werden würde, nicht mehr von mir selber“ (Nutzerin2). Es ist der „chemische Befehl an den eigenen Leib“ (Duden 1996: 76), der von der Frau abgelehnt wird und eher ein Gefühl von Angst hervorruft. Die der bewussten Kontrolle entzogene Steuerung durch die zusätzliche, chemische Einwirkung von außen wird von der Interview-Partnerin als eine Gefahr wahrgenommen. Das Gegenteil von Gefahr ist Schutz und eine ebenso konträr gelagerte Vorstellung hegt eine Nutzerin, wenn sie Hormonen die beschützende Rolle von „Wächtern“ zuschreibt: „Ich glaube, dass das Stäbchen die Funktion eines Pförtners übernimmt, der kontrolliert, wer wann eingelassen wird und die Hormone sind ‚Sicherheitsbeamte‘, die die Empfängnisverhütung überwachen“ (Nutzerin5). Hier wird deutlich, dass Unsicherheit ob der Wirkmechanismen bestimmter Präparate nicht notwendigerweise zu einer skeptischen Haltung führen muss. Vielmehr finden sich in den hybriden Erklärungsmodellen auch solche, die mit einem Grundvertrauen in Technik und wohl auch die eigene ärztliche Betreuung gerne die Verhütung an chemische Sicherheitsbeamte delegieren. Es bleibt festzuhalten, dass die Erklärungsmodelle für hormonelle Wirksamkeit und die damit verknüpften Bewertungen von Risiken und Nutzen auf Expertenseite weitgehend unspezifisch bleiben. Der Raum, der durch die Abwesenheit dominanter Wissensformen geschaffen wird, wird durch die Nutzerinnen auf mannigfaltige Art und Weise ausgefüllt. Dabei spielen eigene Körpererfahrungen genauso eine Rolle wie Erfahrungsberichte aus dem persönlichen Umfeld. Deutlich

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wird vor allem, dass das techno-organic-textual-mythic system Körper und Hormonsystem immer wieder auch Quelle und Projektionsfläche für Wissensformen ist, die in keiner Weise direkt von Expertenwissen determiniert werden, sondern die Ausdruck eines hochgradig hybriden und vielfältig geprägten Wissens sind.

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„Die Pille hat keine Ahnen“ hat Duden (1996: 67) festgestellt. Die Pille als hormonell wirkendes Kontrazeptivum ist ein Vorfahre des Hormonstäbchens, aber eben nur einer. Der andere Clan seiner Ahnenschaft steckt hinter der Geschichte des oben beschriebenen Cyborgs. Sein Entwicklungsprinzip für die Raumfahrt-Forschung beruhte auf Anpassung durch Verkleinerung der Belastungsgrößen. Inzwischen muss man nicht Kosmonaut werden wollen – es genügt, als Frau geboren zu sein, um in den Genuss einer den Organismus entlastenden Technik kommen zu können. Denn um Entlastung geht es anscheinend auch, wenn Frauen sich für die Anwendung eines Hormonstäbchens entscheiden. Wie die Ergebnisse dieser Studie zeigen, wird das Hauptanliegen, dauerhaft verhüten zu können, ohne daran denken zu müssen, zusammen mit dem Aspekt der positiven Nebenwirkungen und ökonomischen Rentabilität von Nutzerinnen häufig pragmatisch gedacht. Dieser Pragmatismus bestimmt in vielen Fällen sowohl die Einschätzung hormoneller Wirkmechanismen als auch ihre Selbstwahrnehmung. Gleichzeitig gibt es aber auch eine signifikante Gruppe von Frauen – überwiegend Frauen, die das Stäbchenimplantat nicht oder nicht mehr nutzen wollen, – die diesem Pragmatismus einen auf verschiedenen Ebenen begründeten Skeptizismus gegenüberstellen. Es lassen sich also zwei grundverschiedene Lesarten des Implantats und seiner Effekte auseinander halten. Auf der einen Seite steht die pragmatische Lesart, innerhalb derer Menstruationserscheinungen hauptsächlich als lästig und in keiner Weise als Indiz einer gesunden oder zumindest funktionierenden Körperlichkeit verstanden werden. Auf der anderen Seite findet sich die skeptische Lesart, für die eine monatliche Blutung immer auch ein Symbol für eine natürliche und intakte Körperlichkeit darstellt. Letztere besorgtere Position wird vor allem auch durch die geringere Kontrollierbarkeit eines Implantats verstärkt. Die hybride Form des Cyborgs als wenigstens semi-perma-

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nenter Verschränkung von Körper und Technik steht im Gegensatz zu der Einnahme von Tabletten; die Automatisierung von hormoneller Veränderung im Gegensatz zu bewusster Handlung. Dabei muss festgehalten werden, dass dieser durch das Implantat erzeugte Cyborg einen biologischen Zustand darstellt, der so ohne technische Vermittlung nicht zustande kommt. Ein Äquivalent zu dieser hormonell veränderten Körperlichkeit gibt es nicht. Der Zustand einer Schwangeren ist nur teilweise mit dem der künstlich hergestellten ‚Unfruchtbarkeit‘ vergleichbar, weil die hormonell manipulierte Ähnlichkeit aber nur einen Teil des Hormonsystems betrifft. Denn bei einer Schwangeren wirken auch Hormone 6 , die im Körper simulierter Schwangerschaft bei Nutzerinnen des Hormonstäbchens gar nicht freigesetzt werden. Ebenso wenig ist diese hormonell veränderte Körperlichkeit mit Frauen im menopausalen Zustand zu vergleichen: Der Körper stoppt die Östrogenproduktion, was aber für den Körper einer Hormonimplantat-nutzenden Frau nicht zutrifft. Mit dem Implantat entsteht also eine neue Form von Körperlichkeit, die auch Freiraum für eine neue Interpretation von „Weiblichkeit“ bieten könnte. Es wäre eine Möglichkeit, diesen frei gewordenen Raum als einen ‚neutralisierten‘ Ort zu sehen, in dem noch nichts festgelegt ist und ein ‚weder-noch-Zustand‘ gehalten wird. Dabei ist der Hybridcharakter des verhütenden Körpers von entscheidender Bedeutung. Ein Hybrid ist etwas, das sich immer aus Verschiedenartigem zusammensetzt und für das keine eindeutige Zuordnung auszumachen ist. Es ist weder dem einen noch dem anderen eindeutig zugehörig. Man könnte ein Hybrid auch als etwas Neutrales denken, wenn Neutralität ein ‚Frei-Sein‘ von ausschließlicher Zugehörigkeit bedeutet – ähnlich den Monstern bei Haraway. Demnach könnte auf materiellsemiotischer Ebene diese neu entstandene Körperlichkeit als ein Zustand geschlechtlicher ‚Unzugehörigkeit‘, als ein Zustand der ‚Entschlechtifizierung‘ gedeutet werden. Denn wie gezeigt werden konnte, ist dieser organisch-technisierte, menstruationsbefreite, zur gleichen Zeit verhütende und schein-befruchtete Körperzustand mit keinem der anderen traditionell als weiblich definierten Zustände zu vergleichen. Inwieweit diese hybride Form der Körperlichkeit Eingang findet in populäre Konzeptionen von Weiblichkeit und inwieweit dies tatsächlich ermächtigendes Potential im Sinne eines Harawayschen Cyborg

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Z.B. Polaktin.

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haben kann, bleibt abzuwarten und in weiteren Projekten zu beobachten. Die hier vorgelegte Studie zeigt jedenfalls bereits, dass nicht davon auszugehen ist, dass hybride Körperlichkeiten uniform interpretiert werden, sondern dass ihre Deutungs-, Erklärungs- und Aneignungsformen hochgradig ausdifferenziert und durch vielfältige Faktoren geprägt sind.

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L ITERATUR Bohnsack, Ralf (1993): »Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung«. Opladen: Leske & Budrich. Clynes, Manfred/ Kline, Nathan S. (1960/1995): »Cyborgs and Space«. In: Chris Hables Gray (Hg.): The Cyborg Handbook. New York, London: Routledge, S. 29-33 (first printed in: Astronautics, September 1960). Diedrich, Klaus (Hg.) (2003): »Endokrinologie und Reproduktionsmedizin II«. München u.a.: Urban & Fischer. Duden, Barbara (2002): »Die Gene im Kopf, den Fötus im Bauch: Historisches zum Frauenkörper«. Hannover.: Offizin-Verlag. Duden, Barbara (1996): »Von der Pille und unserem Zustand«. In: Gisela Staupe/Lisa Vieth (Hg.): Die Pille: Von der Lust und von der Liebe. Berlin: Rowohlt, S. 67-79. Flick, U./Kardorff, E. v./Steinke, I. (2000): »Qualitative Forschung: Ein Handbuch«. Hamburg bei Reinbek: Rowohlt. Haraway, Donna J. (1991): »Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature«. New York: Routledge. Keck, C./Neulen, J./Beckwoldt, M. (1997): »Endokrinologie, Reproduktionsmedizin, Andrologie«. Stuttgart u.a.: Thieme. Köstering, Susanne (1996): »Etwas Besseres als das Kondom«. In: Gisela Staupe/Lisa Vieth (Hg.): Die Pille: Von der Lust und von der Liebe. Berlin: Rowohlt, S. 113-126. Mason, Adair Stuart (1958): »Einführung in die klinische Endokrinologie«. Stuttgart: Thieme. Schoen, Allan S./ Hoffman, Frederick J. (2004): »Implants and Device Failure«. In: Buddy D. Ratner et al. (Hg.): Biomaterial Science: An Introduction to Materials and Medicine. San Diego, London: Elsevier, S.760-765.

Körper mit Profilen gayromeo.com: eine Dating-Plattform als Mediator und Quasi-Matchmaker? M ARKUS Q UETSCH „Warum haben Gayromeo und IKEA wohl

fast

das

gleiche

blau?

Wahrscheinlich, weil man in beiden Katalogen

hofft,

den

normiert

individualisierten Billy zu finden....“ (userheadline, 16.4.2008)

E INLEITUNG : „B LAU B LAU B LAU SIND ALLE MEINE K LEIDER “? Online-Dating erfreut sich immer größerer Beliebtheit. So haben sich laut reflect!-magazin bis Ende 2007 bereits ca. 6,4 Millionen Deutsche auf entsprechenden Portalen registriert – Tendenz steigend. 1 Dabei ist diese Art des Kennenlernens selbstverständlich nicht nur heterosexueller Partnersuche vorbehalten. Das im schwulen Kontext wohl mit Abstand populärste und am meisten genutzte Dating-Portal im deutschsprachigen Raum ist hierbei mit Sicherheit das 2002 in Berlin gegründete, seit 2006 aber in Amsterdam ansässige Gayromeo, dessen circa 500.000 Nutzer nicht nur in Deutschland, sondern zunehmend auch in anderen Teilen der Welt zu finden sind. Viele Mitglieder bemühen deshalb schon lange das geflügelte Wort der 1

http://www.reflect-online.org/fileadmin/webstorage/sulserio/sulserio_12/ sul-serio_12_12-13.pdf .

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„blauen Seiten“ oder des „schwulen Einwohnermeldeamtes“, und sogar der Radiosender Deutschlandradio widmete ihm bereits ein Feature: „Gayromeo hat das schwule Leben in Deutschland gründlich verändert. Telefonieren ist out – auf der Visitenkarte steht das Gayromeo-Profil. In den Großstädten sind die Kneipen leerer geworden. Das Internet verspricht unendliche Möglichkeiten“ 2 , heißt es da. Schon hier wird deutlich, dass es sich bei Gayromeo nicht ausschließlich um einen Kanal zur Ermöglichung erotischer Dates handelt. Es ist genauso gut ein Verwalter schwuler Freundesnetzwerke oder Clubs wie schlichter Chatkanal. Diese „unendlichen Möglichkeiten“ des virtuellen Kennenlernens und in-Kontakt-bleibens nun sollen in vorliegender Untersuchung zum Thema werden – und zwar anhand der Plattform selbst: Gayromeo als Quasi-Matchmaker! Der Begriff des Quasi-Matchmakers, im Gayromeo-Jargon der Kuppelmutti, paraphrasiert hierbei Michel Serres’ und Bruno Latours Konzept der Quasi-Objekte, die „gleichzeitig Naturformen und Gesellschaftsformen“ (Latour 1995: 144), also sowohl sozial kodiert als auch materiell seien (vgl. auch Serres 1987: 344ff.). Schon der Name des Portals (im Gegensatz zu anderen wie beispielsweise gaydar.co.uk 3 ) spielt mit seiner Rolle als aktiver Mitgestalter von Kennenlernen. Um jedoch nicht zu suggerieren, dass es sich hierbei um eine geradlinig strukturierte Vermittlung neuer glücklicher Beziehungen oder Dates handelt, werde ich der Frage nachgehen, inwiefern Gayromeo sich als das beschreiben lässt, was Bruno Latour einen „mediator“ nennt:

2

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ewelten/680148/

[Zugriff

am

17.12.2009]. 3

Nicht zu übersehen ist übrigens die feine Ironie, die im Namen des seit 1999 existierenden, wohl immer noch größten internationalen schwulen Datingportals steckt: Bedeutete Gaydar ursprünglich die ‚natürliche‘ Fähigkeit schwuler Männer bzw. Lesben, sich anhand eines Blicks untereinander erkennen zu können, bekommt es bei gaydar.co.uk und ähnlich funktionierenden Websites die Bedeutung, wie ein Radar ganze Länder, Regionen, Städte durchblättern zu können nach anderen Schwulen – und von diesen dann mit einem Klick Profilinformationen zu erhalten. Siehe hierzu die Abschnitte Perception und Capabilities.

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„An intermediary, in my vocabulary, is what transports meaning or force without transformation: defining its inputs is enough to define its outputs. For all practical purposes, an intermediary can be taken not only as a black box, but also as a black box counting for one, even if it is internally made of many parts. Mediators, on the other hand, cannot be counted as just one; they might count for one, for nothing, for several or for infinity. Their input is never a good predicator of their output; their specificity has to be taken into account every time. Mediators translate, distort, and modify the meaning or the elements they are supposed to carry. No matter how complicated an intermediary is, it may for all practical purposes, count for just one – or even nothing at all because it can be easily forgotten. No matter how apparently simple a mediator may look, it may become complex; it may lead in multiple directions which will modify all the contradictory accounts attributed to its role.“ (Latour 2005: 39)

Intermediaries sind also ‚Medien‘, die auf scheinbar transparente und unproblematische Weise vermitteln: Die SMS zwischen Mobiltelefonen, die Powerpointpräsentation zwischen Redner und Publikum. Die intendierte Nutzung bei Gayromeo nun ist deutlich vorformuliert: „get friends make dates have sex“! Durch möglichst genaue Suchfilter einerseits und möglichst dichte Profile andererseits soll möglichst schnell der den eigenen Vorstellungen entsprechende ‚Traumprinz‘ gefunden und sollen darüber hinaus den eigenen Neigungen entsprechende Netzwerke kreiert werden. Nach Latour ist die Unterscheidung zwischen „intermediary“ und „mediator“ jedoch immer nur eine situative. Dies verdeutlicht er am Vergleich zwischen einem Computer und einem Gespräch: Ist der Computer zunächst ein perfektes Beispiel für einen unauffälligen, fügsamen intermediary durch sein what-you-typeis-what-you-get und letzteres eine „terribly complex chain of mediators where passions, opinions and attitudes bifurcate at every turn“ (ebd.), müsse man nur warten, bis der Computer zusammenbreche oder ein Programm sich aufhänge, um die Frage nach dessen ‚Wesen‘ erneut zu stellen. Ein Gespräch jedoch könne, sobald es sich beispielsweise um eine akademische Veranstaltung handelt, bei der alle Teilnehmer einen ähnlichen Hintergrund haben und Konsens herrscht, durchaus als ein „perfectly predictable and uneventful intermediary“ (ebd.) erscheinen. Interessanterweise vergleicht Latour hier ‚vorprogrammiert-starre‘ Technik und ‚organisch wucherndes‘ Gespräch, nur um solche schein-

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bar klaren Zuweisungen gleich selbst wieder zu hinterfragen. Ein Chat aber – umso mehr einer, der auf der Profilierung von registrierten Teilnehmern basiert –, ist sozusagen die vermittelte Kombination von beidem: Fehlt eines der Elemente, kommt er nicht zustande. Im Folgenden sollen deshalb einige mediatorische Aspekte dieses Quasi-Matchmakers genauer betrachtet werden, um zu sehen, wie ‚er‘ vermittelnd an Prozessen des Kontakte-Knüpfens und -Haltens teilnimmt – ohne diese jedoch in vorhersehbarer Weise („neither altogether a cause nor altogether a consequence, neither completely a means nor completely an end“ (Latour zit. nach Ekbia 2004: 11) zu determinieren. Myriam Winance’ Studie zur mediatorischen Arbeit von Rollstühlen spielt hier eine wichtige Rolle. 4 Rollstühle, so Winance, tragen bei zu einer „transformation of [the user’s, MQ] body, that is, of his feelings, of the way others perceive him, of his capacities [and] also a possible transformation of his world, of the entities, human and nonhuman, composing it and of the relations established between those entities“ (Winance 2006: 63). In Anlehnung an diese Perspektive sollen im Folgenden drei Aspekte herausgearbeitet werden: (1) Produktion von Nutzer X und Profil als Einheit; (2) die Entstehung in diesen Einheiten von neuen Fähigkeiten und Kapazitäten und (3) die veränderte Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit eines X-mit-Profil.

M ETHODIK Das Feld dieser Studie ist kein Ort im klassisch-anthropologischen Sinne, sondern eine Online-‚Community‘, deren IP-Adresse mit 83.98.143.20 angegeben wird und deren Server laut visualiptrace.com wohl „in or around Germany“ zu verorten ist. Das Feld ist jedoch auch noch anders lokalisierbar: Einerseits auf der Ebene seiner Mitglieder in

4

Nicht zu ignorieren sind dabei natürlich die Unterschiede zwischen einem rein binär, virtuell erzeugten Profil auf einer Website und einem Rollstuhl, der für die Fortbewegung vieler Menschen grundlegende Bedeutung hat, der tatsächlich auch eine physische Einheit mit einem Körper für einen Großteil von dessen Lebenszeit eingeht. Eine Gemeinsamkeit bei aller Differenz ist jedoch die des Prozessualen, Relationalen, bei dem auch im Falle einer Profilierung der eigenen Person jemand/etwas Neues entsteht: Genau wie ein ‚David-in-a-sport-wheelchair‘ in diesem Falle ein ‚X-mit-Profil‘.

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vorprogrammierten Regionen (von Kontinent bis Stadtteil) oder interessenbasierten Clubs – sowie computerextern in den jeweiligen konkreten Räumen der Nutzer an ihren Rechnern vor Ort, die dort mit spezifischen Materialitäten konfrontiert sind, ohne die das ‚eigentliche‘ Feld nicht existieren könnte: Mit Browsern, die sich mitten im Chat ‚aufhängen‘, mit unterschiedlichen Lokalitäten wie Internetcafé oder Büro, Laptops oder Stand-PCs, Telefonen, die klingeln oder Pommes, die im Ofen des Chatters anbrennen – oder Profiltexten, die Monate vor dem aktuellen Gespräch unter möglicherweise völlig anderen Umständen geschrieben wurden und beim Chat plötzlich wieder im Gedächtnis aktualisiert werden müssen. Alles dies bedingt, dass Kommunikation online in vielerlei Hinsicht asynchron und asymmetrisch verlaufen kann (Latour 2005: 173ff.). Im Zeitraum von Februar bis März 2008 führte ich 19 halb-offene Interviews mit in Berlin lebenden männlichen Nutzern 5 , die sich fast alle durch Onlineanfragen meinerseits ergaben und bis auf zwei Ausnahmen in Cafés immer bei den jeweiligen Nutzern privat, also sozusagen am anderen Ende der Leitung, geführt wurden. Die Interviewpartner waren im Schnitt zwischen 30 und 40 alt (der Jüngste 19 und der Älteste 64, sollten die Profilangaben stimmen) und ausnahmslos der ‚gebildeten Mittelschicht‘ zuzurechnen. Darüber hinaus bin ich selbst seit 2007 registriertes Mitglied, und so besteht mein Material neben diesen Interviews, die mitunter auch die Form von Gesprächen gegenseitig interessierter ‚Betroffener‘ annahmen, aus teilnehmender Beobachtung zu unterschiedlichsten Tageszeiten und (zweifellos den Blick auf das Feld deutlich mitprägender) Erfahrung mit dem Medium aus vielen anderen, informellen (on- und offline) Gesprächen mit Bekannten, von denen, sobald ich das Thema erwähnte, erstaunlich viele anfingen, auch eigene Erfahrungen zu berichten.

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„Dann speichere ich Dich jetzt mal im Lager meiner Favoriten und melde mich in 2 Monaten wieder. So hat das Internet ja auch Vorteile: Man kommt sich zwar nicht wirklich näher, aber man kann sich abspeichern und zwischen- und einlagern, was sich ja jeder Mensch im normalen Leben verbitten würde ...

5

Namen pseudonymisiert.

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aber es ist eben auch nur ein Profil.“ (Berliner Gayromeo-User, zur Zeit in Jerusalem, im Chat)

Grundlage jeglicher Kommunikation, jeglicher Handlung bei Gayromeo, wie bei fast allen social websites, ist das sogenannte Profil. Ohne Profil ist man schlicht nicht existent: Möchte man mit einer anderen Person in Kontakt treten, tritt man mit deren Profil in Kontakt. Erwartet man, dass ein anderer auf einen aufmerksam wird, wird er es in Wirklichkeit auf eben dieses Profil. Wodurch zeichnet sich aber dieses Ticket zu Existenz und Anteilnahme im Falle von Gayromeo aus? Hier werden Mitglieder sehr viel größerer Webcommunities wie beispielsweise Myspace, wo eine hohe gestalterische Beteiligung der User von eigenen templates bis hin zum Einbinden von Musik gewünscht und gefördert wird (Kranzmüller 2007), eher überrascht, ja nachgeradezu enttäuscht sein ob der eher eingeschränkten Möglichkeiten, die ein Profil bei Gayromeo hierzu bietet. Es ist auch keine eigene Webseite mit URL, sondern lediglich ein kleines, registerkartenähnliches Pop-Up, das beispielsweise bei der Suche im Pool der sich gerade online befindenden User durch Klick auf das Profilbild geöffnet werden kann und sich durch drei wesentliche Komponenten auszeichnet: (1) Pull-Down-Menüs verschiedener Rubriken (Persönliches, Hobbies, Sexvorlieben etc.), die einem in vorprogrammierten Kategorien die Möglichkeit zur Selbstdarstellung geben, (2) ‚frei‘ zu verfassender Text (sowohl jugendfreier als auch so genannter „Pornotext“, nur für verifizierte oder zahlende User sichtbar) sowie (3) Fotos im Profil und in separaten Alben. So umfangreich nun auch bei den Pull-Down-Menüs die Auswahloptionen zu Körperdaten, Religionsangehörigkeit oder sexuellen Interessen sein mögen, so gering ist selbstverständlich hierbei der eigene gestalterische Freiraum des ‚Profilanden‘. Dass diese Möglichkeit der Selbst-‚Darstellung‘ selbst bei umfassendster Auflistung aller nur denkbaren Eigenschaften immer Gefahr läuft, unvollständig zu sein, ist auch den Administratoren klar. So heißt es bei den Einstellungen für „Sexvorlieben“: „Habe bitte Verständnis, dass wir nicht alle aufführen können. Solltest du deinen ganz speziellen Fetisch hier nicht finden, so schreibe ihn einfach in den Profiltext.“ Es ist jedoch in dem hier thematisierten Zusammenhang weit weniger relevant, ob tatsächlich alle Vorlieben und Abneigungen einer Person ‚repräsentiert‘ werden können oder nicht. Bedeutsam sind vielmehr die Aufforderung dazu und

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das aktive Darstellen selbst. Beispielsweise ist es gar nicht so leicht, schon ‚simple‘ Fragen zu physischer Beschaffenheit ‚korrekt‘ zu beantworten. Bezeichnenderweise ist hierfür einer der besten Indikatoren die „Schwanzgröße“: S? M? L? Oder nicht doch gleich X(X)L? Da gerade dies ein Dauerthema unter den Nutzern ist, die Nachfrage in Headlines so genannter ‚size queens‘ nach Extra Large Bände spricht – nur selten liest man „schätze auch die Kleinigkeiten!“ – und auch ein Interviewpartner einräumt, sein einziger Suchfilter sei „ein großer Schwanz“ 6 , sind Übergrößen hier so inflationär geworden, dass mancher sich bemüßigt fühlt, im Profiltext ironisch auf ‚objektive‘ Längenmaße hinzuweisen – bzw. im Chat die mittlerweile fast schon zum Standard gewordene Frage stellt: „Hast du auch noch andere Pics?“, um an die Nachricht angehängtes, ‚beweiskräftiges‘ Bildmaterial zu bekommen. Diese Frage wird jedoch durchaus nicht von allen geschätzt: Frank: es gibt so dialoge, die dann immer daraufhin führen: wie groß ist dein schwanz? und das ist dann immer der punkt, wo ich den dialog abbreche, weil jemand, der sich für meine schwanzgröße interessiert, interessiert sich nicht für mich. und da ist dann ganz klar schluss, weil auch wenn ich mit jemandem nur sex haben möchte, möchte ich, dass derjenige nur sex mit mir hat und nicht mit meinem schwanz, und das ist mir schon wichtig. [...] ich finde das jetzt nicht unmoralisch oder verwerflich, aber was ich damit verbinde - vielleicht auch dass ich denke, mein schwanz ist gar nicht so groß und wenn er größer ware, hätte ich mehr selbstbewusstsein und ich möchte mich auch nicht dieser beurteilung aussetzen, dass da jemand sagt, wenn man ihn auspackt, wie der ist ja gar nicht so groß.

So mag der von den Programmierern in diese Menus eingeschriebene, ‚prescribed‘ (Latour 1988: 307) Nutzer vielleicht ein aufrechter, nüchterner Profilersteller sein, der nach bestem Wissen und Gewissen ‚Fakten‘ von sich angibt, und dem Flunkern nicht in den Sinn kommt. Da die Programmierer aber von sich auf der Startseite behaupten, Gayromeo werde „immer noch von einem schwulen Team gemacht“, dessen Mitarbeiter „alle Quereinsteiger [sind] und auch schon mal gehörig Murks ;o)“ bauen, darf dies ruhig bezweifelt werden. Im Gegensatz zur geringen gestalterischen Beteiligung bei den Pull-Down-Menüs zeichnen sich Foto und Text (inklusive Headline

6

Zu einer weiteren Kategorie, „Typ“ (also ‚Ethnie‘), vgl. auch Fußnote 10.

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und Profilname) durch einen weit höheren Grad an Freiheit aus: So gibt es bei den Bildern neben formalen und ‚moralischen‘ (Trennung der Bilder in ‚jugendfrei‘ und ‚XX‘ durch Admins oder zufällig ausgewählte Mitglieder mit Support-Rechten) keine weiteren Anforderungen außer der schwer zu kontrollierenden, die verwendeten Motive sollten ‚echt‘ sein, das heißt, auch tatsächlich die vorgegebene Person darstellen. Wie sind diese aber nun gestaltet, ausgewählt, der porträtierte Körper dem Foto ‚für‘ das Profil gar angepasst? 7 Gibt es bereits idealtypische Visualisierungen eines ‚Schwulenprofils‘, deren Skript der einzelne Nutzer nur noch folgen muss? Auf der einen Seite bestimmt, wie in der schwulen Szene überhaupt: Frank: und ich glaube, es ist irgendwie, was so fotos angeht, gibt es irgendwie ne ganz klare norm, gerade unter schwulen, ja? also wenn du dir jetzt so ne ‚siegessäule‘ durchblätterst, da ist ganz klar, was da sexy ist - und da gibt es auch keine vielen möglichkeiten. da gibt es einen typ, und dieser typ hat dunkle oder helle haut, dunkle oder helle haare, und dunkle oder helle augen, aber alles andere ist ziemlich gleich. und das hat damit zu tun natürlich, dass man diesem typen auch entsprechen möchte.

Andererseits gibt es Fotos von und für Bären, von und für ‚Chaser‘, von und für ‚Chubbies‘, Skater, Baggie Boys, Dark Waver etc. – also durchaus auch hier ein Spektrum sich teils mischender, teils eher ‚antagonistisch‘ gegenüber stehender Submilieus, die sich wie im öffentlich-urbanen Raum auch nur auf der Ebene der Stadt- oder Bezirkssuche kurz berühren und ‚vergegnen‘ (Löw/Stoetzer 2007). Diese Bilder wiederum lassen sich noch einmal durch eingebundene Comicstrips, Fotos aus verschiedenen Urlaubsregionen, Film-Stills, Serien mit sexuellem Fetischequipment etc. ausdifferenzieren, so dass es nicht verwundert, dass gerade dem Visuellen von fast allen Nutzern eine immense Bedeutung beigemessen wird. Von allen Interviewpartnern meinte nur einer, er habe sich schon mit Chatbekanntschaften für ein echtes Blind-Date getroffen – aus Neugier. Für fast alle anderen

7

Dies zumindest war die Vermutung eines befreundeten kritischen Psychologen im Gespräch, der ironisch meinte, bei manchen seiner Bekannten habe er mittlerweile den Eindruck, sie entwürfen ihren Körper mit Fitness, Rasur „und was weiß ich noch alles“ quasi für das Profil und nicht umgekehrt (Illouz 2006: 125).

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gilt der in Headlines sowie Profiltexten so häufig wiederholte Spruch: „Kein Pic, kein Fick“ 8 . Und damit, sagen die meisten, hätten sie bis jetzt auch gute Erfahrungen gemacht: Jörg: also im grunde genommen hab ich das schon gewusst, ohne bild war für mich nie ne frage. ich wusste immer wie die leute ungefähr aussehen und von meiner erfahrung her wars dann in 95 prozent der fälle auch so, dass die leute dann dem profil entsprachen. also ganz selten, dass mich mal meine intuition verlassen hat und dass die leute, die auftauchten, mit dem profil gar keine ähnlichkeit hatten. es kam vor, aber total selten.

Neben der Attraktivität wird versucht, die Bilder auch als Indikator des Charakters zu deuten: Paul: stichwort bilder, kucke ich mir die bilder alle an und ob mir der sympathisch ist. ich habe durch meine persönlichen erfahrungen mit meiner letzten beziehung genug erfahrung, um einigermaßen ein gutes urteil hinzukriegen, ob da jemand gestört ist (lacht).

Darüber hinaus dienen Fotos mit ihrem Hintergrund natürlich auch zur sozialen Verortung der Profilinhaber: Wiederkehrende Ausschlusskriterien in meinen Interviews waren beispielsweise die Schrankwand, die Didl Maus oder „nervige Urlaubsfotos von Mykonos“ (Serkan). Mitunter jedoch kann man sich auch hier anscheinend täuschen: Moritz: und da dachte ich, wenn der sex so ist wie seine wohnung eingerichtet ist na dann wird das langweilig. so bieder, nicht die spur wohnlich irgendwie. (lacht) und der sex war aber toll (lacht). jap, da hab ich mich tatsächlich geirrt.

Während also die Bedeutung der Bilder auf Dating Sites allgemein und im besonderen bei Gayromeo für eine mögliche Kontaktaufnahme schwerlich überschätzt werden kann, ist die Bedeutung des dritten

8

Dies in vielen Variationen sogar so häufig, dass die bei GR-Usern so typische Ironisierung sich auch seiner annahm, um daraus Parallelismen wie „Keine Torte, kein Geburtstag“, „Kein Anzug, keine Kommunion“ etc. zu formen – und man trotzdem noch weiß, was gemeint ist: „Jeder kann sich heute ein Foto leisten!“

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Elementes, das der ‚Schrift‘, des Textes als Fließtext und Headline, ungleich schwerer zu bewerten.

E XKURS : „ A ROSETTE IS A ROSETTE A ROSETTE ?“ – D ER P ROFILNAME

IS

A rose is a rose is a rose – diesen wohl berühmtesten Vers Gertrude Steins aus ihrem Gedicht Sacred Emily, der die Einheit von Ding und Benennung beschwört, paraphrasierte ein junger Autor und GayromeoUser in seiner Profilheadline sarkastisch mit: „a rosette is a rosette is a rosette“. Auch hier also wieder der – so ließe sich vermuten, im Chat habe ich dies jedoch nicht verifiziert – kritische Verweis darauf, dass es letztlich bei Gayromeo sowieso nur um Sex gehe und um nichts anderes? Dass aber die Handlung des Benennens tatsächlich nicht so unwichtig ist, wie Gertrude Stein und der Gayromeo-Poet zu suggerieren scheinen, dass diese allein schon ein erstes Bild des potentiellen Gesprächs prägt, wird an folgender Interviewpassage deutlich: Frank: naja, diese, diese idee mit der profileinrichtung ist ja wirklich ne ganz interessante sache, weil das ja auch um ne selbstdarstellung geht, die mir erst mal gar nicht klar gewesen ist - allein so, okay man muss sich nen namen geben, ja. allein die tatsache, dass man sich einen namen geben muss, ist ja eigentlich sehr wichtig...das weiß man nur in dem moment nicht. also zum beispiel, dass man darüber reden kann, was bedeutet das. wie du heißt, ist ja schon mal n gesprächsthema zum beispiel - oder ein chatthema. und ich hab da nicht drüber nachgedacht und hab mir diesen namen gegeben und hab ihn immer noch, was irgendwie natürlich darauf hinweist, dass das aus so nem ganz spontanen moment ist und es kann auch immer noch zu nem gesprächsthema werden, wenn ich mit jemandem neu chatte. ich weiß aber gar nicht mehr warum ich das so eingerichtet habe - deshalb denke ich mir auch immer wieder so sachen aus dazu. weil es ist auch immer eine frage der selbstdarstellung, was für geschichten hast du anzubieten, und wie probierst du dich immer wieder aufs neue aus, ja?

