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German Pages XVII, 472 [484] Year 2020
Linguistik in Empirie und Theorie/ Empirical and Theoretical Linguistics
Maria Mast
Kultureme als Spiegel des Denkens Das Sprechen über Beruf und Alltag in deutschen und spanischen Medientexten
Linguistik in Empirie und Theorie/ Empirical and Theoretical Linguistics Reihe herausgegeben von Igor Trost, Bad Abbach, Deutschland Annamária Fábián, Bad Abbach, Deutschland Torsten Leuschner, Gent, Belgien Armin Owzar, Freiburg im Breisgau, Deutschland Judith Visser, Bonn, Deutschland
Die Reihe Linguistik in Empirie und Theorie ist der Untersuchung linguistischer Phänomene auf allen sprachlichen Ebenen gewidmet. Durch die fachliche Breite des Herausgebergremiums und des wissenschaftlichen Beirats dieser Reihe umfasst ihr Portfolio die germanistische, anglistische, romanistische, slavistische Linguistik und die Linguistik des Ungarischen. Dabei werden sowohl empirische als auch theoretische Fragestellungen der gesprochenen und der geschriebenen Sprachforschung berücksichtigt. Neben innovativen einzelphilologischen Arbeiten richtet sich diese Reihe auch an Autorinnen und Autoren sprachübergreifender kontrastiver Analysen. Neben Monographien und Sammelbänden werden in der Reihe Linguistik in Empirie und Theorie auch herausragende Qualifikationsarbeiten kostenfrei veröffentlicht. Deshalb möchte das Herausgebergremium gezielt auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ermutigen, sich um die Veröffentlichung ihrer Qualifikationsarbeiten in der Reihe zu bemühen. Eine Publikation ist auf Deutsch und Englisch möglich. Dank Springer Link sind die Publikationen der Reihe Linguistik in Empirie und Theorie weltweit verfügbar. Ein wissenschaftlich und interdisziplinär ausgewiesenes Herausgeberteam mit einem Beirat renommierter Expertinnen und Experten sichert die Qualität der Reihe durch eine Begutachtung im doppelten Peer-Review-Verfahren. The book series Empirical and Theoretical Linguistics is dedicated to the linguistic study of all domains of language. Thanks to the wide range of disciplines represented in the editoral team and the advisory committee, the series is able to encompass German, English, Romance, Slavic and Hungarian linguistics. Innovative studies of empirical and theoretical topics concerning spoken and written language in individual languages are invited, as are crosslinguistic and contrastive investigations. Besides monographs and edited collections, the series Empirical and Theoretical Linguistics publishes high-quality doctoral and postdoctoral theses. The editors therefore encourage early career researchers specifically to submit their booklength manuscripts for publication in the series. Contributions may be written in German or English. Thanks to Springer Link, publications in the series Empirical and Theoretical Linguistics are available worldwide. Quality is ensured through double peer review by an editorial team of experienced academics in collaboration with a cross-European advisory committee of renowned specialists.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16336
Maria Mast
Kultureme als Spiegel des Denkens Das Sprechen über Beruf und Alltag in deutschen und spanischen Medientexten Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Ekkehard Felder
Maria Mast Berlin, Deutschland Die Dissertation an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ist im Rahmen des Promotionskollegs „Sprachkritik als Gesellschaftskritik im europäischen Vergleich“ entstanden und erhielt ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung BadenWürttemberg. Das Iberoamerika-Zentrum Heidelberg finanzierte einen Forschungsaufenthalt an der Universidad Pompeu Fabra in Barcelona. Die Autorin war Mitglied der Heidelberger Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften. Originaltitel der eingereichten Dissertation: Kultureme im intra- und interlingualen Vergleich als sprachspezifischer Spiegel des Denkens. Eine vergleichende Analyse am Diskurs über Beruf und Alltag.
ISSN 2662-5725 ISSN 2662-5733 (electronic) Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics ISBN 978-3-662-61947-6 (eBook) ISBN 978-3-662-61946-9 https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Geleitwort In dem Zeitraum vom 1. Juni 2002 bis zum 31. Dezember 2015 – also in der Zeitspanne, die Maria Mast in ihrer linguistischen Medienuntersuchung in den Blick nimmt – schien Europa mitunter an einem Scheideweg zu stehen. Nach den wirtschaftspolitischen Erschütterungen der sogenannten europäischen Bankenkrise in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre und den sozialpolitischen Herausforderungen durch Migration in den 2010er Jahren wird Europa in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen nicht mehr als nachhaltig stabil wahrgenommen. Im Gegenteil stellen sich viele der Grundsatzfragen des europäischen Zusammenschlusses erneut, die zur Jahrtausendwende konsensual beantwortet schienen, etwa: Was verbindet die Menschen in Europa? Was trennt sie? Aus heutiger Sicht – im Jahre 2020, in dem ein Coronavirus namens Sars-Cov-2 die Welt stillstehen lässt – ist der folgende Satz nahezu trivial, aber er muss dennoch wiederholt werden: Europa hat auf Dauer nur eine gemeinsame Zukunft, wenn es nicht nur als Institutionengeflecht und Strukturgebilde wahrgenommen wird, sondern die Menschen, die in den europäischen Ländern etwas übereinander wissen, Gemeinsamkeiten kennen, aber auch Unterschiede und mögliche Reibungen thematisieren. Um diesem Desiderat gerecht zu werden, muss der Blick auch auf den Alltag und die Wahrnehmung desselben gelenkt werden. Und dies tut die Autorin auf eine inspirierende Weise. Mit ihrer linguistischen Analyse verdeutlicht sie den enormen Einfluss der Sprache auf unser Empfinden und Denken und deckt das Zustandekommen unseres Selbstverständnisses auf: Denn im sprachlichen Material, in dieser Arbeit in den Medientexten, zeigen sich kulturelle Gesellschaftsauffassungen. Der Mehrwert der Untersuchung liegt darin, konvergierende und divergierende Gesellschaftsentwürfe und Rollenwahrnehmungen in zwei europäischen Ländern – nämlich Spanien und Deutschland – zu identifizieren. Und das tut sie, indem sie die sprachliche Konstitution von Beruf und Alltag fokussiert und ihre Konzeptualisierung in deutschen und spanischen Medientexten transparent macht. Gesellschaftlich relevante Linguistik zeigt hier eindrucksvoll, wie sehr unser Denken, Wissen und Fühlen wesentlich durch die mediale Konstruktion beeinflusst ist: Was wir über die Alltagswelt im eigenen und in einem anderen Land denken, ist geprägt durch diese sprachliche Vermittlung und die mediale Interaktion kultureller Wahrnehmungsfolien, die uns als Orientierungskonzepte dienen. Die sprachlich instruierten Wahrnehmungsfolien und evozierten Denkmuster transparent zu machen, ist im und für den europäischen Kontext identitätsstiftend, denn schließlich ist es uns nur in geringem Ausmaß möglich, uns über Primärerfahrungen individuelles Wissen zuzulegen. Größtenteils sind wir auf medienvermittelte Wirklichkeitsdarstellungen und ihre sprachliche Ordnung – man könnte auch sagen „Zubereitung“ – angewiesen, wenn wir uns ein Bild von der Welt machen. Die in den
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Geleitwort
Medienwissenschaften von Siegfried J. Schmidt (1996) in Die Welten der Medien stark gemachte Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität ist hierbei heuristisch hilfreich: Unter Wirklichkeit wird die subjektive, mit den originären Sinnen erfahrbare und begreifbare Welt verstanden, Realität ist das medial konstituierte und sprachlich also zwangsläufig gestaltete Szenario davon: die Medienrealität als vermittelte Welt. Vor diesem Hintergrund der Differenzierung sind wir als Medienrezipienten des sogenannten Informationszeitalters in erheblichem Maße mit Realität konfrontiert, also mit sprachlichen Produkten, die Wirklichkeit zeigen wollen. In der Rezeption von gesellschaftspolitisch und kulturell relevanten Wissensbeständen haben wir es demnach mit gestalteten Materialien in sprachlicher Form zu tun. Individuell erfahrbare Wirklichkeit kann sich, muss sich aber nicht decken mit der kollektiv rezipierbaren (Medien-)Realität. Massenmediale Sprach- und Bildzeichen sind daher ein perspektivierter Ausschnitt von Welt. Der Weltausschnitt ist interessengeleitet konstituiert worden, es handelt sich um eine mögliche Realität im Spektrum verschiedener Wirklichkeiten. Der Arbeit liegt die erkenntnisleitende Frage zugrunde, ob sich – und zwar in der medialen Darstellung von alltäglicher Aufgabenbewältigung einerseits und fachbezogenen Berufsanforderungen in kompetitiven Wirtschaftssystemen andererseits – Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Deutschland und Spanien identifizieren lassen, die im sprachlichen Zugriff schon (vor)angelegt sind. Die Ergebnisse, welche die Kulturspezifik der Konzepte im Deutschen und Spanischen offenlegen, werden aus dem Blickwinkel der Forschungen in einem neuen Kulturem-Begriff verdichtet und sind auch für ein nicht-linguistisches Publikum interessant. Der Autorin ist zu dieser hoch relevanten soziokulturellen Fragestellung nur zu gratulieren. Sie ist nicht nur Germanistin, sondern auch Romanistin – und von daher zu dieser sprachvergleichenden Untersuchung im Deutschen und Spanischen bestens befähigt. Ich wünsche dem Buch große Aufmerksamkeit und hoffe auf weitere Untersuchungen dieser Art. Prof. Dr. Ekkehard Felder Heidelberg, im Mai 2020
Beiratsgremium "Linguistik in Empirie und Theorie | Empirical and Theoretical Linguistics" • • • • • • • • • • • •
Jannis Androutsopoulos (Hamburg) (German Linguistics) Irmtraud Behr (Paris 3) (German Linguistics) Uta Helfrich (G.A.-U. Göttingen) (Romance Linguistics) Alfred Lameli (Freiburg) (German Linguistics) Alexander Lasch (TU Dresden) (German Linguistics) Antje Lobin (J.G.-U. Mainz) (Italian and French Linguistics) Konstanze Marx (Greifswald) (German Linguistics) Tanja Mortelmans (Antwerpen) (German Linguistics) Aleksandra Salamurović (F.S.-U. Jena) (Slavic Linguistics and German Linguistics) Renata Szczepaniak (Bamberg) (German Linguistics) Stefanie Ullmann (Cambridge) (English Linguistics and Computational Linguistics) Hélène Vinckel-Roisin (Paris 4) (German Linguistics)
Beiratsgremium "Sprache, Geschichte, Politik und Kommunikation | Language, History, Politics and Communication“ • • • • • • • • • • •
Peter Ernst (Universität Wien) (German Linguistics) Hans-Werner Eroms (Universität Passau) (German Linguistics) Heiko Girnth (Philipps-Universität Marburg) (German Linguistics) Sabine Heinemann (Karl-Franzens-Universität Graz) (Romance Linguistics) Uta Helfrich Michel Lefèvre (Montpellier 3) (German Linguistics) Dietmar Osthus (Universität Duisburg Essen) (Romance Linguistics) Aleksandra Salamurović (Friedrich-Schiller-Universität Jena) (Slavic Linguistics and German Linguistics) Sibylle Sauerwein (Paris Nanterre - Paris 10) (German Linguistics and Romance Linguistics) Sven Staffeldt (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) (German Linguistics) Stefanie Ullmann (Cambridge) (English Linguistics and Computational Linguistics)
Danksagung Ich danke meinen Eltern für die Inspiration, den Blick aus unserem schmalen Tal hinaus auf andere Länder zu werfen. Danke an Andreas Wundersee (Satz) und an Friederike Mayer-Lindenberg (Korrektorat), die dieses Buch wie so vieles in meinem Leben schöner und besser gemacht haben. Für viele gemeinsam verbrachte Stunden in der Universitätsbibliothek, aufbauende Kaffeepausen und inspirierende Gespräche danke ich meiner Heidelberger Crew. Ebenso meinen Schwestern, die wissen, wann es an der Zeit ist, zu verbessern – und wann, zuzuhören. Ohne Stipendium hätte ich nicht promovieren können. Dafür und für den motivierenden Rahmen danke ich dem Heidelberger Forschungskollektiv zur „Sprachkritik als Gesellschaftskritik im europäischen Vergleich“. Besonders Verena Weiland sowie meine Zweitbetreuerin Prof. Sybille Große haben diese Arbeit durch ihre romanistische Perspektive und durch umsichtige Fragen zur sprachvergleichenden Korpusanalyse weitergebracht. Immer ansprechbar und hilfreich war Katharina Jacob. Sie hat mir klar gemacht, dass Wissenschaftlerinnen auch nur Menschen sind – und man selbst zu einer werden kann, wenn man sich nur lange und intensiv genug mit einem Thema beschäftigt. Zuletzt danke ich meinem Doktorvater Prof. Ekkehard Felder, der mir stets Mut gemacht hat, weiterzuschreiben und weiterzudenken. Sein Seminar zur Angewandten Sprachwissenschaft hat mich in meinem ersten Semester so sehr überfordert und begeistert, dass ich den Rest meines Studiums nicht mehr von dem Thema ablassen konnte.
Vorwort Manchmal lernen wir ein neues Wort, das uns in einer Momentaufnahme vor Augen führt, wie anders Menschen verschiedener Kulturen die Welt in ihrer Sprache verstehen. Ein solches Wort bringt uns etwas Unbekanntes näher. Nehmen wir das spanische Wort „la merienda“, das vielleicht mit „Vesper“ ins Deutsche übersetzt werden kann. Eigentlich beschreibt der Ausdruck das Konzept des Nachmittagssnacks, bei dem salzige oder süße Kleinigkeiten verspeist werden – typischerweise ein kleines Baguette, mit Schinken oder mit Käse, an einem Sonntagnachmittag auch churros mit heißer Schokolade. Der Ausdruck „churros“, der im Deutschen keine Entsprechung hat, macht uns auf eine lexikalische Lücke aufmerksam: Da wir diese Art des frittierten und mit Zucker bestreuten Brandteiggebäcks, das in dickflüssige heiße Schokolade getunkt wird, nicht kennen, benötigen wir auch kein Wort dafür. In Deutschland kennen wir Krapfen oder Berliner, die zwar etwas anderes sind, uns aber das spanische Konzept der ›churros‹ verstehen lassen. Den Ausdruck „Vesper“ verwendet man überwiegend in Süddeutschland für die kleine Zwischenmahlzeit, ebenso für das Vesperbrot, typischerweise in einer Brotdose, dazu beispielsweise noch ein Apfel. In Hamburg würde man dazu wohl eher „Stulle“ sagen. Muss der Apfel dann weggelassen werden? Es ist kein Zufall, dass die genannten Beispiele für kulturspezifische Wörter aus dem Sinnbezirk des ESSENS stammen, denn er begleitet unser Leben als anthropologische Konstante und legt ein kulturspezifisches Sprechen darum besonders nahe. Bei den in der vorliegenden Arbeit untersuchten Diskursthemen BERUF und ALLTAG handelt es sich ebenfalls um zentrale Themen des Menschseins, die zeit- und raumübergreifend wirksam sind. Eine Betrachtung, die die Kulturspezifik dieser Bereiche in den Fokus rückt, verspricht, das Denken, Fühlen und Wollen der untersuchten Sprachgemeinschaft bezüglicher dieser für das Leben maßgeblich prägender Aspekte zu ergründen. Eine solche Perspektive werde ich in der folgenden Studie vorschlagen.
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung................................................................................................. 1 2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft ............................................... 5 2.1 Sprache und Kultur im 18. und 19. Jahrhundert..................................................................5 2.1.1 Die Verflechtung von Sprache, Denken und Kultur (Wilhelm von Humboldt) ..........................7 2.1.2 Zusammenfassung ...........................................................................................................................8
2.2 Sprachwissenschaft und Anthropologie – Zur Bestimmung des Konzepts von Kultur ... 9 2.2.1 Drei Kulturbegriffe der Anthropologie......................................................................................... 10 2.2.2 Anthropologische Linguistik – Sprache im Gebrauch als Paradigma ...........................................12
2.3 Sprache und Kultur im beginnenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts .......................15 2.4 Die Verflechtung von Sprache und Kultur im 20. und 21. Jahrhundert ........................... 17 2.4.1 Verdrängung der Kultur aus der Sprachwissenschaft ....................................................................17 2.4.2 Sprache und Kultur in angrenzenden Disziplinen und in der Diskurslinguistik ........................ 19
2.5 Zwischenfazit ..................................................................................................................... 21
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit..................................................................................23 3.1 Forschungsstand ................................................................................................................ 23 3.1.1 Begriffliche Erläuterung ................................................................................................................ 24 3.1.2 Entstehung der Kulturemtheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ............................ 24 3.1.3 Anwendung der Kulturemtheorie in den Übersetzungswissenschaften ...................................... 30
3.2 Zusammenfassung: Vergleich der bestehenden ›Kulturem‹-Konzepte ............................ 35 3.3 Arbeitsdefinition für die Korpusanalyse ............................................................................37 3.3.1 Charakteristika von Kulturemen ................................................................................................... 37 3.3.2 Funktionen von Kulturemen ........................................................................................................ 38
4 Korpora und Methode ............................................................................. 39 4.1 Medientextanalyse: Medien als Abbild kollektiven Denkens, Fühlens und Wollens .....39 4.2 Leserkommentaranalyse: Leserkommentare als Abbild individuellen Denkens, Fühlens und Wollens...................................................................................................................... 40 4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung ......................................................... 41 4.3.1 Zeitungstextkorpora ...................................................................................................................... 42 4.3.2 Leserkommentarkorpora ...............................................................................................................44 4.3.3 Reflexion: Pilotstudie zur Suchsyntax der Zeitungskorpora im Deutschen und Spanischen und Begründung der Zeitungsauswahl ................................................................................................ 45
4.4 Methode und Methodologie ............................................................................................. 52 4.4.1 Forschungspraktische Einordnung der Methode: Sprachvergleichende Diskursanalyse..............52 4.4.2 Analyseschwerpunkt: Konzeptkonstituierung im Sprachvergleich ..............................................53 4.4.3 Begriffliche Erläuterungen: Subthemen und konzeptuelle Zugriffe ............................................ 56
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Inhaltsverzeichnis
5 Analyse der Korpora ................................................................................ 59 5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen .....62 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4
Wortlisten und keyword-Listen ...................................................................................................... 63 Reflexion: Zum Nutzen von keyword-Listen in der sprachvergleichenden Diskursanalyse.......... 65 Wortgruppenanalyse .....................................................................................................................67 Auswertung relevanter Kollokationen ..........................................................................................68
5.2 Analyse des ersten Subthemas ZEIT in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora ...................................................................................................72 5.2.1 ZEIT in der Sprachwissenschaft ...................................................................................................... 72 5.2.2 Die Analyse von ZEIT in der vorliegenden Arbeit ........................................................................ 73 5.2.3 Konzeptanalyse .............................................................................................................................. 74 Konzeptuelle Zugriffe: FLEXIBILITÄT 74 - ANWESENHEIT 108 - VEREINBARKEIT 137 - ESSEN 171 PRODUKTIVITÄT 196 - FREIZEIT 235 5.2.4 Strukturelle Besonderheiten der Leserkommentarkorpora ........................................................ 256
5.3 Analyse des zweiten Subthemas RAUM in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora ...............................................................................................................266 5.3.1 RAUM in der Sprachwissenschaft .................................................................................................266 5.3.2 Die Analyse von RAUM in der vorliegenden Arbeit .................................................................... 267 5.3.3 Konzeptanalyse ............................................................................................................................269 Konzeptuelle Zugriffe: ZUHAUSE 269 - SOZIALER UND PHYSISCHER RAUM ‚UNTERNEHMEN‘ 294 MOBILITÄT – UNTERNEHMEN IM RAUM 310
5.4 Analyse des dritten Subthemas ROLLEN/GRUPPEN in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora ................................................................................................................332 5.4.1 ROLLEN und GRUPPEN in der Sprachwissenschaft .........................................................................332 5.4.2 Die Analyse von ROLLEN und GRUPPEN in der vorliegenden Arbeit ........................................... 333 5.4.3 Konzeptanalyse .............................................................................................................................334 Konzeptuelle Zugriffe: GENDER UND DISKRIMINIERUNG 334 - GENERATION 383 - HIERARCHIE 409
5.5 Zusammenführung und Schlussfolgerungen des empirischen Teils .............................. 423
6 Fazit ......................................................................................................425 6.1 Acht Thesen zur kulturvergleichenden Korpusanalyse .................................................. 425 6.2 Kultureme als diskurslinguistische Analysekategorie? .....................................................431 6.3 Linguistische Kulturanalyse als Momentaufnahme ........................................................ 434
Literaturverzeichnis ..................................................................................437 Nachschlagewerke .................................................................................................................. 437 Sekundärliteratur .................................................................................................................... 437
Anhang .................................................................................................... 463
Tabellen Tabelle 1: Schematische Übersicht der Konzeptanalyse ................................................................................ 59 Tabelle 2: Aufbau der Konzepttabellen ........................................................................................................ 60 Tabelle 3: Aufbau der Vergleichstabellen ......................................................................................................62 Tabelle 4: n-Gramm des Subthemas ZEIT ....................................................................................................68 Tabelle 5: Konzept ›flexible Arbeitszeit‹ ........................................................................................................ 84 Tabelle 6: Konzeptuelle Verknüpfungen ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ .............................. 100 Tabelle 7: Konzept ›flexibilizar los horarios‹ .................................................................................................102 Tabelle 8: Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ ........................................................... 104 Tabelle 9: Vergleich FLEXIBILITÄT ................................................................................................................. 106 Tabelle 10: Konzept ›presentismo‹.................................................................................................................. 122 Tabelle 11: Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ ..................................................................................... 132 Tabelle 12: Vergleich ANWESENHEIT ................................................................................................................ 134 Tabelle 13: Cluster ›conciliar entre vida laboral y personal‹ ........................................................................... 138 Tabelle 14: Konzept ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ ................................ 152 Tabelle 15: Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹.............................165 Tabelle 16: Subkonzept ›Work-Life-Balance‹ ................................................................................................167 Tabelle 17: Vergleich VEREINBARKEIT.............................................................................................................. 168 Tabelle 18: Konzept ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹ .................... 180 Tabelle 19: Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹.................................................................... 191 Tabelle 20: Subkonzept ›Kantine‹...................................................................................................................193 Tabelle 21: Vergleich ESSEN .............................................................................................................................193 Tabelle 22: Sprachliche Bewertungen des Konzeptes ›Produktivität‹: Komposita ....................................... 204 Tabelle 23: Sprachliche Bewertungen des Konzeptes ›Produktivität‹: Verben und Adjektive......................205 Tabelle 24: Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹................................................................................................................................ 207 Tabelle 25: Sprachliche Bewertungen des Konzeptes ›productividad‹: Verben und Nomen........................217 Tabelle 26: Konzept ›productividad en España y factores determinantes‹ .....................................................218 Tabelle 27: Metaphern PRODUKTIVITÄT .......................................................................................................... 220 Tabelle 28: Agonalität PRODUKTIVITÄT ........................................................................................................... 226 Tabelle 29: Diskurshoheit PRODUKTIVITÄT ......................................................................................................227 Tabelle 30: Vergleich PRODUKTIVITÄT ..............................................................................................................232 Tabelle 31: Konzeptuelle Verknüpfungen FREIZEIT ........................................................................................239 Tabelle 32: Konzept ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ .................................................245 Tabelle 33: Konzept ›ocio: tiempo fuera del trabajo‹ ...................................................................................... 253 Tabelle 34: Vergleich FREIZEIT .........................................................................................................................254 Tabelle 35: Konzept ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ ..................................... 279 Tabelle 36: Konzept ›teletrabajo‹ ................................................................................................................... 289 Tabelle 37: Vergleich ZUHAUSE ........................................................................................................................291 Tabelle 38: Konzept ›Räumlichkeiten im Unternehmen – das Unternehmen als sozialer Raum‹ .............. 300 Tabelle 39: Konzept ›la empresa y sus despachos‹ ......................................................................................... 307 Tabelle 40: Vergleich SOZIALER UND PHYSISCHER RAUM ‚UNTERNEHMEN‘ ........................................................ 308
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Tabellen
Tabelle 41: Konzept ›Mobilität im Beruf‹ ....................................................................................................... 317 Tabelle 42: Konzept ›movilidad laboral‹ .........................................................................................................327 Tabelle 43: Vergleich MOBILITÄT – UNTERNEHMEN IM RAUM ......................................................................... 329 Tabelle 44: Agonale Diskurspositionen: Frauenquote ...................................................................................354 Tabelle 45: Konzept ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ ....................................357 Tabelle 46: Konzept ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado de trabajo‹ ..........................................................................................................................................372 Tabelle 47: Vergleich GENDER .........................................................................................................................374 Tabelle 48: Konzept ›Generation Y‹ ...............................................................................................................392 Tabelle 49: Konzept ›generación ni-ni‹ ..........................................................................................................404 Tabelle 50: Vergleich GENERATION .................................................................................................................406 Tabelle 51: Privilegierte Gruppen vs. nicht- und unterprivilegierte Gruppen .............................................. 415 Tabelle 52: Privilegierte Gruppen vs. nicht- und unterprivilegierte Gruppen ..............................................422
Abbildungen Abb. 1: Kulturem nach Oksaar 1988, 28......................................................................................................... 26 Abb. 2: Display und Kulturem nach Sager 1995, 196 ..................................................................................... 28 Abb. 3: Übersicht spanisches und deutsches Zeitungstextkorpus ................................................................ 42 Abb. 4: Übersicht deutsches und spanisches Leserkommentarkorpus ......................................................... 45 Abb. 5: Analyseebenen – konzeptueller Zugriff, Konzepte, Teilbedeutungen ............................................ 57 Abb. 6: Word Sketch „horario“ ......................................................................................................................69 Abb. 7: Kollokationen AntConc „Arbeitszeit“ UND „x“..............................................................................70 Abb. 8: Konkordanzlinien AntConc „Arbeitszeit“.........................................................................................71 Abb. 9: Konkordanzlinien AntConc „Arbeitszeit“ sortiert ............................................................................71 Abb. 10: Argumentation ›flexibilizar los horarios‹ und ›presentismo‹ sowie ›absentismo‹ ............................ 92 Abb. 11: Konzept ›presentismo‹ und Verknüpfungen ................................................................................... 110 Abb. 12: AntConc-Suche „Anwesenheit*“ (Belegauswahl)............................................................................ 125 Abb. 13: Taschengeld als Gender Pay Gap ........................................................................................................339 Abb. 14: Rollenverteilung und Rechtfertigung ............................................................................................. 344 Abb. 15: ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ ...................................................... 380 Abb. 16: ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ ...............381 Abb. 17: Konzepte und Teilbedeutungen – inhaltliche Ebene .....................................................................423 Abb. 18: Konzepte und Teilbedeutungen – strukturelle Verknüpfungen ................................................... 424 Abb. 19: Matrix der Kulturspezifik – das Kulturem als diskurslinguistische Analysekategorie....................433
1 Einleitung Sprache ist ein Medium, in dem sich Spezifika einer Kultur und Gesellschaft zeigen. Diese Annahme bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Das einzelsprachliche Zeichensystem und die kultureigene Denkweise stehen in einem charakteristischen Zusammenhang; sie bedingen und beeinflussen sich wechselseitig. Das Interesse am Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur steht in einer erkenntnismächtigen Denktradition, in der über die linguistische Forschungsgeschichte hinweg von einer unterschiedlich starken Verknüpfung zwischen Sprache und Kultur ausgegangen wurde. Eine ausgesprochen enge Verknüpfung zwischen Sprache und Kultur charakterisiert einige Forschungsansätze der Kulturemtheorie, die von der Existenz definierbarer kulturspezifischer Einheiten ausgeht, die sich in Sprache niederschlagen – sogenannter Kultureme. Sprache als Medium für Kultur aufzufassen, bedeutet auch, Sprach- als Kulturanalyse zu betreiben. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Ansatz, indem sie Texte zweier Sprachkulturen – Deutschlands und Spaniens – miteinander vergleicht und dabei prüft, inwiefern sich kulturspezifische Konzepte im Kontext der Diskursthemen BERUF und ALLTAG nachweisen lassen. In einer sprachvergleichenden Diskursanalyse wird so der Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache über die induktive Analyse der sprachlichen Oberfläche erschlossen. Als Untersuchungskorpus dienen Texte der großen Tageszeitungen Deutschlands1 und Spaniens im Zeitraum von 2002 bis 2015, die Konzepte abbilden, die in der deutschen und der spanischen Gesellschaft etabliert sind. Die Zeitungstextkorpora spiegeln insofern eine Denkperspektive wider, die gesamtgesellschaftlich wirksam und relevant ist. Ein Leserkommentarkorpus zum Subthema ARBEITSZEIT ergänzt den kollektiven Blick der Medientexte um individuelle Perspektiven. Am Beispiel der deutschen und spanischen Zeitungskorpora sowie der deutschen und spanischen Leserkommentarkorpora zu den Diskursthemen BERUF und ALLTAG werden Konzepte erarbeitet und miteinander verglichen. Dabei stelle ich die folgenden erkenntnisleitenden Fragen: Welche Subthemen und welche Konzepte sind im Kontext der Diskursthemen BERUF und ALLTAG in den deutschen und den spanischen Korpora relevant? Wie werden die Konzepte sprachlich konstituiert sowie konzeptuell verknüpft und bewertet? Wie werden die Konzepte diskursiv eingebettet und perspektiviert? 1
Sowie des Nachrichtenmagazins Der Spiegel.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6_1
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1 Einleitung
Welche kulturspezifischen Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten zeigen sich in den Konzepten der deutschen und der spanischen Korpora? Die erkenntnisleitenden Fragen sind in zwei Blöcke einzuteilen. Zum einen zielen sie auf die Konzeptualisierungen der Einzelsprachen ab, zum anderen beschäftigen sie sich mit der Kulturspezifik der Konzepte. Theoretisch und empirisch sind deshalb vor allem zwei Forschungsbereiche entscheidend, die in der vorliegenden Arbeit kombiniert werden. Zunächst ist dies der Bereich der sprachbezogenen Kulturanalyse. Ihre erkenntnistheoretischen Prämissen sowie forschungsgeschichtlichen Analyseansätze werden in den Kapiteln 2 und 3 vorgestellt. Die Existenz von Kulturemen – beschreibbaren kulturspezifischen Einheiten – stellt das leitende Postulat der Arbeit dar. Zudem wird die sprachvergleichende Korpusanalyse bemüht, die die Kulturanalyse operationalisiert. Ihr Potential wird in den letzten Jahren und Jahrzehnten in einer wachsenden Zahl linguistischer Arbeiten betont, eine klare theoretische und methodische Konzeption sowie praktische Ausführungen finden sich bisher jedoch kaum. Die spezifischen Anforderungen des Sprachvergleichs bei der Korpuserstellung und die methodischen Herausforderungen der sprachvergleichenden Analyse werden in Kapitel 4 bearbeitet. In diesem Kapitel wie auch in den folgenden finden sich methodische Reflexionen zur adäquaten Korpuserstellung, zum Nutzen spezifischer Analyseschritte und zur Ergebniskonstituierung in der sprachvergleichenden Korpusanalyse. Diese ergeben sich aus den exemplarisch durchgeführten Analyseschritten und sind als Vorschlag zur Methodik einer sprachvergleichenden Korpusanalyse zu lesen. Kapitel 5 stellt den empirischen Hauptteil der Arbeit dar: Im Sinnbezirk der Diskursthemen BERUF und ALLTAG werden zwölf Konzepte des Deutschen und zwölf Konzepte des Spanischen sprachvergleichend erschlossen. Das Ziel der Arbeit ist es, relevante Konzepte beider Sprachkulturen über die Analyse sprachlicher Muster fassbar zu machen und diese im Hinblick auf ihre Kulturspezifik zu vergleichen. Im Zuge der sprachvergleichenden Betrachtungen wird ein Analyseapparat entworfen, der die sprachlichen Phänomene auf drei Ebenen charakterisiert: Auf der Befundebene werden die sprachlichen Muster der Korpora zusammengefasst, zu Konzepten gebündelt und im Hinblick auf ihre sprachliche Konstituierung, ihre konzeptuellen Verknüpfungen und ihre Bewertung charakterisiert. Diese drei Facetten der Analyse sind auch für die nächste Abstraktionsebene der metadiskursiven Deutung entscheidend: Sie bestimmen die sprachstrukturelle Einbettung der Konzepte im Diskurs, die auf dieser Ebene betrachtet wird. Auf der letzten Abstraktionsebene werden die Erkenntnisse der vorausgehenden Ebenen anhand von Ordnungskriterien konzise zusammengefasst und abstrahiert, sodass eine sprachvergleichende Betrachtung möglich ist.
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1 Einleitung
Kapitel 6 bündelt die empirisch begründeten Ergebnisse der Korpusanalyse in acht Thesen. Anschließend folgt die Reflexion des Kulturembegriffs als diskurslinguistische Analysekategorie, an die sich – so viel kann bereits vorweggenommen werden – eine ergänzende Analysematrix anschließt, die ich als Möglichkeit vorschlage, Kulturspezifika nuanciert zu beschreiben. Zuletzt folgen knappe Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz der linguistischen Diskursanalyse als Kulturanalyse, die davon ausgeht, dass Medientexte – als Zeugnisse gesellschaftsrelevanter und kulturspezifischer Konzepte – unser Denken zu den analysierten Sinnbezirken BERUF und ALLTAG nicht nur abbilden, sondern maßgeblich mitkonstituieren. Hinweise zur Notation: Beschreibungssprachliche Notation der metasprachlichen Zeichen Konzepte
werden mit einfachen Chevrons ›x‹ markiert.
Teilbedeutungen
werden mit einfachen Anführungszeichen oben ‘y’ gekennzeichnet.
Objektsprachliche Ausdrücke und Zitate
werden in doppelte Anführungszeichen „z“ gesetzt.
Fremdsprachige Ausdrücke und verdichtete Zitatextrakte
werden kursiv gesetzt.
Sachverhalte
werden in KAPITÄLCHEN geschrieben.
Widerstreitende Konzepte oder Teilbedeutungen
werden mit ≠ markiert.
Lesehinweise: Die Anführungszeichen innerhalb fremdsprachiger Zitate entsprechen der jeweils üblichen Notation. Verdichtete Zitatextrakte als Synopsen werden kursiv gesetzt, da nicht das Einzelzitat, sondern das Mehrfachvorkommen der entsprechenden Ausdrücke für die Argumentation entscheidend ist. Die Verwendung des generischen Maskulinums in dieser Studie, als sprachliche Vereinfachung für zum Beispiel den Begriff des Arbeitnehmers, dient einzig und allein der besseren Lesbarkeit des Textes.
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft Sprache wird in der vorliegenden Arbeit als Teil von Kultur aufgefasst. Die Sprachanalyse – wie auch die Diskurs- oder Korpusanalyse – ist insofern als Kulturanalyse zu betrachten.2 In der Sprachwissenschaft wurden der Kultur und der Kulturalität von Sprache unterschiedlich starke Relevanz zugestanden. So bezeichnet Ludwig Jäger die Geschichte der Sprachwissenschaft als eine „Geschichte der Auslagerung der kulturellen Bedingungsrahmen sprachlicher Kommunikation aus dem Fokus der theoretischen Gegenstandskonstitution“ (2006, 28). Dies ist umso erstaunlicher, wenn man auf der einen Seite die viel zitierten Gedanken Wilhelm von Humboldts zu der Verschränkung von Sprachgebrauch, Denken und Kultur betrachtet (vgl. das folgende Kapitel 2.1) und auf der anderen Seite die Affinität zu Sprache berücksichtigt, die die anthropologischen Kulturkonzeptionen des 19. und 20. Jahrhunderts aufweisen (vgl. 2.2). Während die Leitvokabel „Kultur“ in der Sprachwissenschaft für einige Zeit kaum Beachtung fand, war die Kultur- und Sprachanalyse in anderen Disziplinen, wie der Anthropologie und der Geschichtswissenschaft, ein wichtiger Gegenstandsbereich. Im Folgenden werden einige der aus der Sprachwissenschaft ausgelagerten Beschäftigungsstränge nachgezeichnet. Die Gedanken zur Verschränkung von Sprache und Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts und insbesondere die Sprachkonzeption Humboldts werden dabei als Ausgangspunkt genommen. Anschließend wird die Verbindung von Sprachwissenschaft und Anthropologie sowie Kulturwissenschaft anhand der Bestimmung ausgewählter Kulturbegriffe betrachtet (vgl. 2.2.1). Dabei eröffnet sich ein weiteres Feld unterschiedlicher Aspekte, Methoden und Kulturbegriffe (vgl. 2.2.2). Kapitel 2.3 fasst die problematische Entwicklung des zuvor beschriebenen Gedankenguts im aufkommenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts zusammen, wobei, wie in allen folgenden Kapiteln, insbesondere die Gedanken aufgegriffen werden, die als Prämissen der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielen. Der letzte Teil 2.4 betrachtet die neueren Entwicklungen und die Relevanz der Diskursanalyse in der Kulturanalyse. 2.1 Sprache und Kultur im 18. und 19. Jahrhundert Seinen Aufsatz „Die Vertreibung der Kultur aus der Sprache“ (2006) beginnt Conrad Ehlich mit einem Rückgriff auf die Wortgeschichte der Ausdrücke „Kultur“ und „Sprache“: Während das Verbalabstraktum „Sprache“ wortgeschichtlich nicht mehr bis 2
Zum Verhältnis von Diskurs- bzw. Korpusanalyse, Sprachanalyse und Kulturanalyse vgl. bspw. Martin Wengeler 2015 und Noah Bubenhofer 2009.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6_2
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2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen ist, da es sich um eine genuin germanische Bildung handelt, so „daß sich die semantische Vorgeschichte in einem Dunkel verliert, das nicht einmal das der allgemeinen indoeuropäischen Ursprünge ist“ (Ehlich 2006, 51), ist „Kultur“ jünger, gut zurückverfolgbar, aber zum Ausgang des Mittelalters in einen Wirbel von Metaphorisierungsprozessen geraten. Als besonders entscheidend hebt Ehlich hervor, dass das vergleichsweise junge Konzept ›Kultur‹ seine Anfänge ganz innerhalb des Rahmens jener durch Ethnozentrik bestimmten Kanonizität von Sprache [findet]. Die Selbstverständlichkeit der ethnozentrisch bestimmten Sprachauffassung bildete somit einen quasi-natürlichen Rahmen für die aufkommende „Kultur“-Auffassung. Das Beispiel der Sprach-Konzeptualisierung vererbt sich sozusagen in die entstehende Kulturbestimmung hinein: Ein analoges Kulturkonzept wird gesucht. (ebd., 55)
Für das 18. Jahrhundert nennt Ehlich unter anderen Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann und Giambattista Vico, die erste tastende Schritte unternehmen, um die Zusammenhänge von Kultur und Sprache als grundlegende zu thematisieren.3 Diese Thematisierungen des Zusammenhangs von Sprache und Kultur erreichen, so formulieren es Susanne Günthner und Angelika Linke 2006, in der vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt; insbesondere in der Auseinandersetzung mit Kulturmerkmalen und dem Postulat, dass sich Kulturmerkmale in den Sprachstrukturen widerspiegeln.4 Dieser Gedanke sollte weiterhin auch das kontrastive Sprachendenken in der Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldts, August Schleichers und Heymann Steinthals sowie die Völkerpsychologie Wilhelm Wundts beeinflussen: Gemeinsam ist den unterschiedlichen Ansätzen die Überzeugung, dass sich in der Sprache die Kultur der betreffenden Gemeinschaft spiegelt und dass Kultur nicht ohne Rückgriff auf Sprache und Sprache nicht ohne Rückgriff auf Kultur adäquat untersucht und beschrieben werden kann. (Günthner/Linke 2006, 5)
Die Verflechtung von Kultur und Sprache ist bestimmend für die Humboldt’sche Tradition der Sprachwissenschaft und steht in seiner Sprachtheorie neben der Fokussierung der Sprachwissenschaft auf „die Sprache an und für sich selbst” (Humboldt GS 7, 601). Jäger weist darauf hin, dass dies nicht bedeute, die Sprache „unter Beiseitesetzung des für sie fundamentalen Zwecks der Verständigung zu thematisieren“ (Jäger 1987 b, 207) und die „kulturellen Prozessierungsbedingungen“ zu exkludieren.5 Stattdessen meine die Aufforderung, die Sprache „in ihrer Verschiedenheit zu untersuchen 3
Zur Geschichte des Sprachdenkens vgl. unter anderem Jürgen Trabant 2003.