Der Name selbst wird hier also zum Thema, zum Anlass, Fragen zu stellen, sich (neue) Antworten zu überlegen, kurz: zum (Mit-)Handelnden, zum ‚Aktanten‘ (Latour 2005: 63ff.), der Handlung gene-

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riert. 9 Damit lässt sich schon hier ein Prozess aufzeigen, der vergleichbar dem ist, was Winance mit „adjustment“ als das immer genauere Aufeinander-Einspielen von „device“ und „individual“ nennt: „I argue that this work of negotiation between an individual and the device is also a transformation of the world in which they are included. But, as I show in the last section, this process of adjustment is ambivalent. Through adjustment, some possibilities of action emerge, but also some impossibilities.“ (Winance 2007: 67) Nur dass dieser Prozess hier häufig sehr viel mehr Personen und Elemente beinhaltet als lediglich diese beiden: Geschichten werden mit anderen ausprobiert, wiederholt, geschliffen und für X-mit-Profil peu-à-peu passend gemacht. Interessant ist auch, dass im gewählten Namen von den Profilerstellern oft schon ein ‚prescribed‘ (Latour 1988: 307) Nutzer vorgesehen ist, der mit ihm (bzw. Foto, Text, Bild) möglichst die gleichen Assoziationen verbinden wie der Autor und daraufhin entsprechend reagieren soll (dieses ‚dem Autor gemäß Handeln‘ nennt Latour „subscription“: ebd.). Zu einer „des-inscription“ (ebd.) jedoch kommt es bei jeder Andersdeutung von Seiten eines Chatpartners. Um diese, die noch bei Namen wie „virtual_insanity“, „chatlag“ oder „wunschmaschine“ häufig auftreten können, möglichst gering zu halten, proliferiert bei Gayromeo eine Art Profil, das auf der Ebene von Name, Bild, Text und Headline eine größtmögliche Eindeutigkeit dem Rezipienten gegenüber zu erzielen versucht: das Sexprofil. Hierbei wären Profilnamen wie „Kissenzerfledderer“, oder „Heute-im-Angebot“ tendenziell als suggestiver zu bewerten als „sohlenpeitscher“, „dienermeinesherrn“ oder „sucheblackhengste“ 10 , bei denen (wie auch bei

9

Latours Begriff des Aktanten auf ein sprachliches Zeichen anzuwenden, ist dabei durchaus nicht illegitm, hat er ihn doch ursprünglich selbst aus der Strukturellen Semantik Greimas’ entliehen (Latour 2005: 54).

10 Das Thema ethnicity, das in schwulen Kontexten allgemein stark präsent ist, verdient auch in seiner virtuellen Form eine genauere Betrachtung, die hier nicht geleistet werden kann. An dieser Stelle soll nur bemerkt werden, wie auffällig häufig ethnisierende Namen (thaiforwhite, nastyblack, turkmacho, arab-guy...) gewählt – und oft ungleich häufiger ‚geklickt‘ werden als andere Profile, auch wenn sie noch keine Bilder enthalten. An wenigen anderen Merkmalen wird meines Erachtens so deutlich, wie sehr Namen allein schon Fetischisierung auslösen können – was auch folgender Profiltext nahe legt: „Deutscher (ich): passiv, hübsche Fresse, schlanker, be-

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Namen wie „subtoy79“ oder „tempelhofaktiv“, die noch eine Altersoder Ortsinformation zusätzlich liefern) der Anlass des Profils schon im Namen klar vordefiniert ist. Damit zum letzten Punkt der Profilierung: Das Verschriftlichen des contents, der Text: Ein für ein Forum, das lediglich auf zweidimensionale, visuelle und textuelle Elemente zur Vermittlung zurückgreifen kann, wichtiger Punkt, sollte man meinen. Weniges jedoch wird online-community-intern so unterschiedlich bewertet wie dieser. Nirgends widersprechen sich Administratorenvorstellungen und Userwünsche so häufig: Dem Versprechen des (schnellen) „Get friends. Make dates. Have sex“ widerspricht nach Vorstellung vieler User das (mühsame? eitle? überflüssige?) Sich-In-Worte-Fassen-Müssen; und so finden sich einige Profile, die zwar den Zeitaufwand des Sich-Fotografierens oder Sich-Fotografieren-Lassens 11 , visuellen Partikularisierens (welcher Winkel? Ausschnitt? Körperteil?) und Bilderuploads in Kauf nehmen, anstelle eines Profiltextes aber dann häufig drei Pünktchen bzw. die Aussage „ich beschreib mich nicht gerne“ verwenden – und damit der expliziten Aufforderung der Administratoren: „Hier sollte alles stehen, was du mitteilen möchtest. Bitte schreib doch etwas mehr als drei Wörter. (50 - 10.000 Zeichen).“ zuwiderhandeln. Oft wird schlicht diese selbst ins Textfeld eingefügt, um der Software genüge zu tun, die die Mindestanzahl der Zeichen überprüft. Eine andere, gern genutzte Möglichkeit, die Leere durch Einfügen zu füllen, ist, komplette, seitenlange Songtexte von websites wie lyrics007 oder ähnlichen zu übertragen, was nach eigener Erfahrung den häufigen Satz „das liest doch hier eh keiner“ bestätigt, da man Profile tatsächlich generell schneller ‚überfliegt‘. Ein User aus Sydney hingegen, der

haarter Körper, Heten-Optik, willig! Türke (Kumpel): aktiv, gut trainiert, 19x6 Kolben, dauergeil, suchen zweiten aktiven Macho für 2 in 1 !!! Wenn du Kohle willst, Türke, sag’s!“ (Zum Thema Hypermaskulinität türkischer User u.a. in Gayromeo vgl. Altinay 2008) 11 Hier

kann

nur

kurz

auf

die

zunehmende

community-interne

Professionalisierung der User-Photos verwiesen werden, die in direktem Zusammenhang mit häufigen Überschriften anderer Nutzer wie: „Brauchst du neue Pics von dir? Fotografiere gern“ oder „Manche Fotos sind so schlecht, da muss ich einfach helfen“ zu lesen sind. So sind manche Fotografen wie tegelboy fast schon stilprägend, so viele Profile bedanken sich für ihre Fotos bei ihnen.

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sein Profil für einen Urlaub nach Berlin ‚verlagert‘ 12 hat, spricht hier mit seinem knappen, aber charmanten Text wohl vielen Profilen aus der Seele: „I find these blank page profiles terribly hard to fill out, so just have a look at my photos, and if you feel the urge, say hello. I’d love to hear from you!“ Vielen sind zu ausführliche textliche Informationen im Profil nicht nur zu anstrengend zu erstellen, sondern auch zu nervig als abverlangtes Lesepensum: Jörg: und da gibts ja immer diese doofen leute, die reinschreiben, wer lesen kann ist klar im vorteil, ich weiß nicht ob du das kennst, find ich so blöd. oder wenn man so bestimmte sachen fragt, kommen dann so ne reaktionen, wie ey, steht doch alles in meinem profil. wo man halt nochmal sehr schnell zurückklickt, weil man sich die profile sich ja nicht so genau ankuckt. also, n bisschen blöd finde ich wirklich die leute, die romane drin haben, die keiner lesen will. ja, muss man individuell entscheiden, gibt ja sehr witzige, sehr spaßige sachen. also einige profile sind echt ganz gut gemacht - und einige sind vollkommen langweilig. ja, demokratisches forum eben, ganz unterschiedlich...

Auch Mark, dem „die ganze tipperei sowieso viel zu langsam“ gehe und auch nie ausdrücke, was er „eigentlich sagen möchte“, betont im Interview, er lege keinen großen Wert auf schriftliche Darstellung: „wenn mir die bilder gefallen, bin ich sehr schnell bereit, den chat ins reale zu verlagern“. Einen völlig anderen Stellenwert allerdings räumt ein weiterer Interviewpartner („zur zeit noch arbeitsloser schriftsetzer, mediengestalter und comiczeichner“) diesem Aspekt ein, um Leute online einschätzen zu können: Moritz: die art und weise wie er sich ausdrückt, was er schreibt. ob er fehlerfei schreibt (lacht). kein scherz, das sind so indizien. also wenn jemand glaubt, dass orthographie ein ort in niederbayern ist, dann...da kann ich nicht drauf. ich

12 Auch dies eine häufige Praxis, um Kontakte zu knüpfen: Das Profil durch die Ortsangabe vor- oder nachzuschicken, indem man einfach seinen virtuellen Standort im Falle eines (geplanten) Urlaubs etc. wechselt. So berichtete mir beispielsweise ein Berlinbesucher aus Tel Aviv, dass er seine Gästewohnung in Schöneberg nur habe finden können, da er sein Profil in Berlin mit entsprechender Headline eingeloggt habe. Ein User habe ihm daraufhin gleich circa zehn Profilnamen lokaler Untervermieter nennen können. Zu ‚Nähe-Distanz‘ s. ‚Fähigkeiten‘.

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weiß nicht warum, irgendwie hab ich so dann das gefühl, das ist ein zeichen von ja, was? geringer...intelligenz? [...] dumm fickt gut zieht bei mir nicht. das liegt vielleicht auch daran, dass ich mich vor dem sex - und vielleicht auch mittendrin - gerne mal unterhalte. und wenn da von anfang an nicht ein bisschen niveau zu erkennen ist, kann ich nicht.

Gewählte Ausdrucksweise wird so zum Mitindikator eines möglichen (Sex-)Partners. Von nicht unwesentlicher Bedeutung für Moritz’ größeres Achten auf Details dürfte hierbei sein, dass sein Fetisch Bondage-Praktiken sind, bei denen er sich gefesselt eben wortwörtlich einem anderen ausliefert. Auch hierfür hatte er (noch in München) über Chats seine ersten Partner kennen gelernt, auch und gerade hier musste er erst lernen wie wesentlich Kommunikation und Vertrauen dabei sind: „und dieses eine date das war katastrophal, wars das erste, wars das zweite? [...] auch wenn ich ein date vergessen kann, die lehren die man daraus gezogen hat, die bleiben hängen“. Wie bis hierhin gezeigt werden konnte, findet also auf Ebene der Annäherung der jeweiligen Nutzer mit ihrem Profil ein ‚adjustment‘ sowohl auf emotionaler als auch praxeologischer Ebene statt: Man ‚lernt‘ im Chat neue Aspekte seines eigenen Profilnamens kennen, die man vorher selbst noch nicht wusste, man wählt Fotos, die ‚passen‘ oder tauscht sie wieder aus und sieht sich selbst durch sie und die Reaktionen anderer darauf neu. Man interagiert mit seinem Text, indem andere darauf Bezug nehmen, oder indem man ihn verändert, bis nur noch „wenig Urtext übrig“ bleibt (Paul). Der Umgang mit den einzelnen Elementen im Verlaufe des adjustment variiert dabei von Klient zu Klient: Für manche transportiert ein Foto alles, was sie wissen und vermitteln wollen, für andere kommt auch der Sprache große Bedeutung zu. Welche Veränderungen aber ergeben sich nun auf der Ebene neuer Fähigkeiten und Wahrnehmungen?

N EUE F ÄHIGKEITEN AM B EISPIEL VON ( VIRTUELLER ) N ÄHE UND ( RÄUMLICHER )D ISTANZ „Ganz wichtig: Leider bin ich nicht in Berlin, sondern in nem Bergdorf im Ösiland und das Profil ist wirklich nur zum Wichsen da weil hier oben nie-

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mand ist und ich nicht aus der Übung kommen will:-( “ (aus dem Profiltext eines Mitglieds auf der Suche nach ‚Cam-Sex‘13 )

In diesem Kapitel möchte ich mich vor allem auf einen Aspekt neu gewonnener ‚Fähigkeiten‘ konzentrieren, der recht schnell etwas sehr normales für einen Nutzer bekommen kann: die Verschiebung zwischen (virtueller) ‚Nähe‘ und (real-räumlicher) ‚Distanz‘. Dabei sollen diese beiden Pole jedoch nicht als sich ausschließende Gegensätze begriffen werden. Stattdessen verstehe ich mit Latour das Global-Distante als eine von vielen möglichen Extensionen des Lokal-Nahen: „If you stick obstinately enough to the decision of producing a continuous trail instead of a discontinuous one, then another mountain range begins to emerge. It is a landscape which runs through, crosses out, and totally shortcuts the former loci of ‚local interaction‘ and of ‚global context‘“, so bestimmt er die scheinbare ‚Diskontinuität‘ zwischen ‚lokal‘ und ‚global‘. 14 Hierbei gehe es zwar nicht um Auflösungen ‚topographischer‘ Hierarchien, jedoch gelte es, „to pay full cost of relation, connection, displacement, and information.“ (Latour 2005: 176) Genau in diesem Sinne sollen hier mögliche ‚räumliche‘ Neu-Ordnungen durch einen Mediatoren wie Gayromeo betrachtet werden, wie sie in dieser Spezifität sonst nur schwer denkbar wären: So kann man sich in ein und dem selben Kanal sowohl mit seinem Nachbarn verabreden bzw. diese Verabredung ganz beiläufig, während man noch am Computer arbeitet, ein bisschen nach hinten verschieben, und damit eine Arbeit erledigen, die sonst hätte zu Fuß getan werden müssen, wäre sie nicht irgendwann an Telefone oder andere messenger wie icq oder msn ‚delegiert‘ (Latour 1988: 605) worden, als auch parallel von einem ‚usario‘ aus Uruguay angechattet werden, der lediglich über den ‚Weg‘ der Gayromeo-Sprach-Suchfunktion mal nach potentiellen

13 D.h. Sex, bei dem die Beteiligten nur über Webcams miteinander verbunden sind. Ein sehr wichtiger Punkt hierbei ist der der Medienkombination: Wann setzt wer neben Gayromeo eine Kamera ein bzw. eine Mail, das Telefon etc.? (Hirte 2000) Auch die Kombination verschiedener Web-2.0Angebote von flickr über blogging bis xtube wird äußerst unterschiedlich gehandhabt:

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,567899,00.html

[Zugriff am 17.12.2009]. 14 Hier lehnt sich Latour natürlich stark an den topologischen Netzwerk-Begriff von Michel Serres (1994, 18f.) an.

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hispanophonen ‚Bekannten‘ in Europa sehen wollte. Man kann über eine Verlinkung einen non-verbalen, rein visuellen „Scharf“-Tapsen in Form einer Chili-Schote von einem Profil in Kapstadt erhalten, ‚das‘ sich auf Grund der Zeitverschiebung kurz darauf ausloggt und schlafen legt – oder man kann ganz zufällig beim ‚Stadtteile scrollen‘ auf Gesichter stoßen, die irgendwo schon einmal gesehen zu haben glaubt: Jörg: einmal zum beispiel habe ich einen bei reichelt gesehen und später im chat gesehen und angesprochen und der war das tatsächlich. oder ich bin mal angesprochen worden von jemandem, der mich im prinzknecht gesehen hatte, und kaum war ich zuhause, noch zwei stunden später am selben abend, hatte der mein profil rausgefunden. oder ganz lustig, neulich in der ...straße, da ist so ne arztpraxis und da hab ich so nen knuffigen arzthelfer gesehen, aber auch nur ganz flüchtig und durch reinen zufall bin ich auf dessen profil gestoßen und sag zu dem, sag mal arbeitest du in der ...praxis? und der war das. 15

Die Vermittlungen, die ‚mit Hilfe von‘ Gayromeo in all diesen Fällen hergestellt wurden, sind dabei kombiniert in ein und dem selben Medium offensichtlich nur schwer vorstellbar. So entstehen auch hier im Zusammenspiel von pre- und descriptions der ‚Admins‘ – die Leute auffordern, sich nach Orten zu gruppieren, sich per Pull-Down-Menü in mögliche Merkmalgemeinschaften zu fügen und dann ‚im Raum‘ der Interessensuche gefunden zu werden oder gleich thematischen Clubs beizutreten – und der jeweiligen Umsetzung der User teils ‚wurmlochähnliche‘ Kontaktvermittlungen, die genau dem von Latour erwähnten ‚shortcutting‘ des Raums entsprechen und ihn zu neuen Verbindungen hin biegen. Eine ganz neue Nische für ein ‚Hobby‘ hat dabei eine türkische Transsexuelle aus Istanbul, die häufig zwischen Spree und Bosporus pendelt, für sich entdeckt. So sei bisher zwar ihre

15 Dabei ist das hier beschriebene Phänomen der Koinzidenz von Profil und First-Life-Person, so verblüffend es auch zuerst klingt, selbst bzw gerade in einer Stadt wie Berlin mit 39.000 registrierten GR-Usern durchaus kein seltenes, sondern eine der interessantesten Verschränkungen verschiedener Arten, eine Person (nicht) zu kennen: So erzählte ein Israeli, um überrascht die hiesige Popularität von Gayromeo zu unterstreichen, sein Begleiter beim diesjährigen CSD habe manchmal einfach in die Menge gezeigt und dann zu einem ‚Demonstranten‘ Profilname und „little details“ zum Besten gegeben.

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Online-Erfolgsquote beim Kennenlernen möglicher Partner eher ernüchternd gewesen, sie habe jedoch über Gayromeo zwei neue Kommunikationformen entdeckt: Zum einen Chatten als Möglichkeit, ihr Deutsch zu verbessern, zum anderen etwas, das sie in einer Mischung aus Deutsch und Türkisch „Beratung-luk“ nennt: Zeynep: ach, eins hab ich auch vergessen. ich schreib mir auch mit manchen türken...ein paar, so ca 15, vielleicht auch mehr, werden’s gewesen sein. eigentlich mache ich denen eine ‚beratung-luk‘ (lacht). denen, die in der türkei ein bisschen rumreisen wollen, aber dort keine schwulen oder bisexuellen oder travesti-einrichtungen kennen. Die wollen eben informationen: beispielsweise ein bisexueller, der war wohl aus deutschland und ist dann nach samsun […] kommunikation ist da in kleinen städten wie samsun oder noch kleineren orten sehr schwer. und da hab ich ihm gleich x’s adresse gegeben...16

Schon ihre Headline weist sie als ‚transsexuelle Aktivistin aus Istanbul‘ aus. Ihr Profilname ist kein Pseudonym. So bleiben direkte Anfragen an sie bezüglich Kontaktadressen in den und auch abseits der großen Metropolen nicht aus. Dabei spielen sicherlich gerade bei ihr auch die zahlreichen Verlinkungen mit anderen Freund(-innen) in beiden Ländern keine unwesentliche Rolle – also die Möglichkeit, über einen Hyperlink eines anderen Profils ‚zufällig‘ auf ihres zu geraten. Diese Art des Netzwerkens ist dabei durchaus keine Seltenheit und so ist es mir selbst erst neulich passiert, dass mich ein junger Student, der von Taipeh nach Berlin wechseln wollte, anchattete und ich zufälligerweise gerade in einem Chat mit einem Bekannten aus Taiwan war, der in Berlin studierte. So konnte ich durch einfache Nennung des jeweiligen Profilnamens den Jüngeren gleich an die kompetentere Informationsadresse vermitteln. Auch ein Interviewpartner aus Hongkong berichtet von dieser Erfahrung, dass er, lange bevor er entschied, nach Berlin zu ziehen, ‚zuhause‘ über einen Deutschen (aus einem dortigen Chat!) von Gayromeo gehört habe und so, indem er sich in Berlin mit einem Profil einloggte und bei „asia related“ Gayromeo-Clubs anmeldete, Bekannte und Berlin-relevante Informationen fand. So bewahrheitet sich hier doppelt, was Latour über die Verlagerung des Akteurs in komplexe Akteur-Netzwerke sagt, die diesen mitbestimmen:

16 Übersetzung aus dem Türkischen von Markus Quetsch.

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„to use the word actor means that it’s never clear who and what is acting when we act since an actor on stage is never alone in acting. […] if we accept to unfold the metaphor, the very word actor directs our attention to a complete dislocation of the action, warning us that it is not a coherent, controlled, wellrounded, and clean-edged affair. By definition, action is dislocated. Action is borrowed, distributed, suggested, influenced, dominated, betrayed, translated.“ (Latour 2005: 46, Hervorhebungen MQ)

Und so kreiert diese ‚Übersetzungs‘-Maschine eben solche AkteurNetzwerke mit: Handlungsräume, die ohne das komplexe Zusammenspiel unzähliger technischer, situativer und anderer Details nicht denkbar wären. Einer der interessantesten Aspekte dieser neuen ‚capabilities‘ ist dabei sicherlich die erwähnte Möglichkeit, eine Person überhaupt schon auf den ersten Blick als ‚profilierte‘ wahrzunehmen. Deutlich wird dies, wenn zwei ‚Wissens‘-Modi überlappen: Dann kann man beispielsweise nicht nur über die Bezirkssuche das Profil des ‚knuffigen‘ Arzthelfers aus der Praxis XY entdecken und mal Hallo sagen – man weiß eben auch, was auf diesem Profil steht: Vorlieben, Fotos etc. Auch umgekehrt gilt: Sieht man eine Person, deren Profil man kennt, ganz zufällig zum ersten Mal ‚wirklich‘, ist diese schon durch Wissen um kleine Details bis zu einem gewissen Grad festgelegt. Dieser Aspekt der sich dabei verändernden (Selbst-)Wahrnehmung soll uns im letzten Abschnitt Wahrnehmung noch ein wenig beschäftigen.

W AHRNEHMUNG : D IE P ROFILIERUNG UND M ÖGLICHKEITEN DER P ROFILVERLINKUNG Abschließend werde ich den Aspekt der (Selbst-)Wahrnehmung anhand des schon erwähnten sich wandelnden Wissens über einen Nutzer mit Blick auf die Möglichkeit thematisieren, sich mit anderen zu verlinken: Hierbei wird der Verlinkte schon nach dem ersten Tastendruck nicht mehr als isoliertes ‚Individuum‘ wahrgenommen, sondern als Teil eines selbst gewählten Beziehungsgeflechts, das sich wiederum in alle Richtungen weiter verzweigen kann. Als eine besondere Art der ‚liaison‘ soll hierbei die lediglich bidirektionale Verknüpfung des so genannten Partnerlinks betrachtet werden, der einem nicht nur ermög-

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licht zu konstatieren, dass man einen Lebensgefährten hat, sondern der auch direkt auf dessen Profil verweist. Das User-Center bei Gayromeo ist der Bereich, in dem man all seine Kontakte verschiedentlich verwalten kann. Von speziellem Interesse hierbei ist die Option, einen Kontakt öffentlich zu machen: Hat ein Bekannter eingewilligt, kann man eine Verlinkung zu seinem Profil auf dem eigenen freischalten – und dieser umgekehrt. Das ist nicht nur oft praktisch, wie im Falle von Zeyneps Beratung. Es ändert auch die Wahrnehmung von einzelnen, isolierten Nutzern hin zu Teilnehmern an sozialen Netzen, die ihre Verlinkungen nicht nur anzeigen, sondern auch mit entsprechenden Emoticons kommentieren können: Von Chatbekanntschaft über Sehr Geil oder Herzklopfen bis Er mag mich nicht (letzteres verwendet ein Freund übrigens mittlerweile spaßeshalber für alle seine Verlinkungen, was natürlich auf Unbekannte befremdlich wirken kann). Paul sieht es zwar sehr ambivalent, „aus Geilheit“ so viele Informationen von sich preiszugeben, um einerseits „ein ganzes sozialporträt“ („seine vernetzungen, seine vorlieben“) öffentlich zu machen („im grunde passiert bei Gayromeo das, was wir vor 25 jahren mit der volkszählung bekämpft haben!“). Er selbst jedoch nutzt den genaueren Blick auf diese „Vernetzungen“ durchaus auch, um einen Eindruck von dem Chatkontakt zu gewinnen: Paul: ja, dann kuck ich mir interessanterweise immer gleich an, mit wem sind sie befreundet oder verlinkt, weil ich daraus auch schlüsse auf den umkreis, in dem sie sich bewegen zieh und wenn ich dann leute sehe, mit denen ich schlechte erfahrungen hatte, dann geht mein interesse schon relativ runter. dann muss ich schon besonders interesse haben, weil ich denke, vielleicht ist der ja anders als die, aber wenn jemand mit jemand zusammen ist, den ich nicht so verknusen kann, dann sag ich mir, ach [paul], lass mal lieber. dann gehts dir besser.

Bei ihm, der mit seinem langjährigen Lebensgefährten in der Szene sehr aktiv gewesen ist, mag hierbei auch von Bedeutung sein, dass er nach dieser Beziehung das ‚Medium‘ zu Gayromeo gewechselt hat, um den Kontakten seines ehemaligen Partners durch bessere Selektibilität im Netz auszuweichen. Dass dabei jeder Klick auf einen Link, ‚um Schlüsse zu ziehen‘, natürlich bedeutet, dass der Geklickte wiederum sieht, dass sein Profil aufgerufen wurde und daraufhin selbst wieder vielfältig reagieren kann, ist einer der bewusst gewünschten

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Effekte vieler social websites. Besonders interessant wird Letzteres bei der Option des Partnerlinks: Ob von diesem nun Mitglieder insgesamt zu großen Teilen Gebrauch machen, muss zwar offen bleiben: So gibt es viele ‚Liierte‘, von denen zwar jeder ein eigenes Profil hat, und die sogar häufig parallel online sind – mit wem sie verpartnert sind hingegen, machen sie nicht publik. Schließlich hieße das ja auch, dass jeder, den man als Bekannten oder Sexpartner gewinnen könnte, direkten (und informierten) Kontakt zum Lebensgefährten aufnehmen kann. So erfordert gerade diese ‚Option‘ nach ihrer Implementierung nicht nur das Einverständnis beider Seiten aufeinander zu verweisen, sondern sie veranlasst häufig auch die vielfältige Thematisierung, wie eine Beziehung nach innen und außen darzustellen und überhaupt zu praktizieren sei – ist doch oft ein Gayromeo-Profil an sich schon Anlass zur Infragestellung gegenseitiger, partnerschaftlicher Loyalitäten: Jörg: und viele von denen die löschen - davon werden ja einige gezwungen, das profil zu löschen aus liebesgründen (lacht). [...] absolute eifersuchtsgeschichten! ich denke das ist nochmal n sozialwissenschaftliches thema, was da schon für eifersuchtsdramen wegen gayromeo abgelaufen sind, mit sicherheit. von leuten, die sich da kennen gelernt haben und einer lernt nen andern kennen. boah! ich meine, sie kennen die geschichte ja beide selbst, ich meine, wenn sie sich darüber kennen lernen, wissen sie ja, wie der hase läuft.

Und so ist es, während es für manchen bis vor kurzem noch gar nicht selbstverständlich war, ein Profil anzulegen, da das ja ein öffentliches Eingeständnis einer „Bedürftigkeit“ darstelle, und zeige, „eben nicht in einer glücklichen Beziehung zu sein“ (Frank), für einige mittlerweile durchaus selbstverständlich, diese feste Verbindung gleich auch zu publizieren. Seit jeher nun erfüllen beispielsweise Hochzeitsfotos und Verlobungsanzeigen zwar einen ähnlichen Verkündungseffekt – hier aber bleibt die ‚Anzeige‘ permanent an den anderen gekoppelt, so als wären alle Partner-Informationen für jeden Passanten auf der Straße abscannbar im Ehering gespeichert. Auch die ‚Entlinkung‘ einer Beziehung wird traditionellerweise eher nicht öffentlich gemacht. Hier jedoch ist diese live mitzuverfolgen, oft zwischen zwei Klicks auf dasselbe Profil innerhalb weniger Wochen. Gerade auch bei sexuell offenen Beziehungen kann dies mitunter durchaus zu Spannungen mit anderen Chattern führen. So erzählt ein verheirateter Interviewpartner, ihn nerve nichts mehr als wenn andere meinen, ihn darauf hinweisen

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zu müssen, dass er doch „verheiratet und verlinkt“ sei, wenn er mal Sex suche. Ähnliches passiere ihm natürlich auch ab und zu im Ficken3000 in Kreuzberg – aber dort eben nur mit Leuten, die ihn schon kennen. Es sei ähnlich mittlerweile wie mit der Heirat überhaupt, die vor allem aus aufenthaltsrechtlichen Gründen für seinen Partner vollzogen wurde: „und plötzlich wird man doch anders wahrgenommen“ (Serkan)! Ein anderer Interviewpartner hingegen, der lange Jahre und viele Auseinandersetzungen gebraucht hatte, um zu akzeptieren, dass sein Partner in einer monogamen Beziehung nicht leben könne (Gayromeo entdeckte er überhaupt nur zufällig über dessen Internet-Verlauf; „und wir haben trotzdem definitiv keine offene Beziehung, das ist wohl etwas schwer zu verstehen“), bis er schließlich selbst ein Profil anlegte, wollte dieses zwar immer zu seinem Partner verlinken, das akzeptierte der hingegen nicht. Ohnehin habe der „zeitweilig ja zwei, drei profile“ (Kevin) gehabt. Aus der Position desjenigen, der Partnerschaft ursprünglich durchaus als monogam verstanden habe und sich anfangs Sexdates, wenn überhaupt, nur mit seinem Partner zusammen vorstellen konnte, berichtet er folgende Geschichte, die er selbst mit einem verlinkten Paar im Chat erlebt habe. „Beide online, beide sex [Suchstatus], und zuhause in unterschiedlichen zimmern“, so er, und „haben ja beide unabhängig voneinander mich angeschrieben“. Dass er es dabei mit einem Paar zu tun hatte, sei ihm aber zuerst gar nicht aufgefallen – bis er die Verlinkung bemerkte: Kevin: nee. ich weiß gar nicht mehr. ach warte, die waren verlinkt, genau. [...] und ich so hä, mit dem da schreibst du doch die ganze zeit. das fand ich schon pervers und das habe ich ihnen geschrieben, dass ich das also nicht mehr als beziehung definieren würde und wenn es bei mir soweit ist also, würde ich die konsequenz wirklich mal ziehen, die angedrohte...ja und daraufhin wurden die beiden so beleidigend, so böse. na kann ich verstehen, ich greif da irgendwie deren beziehung an und maße mir an, zu urteilen. schien abern wunder punkt zu sein offensichtlich...

Wie also gezeigt wurde, bringt die Entscheidung, wie ich bei der Produktion mich und mein Profil konzipiere (als ‚isolierten‘ Nutzer, der zwar im Feld Beziehungsstatus diesen erwähnen kann, sich aber nicht mit Bekannten oder Partner verlinkt) komplexe Folgen mit sich, die

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nicht nur den Aspekt der Fähigkeiten, sondern auch den der Wahrnehmung, den ‚Blick‘ auf eine Person, betreffen.

K ONKLUSION . O FFENE F RAGEN Moritz: Klar, praktisch ist das natürlich schon, wenn du halt ausschließlich auf Typen über zwei Meter zehn stehst, dann kannst du die jetzt schnell so suchen. Schwierig wird’s erst, wenn du in ne Bar gehst und bei den Typen da instinktiv ne Gayromeo-Detail-Suche starten willst...

In diesem Artikel wurde gezeigt, dass technische Mediation auch im Bereich des Online-Dating kein geradliniger Prozess ist, sondern auf vielfache, unvorhersehbare Weise vermittelt, wobei diese Vermittlung sowohl unzählige humane als auch non-humane Instanzen (Latour 2006) mitbestimmen; räumlich/zeitlich Abwesendes genauso wie Anwesendes: Das Ticken der Uhr des Chatters, der gleich einen Termin hat, mag für diesen eine Rolle spielen. Der andere jedoch, 2 oder 2000 Kilometer entfernt, nimmt es nicht wahr. Das Profilbild mit einem Straßenzug von Palermo im Hintergrund wird einen Nutzer animieren, einen anderen anzuschreiben. Dessen Urlaub aber ist schon drei Jahre her. All dies führt dazu, dass die Suche nach dem ‚Traumprinzen‘, der auf der Gayromeo-Startseite versprochen wird, nicht unbedingt erleichtert, sondern vor allem neu strukturiert wird, so dass mancher auf seinem Profil etwas ungeduldig ausruft: „Wo bleibt denn nu dieser blöde Prinz auf seinem Scheißgaul?!“ Bis zu dessen Ankunft jedoch können neue Bekanntschaften vermittelt, neue Selbst-Verständnisse entwickelt werden, und selbst wenn er irgendwann auftaucht, könnte Gayromeo dann auch die Beziehung mit ihm weiter strukturieren: So ist eine der stärksten „inscriptions“ (Latour 1988: 306) dieses Mediators ja auch kein selbstgenügsames Date im Singular (‚make dates‘!), sondern die Vernetzung. Um diese Art des digitalen Kontaktens zu analysieren, wurde zwar auch viel mit Interviews gearbeitet, anstelle einer Diskursanalyse jedoch wurde versucht, diskursive Momente mit Hilfe von Latours ‚materiell-semiotischer‘ Perspektive in Beziehung zu beobachteten Online-Praxen sowie der technischen Struktur der Website selbst zu setzen. Im Laufe der Datenerhebung und -analyse haben sich sehr viele inhaltlich wie methodisch weiterführende Fragen ergeben: So fehlt

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beispielsweise die User-Gruppe der 18 - 25jährigen 17 hier fast völlig, die in Gayromeo zwar zahlreich vertreten ist, aber in meinem Material fast immer nur als Gesprächsthema auftaucht. (Wie) unterscheidet sich der Umgang mit Gayromeo gerade bei diesen Angehörigen der ‚Generation 2.0‘, die auch im Bereich des Dating mit seiner Online-Variante großgeworden sind, von der älterer Nutzer? Darüber hinaus in einem Medium, das Jugend häufig fetischisiert! So erzählte mir ein User von einem neunzehnjährigen Ungarn, der einen Sommer bei ihm gewohnt habe und mit Anfragen für Dates „überhäuft“ worden sei: „ach, der konnte ganz gut damit umgehen, der war ziemlich durchtrieben für sein alter“ (Jörg). Eine andere Frage, die genauerer Betrachtung harrt bei einem Informantenpool, dem es unangenehm aufstößt, „wenn da leute grammatikalisch und orthographisch verunglücken“, sind die Praxen der großen Zahl von Nutzern aus bildungsferneren Schichten. So könnte der Eindruck entstehen, schwuler Chat beginne erst ab der Mittelschicht – ein Eindruck, der ja noch immer häufig von Homosexualität allgemein herrscht und ganz sicher nicht stimmt. Durch Gespräche mit Nutzern, die unter anderem aus Venezuela, Hongkong oder Taiwan nach Berlin gekommen sind, wuchs mein Interesse auch an dortigen Kanälen, dortigen Date-Praktiken. Ein weiterer Aspekt, der damit zusammen hängt, ist der Unterschied zwischen urbanen und ländlichen Räumen, der in Gesprächen zwar öfter auftauchte, aber eben nur thematisiert von Nutzern, die selbst zutiefst städtisch geprägt sind. Wie aber greifen Schwule, die keine Infrastruktur vor Ort haben, auf die Möglichkeit des Kennenlernens per Computer zurück? All diese Punkte verdienen noch eine eingehendere Beschäftigung: Hier jedoch war mein Feld gayromeo.berlin und auch der virtuelle Sex, um den es mir ging, ist ohne diese City und ihre knapp 39.000 Nutzer genauso wenig denkbar wie der, den Carry Bradshaw als „sexual anthropologist“ 18 anhand ihrer Stadt New York beschreibt – und eben auch anhand ihres Milieus.

17 So ist das Mindestalter, das man bei Gayromeo eingeben muss, zwar 18 Jahre, ein neunzehnjähriger Interviewpartner erzählte mir aber beispielsweise, er sei noch nicht ganz 16 gewesen als er sein Profil anlegte, was genau genommen ein Faker wäre, der sich im Gegensatz zu ‚normalen‘ Fakern älter macht als er ist. 18 Sex & The City, Episode 1 (1998).

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„Umrechnen auf täglich“ Wie in Pflegegutachten Zahlen entstehen L YDIA -M ARIA O UART

PS

Bezeichnung

Pflegegeld Grundpfle- Sachleisge (mind.) tungen pro pro Monat Monat pro Tag

I

erhebliche Pflegebedürftigkeit

46 min.