4
Günthner/Linke (2006, 5) verweisen hier auf Karl Voßlers Vergleich zwischen dem Deutschen und dem Französischen, der Anfang des 20. Jahrhunderts erschien (1904).
5
Jäger formuliert diese Aussage in seinem Aufsatz „Philologie und Linguistik. Historische Notizen zu einem gestörten Verhältnis“ und weist darauf hin, dass die Formulierung der Konzentration auf die „Sprache an und für sich“ oft missverstanden oder ganz vergessen wurde (1987 b, 203).
2.1 Sprache und Kultur im 18. und 19. Jahrhundert
7
und in ihrer Verschiedenheit nicht ‚ein nothwendiges Uebel der Cultur‘ [vgl. Humboldt GS 7, 601], sondern geradezu deren Möglichkeitsbedingungen zu sehen“ (Jäger 2006, 29). Als genuine Aufgabe des Sprachstudiums gelte es, „das Feld des Denkens durch die Verschiedenheit der Sprachen auszumessen“ (Humboldt GS 4, 248). 2.1.1 Die Verflechtung von Sprache, Denken und Kultur (Wilhelm von Humboldt) Trabant zieht eine Traditionslinie von Gottfried Wilhelm Leibniz über Herder und Hamann zu Humboldt, die von „Leibnizs ‚mettre en dictionnaires et en grammaires toutes les langues de l’univers‘ […] über Herders Projekt einer ‚Semiotik‘ aller Sprachen […] zu Humboldts Vergleichendem Sprachstudium“ führt (Trabant 1986, 219). Herders Konzentration auf die Sprache sei als etwas wirklich Neues aufzufassen, und sowohl Hamann als auch Humboldt folgten ihm nach, in dem Sinne, dass ihre Gedanken von etwas zutiefst Sprach-philosophischem geprägt seien (ebd., 218-219 und 228).6 Humboldt und Herder formulierten denselben paradox anmutenden Gedanken: Jeder Mensch habe eine eigene Sprache, die Menschheit aber habe nur eine gemeinsame Sprache – Herder und Humboldt interessierten sich gerade für die Verschiedenheiten, die aufscheinen, wenn man genauer hinschaue (ebd., 228). Das „Gesammte Sprachstudium“7 – ein zentraler Begriff in der Sprachtheorie Humboldts – müsse deshalb auf zwei Fundamenten ruhen: auf der metaphysischen Analyse des menschlichen Sprachvermögens und auf der vergleichenden Untersuchung aller Sprachen (Jäger 1987 a, 176). Jäger fasst zusammen, dass mit der Forderung und Bestimmung der Hauptaufgabe des Sprachstudiums, „das Feld des Denkens durch die Verschiedenheit der Sprachen auszumessen“ (Humboldt GS 4, 248), die Notwendigkeit einhergehe, die philosophischen und theoretischen Grundlagen eines vergleichenden Sprachstudiums zu erarbeiten und dieses als Gegenstand einzelwissenschaftlicher Forschung allererst zu konstituieren. Die Forderung Humboldts, die Sprache „rein objectiv, und, mit Beiseitesetzung jedes andern Zwecks, um ihrer selbst willen“ (Humboldt GS 7, 625) zu untersuchen, sei also in der Wissenschaftsgeschichte als die Reflexion zu würdigen, die zur „theoretische[n] Konstitution des Gegenstandes Sprache als Objekt einzelwissenschaftlicher Forschung“ geführt habe und als „Gründungsurkunde der Sprachwissenschaft“ nicht etwa erst Saussure, sondern Humboldt zuzuschreiben sei (Jäger 1987 a, 178).
6
Meine Ausführungen schließen sich an die umfassenden Studien Trabants und Jägers zum Sprachdenken Wilhelm von Humboldts an. Vgl. weiterführend unter anderen Trabant 1986, 2003, 2012 und Jäger 1987 a und b.
7
Zur Erläuterung des Begriffs des „Gesammten Sprachstudiums“ bei Humboldt und dem verknüpften „Plan zu einer systematischen Encyklopaedie aller Sprachen“ vgl. Jäger 1987 a, 176-178.
8
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
Eine erste grundlegende Frage, die der Klärung bedürfe, sei diejenige nach der Verschiedenheit der Sprachen und deren Ursache. Zu beantworten sei sie mit der Realisierungsform und dem Dasein der Sprache in der Tätigkeit: Die Verschiedenheit der Sprachen verdankt sich […] einmal dem Umstand, daß das Sprachvermögen als eine ‚allgemeine dem ganzen Menschengeschlecht innewohnende Kraft‘ (5,394), als ein ‚geistiges Vermögen‘ […] ‚sein Daseyn allein in seiner Thätigkeit (hat)‘ (7,86), weil […] ‚sich das Daseyn des Geistes überhaupt nur in Thätigkeit und als solche denken lässt‘ (7,46). (ebd., 181)
Der zweite Teilgrund, der die Verschiedenheit der Sprachen begründe, ergebe sich, da die Sprache sich „in der Wirklichkeit […] individualisieren“ (Humboldt GS 5, 373) müsse: Durch dieses „individualisierende Princip“ entstehe „die Verschiedenheit in der Sprache der Einzelnen, wie der Nationen“ (vgl. ebd., 396). Dieses Prinzip der Individualität der Sprachen begründe, dass die Verschiedenheit von Sprachen „nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (Humboldt GS 4, 27) sei. In jeder Form der Individualisierung verkörpere sich eine Weltansicht, und da die Sprache „nicht bloss die Bezeichnung des, unabhängig von ihr geformten Gedanken, sondern selbst das bildende Organ des Gedanken[s]“ sei (Humboldt GS 5, 374), verfahre sie dabei nicht nur erkenntnisabbildend, sondern auch erkenntniskonstitutiv.8 „Sprachverschiedenheit und Erkenntniskonstitutivität“ – so fasst Jäger die Ausführungen Humboldts zusammen – „sind also zwei Momente, die sich derselben Ursache verdanken, der individuellen Natur der Sprache.“ (Jäger 1987 a, 184). 2.1.2 Zusammenfassung Humboldt zieht eine enge Verbindung zwischen Sprachgebrauch, Denken und Kultur, die sich unter anderem in der „Weltansicht der Redenden“ niederschlägt. Das Potential der Sprache entfaltet sich aber erst in der Thätigkeit, im Gebrauch der Sprache also. Linke, und im Anschluss Noah Bubenhofer, formulieren diesen Gedanken in drei Dimensionen von Kommunikation: Dialogizität, Sozialität und Historizität/Kulturalität von Kommunikation […]. Weil Kommunikation dialogisch und sozial funktioniert, ist Sprache, genauer: Sprachgebrauch kulturprägend. […] Sprachgebrauch und Kulturalität bzw. Sozialität stehen in einem 8
Günthner und Linke stellen die Zuspitzung des Humboldt’schen Gedankens der Erkenntniskonstitutivität von Sprache bei Cassirer dar, der die kulturkonstruktivistische Macht des Mediums Sprache stark macht: Symbolische Formen und damit auch die Sprache werden bei ihm nicht mehr analysiert als Mittel der Gestaltung der Welt, sondern der Gestaltung zur Welt. Die Wahl der Präposition weise dabei auf die Radikalisierung in Cassirers konstruktivistischer Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Welt hin: „Während bei Humboldt die Sprache noch in erster Linie als Mittel der Gestaltung der Welt modelliert wird und der ‚Welt‘ damit eine Existenz außerhalb und jenseits von Sprache zugestanden wird, wird bei Cassirer dieser Welt eine sprachunabhängige – oder umfassender: zeichenunabhängige – Existenz definitiv abgesprochen.“ (Günthner/Linke 2006, 12 verweisen auf Cassirer 1944).
2.2 Sprachwissenschaft und Anthropologie – Zur Bestimmung des Konzepts von Kultur
9
wechselseitigen Verhältnis: Sprache ist kulturell bedingt, Kultur ist aber auch sprachlich bedingt. (Bubenhofer 2009, 49)
Die Ansätze Humboldts sind bis heute aktuell und stehen in einem gedanklichen Zusammenhang mit mehr als einer zeitgenössischen Strömung der Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie und Anthropologie. Im Folgenden werden zwei Traditionslinien aufgezeigt, die sich auf die Denkansätze Humboldts im frühen 19. Jahrhundert rückbeziehen lassen: Zum einen die Ansätze der Anthropologie und insbesondere der anthropologischen Linguistik, die sich auf die Humboldt’sche Verflechtung von Sprache und Denken beziehen, vor allem aber auch auf die von Humboldt angenommene Realisierung dieser Verflechtung in der Thätigkeit und somit im Gebrauch. In diesem Kontext ist eine Verknüpfung zur Pragmatik herzustellen, die insbesondere für das 20. Jahrhundert bedeutsam ist. Zum anderen besteht ein Zusammenhang mit dem aufkommenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der seine konzeptionelle Basis im (missverstandenen) Gedankengut Herders und Humboldts fand; diese bedauerliche Rezeptionskarriere wird in Kapitel 2.3 dargestellt. 2.2 Sprachwissenschaft und Anthropologie – Zur Bestimmung des Konzepts von Kultur Zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts lassen sich sowohl mit Herder als auch mit Humboldt Positionen festhalten, die die Sprache als Ausdruck einer Kultur auffassen – angesprochen sind mit ihren Ausführungen sowohl Linguisten als auch Völkerkundler (Senft 2006, 89). Auch Hermann Paul formuliert 1880 seine Überzeugung der hervorgehobenen Rolle von Sprache in der Betrachtung von Kultur und den Gedanken, dass der Sprachwissenschaft eine exponierte Position in den Kulturwissenschaften zugesprochen werden müsse bzw. dass sie die Kulturwissenschaft schlechthin darstelle: Es gibt keinen zweig der culture, bei dem sich die bedingungen der entwicklung mit solcher exactheit erkennen lassen als bei der sprache, und daher keine culturwissenschaft, deren methoden zu solchem grade der vollkommenheit gebracht werden kann wie die der sprachwissenschaft. (Paul 1880/1975, 6)
Trotz dieser frühen Bemühungen ist die Geschichte der Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache in der Sprachwissenschaft von Unterbrechungen, von Turbulenzen und Legitimationskrisen, vom Scheitern oder gar von einer „Vertreibung der Kultur aus der Sprache“9 geprägt.10 In der Linguistik ist eine weitgehende Abwesenheit des Themas festzustellen, stattdessen gilt es aus der Sprach9
So der Titel des einschlägigen Aufsatzes von Konrad Ehlich (2006).
10
Vgl. bspw. Ehlich 2006 und Senft 2006 sowie Günthner 2015.
10
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
wissenschaft ausgelagerte Beschäftigungsstränge aufzuzeigen: Wo der Mainstream der Sprachwissenschaft die Analyse der kulturellen Rahmenbedingungen von Sprache lange Zeit ignoriert hat, lässt sich stattdessen die Anthropologie als Forschungsdisziplin nennen, die umgekehrt die Wichtigkeit der Sprache in der Betrachtung von Kultur nicht unterschätzt hat. Es ist umso verwunderlicher, dass die Linguistik als Disziplin Fragen der „grundlegenden Kulturalität von Sprache und sprachlichem Handeln offenbar nicht (mehr) als in ihre Zuständigkeit fallend ansieht“ (Altmayer 2015, 19), wenn man die Affinität zu Sprache berücksichtigt, die die anthropologischen Kulturkonzeptionen des 19. und 20. Jahrhunderts aufweisen. Auch Günthner/Linke bemerken, dass man aus den „kulturalistischen Traditionssträngen innerhalb wie außerhalb der Sprachwissenschaft“ (2006, 13) schließen könnte, dass die Sprachwissenschaft eine zentrale Rolle innerhalb der modernen Kulturwissenschaften spielen müsse, dass sie dies jedoch nicht tue (Günthner/ Linke 2006, 13). 2.2.1 Drei Kulturbegriffe der Anthropologie11 Günthner/Linke nennen drei anthropologische Kulturkonzeptionen,12 die der angloamerikanischen Kulturanthropologie entstammen und Kultur jeweils im Sinne des Fritz Hermanns’schen Totalitätsbegriffs (Hermanns 1999) auffassen. Alle drei erörtern einen Sprachbegriff, der die oben zitierte Charakterisierung von Sprache als „zweig der culture“ (Paul 1880/1975, 6) für sich beansprucht, obgleich keine der zitierten Definitionen explizit über Sprache spricht (Günthner/Linke 2006, 6-8). Der britische Ethnologe Edward Burnett Tylor formuliert 1871: Culture or civilization taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society. (Tylor 1871, zit. nach Günthner/Linke 2006, 7)
Günthner/Linke leiten aus dieser Stelle ein „geradezu existenziell notwendiges Verhältnis von Sprache und Kultur ab“: Kultur sei nicht angeboren, sondern wird erlernt vom Menschen, der Teil der Gesellschaft ist. Sprache diene dabei als „Vergesellschaftungsmedium“, das den sozialen Austausch ermögliche und die menschliche Gesell11
Im Folgenden widme ich mich dem notwendigen wie problematischen Unterfangen, das Großkonzept ›Kultur‹ definitorisch zu umreißen, und greife dafür auf prominente kulturanthropologische Definitionen zurück. Ich folge in meiner Argumentation vor allem Senfts Ausführungen (2006) sowie Günthner und Linke (2006), die ihren eigenen Erläuterungen voranstellen, dass die definitorische Annäherung an das Konzept ›Kultur‹ trotz seiner Notwendigkeit stets problematisch ist und immer eine zwangsläufige und angreifbare Reduktion mit sich bringt (Günther/Linke 2006, 6).
12
Bei den genannten Kulturkonzeptionen handelt es sich um einschlägige Definitionen, die häufig und durchaus nicht nur bei Günthner/Linke 2006 zitiert werden. Ich beziehe mich hier auf die genannten Autorinnen, weil sie die Definitionen prägnant und konzise gegenüberstellen.
2.2 Sprachwissenschaft und Anthropologie – Zur Bestimmung des Konzepts von Kultur
11
schaft von anderen unterscheide, indem es erlaube, komplexe semantische Bedeutungen zu generieren, zu erhalten, besonders aber zu verändern (Günthner/Linke 2006, 7). Siebzig Jahre später formuliert der US-amerikanische Anthropologe Ward Goodenough eine Definition von Kultur, die insbesondere den kognitiven Aspekt von Kultur betont: […] a society’s culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members, and do so in any role that they accept for any of themselves. [...] culture is not a material phenomenon; it does not consist of things, peoples, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the form of things that people have in mind, their models for perceiving, reacting and otherwise interpreting them. (Goodenough 1964, 36)
Es geht also nicht um die Dinge selbst, die Phänomene, sondern um deren Anordnung und Form, die „ihnen in der Wahrnehmung und Interpretation durch den Menschen erst zufließt“ (Günthner/Linke 2006, 8). Die Autorinnen gehen davon aus, dass in den Gestalten sprachlicher Zeichen und den Mustern des Sprachgebrauchs solche Formen zu sehen sind, und folgern, dass „Sprache und Sprachgebrauch nicht in irgendein Verhältnis zu ‚Kultur‘ zu setzen [sind], sondern sie selbst als kulturelle und gleichzeitig als Kultur generierende Phänomene zu betrachten [sind], die […] im Sprachgebrauch ihrerseits wieder zu Objekten kultureller Prozesse und Veränderungen gemacht werden“ (ebd.). Als dritte Definition führen Günthner/Linke die Bestimmung des US-amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz an, der seinen Kulturbegriff selbst als einen „semiotischen“ bezeichnet: The concept of culture I espouse, and whose utility the essays below attempt to demonstrate, is essentially a semiotic one. Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning. (Geertz 1991, 5)
Geertz analysiert Kultur, indem er Bedeutungsgewebe interpretiert, indem er ihnen sozialen oder kulturellen Sinn zuschreibt. Geertz’ Definition von Kultur als „ensemble of texts, themselves ensembles, which the anthropologist strains to read over the shoulders of those to whom they properly belong“ (Geertz 1973, 452), wurde in der Literaturwissenschaft häufig rezipiert, hat aber in der Linguistik kaum Einfluss genommen, obwohl die Geertz’sche Metapher von der „Kultur als Text“ die Philologie als Bezugswissenschaft nahelegt.13 Einzig in der Ausrichtung der linguistic anthropology bzw. 13
Günthner/Linke verweisen auf ein singuläres, nicht breiter rezipiertes Beispiel bei Juri Lotman et al. (1975), in dem ein linguistischer Textbegriff unter kulturanalytischer Perspektive diskutiert wurde. Text werde hier als Abfolge von Zeichen gefasst, zum anderen aber als holistisches Zeichen, das als Ganzes Bedeutung trage (Günthner/Linke 2006, 10).
12
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
der anthropological linguistics14 wurde diese Debatte aufgegriffen, wie ich im folgenden Kapitel darstellen möchte. 2.2.2 Anthropologische Linguistik – Sprache im Gebrauch als Paradigma Die anthropologische Linguistik15 ist als Forschungsrichtung zwischen Sprachwissenschaft und Anthropologie anzusiedeln und untersucht Sprache in ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext: [...] that sub-field of linguistics which is concerned with the place of language in its wider social and cultural context, its role in forging and sustaining cultural practices and social structures[...]. Anthropological linguistics views language through the prism of the core anthropological concept, culture, and, as such, seeks to uncover the meaning behind the use, misuse or non-use of language, its different forms, registers and styles. It is an interpretative discipline, peeling away at language to find cultural understandings. (Foley 1997, 3)
Dabei sind unterschiedliche Forschungsfelder abzugrenzen, die „allesamt auf die enge Verwobenheit zwischen menschlichen Daseinsformen, Sprache, Kommunikation und Kultur verweisen“ (Günthner 2015, 39). Die anthropologische Linguistik geht dabei erneut im Sinne Hermann Pauls von der maßgeblichen Bedeutsamkeit von Sprache als „zweig der culture“ aus (Paul 1880/1975, 6). Die Begründung und Forderung nach einer anthropologischen Linguistik lässt sich bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückverfolgen, wenn nämlich bereits dann – so von Herder, Humboldt und später Friedrich Schleiermacher – die Sprache in ihrem Gebrauch sowie als kulturelle Errungenschaft und Werkzeug des menschlichen Geistes betrachtet wird (Senft 2006, 91). Nach Herder reiche es nicht, die Sprache nur nach ihren formalen Regeln in Grammatiken zu beschreiben, da so die wahre Natur der Sprache unbeachtet bliebe: Wir haschen ihrer Formalitäten und haben ihren Geist verloren, wir lernen ihre Sprache und fühlen kaum die lebendige Welt ihrer Gedanken. […] Da sollen die stumpfen, späten Gesetze der Grammatiker das Göttlichste sein, das wir verehren, und vergessen die wahre göttliche Sprachnatur, die sich mit dem menschlichen Geiste vereint bildet, so unregelmäßig sie uns auch scheine. (Herder 1770/1969, 162-163)
Und auch Humboldt geht davon aus, dass die Sprache erst ihr wahres Dasein in der Tätigkeit, also im Gebrauch findet, dass sie sich hier individualisiert und dass wiederum in 14
Vgl. die folgende Fußnote.
15
Die Bezeichnungen „anthropologische Linguistik“ und „linguistische Anthropologie“ (vgl. die einschlägigen Veröffentlichungen von Foley 1997 „Anthropological Linguistics“ und Duranti 1997 „Linguistic Anthropology“), bisweilen auch „Ethnolinguistik“, werden mitunter synonym und mitunter mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auf Anthropologie und Linguistik verwendet. Ich verwende hier den Terminus „Anthropologische Linguistik“.
2.2 Sprachwissenschaft und Anthropologie – Zur Bestimmung des Konzepts von Kultur
13
dieser Individualisierung die Verschiedenheit begründet ist, die „nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (Humboldt GS 4, 27) ist. Um der eigentlichen Aufgabe des Sprachstudiums zu entsprechen, „das Feld des Denkens durch die Verschiedenheit der Sprachen auszumessen“ (ebd., 248), muss in der Analyse selbstverständlich die Verflechtung von Sprache und Kultur berücksichtigt werden. Die Forderung Humboldts wird im 20. Jahrhundert sowohl von dem berühmten Anthropologen Bronislaw Malinowski (1920, 69 sowie 1922, 24) als auch fünfzig Jahre später von Michael Silverstein (1973, 194) wiederholt, die ebenfalls davon ausgehen, dass Linguistik und Anthropologie nicht ohne einander auskommen. Warum aber ist trotz dieser Betonungen der Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Linguistik und Anthropologie eine gehemmte Entwicklung festzustellen? Oder um es mit Dell Hymes kritisch auszudrücken: In einem solchen Klima ist es für die Anthropologen allzu einfach, am Vormittag in der Einführungsvorlesung Loblieder auf die Unentbehrlichkeit der Sprache für die Menschen und die Kultur zu singen, und am Nachmittag ihren einzigen Linguisten zur Fakultätskonferenz zu schicken. (Hymes 1979, 223)16
Um dies zu erklären, muss der Blick auf Franz Boas, den Begründer der modernen US-amerikanischen Anthropologie, gerichtet werden. Auch für ihn war die Beschäftigung mit Sprache unabdingbare Voraussetzung für seine Forschung. Mit Boas sind nach Senft zwei Entwicklungsstränge aufzuzeigen (Senft 2006, 92 ff): Zum einen war Boas Mitbegründer der deskriptiv-strukturalistischen Linguistik, der Bloomfield und später Chomsky folgen sollten. Damit wurde die Linguistik in den USA von einer Teildisziplin der Ethnographie zu einer eigenen Disziplin; allerdings wurde sie damit auch gänzlich aus ihrem ethnographischen Kontext gelöst und in Bloomfields „Language“ (1933) als Studium des Lautsystems und der Grammatik verstanden – die Semantik war nicht Teil seiner Betrachtungen. In einem weiteren Schritt entledigte sich Chomsky in seiner Theorie dann gänzlich des Sprechers,17 indem er von einem „ideal speaker / listener in a completely homogenous speech community“ (Chomsky 1965, 3) ausging. Zum anderen steht Franz Boas aber auch als einflussreicher Lehrer von Edward Sapir am Beginn der Überlegungen zur Interdependenz von Sprache und Denken im 20. Jahrhundert. Human beings do not live in the objective world alone, nor alone in the world of social activity as ordinarily understood, but are very much at the mercy of the particular language 16
Dell Hymes kritisiert nebenbei auch die Linguistik und bemerkt: „Wenn wir aus der Linguistik der letzten Jahrzehnte etwas lernen können, dann, daß die Anthropologen es sich nicht leisten können, die Sprache den Linguisten zu überlassen“ (Hymes 1979, 224).
17
Senft (2006, 93 und 1982, 1-5) verweist auf Bickerton (1971, 457), der gegen die Linguistik Chomsky’scher Prägung als „Linguistik ohne Sprecher“ polemisiert.
14
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
which has become the medium of expression for their society. It is quite an illusion to imagine that one adjusts to reality essentially without the use of language and that language is merely an incidental means of solving specific problems of communication or reflection. The fact of the matter is that the “real world” is to a large extent unconsciously built up on the language habits of the group. [...] We see and hear and otherwise experience very largely as we do because the language habits of our community predispose certain choices of interpretation. (Sapir 1929, 209, zitiert nach Swiggers 2008, 221)18
Die Überlegungen Edward Sapirs und Benjamin Lee Whorfs zum Zusammenhang zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit – das sogenannte „linguistische Relativitätsprinzip“, das später unter der Bezeichnung „Sapir-Whorf-Hypothese“ bekannt werden sollte – trugen dazu bei, dass dieses Forschungsfeld der anthropologischen Linguistik und mit ihm die gesamte Disziplin allmählich mehr Anerkennung erfuhren. Senft verweist als weitere Ursache für das Erstarken der anthropologischen Linguistik auf den Fortschritt der soziolinguistischen Forschung von William Labov (1972) und die Etablierung der „ethnography of speaking“ im Sinne Dell Hymes’ und John Joseph Gumperz’ (1972) hin. Die Rezeption der Sprechakttheorie von John L. Austin (1975) und John R. Searle (1969) führe weiterhin zum Erstarken der Pragmatik – insgesamt stehe nun die Beschäftigung mit der Sprache nicht mehr als „Manifest einer abstrakten, von Regeln gesteuerten, angeborenen Universalgrammatik“ (Günthner/Linke 2006, 15), sondern als Praxis in der sozialen Interaktion im Mittelpunkt. Und so stellt William Foley in der bereits zitierten Einführung „Anthropological Linguistics“ fest, dass die Grenze zwischen Pragmatik und anthropologischer Linguistik bzw. Soziolinguistik nicht mehr klar gezogen werden könne (1997, 27). Den Fokus auf die Pragmatik und die Einbettung der Sprache in die Kultur formuliert Silverstein aus der Perspektive der Anthropologie folgendermaßen: Gebrauchsregeln hängen von ethnographischer Beschreibung ab, d. h. von der Untersuchung kulturellen Verhaltens von Menschen in einer Gesellschaft. So können wir einerseits auf einer Ebene Sätze als Verkörperung von Propositionen oder allgemeiner von sprachlichen Bedeutungen untersuchen; auf einer anderen Ebene, die stets in jede grammatische Beschreibung eingeschlossen ist, müssen wir Mitteilungen als sprachliches Verhalten untersuchen, das Teil der Kultur ist. [...] Eine gültige Beschreibung einer Sprache durch eine Grammatik erfordert eine Beschreibung der Regeln des Gebrauchs in Sprechsituationen, die durch die Variablen der Kultur strukturiert sind und diese anzeigen. (Silverstein 1973, 205-206)
Das Interesse für den tatsächlichen Gebrauch des sprachlichen Systems teilt auch die ethnography of speaking, die später als ethnography of communication bezeichnet wurde. Sie nimmt eine Mittlerposition zwischen Linguistik und Anthropologie ein und vernetzte sich im Laufe der 1980er und 90er Jahre mit weiteren soziologischen, kulturanthropologischen und soziolinguistischen Ansätzen: 18
Senft weist darauf hin, dass diese Worte Sapirs verblüffende Parallelen zum Sprachverständnis Herders, Humboldts und Schleiermachers aufwiesen (Senft 2006, 93-94).
2.3 Sprache und Kultur im beginnenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts
15
Durch die Arbeiten der Ethnographie der Kommunikation, der Goffman’schen Interaktionsanalysen, der Gumperz’schen Interaktionalen Soziolinguistik und der Ethnomethodologischen Konversationsanalyse wurde Sprache wieder in den Alltag zurückgeholt und somit dahin, wo sie auch hingehört: zu den Menschen, die mittels Sprache […] kommunizieren. (Günthner/Linke 2006, 16)
An diese Betrachtung von Sprache im Gebrauch schließt sich die Reflexion von Sprache in ihrem kulturellen Kontext an; mit dem „Aufkommen der ‚Ethnography of Communication‘ […] rückt also das Zusammenspiel von Sprache und Kultur wieder in den Fokus linguistischer und anthropologischer Forschung“ (Günthner 2015, 38). Dennoch wurde auch diese Diskussion rund um die Frage „How [does] language through culture affect the way we think?“19 vor allem in der US-amerikanischen Kulturanthropologie geführt und in der deutschsprachigen Linguistik nur punktuell rezipiert (Günthner/ Linke 2006, 17). Senft kann sich dies nur mit der „allgemeinen menschlichen Trägheit“ (Senft 2006, 95) erklären, die dem anthropologischen Forscher im Wege stehe. Beim Blick auf einige Publikationen (bspw. Foley 1997 und Duranti 1997), Forschungsprojekte und Tagungsprogramme gibt er sich jedoch hoffnungsvoll: „Der Zeitgeist scheint mit uns…“ (Senft 2006, 97).20 2.3 Sprache und Kultur im beginnenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts Obwohl also noch etwa Humboldt die Frage nach dem Gegenstand des „Sprachstudiums“ als die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Sprache, Denken und Kultur aufgeworfen und in umfassender Weise erörtert hatte (Jäger 2006, 29), gerieten die nachfolgenden Forschungen, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigte an die Ränder der Theorieentwicklung; unter anderem weil die erforderlichen Forschungskapazitäten eher in Bereiche gesteckt wurden, die die Vertreibung der Kultur aus der Sprache zum Programm hatten (Ehlich 2006, 56). Als weiteren Grund nennt Ehlich den beginnenden Nationalismus, der die bei Herder formulierte Metapher „Geist der Völker“ als „Volksgeist“ aufgriff und schließlich in ihrer biologistischen Form als „Rasse“ den Siegeszug beginnen ließ, „in dem sie all die beschreibende und erklärende Prägnanz verlor, die sie am Beginn ihrer Karriere immerhin als Möglichkeit in sich enthalten hatte“ (ebd., 57). Von hier zieht Ehlich eine Linie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, wo sich die Entwicklung „in den Vernichtungsorgien des anderen […] in einer Weise umgesetzt und realisiert fand, die den Vertretern der Anfangsphase dieser Konzeptkarriere selbst wohl kaum geheuer gewesen wäre“ (ebd.). Das Sprachkonzept dieser Zeit sei geprägt von einer theoretischen Biologisierung, die mit Schleicher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginne und die sich 19
Vgl. den Sammelband von Gumperz und Levinson (1996, 9).
20
Vgl. hierzu das Zwischenfazit 2.5.
16
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
auch im Kulturkonzept vollziehe. Beides gehe einher mit einer Konzentration auf das Indoeuropäische und speziell den germanischen Westen. Die Folge war, dass Kultur zu einer Ingredienz einer ethnozentristischen […] Selbst- und Superioritätsvergewisserung wurde, die eher beschworen wurde, als daß man sich ihr analytisch hätte nähern dürfen und können. Die Bruchlinien innerhalb der „Kultur“-Konzepte, die mit den Metaphern des Hohen einerseits, des Primitiven andererseits markiert und verfestigt wurden, machten jenseits der oben benannten marginalisierten Bereiche eine Analyse der Zusammenhänge von Kultur und Sprache also obsolet. (ebd., 58)
Die Geschichte des unglücklichen Verhältnisses zwischen Sprache und Kultur wolle es, dass zu den bisherigen Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reduktion des Objektbereiches der Befassung mit Sprache hinzukomme: Um den Anforderungen jeweils unterstellter methodologischer Desiderate zu genügen, werden immer andere Aspekte und Facetten von Sprache geopfert, indem sie als wissenschaftlich entweder nicht zugänglich (so im u.s.-amerikanischen behavioristischen Strukturalismus) oder als außerhalb des eigentlichen Aufgabenfeldes des genuinen Terrains oder claims der Disziplin Linguistik liegend (der rezipierte Saussure) dekretiert werden. […] Dabei ist der schnelle und nahezu unvermittelte Wechsel der methodologischen Bezugsrahmen ebenso charakteristisch wie die Leichtigkeit, mit der nicht zuletzt der gerade zu überwindenden früheren Disziplinform ihre Irrelevanz bescheinigt wird. […] Dies ist sowohl bei Hjelmslev wie in Teilen des Chomsky-Paradigmas der Fall. Zu den ersten Opfern dieses Prozesses gehört der Zusammenhang von Kultur und Sprache. Sprache gerät zum in sich ruhenden System – sei es dem der Zeichen, sei es dem der generativen Automaten. Ein Höhepunkt dieser Bewegung ist die Eliminierung der Bedeutung aus den Gegenständen des Linguisten, eine Eliminierung, zu der selbstverständlich eine subkutane Wirksamkeit wissenschaftlich nicht reflektierter Bedeutungskonzepte geradezu unabdingbar hinzugehört. (ebd., 59)
Diese Verdrängung der Kultur aus der Sprache vermöge allerdings nicht das Problem zu lösen, denn das Verdrängte behalte seine unterschwellige Aktualität (ebd., 60). Die Geschichte der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert ist von zwei komplementären Bewegungen geprägt: Der Verdrängung der Frage nach der Verflechtung von Sprache und Kultur aus der Linguistik und der extradisziplinären Behandlung der Frage in Disziplinen wie der Psychologie, der Philosophie und der Anthropologie (vgl. Kapitel 2.2). Keine dieser Herangehensweisen verfügt jedoch über eine synthetisierende Kraft, und so stellt Ehlich fest, dass die Nachzeichnung dieser Geschichte eine „des Scheiterns der Erkenntnis jenes unauflösbaren Zusammenhangs von Sprache und Denken, von Denken und Kultur und von Kultur und Sprache [ist]“ (Ehlich 2006, 60). Zugleich – und dies führt Ehlich zum abschließenden Hoffnungsschimmer, aus dem heraus er seine Desiderate für eine neue Befassung mit eben diesem Verhältnis zieht – zeige die Beschäftigungsgeschichte notwendige Sollbruchstellen auf, an denen weitergearbeitet werden müsse.
2.4 Die Verflechtung von Sprache und Kultur im 20. und 21. Jahrhundert
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2.4 Die Verflechtung von Sprache und Kultur im 20. und 21. Jahrhundert In den vorausgehenden Kapiteln habe ich zwei Entwicklungsstränge – der anthropologischen Linguistik und des beginnenden Nationalismus – in Bezug zur Sprachkonzeption Humboldts gesetzt und die fortschreitende Auslagerung kultureller Phänomenbereiche aus der Sprachwissenschaft aus der Blickrichtung dieser beiden Stränge erläutert. Im folgenden Kapitel werde ich die Verflechtung von Kultur und Sprache im 20. Jahrhundert darstellen, wobei insbesondere die Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden, an die sich die neueren Tendenzen der letzten zwanzig Jahre anschließen. Die Entstehung der antikulturalistisch orientierten strukturalistisch-kognitiven Linguistik, auf die bereits in Kapitel 2.2.2 verwiesen wurde, wird als Ausgangspunkt genommen. 2.4.1 Verdrängung der Kultur aus der Sprachwissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts fand eine Neubestimmung dessen statt, was in wissenschaftlicher Hinsicht unter Sprache verstanden werden sollte. Diese Neubestimmung war geprägt von der systematischen Auflösung der für die Humboldt’sche Tradition der Sprachwissenschaft noch bestimmenden Verflechtung von Kultur und Sprache, unter anderem durch die „strukturalistische“ und „kognitive“ Revolution (Jäger 2006, 32).21 Günthner/Linke formulieren zur Linguistik als „Suche nach universalgrammatischen Strukturen“: Mit der Saussure’schen Trennung zwischen „langue“ und „parole“ (bzw. Chomskys „Kompetenz“ vs. „Performanz“) und der Zweiteilung von „Sprache als System“ und „Sprache im Gebrauch“ wurde zugleich die „parole“, die „Performanz“ bzw. „Sprache im Gebrauch“ abgewertet. Der Forschungsgegenstand der Sprachwissenschaft zielte lange Zeit auf die Re-Konstruktion eines idealisierten, universellen Regelapparates, dessen separate Module aus allen seinen kommunikativen, funktionalen, medialen und soziokulturellen Vernetzungen herausgeschnitten wurden. (Günthner/Linke 2006, 13)
Mit Chomskys sogenannter „kognitiver Revolution“ wird Sprache in einer Weise konstituiert, die die Aspekte der materialkulturellen Existenz aus dem Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis ausschließt. Sprachliches Wissen ist als internes Wissen in keiner linguistisch interessanten Weise mit seiner externen kulturellen Prozessierung verbunden. Theoretisch könnte jemand – Chomsky – „eine Sprache kennen, ohne die Fähigkeit zu ihrem Gebrauch zu haben“ (Jäger 2006, 33)
21
Ebenso wie Jäger verweise ich auf die ausführliche Darstellung der dem „Cours de linguistique générale“ Saussures zugeschriebenen „strukturalistischen Revolution“ bei Koerner 1973, 9, 212 und 380 sowie zur „kognitiven Revolution“ auf Jäger 1993.
18
2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
Chomsky beschreibt dies als „significant shift of point of view: from behavior and its products to the system of knowledge represented in the mind/brain that underlies behavior“ (Chomsky 1990, 641).22 Zu dieser Reduktion der damaligen Sprachwissenschaft auf das Systemische an der Sprache komme die Einwirkung der Naturwissenschaften, und so wurde zeitweilig die These Theodor Benfeys zur herrschenden Meinung: Die Einwirkung der Naturwissenschaft auf die Sprachwissenschaft habe bewirkt, „daß die Sprachwissenschaft erst jetzt eine Wissenschaft zu werden begann“ (Benfey 1869, 326). Die Geisteswissenschaften seien dabei durch ihren Kulturbezug gekennzeichnet und die „systembezogene Sprachwissenschaft im Verständnis Chomskys [übernehme] dabei die Rolle der Naturwissenschaften mit dem Ziel ‚to assimilate the study of language to the main body of natural sciences‘“ (Gardt 2003, 278).23 Während sich diese Kernströmung der Linguistik also Mitte des 20. Jahrhunderts stark an naturwissenschaftlichen Zugängen orientiert, waren es auf der anderen Seite Disziplinen wie die Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften und die Anthropologie, die „die Sprache und ihren erkenntnispraktischen wie erkenntnistheoretischen Stellenwert in den Fokus einer transdisziplinären Forschungsdiskussion“ (Günthner/ Linke 2006, 3) rückten und dies wiederum im Rückbezug auf Randbereiche der Linguistik taten (so beispielsweise auf die Theorie der sprachlichen Relativität von Sapir und Whorf der 1930er/40er Jahre). Diese neue Wertschätzung von Sprache hat ihren Ausdruck im Begriff des „linguistic turn“ gefunden, der sich an einer Aufsatzsammlung von Richard Rorty des Jahres 1967 orientiert. Inzwischen wird die Bezeichnung allerdings in einem weiteren Sinne verwendet und summiert verschiedene Zugänge, die „die These von der wirklichkeitstragenden und wirklichkeitsgenerierenden Kraft von Sprache“ (ebd.) teilen. Günthner/Linke stellen provokant die Frage, ob die Linguistik gar den „linguistic turn“ verschlafen hab und geben an, dass man wohl genau das zugeben müsse (ebd., 4): So gebe es kaum programmatische Beiträge der Linguistik zur Wirkungsgeschichte des „linguistic turn“ und die wenigen einschlägigen Auseinandersetzungen damit seien ohne Rezeption geblieben. Auch Jäger stellt fest, dass sich die Sprachwissenschaft an der notwendigen interdisziplinären Begriffsarbeit nicht beteiligte; er verweist exemplarisch auf die Debatte zum Symbolbegriff, die unter anderem von Émile Durkheim, George Herbert Mead, Norbert Elias, Alfred Schütz,
22
Jäger argumentiert weiter, dass sich gerade in der Inanspruchnahme von Humboldt – und im Übrigen auch von Wittgenstein – für ein solches Programm zeigt, wie obsessiv diese Ausblendung gewesen sei; die Humboldt’sche Forderung der Konzentration auf die „Sprache an und für sich selbst” sei nämlich gerade nicht als Aufforderung zur Ausblendung des Kulturellen, sondern zur Berücksichtigung ihrer strukturellen und kulturellen Verschiedenheit zu verstehen (Jäger 2006, 29 und 33-34; vgl. auch Kapitel 2.1).
23
Andreas Gardt zeichnet die weitere Geschichte der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert nach und stellt hier in den Vordergrund, dass diese Geschichte zugleich eine „der zunehmenden Einsicht in die subjektive und gesellschaftliche Bedingtheit allen Erkennens“ (Gardt 2003, 279), auch des Erkennens in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, sei.
2.4 Die Verflechtung von Sprache und Kultur im 20. und 21. Jahrhundert
19
Pierre Bourdieu und Ernst Cassirer24 geführt wurde und die „in der Sprachwissenschaft bislang zu [keinen] nennenswerten Anschlussdiskussionen geführt [hat], obgleich die sprach- und zeichentheoretische Expertise der Linguistik hier außerordentlich gefragt wäre“ (Jäger 2006, 39). 2.4.2 Sprache und Kultur in angrenzenden Disziplinen und in der Diskurslinguistik Die Ansätze, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der dem Konstruktivismus nahen Vorstellung von der wirklichkeitsgenerierenden Kraft von Sprache und weiterhin mit der grundlegenden Kulturalität von Sprache auseinandersetzen, sind meist vereinzelt geblieben. Je nach Disziplinzugehörigkeit werden hier andere vereinzelte Forschungspositionen genannt. So verweist Claus Altmayer in seiner Annäherung an den Zusammenhang von Sprache und Kultur aus Sicht der Fremdsprachenwissenschaften (2015) auf die Konzepte einer „konfrontativen Semantik“ und „kulturspezifischen Bedeutungsvermittlung“ im Fremdsprachenunterricht nach Bernd-Dietrich Müller (Müller 1981 und 1994), auf die Theorie der „rich points“ von Michel Agar (2002), die Hans-Jürgen Heringer aufnimmt (Heringer 2004), und auf Anna Wierzbickas Untersuchung von Schlüsselwörtern, an denen kulturelle Unterschiede besonders deutlich werden (Wierzbicka 1992 und 1997). Er verweist auch auf die „Kulturemtheorie“ Els Oksaars der 70er Jahre, die ich im folgenden Kapitel 3.1.2.2 ausführlich darstelle. Die Ansätze Oksaars haben vor allem in den Übersetzungswissenschaften zu verwandten Herangehensweisen und Positionen geführt. In all diese Positionen haben laut Altmayer die Theorien Sapirs und Whorfs sowie Leo Weisgerbers – der sich in den 50er Jahren in seiner „inhaltsbezogenen Grammatik“ anhand des sprachlich und insbesondere lexikalisch und grammatisch vorgegebenen Kategoriensystems ein bestimmtes „Weltbild“ vorgibt (vgl. Altmayer 2015, 19) – indirekt Eingang gefunden. Dabei gilt den lexikalischen und wortsemantischen Aspekten von Sprache eine besondere Aufmerksamkeit, weil man davon ausgeht, dass sich die außersprachliche „Kultur“ nirgendwo sonst so klar und nachhaltig in Sprache sedimentiere wie gerade in den Wörtern und Wortbedeutungen und dass sich die „kulturbedingte“ Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung und Deutung von Welt daher auch nirgendwo so sichtbar machen lasse wie gerade in den Wörtern einer Sprache. (ebd.)
Einen solchen wortzentrierten Ansatz teilt auch das von Reinhard Koselleck geprägte Programm der historischen Semantik und Begriffsgeschichte in der Geschichtswissenschaft, mit dem sich später Dietrich Busse auseinandergesetzt hat (Busse 1987). Koselleck geht davon aus, dass ein „Begriff […] nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge [ist], er ist auch deren Faktor“ (Koselleck 1978, 120). Busse formuliert 24
Vgl. hierzu Hülst 1999, Cassirer 1953 und 1956 sowie Braun/Holzhey/Orth 1988.
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2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
dies als linguistisches Programm einer „Diskursgeschichte als Begriffsgeschichte“ erstmals 1987 (Busse 1987); aber auch seine einschlägige Forschungsarbeit hat, darauf weisen Günthner/Linke hin, „weder zu einer allgemeineren Rezeption der sprachlichen Wende unserer Nachbarwissenschaften innerhalb der Linguistik noch zur Diskussion über das kulturanalytische Potential der Sprachwissenschaft geführt“ (2006, 4). Was Busse 1987 als „Begriffsgeschichte“, mitunter auch als „Bewusstseinsgeschichte“, aufgreift, bezeichnet Hermanns als „Mentalitätsgeschichte“ (2012 a, 7): Der Gegenstand bleibt hier ebenfalls der Wandel und die Konstanz des Sprachgebrauchs, insbesondere des Wortgebrauchs. Auch Hermanns weist allerdings auf eine Lücke in der linguistischen Beschäftigung hin: Welche Lücke? Nun, die soziopragmatische Sprachhistoriographie beachtet bislang gar nicht oder kaum gerade das, was die Geschichtswissenschaft an Sprache und an sprachlicher Veränderung und Differenz am meisten interessiert: daß sich in ihrem Sprachgebrauch, in ihrer Sprache zeigt, wie Menschen in verschiedenen historischen Epochen und verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich denken, fühlen, wollen; und wie umgekehrt der Sprachgebrauch ihr Denken wie ihr Fühlen und ihr Wollen mitprägt; kurz: ihre Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte. Einzeltexte können individuelles Denken, Fühlen, Wollen zeigen; Sprachgebrauch zeigt kollektives Denken, Fühlen, Wollen einer Sprachgemeinschaft. Daher ist Beobachtung von Sprachgebrauch ein Königsweg der wissenschaftlichen Erkenntnis von Mentalitäten. (ebd.)
Die Mentalitätsgeschichte nach Hermanns betrachtet die kognitive, emotive und volitive Dimension von lexikalischer Bedeutung – also lexikalisiertes Denken, Fühlen und Wollen/Sollen. Dies tut sie anhand von Sprachgebräuchen-in-Diskursen, genauer: in Korpora (ebd., 29). Auch in seinem Beitrag zur Linguistischen Anthropologie (Hermanns 2012 b) legt Hermanns dar, warum sich insbesondere Diskurse, aus forschungspraktischen Gründen aber natürlich Korpora von Texten, für die Untersuchung eignen: In der Praxis der historischen Semantik sind wir froh, wenn in den Quellen einmal explizit und metasprachlich über die Bedeutung eines Wortes, das wir untersuchen, etwas ausgesagt wird. Aber idealiter sind Sprach- und Wortgebräuche immer nur aus den Diskursen zu ermitteln, wo die Wörter oder Wendungen „gebraucht“ (nicht metasprachlich-theoretisch nur besprochen) werden. Nur Diskurse bieten auch Gewähr dafür, daß Wortverwendungsweisen nicht bloß idiosynkratisch, sondern usuell sind. Und nur dann sind auch die Menschenbilder, die man aus den Wortverwendungsweisen abliest, nicht bloß individuelle, sondern solche von sozialen Gruppen. Daher sind die Quellen auch der linguistischen Anthropologie Diskurse, also (unter forschungspraktischen Aspekten) Korpora von Texten. (Hermanns 2012 b, 41)
Besonders deutlich wird diese Verknüpfung von Diskurslinguistik und Kulturwissenschaft auch bei Martin Wengeler, der von Diskurslinguistik mit kulturwissenschaftlicher Orientierung spricht. Er fasst Sprache als Teil von Kultur auf und argumentiert, dass die Analyse von sprachlichen Konventionen, Regeln und Mustern als Teil von Gewohnheiten sozialer Gruppe und insbesondere die Bedeutungsanalyse derselben, Sprachanalyse zur Kulturanalyse mache (Wengeler 2015, 91).
2.5 Zwischenfazit
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2.5 Zwischenfazit Mit Blick auf die Entwicklungen in der anthropologischen Linguistik stellt Senft 2006 fest, dass der Zeitgeist mit uns scheint (Senft 2006, 97), und auch Günthner/Linke konstatieren, dass die „grundsätzliche Frage, ob sich die Sprachwissenschaft überhaupt mit Aspekten der Kultur bzw. mit Kulturanalyse beschäftigen soll, […] in der gegenwärtigen Fachdiskussion wohl kaum noch strittig [ist]“ (Günthner/Linke 2006, 18). Die Publikationen der letzten zwanzig Jahre, die sich mit dem Verhältnis von Sprache und Kultur und dem Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft beschäftigen und die im vorliegenden Kapitel genannt wurden, bestätigen diese Vermutung. Ich habe verschiedene Ausrichtungen angesprochen – die linguistische Anthropologie, die Soziolinguistik, die Fremdsprachenwissenschaften, die Begriffs- und Mentalitätsgeschichte sowie die Diskursanalyse –, die Sprachanalyse als Kulturanalyse auffassen. Günthner/Linke nennen als weitere Bereiche, in denen kulturalistische Zugänge verfolgt werden, die Kognitive Linguistik, die Textlinguisitik, die Sprachtypologie und die Grammatikforschung (ebd., 19). Ein übergreifendes Programm einer kulturanalytischen Linguistik fehlt dabei noch, und auch die Verständigung über einen gemeinsamen Sprach- und Kulturbegriff ist noch zu leisten. Insbesondere der Kulturbegriff ist dabei wenig ausdifferenziert, wie exemplarisch Altmayer darstellt: Fragt man die im vorhergehenden Abschnitt diskutierten linguistischen Ansätze und Konzepte nach dem Verständnis von ‚Kultur‘, das ihnen, sofern sie die Kategorie überhaupt verwenden, zugrunde liegt, so kann man konstatieren, dass sie ‚Kultur‘ durchweg in wenig differenzierter und differenzierender Weise auf der national bzw. ethnisch definierten Ebene menschlicher Vergesellschaftung verorten, also in aller Regel davon ausgehen, dass ethnisch bzw. national definierte Gruppen (‚die Deutschen‘, ‚die Spanier‘, ‚die Araber‘) mit einer als ‚gemeinsam‘ imaginierten Sprache über ein mehr oder weniger einheitliches Repertoire an Verhaltens-, Denk-, Wahrnehmungsmustern sowie Wertorientierungen verfügen, die sich in konkreten und sichtbaren Verhaltensweisen (etwa sprachlich-kommunikativer Art) zum Ausdruck bringen, die für die jeweilige Gruppe charakteristisch sind und die sich zudem auf die der betreffenden Gruppe ‚determinierend‘, zumindest aber ‚prägend‘ auswirken. In der Interaktion nach ‚innen‘ gelten diese Muster als selbstverständlich und als ‚normal‘, in der Interaktion nach ‚außen‘, d.h. mit Angehörigen anderer, über andere Verhaltensmuster verfügender Gruppen aber werden sie als Quelle potentieller Missverständnisse und anderer Verständigungs- und Kommunikationsprobleme angesehen. (Altmayer 2015, 23)
Anstelle dieses nationenzentrierten Kulturbegriffs fordert er einen neuen, differenzierteren Kulturbegriff, der Kultur als „bedeutungs- und wissensorientiertes Konzept“ (ebd., 31) auffasst. Er schlägt dafür die Analyse von sogenannten „kulturellen Deutungsmustern“ vor, merkt jedoch an, dass es gleichwohl notwendig sei, diesen noch nicht hinreichend fassbaren Begriff weiter zu präzisieren (ebd., 28). Ebenso wie Busse, Wengeler und Hermanns geht er davon aus, dass dem Diskurs als kulturanalytisches Untersuchungsobjekt eine hervorgehobene Rolle zukommt:
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2 Zum Verhältnis von Sprache und Kultur – Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft
Mit der Verschiebung des Fokus kulturwissenschaftlicher Forschung auf die Ebene von Sinnsystemen und symbolischen Ordnungen gewinnt das symbolische Handeln des Menschen in der sozialen Interaktion eine neue, vorher nie dagewesene Relevanz, und damit gerät auch die Sprache als das wichtigste menschliche Symbolsystem und das wichtigste Mittel zur Zuschreibung und Aushandlung von Sinn und Bedeutung im sozialen Zusammenhang wieder in den Mittelpunkt des geistes- und sozialwissenschaftlichen Interesses, allerdings nicht so sehr Sprache als (isoliertes) System von Zeichen, sondern Sprache im sozialen Zusammenhang der Interaktion oder anders formuliert: im Diskurs. (ebd., 25)
Es lässt sich zusammenfassen: So komplex die Konzepte und die Zusammenhänge, die über eine Kulturanalyse rekonstruiert werden, auch sein mögen, Ausgangspunkt sind stets sprachliche Formen und Muster (Bubenhofer 2009, 85). Diese sind Ausdruck einer Sprachkultur und können als Indikatoren für diese gelesen werden.
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit Wenn wir davon ausgehen, dass Sprache ein Medium für Kommunikations-, Denk-, Erkenntnis- und Handlungsprozesse (Oksaar 1988, 7) ist, in dem sich Spezifika einer Kultur und Gesellschaft zeigen, dann ermöglicht die Analyse von Diskursen nicht nur einen Zugang zu kulturspezifischen Sprechweisen, sondern auch zu kulturspezifischen Denkweisen. Um diesen Zusammenhang analytisch fassbar zu machen, wurde in der Forschungsgeschichte die Analyseeinheit des „Kulturems“ vorgeschlagen. Die vorliegende Arbeit prüft, inwiefern die Analysekategorie des „Kulturems“ in einer sprachvergeichenden Arbeit zur Kategorisierung von kulturspezifischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten genutzt werden kann. Dafür wird in den folgenden Kapiteln eine Arbeitsdefinition vorgeschlagen, für die der Forschungsstand als Hintergrundfolie dient. Diese Arbeitsdefinition wird im Anschluss anhand der induktiven Analyse der Untersuchungskorpora auf ihre Anwendbarkeit geprüft. Die Ergebnisse werden im abschließenden Teil der Arbeit (vgl. Kapitel 6) vorgestellt. 3.1 Forschungsstand Die ersten Ansätze der Kulturemtheorie teilen ein Sprachverständnis, in dem davon ausgegangen wird, dass Sprache sich nicht allein – und nicht einmal vorrangig – auf der verbalen Ebene realisiert, sondern dass paraverbale und nonverbale Verhaltensweisen eine ebenso große Rolle im Kommunikationsprozess spielen. Das Konzept des ›Kulturems‹ wird dementsprechend nicht primär als verbale Analysekategorie definiert. In vielen Aufsätzen wird vor allem auf die deutschsprachige Monographie „Kulturemtheorie“ von Els Oksaar (1988) verwiesen, in der sich die Autorin jedoch explizit auf die vorausgehenden Ansätze Fernando Poyatos’ bezieht, die bis heute kaum Eingang in die Bearbeitungen des Kulturemkonzeptes finden.25 Im Folgenden werden die wichtigsten Gedanken zur Kulturemtheorie dargestellt, wobei insbesondere auf drei Forschungspositionen eingegangen wird. Im Anschluss wird die Anwendung des Konzeptes in den Übersetzungswissenschaften betrachtet. 25
So beziehen sich die Arbeiten aus der Romania von Soto Almela 2013, Luque Nadal 2009, González Pastor 2012, Cómitre Narváez/Valverde Zambrana 2014 auf Oksaar und schreiben ihr zumeist auch die Urheberschaft zu, während Oksaar selbst das Konzept Poyatos und auch Pike zuschreibt.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6_3
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3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
3.1.1 Begriffliche Erläuterung Vermeer und Witte führen aus, dass sich der Terminus Kulturem „natürlich von »Kultur« her[leitet] und den sprachwissenschaftlichen Termini wie ‚Phonem‘, ‚Morphem‘ etc. nachgebildet [ist]“ (Vermeer/Witte 1990, 135). Das Suffix „-em“ bezeichne eine abstrakte Einheit auf Ebene der Potentialität im Gegensatz zu dem Zéro-Suffix, das eine konkrete Einheit auf der Vorkommensebene bezeichnet. Auch Pike erläutert bereits 1967 in seiner Beschreibung von behavioreme, dass das Suffix „-eme“ als Signal für den Leser markiert, „when we have moved from nonstructural grounds to a consideration of similar elements within the framework of an entire emic system“ (Pike 1967, 121). 3.1.2 Entstehung der Kulturemtheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 3.1.2.1 Fernando Poyatos – Analyse der nonverbalen Kommunikation Fernando Poyatos versucht in den 1970er Jahren als einer der ersten, die Vorstellung eines Kulturems als Analyseeinheit für die Kultur- und die Kommunikationswissenschaften nutzbar zu machen (Poyatos 1972, 1976). Seinen Überlegungen zu einer Kulturemanalyse geht die Annahme voraus, dass Kommunikation eine grundsätzliche Bedingung für Kultur darstellt: It has been stated many times, but perhaps without enough emphasis and without truly explaining why, that culture is communication. [...] any cultural manifestation is inconceivable without the personal communicative exchanges that express ideas and attitudes regarding what is done and thought. (Poyatos 2002, 3)
Er geht davon aus, dass Kultur aus Zeichen besteht (Poyatos 1981, 30). Da diese Zeichen aber nicht nur als sprachliche Einheiten auf der verbalen Ebene realisiert seien, sondern Kommunikationsprozesse ebenso auf der nonverbalen wie auch auf der paraverbalen Ebene stattfänden, formuliert Poyatos die Notwendigkeit der Neudefinition des Konzeptes ›Sprache‹, in der dies berücksichtigt werden müsse (ebd., 27).26 Die Analyse einer Kultur, die Poyatos als Serie von Gewohnheiten, Verhaltensweisen und den Ergebnissen derselben versteht (Poyatos 1976, 313)27, soll über die Analyse ihrer Kultureme erfolgen. Poyatos definiert Kultureme als „any portion of cultural activity sensorially or intellectually apprehended in signs of symbolic value, which can be divided up into smaller units or amalgamated into larger ones“ (ebd., 314). Das 26
Diese von der Sache selbst geforderte Überarbeitung des Sprach- oder auch Kommunikationskonzeptes konkretisiert Poyatos in seinem Modell der „Basic Triple Structure of human communication“. Vgl. zusammenfassend Poyatos 1981 und ausführlicher Poyatos 2002 (Kapitel 4 „Language-paralanguage-kinesics. The basic triple structure of human communication“).
27
Für eine umfassendere Definition des Konzeptes ›Kultur‹ vgl. Poyatos 2002. Zur Definition von Kultur vgl. in der vorliegenden Arbeit 2.2.1.
3.1 Forschungsstand
25
Grundgerüst dieser frühen Definition behält Poyatos bei, jedoch ersetzt er bereits 1981 das Verb „apprehended“ (dt. verstanden als, erfasst durch) durch „perceived“ (wahrgenommen) und betont so vermehrt den Aspekt der Wahrnehmung durch jemanden. Später fügt er hinzu, dass sich Kultureme nicht nur in kultureller Aktivität, sondern auch in Nichtaktivität äußern können und definiert folgendermaßen: any portion of cultural activity or nonactivity perceived through sensible and intelligible signs with symbolic value and susceptible of being broken down into smaller units or amalgamated into larger ones. (Poyatos 2002, 10)
Im Kotext dieser Definition gibt Poyatos zu verstehen, dass das Kulturkonzept, auf das seine Kulturemtheorie zu beziehen ist, nicht zwangsläufig das klassische nationengebundene Kulturkonzept ist: So nennt er als Analysebeispiel die Kinesik der Tischmanieren einer bestimmten ländlichen Gesellschaftsschicht. If we endeavor to advance in the realm of nonverbal communication in a progressive way, it is at times indispensable not to try to approach a very specific area, such as kinesics at the table within the rural class (not even general table kinesics in a given culture) without having first explored and identified larger areas and without a clear and mentally organized knowledge of the culture we attempt to study. This was, in my early period as a student of nonverbal communication, what prompted me to elaborate a model that would allow me to carry out, in a manner totally flexible and suitable to the needs of each researcher, a systematic and progressive analysis of a culture, based on the unit I called cultureme (ebd.)
Der geforderten Neudefinition und Bedeutungserweiterung der Konzepte ›Sprache‹ und ›Kommunikation‹ folgend – nach der Poyatos zwar den Status sprachlicher Zeichen als Kern des menschlichen Kommunikationsprozesses anerkennt, jedoch besonders die Bedeutung weiterer nicht verbaler Mittel der Kommunikation hervorhebt – weist Poyatos auf die Existenz sprachlicher Kultureme (linguistic culturemes, vgl. ebd., 14) hin, stellt in seinen Analysen jedoch paraverbale und nonverbale Kultureme in den Vordergrund. Zumeist analysiert Poyatos unter der Bezeichnung des „Kulturems“ Situationen oder Schauplätze, teilweise auch Handlungsmuster, die in bestimmten Settings ausgeführt werden. So kontrastiert er beispielsweise die Situation in einer spanischen und einer nordamerikanischen Cafeteria und fasst dabei zugleich beide Situationen, wie auch signifikante Teilaspekte der Situation (Art und Beschaffenheit der Möbel, Geruch der typischen Speisen, tabuisierte und als angemessen empfundene Verhaltensweise), als Kultureme auf (Poyatos 1972). 3.1.2.2 Els Oksaar – Viel zitierte Anfänge der Kulturemtheorie In den achtziger Jahren greift Els Oksaar den Terminus „Kulturem“ von Poyatos auf. In ihrer „Kulturemtheorie“ (1988) stellt sie ihrer Kulturembeschreibung zunächst die Forderung nach neuen Theorien in der Sprachverwendungsforschung voran, die das Wesen des kommunikativen Geschehens berücksichtigen, das insbesondere in der münd-
26
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
lichen Sprachverwendung verbale, paraverbale, nonverbale und extraverbale Einheiten umfasse (Oksaar 1988, 6). Ebenso wie Poyatos betont Oksaar also, dass Kommunikation und Sprache nicht nur auf der verbalen Ebene stattfinden. Sprache sei stets ein soziales Phänomen, das sich in realen Sprecher-Hörern und realen sozialen Situationen entwickele und als Zeichensystem den Denk-, Erkenntnis- und sozialen Handlungsprozessen der Menschen diene (ebd., 7). Die Sprachbeherrschung allein sichere dabei noch nicht die erfolgreiche Verständigung, sondern auch Verhaltensweisen müssten beherrscht werden; diese multimodalen Verhaltensweisen, die im kommunikativen Akt aktiviert werden, beschreibt Oksaar als „Behavioreme“. Oksaars Theorie steht damit der Linguistik nach Chomsky entgegen, die Sprache vom Sprecher isoliert als System betrachtet.28 Die spezifische Beziehung zwischen Kultur und Sprache, „die einerseits selbst kulturbedingt und Teil der Kultur ist, und andererseits ein Mittel für die Betrachtung und Beschreibung der Kultur“ (ebd., 21), führt dazu, dass die Verhaltensweisen im kommunikativen Akt immer auch von kulturellen Parametern beeinflusst werden. Oksaar definiert demzufolge: Kultureme sind abstrakte Einheiten: Sie können in verschiedenen kommunikativen Akten unterschiedlich realisiert werden, bedingt u.a. durch generations-, geschlechts- und beziehungsspezifische Aspekte. Ihre Realisierung geschieht durch Behavioreme, die verbal, paraverbal, nonverbal und extraverbal sein können und in erster Linie eine Antwort auf die Fragen wie? durch welche Mittel? ermöglichen. (ebd., 27)
Abb. 1: Kulturem nach Oksaar 1988, 28
28
Vgl. Kapitel 2.2.2, insbesondere Fußnote 17.
3.1 Forschungsstand
27
Oksaar nennt einige Beispiele für Kultureme wie etwa Grüßen, Schweigen, Komplimente machen sowie Danken und bezeichnet die konkrete Realisierung, beispielsweise des Kulturems Grüßen durch einen Händedruck, als Behaviorem. In ihrer weiteren Darstellung nutzt sie die Kategorie des Kulturems analytisch jedoch nicht weiter, sondern beschränkt sich auf die Andeutung einiger Kultureme über die Beschreibung ihrer Realisierungsformen durch Behavioreme. Es ist an dieser Stelle Sager zuzustimmen, der bemerkt, dass eine kulturspezifische Systematisierung oder Typologie von Kulturemen undeutlich bleibt (Sager 1995, 194) und sich in der Bestimmung der Behavioreme theoretische Ungenauigkeiten finden: So würden die Variablen Raum und Zeit (sowie die soziale Variable) als extraverbale Behavioreme den verbalen, paraverbalen und nonverbalen Behavioremen gleichgestellt. Stattdessen sei es aber so, dass diese Variablen, die von Oksaar explizit als „regulierende Behavioreme“ (Oksaar 1988, 27) benannt werden, „die Verwendung der verbalen, parasprachlichen und nonverbalen Behavioreme beeinflussen“ und eher als „Fakten oder Faktoren der außersprachlichen Situation bzw. des Settings“ zu bezeichnen sind (Sager 1995, 194195). Auch in der vorliegenden Arbeit sind die Subthemen ZEIT, RAUM und ROLLEN/ GRUPPEN, die den Variablen bei Oksaar entsprechen, auf einer abstrakteren theoretischanalytischen Ebene anzuordnen als die Konzepte, die den Subthemen thematisch zugeordnet werden und deren Kulturspezifik überprüft wird.29 3.1.2.3 Sven F. Sager – Display und Kulturem Sager greift auf die definitorischen Ansätze von Oksaar zurück, um sein eigenes interkategoriales Vergleichsverfahren theoretisch-methodisch präziser zu fassen: Er ergänzt den modellhaften Rahmen des Displayschemas um den Begriff des ›Kulturems‹. Unter einem „Display“ versteht Sager eine kommunikativ relevante Verhaltensweise; er nutzt das Displayschema, um Materialbefunde aus verschiedenen Bereichen und Phänomene unterschiedlicher Art anhand ihrer grundlegenden Konstituierungsmerkmale miteinander zu vergleichen.30 Abweichend von Oksaar fasst er Kultureme nicht als Verhaltenskomplexe auf, sondern als „kulturell spezifizierte Sinnkomplexe bzw. die verschiedenen daraus ableitbaren kulturellen Objekte und Strukturen“ (Sager 1995, 195). Er definiert weiter: Kultureme sind also kulturelle Instanzen, die entsprechend unserem Displayschema über spezifische substantielle Merkmalskomplexe in einer bestimmten phänomenologischen Form realisiert werden [...] und charakteristische funktionale Relevanzen für Benutzer/ Aktor wie Umwelt besitzen. (ebd.) 29
Vgl. die Analysekapitel 5.2, 5.3 und 5.4.
30
So beispielsweise das verbal-kommunikative Interaktionsverhalten von Kindern und Jugendlichen, das nonverbal-interaktive Sozialverhalten rezenter subhumaner Primaten und verschiedene textuell unterschiedlich komplexe verbale Elemente und Erscheinungen aus dem Bereich der menschlichen Kultur (Sager 1995, 192). Weiterführend vgl. Sager 2004, 123.
28
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
Beispiele, die Sager im Anschluss erwähnt, sind unter anderem sakrale Kultureme wie Altäre oder Prestigeobjekte wie Ehrenmale, aber auch Rituale.31 Laut Sager sind diese Formen von Objekten, Strukturen und Vorgängen, die er als „Kultureme“ bezeichnet, von den Verhaltensformen, die bereits unter dem Displaybegriff erfasst werden, dadurch zu unterscheiden, dass sie „als einheitlich abgrenzbare (materielle) Phänomene von unterschiedlicher Gestalt und Realisierungsform eine jeweils spezifische psycho-sozio-kulturelle funktionale Relevanz haben“ (ebd.).32
Abb. 2: Display und Kulturem nach Sager 1995, 196
Er ergänzt, dass Kultureme kulturelle Einheiten im Sinne Ecos seien, die immer auch semiotischen Charakter für die Angehörigen einer Kultur hätten. Sager trennt also die Kategorie des Displays, in die er nonverbale, verbale und paraverbale Verhaltensweise 31
Sagers Beispiele lassen an eine Unterscheidung denken, die Bourdieu in seinem Aufsatz „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“ von 1983 trifft: Er trennt hier inkorporiertes kulturelles Kapital, objektiviertes kulturelles Kapital und institutionalisiertes kulturelles Kapital. Unter ersterem versteht Bourdieu vor allem Bildung, die als inkorporiertes Kapital „zu einem festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben‘ ist ‚Sein‘ geworden“. Unter objektiviertem kulturellen Kapital versteht Bourdieu kulturelles Kapital in Form von „kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben“ (Bourdieu 1983, 2), also das, was Sager prototypisch als Kulturem einordnen würde.
32
Sager stellt in seiner Theorie einen Bezug zur Mem-Theorie Richard Dawkins’ her, der den Ausdruck „Mem“ in Analogie zum Ausdruck „Gen“ verwendet. In einer Fußnote erläutert Sager: „So wie Gene die grundsätzlichen informationstragenden Einheiten der biologischen Evolution darstellen, liegen mit den Memen die informationstragenden Einheiten der kulturellen Evolution vor. […] Wichtig in unserem Zusammenhang zu erwähnen, wäre noch die Tatsache, daß das Mem sich eher auf den semiotisch relevanten, abstrakten Sinnkomplex bezieht, die Idee, unabhängig davon, wie dieser sich konkret realisiert. Mit Kulturemen in unserem Verständnis sind aber gerade diese konkreten Formen der realen (materiellen) Manifestation gemeint. Wir können in diesem Sinne vielleicht sagen: Meme – wie etwa die Idee von Gott [...] – können sich durch unterschiedliche Kultureme – etwa ein Bildnis, ein Text, ein Ritual, ein Musikstück etc. – realisieren. In einem Kulturem wiederum – etwa einer bronzenen Götterfigur – können verschiedenen Meme enthalten sein – in unserem Beispiel die Idee von Gott wie ein bestimmtes Verfahren der Metallverarbeitung, was beides Meme darstellen, die einen hohen kulturellen Selektionsvorteil besitzen und sich daher in vielen Kulturen durchgesetzt haben.“ (Sager 1995, 201). In diesem Zitat wird der Unterschied zu Oksaars Kulturemtheorie nochmals deutlich, die Kultureme gerade nicht als konkrete Realisierungen definiert, sondern als abstrakte Einheiten, die sich in Form von Behavioremen realisieren.
3.1 Forschungsstand
29
einordnet, von der des Kulturems, in die er Kulturerscheinungen einordnet. Dass diese Unterscheidung zwischen verbalen Einheiten und Kulturemen nicht ganz eindeutig ist, wird in einer späteren Fußnote deutlich, in der Sager anmerkt, dass Texte und Idiome ebenfalls Kultureme sind, die aber, da es sich um spezielle verbale Kultureme handelt, in seiner Darstellung als gesonderte Klasse abgebildet werden (ebd., 199). Sager stellt im Weiteren dar, dass Displays und Kultureme Untersuchungsobjekte unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen (der Kulturethnologie, Historischen Pragmatik und linguistischen Ethnologie) sind, die in ihren Analysen immer wieder Überschneidungen aufweisen. So beispielsweise, wenn die linguistische Ethnologie anhand des Sinnmomentes der „demonstrativen Wildheit und Gefährlichkeit“ das nonverbale Verhalten von Kindern, die mit einem Stock auf Bäume oder Büsche schlagen, mit dem Imponierverhalten von subhumanen Primaten und der Imponiermimik bestimmter Masken vergleicht (ebd., 198). In diesem Fall werden sehr verschiedene Phänomene miteinander verglichen. Anhand der Gemeinsamkeiten der Phänomene in Form von geteilten Sinnmomenten – die Sager auch als „semantische Merkmale“ bezeichnet – können diese dennoch verglichen werden: Gleichgültig, ob es sich um ein bestimmtes Display oder ein Kulturem handelt, gleichgültig, wie sich das jeweilige Materialstück auch immer realisiert, immer wieder lassen sich die […] semantischen Merkmale als konstitutive Komponenten ausmachen, auf denen dann die jeweilige funktionale Relevanz aufbaut. (ebd., 200)
Durch den Vergleich der festgestellten Sinnmomente zeige sich der funktionale Unterschied zwischen den behandelten Phänomenen. Der interkategoriale Vergleich bestimmt beide Phänomene näher und leistet darüber hinaus eine nähere Bestimmung des übergeordneten Phänomenkomplexes. Anders ausgedrückt: Auch zwei sehr unterschiedliche Phänomene können miteinander verglichen werden, wenn sie semantische Merkmale miteinander teilen. Durch die Bestimmung und den Vergleich der geteilten semantischen Merkmale wird die übergeordnete Phänomenkategorie näher charakterisiert. Für die vorliegende Arbeit kann dies genutzt werden: Der Vergleich der Merkmale zweier Subkonzepte in unterschiedlichen Sprachkulturen und die Charakterisierung der Merkmale auf der Metaebene lassen es zu, die übergeordnete Kategorie – beispielsweise eines potentiellen kulturspezifischen Konzeptes – genauer zu bestimmen. Dieser Ansatz der näheren Bestimmung durch den Vergleich der geteilten und der unterschiedlichen semantischen Merkmale der Vergleichsinstanzen wird in Kapitel 3.2 erneut von Bedeutung sein.
30
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
3.1.3 Anwendung der Kulturemtheorie in den Übersetzungswissenschaften 3.1.3.1 Kulturemkonzept in den Übersetzungswissenschaften Während sich die Vorstellung des Kulturems in den Kulturwissenschaften nicht durchsetzen konnte und in der Sprachwissenschaft ebenfalls kaum Beachtung fand, ist die Kategorie in den Übersetzungswissenschaften bis heute eine fruchtbare. Besonders häufig wird auf eine bestimmte Textstelle aus einem frühen Aufsatz Hans Vermeers Bezug genommen, in dem er anhand einer deutschen Kurzgeschichte auf die Problematik der Übersetzung von Kulturemen hinweist: Suppose a German short story (or an English short story for that matter) would start by asserting that “At six o’clock in the morning Mother laid the breakfast table” (cf. Heimeran: Es wird schon heller). “Breakfast” in this context suggests the traditional German (or English) way of life, unaffected by war catastrophes and post-war changes. “Breakfast” is, in this text, one of the culturemes I have mentioned above. Translate this text into Spanish (or perhaps French) and you will get an entirely different impression: The average Spaniard (or French worker) does not sit at breakfast table with his family, he relishes a cup of coffee etc. on his way to work. How does one translate culturemes? (Vermeer 1983, 9)
Vermeer definiert das Konzept des ›Kulturems‹ an dieser Stelle noch nicht, sondern führt erst später gemeinsam mit Witte aus: Wir wollen dann von einem „Kulturem“ sprechen, wenn sich feststellen läßt, daß ein gesellschaftliches Phänomen im Vergleich zu „demselben“ oder einem unter angebbaren Bedingungen ähnlichen einer anderen Kultur (!) ein Kulturspezifikum ist (also nur in einer der beiden miteinander verglichenen Kulturen vorkommt) und dort gleichzeitig für jemanden (!) „relevant“ ist. (Vermeer/Witte 1990, 137)
Vermeers erstgenannter Ansatz von 1983 wird bis heute immer wieder aufgegriffen, um die spezifischen Probleme zu beschreiben, die bei der Übersetzung eines Ausdrucks von einer Ursprungskultur in eine Zielkultur auftreten können. Dies mag auf die Zusammenfassung von Amparo Hurtado Albir in seiner einschlägigen Einführung in die Übersetzungswissenschaft (2001) zurückzuführen sein, in der er formuliert, dass die Bezeichnung Kulturem nach Vermeer und Nord anscheinend verwendet werden könne, um sich auf kulturcharakteristische Elemente eines Textes zu beziehen, die zu einer Sprache und Kultur gehörten und deren Übersetzung in eine Zielsprache und Zielkultur demzufolge problematisch sei.33 In diesem Fall wird das Konzept des ›Kulturems‹ auf die Ausdrucksebene beschränkt, wie dies in verschiedenen Ansätzen der Übersetzungswissenschaften unter Rückbezug auf Vermeer getan wird.34 Unter Kulturemen werden dann kulturspezifische Termini verstanden (Hurtado Albir 2001, 33
Vgl. das spanische Originalzitat: „Nos parece que la denominación culturema utilizada por Vermeer y Nord sirve para referirnos a los elementos culturales característicos de una cultura presente en un texto y que, por su especifidad, pueden provocar problemas de traducción.“ (Hurtado Albir 2001, 611).
34
Dieser Bezug, insbesondere auf Vermeer 1983, konnte von mir nicht verifiziert werden.
3.1 Forschungsstand
31
ihm folgend auch Nuria Pérez Vicente 2008). Ein prototypisches Beispiel aus dem Spanischen ist der Ausdruck „chorizo“, der keinen Referenten in der deutschen Kultur hat und deshalb auch nicht ins Deutsche übersetzt werden kann. Weitere Ansätze, die das Kulturemkonzept ausschließlich auf der Ausdrucksebene betrachten, werden im folgenden Kapitel genannt. Dem steht entgegen, dass Vermeer/Witte in ihrer 1990 formulierten Definition die Bezeichnungen „Ausdruck“ und „Wort“ vermeiden und stattdessen von „gesellschaftlichen Phänomenen“ sprechen, und damit bereits die Konzept- und Sachverhaltsebene mitdenken. Einprägsam und oft zitiert beschreibt auch Christiane Nord im Rückgriff auf Vermeer und Witte: A cultureme is a social phenomenon of a culture X that is regarded as relevant by the members of this culture and, when compared with a corresponding social phenomenon in a culture Y, is found to be specific to culture X. “Corresponding” here means that the two phenomena are comparable under certain definable conditions (cf. Vermeer and Witte 1990: 137). For example, they may be different in form but similar in function (as in trains vs cars vs bicycles) or vice versa (for example, “to have coffee” in England, in the morning vs “tomar un café” in Spain, after dinner vs “Kaffeetrinken” in Germany, in the afternoon). (Nord 1997, 34)35
Beim beschriebenen K affeetrinken handelt es sich um ein Phänomen, das sich im Vergleich von zwei oder mehr bestimmten Kulturen als kulturspezifisch für eine der verglichenen Kulturen herausgestellt hat. Das heißt nicht, dass das Phänomen in keiner anderen Kultur wiederum charakteristisch sein kann (ebd., 34). Diesen Aspekt betont auch Luque Nadal, die darauf hinweist, dass Kultureme erst im Sprach- und Kulturvergleich erkennbar werden: Einem Phänomen ist also Kulturemstatus im Kontext der zwei konkreten verglichenen Kulturen zuzuschreiben (Luque Nadal 2009, 96). In ihrem Aufsatz „Los culturemas: ¿unidades lingüísticas, ideológicas o culturales?” (2009) stellt Luque Nadal die Frage, ob es sich bei Kulturemen um linguistische, ideologische oder kulturelle Einheiten handelt, und weist in ihrer Definition auf einige entscheidende Bestimmungskriterien hin: cualquier elemento simbólico específico cultural, simple o complejo, que corresponda a un objeto, idea, actividad o hecho, que sea suficientemente conocido entre los miembros de una sociedad, que tenga valor simbólico y sirva de guía, referencia, o modelo de interpretación o acción para los miembros de dicha sociedad. Todo esto conlleva que pueda utilizarse como medio comunicativo y expresivo en la interacción comunicativa de los miembros de esa cultura. (Luque Nadal 2009, 97)36 35
Ein vergleichbares Beispiel benennt auch Bernd-Dietrich Müller 1980, 109: „Wenn ein französischer Angestellter vor seinem Dienst in einer BAR seine erste ZIGARETTE RAUCHT und einen ESPRESSO TRINKT, so ist diese Handlung Teil seines kultur- und berufsspezifischen Tagesablaufs und hat darin seinen Sinn. Kann man die Handlung von deutscher Sicht mit FRÜHSTÜCKEN beschreiben?“.