420 €

215 €

II

Schwerpflegebedürftigkeit

120 min.

980 €

420 €

III

Schwerstpflegebedürftigkeit

240 min.

1470 €

675 €

Tabelle 1: Pflegestufen (PS) 1

Wer in Deutschland pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf eine finanzielle Unterstützung aus der Pflegekasse. 2 Ob jemand pflegebedürftig ist, beurteilt ein „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB 3 XI“, das der Medizinische Dienst der Krankenversiche-

1

Eigene Darstellung nach den Angaben in §15 SGB XI und in § 37 Abs. 1.3 SGB XI in der Fassung des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vom 28.5.2008 (BGBl. 2008).

2

Als gesetzliche Pflichtversicherung gibt es die Pflegeversicherung in

3

Sozialgesetzbuch.

Deutschland seit 1995.

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rung 4 (MDK) erstellt. Eine Gutachterin 5 des MDK fährt zu Menschen, die einen Antrag auf Pflegeleistung gestellt haben, nach Hause oder in ein Pflegeheim und sammelt in einem Formular Informationen über deren Befinden und zu erwartende gesundheitliche Entwicklung. Gemessen wird Pflegebedürftigkeit in Minuten. Das heißt, in dem Formular wird angegeben, wie lange jemandem bei bestimmten alltäglichen Verrichtungen geholfen werden muss. Ergibt das Gutachten, dass eine Person beispielsweise 52 Minuten pro Tag gepflegt werden muss, so ist sie „erheblich pflegebedürftig“ und erhält Unterstützung gemäß der Pflegestufe I (Abb. 1). 6 Das Resultat der Begutachtung ist also eine Zahl. Sie definiert, wie viele Minuten Pflege pro Tag jemand benötigt. Sie entscheidet, ob jemand pflegebedürftig ist. Diese Zahl teilt den Gutachterinnen niemand mit und sie wird auch nicht einfach gemessen. Die Gutachterinnen stellen sich nicht mit einer Stoppuhr neben die Antragsteller_innen 7 und prüfen, wie viele Minuten lang diese gewaschen oder angezogen werden. Stattdessen müssen sie gemäß gesetzlichen Vorgaben und unter Berücksichtigung der Informationen, die sie während der Begutachtung erhalten, Zeitwerte schätzen und in das Formular eintragen. In meinem Text beschreibe ich anhand ethnographischer Daten, wie die Zahlen in den Gutachten zustande kommen. Zu diesem Zweck setze ich bei der Begutachtungspraxis selbst an. Ich frage: Was passiert? Wer und was ist beteiligt? Was wird gesagt? Was wird getan? Meine Überlegungen zielen darauf, die „unsichtbaren Mechanismen“ hinter der Klassifikation (Bowker/Star 1999) sichtbar zu machen.

4

Der MDK ist ein unabhängiger Gutachterdienst, der im Auftrag der Krankenkassen Pflegebedürftigkeit feststellt und darüber hinaus Qualitätskontrollen in Pflegeeinrichtungen durchführt.

5

Ich verwende die weibliche Form, weil ich bis auf eine Ausnahme nur

6

Die endgültige Entscheidung trifft die Krankenkasse, die aber in den meis-

Gutachterinnen begegnet bin. ten Fällen (die Schätzungen der Gutachterinnen variieren von 70-99%) der Empfehlung des MDK folgt. 7

Ich spreche von Antragsteller_innen, auch wenn es sich teilweise um Personen handelt, die selbst nicht in der Lage sind, einen Antrag zu schreiben.

„U MRECHNEN

AUF TÄGLICH “

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Wer sich mit Pflegebedürftigkeit beschäftigt, stößt zunächst auf eine gesetzliche Definition. Das Sozialgesetzbuch (SGB) spricht von Pflegebedürftigkeit, wenn Menschen „wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße [...] der Hilfe bedürfen.“ (§ 14 Abs. 1 SGB XI)

Der gesetzlichen Definition stehen Konflikte in der Praxis gegenüber. Bei meinen Interviews und Recherchen zum Thema begegneten mir oft Frustration und Wut. Bekannte berichteten von Angehörigen, die lange um eine Pflegestufe kämpfen mussten. Mitarbeiter_innen aus Pflegeheimen klagten über unbarmherzige Ämter und beschrieben den MDK als eine willkürlich urteilende Institution. Medienrecherchen förderten Skandalberichte zutage, nach denen manche Heime den Gesundheitszustand von Heimbewohner_innen absichtlich negativ beeinflussten, um möglichst hohe Pflegegelder zu kassieren (Berliner Zeitung 19.2.2007). Ein Teil der Konflikte entsteht sicher, weil mit der Festlegung von Pflegestufen etliche finanzielle Gesichtspunkte verbunden sind: Die Unterstützungsleistungen 8 aus der Pflegeversicherung tragen dazu bei, dass Menschen sich einen ambulanten Pflegedienst und teure Hilfsmittel leisten können oder in der Lage sind, einen Platz in einem Pflegeheim zu bezahlen. Ebenso stehen Pflegeheime vor finanziellen Abwägungen, um eine ‚gute‘ Pflege bieten und ihre Angestellten angemessen entlohnen zu können. Diskutiert wird die Pflegestufenfestlegung oft unter dem Diktum von Gerechtigkeit. Pflegekräfte, Betroffene und MDK-Mitarbeiter_innen fordern, dass die Regelungen des elften Sozialgesetzbuches für alle Versicherten gleichermaßen gelten sollen. Wer Beiträge zur Pflegeversicherung gezahlt hat, will daraus Unterstützung erhalten. Die Gutachten des MDK sollen ‚gerecht‘ ausfallen. Dieser Argumentation zufolge ist ein Gut-

8

Unterschieden wird zwischen Sachleistungen (d.h. Betreuung durch einen Pflegedienst) und Pflegegeld (§§ 36-45 SGB XI). Der Pflegereform von 2008 entsprechend werden die Sätze in den nächsten Jahren stufenweise erhöht (BGBl. 2008). Abb. 1 gibt die ab 1.7.2008 geltenden Beträge an.

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achten, das ‚willkürlich‘ – also nicht aufgrund ‚objektiver‘ Kriterien – zustande kommt, ungerecht. Das Problem mangelnder Gerechtigkeit der Gutachten thematisieren mehrere pflegewissenschaftliche Arbeiten und fordern eine ‚korrekte‘ Anwendung des Sozialgesetzes (Bartholomeyczik/Halek 2004; Gültekin/Liebchen 2003; Halek 2003; Reisach 2002). Häufig kritisieren solche Texte die Kategorien und Zeitwerte, anhand derer Pflege definiert wird, als unrealistisch (Bartholomeyczik 2005; Cappell 1997; Haux 2006; Reisach 2006). Die wenigen empirischen Untersuchungen zur Begutachtungspraxis (Bartholomeyczik et al. 2001; Reisach 2002; Reiser 1997) stammen aus der Zeit unmittelbar nach Einführung der Pflegeversicherung und schlagen verschiedene Alternativsysteme zur Begutachtung vor. Studien, die sich direkt auf das deutsche System der Pflegestufenfestlegung beziehen, gibt es in der Sozial- und Kulturanthropologie nicht. Dagegen lassen sich eine Reihe von Arbeiten finden, die sich aus soziologischer und sozialanthropologischer Perspektive mit der Funktion und Entstehung von Klassifizierungen beschäftigen 9 (Bowker/Star 1999) oder nach der politischen Wirkung von Standardisierungen fragen (Timmermans/Berg 2003). Einzelne Studien fokussieren die Bedeutung von Akten und Protokollen für die medizinische Praxis (Berg/Harterink 2004; Berg 1997; 1998; Cowley et al. 2004; Greatbatch et al. 2005). Basierend auf Ergebnissen meiner Feldforschung beschreibe ich in diesem Text die Begutachtungspraxis des MDK. Dabei skizziere ich zunächst meinen methodischen und theoretischen Ansatz, der sich an Akteur-Netzwerk-Theorie orientiert. Anhand einzelner Beobachtungen aus meiner Forschung erläutere ich dann, welche unterschiedlichen Aspekte in das Gutachten einfließen, und beschreibe, mittels welcher Mechanismen in den Begutachtungen Zahlen produziert werden. Im letzten Teil der Arbeit versuche ich Erklärungen für die aufgeladene Debatte um die (Un-)Gerechtigkeit der Pflegestufenfestlegung zu finden, indem ich zwei sich widersprechende Arten der Klassifikation beschreibe, die in dieser Kontroverse aufeinander stoßen.

9

Grundlegend für viele spätere genealogische Arbeiten: Foucault (1991).

M ETHODISCHER

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UND THEORETISCHER

A NSATZ

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Meine Feldforschung unternahm ich von August bis September 2007. Um mich mit dem Pflegebereich vertraut zu machen, besuchte ich zunächst zwei Wochen lang regelmäßig ein Berliner Pflegeheim, wo ich mit Bewohner_innen 10 und Mitarbeiter_innen über Pflege und Pflegebedürftigkeit sprach. Da ich mich in diesem Artikel auf die Begutachtungspraxis konzentriere, taucht dieser Teil der Forschung nicht in Form von Zitaten auf. Dennoch bilden die Perspektiven der Pflegenden und Gepflegten den Hintergrund, vor dem ich die Begutachtungen sehe. Die zweite Phase der Forschung bildete eine teilnehmende Beobachtung in einer Leitstelle 11 des MDK Berlin/Brandenburg. Da es beim MDK häufig Hospitationen von Auszubildenden oder Beschäftigten aus dem Pflegebereich gibt, genügte eine formlose Anfrage, um dort Zugang zu erhalten. Mein Status als ‚Hospitantin‘ führte dazu, dass mir Gutachterinnen und Mitarbeiter_innen gern Auskunft über ihre Tätigkeit gaben und geduldig die Hintergründe der Pflegeversicherung erläuterten. Mehrfach äußerten sie, dass es wichtig sei zu zeigen, dass der MDK eine transparente Institution sei, die einem Gesetz entsprechend nachvollziehbar urteile. Zwei Tage lang erlebte ich die Arbeitsabläufe in den Büroräumen des MDK. Ich führte dort drei informelle, offene Interviews 12 (Schmidt-Lauber 2000) mit dem Leiter der Leitstelle und mit zwei Gutachterinnen 13 über die Pflegeversicherung und ihre Erfahrungen mit Begutachtungen. Einen ganz anderen Blick auf die Begutachtungspraxis vermittelten mir die Mitarbeiterin-

10 In narrativen Interviews mit acht Bewohner_innen fragte ich nach dem Alltag im Heim und nach persönlichen Erfahrungen mit Pflegebedürftigkeit. Die Pflegedienstleiterin des Heims hatte mir Kontakte zu Bewohner_innen vermittelt, bei denen es kürzlich eine Änderung in der Pflegestufe gegeben hatte. 11 Die Berliner Leitstellen sind grob nach den Stadtbezirken gegliedert. 12 Ich zeichnete diese Interviews nicht auf. Trotz des einfachen Zugangs hatte ich den Eindruck, in einem mit Konflikten aufgeladenen Feld zu agieren. Ein Aufnahmegerät hätte den Gesprächen womöglich einen ‚Prüfungs‘Charakter gegeben und verhindert, dass die Gutachterinnen so offen über ihre Arbeit sprachen. 13 Die Auswahl ergab sich notgedrungen aus der zufälligen Anwesenheit der Mitarbeiter_innen und Gutachterinnen in der Dienststelle.

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nen des Sekretariats durch die Erläuterung der Software, die die Planung der täglichen Routen der Gutachterinnen unterstützt. Obwohl ich von den Gutachterinnen später meist als Kollegin oder Praktikantin vorgestellt wurde, blieb mein ethnologisches Interesse an der Praxis der Pflegestufenfestlegung schwer zu vermitteln – schienen doch die Begutachtungen ‚normaler‘ Menschen uninteressante, technische Prozesse zu sein. Diese Normalität ‚gewöhnlicher‘ Begutachtungen bildet ein wichtiges Thema meines Artikels. An drei Tagen begleitete ich Gutachterinnen zu insgesamt zwölf Begutachtungen, die in Pflegeheimen oder Privathaushalten stattfanden. Wenn ich in meinem Artikel die Praxis der Begutachtungen fokussiere, so heißt das, dass ich vordergründig von meinen Beobachtungen, die ich während dieser Begutachtungen gemacht habe, ausgehe. In Form von Feldnotizen hielt ich Beschreibungen 14 von Räumen, Personen und Gegenständen, Zitate aus Gesprächen und Schilderungen von Handlungen fest. Im Sinne von Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2005; Law 1994; Law/Hassard 1999) ging ich davon aus, dass menschliche wie nicht-menschliche Akteure Handlungsträgerschaft besitzen. Das bedeutet, dass für den Ablauf der Begutachtungen nicht nur das Verhalten der Gutachterinnen und Antragsteller_innen entscheidend ist, sondern dass auch Geräte, Dokumente, der Terminplan etc. den Ablauf der Begutachtung wesentlich beeinflussen. Das Gutachtenformular, das ein bestimmtes standardisiertes Format hat, ist beispielsweise ein handlungsmächtiger Aktant, 15 der in hohem Maße darüber entscheidet, welche Form das Gutachten annehmen kann. Zu meinen Feldnotizen kamen in der Analyse 16 Skizzen, Interviewtranskripte, Gutachten, 17 Flyer und Zeitungsartikel hinzu. Adele

14 Emerson et al. (1995) folgend versuchte ich Beschreibungen so detailliert wie möglich festzuhalten und in den Notizen jegliche Interpretationen zu vermeiden. Dennoch sind meine Aufzeichnungen schon allein durch die unvermeidliche Auswahl dessen, was ich aufschrieb oder ausließ, Interpretation. 15 Zu Erläuterungen des Aktanten-Konzepts vgl. Johnson (alias Latour) 1988. 16 Teilweise arbeitete ich mit einer Software zur Analyse qualitativer Daten, die auf Grounded Theory (Glaser/Strauss 1998) basiert. 17 Ich erhielt nach der Hospitation fünf anonymisierte Gutachten zur Einsicht.

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Clarkes situational analysis (2005) folgend 18 legte ich Karten an, in denen ich aufführte, welche Aktanten in den Begutachtungen anwesend sind und welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen. Gleichzeitig versuchte ich, die Wirkung ‚unsichtbarer‘ Aktanten (Mol/Law 2002) zu berücksichtigen. Ein wesentliches Ziel der folgenden Abschnitte ist daher, „the field’s messiness, contradictions, and heterogeneities“ (Mathar 2008: 30) widerzuspiegeln und damit Anregungen zum Verständnis der Begutachtungspraxis anzubieten.

A NALYSE

VON

B EGUTACHTUNGSPRAXEN

Bei den Begutachtungen treffen die Gutachterinnen auf Menschen, die einen „Antrag auf Pflegebedürftigkeit“ gestellt haben, sowie deren Pfleger_innen und/oder Angehörige. Innerhalb von 30 bis 60 Minuten prüfen sie körperliche Funktionen der Antragsteller_innen (durch Bewegungen der Arme und Beine) und testen deren geistige Orientierung (durch Fragen nach dem Datum und Alter). Den Hauptteil der Begutachtung bildet die Ermittlung des „Pflegebedarfs“: In einem Formular halten die Gutachterinnen fest, wie viele Minuten Hilfe jemand bei bestimmten Alltagshandlungen 19 benötigt. In den folgenden Abschnitten beschreibe ich, welche Aspekte in die Gutachten einfließen und wie die Minutenangaben und Formulierungen darin zustande kommen. Handeln nach dem Gesetz Dass allein das Gesetz ausschlaggebend für die Beurteilung sei, ist die erste Lektion, die ich beim MDK lerne. Eine Gutachterin belehrt mich gleich bei unserer ersten Begegnung: „Es gibt ein Gesetz und danach muss man sich richten.“ (FN 20 13) Wann immer ich frage, was ich über die Pflegeversicherung und die Begutachtungen wissen müsse,

18 Ich beschränke mich auf den ersten Schritt von Clarkes Analyse (2005). Die Dimension der social world/arena lasse ich weitestgehend aus. 19 Laut SGB XI zählen dazu Körperpflege, Ernährung, Mobilität, hauswirtschaftliche Versorgung (§ 14 Abs. 4). 20 Mit „FN“ sind Verweise auf meine Feldnotizen bezeichnet. Die Nummerierung verweist auf den Tag der Forschung.

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drücken mir die MDK-Mitarbeiter_innen die „Richtlinie“ 21 in die Hand. Dieses gut 100-seitige Dokument spezifiziert die Regelungen des elften Sozialgesetzbuches (SGB XI), indem es konkret vorgibt, welche Verrichtungen als Pflege zählen. Darauf wird auch in der Begutachtung selbst verwiesen, wenn Unstimmigkeiten auftreten. Als ein Antragsteller sich wundert, warum ihn die Gutachterin nach körperlichen Beschwerden frage, obwohl er doch gesund sei, rechtfertigt sie sich: „Ich muss ja alles abfragen.“ (FN 16) Mit der Formulierung „muss“ weist sie auf die ‚Pflicht‘ hin, bestimmte Punkte auch dann abzufragen, wenn sie vermeintlich unwichtig oder augenfällig sind. Diese Notwendigkeit begründen mehrere Gutachterinnen mit ‚Gerechtigkeit‘: Die korrekte Anwendung des Gesetzes sei notwendig, weil dadurch alle Antragstellenden gleich – und damit gerecht – beurteilt würden. Mir wird aber ebenfalls erzählt, dass die Befolgung des Gesetzes mit Schwierigkeiten verbunden sei. So meint ein Mitarbeiter des MDK, die genaue Definition von Pflegebedürftigkeit im Gesetz sei ein „Problem“. Er zählt die einzelnen Verrichtungen auf, die laut Richtlinie als Pflege gelten und konstatiert: „Schluss. Aus. Mehr nicht.“ Wenn „die Leute“ kämen und sagten: „Spazieren gehen, mit jemandem reden – das ist doch alles Pflege“, dann erwidere er als Gutachter: „Nee, nee, nee.“ Dabei, so der Mitarbeiter, sei das „von der Logik nicht nachzuvollziehen.“ (FN 13) Dass bestimmte gesetzliche Festlegungen nicht sofort verständlich seien, beschreibt auch eine Gutachterin: Wenn z.B. eine Frau, deren bettlägeriger Mann einen Katheter habe, zu ihr sage: „Er kann noch nicht mal laufen“, dann müsse die Gutachterin antworten: „Ja, umso schlimmer.“ Könnte der Mann laufen oder einen Rollstuhl benutzen, würde die Begleitung zur Toilette als Pflege zählen, aber durch die Benutzung des Katheters sei diese Betreuung nicht nötig. (FN 13) An den Problematisierungen der Gutachterinnen wird sichtbar, dass es unterschiedliche – teilweise widersprüchliche – Konzepte von Pflegebedürftigkeit gibt. Während für die pflegende Ehefrau die Bettlägerigkeit ihres Mannes ein deutliches Zeichen für seine Pflegebedürftigkeit ist, besteht nach der gesetzlichen

21 Die „Richtlinie [...] zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit“ wurde 1997 vom Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen, dem MDK, den Spitzenverbänden der Pflegekassen und den zuständigen Bundesministerien erstellt (MDS 2006: 3).

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Richtlinie in diesem Fall kein (bzw. ein geringer) Betreuungsaufwand. Dabei sind die verschiedenen Perspektiven auf Pflegebedürftigkeit nicht mit den unterschiedlichen ‚social worlds‘ (Star/Griesemer 1999) kongruent. Es lässt sich nicht behaupten, dass die MDK-Mitarbeiter_innen prinzipiell anders über Pflege denken als Laienpfleger_innen. Stattdessen werden verschiedene Sichtweisen von ein und derselben Person je nach der Rolle, in der sie sich befindet, anders performiert: Als Privatperson beschreibt der oben zitierte MDK-Mitarbeiter die Richtlinie als problematisch und teilweise unlogisch. In der Funktion als Gutachter dagegen betrachtet er sie als bindend und orientiert seine Urteile daran. Die Richtlinie gibt nicht nur vor, was als Pflege zählt, sondern auch wie viel Zeit für jede Hilfshandlung ungefähr veranschlagt werden kann. Ein Bad, bei dem eine Person voll unterstützt 22 werden muss, dauert demnach 20 bis 25 Minuten. Außerdem ist darin angegeben, wie oft eine Handlung normalerweise ausgeführt wird. Die längstmögliche Hilfe beim Essen wäre 3x20 Minuten pro Tag, für das Trinken berechnet man 7x1 Minute. Diese „Zeitkorridore“ sollen als Orientierung dienen, d.h. sie können über- oder unterschritten werden, denn maßgeblich sei die „individuelle Pflegesituation“ (MDS 2006: 48). Frage ich, wie die vorgegebenen Minuteneinteilungen zustande gekommen sind, so erhalte ich widersprüchliche Antworten. Ein MDK-Mitarbeiter beschreibt, man habe einige 1000 Gutachten erstellt und „wirklich gemessen, wie lang braucht eine Tochter um eine Mutter zu pflegen“ 23 (FN 13). Die Zeitwerte erscheinen dabei als objektive, ‚wissenschaftlich‘ erhobene Größen. Der Kommentar einer Gutachterin verweist auf eine viel pragmatischere Entstehung der Minutenangaben. Achselzuckend meint sie, anfangs habe man „Pi mal Daumen“ (FN 12) berechnet, wie lange die einzelnen Verrichtungen dauerten. Sie fügt hinzu: „Das hat dann jemand so ausgedacht, sag ich mal.“ (FN 12) Verschiedene Autor_innen beschreiben, wie medizinische Standards und Kategorien in politischen Prozessen ausgehandelt werden

22 Als Arten der Hilfeleistung werden T (Teilweise Übernahme), U (Unterstützung), V (vollständige Übernahme), B (Beaufsichtigung) und A (Anleitung) unterschieden. Zur Erläuterung: http://pflegestufe.info/pflege/ formen.html [Zugriff am 27.8.2009]. 23 Die Richtlinie gibt an, wie viele Minuten ein_e Laienpfleger_in benötigt.

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(Timmerman/Berg 2003; Bowker/Star 1999). Auch in die Entwicklung der Richtlinie und der gesetzlichen Pflegedefinition flossen politische und finanzielle Überlegungen verschiedener Interessengruppen ein (Hallensleben 2004). Dass die Festlegung, was Pflege ist, keineswegs absolut oder natürlich ist, verschwindet jedoch in der täglichen Begutachtungspraxis aus dem Blickfeld. Die Gutachtenkategorien sind – einmal definiert – unhinterfragbare Realität; und obwohl die Gutachterinnen manches kritisch sehen, folgen sie den Vorgaben der Richtlinie. In diesem Argumentationsrahmen ist die strikte Befolgung der Vorgaben Voraussetzung für die Objektivität der Bewertung, denn nur auf diese Weise könnten alle Versicherten gleich beurteilt werden. Die bisherige Darstellung erweckt den Anschein, als bestünde ein direkter Zusammenhang zwischen der Richtlinie und der im Gutachten getroffenen Entscheidung: Die individuelle Situation von Antragsteller_innen muss ‚nur‘ den Kategorien des Gutachtenformular entsprechend beschrieben werden, dann zeigt sich, ob und wie pflegedürftig jemand ist. Wie aber geht das konkret vor sich? Die Gutachterinnen benötigen ein spezifisches Wissen über die Antragsteller_innen und müssen das Gutachten deshalb in einer persönlichen Begegnung erstellen. Im nächsten Abschnitt beschreibe ich, woraus dieses Wissen (in der Logik der Gutachten) besteht und wie die Gutachterinnen es produzieren. Körper, Dokumente und Erzählungen Wenn die Gutachterinnen zur Begutachtung in ein Pflegeheim kommen, begeben sie sich zuerst in das Dienstzimmer der Pflegekräfte, wo sie ein kurzes Gespräch mit einer Pflegekraft führen und die Akten der Antragstellenden, die unter anderem ärztliche Diagnosen und Vorgutachten enthalten, durchsehen. Danach gehen sie gemeinsam mit der Pflegekraft zu den Antragstellenden. Die häusliche Begutachtung setzt erst an dieser Stelle ein. Die Begegnung mit den Antragstellenden ist einerseits ein Gespräch, andererseits eine Untersuchung körperlicher Funktionen. Beim Besuch bei einem älteren Mann, der von seiner Ehefrau gepflegt wird, fragt die Gutachterin den Antragsteller z.B. zunächst, wie es ihm geht und bittet ihn zu schildern, bei welchen Handlungen er Hilfe benötigt. Dann führt sie Übungen mit ihm durch. Der Antragsteller soll z.B. die Arme hinter dem Rücken verschränken oder im Sitzen die Beine anheben. Nicht nur bei diesen expliziten

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Tests sondern während der gesamten Visitation beobachtet die Gutachterin den Körper des Antragstellers und vergleicht diese Beobachtungen mit seinen Aussagen. Dies wird in der folgenden Szene deutlich. Als wir aus der Wohnung kommen, sagt die Gutachterin zu mir: „Sag ich Ihnen gleich, die [der Antragsteller und seine Ehefrau, LMO] kriegen keine II.“ Sie begründet: „Der ist mir zu mobil.“ Sie meint, der Mann könne doch gehen, die Frau solle sich mal nicht so haben. Deshalb habe sie ihn auch im Bett aufsitzen lassen. Sie habe sich so etwas schon gedacht – der habe doch viel gesünder gewirkt, als er saß. Außerdem habe er ja gezielt nach den Apfelstücken greifen können. So pflegebedürftig sei er also gar nicht. (FN 15)

In der Begutachtung hatte die Ehefrau immer wieder betont, wie unsicher ihr Mann sei, und dass er für viele alltägliche Handlungen zu schwach sei. Die Gutachterin hatte diesen Schilderungen kommentarlos gelauscht. Erst nach der Visitation macht sie mit ihrem Kommentar mir gegenüber deutlich, dass sie die Schilderungen mit dem Körper des Antragstellers verglichen und letzterem mehr Gewicht beigemessen hat: Dass er gezielt nach den Apfelstücken greifen kann, spricht ihrer Meinung nach dafür, dass der Antragsteller seine Hände koordiniert bewegen kann. Weil der Mann außerdem auf ihre Aufforderung hin durch das Zimmer gehen kann, und weil er im Sitzen ihrer Ansicht nach „gesünder wirkt“, ist er zu „mobil“ für die Pflegestufe II. Wie sich der Körper dieses Antragstellers während der Begutachtung verhält, oder genauer gesagt: Wie sein Körper sich in den Augen der Gutachterin verhält, ist also eine wesentliche Grundlage für die Einträge, die die Gutachterin im Formular vornimmt. Die Erzählungen, die mit den Körpern der Antragsteller_innen verglichen werden, werden in Heimen zusätzlich den vorhandenen Dokumenten gegenüber gestellt. Nach der Visitation bei der/dem Antragstellenden begibt sich die Gutachterin gemeinsam mit der Pflegekraft zurück ins Dienstzimmer und nimmt die Pflegedokumentation zur Hand. Eine solche Akte hat jede_r Heimbewohner_in. Sie besteht meist aus verschiedenfarbigen Pappbögen, in die eingetragen wird, zu welcher Tageszeit welche Pflegemaßnahmen durchgeführt werden und welche Medikamente jemand erhält. Diese Dokumentation gleichen die Gutachterinnen mit den Antworten der Pflegekräfte ab:

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Die Gutachterin fragt, ob die Bewohnerin Getränke allein eingießen kann. Die Schwester antwortet: „Kann sie. Aber da müssen wir drauf achten, dass sie das dann auch macht.“ Nach einem prüfenden Blick in die Dokumentation fragt die Gutachterin: „Wo steht denn das?“ Die Schwester lacht: „In meinem Kopf.“ Trocken erwidert die Gutachterin: „Da soll’s auch hin.“ Die Schwester wird ernst: „Steht’s nicht drinne?“ Die Gutachterin verneint. (FN 16)

Bevor die Gutachterin eine Information – etwa, dass diese Heimbewohnerin zum Trinken aufgefordert werden muss – in das Formular einträgt, ‚überprüft‘ sie, ob sich diese Aussage in der Dokumentation wieder findet. Dass die Information nur „im Kopf“ der Schwester steht, heißt zwar nicht zwangsläufig, auch nicht im obigen Beispiel, dass die Gutachterin die Schilderung der Schwester nicht berücksichtigt, aber in jedem Fall verursacht eine Nichtübereinstimmung von schriftlicher und mündlicher Angabe Diskussionen und Kritik von Seiten der Gutachterin. Dabei unterliegen die unterschiedlichen Informationen offenbar einer Hierarchie: In vielen Fällen haben schriftliche Angaben das größere Gewicht. Eine Gutachterin erklärt mir: Wenn eine Person „geistig fit“ wirke, aber in ihrer Akte stehe, dass sie einen Betreuer 24 habe, löse dies bei ihr ein „Alarmklingeln“ aus, denn das bedeute, dass die Person eben nicht so selbstständig sein könne, wie es den Anschein habe (FN 14). Den vorhandenen Materialitäten – seien es Körper oder Dokumente – messen die Gutachterinnen häufig ein größeres Gewicht bei als den mündlichen Schilderungen. In diesem Abschnitt habe ich gezeigt, dass in der Begutachtung anwesende Materialitäten und Aussagen gegeneinander abgewogen werden. Wie aber wird entschieden, welche dieser vielfältigen Informationen in das Gutachten aufgenommen werden? Wie ich nun darstellen werde, ist für diese Auswahl zu einem großen Teil das Gutachtenformular verantwortlich. Das Formular Das Formular, in dem der Zustand der Antragstellenden beschrieben wird, besteht aus mehreren Bereichen. Textabschnitte geben z.B. Auskunft über Krankheiten und die „pflegerelevante Vorgeschichte“; Ta-

24 Betreuer_innen sind gesetzliche Vertreter_innen, die sich insbesondere um finanzielle und bürokratische Belange von Pflegebedürftigen kümmern.

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bellen (mit Erläuterungen) halten fest, wie viel Pflege für „Körperpflege“, „Ernährung“ und „Mobilität“ geleistet werden muss. Diesen Bereichen folgend sprechen die Pfleger_innen und Gutachterinnen in einer bestimmten Reihenfolge über bestimmte Dinge: Zurück im Dienstzimmer beginnt die Pflegedienstleiterin (PDL) sofort damit die Krankheiten der Antragstellerin aufzuzählen. Doch die Gutachterin unterbricht sie: „Jetzt mal der Reihe nach.“ Sie liest die Kategorien des Formulars vor und stellt Fragen: „Hat sie auch...? Braucht sie auch...?“ Die PDL antwortet jeweils nach kurzer Überlegung. (FN 14)

Pflegedienstleiterin und Gutachterin führen hier kein offenes Gespräch über das Befinden der Antragstellerin, sondern orientieren sich am Formular. Die Initiative geht dabei von der Gutachterin aus: Sie unterbricht die Pflegedienstleiterin in ihrer spontanen Schilderung und fordert sie auf, stattdessen dem Formular zu folgen. „Der Reihe nach“ bedeutet „der Struktur des Gutachtens entsprechend“. Zudem entscheidet das Formular darüber, was eingetragen werden kann. Gibt es für eine Information keinen Platz im Formular, so kann sie nicht aufgeschrieben werden. Mir fällt während meiner Hospitation beispielsweise auf, dass sich die einzelnen Pflegeheime in Architektur und Gestaltung erheblich unterscheiden: Manchmal ist die Entfernung zwischen Zimmern und Dienstzimmer sehr weit, manchmal sind Wände geschmückt und farbig gestrichen. Da es für die „Wohnsituation“ bei Begutachtungen im stationären Bereich 25 jedoch keine eigene Kategorie im Formular gibt, tauchen solche Informationen darin nie auf. Dabei mag etwa eine weite Strecke, die zurückgelegt werden muss, oder die warme Atmosphäre eines Heimes, großen Einfluss auf die Dauer der Pflegehandlungen haben. Viele Formulierungen, die im Gutachten stehen, sind bereits als „Textbausteine“ vorgegeben. Das heißt, dass Gutachterinnen zur Beschreibung von Zustand und Fähigkeiten der Antragsteller_innen auf bestimmte kurze Sätze oder Wortgruppen zurückgreifen können, die sie bei der Begutachtungsvorbereitung im Büro selbst verfasst oder aus einer MDK-internen Datenbank abgerufen haben. Zusätzliche Angaben im Gutachten sind möglich, denn der Platz in dem Formular ist nicht begrenzt. Dennoch enthalten die fertigen Gutachten fast immer

25 Leben Antragsteller_innen in der eigenen Wohnung werden „Pflegerelevante Aspekte der Wohn-/Betreuungssituation“ im Formular festgehalten.

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die gleichen Angaben, 26 die lediglich geringfügig umformuliert und angepasst werden. Schwerhörigkeit etwa wird als „leicht“ oder „erheblich“ diagnostiziert, ohne dass weitere Konkretisierungen nötig scheinen. Mit der strengen Befolgung der Gutachtenkategorien ähneln die Gespräche in erheblichem Maße strukturierten Interviews, bei denen den Interviewten nur bestimmte, eng begrenzte Antwortmöglichkeiten zur Verfügung stehen (Froschauer/Lueger 2003). Auch in den Begutachtungen wird durch die genaue Vorgabe von Kategorien nur eingeschränkt sichtbar, welche Details für die Antragstellenden oder Pflegekräfte von besonderer Bedeutung sind und welche Aspekte sie irrelevant finden. Allerdings gibt es eine überraschende gegenläufige Entwicklung. Während das Formular noch bis vor einigen Monaten handschriftlich ausgefüllt werden musste, arbeiten die Gutachterinnen neuerdings „mobil“: Sie füllen das Gutachtenformular direkt am Laptop aus. Während es auf dem Papierformular für ausformulierte Angaben bislang nur einen begrenzten Platz von einigen Zeilen gab, ist es bei der Arbeit am Laptop theoretisch möglich, Schilderungen unendlich auszudehnen. Die Gutachten, die ich einsehe, unterscheiden sich von ihrem Umfang denn auch (9-11 Seiten). Diese Folge der LaptopEinführung war vermutlich gar nicht beabsichtigt, sie wirkt der Vorstrukturierung der Gutachten aber möglicherweise entgegen. Die Strukturierung und die zur Verfügung stehenden Formulierungen des Formulars bestimmen in hohem Maße, was in das Gutachten aufgenommen werden kann. Dennoch sollen die Gutachten die individuelle Situation der/des Antragstellenden wiedergeben. In Tabellen wird die spezifische Art und Häufigkeit von Hilfshandlungen für die jeweilige Person detailliert aufgeschlüsselt. Beispielsweise steht dort: „Ganzkörperwäsche: T, U 27 / 6,0 Mal pro Woche / 12,0 Minuten pro Tag.“ Im nächsten Abschnitt zeige ich, wie die Gutachterin und die Antragsteller_innen oder Pflegekräfte solche Angaben gemeinsam produzieren.