36
Dt. „ein kulturspezifisches Element/Symbol, einfach oder komplex strukturiert, das einem Gegenstand, einer Idee, einer Aktivität oder einer Tatsache entspricht, das unter den Mitgliedern einer Gesellschaft
32
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
Sie stellt in ihrer Definition den sozialen Aspekt (das Phänomen muss unter den Mitgliedern der Gesellschaft ausreichend bekannt sein und wird von ihnen wahrgenommen) und den symbolischen Aspekt (als Elemente mit symbolischen Wert sind Kultureme bedeutungstragend) heraus. Bei nicht allen Elementen, die einen kulturellen Aspekt in sich tragen, handle es sich allerdings um Kultureme, um „nociones específico-culturales de un país o de un ámbito cultural“ (dt. kulturspezifische Vorstellungen eines Landes oder eines Kulturkreises, ebd., 94), sondern diese seien durch vier Kriterien zu bestimmen: (1) durch ihre Vitalität: Die zentrale Idee des Kulturems muss für die Sprecher „lebendig“ sein; (2) durch ihre „productividad fraseológica“ (dt. phraseologische Produktivität): Das Kulturem kommt in einer Vielzahl von Formulierungen vor und ist insofern „produktiv“;37 (3) durch die relative Häufigkeit des Vorkommens; (4) durch die strukturelle und symbolische Komplexität, die dazu führt, dass Kultureme in einer Vielzahl von Kontexten und textuellen Funktionen verwendet werden können (ebd., 105-107). Sowohl Vermeer/Witte als auch Nord weisen darauf hin, dass im Prozess des Vergleichs stets die Perspektive der eigenen Kultur eingenommen wird: Was als relevant, merkmalhaft und verschieden von der eigenen Kultur eingeschätzt wird, hängt vom Standpunkt ab (Vermeer/Witte 1990, 141 und Nord 1997, 34). Vermeer und Witte führen weiter aus, dass es jemand, ein Vergleichender ist, der ein Phänomen aus einer Gesellschaft als relevantes Kulturspezifikum ansieht. Es handle sich darum nicht um ein „reales“, sondern ein geglaubtes Phänomen (Vermeer/Witte 1990, 141). Der Betrachtende versucht, sich im Vergleich neben sich und die Gesellschaft, von der er Teil ist, zu stellen, muss aber in diesem Vorhaben, sich selbst von außen zu betrachten, stets scheitern. Ganz gleich ob es sich um einen intrakulturellen Vergleich handelt, bei dem Phänomene der eigenen Gesellschaft zueinander in Bezug gesetzt werden, oder um einen interkulturellen, bei dem der Vergleichende bereits per definitionem außerhalb der fremden Gesellschaft steht, der Vergleichende bleibt stets mit einem Fuß in der eigenen Gesellschaft verankert. Dabei besteht die Gefahr, dass die Phänomene der fremden Kultur als additive Reihe von Abweichungen vom eigenen Standard wahrgenommen werden (Müller 1986, 72). Im Prozess des Kulturvergleichs sind also sowohl die Auswahl der zu vergleichenden Phänomene wie auch die Betrachtungsweise kulturell eingefärbt. Müller geht noch weiter, wenn er als Hauptproblematik des interkulturellen Vergleichs beschreibt, dass „Ungleiches […] mit gleichen Kriterien in Bezug ausreichend bekannt ist, das symbolischen Wert trägt und das den Mitgliedern dieser Gesellschaft als Leitfaden, Referenz oder Interpretations- beziehungsweise Handlungsmodell dienen kann. All das trägt dazu bei, dass dieses Element als Kommunikationsmittel und Ausdrucksmittel in der kommunikativen Interaktion der Mitglieder dieser Kultur genutzt werden kann.“ (Übersetzung MM). 37
Dieses Kriterium der Variation weist laut Luque Nadal ebenfalls darauf hin, dass dem Kultureme eine eigene mentale Einheit zuzuordnen ist (Luque Nadal 2009, 106). Sie haben insofern auch außersprachlichen Status (extra-lingüístico), als dass sie zwar verbalisierbar sind, jedoch nicht notwendigerweise verbalisiert werden müssen (ebd., 96).
3.1 Forschungsstand
33
zueinander gesetzt werden [muss], und zwar unter Berücksichtigung der Tatsache, daß auch diese Kriterien kulturspezifisch geprägt sind“ (ebd., 35).38 Als Lösung schlagen Vermeer/Witte in Anlehnung an Müller vor, die zu betrachtenden Phänomene nicht als isoliert, sondern in ihrer gesamtkulturellen Vernetzung und Funktion zu erfassen (Vermeer/Witte 1990, 153). Ein Begriff als Teil einer Kultur steht in einer bestimmten funktionalen Beziehung zu „Nachbarbegriffen“ und zu „Bezugsbegriffen“ (Müller 1980, 104). Um kulturspezifische Phänomene angemessen zu vergleichen, müssen diese in ihrer strukturellen Verknüpfung, eingebettet in ihr Begriffssystem, betrachtet werden. 3.1.3.2 Verwandte Konzepte in den Übersetzungswissenschaften Mitunter lassen sich in den Übersetzungswissenschaften weitere Bezeichnungen für Kulturem-nahe Konzepte finden. So sprechen Maria Vittoria Calvi von „términos culturales“ (dt. kulturelle Ausdrücke, Calvi 2007, 51), Peter Newmark von „cultural words“ (Newmark 1988, 94), Mona Baker von „culture-specific concepts“ (Baker 1992, 21), Eugene Nida und William David Reyburn von kulturellen Präsuppositionen (Nida/Reyburn 1981) sowie Sergei Vlakov und Sider Florin von „Realia“ (Vlakov/Florin 1971)39. Die genannten Bezeichnungen sind jeweils mehr oder weniger stark auf die Ausdrucks- und die Konzeptebene bezogen und werden im Folgenden näher betrachtet. Einige Forschungsansätze beziehen sich ausschließlich auf die Ausdrucksebene und werden verwendet, um auf Ausdrücke zu verweisen, die aufgrund ihrer Kulturspezifik zu Problemen bei der Übersetzung führen können; so beispielsweise die „términos culturales“ nach Calvi 2007. Auch Nida schildert bereits 1945 in seinem Aufsatz „Linguistics and ethnology in translation problems“ am Beispiel von Bibelübersetzungen in verschiedene indigene Sprachen (aboriginal languages) Afrikas und Lateinamerikas, welche Probleme bei der Übersetzung in eine andere Kultur entstehen können. Die meisten Probleme treten dabei auf der lexikalischen Ebene auf, aber auch auf Ebene der Phonologie, Morphologie und Syntax kann die Übertragung sprachlicher Phänomene in eine andere Kultur schwierig sein. Der Schlüssel, mit diesen semantischen Äquivalenzproblemen umzugehen, sei, den Gebrauch – die Funktion der Wörter in der Ursprungssprache also – und den situationalen Kontext in die Untersuchung miteinzubeziehen. 38
Wenn dieser Gedanke fortgeführt wird, entsteht eine konstruktivistische Endlosschleife, in der die Einnahme eines neutralen – nicht jedoch eines plausiblen – Standpunktes oder die Anwendung neutraler Kriterien ausgeschlossen ist.
39
Auf das letztgenannte Konzept der „Realia“ möchte ich an dieser Stelle hinweisen, da es in der Sekundärliteratur häufig genannt wird. Da der zitierte Aufsatz „Neperevodimoye v perevode: realii“ (dt. „The Untranslatable in Translation: Realia“, 1970) allerdings nur auf Bulgarisch verfügbar ist, kann nicht weiter darauf eingegangen werden.
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3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
Languages are basically a part of culture, and words cannot be understood correctly apart from the local cultural phenomena for which they are symbols. This being the case, the most fruitful approach to the semantic problems of any language is the ethnological one. This involves investigating the significance of various cultural items and the words which are used to designate them. A combination of analytical social anthropology and descriptive linguistics provides the key to the study of semantics. (Nida 1945, 207-208)
Die frühen Ansätze von Nida betreffen Übersetzungen und Vergleiche zwischen Kulturen, die sich wesentlich fremder sind als die indoeuropäischen Sprachen. Besonders interessant ist, dass er auch die phonologische, morphologische und syntaktische Sprachebene berücksichtigt. Newmark (1988) geht wie Nida davon aus, dass sich kulturelle Ablagerungen (cultural deposits) auf verschiedenen Sprachebenen finden.40 Er nennt Beispiele auf Ebene der Lexik und Grammatik sowie die Anredeformen „Sie“ im Deutschen und „usted“ im Spanischen (Newmark 1988, 95). In seiner Sprachbetrachtung unterscheidet er die universelle Sprache von der kulturellen und der persönlichen, die häufig auch als Idiolekt bezeichnet wird. Die universelle Sprache beinhaltet dabei Wörter, die in den meisten Sprachen zu finden und in ihrer Übersetzung daher unproblematisch sind („sterben“, „leben“, „Stern“, „Schwimmen“, „Tisch“). Nichtsdestoweniger gebe es Wörter des universellen Wortschatzes, die in verschiedenen Sprachen eine universelle Funktion übernehmen und dennoch kulturell unterschiedliche Konzepte bezeichnen – mit dem Lexem „Frühstück“ wird hier von Newmark erneut ein Beispiel aus dem Wortfeld des Essens bemüht.41 Zu den „cultural words“ zählt Newmark fremdsprachige Ausdrücke wie „Monsoon“, „steppe“, „dacha“ und „tagliatelle“, die in der Übersetzung problematisch sind, wenn Quell- und Zielsprache nicht über kulturelle Überschneidungen verfügen (ebd., 94). Diese kulturspezifischen Wörter werden durch den „cultural focus“ der jeweiligen Sprechergemeinschaft bestimmt: And, when a speech community focuses its attention on a particular topic (this is usually called “cultural focus”), it spawns a plethora of words to designate its special language or terminology – the English on sport, notably the crazy cricket words [...], the French on wines and cheeses, the Germans on sausages, Spaniards on bull-fighting, Arabs on camels, Eskimos, notoriously, on snow, English and French on sex in mutual recrimination; [...]. Frequently where there is a cultural focus, there is a translation problem due to the cultural “gap” or “distance” between the source and target languages. (ebd., 94)
Ganz ähnlich beschreibt auch Baker die sogenannten „culture-specific concepts“, wobei sie mit deren Bezeichnung eine vermehrte Konzentration auf die Konzeptebene markiert. 40
Newmarks Kulturdefinition fügt sich an seine sprachzentrierten Betrachtungen an, wenn er Kultur definiert als: „the way of life and its manifestations that are peculiar to a community that uses a particular language as its means of expression“ (Newmark 1988, 94).
41
Vgl. auch Fußnote 35.
3.2 Zusammenfassung: Vergleich der bestehenden ›Kulturem‹-Konzepte
35
The source-language word may express a concept which is totally unknown in the target culture. The concept in question may be abstract or concrete; it may relate to a religious belief, a social custom, or even a type of food. Such concepts are often referred to as “culture-specific”. An example of an abstract English concept which is notoriously difficult to translate into other languages is that expressed by the word privacy. This is a very “English” concept which is rarely understood by people from other cultures. […] An example of a concrete concept is airing cupboard in English which, again, is unknown to speakers of most languages. (Baker 1992, 21)42
Nida und Reyburn setzen in ihren späteren Betrachtungen noch einen Schritt früher an und beschreiben, dass in einer Gesellschaft gewisse Präsuppositionen bestimmend sind: zugrundeliegende Voraussetzungen, Annahmen, Überzeugungen und Ideen, die allgemein geteilt werden, die aber kaum jemals auf verbaler Ebene beschrieben oder definiert werden (Nida/Reyburn 1981, 14). Die Autoren exemplifizieren ihr Konzept der kulturellen Präsuppositionen anhand von Bibelübersetzungen des Alten und Neuen Testaments und geben an, dass die grundlegenden Präsuppositionen über die Welt und das Leben in die fünf Kategorien „(1) physical earth and living beings, (2) history and destiny, (3) supernatural beings, (4) interpersonal relations, and (5) intellectual activity“ (ebd., 14) eingeteilt werden können. Obwohl Präsuppositionen aufgrund ihrer Grundsätzlichkeit nicht verbalisiert würden, manifestierten sie sich doch im Alltag einer Kultur durch wiederkehrende kulturspezifische Verhaltensweisen und in der Art und Weise, wie Ereignisse von den Mitgliedern einer Kultur verstanden und interpretiert würden (ebd., 17). 3.2 Zusammenfassung: Vergleich der bestehenden ›Kulturem‹-Konzepte Die Kulturem-Definitionen des 20. Jahrhunderts weisen Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf, die im Folgenden in fünf Punkten synoptisch dargestellt werden. Aus diesen fünf Punkten ergibt sich die Herleitung der Arbeitsdefinition (Kapitel 3.3) für die Korpusanalysen. (1) Vergleich als konstitutives Element der Kulturembegriffe Auf einfachster Ebene ist dies in den Übersetzungswissenschaften nachzuvollziehen: Ein spezifischer Ausdruck oder ein spezifisches Konzept erweist sich erst im Vergleich mit anderen Sprachkulturen als sprachspezifisch (bspw. Nord 1997, 34; Vermeer/Witte 1990, 137). Über den Vergleich lässt sich das Untersuchungsobjekt in seiner Charakteristik über die Hintergrundfolie des Anderen näher bestimmen. 42
Die Autorin beschreibt die Übertragung von einer „source-language“ (dt. Quellsprache) in eine „target culture“ (dt. Zielkultur). Sprache und Kultur werden damit als Konzepte auf einer Ebene situiert und sogar mitunter gleichgestellt: Das zu übersetzende Wort sei Teil der Sprache, wohingegen das – eventuell unbekannte – Konzept als Teil der Kultur beschrieben wird.
36
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
Dem konstitutiven Element des Vergleichs inhärent ist jedoch das Problem, dass es stets einen Vergleichenden braucht, für den es nie ganz möglich ist, sich aus der eigenen kulturspezifischen Perspektive zu lösen. Dieses Problem ist nicht zu umgehen und muss berücksichtigt und reflektiert werden. Um die Vergleichsergebnisse trotz des notwendigen Einwirkens der Perspektive des Vergleichenden als überindividuell betrachten zu können, schlage ich die Betrachtung der Ausdrücke in ihrem Begriffssystem auf Konzeptebene und in ihrer gesellschaftlichen Funktion vor. (2) Abstrakte Kategorie „Kulturem“ Die Bezeichnung „Kultur-em“ deutet bereits an, dass es sich um eine Kategorisierungseinheit handelt, die konkret realisierte Phänomene auf einer abstrakten Ebene zu Klassen zusammenfasst. Besonders deutlich wird dies bei Oksaar herausgearbeitet, die Kultureme als „abstrakte Einheiten“ (Oksaar 1988, 27) von ihrer Realisierung in Form von Behavioremen abgrenzt. Bei Sager werden Kultureme als „Phänomene“ bezeichnet, die „realisiert“ (Sager 1995, 195) werden. Ihre Betrachtung und Beschreibung über die geteilten Sinnmomente erfolgt dennoch auf einer abstrakten Ebene, auf der Parallelen zwischen Kulturemen und ihren Merkmalskomplexen gezogen werden. (3) Fokussierung auf die Ausdrucksebene vs. Einbezug der Konzeptebene Mit Ausnahme einiger Ansätze der Übersetzungswissenschaften werden Kultureme sowohl auf der Ausdrucks- wie auch auf der Konzeptebene betrachtet. So werden Kultureme meist als Einheiten beschrieben, die über ihre verbalisierte Form fassbar werden, jedoch ebenso auf Konzeptebene existieren.43 (4) Wahrnehmbarkeit des Phänomens Sowohl Vermeer/Witte (1990) als auch Nord (1997) geben an, dass es sich bei Kulturemen um Phänomene handelt, die von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft als relevant erachtet werden. Das kulturspezifische Element muss für die Sprachgemeinschaft „lebendig“ sein, formuliert Luque Nadal (2009, 105). Und auch Poyatos spricht von kultureller (Nicht-)Aktivität, die von jemandem ‚wahrgenommen‘ („perceived“; Poyatos 2002, 10) wird. Diese Wahrnehmung von kulturspezifischen Phänomenen von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft kann sich beispielsweise als Reflexion auf der Metaebene äußern.
43
Verschiedene Ansätze (Oksaar 1988, Poyatos 1976, 1981 und 2002, Sager 1995) berücksichtigen neben verbalen Kulturemen auch paraverbale, nonverbale und extraverbale. Da ich mich in meiner Korpusanalyse auf die verbale Ebene konzentriere, werden die weiteren Realisierungsebenen nicht vertieft.
3.3 Arbeitsdefinition für die Korpusanalyse
37
(5) Aufweichung des nationengebundenen Kulturkonzeptes In einigen wenigen Ansätzen deutet sich eine Aufweichung des nationengebundenen Kulturbegriffs an: Vermeer/Witte bemerken, dass „der Kulturemstatus nicht unbedingt für die Gesamtgesellschaft gilt (also u. U. eben diakulturell ist)“ (1990, 139). Bei Poyatos lässt sich aus der Analyse der Tischmanieren einer bestimmten ländlichen Gesellschaftsschicht als Kultureme ableiten, dass auch er sein Kulturemkonzept nicht notwendigerweise auf ein Konzept von „Kultur“ als „Nation“ stützt (Poyatos 2002, 10). 3.3 Arbeitsdefinition für die Korpusanalyse In Anlehnung an die genannten definitorischen Annäherungen wurde eine Arbeitsdefinition erstellt, die in den folgenden Korpusanalysen als Ausgangspunkt dient. Auf Grundlage der Korpusanalysen wird das vorgeschlagene Kulturemkonzept im Hinblick auf seine Tauglichkeit als diskurslinguistische Analysekategorie geprüft (für die Ergebnisse vgl. 6.2). Die detaillierte Analyse und der Vergleich der einzelsprachlichen Ausdrucksweisen und der daraus generierten Konzepte wird zeigen, ob und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Untersuchungskorpora bestehen. Ich definiere Kultureme als sprachlich fassbare Einheiten, die kulturrelevante Bedeutung in sich haben, als gesellschaftliche Phänomene in der kommunikativen Praxis einer Sprachgemeinschaft in Korpora analysierbar sind und im Vergleich mit einem anderssprachigen Korpus herausgearbeitet werden können. 3.3.1 Charakteristika von Kulturemen (I) Kultureme manifestieren sich in Sprache. Ich gehe davon aus, dass Kultureme als mentale Einheiten auf Konzeptebene existieren und sich auf verschiedene Art und Weise realisieren können. Der Zugriff über die sprachliche Oberfläche erscheint dabei als besonders vielversprechend, da er einen privilegierten Zugang zum Denken, Fühlen und Wollen einer Sprachgemeinschaft bietet (Hermanns 2012 a, 7). Kultureme sind explizit verbalisierbar, müssen aber nicht unbedingt verbalisiert werden; nichtsdestoweniger scheint es wahrscheinlich, dass sie als kulturcharakteristische Hintergrundfolie Spuren in den verwendeten sprachlichen Mustern hinterlassen. Diese Spuren sollen in der sprachvergleichenden Korpusanalyse ermittelt werden. (II) Kultureme sind Einheiten, die kulturspezifische Bedeutung tragen. Diese kulturspezifische Bedeutung kann nur vergleichend ermittelt werden. Bei der Erfassung von
38
3 Die Vorstellung des ›Kulturems‹ in der Forschungsgeschichte und der vorliegenden Arbeit
Bedeutungseinheiten stellt sich stets das Problem der Abgrenzbarkeit und der Vergleichbarkeit (Müller 1980, 109). Erst die Analyse wird ergeben, welche sprachlichen Muster zu Konzepten gebündelt werden können und wie diese Konzepte wiederum miteinander in Bezug gesetzt werden. (III) Kultureme können von den Mitgliedern einer Gesellschaft wahrgenommen und als solche auf der Metaebene thematisiert und reflektiert werden. Die explizite Reflexion eines Phänomens als kulturcharakteristisch scheint dabei ein Indiz des Kulturemstatus zu sein beziehungsweise etabliert diesen zugleich. 3.3.2 Funktionen von Kulturemen (IV) Kultureme spielen eine Rolle bei der Konstitution von kultureller Identität. Nach Assmann ist Identität „eine Sache des Bewußtseins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes“ (Assmann 1999, 130). Diese Form der Identitätsherstellung manifestiert sich in der Metareflexion der eigenen Rolle und Kultur. Als analytische Einheiten, die ebenfalls durch metasprachliche Reflexion gekennzeichnet sind, können Kultureme und ihre Realisierungsformen dazu beitragen, die Konstruktion kultureller Identität nachzuvollziehen. (V) Kultureme haben eine argumentative Funktion. Sie dienen der Abgrenzung von anderen Gruppen und werden dazu verwendet, die eigene Position argumentativ zu stärken. Ebenso können sie dazu genutzt werden, die Argumentation eines Mitgliedes der eigenen oder fremden Kultur in Frage zu stellen. Die Kriterien und Funktionen schärfen die Arbeitsdefinition des Konzeptes ›Kulturem‹. Bereits vor der Analyse der Korpora ist anzunehmen, dass es Konzepte geben kann, die mehr oder weniger kulturemhaft sind: Es scheint plausibel, dass es Teilbedeutungen gibt, die ein Konzept universell auszeichnen, während es andere gibt, die kulturspezifisch zu einem Konzept gehören; die Existenz von vollkommener Kulturspezifik scheint ebenso unwahrscheinlich wie eine absolute Deckungsgleichheit. Kultureme sind also Konzepte, die sich in einem gegebenen Untersuchungskontext als kulturspezifisch erwiesen haben. In dem Maße, in dem sie sich unterscheiden und durch verschiedene Charakteristika und Funktionen gekennzeichnet sind, sind sie mehr oder weniger kulturemhaft.
4 Korpora und Methode 4.1 Medientextanalyse: Medien als Abbild kollektiven Denkens, Fühlens und Wollens Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. (Luhmann 2009, 9)
So oder so ähnlich wird auf die Bedeutung der Medien hingewiesen. Gesellschaftliches Wissen bildet sich in den Massenmedien ab und wird zugleich durch sie konstituiert. Die Analyse von Sprache in Form einer (Zeitungs-)Textanalyse ermöglicht den Zugang zu gesellschaftlichem Wissen. Amanda Potts 2015 schließt sich an Gaze Tuchman (1978) an, wenn sie formuliert, dass „the news media have traditionally been viewed as providing a ‘window on the world’ […], and as a result, we may say that news ‘defines and shapes’ events“ (Potts et al. 2015, 150). Die Beschreibungen, in denen auf die Wichtigkeit der Medien hingewiesen wird, unterscheiden sich hinsichtlich der Aussage, was durch Medien abgebildet wird und was demzufolge auch über ihre Analyse zugänglich gemacht werden kann: So spricht Niklas Luhmann von „Wissen“ (Luhmann 2009, 9), aber auch von „Realitätsannahmen“ (ebd., 83) und dem „Gedächtnis […] der Gesellschaft“ (ebd., 122) – allesamt würden von den Massenmedien konstituiert. Ekkehard Felder schließt sich der letzten Formulierung an, ergänzt aber, dass es sich um ein „massenmedial ko-konstituiertes kollektives Gedächtnis“ (Felder 2007, 358) handle, da persönliche Wissensdispositionen ebenso wie die massenmediale Interaktion eine Rolle spielen. Andreas Gardt verweist darauf, dass Texte gesellschaftliche „Wirklichkeit“ konstituieren, und situiert dies im Kontext der Kulturanalyse: Ebenso offensichtlich ist, dass Sprache […] Teil von Kultur ist: als eine Form tradierten gesellschaftlichen – speziell: kommunikativen – Verhaltens und als eine Manifestation dieses Verhaltens, insofern Sprache konkret in Texten als Konstituenten gesellschaftlicher Wirklichkeit vorliegt. (Gardt 2004, 32)
Die sprachphilosophische Frage, was genau Sprache abbildet, sei es „Wissen“, „Welt“, „Gedächtnis“ oder „Wirklichkeit“, muss anderen Arbeiten überlassen werden. Ich schließe mich Hermanns’ Ausführungen zur Mentalitätsgeschichte an, der davon ausgeht, dass Sprache zeigt, wie und was Menschen denken, fühlen, wollen (Hermanns 2012 a, 7). Der Sprachgebrauch präge das Denken, Fühlen und Wollen dabei und bilde insbesondere das kollektive Denken, Fühlen und Wollen einer Sprachgemeinschaft ab. Medientexte repräsentieren dieses Denken, Fühlen und Wollen auf eine spezifi© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6_4
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4 Korpora und Methode
sche Art und Weise: Bei den Medientexten der großen nationalen Zeitungen handelt es sich um ein Nadelöhr der Kommunikation, das über die Verwendung bestimmter sprachlicher Ausdrucksweisen spezifischen Konzepten Relevanz in einer Gesellschaft zuspricht. Mautner geht davon aus, dass Zeitungen und Magazine einen gesellschaftlichen Mainstream reflektieren, einen dominanten gesellschaftlichen Diskurs (Mautner 2008, 32). Die Zeitungstexte des Untersuchungskorpus der vorliegenden Arbeit entstammen den Print- und Online-Versionen der größten und einflussreichsten Tageszeitungen Deutschlands und Spaniens und bilden Sichtweisen auf die Welt ab, die sich untereinander durchaus unterscheiden, die aber dennoch einen Diskurs widerspiegeln, der in der deutschen und spanischen Gesellschaft etabliert ist. Die ausgewählten Zeitungstexte eignen sich nicht nur aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkkraft für die Analyse, sondern auch aufgrund ihrer relativ einfachen Verfügbarkeit in der Datenbank Nexis, die mir erlaubte, ein ausreichend großes Korpus für meine Untersuchung zu erstellen. Diese Korpuserstellung wird in den folgenden Kapiteln nachvollzogen. 4.2 Leserkommentaranalyse: Leserkommentare als Abbild individuellen Denkens, Fühlens und Wollens Während die ausgewählten Medientexte eine Analyse des kollektiven Wissens zulassen, ermöglicht das Online-Leserkommentarkorpus einen Zugang zum individuellen Denken, Fühlen und Wollen der Kommentatoren. In der vorliegenden Arbeit werden Online-Leserkommentare von zwei großen Zeitungen verglichen: Zeit Online in Deutschland und El País in Spanien. Es handelt sich um eine spezifische Textsorte, bei der sich Leser zu online erschienenen Artikeln äußern. Die Kommentare erscheinen mit der Angabe des Benutzernamens des Kommentators, des Datums und der Uhrzeit sowie zumeist des Titels des Kommentars unter den Artikeln, auf die sie sich beziehen. Die Textsorte der Online-Kommentare ist dabei durchaus mit der allgemeinen Textsorte des Kommentars zu vergleichen: Die Textsorte Kommentar kann als prototypische Textsorte der Meinungsvermittlung bzw. der Meinungskundgabe betrachtet werden. Es handelt sich um eine Textsorte, die abhängig ist von bereits existierenden Texten, insofern als mittels Kommentaren wertend Stellung zu einem bereits eingeführten Thema genommen wird. Sie beziehen sich immer schon auf bereits gegebene Informationen, z.B. auf Informationen in Meldungen, Nachrichten oder Berichten. (Bubenhofer/Spiess 2012, 86)
Die zitierte Definition beschreibt die klassische Textsorte des Kommentars, wie sie sich in Zeitungen üblicherweise abgedruckt oder online publiziert findet, beispielsweise in Form des Leitartikels unter der Rubrik „Meinung“ bzw. im Online-Angebot. Sie trifft darüber hinaus in ihrer Bestimmung auch auf die Kommentare der Leser zu, die sich
4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung
41
online mittels eines Kommentars zu einem gegebenen Artikel und zu den Themen des Artikels äußern. Der Bezug der Online-Leserkommentare auf einen Artikel oder ein Thema ist dabei durch die Anordnung der Kommentare unter dem Artikel zunächst unmittelbarer als in den Printmedien. Zugleich ist der thematische Bezug aber deutlich weniger reglementiert, da keine klassische redaktionelle Kontrolle erfolgt und es sich bei den Kommentatoren nicht um Mitglieder einer Redaktion handelt, sondern um Privatpersonen, die ihre Meinung zu einem gegebenen Thema äußern. Die spezifische Form der Online-Leserkommentare auf Nachrichtenportalen ist von weiteren Formen der Online-Kommentare zu unterscheiden.44 4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung Die vorliegende Arbeit erschließt den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur exemplarisch anhand einer sprachvergleichenden Analyse der Diskursthemen BERUF und ALLTAG in deutschen und spanischen Medientexten und Leserkommentaren für den Zeitraum von 2002 bis 2015. Die Medientexte und Leserkommentare werden im Folgenden als Korpora beschrieben, die nach Medienformat – Zeitungstext und Online-Leserkommentar – sowie nach der Sprache, in der sie vorliegen – Deutsch und Spanisch –, unterschieden werden können. Ein Korpus wird dabei verstanden als eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen. Die Daten des Korpus sind typischerweise digitalisiert, d.h. auf Rechnern gespeichert und maschinenlesbar. Die Bestandteile des Korpus bestehen aus den Daten selbst sowie möglicherweise aus Metadaten, die diese Daten beschreiben, und aus linguistischen Annotationen, die diesen Daten zugeordnet sind. (Lemnitzer/Zinsmeister 2015, 13)45
In der vorliegenden Arbeit werden die Korpora, die in einem Medienformat und einer Sprache vorliegen, als ein Korpus aufgefasst.46 Dadurch ergeben sich vier Korpora, die 44
Die Analyse der Leserkommentare erfolgt im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur beispielhaft anhand der zwei ausgewählten Medien, die ihre Kommentare besonders gut online verfügbar machen. Weitere Formen der Online-Kommentare finden sich beispielsweise in sozialen Netzwerken wie facebook oder Twitter, unter den Videos des Videoportals youtube oder in der Wikipedia. Eine Beschreibung der Online-Medienformate findet sich bspw. bei Fraas/Pentzold 2008. Für eine exemplarische Analyse von youtube-Kommentaren vgl. Potts 2014.
45
Schüler et al. (2014, 14) unterscheiden zwischen einem weiten und einem engen Korpusbegriff: In beiden Fällen wird unter einem Korpus eine Datensammlung verstanden. In der enger gefassten Definition wird darunter eine Datensammlung verstanden, die „aus Texten mit zuvor klar definierten Eigenschaften besteh[t] (z. B. bestimmte Textsorten)“. Eine weitere einschlägige Definition von „Korpus“ findet sich bspw. bei Baker 2006, 1.
46
Das deutsche und das spanische Medientextkorpus sowie das deutsche und das spanische Leserkommentarkorpus werden also als jeweils zwei Korpora aufgefasst. In anderen Kontexten wäre denkbar, das Korpus als ein Gesamtkorpus zu den Diskursthemen BERUF und ALLTAG aufzufassen. In der vorliegenden Arbeit steht jedoch der Sprach- und Kulturvergleich im Mittelpunkt, in dem die in den Korpora enthaltenen Texte insbesondere über den Vergleich miteinander erschlossen werden. Das Kriterium der Sprache steht
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4 Korpora und Methode
im Folgenden vorgestellt werden: 4.3.1.1 Deutsches Zeitungstextkorpus 4.3.1.2 Spanisches Zeitungstextkorpus 4.3.2.1 Deutsches Leserkommentarkorpus 4.3.2.2 Spanisches Leserkommentarkorpus An den Überblick über die Korpora schließt sich die Beschreibung der Pilotstudie an, die zur Erstellung der Korpora durchgeführt wurde. Die Studie reflektiert verschiedene Kriterien zur Erstellung eines Korpus, das für einen Sprachvergleich geeignet ist (vgl. Kapitel 4.3.3). 4.3.1 Zeitungstextkorpora
Abb. 3: Übersicht spanisches und deutsches Zeitungstextkorpus deshalb im Vordergrund und legt die Bezeichnung als „deutsches“ bzw. „spanisches“ Zeitungstextkorpus und Leserkommentarkorpus nahe. Eine ähnliche Diskussion könnte über die Frage geführt werden, ob es sich um einen Diskurs oder um zwei Diskurse handelt. Auch hierzu lassen sich unterschiedliche Einschätzungen formulieren. Ich schließe mich der Begründung Misieks 2010 an, die ihrer deutsch-polnischen Diskursanalyse voranstellt, dass „unterschiedliche Sprachen und Unterschiede in der Tradition und Kultur […] die Diskurse [dermaßen] prägen, dass wir in diesem Fall besser von zwei Diskursen sprechen sollten“ (Misiek 2010, 177).
4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung
43
4.3.1.1 Deutsches Zeitungstextkorpus Das deutsche Zeitungstextkorpus besteht aus Texten der Tageszeitungen taz (Die Tageszeitung), Die Welt und Süddeutsche Zeitung (SZ) sowie aus Texten des Nachrichtenmagazins Der Spiegel.47 Die Textsammlung wurde mithilfe der Datenbank Nexis (https://www.nexis.com) zusammengestellt: Die Artikel der taz, der Welt und des Spiegels wurden mithilfe einer Suchsyntax und unter Angabe des Untersuchungszeitraumes von 01.01.2002 bis 31.12.2015 heruntergeladen. Die Artikel der Süddeutschen Zeitung wurden mithilfe der Datenbank der Süddeutschen Zeitung zusammengestellt, wobei dieselbe Suchsyntax und derselbe Untersuchungszeitraum festgelegt wurden.48 Folgende Suchsyntax wurde verwendet, um die Texte des deutschen Zeitungstextkorpus zusammenzustellen: TEXT((Beruf ODER Arbeit) UND (Leben ODER Alltag ODER Freizeit))49 Die Kombination der Suchoperatoren „ODER“ und „UND“ bestimmt, dass einer der Suchausdrücke „Beruf“ bzw. „Arbeit“ und einer der Suchausdrücke „Leben“ bzw. „Alltag“ bzw. „Freizeit“ im Artikel vorkommen muss – in allen Texten findet sich also mindestens eine der Kombinationen der Suchausdrücke. Der Operator „TEXT“ gibt an, dass die Suchausdrücke im Fließtext der Artikel vorkommen müssen (dass es also nicht ausreichend ist, wenn die Ausdrücke ausschließlich in der Überschrift oder in der von der Redaktion zugeordneten Rubrik enthalten sind). In der Suchmaske von Nexis wurde ausgewählt, dass Gruppenduplikate und Nachrichtenagenturen ausgeschlossen werden. 4.3.1.2 Spanisches Zeitungstextkorpus Das spanische Zeitungstextkorpus besteht aus Texten der Tageszeitungen El País und El Mundo.50 Die Textsammlung wurde mit der Datenbank Nexis zusammengestellt. Hier wurde eine Suchanfrage für den Suchzeitraum von 01.01.2002 bis 31.12.2015 gestellt, in dem Artikel gefunden werden, die der folgenden Suchsyntax entsprechen: TEXT((trabajo ODER profesion ODER empleo) UND (vida ODER ocio))
47
Die Zeitungsnamen werden in den Quellenangaben abgekürzt: die Tageszeitung als „taz“, Die Welt als „Welt“, die Süddeutsche Zeitung als „SZ“ und Der Spiegel als „Spiegel“.
48
Vgl. https://archiv.szarchiv.de letzter Zugriff 28.01.2018 16:52 Uhr.
49
Die Suchsyntax wird in Kapitel 4.3.3.3 detailliert erläutert und begründet.
50
Die Zeitungsnamen werden in den Quellenangaben abgekürzt: El País als „País“ und El Mundo als „Mundo“.
44
4 Korpora und Methode
Die angegebene Suchsyntax findet Artikel, die einen der Ausdrücke „trabajo“ (dt. Arbeit), „profesion“51 (dt. Beruf) oder „empleo“ (dt. Beschäftigung) und einen der Ausdrücke „vida“ (dt. Leben) oder „ocio“ (dt. Freizeit) enthalten. In jedem der Artikel, die die Suchsyntax ergibt, kommt also mindestens eine Kombination zweier Suchausdrücke vor. Der Operator „TEXT“ gibt an, dass die Suchausdrücke im Fließtext der Artikel vorkommen müssen. In der Suchmaske von Nexis wurde ausgewählt, dass Gruppenduplikate und Nachrichtenagenturen ausgeschlossen werden. 4.3.2 Leserkommentarkorpora Die Leserkommentarkorpora bestehen aus Leserkommentaren zu Online-Artikeln der deutschen Wochenzeitung Die Zeit und der spanischen Tageszeitung El País, die über ein mehrschrittiges Verfahren ausgewählt wurden. Zunächst wurde in den Online-Ausgaben der beiden Zeitungen nach allen Artikeln gesucht, die mit dem Schlagwort (einem sogenannten tag) „Arbeitszeit“ und „horario laboral“ (dt. Arbeitszeit) versehen wurden. Aus der Trefferliste wurden unter Berücksichtigung folgender Auswahlkriterien fünf deutsche und sieben spanische Artikel als Ankerpunkte für die Korpuserstellung definiert: - Erscheinungszeitraum zwischen 01.12.2014 und 31.07.2015 - Inhaltlicher Schwerpunkt auf dem Thema ARBEITSZEIT - Mindestanzahl von 50 Kommentaren Die Kommentarstränge, die sich unter den Ankerpunkt-Artikeln finden, wurden in das Leserkommentarkorpus aufgenommen. Es ergibt sich ein Gesamtkorpus von 532 deutschen Kommentaren (57.461 Token) und 2012 spanischen Kommentaren (127.100 Token). Für die qualitative Analyse wurde des Weiteren ein Subkorpus definiert: Dabei wurde pro Sprache ein Kommentarstrang ausgewählt, der sich aufgrund der Ähnlichkeit der Ankerpunkte und der Kommentaranzahl besonders für den Vergleich eignete. Als Ankerpunkt-Artikel wurden die Artikel „Gib mir Feierabend“ im Deutschen (Zeit 27.07.2015) und „Calentar la silla hasta que se marche el jefe“ (dt. Den Stuhl warmhalten, bis der Chef geht, País 29.07.2015) im Spanischen ausgewählt. Dieses kleinere Auswahlkorpus besteht aus 88 Kommentaren (10.715 Token) im Deutschen sowie 119 Kommentaren (9.524 Token) im Spanischen. Die Aufteilung in ein Gesamtkorpus und ein kleineres Auswahlkorpus ermöglicht es, quantitative und qualitative Methoden zu vereinbaren – die qualitativ hermeneutische Analyse des Auswahlkorpus kann auf diese Weise mit den Ergebnissen der quantitativen Analyse des Gesamtkorpus überprüft und gestützt werden. 51
Die Schreibweise ohne Akzentzeichen findet auch die Treffer mit Akzentzeichen „profesión“.
4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung
45
Abb. 4: Übersicht deutsches und spanisches Leserkommentarkorpus
4.3.3 Reflexion: Pilotstudie zur Suchsyntax der Zeitungskorpora im Deutschen und Spanischen und Begründung der Zeitungsauswahl In der vorliegenden Arbeit werden Zeitungstexte sprachvergleichend analysiert. Für den Sprachvergleich ist es entscheidend, dass die Untersuchungskorpora äquivalent konstituiert sind, sodass die enthaltenen Texte ein vergleichbares Themenspektrum in beiden Sprachkulturen abbilden. Die Erstellung des Textkorpus ist demnach ein entscheidender Schritt der vorliegenden Arbeit und stellt bereits im Vorfeld der Analyse ein hermeneutisches Verfahren dar. Böke/Jung/Niehr/Wengeler stellen in ihrem Aufsatz von 2000 zentrale Auswahlkriterien vor, „mit denen die potentielle Textmasse auf ein zu bewältigendes Maß reduziert werden kann, ohne dass grob gegen das Gebot der Repräsentativität verstoßen wird“. Sie ergänzen, dass dies „vor allem für internationale Diskursvergleiche [gilt], die mit Problemen wie der Unzulänglichkeit von Textmaterial bei Erstellung der Korpora und – solange man keine internationalen Großprojekte realisieren kann – mit mangelnden Auswertungskapazitäten konfrontiert sind“ (Böke et al. 2000, 15). Die Auswahl der Texte erfolge durch die Parameter des Themas, der Zeit, der Textsorte und der Analyseebene. Diese hermeneutische Vorauswahl der Texte diene der Erstellung eines Textkorpus, das einen Diskurs(-ausschnitt) repräsentieren soll, und sei stets eine Gratwanderung zwischen ökonomisch Machbarem und wissen-
46
4 Korpora und Methode
schaftlich Verantwortbarem.52 Nach Böke et al. bedarf eine solche Repräsentativität der vertikalen Ausgewogenheit innerhalb der Textkorpora und der horizontalen Ausgewogenheit zwischen den zu vergleichenden Textkorpora (ebd., 17).53 Für die Erstellung meines Untersuchungskorpus habe ich mich an der kritisch formulierten Frage Habe ich genug Evidenz und stichhaltige Nachweise, sodass ich meine Untersuchungsfragen sinnvoll an mein Untersuchungskorpus stellen kann? orientiert (Brezina/ McEnery/Wattam 2015). Dabei ist stets zwischen den beiden Polen abzuwägen: Wie sollte ein gutes Korpus aufgebaut sein? und Wie ist die Verfügbarkeit der Texte und was kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geleistet werden? Im Folgenden wird der hermeneutische Prozess der Korpuserstellung nachgezeichnet und verdeutlicht, wie eine äquivalente Suchsyntax für die beiden Untersuchungssprachen erarbeitet wurde und wie die Auswahl der Zeitungen erfolgte. In der durchgeführten Pilotstudie zur Korpuserstellung könnten zudem Erkenntnisse gewonnen werden, die auf spätere Ergebnisse der Korpusanalysen vorausdeuten. Diese werden in der Zusammenfassung der Pilotstudie beschrieben. 4.3.3.1 Schritt 1: Erstellung von Ausdruckslisten Über Kollokationsdatenbanken und Wörterbücher wurden die Sinnbezirke der Diskursthemen erschlossen. Im Deutschen wurden die Sinnbezirke der Ausdrücke „Beruf“, „Arbeit“, „Alltag“ und „Freizeit“ über die Kookkurrenzdatenbank ccdb des Instituts für Deutsche Sprache (http://corpora.ids-mannheim.de/ccdb/) sowie über verschiedene Wörterbücher erarbeitet: Die Datenbank ccdb verfügt unter anderem über die Funktion, Belege in Gruppen zusammenzufassen, die ein ähnliches Kookkurrenzverhalten aufweisen, das heißt sie stellt Belege dar, die in derselben Umgebung wie der ursprüngliche Suchausdruck stehen, und ordnet diese nach Häufigkeit. Die Datenbank gibt damit – vergleichbar mit den ebenfalls verwendeten Wörterbüchern – Synonyme zum Suchausdruck an.54 Darüber hinaus wurden die Sinnbezirke in verschiedenen Wörterbüchern (Duden. Das Bedeutungswörterbuch 2002; Duden. Das Synonymwörterbuch 2010; Quasthoff: Wörterbuch der Kollokationen im Deutschen 2011) sowie insbesondere in Dornseiffs onomasiologischem Wörterbuch „Der deutsche 52
Böke et al. verweisen hier auf Hermanns’ Aufsatz „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“ (1995, 89, in der vorliegenden Arbeit zitiert in der neueren Auflage 2012 a).
53
Trotz dieser frühen Ausführungen findet die Reflexion zur Erstellung von Korpora, die für den Sprachvergleich geeignet sind, in der Diskursanalyse wie auch der Korpuslinguistik kaum statt. In der etablierten englischsprachigen Korpuslinguistik finden sich vor allem Ausführungen zur Erstellung von Korpora, die den immer wieder diskutierten Kriterien der Repräsentativität und Reliabilität genügen (vgl. Biber et al. 1998 sowie die Einführung in die Korpuslinguistik von McEnery/Wilson 1996).
54
Dabei greift sie auf einen Ausschnitt des DeReKo (Deutsches Referenzkorpus) von über 2,2 Milliarden Textwörtern zurück. Vgl. http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/methoden/ka.html letzter Zugriff 31.01.2018 00:52 Uhr.
4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung
47
Wortschatz nach Sachgruppen“ (2004, orig. 1934) erschlossen. In den Kookkurrenzlisten und den Lexemaufzählungen der Wörterbücher wurde überprüft, ob es sich bei den vorgeschlagenen Ausdrücken „Beruf“, „Arbeit“, „Alltag“ und „Freizeit“ um die Ausdrücke handelt, die besonders häufig und mit besonderer Treffsicherheit auf die vorgesehenen Sinnbezirke verweisen oder ob es geeignetere Ausdrücke gibt, die potentiell in die Suchsyntax aufgenommen werden könnten.55 Im Spanischen wurde äquivalent mit den Suchausdrücken „profesión“ (dt. Beruf), „trabajo“ (dt. Arbeit), „vida cotidiana“ (dt. Alltag) bzw. „cotidiano/a“ (dt. alltäglich) sowie „tiempo de ocio“ (dt. Freizeit) bzw. „ocio“ (dt. Freizeit) verfahren. Dabei wurden die verfügbaren Wörterbücher herangezogen (Juan y Peñalosa: Diccionario sinónimos y antónimos 1994; Blecua Perdices: Diccionario general de sinónimos y antónimos 1999; Grande: Diccionario de sinónimos y antónimos 2006). Während dies für die beiden erstgenannten Ausdrücke „profesión“ und „trabajo“ problemlos durchführbar ist, besteht für die anschließend genannten Sinnbezirke die Schwierigkeit, dass es sich nicht um einzelne Wörter, sondern um Phrasen („vida cotidiana“, dt. alltägliches Leben, „tiempo de ocio“, dt. Zeit der Muße) handelt, die in Wörterbüchern nicht aufgelistet werden. Behelfsweise wurden die Sinnbezirke deshalb über das Adjektiv „cotidiano/a“ und das Nomen „ocio“ erschlossen. Diese erste Prüfung der Suchausdrücke weist bereits darauf hin, dass eine wörtliche Übersetzung der Suchausdrücke in eine andere Sprache problematisch sein kann, insbesondere wenn es sich – wie beim Deutschen – um eine kompositionsreiche Sprache handelt. 4.3.3.2 Schritt 2: Der Ausdruck „Work-Life-Balance“ Der Ausdruck „Work-Life-Balance“ (dt. wörtlich: Balance zwischen Arbeit und Leben) scheint zunächst vielversprechend, um die Sinnbezirke BERUF und ALLTAG zu erschließen, da er beide Dimensionen in einer Wortform bündelt und als Anglizismus das Potential besitzt, in den beiden untersuchten Sprachen verwendet zu werden. In der Datenbank Nexis findet sich der erste Beleg des Ausdrucks „Work-Life-Balance“ im Jahr 1998 in einem Artikel der taz, in dem auf „[k]omische Worte wie etwa ‚Personaldecke‘, ‚Glaubwürdigkeitslücke‘ oder ‚Work-Life-Balance‘ […]“ hingewiesen wird, die „irgendwie schön“ seien (taz 26.11.1998, Wortballschlachten). Der nächste Beleg findet sich in der Fachzeitung Computerwoche, in der sich der Personalchef der Computerfirma IBM zur „Work-Life-Balance“ der Mitarbeiter äußert (Computerwo-
55
Für deutsche Leser mögen die ausgewählten Ausdrücke intuitiv nachvollziehbar scheinen. Durch die äquivalente Vorgehensweise in der Fremdsprache wird nachvollziehbar, dass die Prüfung der Ausdrücke auf ihre Referenz auf die Sinnbezirke sowohl für Muttersprachler als auch für Nicht-Muttersprachler notwendig ist.
48
4 Korpora und Methode
che 10.09.1999, Flexible Arbeitszeitregelungen in der IT-Branche).56 In den folgenden Jahren ist ein konstanter Anstieg in der Verwendungshäufigkeit des Ausdrucks festzustellen, im Jahr 2004 sind zum ersten Mal über 100 Treffer in der deutschen Presse zu verzeichnen. Die weitere Recherche in der Datenbank Nexis ergibt, dass der Ausdruck in der englischen Presse bereits seit 1974 verwendet wird. In der spanischen Presse finden sich kaum Belege; wenige Treffer sind ausschließlich in der spanischsprachigen Presse Lateinamerikas belegt. In der französischen Presse finden sich einige Belege. Die Recherche in den Datenbanken ergibt, dass der Ausdruck für die Korpuserstellung der vorliegenden Arbeit nicht geeignet ist, da der Ausdruck in der spanischen Sprachkultur nicht etabliert ist: Der Ausdruck ist damit zu spezifisch für eine Korpuserstellung, die für einen Sprachvergleich geeignet sein soll. Der Ausdruck „Work-Life-Balance“ wird stattdessen bei der Generierung der Konzepte im Deutschen eine größere Rolle spielen: Die durchgeführte Pilotstudie gibt Grund zu Annahme, dass der Ausdruck auf ein Konzept referiert, das spezifisch für das deutsche Korpus ist oder spezifische Aspekte in sich tragen könnte. 4.3.3.3 Schritt 3: Test der deutschen und der spanischen Suchsyntax Nachdem nun zunächst die generelle Eignung der Suchausdrücke „Beruf“, „Arbeit“, „Alltag“ und „Freizeit“ im Deutschen sowie „profesión“, „trabajo“, „vida cotidiano“ bzw. „cotidiano/a“ und „tiempo de ocio“ bzw. „ocio“ im Spanischen anhand verschiedener Wörterbücher und der Kookkurrenzdatenbank ccdb festgestellt wurde und sich der Anglizismus „Work-Life-Balance“ für die Korpuserstellung im Spanischen als zu spezifisch erwies, wurden verschiedene Suchsyntaxen bei Nexis geprüft. Im Deutschen wurde zunächst die gesamte deutsche Nachrichtenpresse (Gruppenquelle „german language news“) mit der Suchsyntax „Beruf ODER Arbeit ODER Alltag ODER Freizeit“ durchsucht, mit der alle Artikel herausgefiltert werden, die einen der vier Suchausdrücke mindestens einmal enthalten. Der Test der Suchsyntax verdeutlicht, dass zu viele Treffer erzielt werden, die zwar einen der Suchausdrücke enthalten, die aber die gesuchten Sinnbezirke nicht oder nur am Rande betreffen. Für die Auswahl der Artikel ist es also nicht hinreichend, dass diese nur einen der Suchausdrücke enthalten. Als notwendiges Kriterium für die Artikel, die Teil des Untersuchungskorpus sein sollten, wurde deshalb festgelegt, dass sie mindestens einen Ausdruck des Sinnbezirks ARBEIT und einen Ausdruck des Sinnbezirks ALLTAG enthalten müssen. Die Suchsyntax wurde deshalb folgendermaßen angepasst: 56
In der Datenbank COSMAS II (http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/ letzter Zugriff 12.10.2017 14:35 Uhr) findet sich der erste Beleg des Ausdrucks „Work-Life-Balance“ in einem Interview mit dem ehemaligen Chef der Computerfirma HP (Computer Zeitung, 05.03.1998, Zur Person Jörg Menno Harms).
4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung
49
(Beruf ODER Arbeit) UND (Leben ODER Alltag ODER Freizeit) Das Teilergebnis der Suchanfragenüberprüfung kann auf die Suchanfrage im Spanischen übertragen werden. Hier wird die Suchsyntax von profesión ODER trabajo ODER vida cotidiana ODER tiempo de ocio x1 ODER x2 ODER y1 ODER y2 verändert zu (x1 ODER x2) UND (y1 ODER y2) Der Suchoperator „ODER“ wird durch den Operator „UND“ ersetzt. x1 und x2 beschreiben Ausdrücke aus dem ersten Sinnbezirk BERUF, y1 und y2 beschreiben Ausdrücke aus dem zweiten Sinnbezirk ALLTAG. 4.3.3.4 Schritt 4: Begründung der Zeitungsauswahl Die durchgeführten Suchanfragen im Deutschen verdeutlichten zudem, dass innerhalb der Gruppenquelle „german language news“ sehr viele Treffer erzielt werden: Mit der Suchanfrage „Beruf ODER Arbeit ODER Alltag ODER Freizeit“ wurden in den Jahren 2005 bis 2015 pro Tag zwischen 200 und 1.700 Treffer erzielt, wobei sich ein ständiger Anstieg verzeichnen lässt. Der Anstieg wird vor allem dadurch bedingt, dass jedes Jahr mehr Zeitungen und Online-Publikationsformate in die Datenbank aufgenommen werden, die die Gruppenquelle „german language news“ beständig wachsen lassen. Um genau nachzuvollziehen, welche Pressetexte im Untersuchungskorpus enthalten sind, und das entstehende Ungleichgewicht durch die Aufnahme weiterer Medien in die Datenbank nicht in das Untersuchungskorpus zu übernehmen, wurden im Deutschen drei meinungsbildende, überregionale Presseformate aus der Datenbank Nexis ausgewählt: die taz, die Welt und der Spiegel. Zusätzlich konnten die Texte der Süddeutschen Zeitung in das Korpus aufgenommen werden, da die Datenbank der Süddeutschen Zeitung die Verwendung der oben genannten Suchsyntax zulässt.57 Auch im Spanischen wurde die gesamte spanische Presse (Gruppenquelle „Spanische Sprache“), die in der Datenbank Nexis verfügbar ist, mit der Suchsyntax „(profesión ODER trabajo) UND (vida cotidiana ODER tiempo de ocio)“58 durchsucht. In der spanischen Gruppenquelle ergibt sich mit der Suchanfrage eine deutlich geringere Trefferanzahl als im Deutschen; es ist jedoch gleichermaßen ein Anstieg in der Textmenge 57
Vgl. Fußnote 48.
58
Da durch die Überprüfung der deutschen Suchanfrage bereits verdeutlicht wurde, dass die Verwendung des Suchoperators „ODER“ nicht hinreichend für einen thematischen Schwerpunkt auf den gesuchten Sinnbezirken ist, wurde die Suchanfrage im Spanischen modifiziert.
50
4 Korpora und Methode
pro Jahr auszumachen, was ebenfalls der Tatsache geschuldet ist, dass mit der Zeit immer mehr Publikationsformate in die Datenbank aufgenommen wurden. Insgesamt lässt sich zudem feststellen, dass deutlich weniger spanischsprachige Zeitungen in der Datenbank verfügbar sind und die Zuordnung zu den spanischsprachigen Ländern nicht immer korrekt durchgeführt wird. Für das Untersuchungskorpus wurden die zwei größten spanischen Tageszeitungen El País und El Mundo ausgewählt. Dies vermeidet erneut, dass sich der Anstieg der Textanzahl durch den Ausbau der Datenbank im Untersuchungskorpus niederschlägt, und gewährleistet, dass ausschließlich die spanischsprachige Presse Spaniens in das Korpus aufgenommen wird.59 4.3.3.5 Schritt 5: Anpassung der Suchausdrücke im Spanischen Mit der Erstellung der Ausdruckslisten im ersten Arbeitsschritt (vgl. Kapitel 4.3.4) wurde überprüft, ob die Suchausdrücke „profesión“, „trabajo“, „vida cotidiana“ und „tiempo de ocio“ dafür geeignet sind, ein Korpus rund um die Sinnbezirke BERUF und ALLTAG zusammenzustellen. Im Deutschen konnte dabei neben den Wörterbüchern auch eine Kookkurrenzdatenbank verwendet werden, die auf das Deutsche Referenzkorpus – und damit auf ein großes und aktuelles Korpus – zurückgreift.60 Im Spanischen wurde ausschließlich mit Wörterbüchern gearbeitet, weshalb die Phrasen „vida cotidiana“ und „tiempo de ocio“ nicht nachgeschlagen werden konnten. Um die Auswahl der Suchausdrücke weiterhin zu prüfen, wurden Artikel der beiden ausgewählten Tageszeitungen El País und El Mundo hermeneutisch analysiert: Artikel, die dabei eindeutig den Sinnbezirken BERUF und ALLTAG zuzuordnen waren, enthielten neben den Ausdrücken „profesión“ und „trabajo“ auch den Ausdruck „empleo“, der ebenfalls in die Suchsyntax aufgenommen wurde. Die Phrasen „vida cotidiana“ und „tiempo de ocio“ fanden sich hingegen kaum; sehr viel häufiger wurde allgemein auf „vida“ und „ocio“ verwiesen. Aus diesen Überlegungen und den durchgeführten Vorstudien ergibt sich die folgende angepasste Suchsyntax für das Spanische: (trabajo ODER profesión ODER empleo) UND (vida ODER ocio) 4.3.3.6 Zusammenfassung der Pilotstudie Die Pilotstudie diente dazu, die Erstellung des Korpus zu plausibilisieren: Die intuitiv als geeignet befundenen Ausdrücke wurden anhand von Wörterbüchern, Kollokationslisten und der hermeneutischen Zeitungstextlektüre überprüft. Alternative 59
Regionalzeitungen, wie bspw. die Tageszeitung La verdad (Region Murcia), die in den Jahren 2013 und 2014 viele Treffer zu der verwendeten Suchsyntax aufweist, wurden in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt.
60
Vgl. Fußnote 54.
4.3 Korpusbeschreibung, -erstellung und -begründung
51
Suchausdrücke wurden auf ihre Verwendbarkeit in beiden Sprachen überprüft (vgl. Schritt 2 „Work-Life-Balance“). Zuletzt wurden die Suchoperatoren und die Quellenauswahl optimiert. Einige der Beobachtungen, die während der Pilotstudie gemacht wurden, werden in den folgenden Analysen eine Rolle spielen und werden deshalb bereits an dieser Stelle erwähnt. Bei der Durchsicht der Korpora, die mit den verschiedenen getesteten Suchanfragen erstellt wurden, zeigt sich die Relevanz bestimmter Themen, beispielsweise des Subthemas ARBEITSZEIT. Es finden sich Ausdrücke wie „Zeit“ in den Wortlisten und keyword-Listen61 sowie 4-Gramme wie „Zeit für die Familie“, „rund um die Uhr“ oder „Stunden in der Woche“. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für die Subthemen ARBEITSPLATZ und ROLLEN machen: Sowohl in der Analyse des deutschen Korpus zum Suchausdruck „Work-Life-Balance“ als auch in der Analyse des spanischen Korpus zu der Suchsyntax „profesión ODER trabajo ODER vida cotidiana ODER tiempo de ocio“ fielen Kollokationen und n-Gramme auf, die den drei Subthemen zuzuordnen sind. Die Beobachtungen deuten auf die Relevanz der Subthemen in beiden Sprachkulturen hin. Auf der anderen Seite erschließt die Analyse dieser Korpora auch Einheiten, die deutlich spezifischer sind als die benannten Subthemen: beispielsweise die Konzepte ›Gesundheit im beruflichen Kontext‹ oder ›Erfolg im Beruf‹, die zunächst nur im deutschen Korpus auffallen. Diese Einheiten werden in der vorliegenden Arbeit nicht als Subthemen betrachtet, sondern als Konzepte, die den Subthemen zugeordnet sind (›Gesundheit im beruflichen Kontext‹ bspw. mit ARBEITSZEIT, ›Erfolg im Beruf‹ bspw. mit ROLLEN) und deren Relevanz in einer oder in beiden Sprachen erst durch die Analyse der festgelegten Untersuchungskorpora belegt wird. Dies lässt sich besonders gut an dem Konzept ›Vereinbarkeit‹ nachvollziehen, das an den Ausdruck „Work-Life-Balance“ gebunden sein kann: In den deutschen Zeitungstexten ist das Konzept ›Work-Life-Balance‹ von großer Relevanz, und diese zeigt sich in der häufigen Verwendung des Syntagmas. In den spanischen Zeitungstexten lässt sich eine Relevanz des Konzeptes nicht über den Anglizismus „Work-Life-Balance“ nachweisen. In den späteren Analysen wird das deutsche Konzept ›Work-Life-Balance‹ deshalb als Subkonzept des Konzeptes ›Vereinbarkeit‹ betrachtet, das sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus von Relevanz ist (vgl. Kapitel 5.2.3.3).
61
Für die Erstellung der keyword-Listen zum deutschen Korpus „Work-Life-Balance“ wurde ein Referenzkorpus der Datenbank Sketch Engine verwendet (https://the.sketchengine.co.uk/login/).
52
4 Korpora und Methode
4.4 Methode und Methodologie 4.4.1 Forschungspraktische Einordnung der Methode: Sprachvergleichende Diskursanalyse Die vorliegende Arbeit knüpft in Theorie und Methode an Forschungsinteressen an, die in den letzten Jahren interdisziplinär verstärkt diskutiert wurden. Das Potential der sprachvergleichenden Diskursanalyse wird in verschiedenen Bereichen betont;62 eine genauere theoretische und methodische Ausarbeitung und eine praktische Ausführung finden sich bislang aber erst in Ansätzen63 – so beispielsweise bei Böke/Jung/Niehr/ Wengeler 2000, deren Methodenreflexion im Folgenden vorgestellt wird. „Diskurs“ verstehen Böke et al. in Anlehnung an Dietrich Busse und Wolfgang Teubert (1994) als „Geflecht von thematisch zusammengehörigen Aussagen, die über Textkorpora zu erschließen sind“ (Böke et al. 2000, 12). Den „inter-nationalen Diskursvergleich“ beschreiben sie als inhaltlich interessante Erweiterung und als methodische Herausforderung der theoretisch gefestigten und empirisch vielfach durchgeführten „intra-nationalen“ Diskursanalyse, die in sich ebenfalls häufig die Vergleichsperspektive als entscheidendes Moment beinhalte (ebd., 11). Den „intra-“ und „inter-lingualen“ Diskursvergleich unterscheiden die Autoren als Spielarten des internationalen Diskursvergleichs. Den internationalen Diskursvergleich von „thematisch gleiche[n] oder ähnliche[n] Diskurse[n], die in mehreren Ländern gleichzeitig geführt werden“, erscheint ihnen im Vergleich zu thematisch verschiedenen Diskursen relativ unproblematisch, da das gemeinsame Thema die Vergleichbarkeit gewährleiste, wenn ein „wohldefinierter Diskurs und ein geeignetes Textkorpus“ zugrunde liegen (ebd., 13). Eine generelle Herausforderung ist die Vergleichbarkeit, die im Idealfall sowohl thematisch wie auch zeitlich gegeben ist.64 Böke et al. betonen, dass in vorausgegangenen interlingualen Arbeiten die Reflexion über den Einfluss des jeweiligen Sprachsystems vernachlässigt und beispielsweise der Einfluss der „vom Deutschen, Englischen, Fran62
Vgl. bspw. Kilian/ Niehr/ Schiewe (2010, 47), die im Kontext der Sprachkritik betonen, dass „[g]erade [...] auch der Vergleich thematisch gleicher Diskurse in verschiedenen Sprachen […] großes sprachkritisches Potential“ birgt, dass die sprachvergleichende Diskursanalyse aber noch einer „genaueren theoretischen und methodischen Ausarbeitung sowie einer praktischen Ausführung bedarf“.
63
Es finden sich bspw. einige deutsch-polnische Diskursanalysen in Lipczuk et al. 2010. Die Analyseverfahren schließen sich an bekannte Ansätze an (bspw. an die Argumentationsanalyse nach Wengeler 2003 oder das diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analysemodell nach Warnke/Spitzmüller 2008) und werden in beiden untersuchten Sprachkulturen durchgeführt. Eine Reflexion der spezifischen Anforderungen des Sprachvergleichs an die Methodik und die Korpuserstellung findet jedoch kaum statt. In der kurzen Studie von Misiek wird einzig erwähnt, dass die Korpora für das „jeweilige Land repräsentativ und zugleich miteinander vergleichbar“ (Misiek 2010, 179) seien.
64
So muss kalendarische Übereinstimmung nicht inhaltliche Übereinstimmung bedeuten, da Diskurse sich unterschiedlich entwickeln. Andererseits drohen sich bei zeitlich auseinanderliegenden Korpora andere, die Vergleichbarkeit gefährdende Faktoren einzuschleichen.
4.4 Methode und Methodologie
53
zösischen, oder Niederländischen vorgegebenen Ausdrucksmittel scheinbar zu einem nebensächlichen Faktor“ wurde (ebd., 14).65 Sie führen weiter aus, dass „bei Diskursstrategien […] nach ihrer kulturellen Gebundenheit zu fragen [ist], zumal sie wie Argumente und Topoi in der Regel durch die Verwendung typischer Wörter charakterisiert, aber nicht vollständig erfassbar sind“ (ebd., 15). Eben diesem Gedanken versucht die vorliegende Arbeit Rechnung zu tragen, indem sie den Einfluss des deutschen und des spanischen Sprachsystems auf den Ebenen der Lexik, der Grammatik, aber auch der Argumentationsstrategien zu einem zentralen Aspekt der Analyse erklärt. Intersprachliche Vergleiche finden sich als Gegenstand in weiteren Bereichen der Linguistik, beispielsweise in der kontrastiven Linguistik, die sich bereits seit den 1940er-Jahren mit sprachvergleichenden Untersuchungsansätzen und systematischen Sprachvergleichen auseinandersetzt.66 Die Ermittlung und Beschreibung von inter-lingualen Unterschieden diente dabei anfangs vor allem der Verbesserung des Fremdsprachenunterrichts. Mit der Entwicklung der interkulturellen Linguistik fand eine Gegenstandserweiterung statt, unter der nun neben den bisher fokussierten sprachsystematischen Aspekten auch sprachverwendungsbezogene und kulturelle Faktoren berücksichtigt wurden und werden.67 Hermanns geht davon aus, dass Linguistik dann eine interkulturelle Linguistik sei, „wenn sie bei Bestimmung und Beschreibung ihres Gegenstandes Sprache a) auf die Kulturgebundenheit von Sprachen, b) auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachkulturen achtet“ (Hermanns 2003, 363). In Kapitel 2.4 wurde bereits auf kultur- und sprachvergleichende Ansätze anderer Forschungsdisziplinen hingewiesen; so auf die Begriffs- und Mentalitätsgeschichte der Geschichtswissenschaften und auf die Übersetzungswissenschaften.68 Die sprachvergleichende diskurslinguistische Methode der vorliegenden Arbeit wird in den folgenden Kapiteln beschrieben. 4.4.2 Analyseschwerpunkt: Konzeptkonstituierung im Sprachvergleich Der Fokus auf den Vergleich zweier Sprachkulturen erfordert die Konzentration auf bestimmte sprachliche Einheiten. Theoretisch ist eine Analyse aller sprachlichen Ebenen denkbar. Intuitiv scheint zunächst die Untersuchung der Wortebene sinnvoll, 65
Die Autoren verweisen hier auf van Dijk 1987, dessen diskurstheoretischer Ansatz dies nicht berücksichtige.
66
Vgl. Charles C. Fries 1945 („Teaching & Learning English As a Foreign Language“) und dessen Schüler Robert Lado 1957 („Linguistics Across Cultures: Applied Linguistics for Language Teachers“).
67
Vgl. Csaba Földes 2003 „Interkulturelle Linguistik“.
68
An dieser Stelle sollen diese Forschungsansätze erwähnt werden, für eine ausführliche Darstellung muss auf andere Arbeiten verwiesen werden. Vgl. unter anderem Hermanns 2012 („Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“) und Busse 1987 („Historische Semantik“); für die Übersetzungswissenschaften Katan 1999.
54
4 Korpora und Methode
wenn man im Sinne der Mentalitätsgeschichte davon ausgeht, dass sich im Sprachgebrauch „kollektives Denken, Fühlen, Wollen einer Sprachgemeinschaft“ zeigt (Hermanns 2012 a, 7). Es gilt, die „Bewusstseinsstrukturen spiegelnde und prägende Wirkung von Wortgebräuchen zu beachten“, insbesondere von Leitvokabeln, die Aufschluss über „Denk- und Handlungsmuster“ geben: Gerade beim interlingualen Diskursvergleich wird es darauf ankommen, den jeweiligen Stellenwert der verglichenen Wörter richtig zu interpretieren. Dies bedeutet im einzelnen [sic], dass das argumentative Potential der Wörter, ihre deontische Bedeutung, von größerer Wichtigkeit für eine vergleichende Diskursanalyse sind, als die wörtliche Übereinstimmung, die bei Übersetzungen freilich immer dann problematisch ist, wenn sie als absoluter Maßstab genommen wird. (Böke et al. 2000, 19)
Maßgeblich in der Analyse sind nach Böke et al. die Diskursrelevanz der Wörter und ihre Funktion im verglichenen Diskurs. Durch diesen Fokus, weg von den isolierten Wörtern und hin zu ihrem Gebrauch im Diskurs, unterscheidet sich die vergleichende Diskurslinguistik von der kontrastiven Lexikographie sowie der Begriffsund der Mentalitätsgeschichte. Die vorliegende Arbeit vergleicht die Konzepte, die im Rahmen der Diskursthemen BERUF und ALLTAG – genauer, im Rahmen der Subthemen ZEIT, RAUM und ROLLEN/ GRUPPEN – von (Diskurs-)Relevanz sind. ‚Konzept‘ wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Ekkehard Felder, der sich wiederum Lawrence W. Barsalou (1992) anschließt, als „eine kognitive Einheit oder Inhaltskomponente verstanden, an der Attribute oder (sich ausdrucksseitig manifestierende) Teilbedeutungen identifiziert werden können“ (Felder 2013, 21).69 Die Konzepte werden über die Analyse der sprachlichen Oberfläche der deutschen und spanischen Korpora konstituiert.70 Bei dieser Konzeptkonstituierung steht zunächst die Wortebene im Vordergrund; mithilfe von quantitativen, computergestützten Analyseverfahren (Wortlisten, keyword-Listen, n-Gramme)71 werden die Lexeme, die im Korpus von Relevanz sind, in der sprachlichen Umgebung, in der sie verwendet werden, betrachtet. In der qualitativen Analyse der Zeitungstexte, die den Hauptteil der Arbeit einnimmt, werden musterhaft verwendete Ausdrücke gesammelt und in ihrem Ko- und Kontext betrachtet, unter besonderer Berücksichtigung ihrer inhaltlichen Beschreibung, Verknüpfung und Bewertung. Die Analyse der Konzepte folgt demnach der Unterteilung in die Analysepunkte (I) sprachliche Konstituierung, (II) konzeptuelle Verknüpfungen und (III) Bewertung des Konzeptes.72 Neben der Analyseebene der Lexik, die in jedem der Konzeptkapitel zu Beginn 69
Vgl. auch Felder 2003, 43 und 2006, 18.
70
Eine genauere Beschreibung der Analyseverfahren findet sich in der Darstellung der quantitativen Herleitung der Subthemen (vgl. 5.1) sowie in den ausführlichen Konzeptanalysen.
71
Zur Erstellung der Wortlisten, keyword-Listen und n-Gramme vgl. Kapitel 5.1.
72
Diese Einteilung lehnt sich an Felder (2012, 129) an, der die drei Sprachhandlungstypen Sachverhaltskonstituierung, Sachverhaltsverknüpfung und Sachverhaltsbewertung empirisch herleitet (vgl. auch Felder
4.4 Methode und Methodologie
55
betrachtet wird, werden dafür verschiedene weitere Aspekte berücksichtigt, die im Kound Kontext des analysierten Konzeptes auffallen. So werden Metaphern analysiert, die sich aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaft, bestimmte Aspekte zu beleuchten, zu überzeichnen oder aber ganz wegzulassen, besonders für die mentalitätsgeschichtliche Untersuchung von „Denkgewohnheiten“ eignen, da ihnen ein stark interpretativer, realitätskonstituierender Charakter zu eigen ist (Böke et al. 2000, 21).73 Für den interlingualen Vergleich ist des Weiteren auch die Argumentationsanalyse geeignet, da sie als eher inhaltlich bestimmte Ebene Schwierigkeiten vermeidet, die ein Vergleich der Lexik verschiedener Sprachen birgt (ebd., 24): Hier rückt also die sprachstrukturelle Einbettung von diskursrelevanten Ausdrücken in den Fokus. So kann es durchaus sein, dass Ausdrücke, die im Deutschen und im Spanischen auf ein Konzept verweisen, nicht als äquivalent anzusehen sind (also keine Übersetzung des jeweils anderen Ausdrucks darstellen), dass die Ausdrücke beider Sprachen aber in vergleichbare sprachstrukturelle Muster (bspw. politische Akteure, die um das Konzept ringen) eingebettet sind, die wiederum einen Vergleich zulassen. Neben diesen beiden Ebenen der Metaphorik und der Argumentationsstrategien betrachtet die vorliegende Arbeit auch in einzelnen Beispielen die Ebene der Grammatik. Die ausführliche Betrachtung des Konzeptes in seinem Ko- und Kontext schließt mit einer Konzepttabelle, in der das einzelsprachliche Konzept und seine Teilbedeutungen zusammengefasst werden.74 Die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Konzept konstituiert wird, ab welcher Häufigkeit und Relevanz eines Ausdrucks und seines Gebrauches also davon ausgegangen wird, dass ein Konzept im Rahmen der vorliegenden Arbeit diskursrelevant ist, kann mit dem Verweis auf die folgenden Kriterien beantwortet werden: Ein Konzept ist dann anzusetzen, wenn sich in den untersuchten Korpora auf der sprachlichen Ebene ausreichend Hinweise auf eine kognitive Einheit finden, an der sich Teilbedeutungen identifizieren lassen und die im Korpusvergleich als diskursrelevant zu beurteilen ist. Für die Konstituierung eines Konzeptes kann eine statistisch überzufällige Häufigkeit der auf das Konzept hindeutenden Lexeme ausreichend sein. Ein Konzept ist aber auch dann diskursrelevant, wenn sich Textbelege in zentralen Textsorten oder an prominenten Diskursstellen finden.75 In der vorliegenden Arbeit wird ein Konzept 2003, 205 und 2007, 361). 73
Obwohl es sich bei der sprachlichen Einheit der Metapher formal gesehen ebenfalls um eine lexikalische Einheit handelt, wird diese bei Böke et al. 2000 als gesonderte Analysekategorie behandelt.
74
Erläuterungen zum Aufbau der Konzepttabellen sowie der Vergleichstabellen finden sich als Vorbemerkungen zu Beginn von Kapitel 5.
75
Felder (2015, 114-115) gibt als notwendige Bedingung für das Ansetzen eines handlungsleitenden Konzeptes an, dass „mindestens an einer relevanten Stelle im Diskursausschnitt eine Zeichenkette nachgewiesen werden muss, die inhaltlich auf das angesetzte handlungsleitende Konzept verweist“. Dabei muss keine bestimmte Zeichenkette vorliegen, sondern „vielfältige ausdrucksseitige Variationen bei vergleichbarem bzw. sinn- und sachverwandtem Inhalt [sind] möglich“. Wenn das Konzept auf Grundlage mindestens eines ausdrucksseitigen Korpusbelegs angezeigt ist, gelten weiterhin die folgenden Kriterien für das An-
56
4 Korpora und Methode
insbesondere dann angesetzt, wenn es sich für eines der beiden analysierten Korpora als spezifisch erweist. In diesem Fall ist es weniger entscheidend, wie sich die absolute Verwendungshäufigkeit des Konzeptes gestaltet, sondern maßgeblich ist vielmehr die Auffälligkeit des Konzeptes im Korpus, die sich über den Vergleich der verschiedensprachigen Korpora ergibt. Ein Konzept kann auch dann diskursrelevant sein, wenn ein bestimmter Wortgebrauch (der das Konzept umrahmt) „zunimmt, umstritten ist oder auf einmal vermieden wird; wenn er in Konkurrenz zu anderen Wortgebräuchen tritt, sich gegen andere Varianten durchsetzt oder von diesen abgelöst wird“ (ebd., 20). Bei der Konzeptkonstituierung handelt es sich um einen hermeneutischen Prozess, der abhängig ist von den spezifischen Untersuchungsfragen, den Korpora, die der Untersuchung zugrunde liegen, und nicht zuletzt vom Analytiker, der die beschriebenen Schritte durchführt. 4.4.3 Begriffliche Erläuterungen: Subthemen und konzeptuelle Zugriffe In einem ersten Analyseschritt wird mit computergestützten Methoden auf das gesamte Zeitungskorpus im Deutschen und im Spanischen zugegriffen. Die Analyse der Wortlisten, der keyword-Listen und der n-Gramme ergibt dabei, dass es drei Subthemen gibt, die aufgrund ihres häufigen Vorkommens von analytischem Interesse sind und die sich im deutschen und im spanischen Zeitungskorpus manifestieren. Der zweite Punkt – der die Vergleichbarkeit der Themen gewährleistet – ist für meine Analyse von maßgeblicher Relevanz. Bei diesen Subthemen handelt es sich um die Themen ZEIT, RAUM und ROLLEN/GRUPPEN.76 Die Subthemen dienen dazu, den Zugriff auf das Untersuchungskorpus und die Diskursthemen zu erleichtern und eine thematische Ordnung zu schaffen. Des Weiteren erfolgt zum ersten Subthema ZEIT eine gesonderte Analyse eines Leserkommentarkorpus,77 das speziell zu diesem Subthema erstellt wurde und dazu dient, neben der Perspektive kollektiven Wissens, die die Zeitungstexte vermitteln, eine zweite Perspektive individuellen Wissens auf das Subthema zu eröffnen. Anhand der Analyse des Subthemas (ARBEITS-)ZEIT in Zeitungstexten und setzen eines Konzepts: „(a) Es lässt sich eine quantitative Objektivierung im Sinne eines statistisch überzufälligen Vorkommens einschlägiger Oberflächenphänome belegen. (b) Bei Nicht-Vorliegen des statistisch überzufälligen Kriteriums genügen Textbelege in zentralen Textsorten, die in einem kommunikativen Bezugsbereich besonderes Ansehen genießen, breit rezipiert werden oder anderweitig von besonders relevanter Bedeutung sind (Gerichtsurteile, Stellungnahmen von Verbänden, neue und alte Medien mit hohen Rezipientenzahlen, häufig zitierte Papiere von Parteien, Interessengruppen, Lobbyisten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens usw.). Die Belege gelten darüber hinaus auch dann als hinreichend, wenn sie sich in Überschriften, Abstracts, Kurztexten oder besonders prominenten Diskursstellen befinden oder salient in Online-Medien vorkommen. Handlungsleitende Konzepte sind dann hinreichend bestimmt, wenn sie die Kriterien (a) oder (b) erfüllen“. 76
Zur Erstellung der Subthemen vgl. Kapitel 5.1.
77
Vgl. Kapitel 5.2.4.
4.4 Methode und Methodologie
57
Leserkommentaren kann exemplarisch nachvollzogen werden, inwiefern sich Unterschiede auf inhaltlicher und auf sprachstruktureller Ebene zwischen diesen zwei Medienformaten manifestieren.78 Die Bestimmung der drei Subthemen schafft eine analytische Struktur anhand der Muster, die in der computergestützten Analyse auffällig wurden. Die anschließend konstituierten Konzepte werden jeweils einem der Subthemen zugeordnet. Dabei ist anzumerken, dass die Konzepte häufig Teilbedeutungen aufweisen, die verschiedenen Subthemen zugeordnet werden könnten; im Interesse der Lesbarkeit und der analytischen Klarheit wurden die Konzepte jeweils dem Subthema zugeordnet, mit dem sie die meisten Überschneidungen aufweisen.79 Die Konzepte sind zudem jeweils einem sprachübergreifenden konzeptuellen Zugriff zugeordnet. Die Benennung eines konzeptuellen Zugriffs ermöglicht den interkulturellen Vergleich von Konzepten, die Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede aufweisen.