26 Einschränkend ist anzumerken, dass die fünf Gutachten, die ich untersuchte, von der gleichen Gutachterin stammten. Es ist anzunehmen, dass die Gutachterinnen zumindest persönliche Standardformulierungen entwickeln. Inwiefern sie sich untereinander beeinflussen, könnte erst der Vergleich von Gutachten verschiedener Gutachterinnen erbringen. 27 Siehe Fußnote 24.

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Kooperationen Insbesondere in Heimen gestaltet sich das Ausfüllen des Formulars häufig als Kooperation zwischen Gutachterin und Pflegekraft. Gemeinsam arbeiten sie das Gutachtenformular ab und wissen oft genau, welche Informationen die andere benötigt. Eine Gutachterin beschreibt, dass in Heimen oder Sozialstationen „das Wissen“ vorhanden sei, dass also die Pflegekräfte wüssten, was für das Gutachten relevant sei. Da die Pflegedokumentation meist die gleichen Kategorien wie das Gutachtenformular beinhaltet, benutzen die Pflegekräfte oft dieses Vokabular: Die Gutachterin fragt: „Was ist mit dem Vorlagenwechsel?“ Die PDL antwortet: „Komplette Übernahme.“ (FN 15)

Solche Angaben kann die Gutachterin direkt in ihr Formular übernehmen. Sie braucht nur noch ein Kreuz an der entsprechenden Stelle zu setzen. Bei einer solchen gelingenden Kooperation können die Gutachtenkategorien als „boundary objects“ (Star/Griesemer 1999) verstanden werden, also als Objekte, die zwischen verschiedenen sozialen Welten vermitteln. 28 Nicht immer verläuft die Begutachtung allerdings so einwandfrei. Vor allem, wenn Dokumente nicht die Formate haben, die eine Gutachterin gewohnt ist, oder wenn es Unstimmigkeiten in der Pflegedokumentation gibt, dauert es lange, bis sich Gutachterin und Pflegekraft auf eine Angabe ‚geeinigt‘ haben. In solchen Fällen versucht die Pflegekraft oft, die Fragen der Gutachterin mit ausführlichen Schilderungen zu beantworten, und trägt eilig alle Arten von Schriftstücken herbei, bis die Gutachterin mit einer Information ‚zufrieden‘ ist. Dieses ‚Problem‘ ist in ambulanten Begutachtungen noch weit größer. Manchmal äußern sich die Gutachterinnen mir gegenüber

28 Für die Gutachterinnen ist die Kategorie mit einer vorgegebenen Minutenzahl verbunden, die sie ins Formular eintragen. Für die Pflegerinnen haben die Kategorien alltagspraktische Bedeutung: „Komplette Übernahme“ sieht bei jeder gepflegten Person anders aus, ist an deren je spezifischen Körper, Bewegungsfähigkeit, Stimmung etc. geknüpft. In der Pflegedokumentation dienen die Kategorien zur Überprüfung, ob eine pflegerische Handlung heute schon statt gefunden hat. Auf diesen Punkt kann an dieser Stelle leider nicht weiter eingehen werden.

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frustriert, denn sie haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie ihre Fragen beantwortet werden sollen und sind „genervt“, wenn Antragsteller_innen „zuviel reden“ (FN 15) und nicht die Sprache verwenden, die ins Gutachten passt: Als wir das Zimmer verlassen, stöhnt die Gutachterin „Das war so ein bisschen nervig jetzt.“ Sie beschwert sich: „Die Leute wissen nicht, was ich für Angaben brauche und erzählen alles mögliche.“ (FN 14)

Die Gutachterin „braucht“ bestimmte Angaben, nämlich solche, die möglichst einfach in das Formular übernommen werden können. Wenn die Begutachteten sich anders ausdrücken oder Aspekte ausführlicher beschreiben, sind die Gutachterinnen schnell „genervt“. Zwar ist die Verwendung von ‚Gutachtensprache‘ keine Garantie dafür, dass die Gutachterin unhinterfragt aufnimmt, was das Gegenüber behauptet. Selbst wenn sie sich mit Pflegekräften gut versteht, überprüft sie die Pflegedokumentation genau. Dennoch gewinne ich den Eindruck, dass die Gutachterinnen eher bereit sind, einen negativen Bescheid unter Umständen noch einmal nachzurechnen, wenn der/die Antragstellende oder die Pflegekraft ihr durch die Nutzung der ‚Gutachtensprache‘ die Arbeit erleichtert. Selbst wenn die Kooperation reibungslos funktioniert, ist die Interaktion während der Begutachtung asymmetrisch. Eine solche Asymmetrie ist für Gespräche in institutionellen Settings typisch (Drew et al 2001; Heritage 1997; Saake 2003, Will 2005). Im Fall der Pflegebegutachtungen wird sie zum Ausdruck gebracht, wenn die Gutachterinnen Schilderungen unterbrechen, Rückfragen stellen oder Empfehlungen geben. Sie machen damit deutlich, dass sie die Begutachtung moderieren und über die Entscheidungsgewalt verfügen. Durch die Verwendung unpersönlicher Formulierungen wie „Wir schicken Ihnen dann unsere Entscheidung zu“ (FN 14, meine Hervorheb.) und durch den häufigen Verweis auf ihre gesetzlichen Verpflichtungen machen sie die ‚Institution MDK‘ in der Begutachtung anwesend. Den Pflegekräften ist diese ‚Macht‘ der Gutachterinnen offenbar sehr bewusst. So lacht eine Pflegerin auf, als die Gutachterin auf Lücken in der Pflegedokumentation verweist, und seufzt: „Sie finden doch immer was, oder?“ (FN 16) In manchen Heimen führt dies zu einer derartigen Verunsicherung der Pflegekräfte, dass diese froh sind, wenn sich jemand anders bereit erklärt, der Gutachterin Auskünfte zu geben.

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Andere Situationen jedoch werden von der Pflegerin ‚beherrscht‘: Wir sind im Speisesaal, wo die Antragstellerin am Frühstückstisch sitzt und pausenlos vor sich hin redet. Als die Gutachterin sie bittet, mit ihr in ihr Zimmer zu gehen, wehrt sie sich: Nein, sie wolle frühstücken. Die Versuche der Gutachterin, sie zum Aufstehen zu bewegen, bleiben erfolglos. Zunächst steht die Pflegerin schweigend daneben. Dann meint sie, das sei nun schon seit mehreren Wochen so. Darauf sagt die Gutachterin: „Na, schönen Dank, dass sie mich nicht gewarnt haben.“ Die Pflegerin lacht. (FN 14)

In der kurzen Besprechung, die dieser Szene vorausgegangen ist, hat die Pflegerin nicht erwähnt, dass der Zustand der Antragstellerin so gravierend ist. Stattdessen konfrontiert sie die Gutachterin direkt mit deren Verhalten. Vielleicht ist sie der Ansicht, dass eine ‚Warnung‘ in Form einer Beschreibung die Gutachterin weniger beeindruckt hätte und lässt diese deshalb selbst erleben, dass es unmöglich ist, mit der Frau Gespräche zu führen oder sie zum Essen anzuhalten. Erst dann unterstreicht sie die schwierige Pflegesituation durch die Auskunft, wie lange dieser Zustand bereits vorliegt. Weiter oben habe ich darauf hingewiesen, dass die Gutachterinnen den Materialitäten häufig größeres Gewicht beimessen als mündlichen Aussagen. Ob der Pflegerin dies bewusst ist oder nicht: Die Konfrontation mit dem ‚widerspenstigen Körper‘ dieser Antragstellerin dürfte dazu beitragen, dass die Gutachterin sich von deren Zustandsverschlechterung überzeugen lässt. Bisher habe ich dargestellt, dass die Gutachterinnen nicht allein festlegen, was im Gutachten steht. Körper und Dokumente liefern Informationen über den Zustand der Antragsteller_innen; das Gutachtenformular entscheidet, welche Angaben möglich sind; die Pflegekräfte und Antragsteller_innen kooperieren gut oder weniger gut mit den Gutachterinnen. Dennoch sind die Gutachterinnen nicht austauschbar. Welchen spezifischen Beitrag sie in den Begutachtungen leisten, schildere ich im nächsten Abschnitt. Erfahrungswissen und Objektivität Wäre es möglich, lediglich anhand der Richtlinie und des Gutachtenformulars eine Begutachtung vorzunehmen, dann könnte jede beliebige Person, die sich gut informiert, über Pflegeanträge entscheiden. Die Gutachterinnen sagen mir jedoch immer wieder: „So einfach ist es

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nicht.“ (FN 13) Eine Gutachterin erklärt, dass man in die Begutachtungstätigkeit sechs Monate lang eingearbeitet werden müsse. Erst ein bestimmtes Erfahrungswissen befähigt anscheinend dazu, Gutachten zu erstellen. Welche Art von Erfahrung ist hier gemeint? Zum einen verweisen alle Gutachterinnen auf praktische Erfahrungen, die sie selbst im Pflegebereich gemacht haben. Sie sind ausnahmslos ehemalige Kranken- oder Altenpflegerinnen 29 und schöpfen aus den in der Berufspraxis erworbenen professionellen Fähigkeiten. „Medizinisches und menschliches Wissen“ (FN 14) beschreiben sie als Voraussetzung für die Gutachterinnentätigkeit. Allerdings lassen sich praktische Erfahrungen nicht eins zu eins in das Gutachten einbinden. Eine Gutachterin sagt, dass sie jetzt „umdenken“ müsse. Früher habe sie selbst als Pflegerin gearbeitet, jetzt aber müsse sie „daneben stehen“ und „ganz objektiv urteilen.“ (FN 12) Offenbar ist „Objektivität“ nicht gegeben, wenn man sich „in“ der Pflege befindet, sie kann erst durch ein Abstandnehmen, durch ein „daneben“ Treten produziert werden. Diese Distanzierung praktizieren die Gutachterinnen ständig, wenn sie „den Leuten“ und den Pflegekräften vorhalten, nicht zu wissen, wie die Pflegestufen berechnet würden. Hier zeigt sich zugleich die zweite Erfahrungsebene, auf die die Gutachterinnen zurückgreifen: Sie alle sind seit mehreren Jahren beim MDK und haben Erfahrung mit der Begutachtungspraxis. Die gedruckte Richtlinie benötigen sie in den Begutachtungen nie: Im Büro frage ich die Gutachterin, was genau in der Richtlinie steht. Als sie das Heft auch nach längerem Suchen nicht in der Schublade findet, entschuldigt sie sich: „So etwas hab ich jetzt alles im Kopf.“ (FN 12)

Weil sie die Richtlinie „im Kopf“ haben, können die Gutachterinnen das Formular während der Begutachtung sofort ausfüllen. Sie ‚wissen‘, welche Zeitwerte für welche Verrichtungen eingetragen werden können und welche Kategorien relevant sind. Dieses Wissen ‚beweisen‘ sie in der Begutachtung permanent durch Kritikäußerungen und stellen damit eine Hierarchie des anerkannten Wissens her. Insbesondere die Pflegedokumentation gibt ihnen ständig Anlass, auf Mängel hinzuwei-

29 Die (wenigen) Ärzt_innen, die beim MDK tätig sind, haben zumeist die Leitung der Leitstelle inne, bearbeiten Einsprüche und nehmen Aktengutachten vor.

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sen und klar zu stellen, dass sie die Standards ‚besser‘ beherrschen als die Pflegekräfte. Die jahrelange Tätigkeit ermöglicht ihnen auch die Anwendung von „Tricks“, zum Beispiel die Durchführung ‚verborgener‘ Tests: Eine Gutachterin registriert den Händedruck bei der Begrüßung und vergleicht ihn später mit der ‚offiziellen‘ Messung der Händekraft (FN 13). Zusätzlich sprechen die Gutachterinnen fast immer Empfehlungen aus, wie die Antragsteller_innen ihre Pflege besser bewältigen können. Letzteres kann als Betonung der Expertenstellung (Cowley et al. 2004) gedeutet werden, ist aber zugleich eine Strategie, um Gutachten überhaupt herzustellen. Eine Gutachterin sagt: „Ich bin nett, damit ich an die Leute rankomme.“ (FN 14) Sie meint außerdem, man müsse über Menschenkenntnis verfügen und „im Gefühl haben“, wie die Situation sei und welche Stimmung herrsche. Durch ihre Erfahrungen mit der Begutachtungspraxis scheinen die Gutachterinnen ‚erfühlen‘ zu können, wie pflegebedürftig jemand ist. Nach jeder einzelnen Begutachtung, die ich miterlebe, geben die Gutachterinnen mir gegenüber spontan eine Prognose über die zu erwartende Pflegestufe ab. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen die ‚gefühlte‘ Pflegebedürftigkeit durch bewusstes „Rechnen“ revidiert werden kann: Als wir zum Auto gehen, meint die Gutachterin: „Der kann einem leid tun.“ Das werde schwierig, die Pflegestufe zu halten. Damals habe die andere Gutachterin „ihr Herz sprechen lassen.“ Da sei der Antragsteller allerdings auch noch depressiv gewesen und habe Krankengymnastik gemacht. Jetzt dagegen „müssen wir ein bisschen rechnen, damit das noch klappt“. (FN 15)

Ihre Erfahrung sagt der Gutachterin offenbar, dass eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB nicht unbedingt vorliegt. Aber – ob aus Mitgefühl mit dem Antragsteller, aus Loyalität gegenüber der Kollegin oder aus einem ganz anderen Grund – es scheint möglich zu sein, eine Pflegestufe ‚herbei zu rechnen‘. Die Gutachterin will nicht etwa rechnen, „ob“, sondern „damit“ das klappt. Die Gutachterinnen legen Wert darauf zu betonen, dass sich ihre Berechnungen von laienhaften Schätzungen unterscheiden. Eine Gutachterin berichtet, dass „die Leute“ in die „einfachen“ Anträge der Krankenkassen beispielsweise schrieben, dass sie einen Angehörigen vier Stunden pro Tag pflegten, und dann dächten, das entspreche der Pflegestufe III. Wie eben beschrieben, muss man jedoch bestimmte

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Erfahrungen und ein bestimmtes Wissen vorweisen können, um Pflegebedürftigkeit gemäß der Richtlinie berechnen zu können. Obwohl ich nun zahlreiche Aspekte erläutert habe, die an der Produktion der Gutachten beteiligt sind, ist weiterhin unklar, wie die Minutenangaben zustande kommen. An keiner Stelle tauchte bisher ein von Pflegekräften oder Antragsteller_innen genannter Zeitwert auf. Und in der Tat erlebe ich so gut wie nie, dass jemand in den Begutachtungen überhaupt darüber spricht, wie lange etwas dauert. Trotzdem stehen im Gutachten Minutenangaben. Im folgenden Abschnitt beschreibe ich, wie aus den produzierten Informationen Zahlen werden. Zahlen produzieren Während der Begutachtung schreiben die Gutachterinnen Sätze, scrollen durch die Seiten, kreuzen Felder an, löschen Formulierungen und tippen Zahlen ein. Im Büro oder zu Hause bearbeiten sie das Formular und ‚berechnen‘ die Pflegestufe. ‚Berechnung‘ heißt dann ‚Addition‘ der Zahlen, die während der Begutachtung eingetragen wurden. Obwohl die Gutacherinnen vielschichtige Aspekte hören und sehen, schreiben sie in die Tabellen des Formulars stets eine Auswahl der gleichen Abkürzungen und Ziffern. Damit dies möglich ist, wenden sie meiner Interpretation nach (mindestens) drei Mechanismen an: Sie fokussieren, sequenzieren und übersetzen. Fokussieren: In den Begutachtungen wird ein Fokus gesetzt, durch den bestimmte Aspekte in den Blick genommen und andere ausgeblendet werden. Dabei wird die Person von ihrem Kontext ‚getrennt‘. Kontakte zu Bekannten und Verwandten werden nicht abgefragt. Zwar werden Umgebung, Hilfsmittel und familiäre Situation in kurzen Sätzen im Gutachten beschrieben, aber diese haben allenfalls implizit (z.B. weil sie der Gutachterin Hintergrundinformationen zur Situation des/der Antragstellenden geben) auf die Minutenangabe Einfluss. Bei der Aufschlüsselung des Pflegebedarfs geht es nur darum, was jemand allein (nicht) kann. Daneben wird zwischen ‚Krankheit‘ und ‚Pflege‘ differenziert. Direkt krankheitsbezogene Hilfe – die so genannte „Behandlungspflege“ – zählt nicht für die Pflegestufe. 30 Auch die ‚sons-

30 Hier stoßen die Zuständigkeiten der Kranken- und der Pflegeversicherung aufeinander (MDS 2006: 43).

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tige Hilfe‘ wird ausgeblendet – Spazierengehen ist keine Pflege. Hauswirtschaftliche Verrichtungen werden pauschal veranschlagt. 31 Relevant ist die begutachtete Person außerdem (fast) nur in ihrer gegenwärtigen Situation. Biografie fließt so gut wie nie in das Gutachten ein. Zwar schildert eine Gutachterin, dass sie ihre Frageweise dem Bildungshintergrund der/des Antragstellenden anpasse, doch im endgültigen Gutachten sind Biografie und damit Habitus, Routinen und Gewohnheiten nicht präsent. Durch das Fokussieren soll lediglich die gesetzlich definierte Grundpflege erfasst werden. Sequenzieren: Um so ‚genaue‘ Angaben wie möglich in das Gutachten schreiben zu können, werden alltägliche Handlungen in Einzelhandlungen unterteilt. Ein MDK-Mitarbeiter erzählt, man müsse komplexe Handlungsabläufe „zerfleddern“ und das sei „grauslich“. „Zähneputzen“ setze sich beispielsweise zusammen aus „Tube nehmen“, „Zähne bürsten“, „Mund ausspülen“ und „Zahnbürste wegstellen“ (FN 12). Wir sind in einem Pflegeheim. Es geht ums Baden. Gutachterin: „Sie helfen ihm rein und dann setzt er sich hin und dann machen Sie so die Beine, Füße. Aber oben rum, Gesicht, das macht er alleine?“ Schwester: „Alleine.“ Gutachterin: „Genitalbereich, macht er auch allein?“ Schwester: „Ja.“ (FN 16)

Im Gutachten wird nicht jeder winzige Einzelfaktor aufgeführt, aber dieses Abfragen dient den Gutachterinnen dazu festzustellen, welchen Aufwand die Pflegenden leisten. Die Richtlinie enthält Listen mit vorgegebenen Zeitwerten für jede der fünf möglichen Arten 32 der Hilfeleistung. Dementsprechend passen die Gutachterinnen die einzutragenden Minutenzahlen an. Für das gesamte Ankleiden veranschlagen sie 8 bis 10 Minuten, für das Ankleiden des Ober- oder Unterkörpers 5 bis 6 Minuten. Eine Aufsplitterung in Einzelhandlungen findet außerdem statt, wenn eine Verrichtung aus verschiedenen Hilfsformen besteht. Der Toilettengang besteht zum Beispiel aus Hilfe beim „Gehen“ zum Badezimmer und bei der „Darm- und Blasenentleerung“. Es wird jedoch nicht angegeben, wie lang dies insgesamt dauert, sondern das

31 Eine Gutachterin erklärt: „Hauswirtschaft setzt man immer voraus, denn wer sich nicht waschen kann, kann auch nicht Fenster putzen. Das ist irgendwo logisch.“ (FN 13) 32 Siehe Fußnote 24.

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Gehen zur Toilette wird mit allen Geh-Vorgängen des Tages verrechnet (MDS 2006: 111). Oft ist diese „Zerfledderung“ für Menschen, die mit den Gutachtenkategorien nicht vertraut sind, schwierig nachzuvollziehen. Eine Frau berichtet während der Begutachtung, sie habe „spaßeshalber“ gemessen, wie lange sie brauche, um ihren Mann zu baden und sei dabei auf ganze zwei Stunden gekommen (FN 15). Laut Richtlinie können maximal 25 Minuten für das Baden angerechnet werden. Der Weg zum Bad, das Ausziehen werden separat berechnet. Übersetzen: Ausführliche Schilderungen müssen die Gutachterinnen in die Gutachtenkategorien ‚übersetzen‘. Sie machen das oft mit einem „also“ sprachlich deutlich: Die Gutachterin fragt die Antragstellerin, ob sie Hilfe beim Anziehen benötige. Diese antwortet: „Ja. Immer diese Seite. Das fällt mir schwer, die Hose anzuziehen. Links komm ich rein...“ Noch während die Antragstellerin spricht, wendet sich die Gutachterin an die Schwester: „Dann muss man also Teilunterstützung leisten.“ (FN 16)

In das Formular schreibt die Gutachterin nicht „benötigt Hilfe beim Anziehen der Hose“ oder „trägt meist Hosen, die geknöpft werden müssen und hat Schwierigkeiten, das rechte Hosenbein über ihre steife Hüfte zu ziehen und die Knöpfe selbst zu schließen“, sondern vermutlich „Ankleiden Unterkörper: T: 6,0 Min pro Tag“. 33 Manchmal geben die Gutachterinnen die Antwortkategorien vor und bitten die Pflegekräfte oder die Betroffenen lediglich um Bestätigung: Eine Gutachterin bezeichnet dies als die eigentliche „Kunst der Begutachtung“. Ihrer Ansicht nach könnten „die Leute“ nicht genau genug erklären, was sie tun. Aus diesem Grund schlage sie selbst Formulierungen vor: „Ich sage ganz einfach: ‚Sie müssen nicht direkt Hand anlegen?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Sie müssen also sagen: Machen Sie mal.‘ – ‚Ja.‘“ (FN 16) Anhand dessen trage sie Werte ein, denn „das sind die Minuten.“ (ebd.) Die größte Schwierigkeit bildet „alles, was sich nicht zählen lässt“ (FN 15). Deshalb müssen die Gutachterinnen eine besondere Übersetzungsarbeit leisten, wenn Antragsteller_innen oder

33 Zwar werden unter die Tabellen zusätzliche Beschreibungen geschrieben, diese beinhalten aber Standardfloskeln, die die angekreuzten Angaben kaum weiterführend im Hinblick auf persönliche Kontexte und Gewohnheiten erläutern.

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Pflegekräfte „ungenaue Zeitangaben“ (FN 14) machen, also z.B. die Häufigkeit der Hilfe nicht präzise definieren können. Um eindeutige – numerische – Werte in das Formular eintragen zu können, fordern die Gutachterinnen eine Festlegung. Bei einer ambulanten Begutachtung fragt die Gutachterin den Antragsteller, wie oft er bei Ärzten sei. Er antwortet zögernd, er sei eben nicht regelmäßig dort. Die Gutachterin: „Ich brauch jetzt hier mal was Konkretes, wenn Sie mir sagen könnten (zeigt mit dem Daumen) so und so oft.“ Der Antragsteller: „Mal so, mal so. Ich würde sagen ½ mal pro Woche.“ Sie ist befriedigt. (FN 15)

Obwohl die Angabe „ein halbes Mal pro Woche“ reichlich absurd erscheint, ist sie für die Gutachterin besser als eine „unkonkrete“ Antwort. Wieder findet eine Kooperation zwischen Gutachterin und Antragsteller statt, aber diesmal eine, bei der sie gemeinsam die Unregelmäßigkeit der Arztbesuche in einen wöchentlichen Durchschnittswert übersetzen. 34 Als die Gutachterin mir gegenüber dieses Phänomen beschreibt, meint sie, die Produktion konkreter Zeitangaben sei das „Umrechnen auf täglich“ (FN 15).

A LLTAG

UND

Z AHLEN

Meiner Ansicht nach entsteht der Konflikt über die Pflegestufenfestlegung genau an der Schnittstelle zwischen den im Gutachten produzierten ‚objektiven‘ Zahlen und der erlebten und beobachteten Pflegepraxis. Dieser erlebbaren Praxis stehen zwei Annahmen gegenüber: (1) Die Begutachtung könne ‚objektiv‘ sein. (2) Alltag könne in Zahlen ausgedrückt werden. (1) Die Vorstellung einer ‚objektiven‘ Begutachtung spiegelt sich in dem Anspruch der Gutachten, vom Kontext und der Anwesenheit

34 Einen besonders interessanten Fall von Übersetzung erlebe ich bei der Begutachtung einer türkischsprachigen Antragstellerin. Die Gutachterin spricht türkisch, in das Formular trägt sie aber deutsche Sätze ein. Dies ist im fertigen Gutachten an keiner Stelle erwähnt. Dass hier eine Übersetzungsleistung stattfand und dass Konzepte von Pflege möglicherweise durch Sprache unterschiedlich vermittelt werden, kann demnach nicht mehr reflektiert werden.

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von Personen und Objekten in der Begutachtung unbeeinflusst zu sein. Die Gutachterinnen betonen und die Pflegekräfte und Betroffenen fordern, dass für die Entscheidungen einzig und allein das Gesetz zähle und dass nichts anderes in das Gutachten einfließe. Ein pflegewissenschaftliches Lehrbuch, auf das ich während meiner Recherchen stoße, behauptet sogar, das Gutachten werde umso objektiver, „je weniger Freiheitsgrade der Gutachter bei der Quantifizierung des Gutachtenergebnisses hat. Bei Gutachten mit Fragen, die der Begutachtete nicht frei beantworten kann, ist die Auswertungsobjektivität praktisch verwirklicht; denn man braucht die ‚Kreuzchen‘ nur richtig zusammenzählen.“ (Gültekin/ Liebchen 2003)

Dieser Argumentation zufolge müssten die Kategorien und Antwortmöglichkeiten nur möglichst sinnvoll in der Richtlinie vorgegeben werden, dann seien die Begutachtungen nahezu objektiv. Eine genaue Beschreibung der Begutachtungen zeigt, dass die gesetzliche Vorgabe zwar eine Grundlage der Tätigkeit der Gutachterinnen ist, dass darüber hinaus aber das Gutachtenformular, die Körper der Begutachteten, die Art der Kooperation zwischen Gutachterin und Pflegekraft und die Erfahrungen der Gutachterin Einfluss auf die letztlich produzierten Angaben haben. Die Erstellung der Gutachten ist keine standardmäßige Implementierung des Sozialgesetzes, sondern lässt sich auf vielfältige Aspekte der Begutachtungspraxis zurückführen. Eine ‚objektive‘ Anwendung des SGB wäre auch gar nicht möglich, weil Alltagssituationen immer mehr Aspekte enthalten (Law 2004), als das Gesetz vorsieht und sich nicht problemlos numerisch ausdrücken lassen. Dennoch imaginieren sowohl Gutachterinnen als auch Pflegekräfte und Betroffene eine ideale Begutachtungssituation, die sich nur am Gesetz orientiert. Weil nicht berücksichtigt wird, welche Faktoren auf die Begutachtung Einfluss haben, hat es oft den Anschein, als urteilten die Gutachterinnen „willkürlich“, denn es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, warum es zu spezifischen Eintragungen und Minutenangaben im Gutachten kam. Eine Gutachterin erzählt, dass sie sich bei der Nachbearbeitung zu Hause oft gar nicht mehr an die jeweilige Begutachtungssituation erinnern könne. Obwohl jede Begutachtung ganz unterschiedlich abläuft und disparate Aspekte enthält, sind im Gutachten nur noch klare, eindeutige Angaben zu lesen. Zögerliche Antworten, Diskussionen, Probleme erscheinen dort nicht mehr. Die ein-

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zelnen Begutachtungen werden im Gutachten zu standardisierten, kaum unterscheidbaren Begegnungen. (2) Der Punkt, an dem die Einschätzungen verschiedener Seiten am heftigsten kollidieren, ist die Praxis der Minutenberechnung in den Gutachten – die Kontroverse kreist um die Frage, ob Alltag in Zahlen ausgedrückt werden kann. Deshalb gibt es immer dann Diskussionen, wenn etwas nicht genau quantifizierbar ist. Quantifizierbarkeit muss – unter Umständen in Form einer extremen Reduktion der real erlebten Pflegesituation – hergestellt werden. Die Art von Klassifizierung, die dabei vorgenommen wird, bezeichnen Bowker/Star als „aristotelisch“. Sie wird anhand eines „set of binary characteristics that the object being classified either presents or does not present“ (1999: 62) vorgenommen. Nun sind die Kategorien des Gutachtens nicht binär, aber sie werden ebenfalls als ‚mutually exclusive‘ gedacht, d.h. es kann immer nur eine Antwort zutreffen: Man benötigt entweder Übernahme oder Anleitung, Hilfe oder keine Hilfe. Differenzierte Angaben, wie „manchmal“, „wenn sie schlecht geschlafen hat“ oder „nach einem Wochenende mit den Kindern“ sind nicht möglich. Das Gutachten definiert ‚die eine‘ Pflegebedürftigkeit, die für jeden Tag gilt, einen Durchschnittswert, der Abweichungen, „Tagesformen“, diffizile Alltagssituationen ausblendet. Auch die Festlegung universell gültiger Zahlenwerte für die drei Pflegestufen entspricht dieser aristotelischen Klassifizierung: Entweder wird jemand täglich 46 Minuten lang gepflegt oder nicht. Eine Einbettung in die jeweiligen Lebensumstände findet nicht statt. Es wird nicht gefragt, was 46 Minuten Pflege im Alltag dieser Person bedeuten. Dem gegenüber steht eine prototypische Klassifizierung (ebd.) von Pflegebedürftigkeit, die der „Logik“ oder „Intuition“ der Pflegenden und der Gutachterinnen entspricht. Das heißt, dass sie jeweils eine ‚grobe‘ Vorstellung von Pflegebedürftigkeit (bzw. den einzelnen Pflegestufen) haben, mit der sie den konkreten Zustand einer zu pflegenden Person abgleichen. Die Übergänge zwischen verschiedenen Graden von Pflegebedürftigkeit sind fließend und können nicht als universell gültige Zahlwerte ausgedrückt werden. Die Prototypen von Pflegebedürftigkeit sind außerdem relativ – je nachdem, welches Bezugssystem die urteilenden Personen haben (ebd.: 63): Die Gutachterinnen, die entsprechend der inkorporierten Richtlinie urteilen, mögen eine bestimmte Einschränkung nicht als so gravierend wahrnehmen wie Laien, denen die Pflegesituation neu ist oder wie Pflegekräfte, die sol-

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che Einschränkungen im Zusammenhang mit Alltagspraxen des Pflegeheims erleben. Die prototypische Beurteilung von Pflegebedürftigkeit ist nicht mit der aristotelischen Einteilung vereinbar. So kann es vorkommen, dass Antragsteller_innen ‚fühlen‘, dass sie wesentlich mehr Pflege benötigen, während die Gutachterin ‚feststellt‘, dass der Hilfebedarf lediglich von 46 auf 90 Minuten gestiegen ist und damit noch nicht zu einer höheren Pflegestufe berechtigt. Durch die drei beschriebenen Mechanismen wird die Pflegepraxis in eine aristotelische Klassifizierung eingepasst, alles andere wird ausgeblendet. Was zählt, sind die gesetzlichen Kategorien. Diese werden auch deshalb nicht mehr in Frage gestellt, weil die bereits produzierten Zahlen in Vorgutachten und Pflegedokumenten den Eindruck erwecken, als sei es tatsächlich möglich Alltagspraxen ‚aristotelisch‘ zu klassifizieren und als sei Pflege schon immer ‚zählbar‘ gewesen. „The uncertainties [...] are removed once the numbers are selected and reported“ (Bowker/Star 1999: 65).

Z USAMMENFASSUNG

UND

A USBLICK

Anhand meiner Betrachtung kann man sagen, dass es sich bei der Praxis der Pflegestufenfestlegung gar nicht um ein „Umrechnen“ von einem System (Alltag der Antragsteller_innen) in ein äquivalentes anderes (Beschreibung im Gutachtenformular) handelt, sondern um eine komplexe Transformationsleistung, die mit erheblichen Reduktionen einhergeht. In meinem Text habe ich dargestellt, dass auf das Gutachten neben den Körpern, Erzählungen und Dokumenten der Antragsteller_innen und dem Gutachtenformular auch die Art der Kooperation zwischen den Beteiligten und das Erfahrungswissen der Gutachterinnen Einfluss haben. Im fertigen Gutachten sind viele dieser Aspekte jedoch nicht mehr nachvollziehbar. Möchte man in der Mathematik-Metapher bleiben, so hieße dies wohl, dass während der Berechnung von Pflegestufen nicht nur einige Nachkommastellen wegfallen, sondern dass ganze Variablen als irrelevant ausgeklammert werden. Während grundlegende Annahmen und Definitionen in mathematischen Darstellungen jedoch meistens angeben werden, reflektieren die Gutachten nicht, welche Aspekte sie ausklammern. Zugunsten einer scheinbaren Objektivität und in dem Glauben, dass sich auf diese Weise Gerechtigkeit herstellen ließe, werden die vielfältigen As-

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pekte, die mit dem pflegerischen Alltag verbunden sind, in ein starres (aristotelisches) Klassifikationssystem eingepasst. Aber Praxis lässt sich nicht auf diese Weise reduzieren: „[N]o one system in practice fully meets a single set of Aristotelian requirements“ (Bowker/Star 1999: 63). Alltag ist mehr als numerische Werte. Pflege ist mehr, als in Minuten angegeben werden kann. Diese Aussagen scheinen als bloße Feststellungen trivial; im Hinblick auf die ‚Gerechtigkeitskontroverse‘ werfen sie jedoch fundamentale Fragen auf, die ich – ohne sie beantworten zu können – an das Ende meines Textes stelle: Ist es notwendig, Pflege in Zahlen anzugeben, um ‚gerechte‘ Gutachten zu erstellen? Ist ein Begutachtungssystem vorstellbar, dass auf einer prototypischen Klassifizierung beruht, also weniger eng durch Standardkategorien begrenzt ist? Wäre es denkbar, dass Gutachten, die auf dem praktischen Wissen und den Beurteilungen der Gutachterinnen, Pflegekräfte und der Antragsteller_innen basieren, die Situation einer Person differenzierter erfassen? Könnte eine Begutachtungspraxis ‚fair‘ sein, die zwar keine scheinbar leicht vergleichbaren Zahlen liefert, dafür aber der „Logik“ weniger widerspricht? 35 Angesichts der Verankerung des bestehenden Begutachtungssystems in einem historisch gewachsenen, spezifischen Gesundheitssystem mag der Vorschlag einer prototypischen Klassifikation naiv anmuten. Und in der Tat blieb in diesem Text die Makro-Ebene ausgeblendet, weshalb hier nicht diskutiert werden konnte, welchen Einfluss etwa der ständig vorhandene Kostendruck im Gesundheitswesen oder der Wettbewerb zwischen den Kassen auf die Entwicklung von Begutachtungskategorien haben. Dies ist dem begrenzten Umfang dieser Studie geschuldet. Für zukünftige Forschungen böte es sich an, beispielsweise in einem kulturvergleichenden Zugang zu untersuchen, inwiefern die beschriebene binäre Logik ein den westlichen Gesellschaften inhärentes Phänomen darstellt. Und schließlich wäre zu fragen, ob und wie andere Praxen und Klassifikationen denkbar und praktizierbar wären.

35 Die

seit

Anfang

2009

wieder

erstarkte

Diskussion

über

den

Pflegebedürftigkeitsbegriff wird möglicherweise ein neues Klassifizierungssystem nach sich ziehen (BMG 2009). Welche Vor- oder Nachteile dieses mit sich bringt, bleibt abzuwarten.

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Gesund, bewusst und richtig Ethnographie einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation D ENNY C HAKKALAKAL

„Die kardiologische Rehabilitation ist der Prozess, bei dem herzkranke Patienten in einem ganzheitlichen Therapieansatz mit Hilfe eines multidisziplinären Teams darin unterstützt werden, die individuell bestmögliche physische und psychische Gesundheit und die soziale Integration wieder zu erlangen und langfristig aufrechtzuerhalten. Übergeordnetes Ziel der Rehabilitation ist nach SGB IX die Wiederherstellung und Sicherung der Teilhabe (Integration in Beruf, Familie und Privatleben, Erhaltung der Selbstständigkeit).“ (DGPR 2008: 7)

Die kardiologische Rehabilitation setzt nach Herz-Kreislauferkrankungen wie einem Herzinfarkt oder Eingriffen wie einem Bypass ein und gehört nach diesen Ereignissen zur normalen Therapie. Die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen e.V. (DGPR) spricht in ihrer Definition einer Rehabilitation vom „übergeordnete[n] Ziel […] der Wiederherstellung und Sicherung der Teilhabe“ (DGPR 2008: 7). ‚Untergeordnete‘ Ziele, die jedoch in ihrer Gesamtheit nicht weniger Zeit in Anspruch nehmen, sind in der „Kurzfassung der ‚Deutschen Leitlinie zur Rehabilitation von Patienten mit Herz-Kreislauferkrankungen‘ (DLL-KardReha)“ unter den Stichpunkten „Verbesserung der Prognose“ und „Beitrag zur Kostenstabilität“ (DGPR 2008: 8) benannt. Mit welchen Interventionen sollen diese Ziele erreicht werden und wie sieht die Praxis dieses Programms aus? In einer 3-wöchigen Feldforschung im Oktober 2007 bin ich diesen Fragen in einer Rehabilitationsklinik in Nordwest-

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deutschland nachgegangen und habe in meiner Analyse die Frage untersucht, wie versucht wird, über eine Stabilisierung eines neuen Gesundheitskonzepts, das neue Körperbilder und Alltagsroutinen bzw. wissen impliziert, eine Lebensstilveränderung 1 herbeizuführen. Ich habe dabei versucht, dieses neue Gesundheitskonzept anhand von Joseph Dumits (2002) Beschreibung der zwei Gesundheitsparadigmen des 20. Jahrhunderts zu erläutern. Dumit geht davon aus, dass es eine ältere Gesundheitsvorstellung 2 gibt, die als ‚inhärente Gesundheit‘ bezeichnet werden kann. Hier markiert Gesundheit den Normalfall und erst Angriffe von außen durch beispielsweise Viren oder Bakterien machen den Körper krank. Das neuere Konzept begreift den Körper als inhärent krank („inherently ill“; ebd.). Gesundheit muss hier immer bereits durch kontinuierliche Interventionen reguliert werden und wird als etwas zu Erarbeitendes und nicht als etwas Gegebenes verstanden. In der Rehabilitation wirkt letzteres Konzept handlungsanleitend. Hier wird versucht, gemeinsam mit Patient_innen einen Lebensstil zu produzieren, der Gesundheit in Relation zu persönlichen Risikofaktoren begreift und damit als etwas, das kontinuierlich beobachtet und bearbeitet werden muss. Durch die verschiedenen fachlichen wie therapeutischen Ansätze kommt es zu umfassenden Aushandlungsprozessen und Veränderungen, die fast alle Lebensbereiche betreffen: die eigene Körperlichkeit, Familien- bzw. Freundeskreis, Beruf, Freizeit usw. Vor allem konnte ich während meines dreiwöchigen Aufenthalts immer wieder den Versuch beobachten, ein neues Körpergefühl und eine detaillierte Selbstbeobachtung 3 zu fördern, die körperliche Leistungsfähigkeit, Stressempfinden und Alltagsroutinen wie Ernährung, Bewegung und

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Der Lebensstilbegriff findet zur Erklärung und Behandlung von chronischen Krankheiten wie Krebs, Herzkreislauf Erkrankungen oder Altersdiabetes immer mehr Einzug in die westliche Medizin. Dabei zeichnet sich die Inklusion von sozialen und kulturellen Faktoren in medizinischen Erklärungen durch eine unsichere und sich ständig veränderende Anwendung aus (Hanson/Easthope 2007).

2

Diese Gesundheitsvorstellungen sind in spezifischen sozio-historischen Kontexten hervorgebracht worden und können nur relational zu diesen Prozessen begriffen werden.

3

Zur Gesundheitseinschätzungen von Patient_innen vor und nach Myokard Infarkten vgl. Mæland et al. (1988).

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die Verwendung von Genussmitteln umfasst. Dies geschieht im Rahmen von Vorträgen, Gesprächen 4 und der Einübung neuer Praxen, beispielsweise beim Kochen, Blutdruckmessen, autogenen Training und Sport. Viele Wissenselemente der Reha, z.B. Wissen über gesunde Ernährung und die Wirkung von Bewegung, sind bereits vor der Ankunft in der Klinik Bestandteil des Alltagswissens der Akteure. Es stellte sich mir jedoch die Frage, wie die Reha versucht, dieses Wissen zu ‚aktivieren‘ und zu ‚stabilisieren‘. Im ersten Teil dieses Aufsatzes führe ich verschiedene Aspekte der Vermittlung eines Gesundheits- bzw. Krankheitskonzepts an. Dabei kommt gerade den Begriffen Risiko und Wahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle zu. Daran anschließend wird in einem zweiten Teil die Gesundheitspraxis des Blutdruckmessens beschrieben und analysiert. Ich werde zeigen, inwieweit ein bestimmter Blutdruck Resultat einer heterogenen Kooperation von Menschen, Technik und Medikamenten ist. 5 Die Bedeutung des Blutdrucks wird, wie der Wert selbst, in der Aushandlung zwischen den verschiedenen Akteuren hergestellt. Anhand dieses Beispiels werde ich schildern, wie durch die Herstellung dieser Werte auch ein inhärent kranker Körper produziert wird. Im letzten Teil führe ich aus, welchen Einfluss die Inkorporierung bestimmter Gesundheitskonzepte auf die Patient_innen selbst hat. 6 Ich erörtere, wie die Reha auch jenseits einer biopolitisch-kritischen Perspektive als Ort der Selbstaktivierung begriffen werden kann. Dabei geht es einerseits um den Kampf gegen die Krankheit und andererseits um die Überwindung von ‚unbewussten‘ Verhaltensroutinen im Alltag, wie dem Rauchen oder dem ungesunden Essen.

4

Zur Rolle von psycho-sozialen Aspekten in der Rehabilitation vgl. Burgess

5

Zur Rolle von Technik in medizinischen Rehabilitationen vgl. Kau-

et al. (1987). fert/Locker (1990). 6

Ich verwende hier den Begriff der Patient_in in zwei verschiedenen Weisen, zum einen als Fremdbezeichnung des medizinischen Systems und zum anderen als Selbstbezeichnung der Akteure in der Rehasituation.

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V ORGEHEN

UND

M ETHODIK

Diesem Artikel liegen die Ergebnisse einer ethnographischen Forschung in einer kardiologischen ambulanten Rehabilitation zugrunde. Die Feldforschung wurde im Oktober 2007 in einem dreiwöchigen Aufenthalt durchgeführt. Setting war eine stiftungsbasierte Rehabilitationseinrichtung in einer deutschen Großstadt. Ich schließe mich einer Tradition der Ethnographie von Krankheit (Faltermaier 1991) als Krise des Alltags an und folge dem Argument, dass gerade beim Umbruch das Alltägliche expliziter zum Ausdruck kommt und damit deskriptiv und analytisch eher fassbar wird. Die Datenerhebung fand anhand von 12 qualitativen halb-offenen Interviews 7 mit Patient_innen, informellen Gesprächen mit Therapeut_innen, dem behandelnden Oberarzt und weiteren Patient_innen, teilnehmender Beobachtung und der Durchsicht von Vortragsmaterialien, Handouts, Fragebögen, Fotos und meinen Feldnotizen statt (Flick et al. 2007; Alvesson/Sköldberg 2000). Die teilnehmende Beobachtung erstreckte sich von der aktiven Teilnahme an unzähligen Therapieangeboten von Gymnastik, autogenem Training über Kochen zu beobachtender Tätigkeit bei Vorträgen und zwei Aufnahmegesprächen. Am Anfang meines Aufenthalts wurde ich über eine Therapeut_innenperspektive in den Reha-Alltag eingeführt, da ich verschiedenen Therapeut_innen durch ihren Arbeitsalltag folgte. Als meine von Patient_innenseite ausgemachte Rolle im Feld sich änderte und ich nicht mehr als Teil des Rehapersonals wahrgenommen wurde, folgte ich eher Patient_innen auf ihren Wegen durch die Reha. Daher konnte ich die Reha aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Mir war es wichtig, neben narrativen Interviews – einem Versuch, Akteure selbst sprechen zu lassen – auch den praktischen Vollzug der Rehabilitation nachzuzeichnen (Reckwitz 2003). In der Analyse, die sich ei-

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Es wurden vier Interviews mit Frauen und acht Interviews mit Männern durchgeführt. In Bezug auf ihre sozialen Milieus kann nicht von einer homogenen Gruppe gesprochen werden. Zwar waren sie bis auf eine Austauschstudentin weiß und besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft, doch hatten die Interviewten unterschiedliche sozio-ökonomische Hintergründe. Die Gruppe setzte sich aus Arbeitern, Unternehmern, Angestellten, Akademikern und Arbeitslosen zusammen.

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ner materiell-semiotischen Perspektive bedient, sind beide Perspektiven zusammengelaufen: „Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass die störende Tätigkeit der Cyborg, wie von Haraway interpretiert, ‚materiell‘-semiotisch und nicht nur semiotisch ist. [...] Die Cyborg repräsentiert ein ‚materiell‘-semiotisch Unentscheidbares, d.h. ein Unentscheidbares, das die Grenzen zwischen materiell/semiotisch sowie real/virtuell und Fakt/Fiktion verschiebt.“ (Angerer et al. 2002: 53)

Diese Perspektive wird hier als ein Werkzeug genutzt, das es ermöglicht, Materielles wie Semiotisches in ihrer gegenseitigen Durchdringung zu begreifen. Jedoch stehen diese beiden Dimensionen nicht immer gleichwertig nebeneinander. Abhängig vom betrachteten Phänomen und der Fragestellung verschieben sich Schwerpunkte. So wird im ersten Kapitel vor allem die Bedeutung der Begriffe fokussiert, während im zweiten und dritten Kapitel der technisch/materiellen Dimension des Blutdrucks und des Körpers eine wichtige Rolle zukommt – ohne dass dabei die jeweils andere Dimension gänzlich aus dem Blick verloren würde. Der Produktion, Vermittlung und Aneignung von Wissen kommt in dieser Analyse eine zentrale Rolle zu. Kongruent mit einer materiell-semiotischen Perspektive verstehe ich Wissen als Praxis. Wissenspraxen setzen verschiedene Akteure, z.B. Patient_innen, Ärzt_innen, Technologien, Essen, Gewohnheiten usw., zueinander in Beziehung bzw. verändern bestehende Beziehungen auf spezifische Art und Weise. So wird eine Tätigkeit wie Blutdruckmessen verständlich als Koordinationsarbeit, bei der heterogene Akteure wie Wissen, Körper und Technik zusammenwirken. Ich präsentiere in diesem Artikel drei verschiedene Aspekte meiner Analyse: (1) Konzepte von Gesundheit und Risiko innerhalb der Reha; (2) die Bedeutung von Blutdruckwerten und ihre Produktionsbedingungen und (3) sportliche Betätigung der Patient_innen als eine Form der Selbstaktivierung. Im Kontext einer zeitlich begrenzten kardiologischen Rehabilitation, bei der sich die Patient_innen und das Personal selbst erst kennen lernen müssen, war es für mich einerseits leicht, als Teil des Feldes wahrgenommen zu werden. Den Patient_innen fehlte der Vergleich zu einer Reha ohne Ethnographen. Andererseits führte dies auch dazu, dass mir von verschiedenen Akteuren äußerst unterschiedliche Rollen zugeschrieben wurden. Ich habe mich bemüht, diese verschiedenen

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Positionen, die ich innerhalb dieser drei Wochen und in verschiedenen Beziehungen eingenommen habe, in der Analyse mit zu reflektieren.

G ESUNDHEIT , R ISIKEN

UND ANDERE

G EFAHREN

Inhärent krank sein Die kardiologische Rehabilitation setzt im ‚Normalfall‘ einige Tage bis zu zwei Wochen nach dem akuten Vorfall (in den meisten von mir beobachteten Fällen ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall) ein. Die meisten Patient_innen, mit denen ich gesprochen habe, wurden direkt im Krankenhaus auf diese Maßnahme aufmerksam gemacht. Entweder geschah dies durch die behandelnden Ärzt_innen und Sozialarbeiter_innen des Krankenhauses selbst oder Mitarbeiter_innen der Rehaklinik sprachen mit den Patient_innen. Für die Wahl einer ambulanten Reha waren oft finanzielle Gründe, z.B. Anfahrtskosten von Angehörigen zu stationären Kliniken, oder einfach der ambulante Charakter bestimmend. Dem Großteil der Patient_innen, die selbst noch keine eigenen Erfahrungen mit einer Rehamaßnahme hatten, war im Vorfeld nicht viel über Behandlungen bekannt. Einig waren sich alle darüber, dass ihr derzeitiger Zustand behandelt werden müsse. Gerade der gravierende körperliche Leistungseinbruch wurde beklagt. Am Aufnahmetag begann die Reha mit einem Aufnahmegespräch mit dem behandelnden Oberarzt. Ich konnte bei zwei dieser Unterredungen anwesend sein, von drei anderen wurde mir in informellen Gesprächen erzählt. Sie folgten alle ungefähr dem Schema: Vorerkrankungen, akuter Vorfall, Medikation, soziales Umfeld und Fragen zur psychischen Verfasstheit. Als Letztes wurden die Ziele der Reha formuliert. Dabei nahm der Oberarzt nicht nur eine körperliche Leistungssteigerung in den Blick, sondern unternahm „eine medizinische Evaluation mit individueller Risikostratifizierung“ (DGPR 2008: 10) des zuvor geschilderten Lebensstils. So wurden z.B. rauchende Patient_innen darauf aufmerksam gemacht, die Anzahl der Zigaretten am Tag zu vermindern oder komplett aufzuhören. Andere Themen waren Ernährung und Bewegung, die in den Therapieplan als ‚individualisie-

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rendes‘ 8 Element aufgenommen wurden. Viele reagierten überrascht über das Angebot an Vorträgen und ernährungswissenschaftlichen Beratungen. An diesem Punkt kam es zu einer ersten Kollision von zwei verschiedenen Gesundheitskonzepten. Den meisten Patienten_innen ging es vor allem um eine rein körperliche Therapie. Die Patient_innen betrachteten die Reha als Ort einer Wiederherstellung des alten Normalzustandes. Sie verstanden den Herzinfarkt als die Krankheit, die durch Therapie überwunden werden muss. Joseph Dumit beschreibt diese Vorstellung als das traditionelle Paradigma von Gesundheit: „This traditional paradigm is one of ‚inherent health‘, as it assumes that most people are healthy at their core and that most illnesses are temporary interruptions in their lives. […] In the 1990s and into the twenty-first century a very different notion of illness has taken center stage, one in which bodies are ‚inherently ill‘.“ (Dumit 2002: 124-125)

Anhand des Bildmaterials eines Gesundheitsvortrags lässt sich nachvollziehen, wie in der Reha versucht wird, beide Konzeptionen in eine Chronologie zu setzen. Das, was Dumit unter ‚inherent health‘ versteht, wird hier als großer Kreis dargestellt. Es wird dabei von einer 100%igen Gesundheit ausgegangen.

Gesundheit

Erkrankung

Bleibende Erkrankung

Quelle: Eigene Skizze einer Powerpointfolie aus dem Vortrag ‚Gesundheit‘, 10.10.2007.

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Diese Individualisierung ist jedoch eher als eine Anpassung an ein modularisiertes Programm zu verstehen. So finden sich rauchende Patienten im Nichtrauchertraining wieder, während übergewichtige Patienten sich in ernährungswissenschaftlichen Kleingruppen treffen.

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Krankheit erscheint als Kreis innerhalb des Gesundheitskreises und der Anteil der Gesundheit wird geringer: Da die Gesundheit nicht mehr bei 100% liegt, kommt es hier nun zum Übergang der inhärent gedachten Gesundheit zur inhärenten Krankheit. Es ist nicht mehr möglich zu 100% Gesundheit zurückzukehren. So wird den Patient_innen erläutert, welche bleibenden Schäden der Körper schon erlitten hat, z.B. die Vernarbung des Herzens nach einem Infarkt und die Ablagerungen in den Arterien, die zu einem Infarkt geführt haben. Diese Veränderungen des Körpers werden als irreversibel dargestellt und damit die Unmöglichkeit erklärt, zu 100% Gesundheit zurückzukehren. Die Patient_innen werden durch die Reha und vor allem durch ihren Lebensstilwandel den Kreis der Krankheit zwar verkleinern können, aber er wird nicht verschwinden. Es wird sogar stetiger Arbeit bedürfen, dass der Kreis sich nicht vergrößert. Mehr Bewegung, gesunde Ernährung, Nichtrauchen, Vermeidung von Stress und eine richtig eingestellte Medikation werden daher nicht als Lösungen zu einer ‚vollkommenen‘ Heilung vorgestellt, sondern als Kontrolle des inhärent Kranken. Die Motivation zum richtigen Handeln liefern die Vorträge in Form von Statistiken, z.B. Mortalitätsraten oder Wahrscheinlichkeitsdiagrammen. Es wird hier also das Konzept von inhärenter Krankheit vermittelt, das den Patient_innen nicht vollkommen fremd ist. Die Vorstellung, dass der Körper durch das Rauchen, schlechte Ernährung, Stress oder zu wenig Bewegung ‚geschädigt‘ ist, schien den meisten plausibel zu sein. In der Reha wird also nicht einfach ein Gesundheitskonzept durch ein anderes ausgetauscht, sondern es wird versucht, eine schon bestehende Vorstellung in alltägliches Handeln einzuschreiben und zu routinisieren. „The older notion is not gone, of course; it coexists, and we are quite good at code-switching between both views. But this new notion of illness is one that is now promoted to us in advertisements and in awareness campaigns throughout our daily life.“ (Dumit 2002: 124-125)

Ein wichtiger Hinweis auf die Existenz beider Gesundheitskonzepte waren die Rückblicke, die Patient_innen auf ihr Prä- Herzinfarktleben warfen: Hr. P: Ja –Oh! (lachen). Genau! Mhhm- Ja und viel wusste ich schon, weil meine Frau schon generell nach Weight Wachters und so in die Richtung

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kocht. Weil die muss auch so aufpassen aufs Gewicht. […] Und sie isst auch gerne. Und da muss man einfach aufpassen, das ist einfach so. Es gibt ja immer Möglichkeiten- geh mal an die Tankstelle- da ist es so geil bunt. (lacht und Pause) Genau. Nee da wusste ich schon recht gut Bescheid. Bilde ich mir ein. I: Also habt ihr schon früher versucht zu intervenieren? Hr. P: Ja meine Frau schon, aber mhhm- ich hab nicht wirklich angeschlossen. I: Also deine Frau hat es übers Essen und Kochen versucht… Hr. P: Ja schon- aber ich hab dann halt immer zusätzlich gegessen. Und dann auch nicht richtig drauf geachtet.

Hr. P hatte schon Erfahrungen mit der Vorstellung, dass Gesundheit nicht einfach vorhanden ist, sondern dass z.B. durch gesunde Ernährung an Gesundheit gearbeitet werden kann. Ein anderer Punkt, an dem Vorstellungen vom inhärent kranken Körper festgemacht werden, ist die genetische Vorbelastung: Hr. F: Doch - das ist dadurch wahrscheinlich gekommen, weil ich so hohe Cholesterinwerte habe. Aber es muss nicht unbedingt sein- bei mir ist es wahrscheinlich auch erblich bedingt, meine Mutter ist an so ner Sache mal gestorben - mal gestorben- ach so mal gestorben- man stirbt ja nur einmal. Die ist daran gestorben. Das war vor zwanzig Jahren, da war die Medizin wahrscheinlich noch nicht so weit und das war zu spät, nee. Dar war Schluss und Feierabend. I: Und den Cholesterinwert hatten sie also nicht im Blick, oder? Hr. F: Doch hatt ich im Blick - doch ich war leichtsinnig. Ich hab auch Tabletten dafür gekriegt, für Cholesterin und die hab ich in den Schrank gelegt. Da lagen sie ja auch gut, nee. Das war nicht gut, die hätte ich mal nehmen sollen. Aber es muss nicht - das hat Dr. L gesagt - es muss nicht unbedingt daran gelegen haben. Also genetisch bedingt ist es bei mir wahrscheinlich auch. Aber ich hätte es mir vielleicht ersparen können, wenn ich diese Tabletten eingenommen hätte. Tja so ist das.

Hier, wie in vielen anderen Unterredungen mit Patient_innen, wird ein erblicher 9 Zusammenhang zwischen der eigenen Erkrankung und dem Tod eines Angehörigen festgeschrieben. An dieser Beobachtung lassen sich zwei Punke zeigen: Zum einen, dass meist erst durch einen Todes-

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Zur Konstruktion eines genetischen ‚at risk’-Status vgl. Featherstone et al. (2006).

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fall die Erblast zum Thema wird und zum anderen, dass die genetischen Ursachen erst zum überzeugenden ‚Fakt‘ werden, wenn im eigenen Lebensstil nicht die Erklärungskraft liegt. I: Und wann wurde das mit dem Cholesterin festgestellt? Hr. F: Ohh bestimmt - acht Jahre, schätze ich mal. Aber ich dachte ich brauch so was nicht, weil ich aktiver Sportler war. Und sag, das kann gar nicht sein, also die Arterie geht von selber wieder frei, weil ich Ausdauersport mache. Aber das war wahrscheinlich nicht so. I: Und was für einen Ausdauersport haben sie gemacht? Hr. F: Ich war Leichtathlet und Marathonläufer. I: Wow und wie lange? Hr. F: Leistungssport hab ich betrieben ungefähr 25 Jahre. Nicht so joggen, sondern so – ähh den Begriff Leistungssport kriegt man, wenn man ungefähr 60 km in der Woche macht. Und das war bei mir der Fall. Ich hab natürlich normal gearbeitet, aber 60 km hab ich fast jede Woche gemacht. Und vor Wettkämpfen gesteigert auf 80. […] I: Und so ernährungs- technisch…? Hr. F: Ja ich hab auf die Ernährung, also während meiner aktiven Zeit sehr geachtet, aber wie gesagt ich hab das, das Cholesterin hab ich unterschätzt. Aber ich hab nach der Gesundheit gelebt, ich habe in meinem Leben noch nie eine Zigarette geraucht. Und kaum Alkohol getrunken, vielleicht mal einmal im Monat ein oder zwei Glas Bier- mehr war da nicht. Ach so und auch mit der Ernährung und so weiter - nicht unbedingt fettig gegessen, also viel Kohlenhydrate musste man ja nehmen, nee. Aber nee- ich hab nicht über die Stränge geschlagen, also das ich jetzt so viele schlechte Sachen gemacht hätte. Auch nicht unbedingt viel Fleisch- aber sie sehen trotzdem ich hab nen hohen Cholesterinspiegel gehabt.

Im Fall des Hr. F wird das Inhärent-krank-Sein genetisch verortet, aber der ‚Fehler‘ wird auch im Nicht-Einnehmen der Medikamente gefunden. Ein scheinbar mehr als gesunder Lebensstil verhindert nicht partout, inhärent krank zu sein und Gesundheitsarbeit ist auch das Einnehmen von Medikamenten. Die Erkrankung wurde ‚unterschätzt‘. Durch die Reha muss also kein vollkommen neues Krankheitsmodell vermittelt, sondern lediglich ein schon bestehendes in jedem ‚Einzel‘Fall aktualisiert werden. Der Normalzustand wird nicht im Bezug zu einer idealen Gesundheit verstanden, sondern eher in Relation zu den Risikofaktoren der schon erlittenen Erkrankung und einem bestimmten

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Gesundheitsverhalten. Jedoch gab es viele Beispiele, bei denen Patient_innen sich durch Ärzt_innen gezwungen fühlten, sich mit Krankheiten auseinander zu setzen, die sie nicht aufgrund von erlebten Symptomen entdeckten, sondern durch Untersuchungen: Hr. E: Wenn man nichts hat, geht man nicht hin! Zumindest ich bin so einer, wenn mir nichts weh tut, dann will ich den Doktor auch gar nicht sehen. Klar! Aber ich habe zu Hause `ne Katze und die hatte mich gebissen. Durch den Fingernagel durch- und dann bin ich hin - wegen `ner Tetanusspritze. Da hat er mich dann mal wieder gehabt. Und dann das ganze Programm mit mir durch. Und dann hat er wieder Blut abgenommen, er müsse gucken, ob ich ähh schon `ne Entzündung im Körper hätte. Das ist Samstag passiert und ähh Montag bin ich erst zum Arzt gegangen. Und dann wollte er gucken, ob ich ne Entzündung im Körper habe und wollte Blut haben. Und ja natürlich hat er alles gemacht. Da hat er für alle Untersuchungen Blut abgezwackt. Und das hat er mir nicht gesagt, aber das hab ich dann gesehen. Wenn er nur die eine Untersuchung hätte machen wollen, hätte ja so ne kleine Kanüle gereicht. Aber da er ja die Nadel hat stecken lassen und dann erst zwei, drei und vier. Vier Spritzen hatte er dann, wo er was rein zog. Und dann war’s mir schon klar, was er wollte.“

Die Krankheiten befinden sich im Körper, auch wenn man sie nicht spürt. Sie können gefunden werden. Viele Patient_innen stehen diesen Hausärzt_innenbesuchen zwiespältig gegenüber: Durch Untersuchungen wurde ihre Gesundheit in Frage gestellt, obwohl sich keine für sie erkennbaren Symptome feststellen ließen. Die Resultate wurden von Ärzt_innen gleichzeitig mit einem Risikobegriff verknüpft, der eine ‚ernsthafte‘ Konsequenz, wie z.B. einen Herzinfarkt, in den Raum stellte. In den meisten Fällen kam es jedoch nicht zu einem kompletten Codewechsel, der nun eine kontinuierliche Arbeit an Gesundheit mit sich brachte, sondern wurde wie im Fall des Hr. F die Erkrankung ‚unterschätzt‘ oder wie im Fall von Hr. W die explizite Frage nach der Zwangsläufigkeit der Risiken gestellt. I: Und wie standen sie dazu, als Ihnen aufgezählt wurde, was alles passieren kann? Hr. W: Der kann ja viel erzählen. Er sagt ja auch selbst heut morgen: ‚Es kann – es muss nicht – es kann. Sie können das kriegen, sie können das kriegen.‘ – ‚Muss ich das?‘ – ‚Nein, das ist nicht gesagt, aber sie können.‘

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Vor der Erkrankung konnte nicht mit einer Zwangsläufigkeit argumentiert werden, und auch nach einem Herzinfarkt wird weiterhin mit einem Risikobegriff gearbeitet, der dies ‚verbietet‘. Jedoch wird eine Erwartung hervorgebracht, die ein Risiko nun zu einer Gefahr macht. Dabei spiegelt sich in der Erwartung ein Entscheidungskonzept, das aufgrund unsicherer Informationen agiert. Es ist zwar nicht zwangsläufig und mit Sicherheit ein neuer Herzinfarkt zu prognostizieren, jedoch ist das zur Gefahr geronnene Risiko es wert, die ‚richtige‘ Entscheidung auch aufgrund unsicherer Informationen 10 zu treffen (Samerski 2002: 23). Der Risikobegriff in der Reha bekommt jedoch erst durch den vorangegangen Herzinfarkt eine neue Konnotation. Wahrscheinlich ein Risiko „In der Umgangssprache deutet das Wort wahrscheinlich oder der Ausdruck aller Wahrscheinlichkeit nach meist auf eine Mutmaßung oder eine Gewissheit, eine abgeschwächte Form des Führwahrhaltens hin. […] In der Umgangssprache beruhen solche Wahrscheinlichkeiten auf einer Einschätzung der konkreten Situation, aus der gewisse Anzeichen auf zukünftige Ereignisse hindeuten. […] In der Statistik bezeichnet Wahrscheinlichkeit die Häufigkeit eines Ereignisses ungeachtet der Ursachen und konkreten Umstände. […] ‚Wahrscheinlichkeit ist eine relative Häufigkeit auf lange Sicht, bei einer sehr großen Menge an Versuchen oder Ereignissen‘.“ (Samerski 2002: 107) „In den meisten Disziplinen, z.B. in der Ökonomie oder in der Medizin, steht Risiko für eine kalkulierbare, quantifizierbare Größe, in der die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses mit eingeht. Auf der anderen Seite ist Risiko ein umgangssprachlicher Begriff, der oft synonym mit Gefahr oder Wagnis verwendet wird. […] Die Vermischung von wahrscheinlichkeitstheoretisch definierten Risiken mit umgangssprachlichen Konnotationen führt zu einer eigentümlichen, verwirrenden Rede über Risiko. Im populärwissenschaftlichen Diskurs

10 Der Begriff Entscheidung im Bezug auf Patienten und neuere ‚InformedConsent‘-Konzepte bezieht sich größtenteils auf Entscheidungen zu medizinischen Eingriffen wie OPs, Tests usw. Für mein Feld möchte ich diesen Entscheidungsbegriff erweitern, da sich vor allem der Alltag bzw. der Lebensstil als medizinisch relevant erweist. Eine medizinische Entscheidung ist also schon, ob zur nächsten Zigarette gegriffen oder ob Sport getrieben wird.

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schwingt bei der Rede vom Risiko, sei es das „Gesundheitsrisiko“ oder das „Verkehrsrisiko“, immer die Existenz einer drohenden Gefahr mit. Gleichzeitig haftet dem Bergriff jedoch die Autorität eines wissenschaftlichen Fachwortes an.“ (Samerski 2002: 110-111)

In unzähligen Präventionsprogrammen wird eine so genannte ‚at-riskRolle‘ proklamiert. Diese wird Personen zugeschrieben, die aufgrund der ‚üblichen‘ Risikofaktoren, wie Ernährung, Bewegung, Stress, familiäre Vorbelastung usw., eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung aufweisen. In der Reha hingegen hat sich die Wahrscheinlichkeit im akuten Vorfall körperlich bleibend manifestiert. Man kann nicht einfach geheilt werden und dann weiterleben, sondern man lebt krank weiter und muss sich sorgen, um nicht noch kränker zu werden. So drückt z.B. eine Mortalitätsstatistik, die von 40% Mortalität nach einem Herzinfarkt ausgeht, nicht nur eine höhere Wahrscheinlichkeit gegenüber einer nicht vorbelasteten Bevölkerung aus. Sie wird aufgrund der erlebten körperlichen Manifestierung eines Risikos – dem Herzinfarkt – als eine realere physische Bedrohung (den Tod) wahrgenommen. „Das Risiko erscheint also als das Maß für den bereits existierenden Fehler, die Bedrohung im eigenen Leib. Und damit beziehen sich die statistischen Zahlen plötzlich auf die anwesende, konkrete Person. Wahrscheinlichkeitsberechnungen erhalten den Anschein, als kämen sie nicht aus dem Computer, sondern würden biologischen Vorgängen entsprechen.“ (Samerski 2003: 22).

Im Aufnahmegespräch kommt es zur Thematisierung der ‚persönlichen‘ Risiken, zu einer Art Translokation von Begrifflichkeiten aus der Wahrscheinlichkeitsberechnung in den individuellen Körper. Persönliches Risiko verlangt nach persönlichem Risikomanagement. Das Rehakonzept ist daher bemüht, Patient_innen zu selbstverantwortlichen Entscheidungsträgern zu machen. Die Informationen, egal ob sie in Gesundheitsvorträgen oder Einzelgesprächen mit der Psycholog_in oder der Ärzt_in geliefert werden, sollen informierte Patienten_innen hervorbringen, die die richtigen Entscheidungen in ihrem Alltag treffen. Silja Samerski bezieht sich hier auf die Idee von einem neuen pädagogischen Paradigma – dem des „lebenslangen Lernens“:

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„Schon vor den politischen Auseinandersetzungen um das Entscheidungsprivileg der Ärzte gab es einen Trend innerhalb der Medizin, den Patienten nicht mehr als schweigenden, quasi mechanischen Körper zu verstehen […]. „Gesundheit“ wird dabei zum individuell angepassten Funktionieren innerhalb vorgegebener Lebensbedingungen; Kontrolle und Führung durch Autoritäten sind in diesem Denkstil durch die Stimulation zur flexiblen Selbst-Steuerung und zum Selbst-Management verdrängt worden.“ (Samerski 2002a: 20).

Nicht nur eine geregelte Anleitung soll das neue informierte Selbst produzieren, sondern durch Informationskonsum und darauf aufbauend durch Selbstregulation soll es sich immer wieder neu konstituieren. Die Aufgabe des ‚Gesundheitspersonals‘ ist es, diesen Informationsfluss zu regeln. So waren während meiner Feldforschung besonders die Sitzungen der Ernährungswissenschaftlerin interessant, bei denen häufig auf schon bestehendes Allgemeinwissen rekurriert wurde, um es dann durch neueste ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse zu berichtigen. Dieses Wissen wurde dann ständig im Alltag der Patient_innen zur Anwendung gebracht. So wurden den Teilnehmer_innen Bögen ausgehändigt, in denen sie ihre Essgewohnheiten für einen kurzen Zeitraum tagebuchartig protokollieren sollten. An dieses Tagebuch war zusätzlich eine Ernährungspyramide getackert. Neues Wissen und alltägliche Verhaltensweisen wurden so sogar physisch miteinander in Verbindung gebracht. Dies kann als ein Aspekt von ‚Self-Monitoring‘ 11 begriffen werden. Die zwei Standbeine eines Risikomanagements sind also Informationskonsum und Selbstregulation. Diese beiden Pole sind aber in einem wechselseitigen Verhältnis zu sehen. Informationskonsum leitet Selbstregulation an, welche wiederum nach spezifischen Informationen verlangt. Es wird immer wieder eine sich selbst managende Patient_in produziert und stabilisiert: eine Patient_in, die weiß, welches Wissen relevant und aktuell ist, aber auch nur relevante Informationen ‚wahrnimmt‘. In meinem nächsten Kapitel werde ich zeigen, wie die Produktion von Körperwerten (z.B. Blutdruck) einen inhärent kranken Körper plus Riskiomanagement zu produzieren hilft.