Abb. 5: Analyseebenen – konzeptueller Zugriff, Konzepte, Teilbedeutungen
Der konzeptuelle Zugriff (z. B. FLEXIBILITÄT, ANWESENHEIT) stellt eine hohe Abstraktionsebene dar, die es erlaubt, Konzepte verschiedener Sprachkulturen zueinander in Bezug zu setzen. Diese Konzepte können sich in der Analyse als ähnlich oder verschieden erweisen, ebenso wie die Teilbedeutungen, die eine noch konkretere Analyseebe78
Weitere Medienformate können in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt werden. Eine textsorten-spezifische Betrachtung innerhalb der Zeitungstexte kann in der vorliegenden Arbeit ebenfalls nicht erfolgen, da der Schwerpunkt auf dem interkulturellen Vergleich der Diskursthemen liegt.
79
So ließe sich bspw. das Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ (vgl. Kapitel 5.2 ANWESENHEIT) sowohl dem Subthema ZEIT als auch dem Subthema RAUM zuordnen, da sowohl zeitliche als auch räumliche Aspekte in der Konzeptkonstituierung von Relevanz sind.
58
4 Korpora und Methode
ne darstellen. Indem die Konzepte zum einen von unten, durch die Betrachtung der Teilbedeutungen, definiert werden und zum anderen auf einer höheren Abstraktionsebene in den interkulturellen Vergleich gestellt werden, erfolgt die Konkretisierung der mittleren Abstraktionsebene der Konzepte.
5 Analyse der Korpora Die folgenden Kapitel widmen sich der sprachvergleichenden Korpusanalyse. Die Konzeptanalysen im deutsch-spanischen Vergleich, die den drei Subthemen ZEIT, RAUM und ROLLEN/GRUPPEN zugeordnet sind, stellen den empirischen Hauptteil der Arbeit dar und werden in den Analysekapiteln 5.2, 5.3 und 5.4 dargestellt. Ihnen vorangestellt ist das Kapitel 5.1, in dem die erste, vorwiegend quantitative Analyse der Zeitungskorpora im Deutschen und Spanischen erfolgt. Diese dient der Generierung der drei Subthemen. Diskursthemen BERUF und ALLTAG Quantitative Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen Subthema 1 ZEIT
Subthema 2 RAUM
Subthema 3 ROLLEN/ GRUPPEN
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
Deutsches Konzept
Deutsches Konzept Spanisches Konzept
Deutsches Konzept Spanisches Konzept
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
Deutsches Konzept Spanisches Konzept
Deutsches Konzept Spanisches Konzept
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
KONZEPTUELLER ZUGRIFF
Deutsches Konzept Spanisches Konzept
Deutsches Konzept Spanisches Konzept
...
...
- Sprachliche Konstituierung - Konzeptuelle Verknüpfungen - Bewertung des Konzepts Konzepttabelle Spanisches Konzept - Sprachliche Konstituierung - Konzeptuelle Verknüpfungen - Bewertung des Konzepts Konzepttabelle Vergleichstabelle KONZEPTUELLER ZUGRIFF Deutsches Konzept Spanisches Konzept ...
Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten lassen sich feststellen? - Gibt es Unterschiede, die in der deutschen oder spanischen Zeitungsberichterstattung dominant sind? Gibt es Unterschiede, die in den deutschen oder den spanischen Leserkommentaren dominant sind? - Können diese Unterschiede als kulturspezifisch gelten? - Können diese Unterschiede als Kultureme bewertet werden? Tabelle 1: Schematische Übersicht der Konzeptanalyse
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6_5
60
5 Analyse der Korpora
Die Konzepte, die die drei Subthemen prägen, werden ausführlich dargestellt: Zunächst beschreibe ich die Konzepte des deutschen und spanischen Medientextkorpus im Vergleich. Um den Lesefluss zu erleichtern, folge ich der Unterteilung in (I) sprachliche Konstituierung, (II) konzeptuelle Verknüpfungen und (III) Bewertung des Konzeptes, die an die durchgeführten qualitativen und quantitativen Analyseschritte gebunden ist, so beispielsweise, wenn die sprachliche Verknüpfung des Konzeptes ›flexible Arbeitszeit‹ vor allem über den quantitativen Blick auf die Konnektoren „und“ und „oder“ ermittelt wird. Mitunter schließen sich an die drei Analyseschritte weitere Betrachtungsebenen an (bspw. diskursprägende Autoritäten). Eine Darstellung der Konzepte, die sich an der Abfolge der Analyseschritte orientiert, ist auch deshalb vorteilhaft, weil die Unterschiede in der Konstitution, den Verknüpfungen und der Bewertung der deutschen und spanischen Konzepte so besonders deutlich werden. Die Analysen der Leserkommentarkorpora zum Subthema ZEIT werden als Ergänzungen angeschlossen, wenn sie die Analysen des Medientextkorpus erweitern oder signifikante Unterschiede aufweisen. Am Ende des ersten Subthemas ZEIT erfolgt die Zusammenfassung der strukturellen Besonderheiten der Leserkommentarkorpora. Am Ende jedes Konzeptkapitels werden die Analyseergebnisse in einer Konzepttabelle zusammengefasst. Nach der Darstellung der Konzepte – des deutschen und des spanischen – unter einem konzeptuellen Zugriff werden die Ergebnisse des Vergleichs in einer Vergleichstabelle dargestellt (vgl. die folgenden Erläuterungen zu den Tabellen). In die Analysekapitel eingebettet finden sich an den entsprechenden Stellen zudem Exkurse, die über die Analysen hinausdeuten, und Zwischenfazite, die die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. Das Abschlusskapitel 6 fasst die Ergebnisse in acht Thesen zusammen und zeigt den Kontext der Kulturemanalyse auf. Hinweise zu den Konzept- und Vergleichstabellen: Auf die ausführliche Betrachtung des Konzeptes in seinem Ko- und Kontext, der über die Analyse der konzeptuellen Verknüpfungen und der Bewertung des Konzeptes erschlossen wurde, folgt am Ende jedes Konzeptkapitels die Darstellung des Konzeptes und seiner Teilbedeutungen in einer Konzepttabelle, die die Analyseergebnisse zusammenfasst. ›Konzept‹
Konzeptsynthese
Abstraktionsebene 1:
Abstraktionsebene 2:
Abstraktionsebene 3:
Befund
Metadiskursive Deutung
Ordnungskriterium
= Zusammenfassung der Korpusbelege in Teilbedeutungen
= Konzept und diskursiver Gebrauch, Einbettung und Deutung der Korpusbelege
= zugespitzter Zugriff auf Abstraktionsebenen 1 und 2
Tabelle 2: Aufbau der Konzepttabellen
5 Analyse der Korpora
61
Die Konzepttabelle stellt das einzelsprachige Konzept im Detail dar. Sie beinhaltet das Konzept und die Konzeptsynthese. Darunter folgt eine dreigeteilte Darstellung von Befund, Deutung und Ordnungskriterium. Auf der Befundebene können die Teilbedeutungen nachvollzogen werden, die im Korpus festgestellt werden konnten. Teilbedeutungen konstituieren sich aus mehrfach vorkommenden Ausdrücken; sie geben also nicht das konkrete Einzelzitat wieder, sondern fassen das wiederholte Vorkommen von Ausdrücken oder Syntagmen zusammen. Sie stellen damit einen Befund dar, der aus der Zusammenfassung der Belege gewonnen wurde (Abstraktionsebene 1). Auf der zweiten Abstraktionsebene werden die Befunde des Korpus analytisch betrachtet und in ihrem diskursiven Gebrauch gedeutet. Über die dritte Abstraktionsebene ist der schnelle Zugriff auf auffällige Konzeptcharakteristika möglich; mit den Ordnungskriterien wird eine konzise Zusammenfassung der Befundebene und der Deutungsebene gegeben. Die Befundebene stellt inhaltlich orientierte Auffälligkeiten dar, die Deutungsebene bildet die sprachstrukturelle Einbettung des Konzeptes ab (zur Unterscheidung von inhaltlicher und sprachstruktureller Ebene vgl. Kapitel 4.4.2). In der dritten Spalte werden demzufolge sowohl inhaltliche Aspekte, die sich aus dem Korpusbefund ableiten, als auch sprachstrukturelle Deutungen, die sich aus der zweiten Abstraktionsebene ergeben, in Form von Ordnungskriterien benannt. Die Konzepttabellen orientieren sich in ihrer Darstellung nicht an den Analyseschritten, sondern stellen die Konzepte untergliedert nach Teilbedeutungen dar. Während die vorangestellten Ausführungen im Fließtext dazu dienen, die qualitativen und quantitativen Analyseschritte anhand der Kategorisierung in sprachliche Konstitution, konzeptuelle Verknüpfungen und Bewertung des Konzeptes nachzuvollziehen und dabei auch Einzelergebnisse zu präsentieren, geben die abschließenden Konzepttabellen eine Übersicht des einzelsprachlichen Konzeptes auf drei Abstraktionsebenen. Auf die Darstellung eines deutschen und eines spanischen Konzeptes unter einem konzeptuellen Zugriff (bspw. FLEXIBILITÄT)80 folgt die Gegenüberstellung in einer Vergleichstabelle.
80
Die Benennung eines konzeptuellen Zugriffs erlaubt es, verschiedensprachige Konzepte, die sich mehr oder weniger ähnlich sein können, miteinander zu vergleichen. Vgl. hierzu die begrifflichen Erläuterungen zum konzeptuellen Zugriff in Kapitel 4.4.3.
62
5 Analyse der Korpora
›Konzept a‹
›Konzept b‹
Konzeptsynthese
Konzeptsynthese
Konzeptuelle Verknüpfungen
Konzeptuelle Verknüpfungen
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
(eventuell: Leserkommentarkorpus)
(eventuell: Leserkommentarkorpus)
Kulturspezifik Tabelle 3: Aufbau der Vergleichstabellen
Vergleichstabellen stellen Konzepte gegenüber und ermöglichen den Vergleich der Konzepte im Ganzen. Dazu bietet es sich an, die Konzepte erneut bezüglich sprachlicher Konstituierung, konzeptueller Verknüpfungen und Bewertung des Konzeptes aufzuschlüsseln, um den Vergleich so übersichtlich wie möglich zu gestalten. Die grafische Anordnung der Tabelle (durchgehende Zeile, zweigeteilte Zeile, leeres Tabellenfeld) gibt dabei Aufschluss darüber, ob eine Verknüpfung beispielsweise nur in einer der beiden Sprachen vorkommt (ausgefülltes Tabellenfeld vs. leeres Tabellenfeld). Die Vergleichstabelle schließt mit einer Spalte zur Kulturspezifik, die das Potential des Konzeptes als Kulturem kurz zusammenfasst. 5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen In der vorliegenden Arbeit wurden Zeitungskorpora zu den Diskursthemen BERUF und ALLTAG erstellt. Auf diese Untersuchungskorpora, die im Deutschen wie auch im Spanischen jeweils mehr als 90.000.000 Token enthalten, wurde in einem ersten Analyseschritt mit computergestützten Verfahren zugegriffen. Diese erste Analyse ergab die Subthemen ZEIT, RAUM und ROLLEN/GRUPPEN im deutschen wie auch im spanischen Korpus. In den folgenden Kapiteln wird dargestellt, wie die Subthemen generiert wurden und welchen Mehrwert die durchgeführten methodischen Schritte für die vorliegende Arbeit haben. Die Vorgehensweise orientiert sich an Felder, der die Verfahrenstrias Benennung des Diskursthemas – Generierung von Subthemen – Bestimmung von Konzepten als agonale Zentren zur thematischen Eingrenzung eines Diskurses vorschlägt (Felder 2015, 12). Diese Verfahrenstrias dient dazu, inhaltlich relevante Aspekte zu Diskursthemen herauszufinden. Diese relevanten Aspekte könnten durch eine ausgiebige, hermeneutisch orientierte Textlektüre ermittelt werden; aufgrund der Größe der Korpora muss diese durch die computergestützte Lektüre mithilfe von korpuslinguisti-
5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen
63
schen Programmen ergänzt werden. Einige korpuslinguistische Methoden bieten sich dabei an, „um eine inhaltlich motivierte Diskursanalyse vorzubereiten, da sie Hinweise darauf geben, welche Themen und Konzepte in einem Korpus gehäuft besprochen [werden]“ (ebd., 17). Baker beschreibt äquivalent, dass korpuslinguistische Analyseverfahren (insbesondere die Analyse von Schlüsselwörtern) die Funktion der Wörter als Indikatoren gesellschaftlicher und kultureller Anliegen berücksichtigen und dass dies zuvor bereits in der qualitativen Wortanalyse intuitiv so unternommen worden sein: The earliest writers who referred to keywords intuitively focused on words that they believed embodied important concepts that reflected societal or cultural concerns (e.g., Firth 1957; Williams 1983). (Baker 2004, 346)
Zur Generierung der Subthemen wurden in der vorliegenden Arbeit unter anderem Wortlisten und keyword-Listen erstellt sowie n-Gramme und Kollokationslisten analysiert. Es ist zu ergänzen, dass die Betrachtung der ermittelten Wörter und Wortverbindungen stets mit qualitativ-hermeneutischen Methoden ergänzt wurde, um zu prüfen, ob es sich um Subthemen handelt.81 Im Rahmen der vorliegenden sprachvergleichenden Untersuchung wurde das Verfahren, das Felder vorschlägt, für beide Untersuchungskorpora in leicht abgewandelter Form durchgeführt. 5.1.1 Wortlisten und keyword-Listen Bei einer Wortliste handelt es sich um eine nach Frequenz geordnete Liste aller Wörter, die im Korpus vorkommen. Eine keyword-Liste beinhaltet alle Wörter, die für ein bestimmtes Korpus im Vergleich zu einem anderen Korpus – einem sogenannten Referenzkorpus – typisch sind.82 Die Auswertung solcher Frequenzlisten bietet einen „ersten sinnvollen Zugang zu den Themen und Konzepten großer Textmengen (wenn auch keinen erschöpfenden)“ (Felder 2015, 18). In der vorliegenden Arbeit wurden mithilfe der Analysesoftwares AntConc und Sketch Engine zunächst die Wortlisten des deutschen und des spanischen Zeitungstextkorpus erstellt.83 Zu den häufigsten Wörtern gehören in beiden Korpora Funktionswörter, das heißt Synsemantika, beispielsweise Artikel, Präpositionen oder Konjunktionen,84 81
Felder bezeichnet diesen Prozess als „hermeneutisch inhaltliche Bestimmung mit Hilfe computergestützter Hilfsmittel“ (Felder 2015, 17).
82
Vgl. einführend in die Korpuslinguistik Baker 2006, McEnery/Xiao/Tono 2010, McEnery/Hardie 2012 und Lemnitzer/Zinsmeister 2015.
83
Vgl. Anhang 1 und 2. Es werden jeweils die ersten 200 Treffer der Wortlisten abgebildet.
84
Im spanischen Zeitungstextkorpus ist der häufigste Ausdruck die Präposition de (dt. von, aus, mit, bei, über, 5.538.000 Treffer), gefolgt vom Ausdruck la (fem. Artikel: die; auch: sie, ihr, 3.087.346 Treffer). Im deutschen Korpus sind die häufigsten drei Ausdrücke die (2.753.838 Treffer), der (2.525.169) sowie und (2.090.934).
64
5 Analyse der Korpora
die unabhängig von der Textsorte und der thematischen Ausrichtung der Texte in fast allen Korpora hochfrequent sind. Unter den 200 ersten Treffern finden sich im deutschen Korpus unter anderem die Autosemantika Mensch, Jahre, Leben, Arbeit, Zeit, Frau, Kinder und Mann, die im Hinblick auf die zu analysierenden Diskursthemen von Bedeutung sein könnten; im spanischen Korpus finden sich unter anderem vida (dt. Leben), años (dt. Jahre), trabajo (dt. Arbeit), mujer (dt. Frau), familia (dt. Familie). Das gehäufte Auftreten dieser Autosemantika deutet die Relevanz der Subthemen ZEIT und ROLLEN/GRUPPEN an. Die hohe Frequenz der Ausdrücke belegt allerdings noch nicht, dass die Ausdrücke typisch für das Untersuchungskorpus sind, dass es sich also um Schlüsselwörter für das Untersuchungskorpus im Vergleich zu anderen Referenzkorpora handelt. Um nachzuweisen, bei welchen Wörtern es sich statistisch gesehen um Schlüsselwörter handelt, ist es notwendig, mithilfe eines Referenzkorpus eine keyword-Liste für das Untersuchungskorpus zu erstellen: The keywords are worked out by first making a wordlist for your corpus, and a wordlist for a “reference” corpus, then comparing the frequency of each word in the two lists. A reference corpus is any corpus chosen as a standard of comparison with your corpus. The reference corpus usually has to be quite large and of a suitable type for keywords to work. If the word occurs say, 5% of the time in the small wordlist and 6% of the time in the reference corpus, it will not turn out to be “key”, but if the scores are 25% and 6% the first would be very “key”. (https://www.lancaster.ac.uk/fss/courses/ling/corpus/blue/ l03_2.htm letzter Zugriff 23.01.2018 12:01 Uhr)
Als Referenzkorpus wurden sowohl für das Deutsche als auch für das Spanische jeweils zwei Korpora der Plattform Sketch Engine verwendet.85 Des Weiteren wurde für die Prüfung des deutschen Korpus zusätzlich ein Referenzkorpus der Autorin verwendet.86 Die Analyse der keyword-Listen bestätigt die Subthemen ZEIT und ROLLEN/ 85
Die Korpusanalysesoftware und Plattform Sketch Engine (https://the.sketchengine.co.uk) stellt Korpora in verschiedenen Sprachen zur Verfügung, die als Referenzkorpora für eigene Korpora verwendet werden können. Bei den Korpora handelt es sich um Korpora der geschriebenen Sprache, zumeist um Web-Dokumente, seltener um Zeitungstexte. Die Korpora werden zum Teil beschrieben, es lässt sich dabei aber nicht in allen Fällen transparent nachvollziehen, welchen Zeitraum die Korpora umfassen, welche Quellen enthalten sind und welche Suchparameter bei der Erstellung verwendet wurden. Die keyword-Liste des Deutschen wurde mit dem Referenzkorpus German Web Corpus (deTenTen13) erstellt, das 16,5 Billionen Wörter enthält. Die keyword-Liste des Spanischen wurde mit dem Referenzkorpus European Spanish Web (eseuTenTen11) erstellt, das 2.021.633.644 Wörter enthält.
86
Bei diesem dritten Referenzkorpus handelt es sich um ein Korpus, das im Rahmen einer mehrsprachigen Diskursanalyse (deutsch, spanisch, französisch) von der Autorin zur Fußballweltmeisterschaft 2014 erstellt wurde (gem. mit Verena Weiland, vgl. Mast/Weiland 2017). Das Korpus wurde unter Verwendung der Suchsyntax „(Weltmeisterschaft! ODER WM) UND (Fußball!)“ in der Datenbank Nexis erstellt. Die Quellen umfassen die über Nexis verfügbaren Printausgaben und Online-Publikationen führender Tageszeitungen sowie Zeitschriften für den Zeitraum von 12. Mai bis 13. August 2014. Es ergibt sich ein Korpus von 72.776.355 Token für das Deutsche. Das spanische Korpus, das im Rahmen der benannten Untersuchung erstellt wurde, konnte aufgrund der geringeren Wortanzahl von 3.768.827 Token nicht als Referenzkorpus für das spanische Zeitungstextkorpus (90.974.483 Token) dienen. Das Korpus diente
5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen
65
GRUPPEN der Wortlistenanalyse, bietet aber insofern im Rahmen der vorliegenden sprachvergleichenden Arbeit keinen analytischen Mehrwert (vgl. dazu die folgende methodische Reflexion). 5.1.2 Reflexion: Zum Nutzen von keyword-Listen in der sprachvergleichenden Diskursanalyse Scott (1999) und Baker (2004) weisen darauf hin, dass die Analyse einer keyword-Liste sich eignet, um einen schnellen Zugang zu großen Korpora zu bekommen, da sie den Analytiker auf entscheidende Konzepte aufmerksam macht. Keywords […] will direct the researcher to important concepts in a text (in relation to other texts) that may help to highlight the existence of types of (embedded) discourse or ideology. (Baker 2004, 347)87
In seinem Artikel „Querying Keywords“ stellt Baker verschiedene methodische Herausforderungen und Schwierigkeiten der keyword-Analyse zur Diskussion. Er weist dabei darauf hin, dass die keyword-Analyse, wenn sie sorgfältig durchgeführt werde, Ergebnisse liefere, die der Analytiker durch bloße Intuition wahrscheinlich nicht erlangen könne. Es handele sich dabei also um ein relativ „objektives“ Verfahren zur Ermittlung lexikalischer Salienz in Texten, das aber durch „subjektive“ Eingriffe des Analytikers beeinflusst werde (bspw. das Festlegen von Grenzwerten, sogenannten cutoff points). Baker schließt seinen Artikel mit der Feststellung ab: When used sensitively, keywords can reveal a great deal about frequencies in texts, which is unlikely to be matched by researcher intuition. However, as with all statistical methods, how the researcher chooses to interpret the data is ultimately the most important aspect of corpus-based research. (ebd., 357)
zur Überprüfung der keyword-Listen, die mit den Referenzkorpora der Plattform Sketch Engine erstellt wurden. Es bietet dabei den Vorteil, dass die Autorin die Korpuserstellung und -zusammensetzung in allen Schritten nachvollziehen konnte: Das deutsche Korpus zur Fußballweltmeisterschaft eignet sich als Referenzkorpus, weil es mit derselben Datenbank wie das Untersuchungskorpus erstellt wurde, weil die ausgewählten Quellen exakt nachvollzogen werden können und weil es ein anderes Diskursthema abbildet. Nachteilig ist dabei, dass das Referenzkorpus einen kürzeren Untersuchungszeitraum umfasst. Die diachronen Veränderungen, die sich eventuell in der Mediensprache beider deutscher Korpora zeigen könnten, werden in der keyword-Liste demzufolge nicht erfasst. Im Rahmen der vorliegenden sprachvergleichenden Diskursanalyse ist vor allem die Frage zu beantworten, welche Herausforderungen speziell im Sprachvergleich zu beachten sind und welchen Mehrwert die Verwendung von Referenzkorpora vor dem Hintergrund der Untersuchungsfragen bietet. Diese Fragen werden in der Reflexion 5.1.2 beantwortet. 87
Die Analyse von keyword-Listen kann darüber hinaus weitere differenzierte Erkenntnisse zum Untersuchungskorpus liefern, bspw. über den Stil des Textes oder über Ausdrücke, die auffällig selten in einem Korpus vorkommen, sogenannte „negative“ keywords. Für weiterführende Erläuterungen vgl. Scott 1999, Baker 2004 und Tribble 2000.
66
5 Analyse der Korpora
In seinem Artikel weist Baker auf verschiedene Schwierigkeiten der keyword-Analyse hin, beispielsweise ihren Fokus auf lexikalischen Unterschieden bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Gemeinsamkeiten.88 Um die Verfälschung der Analyseergebnisse zu vermeiden, empfiehlt Baker die Ergänzung der keyword-Analyse mit weiteren Verfahren wie der Konkordanz- und Kollokationsanalyse. Diese Schritte wurden in der vorliegenden Arbeit ebenfalls unternommen und werden in den folgenden Abschnitten 5.1.3 und 5.1.4 dargestellt. In der vorliegenden sprachvergleichenden Diskursanalyse werden Korpora verschiedener Sprachen miteinander verglichen. Dabei ergeben sich spezifische Herausforderungen. Die Analyse der häufigsten Wörter und der keywords kann einen geeigneten Zugang zu den wichtigen Subthemen und Konzepten der Korpora darstellen. Idealerweise würde das deutschsprachige Untersuchungskorpus dabei als Referenzkorpus für das spanischsprachige Untersuchungskorpus dienen und umgekehrt: Eine solche keyword-Liste für zwei vergleichbare Korpora zum selben Diskursthema BERUF und ALLTAG in zwei verschiedenen Sprachen würde die statistisch relevanten Wörter ergeben, die für das Deutsche und Spanische entscheidend sind. Da die Untersuchungskorpora allerdings in zwei unterschiedlichen Sprachen vorliegen, ist die Berechnung einer solchen keyword-Liste mit computergestützten Programmen nicht möglich. Die Erstellung von zwei separaten keyword-Listen kann eine Alternative darstellen, allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass diese keyword-Liste nicht die eigentlichen, der Untersuchungsfrage des Sprachvergleichs entsprechenden Ergebnisse repräsentiert. Sie stellt stattdessen dar, welche Wörter für das deutsche Korpus im Vergleich zu einem anderen deutschsprachigen Korpus typisch sind. Baker erläutert dies folgendermaßen (ohne den Fall des Sprachvergleichs zu berücksichtigen): The first observation that should be made when comparing corpora to elicit keywords is that the comparison will not reveal words that would normally be keywords when compared to other genres (e.g., nonerotic narratives, if these words are keywords in both sets of files). So, for example, it is likely that a word such as sex would be key in most types of erotic texts when compared to a corpus of general English, but this will not be revealed in this analysis [of gay male erotic narratives and of lesbian erotic narratives, Anm. MM]. (ebd., 349)
Die Ergebnisse der keyword-Liste sind also abhängig von dem Referenzkorpus, mit dem das Untersuchungskorpus verglichen wird. In unserem Fall bedeutet dies: Die keyword-Listen, die über den Vergleich mit Referenzkorpora separat für das deutsche Zeitungskorpus und das spanische Zeitungskorpus erstellt wurden, ergeben die Schlüsselwörter, die für das Sprechen über die Diskursthemen BERUF und ALLTAG im Vergleich zum Sprechen über andere Diskursthemen 88
Die Schwierigkeiten werden von Baker plausibel dargestellt und mehrheitlich durch weitere Analyseverfahren behoben. Sie betreffen die vorliegende Arbeit nicht unmittelbar und werden an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben. Für weitere Details vgl. Baker 2004.
5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen
67
relevant sind (bspw. das Sprechen über das Diskursthema der FUSSBALLWELTvgl. Fußnote 86). Dies liegt nicht im eigentlichen Interesse der Untersuchung, die den Sprachvergleich der verschiedensprachigen Korpora zu einem Diskursthema anstrebt. Die so erstellten Schlüsselwortlisten geben nicht die Wörter an, die im Vergleich der beiden Sprachen für das kulturspezifische Sprechen über ein Diskursthema spezifisch sind.
MEISTERSCHAFT,
Die Schlüsselwörter weisen uns darauf hin, welche Subthemen und Konzepte im Deutschen und welche im Spanischen von Relevanz sind. Der Sprachvergleich der Subthemen und Konzepte bleibt dabei auf die qualitativ-hermeneutischen Verfahren des Analytikers angewiesen.89 Im Hinblick auf die Untersuchungsfrage ist deshalb sorgfältig zu prüfen, ob die zeitaufwändige Erstellung einer keyword-Liste im Hinblick auf die Gesamtuntersuchung sinnvoll ist. 5.1.3 Wortgruppenanalyse Sowohl Felder (2015) als auch Baker (2004) schließen weitere computergestützte Analyseverfahren zur Generierung von Subthemen und Konzepten an die Auswertung der Frequenzlisten an. In der vorliegenden Arbeit wurden für beide Korpora sogenannte Cluster bzw. n-Gramme berechnet: Als Cluster werden in der vorliegenden Arbeit Ketten von sprachlichen Einheiten verstanden. Ein n-Gramm ist eine „Folge von n linguistischen Elementen gleichen Typs“ (Kunze/Lemnitzer 2007, 190). Ein n-Gramm ist also das Gleiche wie ein n-Cluster; ein 4-Gramm ist eine Kette von vier Wörtern. Mit den Korpusrechercheprogrammen AntConc und Sketch Engine kann nach Clustern und n-Grammen gesucht werden: „The N-Grams Tool […] scans the entire corpus for ‚N‘ (e.g. 1 word, 2 words, […]) length clusters. This allows you to find common expressions in a corpus“ (http://www.laurenceanthony.net/software/antconc/ letzter Zugriff 23.01.2018 15:39 Uhr). Die folgende Tabelle zeigt häufige 4-Gramme (sowie ein 5-Gramm) des deutschen Zeitungstextkorpus im Kontext des Subthemas ZEIT in Auswahl.
89
Aspekte der multilingualen Diskursanalyse werden unter anderem im Centre for Computer Corpus Research on Language an der Universität Lancaster bearbeitet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der computergestützten Analyse multilingualer Korpora (vgl. bspw. Piao et al. 2016). Der Sprach- und Kulturvergleich, der in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt steht, wird hier nicht angestrebt.
68
5 Analyse der Korpora
n-Gramm
Treffer
Zeit für die Familie
82
Zeit für die Kinder
45
Zeit für ihre Kinder
34
viel Zeit und Geld
32
mehr Zeit für die Familie
27
Tabelle 4: n-Gramm des Subthemas ZEIT
Die Interpretation der n-Gramme kann Aufschluss über übliche kognitive Verknüpfungen in den Korpora geben. Dabei liefern sie allerdings nur einen begrenzten Einblick in die Korpora und müssen demzufolge im Ko- und Kontext interpretiert werden.90 Die Hinweise, die die n-Gramme geben, sind durch weitere qualitativ-hermeneutische Analyseschritte zu verifizieren. 5.1.4 Auswertung relevanter Kollokationen In einem weiteren Schritt wurde eine Kollokationsanalyse für die zuvor ermittelten Ausdrücke des deutschen und des spanischen Untersuchungskorpus durchgeführt: „Als Kollokationen gelten charakteristische, häufig auftretende Wortverbindungen, deren Miteinandervorkommen auf einer Regelhaftigkeit gegenseitiger Erwartbarkeit beruht, die also primär semantisch (nicht grammatisch) begründet sind“ (Felder 2015, 5). Die Analysesoftware AntConc stellt die Kollokationen in Listenform dar, während die Analysesoftware Sketch Engine die Möglichkeit bietet, zu einem Suchausdruck einen sogenannten Word Sketch zu erstellen, der das Kollokationsprofil eines Suchausdrucks abbildet.91 Ein solcher Word Sketch kann die Analyse ergänzen; exemplarisch wird hier der Word Sketch des Ausdrucks „horario“ abgebildet.
90
Scott (1999) und Baker (2004) geben weiterhin an, dass auch die Berechnung der keyness (dt. des Schlüsselwortgrades) von Clustern als „lexical bundles“ möglich ist. In der vorliegenden Arbeit ist dies nicht sinnvoll, da dabei dieselben Schwierigkeiten auftreten wie bei der Berechnung der keyword-Listen (vgl. S. 65).
91
„A word sketch is a one-page summary of the word’s grammatical and collocational behaviour. It shows the word’s collocates categorised by grammatical relations such as words that serve as an object of the verb, words that serve as a subject of the verb, words that modify the word etc.“ (https://www.sketchengine. co.uk/user-guide/user-manual/word-sketch/ letzter Zugriff 23.01.2018 17:50 Uhr).
5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen
Abb. 6: Word Sketch „horario“
69
70
5 Analyse der Korpora
Die häufige Verknüpfung eines Ausdrucks über Konnektoren wie „und“, „oder“ oder „aber“ mit einem weiteren Ausdruck (oder verschiedenen Ausdrücken, die inhaltlich auf ein übereinstimmendes Konzept verweisen) zeigt auf der sprachlichen Ebene die kognitive Verknüpfung zwischen zwei Konzepten an. Aus dem Word Sketch des deutschen Ausdrucks „Arbeitszeit“92 lässt sich des Weiteren ablesen, dass das häufigste Adjektiv im Kotext des Ausdrucks „Arbeitszeit“ „flexibel“ ist. Die Phrase „flexible Arbeitszeit“ wird wiederum häufig mit dem Ausdruck „Kinderbetreuung“ verknüpft; beide sprachlichen Muster verweisen auf Maßnahmen der familienfreundlichen Unternehmensgestaltung.93 Im Korpusanalyseprogramm AntConc werden Kollokationen folgendermaßen abgebildet:
Abb. 7: Kollokationen AntConc „Arbeitszeit“ UND „x“
In den Analysekapiteln werden diese Kollokationen aufgegriffen und mit der kontextsensitiven Auswertung der Ergebnisse ergänzt (Felder 2015, 18). Dabei werden die ermittelten Ergebnisse auf ihre tatsächliche Verwendung hin in den Korpora untersucht. Hier bietet sich unter anderem die Auswertung von Konkordanzen an: Eine Auflistung von Konkordanzen stellt Ausschnitte eines Korpus um einen Suchausdruck herum dar.94
92
Für ein weiteres Bsp. vgl. Anhang 3 Word Sketch „Arbeitszeit“.
93
Vgl. für die Detailanalyse S. 76-83.
94
Ein übliches Darstellungsformat für Konkordanzen ist das sogenannte KWIC-Format (Key Word in Context). Bei dieser Darstellung wird das Suchwort in einer zentralen Position in einem Textausschnitt angezeigt.
5.1 Computergestützte Analyse der Zeitungskorpora zur Generierung von Subthemen
71
Abb. 8: Konkordanzlinien AntConc „Arbeitszeit“
Die Ergebnisliste kann alphabetisch nach den Wörtern links und rechts des Suchausdrucks sortiert werden. Dabei kann angegeben werden, wie sortiert werden soll. Im folgenden Beispiel wurden die drei Kriterien Level 1: 1 links, Level 2: 1 rechts und Level 3: 2 rechts angewandt, was bedeutet, dass zunächst nach dem Wort auf der ersten Position links des Suchausdrucks und anschließend nach dem ersten und zweiten Wort rechts des Suchausdrucks sortiert wird:
: Abb. 9: Konkordanzlinien AntConc „Arbeitszeit“ sortiert
Anhand der Ergebnisliste kann der Kotext des Suchausdrucks systematisch analysiert werden. Die gewonnenen Ergebnisse werden als Ausgangspunkt für qualitativ-hermeneutische Tiefenbohrungen genommen, die den Erkenntnissen der computergestützten Analyse zusätzliche Validität verschaffen. Die beschriebenen computergestützten Analyseschritte wurden durchgeführt, um Subthemen in den Zeitungstextkorpora des Deutschen und des Spanischen zu generieren.95 Besonders 95
Die Subthemengenerierung kann auch über die Durchsicht von Artikelüberschriften erfolgen. Da es sich hierbei um besonders prominente Diskursstellen handelt, die den thematischen Kern eines Textes wiedergeben und zum Teil auch eine Kurzfassung des Textinhaltes darstellen (vgl. Felder 2015, 29), eignen sie
72
5 Analyse der Korpora
ergiebig war die Erstellung von Wortlisten, von Clustern (4-Gramme und 6-Gramme) und von Kollokationslisten. Die Erstellung der keyword-Listen, die es erfordert mit relativ großem zeitlichen Aufwand adäquate Referenzkorpora zu erstellen, eignet sich für die sprachvergleichende Diskursanalyse nur bedingt (vgl. Exkurs 5.1.2). 5.2 Analyse des ersten Subthemas ZEIT in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora 5.2.1 ZEIT in der Sprachwissenschaft In der Betrachtung des Phänomens ZEIT in der Sprachwissenschaft und der Diskursanalyse im Speziellen lassen sich prinzipiell zwei Perspektiven unterscheiden:96 Zum einen kann Sprache in der Z eit, zum anderen Z eit in der Sprache zum Untersuchungsgegenstand erklärt werden. Sprache als Phänomen in der Zeit aufzufassen, bedeutet, die historische Dimension der Sprache in ihrer wissenschaftlichen Erforschung zu berücksichtigen. Klassischerweise geschieht dies beispielsweise in der Sprachgeschichte. Auch in der Diskursanalyse wird Sprache als zeitlich geprägtes Phänomen wahrgenommen, da der „Sprachusus im Gegensatz zum Konstrukt des abstrakten Sprachsystems immer raum-zeitlich definiert ist“ (Warnke 2004, 318). Warnke ergänzt mit Hermann Paul, dass jeder Sprachusus „auf einer durch den Verkehr erzeugten Übereinstimmung in der geistigen Organisation einer Gruppe von Individuen“ (Paul 1891, 192) beruht.97 In der vorliegenden Arbeit bedeutet dies, den Sprachgebrauch der Zeit der Untersuchungskorpora zwischen 2002 und 2015 als Dokument der geistigen Organisation der deutschen und der spanischen Kultur dieses Zeitraums aufzufassen. Die quantitative und qualitative Auswertung des Gesamtkorpus vermag Auskunft über das „gesellschaftliche Wissen einer Zeit (bezogen auf ein Themenfeld)“ (Wengeler 2008, 210) zu geben. Zur Relation zwischen Zeit und Sprache gibt es aber noch einen weiteren analytischen Zugang, der ZEIT als Phänomen in der Sprache betrachtet: Dabei ist einerseits an die grammatischen Kategorien Tempus und Aspekt zu denken, die sich mit der Beziesich dafür, inhaltlich relevante Aspekte zum Diskursthema herauszufinden. 96
Die Ausführungen zum Thema ZEIT sind im Kontext der vorliegenden Arbeit zu lesen und stellen dabei zwangsläufig eine Vereinfachung der Erkenntnisse der Forschung dar. Für eine Darstellung der theoretischen und empirischen Grundlagen zum Phänomen ZEIT in der Sprachwissenschaft und in angrenzenden Bereichen vgl. bspw. „The Oxford handbook of tense and aspect“ (Binnick 2012) sowie Vater 2007.
97
Dieser Zusammenhang von Zeit, Sprache und Kultur wird von Linke (2003, 2011) und Tienken (2015) in der kulturanalytischen Linguistik und ihrer Beschreibung diskursiver Muster aufgegriffen: Linke beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern Muster als bezeichnend für eine bestimmte Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit anzusehen sind und inwiefern sie „Selbstdeutung und Weltdeutung einer Gesellschaft“ (Linke 2003, 45) indizieren. Die linguistische Diskursanalyse ermöglicht die Analyse dieser Muster, die raum-zeitlich definiert sind und die einen Zugang zur Sprache der Sprecherinnen und Sprecher bieten.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
73
hung zwischen Ereignissen und deren zeitlicher Ausdehnung befassen,98 andererseits an die inhaltliche Kategorie ZEIT in der Sprache: Wie ist Zeit in einer Sprache konzeptualisiert? Welches Zeitverständnis wird von den Sprechern einer Sprache geteilt? Welcher sprachlichen Muster bedienen sie sich, um ihr Zeitverständnis auszudrücken? Während die ersten beiden Fragen auf Themenbereiche aufmerksam machen, die in verschiedenen anderen Disziplinen behandelt werden,99 wird mit der dritten Frage die Perspektive der Sprachwissenschaft herausgehoben, die die sprachlichen Muster als Zugriff auf die unterschiedlichen Konzeptionen von ZEIT in den Vordergrund stellt. Diese werden im folgenden Kapitel im Mittelpunkt der Analysen stehen. 5.2.2 Die Analyse von ZEIT in der vorliegenden Arbeit Alle drei genannten Perspektiven auf das Phänomen ZEIT sind in der vorliegenden Arbeit von Relevanz: Die Gesamtanalyse der Korpora gibt bestenfalls einen Eindruck des gesellschaftlichen Wissens eines Zeitraums. Die grammatischen Kategorien Tempus und Aspekt werden in den folgenden Analysekapiteln zu den drei Subthemen ZEIT, RAUM und ROLLEN/GRUPPEN betrachtet, wenn diese im Sinne des analytischen Schwerpunkts des Kulturvergleichs von Bedeutung sind. Im folgenden Analyseteil wird das Subthema (ARBEITS-)ZEIT mit den ihm zugeordneten Konzepten im deutsch-spanischen Vergleich betrachtet. Die Relevanz des Subthemas im Kontext der Diskursthemen BERUF und ALLTAG zeigt sich in der computergestützten Voranalyse der Korpora. Die Diskursdominanz ist unmittelbar nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass die Diskursgegenstände den beruflichen und privaten Tagesablauf der Diskursteilnehmer strukturieren. Poyatos, dessen Verständnis kulturspezifischer Phänomene bereits in Kapitel 3.1.2.1 dargestellt wurde, geht davon aus, dass sich kulturspezifische Unterschiede in der Auffassung von Zeit sowohl in der Sprache als auch im Verhalten der Mitglieder einer Kultur niederschlagen:100 Anhand der vorliegenden Untersuchungskorpora und den darin verankerten Konzeptualisierungen von Zeit im Kontext des Arbeitstages wird dies in der sprachlichen Konzeptualisierung der deutschen und spanischen Untersuchungskorpora nachgewiesen.
98
Vgl. bspw. Binnick 2012, Heinold 2015 sowie Rothstein 2007.
99
Vgl. dazu unter anderen in der Psychologie Bieri 1972 und Fraisse 1985 sowie in der Philosophie Flasch 1993.
100
„The visitor to a foreign country soon finds a cultural difference in how the natives understand punctuality, or the time allowed between receiving a letter and replying to it, or how long a formal visit should last“ (Poyatos 1972, 84).
74
5 Analyse der Korpora
5.2.3 Konzeptanalyse 5.2.3.1 Konzeptueller Zugriff FLEXIBILITÄT 5.2.3.1.1 Deutsches Konzept ›flexible Arbeitszeit‹ Die Kollokation „flexibl* Arbeitszeit*“ findet sich im deutschen Medientextkorpus 229 Mal (10.65/Mio); „flexibl*“ ist damit das am häufigsten verwendete Adjektivattribut zu „Arbeitszeit*“. Genauere Betrachtungen des Kotexts von „flexibl* Arbeitszeit*“ ergeben, dass die Parameter ZEIT und RAUM für die Bestimmung des Konzeptes ›flexible Arbeitszeit‹ sowohl im Medientextkorpus als auch im Leserkommentarkorpus eine wichtige Rolle spielen. Sprachliche Konstituierung Unter flexibler Arbeitszeit ist eine zeitliche oder räumliche Anpassung der üblichen Arbeitsbedingungen zu verstehen; die „üblichen“ Arbeitsbedingungen variieren nach Land, Unternehmen, Arbeitnehmergruppe, Anstellungsverhältnis usw. Demzufolge ist auch unter der Anpassung der üblichen Arbeitsbedingungen je nach Kontext etwas anderes zu verstehen. Die Analyse des deutschen Zeitungskorpus ergibt, dass eine zeitliche Flexibilisierung beispielsweise in einer Regulierung der Arbeitszeit in Form von „Gleitzeit“ und „Teilzeit“ bestehen kann, aber auch „Sabbaticals“101 oder der „frühzeitige Ruhestand“ können mit dem Konzept gemeint sein. Diese Teilbedeutungen beantworten die Frage Was ist ›flexible Arbeitszeit‹?. Sie sind insofern dem Kernkonzept ›flexible Arbeitszeit‹ zuzurechnen. In den folgenden Zitaten des Zeitungstextkorpus kann dies nachvollzogen werden: 1. Die bereits länger eingeführte Gleitzeit allein reicht den Beschäftigten offenbar nicht mehr. Eine Sprecherin des Autokonzerns Daimler betont, dass Teilzeit, Tele-Arbeitsplätze oder Sabbaticals im Unternehmen schon längst dazu gehörten. (SZ, 17.09.2011, Abschied von der Stechuhr. Unternehmen begegnen dem Fachkräftemangel mit flexiblen Arbeitszeiten – davon profitieren nicht nur Frauen)102 2. Das Unternehmen [Microsoft] biete flexible Arbeitszeitmodelle an wie etwa Teilzeit- und Heimarbeit und helfe bei der Suche nach einer geeigneten Kinderbetreuung. (SZ, 24.05.2011, Rohstoff Wissen)103 101
Der Anglizismus „Sabbatical“ bezeichnet ein Sabbatjahr als Arbeitszeitmodell.
102
Die Belege der Zeitungskorpora und der Leserkommentarkorpora werden fortlaufend nummeriert, um Verweise auf sie zu ermöglichen. In Klammern folgt die Quellenangabe: im Fall der Zeitungsbelege die Quelle, das Erscheinungsdatum und der Titel (Haupttitel, inkl. Untertitel, wenn dieser von Relevanz ist); im Fall der Leserkommentare der Nutzername des Kommentators, das Datum und die Uhrzeit. Hervorhebungen durch Fettdruck in den Belegen wurden, wenn nicht anders angegeben, durch die Autorin vorgenommen.
103
Zusätzliche Belege werden in Fußnoten angegeben und können in den Untersuchungskorpora nachgele-
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
75
Neben einer Anpassung der Arbeitszeit ist unter dem Konzept der flexiblen Arbeitszeit paradoxerweise auch eine räumliche Flexibilität zu verstehen; besonders die Teilbedeutung ‘Arbeit von zu Hause aus’ wird hier häufig unter Nennung der Schlagwörter „Heimarbeitsplatz“, „Homeoffice“ oder „Tele-Arbeitsplätze“ angeführt. An dieser Stelle sollen die Aspekte der zeitlichen Flexibilität behandelt werden, während diejenigen der räumlichen Flexibilität im Rahmen des zweiten Subthemas RAUM in Kapitel 5.3 vertieft werden. Konzeptuelle Verknüpfungen Bestimmte Teilbedeutungen charakterisieren das Kernkonzept, andere Teilbedeutungen sind als Konzepterweiterungen zu verstehen. Sie beantworten nicht die Frage Was ist ›flexible Arbeitszeit‹? und sind demzufolge nicht der Kernbedeutung des Konzeptes zuzurechnen, prägen das Konzept jedoch ebenfalls, indem sie es in einen bestimmten Kontext stellen, mit ausgewählten weiteren Konzepten verknüpfen oder auf eine spezifische Art und Weise bewerten. Um diese Teilbedeutungen zu fassen, betrachte ich auf der Ausdrucksebene den Kotext des Konzeptes ›flexible Arbeitszeit‹ und analysiere die musterhaft auftretenden Verknüpfungen und Bewertungen. Zunächst bietet sich ein Blick auf die Lexeme an, die über die Konnektoren „und“ oder „oder“ mit dem Ursprungskollokat „flexibl* Arbeitzeit*“ verknüpft sind.104 Auf den ersten Blick ist dabei überraschend, dass auch Ausdrücke, die dem Kernkonzept zugerechnet wurden (vgl. Belege 1 und 2), im Kotext über die genannten Konnektoren verknüpft werden. 3. Drei Viertel der berufstätigen Mütter würden sich flexible Arbeitszeiten und Teilzeitarbeit als entlastende Maßnahmen wünschen. (Welt, 16.07.2003, Allianz: Berufstätige Mütter sorgen sich um Alterssicherung) Teilzeitarbeit wird in den meisten Belegen dem Überthema der ›flexiblen Arbeitszeit‹ zugeordnet und kann aufgrund der Bedeutungsüberschneidungen der Konzepte als partielles Synonym bezeichnet werden. Die Verknüpfung von partiellen Synonymen über den Konnektor „und“, wie sie in Beleg 3 nachgewiesen ist, lässt sich im Korpus häufiger feststellen.105 Auch die Belege „freie Tage“ und „Elternzeit“, die im folgenden Beispiel gleichgeordnet neben das Kollokat „flexible Arbeitszeit“ gestellt werden, weisen Bedeutungsüberschneidungen mit dem Konzept ›flexible Arbeitszeit‹ auf: sen werden. Vgl. hier bspw. zudem SZ, 07.03.2012, „So spart man Zeit“. 104
Dafür wurde bei Sketch Engine eine Suchanfrage zu „flexibl* Arbeitszeit*“ und „und“ oder „oder“ im Kotext (Suchkotext 5 Wörter rechts/links) durchgeführt. Die 147 Treffer wurden anschließend qualitativ ausgewertet.
105
Rhetorisch könnte diese Figur als eine Art Hendiadyoin bezeichnet werden, in dem zwei – in unserem Falle partielle – Synonyme mit der Verbindungspartikel „und“ die Ausdruckskraft stärkend aneinandergereiht werden (vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2007, 91 sowie Duden Universalwörterbuch 2015, 824).
76
5 Analyse der Korpora
4. Dabei wünschen sich Väter oft mehr Zeit für ihre Familie, sie wollen flexible Arbeitszeiten, freie Tage und Elternzeit. (taz, 28.05.2011, Geht es den Vätern zu gut?)106 In Zitat 5 wird hingegen erneut sowohl Teilzeit als auch Elternzeit unter das Konzept ›flexibler arbeiten‹ subsumiert: 5. Knapp 50 Prozent der Befragten sahen kein Entgegenkommen ihres Unternehmens, wenn sie wegen ihrer familiären Situation flexibler arbeiten wollten. Die Unternehmen dagegen gaben an, dass die Elternzeit keine Probleme bereite. Nur ein einziges von 50 Unternehmen war „strikt gegen Teilzeit“. (taz, 17.06.2004, Der Normalfall in der Erziehung heißt Frau) Die genannten Formen der zeitlichen Anpassung der Arbeitsbedingungen – Teilzeit, Gleitzeit, Elternzeit, Sabbaticals und ein früher Ruhestand – sind also zum Teil als Formen der Flexibilisierung der Arbeitszeit selbst zu verstehen, werden aber auch häufig als weitere Maßnahmen neben flexiblen Arbeitszeiten aufgezählt. Flexible Arbeitszeit und Kinderbetreuung Insgesamt ist festzustellen, dass flexible Arbeitszeit im Korpus als Maßnahme neben weiteren gesehen wird, die von unterschiedlicher Seite unternommen werden sollen, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Zu den weiteren Maßnahmen, die besonders häufig im Kotext der flexiblen Arbeitszeiten genannt werden, gehört die Betreuung von Kindern in Krippen, Kindertagesstätten oder Eltern-Kind-Büros. Indem der Ausdruck „Kinderbetreuung“ im selben Atemzug mit der lexikalischen Einheit „flexible Arbeitszeit“ genannt wird, entsteht eine kognitive Verknüpfung zwischen den beiden Konzepten. Die Relevanz der Verknüpfung der beiden Konzepte zeigt sich auch, wenn diese an prominenten Diskursstellen, beispielsweise in Artikelüberschriften,107 gemeinsam genannt werden: 6. Familienministerin lobt Trendwende in deutschen Firmen. Immer mehr Unternehmen bieten flexible Arbeitszeiten oder Kinderbetreuung an – Betriebswirtschaftlicher Nutzen übersteigt Investitionen deutlich (Welt, 02.06.2004, = Titel) 7. Deutschlands familienfreundlichste Firma. Wie Mitarbeiter eines Potsdamer Unternehmens mit Rundum-Kinderbetreuung und flexiblen Arbeitszeiten ernst genommen werden (Welt, 05.05.2008, = Titel) 106
Obwohl es sich bei dem Beleg um einen Textausschnitt aus dem Medienkorpus handelt, ist darauf hinzuweisen, dass hier eher eine individuelle Perspektive eingenommen wird, die von einem Leser in Form einer Stellungnahme zur sogenannten „Sonntazfrage“ eingebracht wird.
107
Vgl. Felder 2015, 29: „Denn Überschriften formulieren oft den thematischen Kern eines Textes und geben, zum Teil auch in Verbindung mit einer ergänzenden Unterzeile oder einem in den Text hineinführenden Absatz (dem so genannten lead), eine Kurzfassung des Textinhaltes wieder“. Vgl. weiterhin auch Burger/ Luginbühl 2014, 116.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Bewertung des Konzeptes Bei der Analyse der sprachlichen Verknüpfungen fällt auf, dass flexible Arbeitszeiten als Maßnahme neben den weiteren verknüpften Maßnahmen auf unterschiedliche Art bewertet werden. Zum einen werden flexible Arbeitszeiten als Maßnahme konzeptualisiert, die sich viele Arbeitnehmer wünschen: 8. Dabei wünschen sich Väter oft mehr Zeit für ihre Familie, sie wollen flexible Arbeitszeiten, freie Tage und Elternzeit. Wenn Frauen diesen Wunsch äußern, akzeptieren das die Unternehmen meistens. (taz, 28.05.2011, Geht es den Vätern zu gut?)108 Frauen und Männer, insbesondere in ihrer Rolle als Vater, wünschen sich flexible Arbeitszeiten und freie Tage, Elternzeit sowie Teilzeit. Dies wird als Anliegen verschiedener Arbeitnehmergruppen formuliert, dessen Erfüllung zum großen Teil den Unternehmen obliegt, die nicht immer wissen, wie sie den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter entsprechen sollen: 9. „Viele Mittelständler wissen noch nicht, wie sie auf die neuen Bedürfnisse der neuen Vätergeneration reagieren sollen.“ Aber auch hier experimentieren die ersten Unternehmen mit Jahresarbeitszeitkonten, flexiblen Arbeitszeiten, ElternKind-Büros oder externer Kinderbetreuung. (Spiegel, 30.12.2013, Die Karriereväter) Nicht nur die Arbeitgeber haben jedoch Schwierigkeiten mit der Umsetzung des Konzeptes ›flexible Arbeitszeit‹, auch auf Seiten der Arbeitnehmer lassen sich Probleme bei der Inanspruchnahme der neuen Flexibilität feststellen. So ist der Umstellung der Arbeitszeiten bei Führungskräften ein ganzer Artikel gewidmet: 10. Viele Führungskräfte wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten, nehmen die Angebote ihrer Firmen aus Furcht vor einem Karriereknick aber nicht an. Das ist das Ergebnis einer Studie der internationalen Unternehmensberatung Bain & Company, die auf der Befragung von 3300 Spitzenkräften in den USA, Europa und Asien basiert. […] „94 Prozent der weiblichen und 78 Prozent der männlichen Spitzenkräfte interessieren sich für die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten.“ An mangelndem Bedarf könne es also nicht liegen. Tatsächlich nutzten aber nur 46 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer solche Angebote. (SZ, 12.02.2011, Führungskräfte scheuen flexible Arbeitszeiten) Im Artikel wird weiterhin betont, dass es insbesondere in Deutschland großen Nachholbedarf gibt, „wenn es um flexible Arbeitszeitmodelle für Fach- und Führungskräfte geht“ (ebd.). Dies wird nicht nur durch die im Artikel zitierte Studie der Unternehmensberatung Bain & Company unterstrichen, sondern auch in einem Interview mit der Frauenrechtlerin Christa Randzio-Plath als Argument angeführt: 108
Vgl. auch SZ, 17.09.2010, „Entscheidet euch!“.
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5 Analyse der Korpora
11. Ich erinnere mich noch an meine Vermieterin in Brüssel. Sie hatte vier Kinder und konnte morgens entscheiden, ob sie ihre Kinder um acht, um zwölf Uhr oder sonst wann in die Krippe brachte. Flexible Arbeitszeit und bezahlte Kinderbetreuung machen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf deutlich leichter und selbstverständlicher. (taz, 05.03.2011, „Wir sind eben nicht gleichberechtigt“) Auch hier werden flexible Arbeitszeit und Kinderbetreuung nicht als unbedingt notwendig konzeptualisiert, sondern als Maßnahmen, die die Umsetzung des Ziels der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erreichbarer machen. In diesem und den zuvor genannten Belegen wird flexible Arbeitszeit konzeptualisiert als A. Maßnahme neben weiteren, um einem Wunsch nachzukommen. In anderen Belegen wird das Konzept ›flexible Arbeitszeit‹ ebenfalls als Wunsch einer bestimmten Arbeitnehmergruppe – im folgenden Beispiel als Wunsch der jungen Männer – konzeptualisiert; er wird jedoch als so nachdrücklich geäußerter Wunsch beschrieben, dass er den Charakter einer Forderung annimmt: 12. Die Flexibilität der Arbeitsbedingungen sei in vielen Branchen noch ausbaufähig. Gewünscht werden vor allem ein größeres Angebot an Heimarbeitsplätzen, flexiblere Arbeitszeiten sowie mehr Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Besonders junge Manager fordern mehr Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort. (Welt, 28.03.2014, Bloß kein Stress) Auch in weiteren Belegen wird das Konzept ›flexible Arbeitszeit‹ weniger als Wunsch, sondern vielmehr als Bedürfnis formuliert, dem notwendigerweise entsprochen werden sollte: 13. Frauen, die wie ich 28 Jahre alt und ohne Nachwuchs sind, haben in den meisten Fällen deshalb noch keine Kinder, weil sie in unsicheren Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind und von Zukunftsängsten geplagt werden. Sobald Kinder für Frauen kein Armutsrisiko mehr darstellen, werden auch wieder mehr geboren. Wir brauchen Kitas, flexible Arbeitszeiten und sichere Arbeitsverhältnisse. Wir sind nicht kinderlos, weil wir lieber saufen gehen anstatt Fläschchen zu geben. (Spiegel, 03.09.2012, Saufen statt Fläschchen geben)109 Flexible Arbeitszeiten wie auch Kitas und sichere Arbeitsverhältnisse werden hier als Maßnahmen genannt, die unbedingt notwendig sind, um den niedrigen Kinderzahlen entgegenzuwirken. Umgekehrt wird das Fehlen von flexibler Arbeitszeit, Kitas und sicheren Arbeitsverhältnissen als Grund für die steigende Kinderlosigkeit gesehen.
109
Es handelt sich um einen Leserbrief zum Artikel „Warum Frauen ihre Kinder früher bekommen sollten“ (Spiegel, 20.08.2012), der nicht Teil des Pressetextkorpus ist. Leserbriefe stellen eine Besonderheit im Medientextkorpus dar, da eine individuelle Perspektive aufgezeigt wird, die auf einen Artikel reagiert.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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14. Nach Ansicht der CDU-Abgeordneten und Anwältin für Familienrecht Ute Granold sind mangelnde Betreuungsmöglichkeiten und zu wenig flexible Arbeitszeitmodelle Grund für die niedrige Kinderzahl. […] „Hier fehlt es in Deutschland an einer Sensibilität, die in Frankreich und Skandinavien längst gang und gäbe ist.“ (Welt, 05.08.2011, Das Leben muss perfekt sein. Experten zu den Gründen, warum in Deutschland so wenige Kinder geboren werden) 15. In der PPAS-Studie nannten die meisten befragten Europäer bessere ElternzeitModelle als wichtigsten Faktor, der es ihnen erleichtern würde, sich für ein (weiteres) Kind zu entscheiden. Auch die deutschen Möchtegern-Eltern hatten klare Vorstellungen: Sie wünschten sich vor allem mehr Möglichkeiten der Teilzeitarbeit, flexiblere Arbeitszeiten und bessere Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. (SZ, 21.10.2006, Die Mythen von der Kinderlosigkeit) Der zuletzt zitierte Artikel schließt mit dem Fazit, dass bessere Elternzeit-Modelle sowohl von europäischen als auch von deutschen Eltern als maßgeblicher Faktor für mehr Nachwuchs angegeben werden. Neben der Einordnung A. Flexible Arbeitszeit als Maßnahme neben weiteren, um einem Wunsch nachzukommen, lässt sich also eine zweite Einschätzung feststellen, die flexible Arbeitszeit als eine Maßnahme betrachtet, die unbedingt umgesetzt werden sollte, da ihr Fehlen als Grund für weitere schwerwiegende Probleme (Kinderlosigkeit, zu wenig Zeit für die Familie, Abwanderung von Fachkräften ins Ausland und zu wenige Frauen in Unternehmen, insbesondere in Führungspositionen) angegeben wird. Umgekehrt gesprochen können, so die Einschätzung in den Zeitungstexten, flexible Arbeitszeiten als Maßnahme einen Zwischenschritt darstellen, um verschiedene Ziele wie höhere Kinderzahlen, mehr Zeit für die Familie und eine frauenfreundlichere Unternehmenspolitik zu erreichen. Als weitere Teilbedeutung kann damit festgehalten werden: B. Flexible Arbeitszeit als notwendige Maßnahme neben weiteren, um ein gesellschaftlich objektiviertes Ziel zu erreichen. Besonders häufig wird diese Teilbedeutung über Finalsatz-Konstruktionen mit um…zu ausgedrückt: 16. Nachwuchs genießen: Eltern wollen flexiblere Arbeitszeiten, um mehr Zeit für die Familie zu haben (Welt, 05.09.2008, Generation Papa, = Bildunterschrift) 17. Letzte Gnadenfrist für die Wirtschaft. Mehr Frauen in Spitzenpositionen: Unternehmen sollen flexible Arbeitszeiten anbieten, um die Einführung einer Frauenquote zu verhindern (Welt, 09.02.2011, = Titel)110
110
Vgl. auch SZ, 16.04.2011, „Die Zeiten ändern sich“ und taz, 01.02.2014, „30-Stunden-Woche für Eltern?“.
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5 Analyse der Korpora
Flexible Arbeitszeiten werden als Wunsch und als Bedürfnis formuliert und damit zunächst positiv bewertet. Auf der anderen Seite wird die Konzeptualisierung in einigen Fällen explizit kritisiert: 18. Flexibilisierte Arbeitszeiten können jedoch auch nachteilig sein. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt. Zudem können bei Kurzzeitkonten die vereinbarten Obergrenzen für den Aufbau von Zeitguthaben schnell erreicht sein. Wenn ein Ausgleich aus betrieblichen Gründen nicht möglich ist, werden die Zeitguthaben oft finanziell abgegolten. Sie können aber auch verfallen. Dann hat der Arbeitnehmer faktisch umsonst gearbeitet. (SZ, 07.03.2012, So spart man Zeit)111 Diskursprägende Autoritäten In den bisherigen Belegen fällt bereits auf, dass auf Ergebnisse von Studien (vgl. Beleg 15) sowie Einschätzungen von Experten (vgl. Beleg 14) verwiesen wird. Die zitierten Studien geben dabei Auskunft über den verbreiteten Wunsch der Arbeitnehmer nach mehr Flexibilität. 19. In einer Umfrage des Allensbach-Instituts zur Arbeitssituation haben die meisten Väter gesagt, dass sie sich nichts so wünschen wie flexiblere Arbeitszeiten und mehr Teilzeitjobs. (SZ, 17.09.2010, Entscheidet euch!) 20. Das ist das Ergebnis einer Studie der internationalen Unternehmensberatung Bain & Company, die auf der Befragung von 3300 Spitzenkräften in den USA, Europa und Asien basiert. […] „94 Prozent der weiblichen und 78 Prozent der männlichen Spitzenkräfte interessieren sich für die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten.“ An mangelndem Bedarf könne es also nicht liegen. Tatsächlich nutzten aber nur 46 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer solche Angebote. (SZ, 12.02.2011, Führungskräfte scheuen flexible Arbeitszeiten) Gemeinsam ist den Textstellen, dass sie einräumen, dass der von den Arbeitnehmern geäußerte Wunsch aus vielfältigen Gründen – sei es Rollennarzissmus oder Angst vor dem Karriereknick – von den Arbeitnehmern selbst nicht in die Tat umgesetzt werde. Zu den Akteuren, die im Kontext der Flexibilisierung der Arbeitszeit genannt werden, gehört Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin,112 die in der Berichterstattung häufig zitiert wird: 21. Diese neue Normalarbeitszeit verstehe ich über ein ganzes Arbeitsleben hinweg. Damit wären in bestimmten Lebensphasen längere Arbeitszeiten möglich, etwa direkt nach der Ausbildung oder dem Studium, oder wenn die Kinder aus dem 111
Vgl. auch Welt, 07.01.2012, „Arbeitszeit aufs Konto“.
112
Die Diskursakteurin Allmendinger wird hier als Beispiel herausgegriffen. Im Korpus werden weitere Akteure und – im Kontext dieses Konzeptes besonders häufig – Akteurinnen angeführt, wie bspw. Michelle Obama, Angela Merkel oder Kristina Schröter.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Haus und die eigenen Eltern noch unabhängig sind. Wenn die Familie mehr Zeit erfordert oder man Zeit für sich braucht, werden längere Arbeitszeiten dann mit Abschnitten in kurzer Teilzeit oder mit Unterbrechungen verrechnet. (SZ, 20.12.2014, Endlich wieder Zeit haben) Sie beschreibt im zitierten Beleg, was als neue Normalarbeitszeit verstanden werden solle, und argumentiert dabei für eine flexiblere Handhabe der lebenslangen Arbeitszeit beispielsweise bei Frauen und Männern sowie bei jüngeren und älteren Arbeitnehmern. Das Konzept der „normalen Arbeitszeit“ wird im Diskurs zumeist im Abgleich mit anderen Beispielen diskutiert, mit Modellen, die im Ausland etabliert sind, die in größeren Unternehmen als innovative Konzepte umgesetzt werden oder die in anderen Berufsgruppen üblich sind. Mit dem Verweis auf Studien, die eine Aussage belegen, oder Diskursakteure, die aufgrund ihrer Expertise auf einem Gebiet eine bestimmte Haltung vertreten, wird Diskursautorität erzeugt. Ergänzung: Leserkommentarkorpus Zunächst ist festzuhalten, dass ›flexible Arbeitszeit‹ in den Leserkommentaren ebenso konzeptualisiert wird wie im Medientextkorpus: Dem Verständnis der Leser zufolge wird darunter gefasst, dass man als Arbeitnehmer gelegentlich außerhalb der regulären Arbeitszeiten, oder von zu Hause aus, arbeiten kann: 22. Ich bin sehr froh, daß ich zuweilen zuhause arbeiten kann. Dort kann ich viel konzentrierter arbeiten und schaffe mehr. Oder dass ich mich manchmal einfach Sonntags abends für einige Stunden von zuhause an meinen Arbeitsplatz einloggen kann, wenn ich gerade eine gute Idee habe. Und dafür Montags erst gegen mittag ins Büro gehe. (Velvia Blue, 27.07.2015 10:51 Uhr)113 Diese Flexibilität wird dem regulären Arbeitstag, der aus acht Stunden Arbeit an einem bestimmten Arbeitsplatz besteht, gegenübergestellt. Die Aspekte der zeitlichen und räumlichen Flexibilität sind also auch hier verknüpft. Die Argumentation in den Leserkommentaren ähnelt der Argumentation in den Medientexten; es wird ebenfalls betont, dass feste Arbeitszeiten die Produktivität nicht notwendigerweise positiv beeinflussen. Von einigen Lesern wird darüber hinaus betont, dass gerade die flexible Arbeitszeiteinteilung zu mehr Kreativität oder einem besseren Arbeitsergebnis führt. 23. Ich war mit meinem 8 to 5 Stundenjob (eine Stunde für Pausen) in der Wissenschaft überhaupt nicht glücklich. Falls man kreativ und auch viel alleine arbeitet, ist es oft viel produktiver zu Hause zu bleiben und nur für Besprechungen, Unterricht etc. an den physischen Arbeitsplatz zu fahren. Ich fand den Büroalltag, obwohl ich ein eigenes Zimmer hatte, unbequem, und vor allem wurde ich dauernd abgelenkt 113
Die Leserkommentare wurden unverändert übernommen, wenn dies nicht anderweitig vermerkt ist. Orthografische Fehler oder besondere Schreibweisen der Verfasser werden beibehalten.
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5 Analyse der Korpora
durch angenehme, aber zeitraubende Gespräche. Jetzt im Sommer arbeite ich im Grünen Büro im Garten und schaffe das Doppelte – „outputorientiert“ eben und für die Kinder ist das auch prima. Aber ich gebe zu, es ist ein Privileg, wenn die Arbeitsergebnisse nicht nur einer Firma nützen, sondern einen auch wirklich selbst befriedigen. Und nun geht’s weiter … (Fabiana, 27.07.2015 10:10 Uhr)114 Im zitierten Kommentar fällt auf, dass vor allem individuell argumentiert wird und eine Beispielnarration angeführt wird. Es ist weniger die Rede davon, dass Anwesenheit zu bestimmten Stunden am Arbeitsplatz zu mehr oder weniger Produktivität führt (wie dies beispielsweise im spanischen Zeitungskorpus erläutert wird; vgl. dazu Kapitel 5.2.3.2.1), sondern es werden individuelle Argumente für die einzelnen Berufsgruppen angeführt. Diese individuellen Bedürfnisse werden auch auf der Metaebene von den Lesern selbst thematisiert: 24. Bei über 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland von dem einen perfekten Modell zu sprechen ist Quatsch. Für den einen ist „9 to 5“ perfekt, während andere mit Heimarbeit und flexiblen Arbeitszeiten viel besser versorgt sind. Das muss doch jeder für sich und seine aktuelle Situation entscheiden können. [7 Leserempfehlungen] (Peppermint Gomez, 27.07.2015 10:22 Uhr) Die hohe Anzahl von Leserempfehlungen verdeutlicht hier zudem, dass sich in diesen Ausführungen weitere Leser wiederfinden. In den Leserkommentaren wird des Weiteren zwischen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberperspektive differenziert. Dies wird explizit getan, wenn auf die unterschiedliche Auslegung des Konzeptes hingewiesen wird, wie beispielsweise im folgenden Beispiel: 25. [Sie haben Recht, aber sie verstehen...] den fundamentalen Unterschied zwischen dem was ein Arbeitgeber/Unternehmer und was sie persönlich unter Flexibilisierung verstehen nicht. Ein Arbeitgeber versteht darunter mehr Arbeitszeit und damit auch mehr Arbeit zu weniger oder gleichviel Geld, sie verstehen darunter die gleiche Arbeitszeit und -menge zum gleichen Entgelt. [5 Leserempfehlungen] (Horatio Caine, 27.07.2015 10:45 Uhr) Daneben wird auffällig häufig auf der Metaebene kommentiert, dass der Ausdruck „Flexibilisierung“ verschiedene Vorstellungen an sich binden kann: 26. Man hätte ggf. noch ein wenig deutlicher ansprechen sollen, dass die sog. neue Freiheit durch Flexibilisierung eben kein [sic] Zuwachs an Freiheit bedeutet sondern eher einen Zuwachs an Unfreiheit. Es ist immer wieder erstaunlich, was man mit Sprache so alles machen kann, damit etwas positiv klingt. Lobbyisten sind Meister der Semantik. (Horatio Caine, 27.07.2015 10:32 Uhr)
114
Vgl. auch SkyzZ, 27.07.2015 11:00 Uhr.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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27. Wenn jetzt AG aber von mehr Flexibilität reden [Hervorhebung im Originalbeleg, Anm. MM], droht entweder für AN eine höhere Belastung oder weniger Geld. (einervonvieren, 27.07.2015 11:00 Uhr) In den genannten Beispielen wird die Mehrdeutigkeit der Lexeme „flexibel“, „Flexibilisierung“ und „Flexibilität“ thematisiert. In Beispiel 26 zeigt sich die Distanzierung von der Auslegung der Flexibilisierung metasprachlich über den Distanzmarker „sogenannt“ und explizit über die Kritik an der irreführenden Ausdrucksform, die ein anderes Verständnis nahelegt. Interessant ist, dass die Rolle der Sprache von den Lesern in beiden Kommentaren hervorgehoben wird. Für die Kommentare der deutschen Leserschaft können wir also festhalten, dass (a) sich die Betonung der individuellen Bedürfnisse in der Argumentation und den angeführten Narrationen spiegelt, (b) unterschieden wird zwischen dem, was Arbeitgeber und was Arbeitnehmer unter flexiblen Arbeitszeiten verstehen, (c) sowohl die individuellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer als auch das unterschiedliche Verständnis von flexiblen Arbeitszeiten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Metaebene reflektiert und kommentiert wird. Auf der Metaebene wird hier auch der Sprachgebrauch thematisiert.
115
Metadiskursive Deutung Unter „flexiblen Arbeitszeiten“ wird sowohl die zeitliche als auch die räumliche Anpassung der Arbeitsbedingungen verstanden.115
Befund
‘Flexible Arbeitszeiten sind bspw. Teilzeitarbeit, Gleitzeit, Elternzeit, Sabbaticals und der frühzeitige Ruhestand. Auch das Arbeiten von zu Hause aus ist als flexible Arbeitszeit zu verstehen.’
A. Maßnahme konzeptualisiert, um einem Wunsch der Arbeitnehmer nachzukommen.
A. ‘Mitarbeiter wünschen sich flexible Arbeitszeiten. Nicht alle Unternehmen bieten diese an. Nicht alle Mitarbeiter nehmen diese in Anspruch, bspw. aus Angst vor einem Karriereknick.’
c. um eine väterfreundlichere Unternehmenskultur zu schaffen.’
Zu den räumlichen Anpassungen s. die Ausführungen zum Subthema RAUM (Kapitel 5.3).
≠
b. um eine frauenfreundlichere Unternehmenskultur zu schaffen.
a. um eine familienfreundlichere Unternehmenskultur zu schaffen.
B. notwendige Maßnahme konzeptualisiert, um gesellschaftlich objektivierte Ziele (a, b oder c) zu erreichen.
Flexible Arbeitszeiten sind als
Flexible Arbeitszeiten als Maßnahme:
B. ‘Flexible Arbeitszeiten sind notwendig,
Die Maßnahme der Kinderbetreuung wird häufig verknüpft.
‘Flexible Arbeitszeiten und Kinderbetreuung werden von einigen Unternehmen für ihre Mitarbeiter angeboten.’
Die Konzepte ›Teilzeitarbeit‹, ›Gleitzeit‹ und ›Elternzeit‹ teilen Bedeutungsaspekte und werden teilweise synonym verwendet.
zeitliche (und gelegentlich räumliche) Anpassung der üblichen Arbeitsbedingungen
›flexible Arbeitszeit‹
Verknüpfung mit Hochwertkonzept ›Familie‹
(= Ziel) zu erreichen
Maßnahme, um etwas
Überschneidung der Subthemen ZEIT und RAUM
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 5: Konzept ›flexible Arbeitszeit‹
84 5 Analyse der Korpora
Metaebene
‘Es muss unterschieden werden zwischen dem, was Arbeitgeber und was Arbeitnehmer unter flexiblen Arbeitszeiten verstehen.’
Diskursautorität
Agonalität in Bewertungen
Agonalität in Verknüpfungen
Individualität
Studien und Diskursakteuren (als Experten) wird Diskursautorität zugesprochen. Ihren Aussagen und Bewertungen fällt darum besonderes Gewicht zu.
Flexible Arbeitszeiten können auch negativ bewertet werden (C). In diesem Fall muss die negative Bewertung expliziert werden.
Flexible Arbeitszeiten werden meist positiv bewertet. Je nach Argumentation (A oder B) werden sie als Teil eines Maßnahmenpakets als wünschenswert oder als unbedingt notwendig bewertet.
C. Flexible Arbeitszeiten können negative Konsequenzen haben.
‘Die individuellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer sollten eine größere Rolle spielen.’
Leserkommentarkorpus
‘Diskursakteure befürworten flexible Arbeitszeiten.’
‘Studien ergeben, dass sich Arbeitnehmer mehrheitlich flexible Arbeitszeiten wünschen.’
‘Flexible Arbeitszeiten können negative Konsequenzen haben (C.).’
≠
‘Flexible Arbeitszeiten sollten angestrebt werden (vgl. A. und B.).’
(c) dazu führen, dass die Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit nicht gelingt.’
(b) zu Stress und Burn-Out führen.
(a) zu Überstunden führen.
C. ‘Flexible Arbeitszeiten können
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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5 Analyse der Korpora
5.2.3.1.2 Spanisches Konzept ›flexibilizar los horarios‹ (dt. die Arbeitszeiten flexibilisieren) Die Kollokationen rund um das Konzept der ›flexiblen Arbeitszeit‹ sind im Deutschen und Spanischen zunächst vergleichbar. Im Deutschen wird von „flexibler Arbeitszeit“ gesprochen, von der „Flexibilisierung“ oder der „Flexibilität der Arbeitszeit“ und davon, die „Arbeitszeit zu flexibilisieren“. Im Spanischen sind als äquivalente Kollokationen „horario flexible“ (dt. flexible Arbeitszeit), „flexibilización“ und „flexibilidad de los horarios“ (dt. Flexibilisierung und Flexibilität der Arbeitszeit) und „flexibilizar los horarios“ (dt. die Arbeitszeit flexibilisieren) festzuhalten. Die Häufigkeiten in den beiden Korpora unterscheiden sich jedoch; im Spanischen ist insbesondere die Verbalphrase „flexibilizar los horarios“ frequenter als im Deutschen. Sprachliche Konstituierung Das Kernkonzept ›flexibilizar los horarios‹, das im spanischen Korpus konstruiert wird, zeichnet sich wie das deutsche Konzept der ›flexiblen Arbeitszeit‹ durch die Aspekte des Zeitlichen und Räumlichen aus. Mit der Verbalphrase „flexiblizar los horarios“ wird das Aufbrechen des klassischen 8-Stunden-Arbeitstages im Büro bezeichnet. Dies kann durch eine Veränderung der Arbeitszeit – beispielsweise der Länge, des Beginns, des Endes oder der Pausen des Arbeitstages – oder durch eine räumliche Veränderung des Arbeitsplatzes geschehen.116 28. La multinacional [Unilever España] ha desterrado el concepto de ocho horas fijas de trabajo al día y, en su lugar, ha establecido horarios flexibles y la posibilidad de trabajar desde casa. (País, 25.01.2013, 8.000 mujeres se ofrecen como consejeras)117 118 29. Predominarán las modalidades de trabajo de mayor flexibilidad, como el trabajo mixto, tanto en la oficina como a distancia con horario flexible (Mundo, 21.12.2014, Qué parará cuando trabajar no sea “ir al trabajo”)119
116
Die Aspekte der räumlichen Flexibilisierung werden in Kapitel 5.3 zum Subthema RAUM näher beleuchtet.
117
Dt. Der multinationale Konzern [Unilever Spanien] hat sich vom Konzept der täglichen acht Stunden fester Arbeitszeit verabschiedet und stattdessen flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, eingeführt.
118
Alle Übersetzungen der spanischen Originaltexte sind, sofern nicht anders vermerkt, von der Verfasserin. Die spanischen Titel der Medientexte werden in den Fußnoten ins Deutsche übersetzt, wenn ihre Betrachtung im Interesse der Analyse ist. Dies wird durch den Fettdruck des spanischen Titels in der Quellenangabe in Klammern angezeigt.
119
Dt. Die Arbeitsformen der größtmöglichen Flexibilität werden überwiegen, wie die gemischte Arbeitsform, sowohl im Büro als auch aus der Ferne mit flexibler Arbeitszeit.