11 Auf das Konzept ‚Self-Monitoring‘ gehe ich im Kapitel Blutdruckarbeit näher ein.

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B LUTDRUCKARBEIT In der Reha müssen Risiken gemanagt werden und wird Gesundheit als Zustand hervorgebracht, der ständige Arbeit erfordert. Am Beispiel des Blutdrucks möchte ich verschiedene Aspekte dieser Arbeit beleuchten. Ich werde zum einen zeigen, wie Blutdruck als vermittelndes Konzept zwischen Ärzt_innen und Patient_innen funktioniert. Zum anderen rücke ich in den Vordergrund, wie der Blutdruckwert als bedeutungsvoller Fakt produziert wird, der beobachtet und gemessen werden kann und muss. Diese beiden notwendigerweise miteinander verknüpften Dimensionen der Produktion des Blutdrucks werde ich an den routinisierten Praktiken des Messens, Beobachtens, Interpretierens und Intervenierens beschreiben und analysieren. Blutdruck messen: Wie der Wert zum Fakt wird Die meisten meiner Interviewpartner erzählten in Bezug auf die Zeit vor dem Herzinfarkt davon, dass von Hausärtzt_innen ein zu hoher Blutdruck diagnostiziert wurde. Einige besaßen nach dieser Diagnose ein eigenes Blutdruckgerät, das aber recht schnell in Schubladen verschwand. An seinem zweiten Rehatag formulierte ein Patient es so: I: Messen sie jeden Morgen? Hr. D: Ne, Ne – hab ich anfangs gemacht. Jetzt mach ich das nicht, da macht man sich nur verrückt. […] Ich hab auch ’nen Blutdruckmessgerät, früher hab ich immer Blutdruck gemessen. Oh Gott, o Gott, und dann nach zwei Minuten wieder gemessen und wieder was ganz anderes angezeigt. Jetzt hab ich das Ding irgendwo hinten in ’ne Ecke gestellt- ich benutz, das nicht mehr. I: Also gar nicht mehr, oder? Hr. D: Ja, jetzt wird’s ganz kritisch. Aber ich glaub jetzt hab ich ihn schon viele Jahre nicht mehr benutzt. Weil ich muss ja auch regelmäßig zum Hausarzt und zum Kardiologen und da wird der Blutdruck ja auch immer kontrolliert. Ich weiß jetzt eben, dass ich gut eingestellt bin- mit den Tabletten. Und man darf die nur nicht vergessen.

In der Reha wurde die Messung des Blutdrucks allerdings zu einer alltäglichen Angelegenheit. Am Aufnahmetag bekam jede Patient_in einen so genannten Selbstmessbogen. Auf diesem sollten die Patient_innen täglich die Werte Blutdruck, Puls und Gewicht festgehal-

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ten. Diese Werte wurden im Laufe des Tages von Therapeut_innen abgefragt und in die Patient_innenakte eingetragen. Auf dem Flur der kardiologischen Reha befand sich die „Selbstmessstation“. Sie bestand aus einem Stuhl, einem Tisch mit Blutdruckmessgerät und einer Waage daneben. Sie war ausgestattet mit einlaminierten Hinweisen und Bedienschildern. Messwerte entstehen also nicht einfach in einem abstrakten Raum, sondern werden in einer spezifischen Situation hergestellt: Hr. E: Der ist ziemlich hoch. Das ist je nachdem, also wenn ich morgens hier jetzt komme, ziehe mich um, gehe die Treppe hoch, so übern Gang und gleich an den Automat hier vorne. Zum Blutdruckmessen, dann ist er hoch. Das hab ich beim ersten Mal gemacht. Beim zweiten Mal sagt man hier zu mir, ‚Ja da musst du ’nen Moment warten, hier, dann sackt der ja wieder, dann iss es ja auch nicht so hoch‘. Dann hab ich gedacht halt, warum lauf ich die Treppe, das strengt doch an. Nehm ich den Fahrstuhl, dann bin ich Fahrstuhl gefahren, ganz langsam gegangen hier hin und schon waren es 40 weniger. Also das kann man alles so ’nen bisschen steuern.

So wurden Hinweise gegeben, nach dem Treppensteigen zu warten, um nicht ‚verfälschte‘ Ergebnisse zu bekommen. Blutdruckmessen besteht nicht einfach aus dem Akt, die Manschette anzulegen, einen Knopf zu drücken und den Wert abzulesen. Es kommt auf die Situation an, also auch darauf, was vor dem Messen geschehen ist. Ebenso spielt die Körperposition eine Rolle, vor allem die Position des zu messenden Arms zum Herzen. Unterstützt durch medizinische Vorträge entsteht so die Vorstellung eines richtigen Wertes, den das Gerät jedoch nur liefern kann, wenn die Patient_innen es ‚richtig‘ benutzen. Nur das richtige Messen liefert einen Wert dem faktischer Charakter beigemessen werden darf. Dabei zeigt der folgende Abschnitt, dass die Flexibilität und Steuerbarkeit des Wertes seine Gültigkeit als Indikator für Rehaerfolg und Risikoparameter in den Augen der Patient_innen nicht einschränkt. Blutdruck lesen: Dem Wert Wert beimessen Die Messung des Blutdrucks wurde zu einer Reharoutine. Patient_innen konnten selbst die Entwicklung ihrer Werte und damit das Anschlagen bzw. Nichtanschlagen ihrer Medikation beobachten:

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I: Und hast du dann regelmäßig gemessen? Fr. S: Nee, ich hab das dann auch aufgegeben, weil es ändert ja nix. (Pause) Ja wenn ich die Medikamente nicht nehmen kann, ich hätte die Betablocker durchnehmen müssen. Egal wie! Und jetzt versuchen Sie es hier noch mal. Ich hab gestern angefangen damit und mal sehen ob alles gut geht. Vielleicht reicht es ja, ich fühl mich viel leistungsfähiger, mit diesen Tabletten als ohne. Aber es ist die Frage wie lange die Bronchie das mitmacht. Mal sehen. I: Das merkst du sofort, dass die [Medikamente] irgendwie anschlagen? Fr. S: Im positiven Sinn? Ja, merk ich sofort, die Pulsfrequenz bleibt gleichmäßiger, der Blutdruck bleibt gleichmäßig unten; ist ’nen bisschen niedrig, aber stört mich nicht. Und die Pulsfrequenz ist nicht mehr so enorm hoch, wie sie vorher war bei Belastung. Also ist schon sehr angenehm.

Der Blutdruck wurde innerhalb der Reha ein maßgeblicher Index für den Zustand des ‚beschädigten‘ Gefäßsystems. Es stellt sich die Frage, welchen Unterschied es macht, ob die Patient_innen ihren Blutdruck von der Ärzt_in erfahren oder ob sie ihn selbst messen. Blutdruckmessen wurde zu einer routinisierten Arbeit, zu der ein bestimmtes Knowhow gehört, ein technisches Artefakt, ein zu messender Körper mit Blutdruck und eine bestimmte Disposition. Im Unterschied zu den punktuellen Messungen bei Hausärzt_innen wurde in der Reha das „self monitoring“ (Mol 2000: 13) als Alltagspraktik eingeführt. Einer der Hauptaspekte bei dieser ‚Selbstbeobachtung‘ in der Reha ist die Regelmäßigkeit. Dabei geht es nicht nur um die Routine des Messens selbst, sondern vor allem um das Aufzeichnen der Werte. Das Gerät liefert Zahlen, Informationen für die Ärzt_in und die Patient_innen. Diese Zahlen ermöglichen in ihrer kontinuierlichen Zusammenstellung ein ‚Bild‘ des Blutdrucks. Dabei gerät die ursprüngliche Flexibilität und Manipulierbarkeit des Blutdruckwertes rasch aus dem Blick. Der Wert wird durch die Routinisierung von seiner Produktionspraxis gereinigt und stellt nunmehr eine direkte Repräsentation des Blutdrucks dar. Der Wert als Fakt ist der Blutdruck. In einem zweiten Schritt werden die Zahlen mit einer Körperwahrnehmung verknüpft: „Ich fühl mich viel leistungsfähiger […]. Ja, merk ich sofort, die Pulsfrequenz bleibt gleichmäßiger, der Blutdruck bleibt gleichmäßig unten“. Körperwahrnehmung wird hier nicht sensualistisch verstanden, sondern der Blutdruck wird in seiner Messung, im Aneinanderreihen von Werten usw. ‚spürbar‘. Körperwahrnehmung wird zu einem vermittelten Prozess, genauer zu einer ‚distributed‘

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Körperwahrnehmung (Mol/Law 2004), d.h. zu einer Körperwahrnehmung, die über verschiedene Akteure verteilt ist. Ein messendes Gerät ersetzt hier nicht einfach Sinne, sondern wird eingefügt in eine Wahrnehmung, die in der Reha durch Körper, Geräte, Werte, Tabellen konstituiert wird. Das Wissen um den Blutdruck und das Messen bewirken erst gemeinsam, dass sich Patient_innen als inhärent krank verstehen. Dies wird gerade im Bezug auf eine Zukunft interessant, in der spürbare Symptome verschwinden. Praxen wie das Messen und Beobachten des Körpers sind immer wieder Bestätigung und Erinnerung an den kranken Körper. Man muss diese verteilte Wahrnehmung jedoch noch um eine weitere Komponente erweitern: die Körperbeobachtung durch die Ärzt_innen. Hier kommen wir in den Bereich, an dem sich die Arbeit an der Gesundheit als vermittelte Arbeit darstellen lässt. Der Ärzt_in werden bei dieser Kooperation bestimmte Kompetenzen zugesprochen. In der Reha stellt sich den meisten Patient_innen der eigene Körper und seine Funktionsweise als Rätsel dar. Unsicherheit stiftet vor allem, dass sie nicht wissen, wie sich ihre Krankheit äußert. Im Alltag besaßen sie eine gewisse Autorität über ihr Körperwissen und ihre Sinne. Innerhalb der Reha besitzt nun das medizinische Personal mehr Wissen über ihren Körper und die Messinstrumente scheinen mehr und genaueres auszusagen als die eigenen ‚Sinne‘. Ein Patient beschrieb seine Verunsicherung folgendermaßen: Hr. O: Jetzt meint hier Dr. L noch, jetzt muss ich hier noch den Blutzuckertest machen. Das da jetzt auch noch was wär, nee? Tja, jetzt finden se auch alles. Sonst hat da noch nie einer nach wat gefragt. Mit Zucker und so wat. Ich wüsste auch nicht, dass ich Zucker hab. Ich weiß auch nicht wie Zucker sich bemerkbar macht – kann ich nicht sagen.

Erst die Möglichkeiten des Oberarztes versprachen Aufklärung, er hatte durch seine Gerätschaften die Möglichkeit, die ‚versteckten‘ Wahrheiten des Körpers aufzudecken. Das EKG scheint die Kompetenz des Arztes, den eigenen Körper besser zu kennen als man selbst, zu untermauern: Hr. O: Er meint ja bei 125 Watt, wenn ich die trete, dann fängt das etwas unregelmäßig an zu ticken, das. Das merk’ ich überhaupt nicht. Er sieht das auf seinem Bild da- irgendwo. Auf seiner Kurve da. Auf so ’nem Langzeit-EKG, da kannste ja alles drauf sehen. Wat man so die letzten 24 Stunden, man hat

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das ja um ’nen Bauch. Der kann dir genau sagen: Da haste Fernsehen geguckt. Da und da biste nachts aufgestanden und hast gepinkelt; dat weiß der ja alles. Jetzt schlägt das ja angeblich zu langsam nachts, das Herz. Unter 40. Aber da kriegste nichts mit.

Genau wie der Blutdruck funktioniert auch das EKG als etwas Vermittelndes zwischen Patient_innen und Ärzt_innen. Die Werte und Handlungen werden nicht in einem homogenen Raum produziert, sondern die Arbeit liegt selbst in ‚verschiedenen‘ Wissens- und Herstellungspraxen von Gesundheitspersonal und Patient_innen. Patient_innen messen und beobachten ihren Blutdruck mit einem anderen Wissen über den Blutdruck und aus einem anderen Selbstverständnis heraus als das Gesundheitspersonal. Ihnen geht es konkret um die Beobachtung ihres Körpers und ihrer Gesundheit, um eine gewisse Sicherheit zu erlangen, die ihnen im Laufe ihrer Erkrankung genommen wurde. Auch der Akt des Sich-Selbstmessens zeigt hier die unterschiedlichen Weisen der Produktion des Wertes. Jedoch wird letztendlich ein Blutdruckwert als Fakt produziert, der die Abstimmung dieser verschiedenen Praxen garantiert. Über die gemeinsame Arbeit von Medikamenten, Technik, Ärzt_in und Patient_in bekommt der faktische und aufschreibare Blutdruckwert eine andere Realität als ein abstraktes Konzept vom Blutdruck. Auch wenn Gesundheitspersonal und Patient_innen verschiedene Vorstellung vom Blutdruck haben, sind diese Unterschiede in ihrer faktischen Form z.B. in einer Blutdruckkurve nicht mehr relevant für eine Kooperation, da nun Fakten produziert wurden, über die beide Seiten sprechen können, ohne die verschiedenen Herstellungs- und Wissenspraxen reflektieren zu müssen und ein grundlegend gleiches Verständnis vom Blutdruck zu haben. „Aus anderer Perspektive haben sich die Soziologen Armstrong (1983) und Arney (1982, Arney und Bergen) dem Phänomen zugewandt, daß Patienten heute nicht mehr Behandelte und damit passiv, sondern aktive Mitarbeiter des Arztes sein sollen. Ihre These ist […], daß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient kooperativ und nicht mehr hierarchisch gedacht wird; der Arzt diagnostiziert beim Patienten nicht mehr eine Krankheit, die er dann zu beheben versucht, sondern dem Patienten wird ein neues Selbst zugeschrieben, ein Profil aus einer Vielzahl verschiedener Parameter, das der Arzt in Teamarbeit mit dem Patienten entlang einer optimalen ‚Laufbahn‘ (‚trajectory‘) zu managen versucht.“ (Samerski 2002: 24)

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Das detaillierte „self-monitoring“ und die ‚professionellen‘ Beobachtungen in der Reha liefern der Kooperation von Ärzt_in und Patient_innen ihre wichtigste Ressource: Daten, mit denen ‚gearbeitet werden kann‘. Durch sie kann die Therapie verändert werden: Z.B. können Medikamente ‚individueller‘ angepasst werden. „Mit Trajekt ist die Verlaufskurve verzahnter Arbeitsleistungen von Patient und Pflegendem (Arzt) im Krankheitsprozeß gemeint, eingebunden in einem Kontext ausgehandelter institutioneller Regelordnungen.“ (Gerhardt 1991: 314) In diesem Kapitel ist die ‚Laufbahn‘ – die ‚trajectory‘ des Blutdrucks im Fokus, welche für Ärtzt_innen und Patient_innen nicht nur zur Repräsentation des kranken Patientenkörpers wird, sondern auch zur Versinnbildlichung eines ganzen Lebensstils. Die Veränderbarkeit des Werts fordert also zum einen eine regelmäßige Beobachtung, zum anderen aber auch einen verstärkten Einsatz, immer wieder einen Normalwert herzustellen. Dabei kann nicht mehr nur auf die individuelle körperliche Leistung vertraut werden, z.B. vor dem Messen nicht Treppen steigen, sondern es müssen Medikamente als Hilfsmittel fest eingeplant werden. Die Evaluation dieser Bemühungen erfolgt dabei durch den Arzt. Ein Patient benannte es so: Hr. E: Ich messe morgens zu Hause und kriege morgens und abends Tabletten dafür und es kommt so allmählich. Ich liege jetzt so bei rund 165, 170 morgens, auf nüchternen Magen. Und da muss ich dann runter, so 120 ungefähr. Dann ist es gut. Aber mal gucken wie sich das jetzt anlässt. Ob ich so weitermachen kann, ob das so peu à peu sackt. Oder wir die Drogen erhöhen müssen.

Die Blutdruckarbeit wird gemeinsam bestritten – ‚wir‘ müssen intervenieren, um an der Gesundheit zu arbeiten. Interessant sind hier die Beispiele, in denen sich die Patient_innen mit dem Oberarzt zusammen als ‚wir‘ bezeichnen (zwar mit einer zynischen Distanzierung durch das Wort „Drogen“), um gegen den Körper, in diesem Fall speziell gegen das Herz, vorzugehen: I: Und das [Medikament] ist für den Blutdruck, oder? Hr. N: Ne das ist die für die Leistung, nee? Die Pumpfunktion vom Herzen, so praktisch, dass das nicht anfängt zu rappeln, da- zu schnell wird. Wenn ich anstrenge- dass der [das Herz, DC] nicht sofort auf 120 Schlag macht, oder so. Auch jetzt so mit Fahrrad fahren, normalerweise wenn der fährt, und hat nicht diesen Betablocker, dann geht das ja ruckzuck auf 100 Puls, nee? Und wir

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kommen auf siebzig, achtzig. Und wenne noch mehr haben willst, dann musst aber schon richtig treten.

Das Herz fängt an „zu rappeln“, „wenn der [das Herz]“ Fahrrad fährt. Und „wir kommen auf siebzig, achtzig“ – Viele Patient_innen berichteten auf ähnliche Weise, über die gemeinsame Arbeit am und oft gegen den Körper. ‚Wir‘ bezeichnet dabei keinen pluralis majestatis, sondern das koordinierte Handeln eines heterogenen Netzwerks aus Ärzten, Medikamenten, Körpern, Messtechniken usw. Blutdruck wird für die Patient_innen zu einem ‚Fakt‘, das ihren Alltag mit strukturiert: über das Messen, das Beobachten, das Einnehmen der Medikamente, das Sporttreiben, den Stressabbau usw. All diese Bereiche werden durch den Blutdruck miteinander in Verbindung gebracht und erst durch den Blutdruck in ihrer Gesundheitsrelevanz wirklich sichtbar. Es scheint, als ob der Blutdruckwert nicht nur in seiner vermittelnden Funktion als Fakt, über den Patient_innen und Ärtzt_innen in gleicher Weise sprechen können, wirkt. Vielmehr mobilisiert und legitimiert der Blutdruck weitere Handlungen, wie z.B. gesunde Ernährung oder richtiges Bewegen, erst auf spefizische Art und Weise. Darüber hinaus besteht der Kooperationsprozess gerade in den Beispielen, die ich angeführt habe, darin, dass Patient_innen die Autorität des Gesundheitspersonals, mehr über ihren Körper bzw. ihre Gesundheit zu wissen, akzeptieren. Wenn die Akteure das Rehaprogramm mitgehen, werden ihre Körper und Gesundheitskonzepte dadurch uniformiert. Auf der einen Seite bestimmt das Gesundheitspersonal die „obligatory points of passage“ der Reha, d.h. es definiert spezifische Verhaltensregeln und physiologische Werte, die die Patient_innen sich aneigenen müssen, um die Reha erfolgreich zu absolvieren (Star/Griesemer 1989: 393). Die Tatsache, dass diese Vorgaben in ihrer Grundausrichtung nicht verhandelbar sind, trägt maßgeblich zur Stabilisierung des Codes des inhärent kranken Körpers bei. Auf der anderen Seite lässt das Gesundheitspersonal unzählige Re-Interpretationen und Transformationen dieser Vorgaben durch die Patient_innen zu, die diese Konzepte umarbeiten müssen, um sie ihrem jeweiligen Alltag anzupassen. Interessant ist dabei der Fokus des Personals vor allem auf die richtige Handhabung und das Know-how, also das Handlungswissen und nicht auf ein Faktenwissen, im medizinischen Sinne. Im Folgenden möchte ich verdeutlichen, wie über Reflexionen

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der Akteur_innen über ihren Körper und ihr Alltagsverhalten eine Zukunft entworfen wird, die einem inhärent kranken Körper entspricht.

V OM ALLTÄGLICHEN S ELBST ZUM BEWUSSTEN S ELBST : S PORT ALS S ELBSTAKTIVIERUNG Den größten Komplex der Reha nimmt der körperliche Aufbau ein. Hier sind besonders zwei Behandlungen anzuführen. Neben dem Ergometertraining, bei dem während eines Fahrrad-Trainings ein EKG mitgeschrieben wird, gibt es Übungen in einem Kraftraum, bei denen verschiedene Geräte den Muskelaufbau unterstützen. Das Ergometertraining wurde individuell mit dem Oberarzt und den Therapeut_innen besprochen. Das EKG bleibt dem Gesundheitspersonal – den ‚Profis‘ – überlassen. Zwar wollten Patient_innen hier und da ihr EKG einsehen. Sie verloren aber nach einigen Blicken auf die Kurven und einigen erklärenden Worten der Therapeutin schnell das Interesse. Anders verhielt es sich mit dem Kilowattwert. Dieser wurde während der täglichen Einheiten zu dem Wert, mittels dessen der eigene Leistungszuwachs beobachtet werden konnte. Fr. I: „Morgen muss ich unbedingt mal mehr Watt treten, ich will ja nicht der letzte hier sein.“ Anhand dieses Wertes wird ‚objektiviertes‘ Wissen über den Körper geliefert. Seine Interpretation spielt sich im Rahmen von ‚je mehr Watt, desto besser geht es mir‘ ab. Auch beim Wattwert haben wir es mit einem Wert zu tun, der erst in seiner langfristigen Auswertung eine Ressource für das Wissen um den Körper bietet. Für die Therapeut_innen erhält er erst seine Bedeutung, wenn er in Relation zu den Kreislaufwerten gesetzt wird. Im Ergometertraining sind für die Kontrolle dieser Werte die Sporttherapeut_innen zuständig. Sie entscheiden, wie viel Watt Leistung erbracht werden muss, damit die EKG-Werte im Normbereich bleiben. Der Wert und das ‚Erstaunen‘ über die eigene körperliche Leistungsfähigkeit wurden zur Motivation des Trainings: I: Und der Sport hat der denn was gebracht? Hr. W: Ja. Es ist zwar ein bisschen wenig, also nur morgens und nachmittags, aber im Grunde genommen bin ich schon wieder fit; meine ich. Ich kann zwar noch keine Bäume ausreißen, aber für den normalen Alltag? – Fast. Wenn ich überlege, wie kaputt ich vorher war, bevor ich überhaupt ins Krankenhaus kam, zehn Meter laufen, aus dem Wohnzimmer aufstehen, durchs Wohnzim-

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mer, lauf stur zur Toilette. Und wenn ich dann wieder kam: ‚hä,hä,hä [hecheln]‘ – Ich war am Ende! Und jetzt fahr ich so-, das hat sich echt-, ich habe mich gewundert. Erster Tag, wie ich hierher kam, war ja morgens gleich als erstes Radfahren dran, Ergometertraining. Mich hat es gewundert, dass ich es ’ne halbe Stunde überhaupt durchgehalten habe. Das hat mich sehr gewundert.

Innerhalb der Reha kann man eine Chronologie dieser Ergostunden zeichnen. Standen am Anfang einfach noch die Länge des Trainings für die Leistungsfähigkeit, so war am Schluss die erreichte Wattzahl Maß des Erfolges. Hr. N: Wenn ich jetzt hier fertig bin mit Reha, oder den Tag davor, oder den letzten Tag, oder wat. Dann müssen wir noch mal Belastungs-EKG… - und wo ich dann 175 Watt schaffen muss. Hab jetzt 150 Watt geschafft, da muss ich noch 175 schaffen, nee?

Am Beispiel der Wattzahlen ist zu erkennen, wie Bewegung als ‚Arbeit an Gesundheit‘ gedeutet wird. Die verringerte Leistungsfähigkeit ist für die Meisten der Punkt, an dem sich das erste Mal eine Veränderung ihres Gesundheitszustands spüren lässt. Die Rückgewinnung der Leistungsfähigkeit ist für viele Patient_innen der Versuch der Rückgewinnung der Gesundheit. Die meisten Patient_innen empfanden gerade die sportliche Betätigung als das ‚Beste‘ an der Reha. Man kann hier die körperliche Leistungssteigerung auch als eine Art von Selbstaktivierung verstehen. Patient_innen konnten sich im Sport 12 gegen die Krankheit zur Wehr setzen und über die Werte vermittelt, diesen Kampf und ihre Fortschritte beobachten. Bei einigen Patient_innen hatte auch das Gewicht diese Funktion, jedoch wurde die sportliche Betätigung von den meisten der Patient_innen als die ‚wirkliche‘ Rehabilitation ihrer Körpers verstanden. Es ist jedoch nicht der Sport an sich, der diese Figur der Selbstaktivierung produziert, sondern die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Diese wird im Alltag sofort wahrgenommen: Treppen steigen ist nicht mehr so anstrengend und man hat auch die objektivierte Zahl der geleisteten Kilowattstunden, die dies bestätigt.

12 Ebenso können beispielsweise Interventionen im Bereich der Ernährung, die z.B. durch die Werte Gewicht oder Cholesterin vermittelt werden, unter diesem Aspekt analysiert werden.

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Sport kann in zweierlei Hinsicht als Ermächtigung oder Selbstaktivierung begriffen werden: Einerseits als die Arbeit gegen oder am kranken Körper. Andererseits als Kampf gegen einen ‚unreflektierten‘ Alltag. Innerhalb der Reha wird das Konzept des ‚bewussten Lebens‘ als eine Reflektionsfolie für das alte Leben eingeführt. Viele Patient_innen sprechen über ihre ‚Alltagsrituale‘. Sie haben früher nicht darauf geachtet, was und wann sie essen, rauchen, Stress haben usw. Durch die Risiken sind sie zur Veränderung gezwungen und durch die Reflexionen innerhalb der Reha sind sie nun in der Lage, ihren Alltag zu ändern. Aussagen wie: „Endlich weiß ich, wie ich gesund und lecker kochen kann“ oder „Ich werde jetzt dem Stress aus dem Weg gehen“ waren keine Seltenheit – bis hin zu einem Patienten, der seinen Zweitjob aufgeben wollte, um mehr Zeit für sein gesundes Leben zu verwenden. Es gab jedoch zumeist auch eine kritische Reflexion über die Grenzen gesunden Lebens. So sprach ein Patient nach einer Entspannungssitzung über seinen Arbeitsalltag und meinte, dass es doch unmöglich sei, seinem Chef zu sagen, man müsse sich jetzt mal 15 Minuten hinlegen, um sich zu entspannen. Die meisten dieser Ideen und Anfänge, seinen Alltag umzuformen, entstanden innerhalb der Reha. Patient_innen haben versucht, die ‚Gesundheitsinterventionen‘ in ihre Vorstellung eines bewussten und gesunden Lebens zu integrieren. Die Reha als Ort der Krise macht es möglich, viele Alltagsroutinen in Frage zu stellen. Es ist wichtig zu betonen, dass es hier nicht um die einfache Umsetzung eines Rehaprogramms geht, sondern um den Möglichkeitsraum und bestimmte Ressourcen, die die Reha in diesem Programm liefert. Es gibt zwar uniformierende Aspekte, wie ein bestimmtes Gesundheitskonzept, oder die gemeinsame Produktion von Werten und Vorstellungen über den bisherigen Alltag. All diese Faktoren machen eine bestimmte Laufbahn des Patienten durch die Reha wahrscheinlich. Jedoch sind die verschiedenen Dispositionen und Lebensläufe der Patienten so unterschiedlich, dass es immer wieder zu sehr persönlichen Interventionen im eigenen Alltag kommt. Hier sind auch Widerstände und Ablehnung mit inbegriffen. So blockte ein Patient die meisten Interventionen ab, da er in der Familie schon schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht hatte. Gerade die Fokussierung auf seine körperliche Leistungssteigerung durch den Sport weckte aber wieder das Interesse für das Rehaprogramm. Daher ist gerade die Verweisungsstruktur zwischen den Bereichen wie

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Sport, Ernährung, Stress usw. interessant: Über den Sport kam er wieder zu Themen wie den Einsatz von Medikamenten, über Medikamente zu Blutwerten wie Cholesterin und Zucker usw. Innerhalb der Reha ist es nur schwer möglich, sich den verschiedenen Facetten vollkommen zu verschließen, da sie auf Umwegen immer wieder auftauchen.

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Der neue Lebensstil soll in der Reha durch verschiedene Praktiken hervorgebracht werden. Zunächst geschieht dies mittels der Implementierung eines Risikobegriffs, der nach einem persönlichen Gesundheitsmanagement verlangt. Darüber hinausgehend erfolgt die Veränderung über die Konstituierung eines kranken Körpers durch routinisierte Praxen des Messens und Beobachtens. Die Praktiken der Lebensstilveränderung fügen sich in ein Selbstverständnis der Patienten_innen von einem neuen bewussten Leben ein. Aber wie ist die Selbstaktivierung zu begreifen? Führen wir uns nochmals die Ziele der Reha vor Augen: die „Verbesserung der Prognose“ und den „Beitrag zur Kostenstabilität“ (DPRG 2008). Diese konkretisieren sich in Punkten wie „Reduktion von Morbidität […] und Mortalität“ oder „Vermeidung von vorzeitiger Berentung und Pflege“ (DPRG 2008: 7). Spätestens hier kann die Vorstellung von einem biopolitischen Körperregime nicht ausbleiben. In diesem Kontext wäre die Reha ein Ort der Disziplinierung, der letztendlich auf die Formierung des Einzelnen als Teil eines spezifischen Bevölkerungskörpers abzielt; die Selbstaktivierung wäre nur eine Selbstdisziplinierung im Gewande einer Ermächtigungsstrategie. Die bisherige Analyse hat hoffentlich verdeutlicht, dass diese Kritik nur greifen kann, wenn sie wichtige Ambivalenzen auf der Ebene von Praxis zum Teil ausblendet. So wirkt Reha zwar wie ein Wahrheitsregime (Sabrowski 2008), und die ihr inhärenten Machtstrukturen sind nicht zu übersehen. Es gibt jedoch auch Widerständigkeit bzw. Spielraum im Feld. Diese äußern sich nicht immer in der bewussten Ablehnung der Interventionen, doch in der Art, wie das Programm dem Alltag angepasst wird. Die Koproduktion von Reha als Praxis durch Patient_innen, Ärzte, Technologien und Techniken verweist auf heterogenere Arbeit als dies durch eine biopolitische Lesart suggeriert wird. Hier agiert nicht nur ein Regime und lehrt Selbstsorge.

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Vielmehr sind die Patient_innen mit ihren Vorstellungen und Alltagen immer auch wichtige Akteur_innen. In Bezug auf die Zukunft der Patient_innen wäre von Interesse zu fragen, ob und wie sich der inhärent kranke Körper weiterhin reproduziert und als Gesundheitskonzept angewandt wird. 13 Denn sobald diese spezifische Körpervorstellung verblasst, steht einer Stabilisierung des alten Gesundheitskonzeptes nichts mehr entgegen: Man würde sich nicht krank fühlen, weil man nicht misst und beobachtet; und so kann einem ein Blutdruckgerät auch nicht das Gegenteil vermitteln. Dieses Umschalten der Gesundheitskonzepte könnte auch durch die Erfahrung eines widerständigen Alltags gestärkt werden. „Gesund leben“ heißt immer wieder gegen diesen Alltag ankämpfe, auch wenn die innerhalb der Reha herbeigeführte Distanz, aus der man die eigenen Verhaltensroutinen betrachten konnte, nicht mehr gegeben ist. Die Widerständigkeit des Alltags ist in sich mehrdeutig, sie kann verschiedenste Formen annehmen, ob es nun sozio-ökonomische Verhältnisse sind, die zu einem Zweitjob oder Überstunden zwingen, die Lebenspartner_in die weiterraucht oder der Geruch eines frisch gebackenen Schokocroissants. Die neuen Gesundheitsroutinen werden durch verschiedenste und alltäglichste Faktoren immer wieder auf die Probe gestellt. Ich möchte die Hypothese aufstellen, dass sich die zukünftige Wirkung der Reha bis zu einem gewissen Grad daran festmachen lässt, wie die Patient_innen die Lebensstilveränderung zu Hause über soziale Beziehungen und die Integration von Technik, wie Blutdruckmessgeräten stabilisieren können. Aus diesen Überlegungen ergeben sich für mich die Fragen nach einer Folgeforschung, die versucht, die Patient_innen in ihren Post-Rehaalltag zu begleiten. Wie versuchen Patient_innen den neuen Lebensstil zu verankern? Werden Freunde und Familie in diesen Lebensstil mit einbezogen, um ihn zu stabilisieren? Wie wirken sich schwindende Symptome aus? Welche Rolle bekommt die Technik in ihrem Leben und wie stellt sich ihr Kampf gegen alte Routinen dar? All dies sind Fragen, die meine aktuelle Untersuchung nicht in den Blick nehmen konnte und die doch wesentlich sind, um

13 Die Ethnographie ‚Bodies at Risk‘ von Elizabeth E. Wheatley bietet eine weiter reichende Perspektive auf die Praxen nach einem Herzinfarkt. So widmet sie sich in ihrem Buch nicht nur der Rehasituation, sondern auch der Post-Rehaphase zu Hause (Wheatly 2006).

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die Rehaarbeit weiter zu kontextualisieren. Ein in diesem Artikel nicht weiter ausgeführter Aspekt der Analyse müsste zudem versuchen, die Akteursgruppe der Patient_innen weiter zu differenzieren. Dies würde auch ermöglichen, die verschiedenen Praxen, die ich beschreibe, näher im Bezug auf Verknüpfungen von Differenzkategorien wie race, gender und class zu kontextualisieren. Dabei böte sich vor allem ein intersektionales Vorgehen an, um verschiedene Differenzkategorien in ihrer Interdependenz darzustellen. „I consider intersectionality a provisional concept linking contemporary politics with postmodern theory. [...] By tracing the categories to their intersections, I hope to suggest a methodology that will ultimately disrupt the tendencies to see race and gender as exclusive or separable.“ (Crenshaw 1995: 358) Gerade Fragen nach den biopolitischen Implikationen der Reha müssten solch einer Methode folgen, um die Vorstellungen eines homogenen Bevölkerungskörpers zu differenzieren. Aber nicht nur auf der Seite der Gesundheitspolitiken wird dies den Fokus weiterer Forschungen verschieben, sondern gerade die alltäglichen Praxen der Akteur_innen könnten aus neuen Perspektiven betrachtet werden. Zu diesem Zeitpunkt kann ich daher die Frage nach der Wirksamkeit eines biopolitischen Machtregimes in der Reha nicht endgültig beantworten. Zum einen wäre ein spezifischer Fokus auf die verschiedenen Hintergründe der Akteur_innen sinnvoll, um aufzuzeigen, wie biopolitische Macht sich im Bezug auf verschiedene Akteure unterscheidet. Zum anderen sind innerhalb der Reha die Ambivalenzen schon sichtbar geworden und ein Post-Rehaalltag ohne den geordneten Raum und das Gesundheitspersonal könnte sein übriges tun. Die kardiologische Reha ist ein Feld, bei der das Zusammenstoßen von einem herrschenden Gesundheitsverständnis des Gesundheitswesens und den Alltagspraxen der Patienten_innen einen interessanten Spannungsraum erzeugt. Die Aushandlungsprozesse zwischen und innerhalb der Akteure, die intensive Produktion neuer Selbstbilder und Gesundheitspraxen, geschieht hier nach einem Krankheitsereignis in kondensierter Form und bietet sich weiteren ethnographischen Zugängen an.

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Medizinische Praxis in einem Zentrum für Brustkrebserkrankungen Somatische Individualität und Biosozialität im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Kollektivbildung M IRJAM S TAUB

Medizinanthropologie untersucht menschliche Körper und medizinische Behandlungssysteme bzw. Behandlungspraxen in ihren Relationen zu Aspekten von Gesellschaft und Kultur. Eine Richtung dieser Disziplin untersucht, wie Biomedizin die gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnisse und Alltage von Menschen beeinflusst, und umgekehrt, wie diese wiederum biomedizinische Forschung und Praxis beeinflussen. Ein wichtiges Konzept – Biosozialität – beschreibt dabei neuartige Gruppenbildungsprozesse, die sich zunehmend an biomedizinisch vermittelten körperlichen Merkmalen orientieren (Rabinow 1992), wie beispielsweise die Bildung von Patientenorganisationen oder Selbsthilfegruppen. Auch die Herausbildung neuer Subjektivitäten und Individualitäten durch biomedizinisches Wissen wurde als eine Form von Biosozialität untersucht: Konzepte wie „somatic individuality“ (Novas/Rose 2000: 487f.) oder „biomedical subjectivity“ (Rabinow 1994: 63) fragen danach, wie biomedizinisches Wissen die Selbstinterpretationen, Entscheidungsfindungsprozesse und sozialen Praxen von Menschen beeinflusst. Individualisierung und Gruppenbildung sind dabei zwei Pole eines Spektrums dieser gesellschaftlichen Prozesse. Der vorliegende Beitrag steht in dieser Tradition und fragt explorativ nach Transformationsprozessen bei Brustkrebspatientinnen: Wie

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werden Veränderungen in Selbstverständnis und Kollektivbildung durch medizinische Praxis, d.h. im Kontakt mit der Klinik (ihren Vertreter_innen, Artefakten, Wissensbeständen, Techniken), hervorgebracht oder beeinflusst? Medizinische Praxis begreife ich dabei nicht nur als Biomedizin, sondern als eine Praxis, die zwar von den Naturwissenschaften ihre zentralen Krankheitskonzepte und Behandlungsanleitungen erhält, diese jedoch in einem Austausch mit den kranken Menschen anwenden muss (Del Veccio-Good 1991; Montgomery 2006; auch Mol 2008). Die Veränderungen in den Selbstverständnissen und sozialen Alltagspraxen der Patientinnen werden im zweiten Teil des Artikels als Herausbildung einer spezifischen Form von „somatic individuality“ (Novas/Rose 2000) und „Biosozialität“ (Rabinow 1992) analysiert. Beide Konzepte sind im Zusammenhang mit dem in den 1990er Jahren neu entstehenden genetischen Wissen rund um das „Human Genome Project“ entwickelt worden. Auch wenn sie sich nicht notwendig auf genetische Phänomene beschränken, muss für eine Übertragung auf Brustkrebs folgender Punkt näher erläutert werden: Obwohl die beiden als sogenannte „Brustkrebsgene“ bekannten Genmutationen BRCA1 und BRCA2 medial in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erhalten haben und in der Öffentlichkeit dazu beigetragen haben mögen, Brustkrebs vermehrt als eine genetisch verursachte und vererbbare Krankheit zu betrachten, gelten sie im medizinischen Fachdiskurs nur in ca. 3 bis 5 Prozent der Erkrankungen als Krankheitsursache (Kaufmann/ Minckwitz et al. 2006: 481). Brustkrebs wird in der Klinik, in der ich geforscht habe, dem aktuellen medizinischen Forschungsstand 1 entsprechend, als ein multifaktorielles, in weiten Teilen unbekanntes Geschehen und vor allem nicht primär als eine genetisch bedingte

1

Momentan geht die Biomedizin davon aus, dass ca. 90-95 % der Brustkrebserkrankungen sporadisch sind, d.h. nicht genetisch bedingt (Delorme et al. 2006: 130f.). Ca. 10 % zeigen eine familiäre Häufung, ohne erkennbaren eindeutigen Erbgang (ebd.). Bei 5-10 % werden genetische Faktoren als Ursache angenommen und bei 20-25 % Umweltfaktoren („enviroment“), wobei zwischen genetischen und Umweltfaktoren fließende Übergänge bestehen (ebd.: 129). Die Zahlen können je nach Studie bzw. Autoren etwas variieren. In der Klinik, in der ich geforscht hatte, wurden in einem öffentlichen Vortrag, an dem auch Patientinnen und Angehörige teilnahmen, 8 % der Fälle als erblich bedingt angegeben.

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Krankheit interpretiert. Dies wird den Patientinnen auch so kommuniziert. Was mich in meiner Feldforschung am meisten überraschte, war die ausbleibende klare Antwort auf die Frage nach der Ursache von Brustkrebs und das entsprechende offene Eingeständnis der Vertreter_innen der Klinik. Zwar wurden jeweils die bekannten Risikofaktoren aufgezählt (u.a. genetische Disposition, familiäre Häufung, Hormonsubstitution über 10 Jahre nach der Menopause, Alkoholkonsum, Nicht-Stillen, Alter über 50, frühe Menarche). Aber im selben Atemzug wurden diese durch die klinische Erfahrung auch wieder relativiert. Alle wussten von Patientinnen, auf die keiner dieser Risikofaktoren zutraf. Dies bringt mich zum zweiten Teil meiner Fragestellung: Welche Formen von Biosozialität und somatischer Individualität entstehen unter Bedingungen ätiologischer Unsicherheit und Multi-Faktorialität? Denn die Konzepte somatische Individualität und Biosozialität gehen in ihrer ursprünglichen Form tendenziell von einem biomedizinischen Wissen aus, das sich den Betroffenen als eindeutig und faktisch präsentiert und von diesen auch so aufgenommen wird. Zwar wird im Zuge der Herausbildung neuen Expertentums (als Folge dieser neuen Biosozialitäten) die Frage nach der richtigen Behandlung oder dem ethisch richtigen Umgang mit dem Risiko-Status zwischen Ärzt_innen und den Patient_innen teilweise kontrovers diskutiert. Die von der Biomedizin postulierte (in jenen Fällen genetische) Krankheits-Ursache wird aber meines Erachtens nicht eigentlich in Frage gestellt. Auch wenn die Autoren die genetischen Ursachen in Wirklichkeit als historisches, soziales Konstrukt erachten mögen, bildet eine allgemeine Akzeptanz bzw. die praktische Durchdringung und Re-Formierung des Sozialen durch dieses Wissen die Hintergrundfolie für die gesellschaftlichen und individuellen Prozesse, die die beiden Konzepte beschreiben. Rabinow spricht von „neuen Wahrheiten“, um die herum sich die neuen Gruppen formieren (Rabinow 1992: 244). Novas/Rose sprechen von einer spezifischen Ethik, die mit der somatischen Individualität einhergeht, als „ethics that can only be operative in the light of a knowledge of one’s bodily truth“ (Novas/Rose 2000: 502) und nehmen als ersten Ausgangspunkt für ihre Beobachtungen den wachsenden Glauben, dass viele Krankheiten eine genetische Basis haben (ebd.: 486). Ob von einem wachsenden gemeinsamen Glauben an eine bestimmte Krankheitsursache ausgegangen werden kann, scheint mir im Zusammenhang meiner Studie jedoch fraglich: Laut Aussage der

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Diplompsychologin der Klinik, in der ich geforscht habe, ist nämlich die „Stresshypothese“ – d.h. (psycho-sozialer) Stress als auslösender Faktor einer Krebserkrankung – die weitaus häufigste Krankheitshypothese der Patientinnen. Aber sowohl diese Klinikpsychologin als auch die Mehrzahl der Ärzt_innen der Klinik teilen diese Ansicht nicht in dieser Form. 2 Im Fall von Brustkrebs ist auch über diese eine Klinik hinaus anzunehmen, dass unterschiedliche Erklärungsmodelle der Krankheit bei der Entstehung sowohl von somatischen Individualitäten wie auch von Biosozialitäten zusammenwirken können. Zum einen haben innerhalb relativ kurzer Zeit historische Transformationen stattgefunden: Blickt man gut 30 Jahre zurück, finden sich sowohl in der öffentlichen Vorstellung als auch in der damaligen Psychologie bzw. Psychoonkologie Theorien einer „Krebspersönlichkeit“, d.h. der Psychogenese von Krebs (Sontag 2003), die heute als wissenschaftlich widerlegt gelten und von denen sich die heutige Psychoonkologie entschieden distanziert. Der heutigen Psychoonkologie geht es vielmehr darum, Patient_innen in ihrer Krankheitsverarbeitung zu unterstützen und dadurch ihre Lebensqualität zu verbessern. In der populärwissenschaftlichen Literatur zum Thema findet sich heute, beinahe als eine Art Umkehrung der karzinogenen Persönlichkeit, die Idee der „Selbstheilungskräfte“ 3 , die es nach einer Krebserkrankung zu aktivieren gelte. Auch wenn Biomedizin und Psychoonkologie den direkten Einfluss der Psyche auf die Entstehung von Krebs wie auch auf die Überlebenschancen mittlerweile als widerlegt betrachten, wurden Studien mit einer solchen Fragestellung kürzlich noch durchgeführt (Coyne, J. et al. 2007) und finden in den Medien große Resonanz. 4 Dies betrachte ich als Hinweis, dass solche Konzepte in der öffentlichen Meinung noch nicht vollständig durch neue ersetzt wurden. Und auch in einer

2

Dennoch wird in der aktuellen biomedizinischen Forschung über den möglichen Einfluss von Stress bei der Krebsentstehung geforscht, wenn auch mit widersprüchlichen Ergebnissen (Rensing 2006: bes. 323-345).

3

Einer der populärsten Autoren, gleichzeitig Onkologe: Simonton (2002).

4

Vgl. „Körper und Psyche. Krebs trifft auch die Glücklichen. Traurige und stille Menschen erkranken eher an Krebs? Sind irgendwie selber schuld? Eine Studie räumt mit diesen Vorstellungen auf. Gründlich.“ von W. Bartens, in: Süddeutsche online, 27.10.2007,

URL: http://www.sueddeut-

sche.de/gesundheit/artikel/329/139041/ [Zugriff 05.08.2008].

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nicht-historischen Perspektive gibt es Hinweise darauf, dass bei Brustkrebs von vielfältigen Konzeptionen der Krankheit und somit auch deren Ursachenkonzeption auszugehen ist: Brustkrebspatientinnen zählen in den USA zu den Patientinnen, die sich am häufigsten alternativen oder ergänzenden Heilmethoden zuwenden (Sered/Agigian 2008). Dies geschieht oftmals parallel zur biomedizinischen Behandlung. Dabei geht es mir in dieser Arbeit jedoch nicht nur um Krankheitskonzeptionen oder Erklärungsmodelle der Betroffenen, auch wenn diese bei der Herausbildung von Biosozialitäten und somatischen Individualitäten nicht zu vernachlässigen sind (Kollek/Lemke 2008: bes. 90ff.). Um zu betonen, wie Verbindungen – und Hervorbringungen – unterschiedlicher Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit immer auch auf materieller Ebene und in Alltagspraxen stattfinden, verwende ich die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007). So verstehe ich die Veränderungen in den Selbstinterpretationen und sozialen Praxen nie als rein abstrakte oder konzeptuelle Prozesse, sondern immer auch als unter Mitwirkung verschiedener Materialitäten und Aktanten 5 (ebd.), d.h. Körper, Technologien, Medikamente, Artefakte usw., im Klinikalltag hervorgebracht.

F ORSCHUNGSANLAGE

UND

M ETHODE

Zwischen November 2007 und Mai 2008 führte ich in einem deutschen Zentrum für Brusterkrankungen teilnehmende Beobachtungen sowie 14 leitfadengestützte Interviews (Häder 2006) mit sechs Patientinnen und fünf Mitarbeiter_innen der Klinik durch. Dabei fragte ich die Mitarbeiter_innen und die Patientinnen nach Erklärungsmodellen bezüglich der Brustkrebserkrankung. Die Patientinnen fragte ich nach Veränderungen in ihrem Leben im Laufe der Erkrankung und Behandlung.

5

Mit Aktanten werden von Latour und anderen Vertretern der Akteur-Netzwerk-Theorie Artefakte bezeichnet, denen sogenannte Handlungsträgerschaft zukommt. Das Konzept dient dazu, Handlungen und Praxen nicht nur als intentionale Akte von Akteuren zu verstehen, sondern immer in Relation mit Dingen (Gegenständen) zu sehen. In diesen Artefakten materialisiert sich soziale Ordnung. Und an und mit ihnen finden Akte der Reproduktion oder Variation dieser sozialen Ordnungen statt (Latour 1996).

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Die interviewten Patientinnen waren zwischen 39 und 52 Jahre alt, deutscher Nationalität und alle vor ihrer Erkrankung und teilweise wieder berufstätig. Vor allem auf Grund von Angaben zu Ausbildung und Beruf 6 ordne ich sie der Mittelschicht zu. Diese Zuordnung dient dazu, zu bedenken, dass die von mir beschriebenen Praxen ein schichtbzw. gruppenspezifischer Umgang mit Brustkrebs sein könnten. 7 Alle hatten körperliche Veränderungen selbst ertastet. Daraufhin ist bei ihnen Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie befanden sich an unterschiedlichen Punkten im Krankheitsverlauf: von der ersten Chemotherapie bis vier Jahre nach der Erstdiagnose. Alle standen noch im Kontakt zur Klinik. Bei denjenigen, die die medizinische Behandlung abgeschlossen oder zum Hausarzt verlagert hatten, bestand der Kontakt durch die psychoonkologische Beratung bei der Klinikpsychologin weiter. Einige hatten einen Befund mit optimistischer Prognose und konnten hoffen, geheilt zu sein oder zu werden. Bei anderen waren vor kurzem Metastasen diagnostiziert worden und sie galten daraufhin nach klinischem Wissen als nicht mehr heilbar. 8 Drei der Patientinnen wurden mir durch die Diplompsychologin der Klinik und drei durch die Study-Nurse vermittelt. Der Kontakt zu Vertreter_innen der Klinik erfolgte ebenfalls über die Vermittlung der Klinikpsychologin. Mit ihr sowie mit einer Stationsärztin, einer Oberärztin, einer Schwester und einer Stationsleitung führte ich ebenfalls Interviews. Beobachtet habe ich vor allem während der ambulanten Chemotherapie und während des Klinikalltags, wie er sich in Gesprächen, kleinen Gesten und Verrichtungen auf den Fluren abspielte. Bei der Auswertung der qualitativen Daten ging ich sowohl induktiv als auch deduktiv vor. Eine Inhaltsanalyse, orientiert an der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967;

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Sozialpädagogin, Sekretärin, Sozialarbeiterin, Kaufmännische Angestellte,

7

Da die von mir verwendeten Konzepte – somatische Individualität und

Ethnologin, Büroleiterin. Biosozialität – jedoch ebenfalls in Studien innerhalb der Mittelschicht entwickelt wurden, gehe ich davon aus, dass dies für deren Verwendung keine Rolle spielt. 8

Ob Brustkrebs eine chronische Krankheit ist, ist medizinisch umstritten. In dieser Klinik wird Brustkrebs nicht als eine chronische Krankheit aufgefasst. Den Patientinnen werden reale Chancen auf Heilung – 2/3 der Fälle – kommuniziert. Als geheilt gilt eine Patientin, wenn sie 10 Jahre ohne Rückfall gelebt hat.

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Böhm 2005), kombinierte ich mit der gezielten Suche nach Formen von Gemeinschaftsbildungen, wie sie von Rabinow (1992), und Rose/Novas (2002) beschrieben werden.

E RGEBNISSE Ein Sinn für „Extrawürste“ – Chemotherapie als Beobachtungssituation „Meine Maus! Wusst’ ich ’s doch, dass Sie wieder ’ne Extrawurst brauchen!“, Schwester Caren scherzhaft, lachend zu Frau Rau. (Gedächtnisnotizen vom 12.03.2008)

Mit diesen Worten in einem lachend scherzhaften und wohlwollenden Ton kommentierte die Schwester, dass Frau Rau 9 versehentlich den Schlauch ihrer Chemieinfusion zu früh abgeklemmt hatte. (Die Infusion konnte problemlos fortgesetzt werden, nachdem die Schwester den Klips am Infusionsschlauch wieder geöffnet hatte.) Diese Interaktion fand am Ende des ersten Chemotherapietermins von Frau Rau statt. Sie zeigt, dass zwischen der Schwester und der Patientin eine Vertrautheit besteht und dass Ausnahmen nicht als etwas Lästiges behandelt werden, das den routinisierten Ablauf stören würde. Sie werden wohlwollend kommentiert. Über diese Interaktion stellt sich die Schwester als jemand dar, der eine individuelle Menschenkenntnis besitzt. Und die Patientin wird als jemand dargestellt und bestätigt, die sich von anderen unterscheidet. Auch unter den Patientinnen wurde das Verhältnis zwischen individueller Erfahrung und normierten Abläufen thematisiert: So fragten die neuen Patientinnen eine im Behandlungsverlauf fortgeschrittene Patientin zugleich erwartungsvoll und bange nach ihren Erfahrungen. Diese leitete ihre Erzählung mit den Worten ein: „Ich bin kein Maßstab“, worauf alle Frauen erleichtert und bestätigend nickten. Fragen nach dem, was „normal“ ist, und der Hinweis, dass es darauf oft keine verallgemeinerbare Antwort gibt, durchzogen wie ein Motiv diesen ersten Tag der Chemotherapie, an dem ich teilnehmend beobachtete.

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Alle Personen sind anonymisiert, sowohl bezüglich ihrer Namen als auch ihres Alters. Auch die Datumsangaben sind verändert.

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Die Chemotherapie fand in einem hellen, in warmen Farbtönen gehaltenen Raum statt. Jeweils ca. acht Frauen nahmen an einem solchen Termin teil. Für zwei bis drei Stunden waren sie an die Chemieinfusionen angeschlossen und vertrieben sich die Zeit in ihren Sesseln mit Gesprächen, lesen oder Musik hören. Der erste Tag der Chemotherapie spielte sich in einer zunehmend heiteren Stimmung ab. Waren zu Beginn die neuen Patientinnen ängstlich und angespannt, wurden sie durch die Entspannungsübungen der Klinikpsychologin, das viele Lachen der Schwester und die Gespräche untereinander zunehmend munterer und begannen selber, Scherze zu machen. Am zweiten Termin der Chemotherapie dieser Gruppe herrschte hingegen eine sehr niedergedrückte Stimmung. Es kann auch nicht mehr von derselben Gruppe gesprochen werden. Die Blutwerte von Frau Rau – der „Maus“ – waren zu schlecht, als dass sie an dem Termin hätte teilnehmen können. Der Arm der zweiten Patientin hatte sich entzündet und sie war wieder in stationärer Behandlung. Nur Frau Brenner war am zweiten vorgesehenen Termin noch da. Als ich hereinkam, unterhielt sie sich mit einer vermeintlich neuen Patientin: Diese hatte nach Jahren ohne Symptome nun Metastasen entwickelt und musste sich von nun an wöchentlich einer Chemotherapie unterziehen. Frau Brenner erschrak sichtlich über diese für sie unerwartete Antwort. Sie verstummte und wandte sich von der Patientin ab. Auch dieser schien das Gespräch unangenehm zu sein, und sie wandte sich ebenfalls ab, worauf im Raum Stille herrschte. Diese zwei Sequenzen aus meiner Feldbeobachtung beschreibe ich, um einige Punkte anschaulich zu machen, auf die ich im Folgenden zurückkommen werde und die mich zu bestimmten Entscheidungen bewogen haben: zum Beispiel medizinische Praxis nicht nur als Biomedizin zu verstehen. Medizinische Praxis besteht nicht nur aus Interaktionen zwischen Ärzt_innen und Patient_innen, sondern auch aus vielen kleinen Handlungen, Gesten und Gesprächen mit Schwestern und anderen Patientinnen. Der Erfahrungsaustausch zwischen den Patientinnen wird von diesen einerseits gewünscht, andererseits gefürchtet. Die Zusammensetzung der Patientinnen – d.h. die erlebte Gruppenkonstellation – ist wichtig für das Erleben der Therapie. Die Gruppen sind aber nicht unbedingt stabil, sondern können aufgrund individueller körperlicher Reaktionen aufgelöst und neu zusammengesetzt werden.

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Medizinische Praxis als Differenzierungspraxis Medizinische Praxis in der von mir untersuchten Klinik ist zu großen Teilen eine Differenzierungspraxis, die über Kategorienbildung (und) mittels Aktanten stattfindet. Diese Differenzierungen geschehen – in den Schilderungen der Patientinnen – in einer Konstellation gegenüber dem Krebs als einem kollektiven Todesurteil, der das Leben radikal bedroht, wenn er einen befallen hat. („Ich dachte vorher: Frauen ab 50 bekommen Brustkrebs und daran stirbt man“, sagt die ca. 40-jährige Frau Brenner im Interview.) Neben allen Fortschrittserzählungen der Forschung und der Pharmafirmen ist eine Vorstellung von Brustkrebs als unausweichliches Todesurteil ebenso präsent, und wird – so die Erzählung aller Patientinnen – im Moment der eigenen Diagnose zum beherrschenden Konzept (vgl. auch Holmberg 2005). An dieses knüpft klinische Praxis beim Eintritt in die Klinik an. Diagnose- und Behandlungsprozess sind im Falle von Brustkrebs Klassifizierungs- und Differenzierungspraxen, die mittels Aktanten stattfinden: Diagnoseinstrumente, Gewebeproben, Bilder von Gewebe und Organen, mikroskopisch festgestellte Rezeptoren auf der Tumoroberfläche, und zwar in unterschiedlicher Anzahl und für unterschiedliche Stoffe (Östrogen, Antikörper, etc.). Der allgemeine Tumor wird so zu einem kleinen oder großen, aggressiven oder nicht aggressiven, metastasierten oder lokalen, durch körpereigene Hormone schneller wachsenden oder nicht auf Hormone reagierenden Tumor – und demzufolge zu einem auf den Versuch der Blockierung dieses Prozesses reagierenden oder nicht reagierenden Tumor etc. Diese Differenzierungen finden auf der histologischen Ebene statt. Gleichzeitig werden Differenzierungen auf anderen Ebenen des Körpers vorgenommen: Ist die Frau prä- oder post-menopausal (unterschiedliche hormonelle Prozesse, die mit dem Tumor interagieren)? Wie alt ist sie (unterschiedliches Tempo aller Zellteilungsprozesse, inkl. derer des Tumors)? Wie die Frauen medizinisch behandelt werden – ob die ganze Brust abgenommen wird oder nur ein Teil, ob Lymphknoten entfernt werden, ob Chemotherapie schon vor der Operation oder erst danach oder überhaupt nicht verabreicht wird, ob dieses oder jenes Schema der Chemotherapie verabreicht wird, ob danach ein Jahr mit einem Antikörper weiterbehandelt wird, zwei oder fünf Jahre mit so genannten Antihormonen – hängt von der Kombination all dieser Faktoren ab. An all diese unterschiedlichen Faktoren knüpft sich zudem nicht nur die

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Art der Behandlung, sondern auch die Chance auf Heilung: Ca. zwei Drittel der Fälle ist die Zahl, die in der Klinik kursiert. Aber diese Verknüpfung ist eine lose. Dazwischen steht der Körper als eigenständiger und unberechenbarer Akteur. Die Ärzt_innen können weder im Nachhinein eindeutig bestimmen, was in diesem konkreten Körper zur Entstehung von Krebs geführt hat, noch vorhersagen, welcher der vielen Körper auf die zwar anhand von bekannten Parametern auf ihn abgestimmte Behandlung effektiv wie reagieren wird. Die Situation ist also eine sehr unsichere, wenn man sie von der statistischen Wahrscheinlichkeit auf den individuellen Körper ‚herunterbricht‘. Von der Differenzierung zur Individualisierung Natürlich ist die Therapie nicht individuell auf eine einzelne Frau zugeschnitten, sondern die Frauen werden aufgrund diagnostischer Kategorien 10 in Gruppen zusammengefasst. Die Gruppen sind jedoch – was die Chemotherapie anbelangt – nicht eindeutig abgrenzbar, weil sie von der Kombination mehrerer Faktoren abhängen. Diese Faktoren beinhalten auch eine Abwägung medizinischer Risiken. Bei schwer zu entscheidenden Fällen ist das Sicherheitsbedürfnis der Frau entscheidend; wird dieses von den Ärzt_innen im Gespräch als groß ermittelt, kann dies der ausschlaggebende Faktor für die Chemotherapie sein. Trotz der Bildung von Risiko- und Behandlungsgruppen durch die Vertreter_innen der Klinik überwiegt jedoch aus Sicht der Patientinnen das individualisierende Moment. Frau Radeke, eine Patientin, schildert die Situation in der Klinik folgendermaßen: „Aber es gibt eben verschiedene Methoden [der Krebsbehandlung]. Man kann die Frau nicht in ein Schema drängen. Wenn jetzt eine Frau vor mir steht, da könnt ich jetzt nicht sagen: also bei dir kommt das und das und das. Weil das immer individuell [Hervorhebung MS] entschieden wird. Es ist keine Behandlung so wie die andere. […] Deshalb ist es auch schwierig, mit anderen Patientinnen zu sprechen, weil viele dann sagen: ‚ach mir geht es ganz schlecht‘. Und ich [betont] habe vielleicht eine ganz andere Chemo gehabt, und mir geht es

10 Die Gruppeneinteilung und Behandlung erfolgt nach den S3-Leitlinien (http://www.gynspectrum.de/s3-leitlinien.html). Uneindeutige Zuordnungen oder Behandlungsempfehlungen werden in Tumorkonferenzen besprochen.

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vielleicht gar nicht so schlecht. Deshalb muss man mit anderen Patientinnen sehr vorsichtig sein. Zwar sagen, was auf einen zukommen kann, aber auch sagen: mir [betont] ist es so ergangen, aber das muss nicht bei jemand anders so sein. Man darf das nicht so verallgemeinern. Und man soll den Frauen auch nicht so ’ne Panik machen.“ (Frau Radeke im Interview)

Diese Betonung der individualisierenden Aspekte der Behandlung durch die Patientin ist psychologisch nachvollziehbar, wenn man sie, wie oben erwähnt, gegenüber dem traumatisierenden Diagnosemoment betrachtet, in welchem Krebs als kollektives Todesurteil erscheint. Das Beispiel zeigt jedoch auch, dass die Frauen das, was sie im Laufe ihres Aufenthalts in der Klinik voneinander wahrnehmen und miteinander an Erfahrungen austauschen, immer auch in Relation mit all diesen Differenzierungen bringen, die auf biologisch-physiologischer Ebene vorgenommen wurden. Verlauf und Behandlung der Krankheit werden nicht als Schema wahrgenommen, das für alle zutrifft. Ebenso variieren intersubjektiv ausgetauschte Behandlungserfahrungen, Schmerzen, Nebenwirkungen etc. auch aufgrund dieser unterschiedlichen Behandlungsarten. Sie bilden demzufolge keine gemeinsame Erfahrungsbasis. Die Kommunikation darüber ist schwierig und keineswegs generalisierend, wie Frau Radeke beschreibt. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die die Patientinnen in der Klinik machen, werden von ihnen aber nicht nur mit den Differenzierungen in Verbindung gebracht, die bezüglich Tumor und den anderen körperlichen Aspekten durch biomedizinische Praxis vorgenommen wurden. Sie berichten auch von unterschiedlichen „Persönlichkeiten“ oder „Charakteren“, die die Patientinnen unterschiedlich auf die Diagnose und die Behandlung reagieren lassen würden (Depression oder Optimismus/Hoffnung). Dieser Aspekt ist ein Teil dessen, was ich im Weiteren als „Umgang“ mit der Krankheit beschreibe. Im Anschluss an obiges Zitat erwähnt Frau Radeke, dass sie einem Krebskranken gegenüber immer diejenige Bekannte erwähnen würde, die „den Krebs“ überlebt habe, und nicht denjenigen, der gestorben sei. Die Chancen auf Heilung zu betonen, positive Beispiele zu erzählen und Mut zu machen, werden von ihr – und anderen Patientinnen – als (ethische) Handlungsanweisung formuliert. Die oben dargestellten Differenzierungen werden dabei zur Ressource, die es ermöglicht, sich von negativen Verläufen anderer zu distanzieren. Diese Ressource ist wertvoll und wirkungsvoll, weil sie durch die wissenschaftlich-medi-

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zinischen Praxen hergestellt und somit nicht nur ethisch, sondern auch wissenschaftlich legitimiert ist. Der Blutwert als Aktant: (Medizinische) Individualisierungspraxis im klinischen wie außerklinischen Alltag Am Tag vor der Chemotherapie wird den Patientinnen Blut abgenommen, um zu bestimmen, ob sich ihr Körper soweit erholt hat (Anzahl Leukozyten), um den nächsten Zyklus der Chemotherapie erhalten zu können. Der Blutwert hat am zweiten Termin der Chemotherapie Frau Rau von Frau Brenner getrennt (siehe oben), worüber Frau Brenner traurig ist, wie sie mir nachher im Interview erzählt (siehe unten). Der Blutwert vermittelt den Frauen, dass ihre Körper unterschiedlich auf die verabreichte Chemie reagieren. Gleichzeitig vermittelt er, dass diese Unterschiede durch die Klinik in Form von Zahlen objektivierbar sind. Und er vermittelt ihnen, dass die Behandlung nicht nur den Parametern ihres Gewichts, ihrer Körperoberfläche und der Eigenschaften ihres Tumors angepasst wird, sondern auch zeitlich an ihre individuelle körperliche Reaktion auf die Behandlung. Allgemeiner betrachtet vermitteln die Blutwerte den Frauen, dass sie ein Immunsystem haben und dass darauf Rücksicht zu nehmen ist – durch die Klinik, aber auch durch sie selbst. Die Patientinnen sollen beispielsweise nicht ins Kino oder Theater gehen, wenn ihre Blutwerte zwischen zwei Zyklen am Tiefpunkt der Leukozytenzahl angekommen sind (Ansteckungsgefahr). Damit sich die Blutwerte verbessern, brauche es in den meisten Fällen aber nur der Ruhe und Schonung – etwas, was sich, wie ihnen gesagt wird, von selbst ergäbe, wenn die Frauen nur auf ihre Körper hören würden. Diese Passivität ist jedoch etwas, was den Frauen – zumindest laut ihren Erzählungen – schwer fällt. Auf meine Frage, was sich am stärksten verändert habe seit der Erkrankung, antworten einige, dass sie sich jetzt mit gutem Gewissen mehr Pausen gönnen, Zeit für sich selbst nehmen oder eben: dass sie jetzt vermehrt „auf ihren Körper hören“ würden. Dies ist etwas, was – laut Schilderung der Patientinnen – in Konflikt mit Erwartungen, Pflichten und Zeitregimes steht, in denen diese Frauen sich bisher bewegt haben. Das Immunsystem – für dessen Zustand und Leistungsfähigkeit die Blutwerte aus biomedizinischer Sicht stehen – ist in diesem Fall zentral für eine systemische Sichtweise des Körpers in sozialen Zusam-

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menhängen. Es verbindet alltägliche soziale und biomedizinische Praxen. Das Immunsystem wird von den Patientinnen und den Vertreter_innen der Klinik mit Flexibilität innerhalb eines Systems in Verbindung gebracht (vgl. auch Martin 2002). Die Flexibilität, die über den Blutwert bzw. das Immunsystem vermittelt wird, wird jedoch im Unterschied zu Emily Martins These nicht dahingehend interpretiert, in der Logik des „Survival of the Fittest“ zu agieren, wie es laut Martin in der neuen Arbeitswelt gefordert wird (Martin 2002: 50f.). Die über das Immunsystem vermittelte Flexibilität wird vielmehr zum Anlass, sich von Leistungs- und Anpassungsnormen eine Auszeit zu nehmen. „Auf den eigenen Körper hören“ wird zu einer Praxis der „Fürsorge für sich selber“ (Zitat Frau Sommer). Frau Sommer beschreibt ihr verändertes Vorgehen bei der Arztwahl folgendermaßen: „weil man hat ja ... ’ne ganz andere Fürsorge für sich selber. Das hab’ ich bei mir gemerkt. Also früher hätt’ ich gesagt: okay, es geht halbwegs: nehm’ ich! [„nehm’ ich“ meint in diesem Zitat konkret den Onkologen für die Nachsorge außerhalb der Klinik. Frau Sommer generalisiert dies aber im Folgenden.] Das mach’ ich nicht mehr. Entweder es stimmt und es passt total für mich – ansonsten lass’ ich’s!“ (Zitat Frau Sommer)

Aber auch bei Verwandten und Bekannten wendet Frau Sommer dieses neue Sozialverhalten an. Sie beschreibt auch stolz und amüsiert, wie sie seit ihrer Erkrankung nun jeden Freitag – anstatt für ihre Familie zu kochen – in die Sauna geht und sich dort mit ihren neuen Freunden trifft (keine Krebsbetroffenen). Die folgende Patientin spricht über das Zusammenleben auf Station. Dabei unterscheidet sie Gespräche mit anderen Patientinnen, die ihr gut tun, von solchen, die ihr nicht gut tun. Ihre Reaktion in der Klinik beschreibt sie als eine neue gegenüber einer langjährigen, gewohnten, die sie mit ihrer weiblichen Berufssozialisation in Verbindung bringt. „Das muss ich sagen: ich persönlich habe da das erste Mal – ja weil ich von Beruf Sozialpädagogin bin und auch immer gelernt hab’, auf andere so Rücksicht zu nehmen – aber da habe ich wirklich ganz egoistisch das erste mal sozusagen in meinem Leben reagiert, und mich dann zurückgezogen in mein Zimmer, … weil’s mir nicht gut getan hat.“ (Zitat Frau Brenner)

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Nach den Veränderungen gefragt, beschreiben die Patientinnen diese in Ausdrücken wie „sich Gutes tun“, „sich nicht mehr so stressen lassen“, „es nicht mehr immer allen Recht machen wollen“, „viel für sich machen“. Nach der konkreten Umsetzung gefragt meint dies, bei sozialen Kontakten wählerischer zu sein, sich vom „Job“ innerlich zu distanzieren, um sich nicht mehr unnötig zu „stressen“, eventuell nach einer „erfüllten Arbeit“ zu suchen, sowie (Freizeit-)Tätigkeiten auszuüben wie autogenes Training, Thai Chi, Sport allgemein, kreative Tätigkeiten, lesen, Tagebuch schreiben, meditieren, religiöse Rituale durchführen etc. Der Körper wird nun zum Akteur und Boten der Bedürfnisse eines Selbst, die es gilt, verstärkt wahrzunehmen und zu befriedigen. Hierbei spielt vermutlich auch die unter Patientinnen stark verbreitete „Stresshypothese“ (Stress als auslösendes Moment einer Krebserkrankung) eine Rolle: die neuen sozialen Praxen können auch als Versuche der Stressreduktion interpretiert werden. Biomedizinische Fürsorge und individuelle Handlungsfähigkeit Die bislang beschriebene Unsicherheit und die ethischen Handlungsmaximen der Patientinnen und des Personals, stets die mögliche Heilbarkeit zu betonen, binden die Patientinnen an den biomedizinischen wissenschaftlichen Diskurs und die medizinische Behandlung. Das hoffnungsvolle Vertrauen in die biomedizinische Behandlung und Fürsorge gleicht dem, was DelVeccio Good den „Diskurs der Hoffnung“ nennt (DelVeccio Good 1991; vgl. auch Holmberg 2005): die Tendenz der Ärzt_innen, stets die positiven Aspekte zu betonen und ihren Patient_innen bis zuletzt Hoffnung zu machen, wobei das, worauf diese Hoffnung konkret zielt, im Verlaufe der Erkrankung/Behandlung verändert werden kann. Auch die politische Ökonomie der Hoffnung (Rose/Novas 2002) ist an diese medizinisch-soziale Praxis geknüpft: die gesellschaftliche Erwartung an die Wissenschaft, Heilungsmöglichkeiten für alle Erkrankungen zu finden, wenn nur genügend Geld investiert wird. Aber andererseits können beide – sowohl die Unsicherheit bezüglich Ursachen und Verlauf der Krankheit wie die ethische Maxime – auch zu einer Re-Integration der Krankheit in den ‚Lebenszusammenhang‘ der Patientin führen und weg von dem, was man gemeinhin den biomedizinischen Diskurs nennt. Hierbei entsteht Raum für alternative oder ergänzende Heilmethoden; ebenso für indi-

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viduelle Sinnstiftungen, neue Selbstinterpretationen und Lebensentwürfe. Die Patientinnen versuchen, diese in neuen Alltagspraxen umzusetzen oder mit bestehenden zu vereinbaren. Dass die Krankheit nicht nur etwas ist, was von medizinischen Experten behandelt wird, sondern dass man auch selber ‚ganz viel tun kann‘, wird den Patientinnen in den die ärztlichen Interventionen begleitenden Gesprächen teilweise auch kommuniziert. Eine solche Kommunikationssituation konnte ich einmal miterleben: Die Patientin beschrieb sich zuerst als „zu geizig mit sich“ (Gedächtnisnotizen vom 03.04.2008) im Hinblick auf Rehabilitation und Erholung. Daraufhin gab die Ärztin zu bedenken, dass die Brustkrebserkrankung auch ein Anlass sein kann, das eigene Leben zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern. Diese Art und Weise, über Brustkrebs zu denken und zu kommunizieren spielt sich dabei einerseits neben einer medizinischen Praxis ab, die sich an biomedizinischem Wissen und Richtlinien orientiert, und stellt diese nicht in Frage. Knotenpunkte, wie sie das Immunsystem und der Blutwert in diesem soziotechnischen Netzwerk bilden, können diese beiden Praxen (und Sichtweisen) aber andererseits miteinander verbinden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob mit der Betonung der individuellen Handlungsfähigkeit nicht Verantwortung und die Möglichkeit zur Einflussnahme suggeriert werden, wo vielleicht gar nicht so viel individuell zu beeinflussen ist. Teilweise äußerten die Patientinnen Sorge bzw. fühlten sich überfordert durch die Eigenverantwortung, interessanterweise gerade, wenn es um die Entlassung aus der klinischen Fürsorge ging. Das ermächtigende Moment in der Betonung der individuellen Handlungsmöglichkeiten scheint innerhalb dieser Klinik und in dieser spezifischen gesellschaftlich-materiell-diskursiven Konstellation „Krebskrankheit“ jedoch zu überwiegen. 11 Praxen der Gemeinschaftsbildung Neben den beschriebenen Individualisierungen finden aber auch neue Vergemeinschaftungen statt. Die Praxen der Vergemeinschaftung, die ich in der Klinik beobachten konnte, und die von den Patientinnen als solche begriffen werden, an denen sie aktiv teilnehmen, nenne ich

11 Dies beobachtete ich im Zusammenhang mit der Chemotherapie. Bei der Anti-Hormontherapie kann es anders aussehen.

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„Patient_innenfreundschaften“. Es sind Gemeinschaftsbildungen auf Mikroebene. Frau Mettler, eine Patientin mit einer psychischen Erkrankung, sagt über ihre ebenfalls psychisch erkrankte Patientenfreundin, der sie noch ein Buch über Selbstheilungskräfte und Ernährung ausgeliehen hat, das sie selbst jedoch nicht gelesen hat: „Eveline, die geht eigentlich mit dem Krebs genau so um wie ich. Also wenn wir uns austauschen darüber. Wir sind beide auf so einem Level, also auf so einem Punkt, wo man ... wie wir den Krebs sehen und wie wir darüber reden und so.“ (Zitat Frau Mettler)

Mit ihr zusammen informiert sie sich bei der Klinikpsychologin nun über einen Brustaufbau. Von der Klinikpsychologin werden diese zwei liebevoll „ein Team“ genannt. Eine Patientenfreundin von Frau Lohberg erzählt, wie froh sie ist, hier in dieser Klinik zu sein: Es sei schon eine spezielle Atmosphäre hier, meint sie. [...] Man komme hierher und die Frauen sprechen! Das tue so gut! Der Trost, den man bekomme dadurch! Beinahe im gleichen Atemzug erwähnt sie jedoch, dass sie sich mit Frau Lohberg jeweils hier beim Fenster im Flur hinsetze während der Chemo – und nicht zu den anderen Frauen vorne im großen Raum. Die Koordinatorin habe es so eingerichtet, dass sie und Frau Lohberg nun immer gemeinsam den Chemotermin haben. Die habe gleich ‚Lunte gerochen‘, dass sie zwei gut miteinander können. Die Schwester habe dann auch gesagt, sie [zwei] können sich hier im Flur in die Ecke beim Fenster setzen. Weil ... die Frauen vorne, die ... sie seien eben ... [stockte eine Weile] ... anders. (Auszug aus dem Gedächtnisprotokoll vom 14.02.2008)

Trostspendendes Sprechen findet für diese Frau nicht mit allen Frauen gleichermaßen statt. Diese Gemeinschaftsbildungen in der Klinik werden über die Markierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den einzelnen Patientinnen praktiziert. Es kann über ein gemeinsames Interesse an alternativen Heilmethoden geschehen oder im weiteren Sinne um einen gemeinsamen Lebensstil herum. Ein Element, das in den Erzählungen oft auftaucht, ist, sich mit anderen Patientinnen zusammen zu tun, die „eine positive Einstellung haben“, die „einen nicht runterziehen“ oder die „einem gut tun“. Mit einer bestimmten Frau lachen zu können, sich – gemeinsam – nicht von der Krankheit dominieren zu lassen, gegenüber der Mehrzahl der Frauen, die als de-

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primiert oder wehleidig beschrieben werden, wird zum verbindenden Moment. So beschreibt Frau Brenner, wie sehr sie sich gefreut hatte, mit Frau Rau zusammen die Chemotherapie machen zu können, weil sie Frau Rau zu der Art Frauen zählte, die eine „positive Einstellung“ hätten. Sie hatte sie zuvor schon auf der Station kennen gelernt, als einzige, die sich lautstark und etwas mokierend beklagte, dass sie jetzt noch nicht nach Hause gehen könne, weil sie ihr Haar noch nicht toupieren könne mit dem von der Operation in Mitleidenschaft genommenen Arm. Daraufhin seien alle Frauen in Gelächter ausgebrochen. Frau Brenner, die noch ganz am Anfang der Behandlung steht, überlegt sich gleichzeitig auch, ob sie in ihrem Leben vielleicht zu viel „von Anderen aufgenommen“ und zu viel „in sich hinein gefressen“ habe, verwirft den Gedanken dann jedoch auch wieder, dass dies zur Entstehung von Krebs geführt haben könnte. Das Kollektiv, das als „die Anderen“ der eigenen Person gegenübergestellt wird, wird hier – im Unterschied zur unterstützenden Zweierbeziehung – latent zu etwas Bedrohlichem, gegenüber dem man sich nicht genügend differenziert bzw. abgrenzend verhalten und artikulieren kann. Die Betonung unterschiedlicher Formen des Umgangs mit der Krankheit ist für Frau Brenner wichtig, weil sie seit ihrer Erkrankung oft gehört und gelesen hat, dass Krebs den Menschen verändere. Diese Veränderung bereitet ihr Sorgen, und sie tröstet sich damit, dass eine Veränderung ja nur dann geschehen könne, wenn man sie zulasse. Einen bestimmten Umgang mit der Krankheit zu pflegen, nämlich Optimismus zu bewahren und sich dadurch von der Krankheit zu distanzieren, kann in diesem Fall auch Strategie sein, ein angenommenes bisheriges Selbst gegenüber „dem Krebs“ bewahren zu wollen. Mit solchen Frauen, die sich von der bedrohlichen (angenommenen oder projizierten) Veränderung dieses bisherigen Selbst durch den Krebs ebenfalls abgrenzen, möchte man sich zusammentun. Allgemeiner betrachtet stellt jede Art des Umgangs mit Krankheit eine Möglichkeit dar, sich zu ihr zu verhalten und sich dadurch von ihr auch zu distanzieren. Sich nicht von der Krankheit dominieren zu lassen, wird sowohl von Ärzt_innen als auch Patientinnen immer wieder als wichtig im Umgang mit der Krankheit erwähnt. Die Differenzierungen auf der Ebene der „Persönlichkeiten“ und „Charaktere“, die aus Sicht der Patientinnen den Umgang mit der Krankheit bestimmen, werden hier ebenso zu einer psychologischen Ressource, wie die Differenzierungen auf physiologischer Ebene.

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I NTERPRETATION DER E RGEBNISSE MIT DEN K ONZEPTEN SOMATISCHE I NDIVIDUALITÄT UND B IOSOZIALITÄT Somatische Individualität Mit „somatic individuality“ (Novas/Rose 2000: 487f. und 491) bezeichnen Novas und Rose ein Verständnis von Individualität („personhood“, ebd.: 508), das sich zunehmend über körperliche Komponenten formiert, während die Vorstellung von Erfahrungen und Erlebnissen irgendwo im tiefen und unfassbaren psychischen Innenraum der Person als ‚Kernelemente‘ der Individualität an Bedeutung verliert (ebd.). Diese körperlichen Komponenten bestimmen nun das Verständnis der Individualität eines Individuums als „bodily terms“ (ebd.: 491), d.h. als körperliche Begriffe. Biomedizin und die damit verbundenen Wissenschaften stellen die „Sprachen“ (ebd.: 487f.) bereit, mittels derer somatische Individualitäten gebildet werden. Wie verhält es sich mit dieser „Sprache“, d.h. dem Wissen über den Körper, in der von mir untersuchten Konstellation? Die Wissensbestände, aus welchen die Patientinnen ihr somatisiertes Selbstverständnis bilden, setzen sich folgendermaßen zusammen: Sie bestehen (1) aus neuester biomedizinischer Forschung zu Tumoreigenschaften und -reaktionen sowie weiteren, für Brustkrebs relevanten körperlichen Faktoren. Aber dieses Wissen wird (2) von Patientinnen wie Vertreter_innen der Klinik in hohem Maße reflektiert: Es handelt sich um statistisches, nur auf Wahrscheinlichkeiten beruhendes und damit unsicheres Wissen über einen kontingenten individuellen Körper. Dadurch wird der individuelle Körper immer auch wieder zu etwas, das sich zumindest partiell einem naturwissenschaftlichen oder biomedizinischen Zugriff entzieht. So sind (3) auch nicht-naturwissenschaftliche, persönliche oder individuelle Deutungsfähigkeiten gefragt. Der individuelle Körper wird von den Patientinnen teilweise als ‚Träger‘ einer Botschaft begriffen, die sie nun verstehen lernen müssen oder wollen oder auch bereits verstanden haben. Hierzu greifen sie u.a. auf Ratgeberliteratur und Angebote aus dem so genannten alternativen oder esoterischen Wissensspektrum zurück; aber auch auf ein Alltagswissen, das davon ausgeht, dass die Botschaften des eigenen Körpers aus eigener Erfahrung und mittels eigener Sensibilität gedeutet werden können. In der Entschlüsselung dieser Botschaft liegt ein Versprechen

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oder zumindest die Hoffnung auf psychisches und physisches Wohlergehen oder Gesundheit, wobei Gesundheit zwischen den Bedeutungen Lebensqualität und Vermeidung eines Rückfalls changieren kann. Indem „auf den eigenen Körper zu hören“ von den Patientinnen als Voraussetzung begriffen wird, „sich Gutes zu tun“ – aber auch als damit gleichbedeutend – findet eine Somatisierung des Selbstverständnisses statt. Der Körper wird für diese Frauen im Verlaufe der Therapie zum Bezugspunkt der neuen Selbstinterpretationen und zum Ausgangspunkt neuer sozialer Praxen. Auch wenn diverse personale oder Literatur-Ratgeber sowie kulturelle und soziale Erfahrungen zur Seite stehen mögen, wird das Deuten des Körpers von den Patientinnen als persönlicher Akt begriffen. Und darin liegt meines Erachtens die Spezifik dieser Form von somatischer Individualität. Grundlage einer somatischen Individualität bildet neben dem (technisch und sozial vermittelten) Erfahrbar-Werden auch eine Form von objektivierendem Sichtbar-Werden des eigenen Körpers als spezifischer Körper. Dieses Sichtbar-Werden der Spezifität ist im vorliegenden Fall deutlich weniger stark technologisch determiniert, als dies in den in der Literatur diskutierten Fallstudien im Kontext einer neuen Genetik der Fall ist. Diese Frauen unterscheiden sich (solange sie kein Rezidiv oder Metastasen entwickeln) von Gesunden eindeutig nachweisbar nur dadurch, dass sie einen Tumor entwickelt hatten, der zu diesem Zeitpunkt aber bereits entfernt wurde. Wodurch sich die Frauen vielleicht sonst von Gesunden unterscheiden, fächert sich – als Folge des multifaktoriellen Krankheitsmodells wie auch der sozialen Praxis in der Klinik – in einem unbestimmten ‚Raum‘ zwischen vielen möglichen Risikofaktoren auf, die durch Gegenbeispiele auch immer relativiert werden können. 12

12 Zwar gibt es Verfahren, unterschiedliche Arten von Tumoren über bestimmte Rezeptoren auf deren Oberfläche zu bestimmen. Daraufhin erfolgt eine spezifische weitere Behandlung. Da die medizinische Praxis Frauen mit unterschiedlichen Tumoren und Behandlungen in den Brustzentren aber auch zusammenbringt, und diese biomedizinischen Teil-Gruppen von keiner der Interviewten als Grundlage einer Identifikation mit anderen Frauen erwähnt wurde, erachte ich dies für meine Argumentation nicht als relevant. Im Übrigen ist nicht sicher, dass diese nun biomedizinisch bestimmte Individualität (des Tumors) ein Rezidiv verhindert. Eine gewisse Unsicherheit, ob der Körper wirklich zu der Gruppe der Frauen

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Wenn man nach einer Materialisierung bzw. dem Sichtbar-Werden eines für diese somatische Individualität bestimmenden Wissens in der Biomedizin sucht, ist dies meines Erachtens eher in den Blutwerten zu finden: Diese sind objektivierbar, werden von allen Beteiligten als Fakten akzeptiert und haben eindeutige Konsequenzen. Sie verweisen aber zuerst auf einen vorübergehenden Zustand und im Weiteren auf ein System (Immunsystem). Die Individualität der Frauen konstituiert sich in diesen Fällen prozesshaft durch das kontinuierliche Auf-Spüren des individuell richtigen Umgangs mit dem jeweils eigenen, spezifischen Immunsystem. Dieses schließt Intervention in das System und damit Veränderung seines Zustandes nicht aus. Für die Bedeutung von Blutwerten und Immunsystem spricht auch, dass Krebs teilweise als etwas betrachtet wird, was prinzipiell „jeder im Körper hat“, wie eine Patientin dies einmal äußerte. Eine Ärztin erklärte mir diese Theorie folgendermaßen: Sogenannte Krebszellen entstünden vermutlich permanent durch Fehlinformationen der Zellen in jedem Körper. In einigen Fällen würden sie aber durch das Immunsystem nicht unschädlich gemacht, was dann zur Einnistung der Zellen im Körper und somit vermutlich erst zur Entstehung einer Krebserkrankung führen würde. Das Körperverständnis – die „bodily terms“ (Novas/Rose 2000: 491) –, das der somatischen Individualität, wie sie in dieser klinischen Praxis geschaffen wird, zugrunde liegt, lässt sich meines Erachtens am ehesten folgendermaßen zusammenfassen: Der Körper ist etwas, auf das man gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen und Belastungen (zunehmend?) Rücksicht nehmen muss. Die Notwendigkeit der Rücksichtnahme gilt für diese Frauen in besonderem Maße, da ihre Körper krank geworden sind. Sie ist Bestandteil ihrer Erfahrungswelt geworden. Als eine Verhaltensweise, die prinzipiell allen gut tun würde, kann sie von ihnen aber auch auf Nicht-Erkrankte übertragen werden. Novas/Rose verstehen die Herausbildung einer somatischen Individualität als historisches und politisches Phänomen, das im Zusammenhang weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen zu betrachten ist. Als Form der Subjektivierung steht die somatische Individualität mit einer zeitgenössischen Form von Personalität in Verbindung, welche Autonomie, Selbstverwirklichung, Vorsicht, Verantwortung und Wahl in den Vordergrund stellt (ebd.: 502). Die Rücksichtnahme auf den

gehört, deren Tumore auf eine spezifische Therapie gut ansprechen, bleibt bestehen.

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eigenen Körper könnte man als eine solche Vorsicht und Verantwortung im Umgang mit der eigenen körperlichen Disposition verstehen. Auch dass die Wichtigkeit des individuellen Umgangs mit der Krankheit von Patientinnen und Vertreter_innen der Klinik stark betont wird, lässt sich in diesem Zusammenhang betrachten: Darin können sich auch Wünsche nach Autonomie, Handlungsfähigkeit und Wahl zeigen. Sicherlich ‚zirkulieren‘ diese Wünsche auch in ökonomischen Kreisläufen – nicht zuletzt im Markt esoterischer Ratgeber und verwandter Angebote. Viele Ansätze, die mit dem Konzept der somatischen Individualität arbeiten, betrachten die Patient_innen, und vor allem Risikogruppen, als Kund_innen und/oder „Citizens“ (Bürger_innen, die ihre Rechte einfordern) im Spannungsfeld von Staat, Markt und Wissenschaft. Ich möchte im Zusammenhang mit der medizinischen Praxis in der Klinik, in der ich sie beobachtet habe, jedoch einen anderen Aspekt hervorheben. Die Klinik unterstützt die Herausbildung dieser neuen somatischen Individualitäten auch, indem sie Unsicherheiten nicht verschweigt, was ihr biomedizinisches Wissen anbelangt. Dass dies die Patientinnen weniger verunsichert, als dass es sie bestärkt, hängt, so vermute ich – und das wäre als Frage weiter zu verfolgen – damit zusammen, dass in dieser Klinik möglicherweise eine „Logic of Care“ (Mol 2008) die klinische Praxis maßgeblich mitprägt. Die Logic of Care unterscheidet sich von einer Logic of Choice, indem sie die Patient_innen nicht in erster Linie dann als am besten betreut betrachtet, wenn diese eine möglichst gut informierte und eigenverantwortliche Wahl treffen (ebd.). Damit meine ich keineswegs, dass die Patientinnen in dieser Klinik nicht gut informiert würden. Die meisten lobten sogar die gute, verständliche Information. Aber die Logik of Care bezieht Unsicherheit mit ein; Unsicherheit ist chronisch (ebd.: 78). Und dennoch oder gerade deswegen können die Patient_innen das Gefühl haben, dass sie gut umsorgt sind. Denn die Logic of Care versucht, in einer steten Zusammenarbeit zwischen Patient_innen und Mediziner_innen das (unsichere) Wissen und die (unsicheren) Technologien den von unregierbaren Krankheiten heimgesuchten, fragilen Körpern in einem komplexen Leben immerfort anzupassen (ebd.).

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Biosozialität Biosozialität ist ein umfassendes und vielschichtiges Konzept. Zwei Aspekte davon werde ich hier ausführen: die Gruppenbildungen und das Verhältnis von Natur (hier Körper) und Kultur. Erstens liegt den Veränderungen in den sozialen und alltäglichen Praxen meines Erachtens eine Vorstellung des biologischen Körpers zugrunde, wie ihn Rabinow für sein Biosozialitätskonzept beschreibt: Laut Rabinow konstituiert sich Biosozialität über ein bestimmtes Verständnis des Verhältnisses von Natur und Kultur: nämlich der Modellierung von Natur über Kultur, wobei diese Kultur als Praxis verstanden wird (Rabinow 1992: 241). Die konkreten Praxen mit dem Ziel, das zu tun, was einem gut tut, können als kulturelle Praxen verstanden werden, mit denen die Patientinnen auf den eigenen Körper (Natur) und ihre Gesundheit einwirken möchten. Dies trifft nicht nur auf die körpernahen Praxen (Thai Chi etc.) zu. Auch die Neugestaltung sozialer Beziehungen kann in diesem Sinne verstanden werden: Sowohl Praxen der Individualisierung, d.h. der Lösung aus bisherigen sozialen Zusammenhängen und Verpflichtungen, wie auch die neuen Gruppenbildungen mit Gleichgesinnten zielen daraufhin, sich – d.h. diesem somatisierten Selbst – Gutes zu tun; z.B. indem man für sich einen „passenden“ Arzt sucht oder psycho-sozialen Stress zu vermeiden sucht. Hierbei erscheint es mir wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Einflussnahme immer ambivalent zwischen Gesundheit, Lebensqualität und psychischem Wohlbefinden verstanden werden muss. Ich behaupte nicht, dass diese Frauen davon überzeugt sind, auf diese Weise ein Rezidiv verhindern zu können. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass sie es hoffen. In der Auseinandersetzung mit diesem Konzept war für mich vor allem erstaunlich, dass die Betonung der Unterschiede zwischen den Patientinnen die Identifikation sowohl mit der Krankheit als auch mit allen davon Betroffenen überwog. Denn das ursprüngliche Biosozialitätskonzept Rabinows sieht Gruppenbildungsprozesse auf der Grundlage des Wissens um eine gemeinsame biologische Basis vor (und diese Basis ist die Genetik). Zugehörig wollen sich diese Frauen jedoch nicht zu Frauen fühlen, die Brustkrebs haben, sondern zu Frauen, die Brustkrebs auf eine bestimmte Art und Weise tun. Gruppenbildungsprozesse – und dies ist der zweite Punkt meiner

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Ausführungen – können sich gerade über die Betonung der Unterschiede im Umgang mit der gemeinsamen Diagnose ergeben. Um zu verstehen, wie wichtig für diese Patientinnen die Möglichkeit der Distanzierung von der Krankheit ist, muss man wahrscheinlich auch berücksichtigen, dass Krebs nach wie vor eine stark sozial stigmatisierte Krankheit ist. Was Susan Sontag (Sontag 2003) Ende der 1970er Jahre für den Krebs an negativen Bedeutungen herausgearbeitet hat – dass er mit dem Bösen, dem Schmutzigen, der Faulheit assoziiert, mit dem Charakter einer Person verbunden oder als selbstverschuldet betrachtet wurde – trifft heute hoffentlich und wahrscheinlich nicht mehr in dieser Ballung an Negativität zu. In den Aussagen derjenigen Patientin, die kurz nach ihrer Diagnose von mir interviewt wurde, klangen solche Fragen nach möglicherweise eigenen krebsverursachenden Persönlichkeitselementen oder psychischen Dispositionen jedoch noch an, auch wenn sie wieder infrage gestellt wurden. Sich nicht mit der Krebserkrankung zu identifizieren, könnte demnach teilweise auch dadurch motiviert sein, sich nicht mit diesen negativen Persönlichkeitsmerkmalen oder sonstigen sozialen Stigmatisierungen identifizieren zu wollen. In Bezug auf die Frage nach einer spezifischen Biosozialität schlage ich folgende Interpretation vor: Die Formierung von somatischer Individualität und Biosozialität ist generell als Effekt einer Vielzahl widerstreitender Elemente zu verstehen (Kliems 2008). Hierzu sind meines Erachtens auch vergangene, aber noch nicht vollständig überkommene, Krankheitskonzepte bestimmter Krankheiten zu zählen. Wie Kliems im Falle von ADHS-Selbsthilfegruppen beschreibt, kann es – gerade bei nicht-monogenetischen Krankheiten – zu Gruppenbildungen kommen, die vielschichtiger sind, als von Rabinow ursprünglich angenommen. Diese ermöglichen innerhalb der Gruppe neben der Erfahrung von Gemeinsamkeiten auch die Erfahrung von Differenz (ebd.). Verallgemeinert bedeutet dies auch: Differenzen treten immer da zutage, wo der (gemeinsame) biologische Status beschrieben, diskutiert und gelebt wird, z.B. in einer Klinik. Schließlich interagieren Biosozialitäten auch mit anderen Formen gelernter sozialer Identität – z.B. mit milieuspezifischen Lebensstilen. Die Diskussion von Biosozialität muss aber letztendlich auf folgende Frage eine Antwort geben: Wie stehen die Gruppenbildung sowie die Erfahrung und Betonung von Differenz und Individualität im Zusammenhang mit dem biomedizinischen Wissen über Brustkrebs?

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Meines Erachtens handelt es sich um eine Form von Biosozialität, die sich angesichts eines teilweise unsicheren biomedizinischen Wissens über eine bestimmte Krankheit herausbildet. 13 Die Unsicherheit hängt damit zusammen, dass Brustkrebs wahrscheinlich ein komplexes Geschehen und deshalb auch schwieriger zu erforschen ist als monokausale genetische Erkrankungen. Dennoch ist die Formation von Biosozialitäten auch auf der Grundlage neuen unsicheren Wissens denkbar: Die körperliche Grundlage der somatischen Individualität, die Bestandteil der Biosozialität ist, ist in diesem Fall durch biomedizinische Technologien nicht eindeutig bestimmbar. Sie konstituiert sich deshalb im persönlichen Umgang mit der Diagnose und der Krankheit. Dieser persönliche Umgang wird von den Vertreter_innen der Klinik unterstützt. Das (angeblich) Individuelle dieses Umgangs wird dabei von allen stark hervorgehoben: Psychologisch ist es aufgrund der Erfahrung wichtig, dass auf positive wie negative Verallgemeinerungen (Heilung oder Tod) kein Verlass ist. Dass auf Verallgemeinerungen kein Verlass ist, hat wiederum mit den komplexen und in vielem unbekannten Ursachen von Brustkrebs zu tun. Aber in diesem (angeblich) individuellen Umgang liegt nicht zuletzt auch die Hoffnung der Patientinnen auf Gesundheit, zumindest verstanden als Lebensqualität. Und zur Lebensqualität trägt dies, wie diese Patientinnen berichten, auch bei. Individualität stellt für diese Frauen einen hohen Wert dar – wahrscheinlich auch aufgrund ihrer Schicht- oder Milieuzugehörigkeit. Aus all diesen Gründen steht diese somatische Individualität zu der Identifikation und Gruppenbildung mit allen an Brustkrebs erkrankten Frauen in einem Spannungsverhältnis. Um diesen Umgang herum bilden sich jedoch neue Gemeinschaften (Patient_innenfreundschaften). Daraus können eventuell auch größere Gruppen entstehen. Aber ist dies nun wirklich Biosozialität? Beschränkt man sich darauf, dass Freundschaften oder Gruppen, die sich als Folge biomedizinischen Wissens und medizinischer Praxis bilden, Biosozialitäten sind, ist die Antwort: ja. Wenn die Gruppenbildung mit Anderen geschieht, die auf dieselbe Art wie man selbst versuchen, auf den Körper einzuwirken, und wenn man die Gruppenbildung mit anderen als Praxis be-

13 Dies gilt für die Mehrzahl der Brustkrebspatientinnen, die nicht aufgrund einer der bekannten Gen-Veränderungen erkrankt sind. Siehe Fußnote 1.

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trachtet, auf das eigene körperliche und psychische Wohlbefinden einzuwirken, könnte man ebenfalls zustimmen. Durch eine solche Interpretation wird das Biosozialitätskonzept allerdings erweitert bzw. um eine Dimension verkürzt: Rabinow meint mit Interventionen in Natur – in der Tradition von Foucaults Biomachtkonzept – Transformationen menschlichen Lebens sowie Modifikationen und Manipulationen von Natur (Rabinow 1992: 234f., 248f.). Ich habe in dieser Diskussion den Körper anstelle von Natur gesetzt. Im ursprünglichen Biosozialitätskonzept geht es zwar auch um Interventionen in den Körper. Da diese aber auf genetischer Ebene stattfinden, werden Körper, Natur und Leben auf komplexe Weise miteinander verbunden. Denn Gene werden nicht von Rabinow selbst, aber von vielen als „Essenz“ des Lebens begriffen. Wie von Braun und Stephan zeigen, wird dadurch das „Genom“ zu einer ‚modernen‘ fleischlichen Unsterblichkeitsvorstellung zwischen Naturwissenschaft und Religion, (von Braun/Stephan 2005; vgl. auch Kollek 2002). Natur, Körper und genetischer Phänotyp als Lebewesen/Körper des Individuums sind dabei einerseits Synonyme, aber der Körper als vergängliche Natur wird wiederum dem ewigen Leben des (nun genotypischen) Genoms (Code, sakraler Text, Logos, „geistiges Leben“ und Ursache des Phänotyps) gegenübergestellt (Braun/Stephan 2005; Kollek 2002). Interventionen auf der genetischen Ebene zielen als Biomacht/Biosozialität auch auf den überindividuellen Bereich des Genotypus. Wenn dieser als Natur und „Essenz“ des Lebens begriffen wird – ob nun als Natur im Sinne eines Produktes der Evolution oder als Code/“geistiges Leben“ – ist dies etwas, was die körperliche Erfahrungswelt Einzelner überschreitet und mit „Körper“ von mir nicht ganz angemessen wiedergegeben wird. Solche Vorstellungen sind mir allerdings in der medizinischen Praxis dieser Klinik nicht begegnet. Festzustellen ist aber vor allem folgender pragmatischer Unterschied: Da Brustkrebs (noch?) nicht genetisch begriffen und technisch manipuliert werden kann, steht die genetische Ebene für Interventionen nicht zur Verfügung. Die Interventionen dieser Patientinnen richten sich daher zwar auch auf die Veränderung von Körper und „Leben“, aber eher verstanden als Veränderung der Lebens-Qualität – also im körperlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsbereich der Patientinnen verbleibend.

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Z USAMMENFASSUNG

UND

S CHLUSSFOLGERUNG

Die Arbeit legt dar, wie medizinische Praxis auch im Zusammenspiel mit Krankheitsvorstellungen der Patientinnen außerhalb des aktuellen biomedizinischen Diskurses wirksam wird. Sie weist darauf hin, dass die Identifikation mit gewissen Krankheiten für die Betroffenen aufgrund sozialer Stigmatisierungen problematisch sein kann, auch wenn diese Krankheitsvorstellungen nicht mehr dem aktuellen biomedizinischen und psychoonkologischen Wissen entsprechen. Solange die Biomedizin für diese Krankheiten keine eindeutige biologische (entlastende) Grundlage als Ursache zur Verfügung stellen kann, können solche Vorstellungen wirksam bleiben – auch für die Formierung von Biosozialitäten. Dies legt nahe, generell die Geschichte einzelner Krankheiten in das komplexe Feld widerstreitender Elemente, in dem sich Biosozialitäten formieren, mit einzubeziehen. Wie gezeigt werden konnte, formieren sich aber auch auf der Grundlage eines teilweise unsicheren biomedizinischen Wissens über die Krankheitsursachen somatische Individualitäten und Gemeinschaften. Die somatische Individualität dieser Brustkrebspatientinnen konstituiert sich im persönlichen Deuten des eigenen Körpers. Aufgrund der Ergebnisse dieser explorativen Studie ist zu vermuten, dass bei unsicheren biomedizinischen Wissensbeständen bzw. komplexen Krankheitsursachen der individuelle Umgang mit der Krankheit und dem Körper einen hohen Stellenwert bekommt. Dieser hohe Stellenwert des individuellen Umgangs kann dazu führen, dass sich Betroffene nicht mit anderen Betroffenen zusammenschließen. Das schließt nicht aus, dass sich neue Gruppen bilden, gerade um diesen (angeblich) individuellen Umgang herum. Dabei spielen wahrscheinlich bisherige Formen sozialer Identität, z.B. milieuspezifische Lebensstile, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Einschränkend muss gesagt werden, dass nur Gruppenbildungsprozesse auf der Ebene von „face to face“-Interaktionen untersucht wurden. Wenn man Biosozialität so definiert, dass ihr eine Praxis zugrunde liegt, die auf die Intervention in Körper und Gesundheit zielt, kann man diese Gruppenbildungen als Biosozialität interpretieren. Allerdings muss Gesundheit und Leben (griechisch: Bios) dann im Sinne von Lebensqualität verstanden werden. Wie biophysiologische Grundlagen den Betroffenen in der medizinischen Praxis kommuniziert werden, spielt bei diesen Prozessen sicherlich auch eine Rolle.

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Meine Feldforschung hat wahrscheinlich an einem eher außergewöhnlichen Ort stattgefunden. Kultur und Praxis dieser Klinik lassen sich als Logic of Care (Mol 2008) begreifen. Ob Kontingenzen und Unsicherheiten bezüglich des eigenen Wissens von anderen Mediziner_innen so offen artikuliert werden, wäre eine Untersuchung wert. Eventuell haben solche Subjektkonzeptionen, wie sie laut Novas/Rose mit der somatischen Individualität einhergehen, in der Medizin, den Pflegewissenschaften und der Psychologie, aber auch unabhängig von bestimmten Krankheiten längst Einzug gefunden. Für Menschen, in deren Leben die mit diesen Subjektivitäten einhergehenden Eigenschaften aufgrund ihrer Sozialisation bereits früher einen hohen Stellenwert hatten, wären solche „Behandlungskulturen“ dann besonders anschlussfähig – weil sie ihr Krankheitserleben, ihre Selbstinterpretationen und ihre (Bio-)Sozialität in einer bekannten Weise praktizieren und artikulieren könnten. Hier könnten vergleichende Studien ansetzen. Eine medizinische Praxis, die auch die Logic of Care berücksichtigt, trägt wahrscheinlich dazu bei, dass die beschriebenen Subjektkonzeptionen und -konstitutionen im Falle (lebens-)bedrohlicher Krankheiten nicht zu einer zusätzlichen Belastung für die Betroffenen werden. Auch dies müsste in weiteren, vergleichenden Studien untersucht werden.

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Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik August 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1

Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? Juli 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8

Sonja Palfner Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik 2009, 390 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1214-1

Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? Januar 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3

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