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Der erste Beleg bezieht sich auf bereits umgesetzte Maßnahmen des Unternehmens Unilever España; im zweiten Beleg wird eine Zukunftsprognose abgegeben, in der beschrieben wird, wie die Zukunft des Arbeitens aussehen könnte. In beiden Belegen wird unter der Flexibilisierung der Arbeitszeit sowohl die zeitliche als auch die räumliche Anpassung der Arbeitszeiten verstanden. Konzeptuelle Verknüpfungen Wie im Deutschen wurden nun im spanischen Korpus ebenfalls die Verknüpfungen über die Konnektoren „y“ (dt. und) und „o“ (dt. oder) analysiert.120 Die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten, wird wie im deutschen Korpus im unmittelbaren Kotext genannt: - horarios flexibles o de trabajo a domicilio (País, 05.07.2007, Ocurrencias electorales)121 - horarios flexibles o el teletrabajo (Mundo, 12.09.2011, El candidato se aferra a un puro programa socialdemócrata)122 - horario flexible y la posibilidad de trabajar desde casa (Mundo, 28.09.2013, Cuánto debería ganar un emprendedor… y sus empleados)123 ›flexibilizar los horarios‹, Vereinbarkeit und Emanzipation Im Vergleich mit dem deutschen Korpus fällt auf, dass der Aspekt der Kinderbetreuung seltener verknüpft wird. Flexible Arbeitszeiten und Maßnahmen der Kinderbetreuung werden kaum unmittelbar über die Konnektoren „und“ oder „oder“ verknüpft,124 und auch im erweiterten Kotext wird weniger über konkrete Formen der Kinderbetreuung gesprochen, sondern vielmehr auf das abstrakte Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hingewiesen: 30. Hay que conciliar la vida laboral y la familiar con horarios flexibles, trabajos a tiempo parcial o intercambio de turnos. El sistema laboral no ha de ser solo masculino. (Mundo, 20.05.2005, La tronera. Antifeminismo laboral)125 120
Der deutschen Suchanfrage entsprechend wurde bei Sketch Engine die Suchanfrage „horario* flexibl*“ und „y“ oder „o“ im Suchkotext (5 Wörter rechts/links) durchgeführt. Die 127 Treffer wurden anschließend qualitativ ausgewertet.
121
Dt. Flexible Arbeitszeiten oder Heimarbeit.
122
Dt. Flexible Arbeitszeiten oder die Teleheimarbeit.
123
Dt. Flexible Arbeitszeit und die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten.
124
Für diese Art der Verknüpfung findet sich nur ein Beleg im spanischen Korpus: „Propuestas para conciliar el trabajo con la vida familiar, como ayudas a las madres trabajadoras, guarderías y horarios flexibles“ (dt. Vorschläge, um die Arbeit und das Familienleben zu vereinbaren, wie Hilfen für berufstätige Mütter, Kinderkrippen und flexible Arbeitszeiten, Mundo, 30.04.2006, El PP crea grupos de trabajo para mejorar la situación de la mujer).
125
Dt. Man muss das Berufs- und das Familienleben mit flexiblen Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit oder Schicht-
88
5 Analyse der Korpora
31. El Congreso pedirá horarios flexibles para conciliar el trabajo y la familia. También recomendará el empleo “a distancia” siempre que sea posible. Planteará que el hombre no solo “ayude” sino que sea “corresponsable” (Mundo, 01.11.2006, = Titel)126 Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird hier als übergeordnetes Ziel genannt; die Maßnahme der flexiblen Arbeitszeiten stellt einen Schritt dar, der das Erreichen dieses Ziels ermöglicht. In den zitierten Belegen 30 und 31 fällt bereits auf, dass der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau sowohl im Beruf als auch in den verschiedenen Aufgabenbereichen, die mit der Sammelbezeichnung der „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ zusammengefasst werden, eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Das Arbeitssystem dürfe nicht ausschließlich „männlich“ sein (Beleg 30) und der Mann solle nicht nur helfen, sondern mitverantwortlich sein (Beleg 31). Die Konzepte ›flexibilizar los horarios‹ und ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ werden mit dem Ziel der Emanzipation der Frau über ihre traditionelle Rolle in der Familie hinaus verknüpft: 32. Muchas trabajadoras padecen una situación angustiosa, porque se ven obligadas a optar entre ser madres o ser trabajadoras. (País, 21.10.2002, ¿Niños o trabajo?)127 33. Pero en la práctica va creciendo el número de empresas que toman medidas para aliviar la tensión entre trabajo y familia como el horario flexible de entrada y salida, el intercambio de turnos o el trabajo a tiempo parcial. La mayor demanda de medidas de conciliación, incluso con el riesgo que en ocasiones conlleva para el trabajador, es congruente con un modelo de organización laboral y social que ya no gira en torno al patrón clásico de trabajo exclusivamente masculino. (País, 17.05.2005, La brecha de los sexos)128 In Korpusbeleg 32, der bereits aus dem Jahr 2002 stammt, wird das Fehlen der entscheidenden Maßnahmen (Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeiten), die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für arbeitende Mütter ermöglichen könnten, wechseln vereinbaren. Das Arbeitssystem darf nicht nur männlich sein. 126
Dt. Der Kongress wird flexible Arbeitszeiten verlangen, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Er wird die Arbeit „aus der Ferne“ empfehlen, vorausgesetzt, dass dies möglich ist. Er wird in Angriff nehmen, dass der Mann nicht nur „hilft“, sondern „mitverantwortlich“ ist.
127
Dt. Viele weibliche Angestellte leiden unter der beklemmenden Situation, weil sie sich dazu genötigt sehen zu entscheiden, ob sie Mutter oder Berufstätige sind.
128
Dt. In der Praxis aber nimmt die Zahl der Unternehmen zu, die Maßnahmen wie flexible Arbeitsbeginns- und Arbeitsschlusszeiten, Wechsel von Schichten oder Teilzeitarbeit ergreifen, um die Spannung zwischen Beruf und Familie zu lindern. Die verstärkte Nachfrage nach Maßnahmen der Vereinbarkeit, sogar mit dem Risiko, das diese manchmal für den Angestellten mit sich bringen, ist mit einem beruflichen und sozialen Organisationsmodell kongruent, das sich nicht mehr an dem klassischen, ausschließlich männlichen Arbeitsmuster orientiert.
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als Grund für die beklemmende Situation genannt, in der sie sich dafür entscheiden müssen, entweder Mutter oder Arbeitnehmerin zu sein. Und auch im zweiten zitierten Beleg werden flexible Arbeitszeiten als entlastende Maßnahme zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie genannt und darüber hinaus als Teil eines Arbeitsmodells gesehen, das sich nicht mehr nur um die klassischen männlichen Arbeitnehmer und Chefs dreht.129 Wir halten also fest, dass im spanischen Korpus zunächst ähnliche Konzepte verknüpft werden: (1) Flexible Arbeitszeiten und Heimarbeit werden als Maßnahmen genannt, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. (1a) Ihr Fehlen ist wiederum als Grund130 für die nicht gegebene Vereinbarkeit von Beruf und Familie anzusehen. (1b) Die Möglichkeiten der Kinderbetreuung werden ebenfalls diskutiert, allerdings steht vermehrt das abstraktere Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Fokus. Darüber hinaus findet sich eine weitere zentrale Verknüpfung: (2) Flexible Arbeitszeiten als Maßnahme zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie stehen als Konzept im Kontext eines Arbeitsmodells, das besonders auf weibliche Arbeitnehmer und Führungskräfte ausgerichtet ist. Die genannten sprachlichen Verknüpfungen überschneiden sich mit den Verknüpfungen des deutschen Korpus, auch wenn gewisse Unterschiede in den einzelnen Konzeptualisierungen festzustellen sind. Bestimmte Verknüpfungen sind allerdings ausschließlich Teil des spanischen Pressetextkorpus: So werden die folgenden drei Themen im spanischen Medientextkorpus mit dem Konzept der ›flexiblen Arbeitszeiten‹ verknüpft, nicht aber im deutschen Korpus. ›flexibilizar los horarios‹ und ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ (dt. Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten) Im Kontext der flexiblen Arbeitszeiten wird auf das Konzept der ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ verwiesen. Hierbei handelt es sich um ein spezifisches Subkonzept des spanischen Korpus, mit dem darauf verwiesen wird, dass die Veränderung der Arbeitszeiten mit einer Veränderung der spanischen Zeitzone 129
Für eine ausführlichere Bearbeitung der Konzepte ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ (dt. Berufs- und Privatleben – insbesondere Familienleben – vereinbaren) und ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ (dt. Ungleichheit von Frauen und Männern und Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt) vgl. 5.2.3.3.1 und 5.4.3.1.2.
130
Mit der Auszeichnung des Konzeptes als ‘Grund für das Nichterreichen eines erstrebenswerten Ziels’ wird ihm zugleich eine höhere Wichtigkeit zugesprochen und damit eine größere Notwendigkeit der Etablierung eben dieser flexiblen Arbeitszeiten.
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5 Analyse der Korpora
einhergehen solle (vgl. das folgende Kapitel zum Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹). Die Konzepte ›flexible Arbeitszeiten‹ und ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ sind in den spanischen Medientexten verknüpft und prägen sich gegenseitig. So wird die Flexibilisierung des Arbeitstages als eine der Maßnahmen des Vorschlagspapiers zur Rationalisierung der Arbeitszeiten genannt: 34. En casa a las seis. El Gobierno anima a las empresas a flexibilizar la jornada laboral. Presentación del Libro Blanco de la Comisión Nacional para la Racionalización de los horarios españoles y su Normalización con los de los demás países de la UE (Mundo, 22.12.2005, = Titel und Kopfzeile)131 Indem die Flexibilisierung wie hier besonders prominent in Überschriften oder in der Kopfzeile der Artikel platziert wird, findet eine Kennzeichnung der Maßnahme als besonders wichtig statt. Bei der ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ handelt es sich um ein spezifisches Konzept des spanischen Korpus, und insofern handelt es sich bei der Verknüpfung zwischen den zwei Konzepten der ›flexiblen Arbeitszeiten‹ und der ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ ebenfalls um ein Spezifikum des spanischen Medientextkorpus. Flexible Arbeitszeiten und Produktivität in Abhängigkeit von presentismo und absentismo Die Produktivität von Unternehmen wird sowohl im deutschen wie auch im spanischen Korpus häufig in der Debatte um die flexible Arbeitszeit als Argument angeführt (vgl. Kapitel 5.2.3.5 zum konzeptuellen Zugriff PRODUKTIVITÄT). Darüber hinaus werden im spanischen Korpus zusätzlich die Konzepte des ›presentismo‹ und ›absentismo‹ verknüpft. Der folgende Beleg zeigt exemplarisch die Argumentationsweise: 35. Para elevar la productividad hay que optimizar el tiempo y trabajar de forma más eficiente y flexible. Lamentablemente, en España impera el presentismo como mérito: muchos trabajadores no abandonan el puesto antes de que lo hagan sus superiores. En otros países, alargar la jornada laboral manifiesta la ineficacia del empleado que no es capaz de realizar correctamente sus tareas en el tiempo asignado. Hemos de sustituir esta cultura de la presencia por una cultura de la eficiencia que logre la excelencia. (Mundo, 21.02.2011, La reforma más necesaria)132 133 131
Dt. Um sechs Uhr zu Hause. Die Regierung ermutigt die Unternehmen dazu, den Arbeitstag zu flexibilisieren. Vorstellung des Weißbuchs [Vorschlagsammlung zur Vorgehensweise] der nationalen Kommission zur Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten und ihrer Normalisierung mit denjenigen der anderen Länder der Europäischen Union.
132
Dt. Um die Produktivität zu steigern, muss die Zeit optimiert werden sowie effizienter und flexibler gearbeitet werden. Leider herrscht in Spanien die Mentalität, dass der presentismo ein Verdienst sei: Viele Angestellte verlassen ihren Arbeitsplatz nicht vor ihren Vorgesetzten. In anderen Ländern zeigt eine Verlängerung des Arbeitstages die Ineffizienz des Angestellten, der nicht dazu in der Lage ist, seine Aufgaben vollständig in der vorgegebenen Zeit zu erledigen. Wir müssen diese Präsenzkultur durch eine Effizienz-
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Effizientere und flexiblere Arbeitszeiten seien notwendig, um die Produktivität zu steigern. Ein wesentlicher Faktor sei dabei der presentismo, der die unnötig langen Präsenzzeiten in spanischen Unternehmen, die häufig als Teil der spanischen Arbeitskultur bewertet werden, in einem Ausdruck bezeichnet. Auf der einen Seite wird der presentismo als Problem der spanischen Arbeitskultur konzeptualisiert, das sich durch die Maßnahme der Flexibilisierung der Arbeitszeiten begrenzen lassen würde (Beleg 35.). Auf der anderen Seite wird die Flexibilisierung als Lösung für ein weiteres Problem in spanischen Unternehmen – den absentismo, also das Fernbleiben von der Arbeit – angeführt: 133 36. Rodriguez-Pinero […] considera que con horarios flexibles se reduce el absentismo, el estrés, el tráfico y mejora la productividad. (Mundo, 21.11.2006, Reforma de pensiones)134 37. El absentismo laboral cae un 30% si las empresas flexibilizan horarios. (Mundo, 30.06.2009, = Titel)135 Durch flexiblere Arbeitszeiten würde sich das Fehlen der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz signifikant verbessern, was wiederum die Produktivität der Unternehmen steigern würde, so die Argumentation verschiedener Akteure. Die folgende Abbildung verdeutlicht die Argumentation, in die die Verknüpfung zwischen flexibler Arbeitszeit und Produktivität in Abhängigkeit von presentismo und absentismo eingebettet ist:
kultur ersetzen, die Exzellenz erreicht. 133
Vgl. auch Mundo, 15.11.2010, „El PP propone actividades extraescolares para conciliar“.
134
Dt. Rodriguez-Pinero […] erachtet, dass sich mit flexiblen Arbeitszeiten absentismo, Stress und Verkehr reduzieren und sich die Produktivität verbessert.
135
Der berufliche absentismo reduziert sich um 30%, wenn die Unternehmen die Arbeitszeiten flexibilisieren.
92
5 Analyse der Korpora
Abb. 10: Argumentation ›flexibilizar los horarios‹ und ›presentismo‹ sowie ›absentismo‹
Flexible Arbeitszeiten und der Sektor der Bekleidungsindustrie Interessant ist auch, dass im spanischen Korpus der Sektor der Textil- und Bekleidungsindustrie mit dem Konzept der ›flexiblen Arbeitszeiten‹ verknüpft wird, und zwar auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Auf der einen Seite wird auf die Ausbeutung hingewiesen, die in diesem Bereich stattfindet: 38. Detrás de esos exóticos nombres geográficos [Sri Lanka, Tánger, Tailandia, China] se esconde un nuevo tipo de esclavitud laboral en el que los sindicatos son sinónimo de despidos, la asistencia médica gratuita una quimera y los horarios flexibles algo que se estira sin límite de madrugada a madrugada. Así lo aseguran dos exhaustivos informes realizados por Intermon Oxfam en los que se retrata la precariedad
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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de las trabajadoras de la confección, tanto en España como en el resto del mundo […] (El Mundo, 10.02.2004, Esclavitud femenina en el fondo de armario)136 Im zugehörigen Artikel wird unter der Bezeichnung der „horarios flexibles“, der flexiblen Arbeitszeiten also, die in den bisher zitierten Belegen als Privileg der Arbeitnehmer konzeptualisiert wurden, der Arbeitsalltag von TexilarbeiterInnen in Spanien, besonders aber in den Produktionsländern Bangladesch und Marokko, beschrieben. Dieser kann bis zu 16 Stunden tägliche Arbeitszeit, horrende Überstundenzahlen und Arbeitsschichten, die sich über mehrere Tage erstrecken, umfassen. Unter dem Konzept der flexiblen Arbeitszeit wird hier eine völlig andere Teilbedeutung ausformuliert: flexible Arbeitszeiten als Teil eines Arbeitssystems, das die Arbeitnehmer zu unangemessen langen Arbeitszeiten verpflichtet. Auf der anderen Seite manifestiert sich in demselben Sektor der Bekleidungsindustrie eine konträre Teilbedeutung, wenn der Chef der spanischen Modekette Mango sich an seinen flexiblen Arbeitszeiten erfreut und seiner Arbeit freiwillig bis zu zehn Stunden täglich widmet: 39. En esta línea se desenvuelve Enric Casi, director general desde 1996 de la multinacional española Mango, que cuenta ya con 6.500 empleados en todo el mundo y cuya facturación superó en 2006 los 1.250 millones de euros. Este directivo goza de un horario flexible y dedica 10 horas al día a su profesión. “Lo que más me gusta de mi trabajo es la oportunidad de crear y de influir en mi entorno positivamente”. (País, 28.10.2007, Un día en la vida del director)137 In den beiden Beispielen zeigt sich eine Dichotomie, die in dem Konzept der ›flexiblen Arbeitszeiten‹ enthalten ist: Flexible Arbeitszeit ist auf der einen Seite das individuelle Privileg einer bestimmten Klasse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern; auf der anderen Seite umfasst das Konzept der flexiblen Arbeitszeit auch die Teilbedeutung der ‘Ausbeutung einer bestimmten Gruppe von weniger privilegierten Arbeitnehmern’.138
136
Dt. Hinter diesen exotischen Ortsnamen [Sri Lanka, Tanger, Thailand, China] versteckt sich eine neue Form der Arbeitssklaverei, in der die Gewerkschaften Synonym für Entlassungen sind, die kostenlose ärztliche Versorgung ein Hirngespinst und die flexiblen Arbeitszeiten etwas, das sich unbegrenzt von Tagesanbruch zu Tagesanbruch erstreckt. So versichern es zwei ausführliche Berichte von Intermon Oxfam, in denen die Prekarität der Textilarbeiterinnen, sowohl in Spanien als auch in der restlichen Welt, gezeigt wird.
137
Dt. In dieser Linie steht Enric Casi, seit 1996 Direktor des spanischen multinationalen Konzerns Mango, der 6.500 Angestellte weltweit zählt und dessen Umsatz 2006 1.250 Millionen Euro überschritt. Dieser Direktor verfügt über flexible Arbeitszeiten und widmet seinem Beruf zehn Stunden täglich. „An meiner Arbeit gefällt mir besonders die Möglichkeit, Neues zu schaffen und mein Umfeld positiv zu beeinflussen“.
138
Diese Dichotomie wird in Kapitel 5.4.3.3 ausführlicher betrachtet.
94
5 Analyse der Korpora
Bewertung des Konzeptes Im spanischen Korpus manifestieren sich zwei unterschiedliche Formen der Flexibilisierung der Arbeitszeiten: 1. Die moderate Anpassung der Arbeitszeit mittels verschiedener Maßnahmen, die die Länge, den Beginn und das Ende des Arbeitstags oder die Pausenzeit und -dauer abwandeln. Dies kann auf kollektiver Ebene des Unternehmens stattfinden, wird häufig aber auch in Bezug auf den einzelnen Arbeitnehmer diskutiert. Diese Form der Flexibilisierung der Arbeitszeit findet sich sowohl im spanischen als auch im deutschen Korpus. Die Bewertung der Notwendigkeit changiert wie im deutschen Korpus von ‘auf individueller Ebene wünschenswert’ bis hin zu ‘unbedingt erforderlich, um weitere gesellschaftlich objektivierte Ziele (wie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, mehr Zeit für die Familie, frauenfreundlichere Unternehmensstrukturen) zu erreichen’. In der Argumentationsweise kann hier ein Unterschied zwischen dem deutschen und dem spanischen Korpus festgestellt werden. Während im deutschen Korpus grundsätzlich die Abhängigkeit von der Arbeitszeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird, und der Produktivität des Arbeitnehmers in Frage gestellt wird, betonen die spanischen Medientexte das Abhängigkeitsverhältnis von Produktivität und Anwesenheit am Arbeitsplatz: Gerade aber die lange Anwesenheit am Arbeitsplatz – und damit also zugleich die fehlende Flexibilität des Arbeitnehmers –, die mit dem Ausdruck des presentismo präzise gefasst wird, führe zu der geringen Produktivität, die die spanischen Unternehmen von den Unternehmen in anderen Ländern unterscheide (s. Beleg 25). 2. Die grundsätzliche Anpassung der Arbeitszeiten in Spanien im Zuge der Racionalización de los Horarios Españoles. Es stellt eine Besonderheit des spanischen Korpus dar, dass das Konzept ›flexibilizar los horarios‹ mit dem Konzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ verknüpft wird. Die Kernbedeutung der flexiblen Arbeitszeiten, die das spanische Korpus mit dem deutschen teilt, wird durch die Verknüpfung erweitert. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist hier eine Maßnahme unter weiteren, die dazu dienen soll, die Arbeitszeiten der spanischen Arbeitnehmer allgemein zu verändern; anstatt des langen Arbeitstages, der sich bis zwanzig Uhr hinziehen kann, sollen die Arbeitszeiten an die europäische Norm angepasst werden.139 Diese generelle Anpassung und „Flexibilisierung“ der Arbeitszeiten der spanischen Arbeitnehmer wird als unbedingt notwendige Umstellung bewertet, die nicht nur das Erreichen der bereits genannten gesellschaftlich objektivierten Ziele ermögliche, sondern auch die Produktivität der spanischen Unternehmen auf das Level der eu139
Diese Norm beschreibt der Präsident der Kommission der Racionalización de los Horarios Españoles, Ignacio Buqueras, als Arbeitstag, der zwischen 7:30 und 9 Uhr beginnt, eine Mittagspause von höchstens einer Stunde hat und vor 18 Uhr endet. Vgl. bspw. Mundo, 25.01.2009, „El mentidero. Ignacio Buqueras“, dt. Die Plauderecke. Ignacio Buqueras.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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ropäischen Konkurrenz erhöhe.140 Mit der Evaluierung des spanischen Arbeitstages gehen auch weitere Bewertungen einher, die den gesamten spanischen Tagesablauf (die Essenszeiten, das Fernsehprogramm oder die stattfindenden Fußballspiele) in Frage stellen – auf diese Bewertungen werde ich im folgenden Kapitel zum Subkonzept der ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ näher eingehen. Ergänzung: Leserkommentarkorpus Im spanischen Leserkommentarkorpus wird unter der Flexibilisierung der Arbeitszeit sowohl die moderate und individuelle Anpassung der Arbeitszeit – in Form eines veränderten Arbeitsbeginns, Arbeitsendes oder in Form von veränderten Pausenzeiten – als auch die generelle Veränderung der Arbeitszeiten auf Ebene des Gesamtunternehmens verstanden. Es dominiert kommentarübergreifend eine Bewertungsstruktur, nach der die Leser die Struktur des spanischen Arbeitsalltags als unvorteilhaft für die Arbeitnehmer, aber auch für die Produktivität des Unternehmens bewerten und die Flexibilisierung der Arbeitszeit als Lösung für die genannten Probleme einschätzen: 40. Ya era hora de que alguien se atreviera en este país a publicar en un periodico de nivel nacional una serie de articulos con labor de investigación de una de las mayores lacras de la sociedad española, la cultura del presentismo en la empresa privada, lo que hace falta es una renovación importante de las cupulas directivas de las empresas españolas con gente con nuevas ideas y nuevas mentalidades. Conocer y aceptar la enfermedad es el primer paso para curarla (Raul Dominguez, 29.07.2015 11:30 Uhr)141 41. En la lista que se publicó hace unos días, los países con menos horas de trabajo pero mayor productividad eran Alemania, Francia, Holanda. Los, por el contrario, con muchas horas “trabajadas” y poca productividad: Grecia, Portugal, Letonia y la ínclita España. (Enrique Fuentes, 29.07.2015 11:29 Uhr)142 Die Kultur des presentismo sei einer der schlimmsten Missstände der spanischen (Arbeits-)Kultur, der sich nur durch die Neubesetzung der Chefetagen mit Menschen mit neuen Ideen und Geisteshaltungen beheben lasse (Beleg 40). In Beleg 41 wird 140
Bewertungen in diesem Sinne werden im Medientextkorpus allerdings ausschließlich von der Kommission selbst formuliert.
141
Dt. Es war an der Zeit, dass sich jemand in diesem Land traut, in einer nationalen Zeitung eine Serie von Artikeln zu veröffentlichen, die sich mit einem der größten Missstände der spanischen Gesellschaft auseinandersetzen, der Kultur des presentismo in der Privatwirtschaft. Es braucht eine entscheidende Erneuerung der Führungsspitze der spanischen Firmen mit Menschen mit neuen Ideen und neuen Mentalitäten. Die Krankheit zu erkennen und zu akzeptieren, ist der erste Schritt, um sie zu heilen.
142
Dt. In der Liste, die vor einigen Tagen veröffentlicht wurde, waren die Länder mit den wenigsten Arbeitsstunden und der höchsten Produktivität Deutschland, Frankreich, Holland. Im Gegensatz dazu, mit vielen „Arbeits-“Stunden und wenig Produktivität: Griechenland, Portugal, Lettland und das berühmte Spanien.
96
5 Analyse der Korpora
darauf hingewiesen, dass Spanien trotz der vielen abgeleisteten Arbeitsstunden der Arbeitnehmer keinen vorderen Platz unter den produktivsten Ländern Europas belegt. Die Arbeitssituation in Spanien wird beschrieben als von langen Anwesenheitszeiten und wenig Produktivität geprägt. Als Mittel, um insbesondere das Problem des presentismo und damit einhergehend der geringen Produktivität zu lösen, wird die Flexibilisierung der Arbeitszeit genannt: 42. […] Luego está el tema del presentismo, que es distinto. En EEUU, se trabaja sobre la realidad de que hay unas horas en las que hay que estar en la oficina […] y luego uno siempre está disponible por email o teléfono fuera de horas para lo que pudiese pasar. Y en las horas intermedias la gente hace su vida. Al final la clave es flexibilidad, tanto por el empresario como por el empleado. (Some Guy, 29.07.2015 05:27 Uhr)143 In den Ländern, in denen bereits flexiblere Arbeitszeiten üblich sind, erhöhe sich auch die Produktivität.144 Das Konzept ›flexibilizar los horarios‹ wird in den spanischen Leserkommentaren deutlich positiver als im deutschen Leserkommentarkorpus bewertet: Während in den deutschen Leserkommentaren auf der Metaebene darauf hingewiesen wird, dass es sich bei der Benennung verschiedener Maßnahmen als „Flexibilisierung“ um einen semantischen Meisterstreich von Lobbyisten (und Arbeitgebern) handle, wird die Flexibilisierung in den spanischen Kommentaren als geeignete Lösung für verschiedene Probleme des spanischen Arbeitsmarktes angeführt. Die Argumentation der spanischen Leser ist von Kulturvergleichen und vom Sprechen über die eigene kulturelle Identität im Vergleich zu einer anderen geprägt. Verschiedene Länder wie die USA (Beleg 42) sowie Deutschland, Frankreich und Holland (Beleg 41) werden als Vorbilder bewertet. Spanisches Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ (dt. Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten) Das Konzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹, die Rationalisierung der Arbeitszeiten, aber auch des Tagesablaufs, wird mit allen spanischen Konzepten des Subthemas ZEIT verknüpft und prägt die spanische Berichterstattung. Eine besonders enge Verknüpfung besteht zu dem Konzept ›flexibilizar los horarios‹: In dessen Kontext wird die Rationalisierung der Arbeitszeit besonders häufig angesprochen und als eine Maßnahme der Flexibilisierung genannt. Das Subkonzept ›Racionalización de los 143
Dt. Dann ist da noch das Thema des presentismo, das ein anderes ist. In den USA arbeitet man in der Form, dass es einige Stunden gibt, in denen man im Büro sein muss, […] und außerhalb dieser Stunden ist man immer per E-Mail oder Telefon für jegliche Vorfälle erreichbar. In den Stunden dazwischen kümmert man sich um sein Leben. Am Ende ist Flexibilität der Schlüssel, für den Unternehmer wie auch für den Angestellten.
144
Vgl. auch paloma garcia, 29.07.2015 16:34 Uhr.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Horarios Españoles‹ findet sich nur im spanischen, nicht aber im deutschen Korpus, da es sich um ein Konzept handelt, dass sich aus den spezifischen historischen Ereignissen in Spanien entwickelt hat. Dem Konzept entspricht somit kein vergleichbares Konzept im Deutschen, es lässt sich aber unter dem konzeptuellen Zugriff FLEXIBILISIERUNG als Subkonzept dem deutschen Korpus gegenüberstellen. Die Suche nach „racionalizaci*“145 im Medientextkorpus ergibt 217 Treffer; die Analyse von ausgewählten Belegen wird im Folgenden dargestellt.146 Sprachliche Konstituierung Unter der Rationalisierung des Tagesablaufs und der Arbeitszeit ist die Umstellung der etablierten Arbeits- und Pausenzeiten der Berufstätigen zu verstehen. Mit der spezifischen Bezeichnung der „Racionalización de los Horarios“ wird des Weiteren das Bestreben der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles y su Normalización con los de los demás países de la Unión Europea147 beschrieben, die die Anpassung der Uhrzeit in Spanien in Form einer Rückkehr zu der ursprünglichen, geographisch zugeordneten Zeitzone (GMT) fordert: Mit einem Erlass Francisco Francos wurde 1942 die Angleichung der Zeitzone Spaniens an die benachbarte Mitteleuropäische Zeit (MEZ) Deutschlands und Italiens verfügt; seit 1942 hat Spanien – mit Ausnahme der Kanarischen Inseln (UTC) – Mitteleuropäische Zeit und ist damit mit der Uhrzeit nicht optimal auf den Sonnenstand ausgerichtet. Konzeptuelle Verknüpfungen Der Artikel „En España, siempre con ‚jet lag‘“ (dt. In Spanien, immer mit Jetlag, País, 26.09.2013) zeichnet ein Bild der prototypischen sprachlichen Verknüpfungen und Bewertungen der Rationalisierung.148 Die grundsätzliche Überlegung des Artikels, auf 145
Der Suchausdruck „racionalizaci*“ schließt sowohl die Schreibweisen „racionalización“ als auch „racionalizacion“ ein, die im Korpus beide nachgewiesen sind. Im Folgenden wird stets die Schreibweise „racionalización“ gewählt.
146
Der Ausdruck kann sich in einem allgemeinen Sinne auf die Rationalisierung eines Aspektes (bspw. Rationalisierung der Kosten), eines Sektors (bspw. Rationalisierung der Verwaltung) oder eines Prozesses (bspw. Rationalisierung der Arbeit) beziehen. Uns interessiert die Rationalisierung der Arbeitszeit, die im spanischen Korpus 83 Mal als solche benannt wird („racionalización de horarios (españoles)“ oder „racionalización de los horarios (españoles)“).
147
Dt. Nationale Kommission zur Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten und ihrer Normalisierung mit denjenigen der anderen Länder der Europäischen Union. Im Folgenden abgekürzt als Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles.
148
Da es sich bei der ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ um ein Konzept handelt, das fast ausschließlich in der spezifischen Bedeutung verwendet wird, die die Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles geprägt hat, lässt sich das Konzept – anders als Konzepte, die in unterschiedlichen Kontexten und von unterschiedlichen Akteuren in heterogenen Bedeutungen verwendet werden – anhand einzelner prototypischer Medientexte darstellen.
98
5 Analyse der Korpora
der die weiteren Verknüpfungen und Bewertungen aufbauen, ist, dass der Tagesablauf in Spanien „falsch“ sei und sowohl für die Arbeitnehmer wie auch für die Unternehmen Nachteile mit sich bringe: 43. Jornadas de trabajo maratonianas, baja productividad laboral, comidas y cenas tardías respecto al resto de Europa, menos tiempo para la vida personal y el descanso, problemas de conciliación familiar... Son las consecuencias que […] se derivan del sistema de horarios irracional que padece España. Una incongruencia que se remonta a 1942, cuando el país abandonó el huso horario que le corresponde, el mismo que Portugal y Reino Unido, para alinearse con el de Europa central. El documento consensuado por los grupos parlamentarios recomienda al Gobierno que estudie la posibilidad de retrasar el reloj 60 minutos para armonizar el horario español con el de los países vecinos. (País, 26.09.2013, En España, siempre con ‚jet lag‘)149 Die Nachteile, die am häufigsten genannt werden, sind die Länge des Arbeitstages, die niedrige Produktivität, die späteren Mittag- und Abendessenszeiten als in den restlichen Ländern Europas, weniger Zeit für Privatleben und Erholung sowie Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Berufsleben.150 Als Lösung wird die Rationalisierung der Arbeitszeit vorgeschlagen. Die Umstellung der Uhr soll dabei eine entscheidende Maßnahme sein; des Weiteren sei es allerdings auch notwendig, die etablierten Arbeits- und Pausenzeiten zu rationalisieren, also effizienter zu gestalten: 44. Retrasar los relojes es una medida de coste cero, subraya la profesora Chinchilla, aunque reconoce que por sí sola no basta. “Para que sea efectiva, tienen que cambiar también los horarios de trabajo. Fomentar la jornada continua, suprimir el descanso del desayuno y, sobre todo, hacer una parada como máximo de una hora para comer.“ […] Pero cambiar las costumbres horarias no es tan fácil como retrasar el reloj. (ebd.)151 149
Dt. Arbeitstage, die einem Marathon gleichen, niedrige Arbeitsproduktivität, späte Mittag- und Abendessen im Vergleich zum Rest Europas, wenig Zeit für Privatleben und Erholung, Probleme mit der Vereinbarkeit der Familie… Das sind die Konsequenzen, die […] aufgrund des vernunftwidrigen Systems der Arbeitszeiten entstehen, unter dem Spanien leidet. Eine Unvereinbarkeit, die zurückgeht auf das Jahr 1942, als das Land die ihm entsprechende Zeitzone (die Portugals und des Vereinten Königreiches) verließ, um sich an Zentraleuropa anzupassen. Das Dokument, auf das sich die parlamentarischen Gruppen einigten, empfiehlt der Regierung, die Möglichkeit zu erwägen, die Uhr 60 Minuten zurückzustellen, um die spanische Zeit auf die der Nachbarländer einzustellen.
150
Auch nachzulesen u. a. in „Un trabajo para vivir, no una vida para trabajar“ (País, 28.01.2010), „¿El fin del ‚una hora menos en Canarias‘?“ (Mundo, 26.09.2013) oder „Comer a las tres de la tarde“ (País, 28.04.2014).
151
Dt. Die Uhr zurückzustellen ist eine Maßnahme, die null Euro kostet, unterstreicht die Professorin Chinchilla, obwohl sie einräumt, dass diese allein nicht ausreiche. „Um effektiv zu sein, müssen sich auch die Arbeitszeiten ändern. Den durchgehenden Arbeitstag fördern, die Frühstückspause streichen und vor allen Dingen eine Mittagspause von höchstens einer Stunde einführen. […] Aber die Gewohnheiten des Arbeitstages zu ändern ist nicht so einfach, wie die Uhr zurückzustellen.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
99
Beide Maßnahmen, sowohl die Umstellung der Zeitzone als auch die Veränderung der kulturellen Gewohnheiten, sind notwendig. Die Umstellung der Uhrzeit wird als leichter durchführbar bewertet als die Veränderung der Gewohnheiten. Die Verknüpfungen, die von der Rationalisierung der Arbeitszeit zu weiteren Konzepten gezogen werden, zeigen sich in dem Artikel „¿El fin del ‚una hora menos en Canarias‘?“ (Mundo, 26.09.2013) besonders deutlich. Die Verknüpfungen werden in der folgenden Tabelle dargestellt: Verknüpfung: Rationalisierung und
Argument
1. Pünktlichkeit
Pünktlichkeit muss zum leitenden Prinzip werden.
2. ausreichend Schlaf
Spanier schlafen weniger als der europäische Durchschnittsbürger, was sowohl die Produktivität mindert als auch die schulischen Leistungen beeinträchtigt.
3. presentismo und Produktivität
Produktivität bemisst sich nicht nach der Zeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird, sondern nach den Ergebnissen.
4. Arbeitstag (Veränderung der Mentalität)
Lange Arbeitstage verringern die Lebensqualität der Angestellten und sind für die Unternehmen nicht rentabel.
5. Vertrauen in Arbeitnehmer
Das Verhältnis von Führung und Angestellten muss auf Vertrauen und Verbindlichkeit gründen, nicht auf der strengen Kontrolle der Arbeitszeiten.
6. Öffnungszeiten
Gewerbliche Öffnungszeiten sollen flexibel sein, allerdings ohne dass die in diesem Sektor angestellten Mitarbeiter auf ihre Freizeit verzichten müssen.
7. Fernsehen
Radio, Fernsehen und öffentliche Veranstaltungen sollten ihre Programmzeiten anpassen und die Primetime früher ansetzen.
8. Vereinbarkeit
Väter und Mütter sollten Zeit für ihre Kinder haben.
100
9. Wirtschaftskrise
5 Analyse der Korpora
Die Wirtschaftskrise lässt bestimmte Werte und Ziele als zweitrangig erscheinen, obwohl diesen eine Schlüsselrolle bei der Lösung der Probleme zukomme.
Tabelle 6: Konzeptuelle Verknüpfungen ›Racionalización de los Horarios Españoles‹
Mit der Rationalisierung werden Argumente verknüpft, die die Rationalisierung begründen. Verknüpfung 9 lässt sich in einem weiteren Artikel (País, 13.09.2011, La crisis no concilia) nachweisen: Hier wird die Wirtschaftskrise als Faktor ebenso mit dem Konzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ verknüpft. Durch den unmittelbaren Druck der Wirtschaftskrise werden die Prioritäten verschoben und Hochwerte wie die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben und die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die nicht unmittelbar auf die Produktivität wirken, für „Luxusgüter“ gehalten, obwohl gerade diese angeblichen „Luxusgüter“ Schlüsselfaktoren der Produktivitätssteigerung sein können. Bewertung des Konzeptes Die Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles bewertet den Arbeitstag in Spanien, der auf den kulturellen Traditionen und insbesondere auf dem Wechsel der Zeitzone 1942 basiere, als zu lange und falsch strukturiert. Sie verknüpft diese Bewertung argumentativ mit weiteren Konzepten, wobei die Rationalisierung, also die Umstellung und Optimierung des Tagesablaufs, als Lösung für die Probleme angegeben wird: Für die Lebensqualität der Arbeitnehmer sei die Rationalisierung vorteilhaft, da sie mehr Zeit für Familie, Privatleben und Erholung ermögliche; für die Unternehmen sei sie vorteilhaft, da sich durch die Rationalisierung die Produktivität der Mitarbeiter erhöhe. Die Vorteile auf Unternehmensseite sind dabei als Argument besonders gewichtig, da sie unerwartet sind (‘die Umstellung etablierter Strukturen zugunsten der Mitarbeiter ist auch für Unternehmen vorteilhaft’) und einem entscheidenden Gegenargument der Rationalisierung (‘im Angesicht der Krise können keine unnötigen Umstellungen vorgenommen werden’) entgegengehalten werden: ‘Die Rationalisierung sollte trotz des Hintergrunds der Krise nicht als Luxusmaßnahme abgetan werden, da sie letztendlich eine Steigerung der Produktivität bewirkt und damit den Weg aus der Krise aufzeigt.’ Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Umstellung der Uhrzeit nicht als isolierte Maßnahme funktionieren kann, sondern dass ein Wandel der Gewohnheiten und Einstellungen ebenso vonnöten, aber deutlich schwieriger ist (vgl. Beleg 44). Die Rationalisierung der Arbeitszeiten wird zumeist positiv bewertet – als Lösungsstrategie soll sie verschiedenen weiteren gesellschaftlichen Problemen (zu wenig Zeit
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
101
für die Familie, für das Privatleben, Schlafmangel) zuträglich sein. Die Verknüpfungen mit Hochwertausdrücken152 wie „Familie“, „Vertrauen“ oder „Produktivität“ verstärken diese positive Bewertung. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Kontext der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles auf die angenommenen positiven Auswirkungen einer Rationalisierung verwiesen wird und hierbei die Einschätzung der Kommission übernommen wird.
152
Vgl. Freitag 2013, 52: „Unter Hochwert-Konzept wird in Anlehnung an Fritz Hermanns (1994) ein Konzept verstanden, das sich aus Hochwert-Begriffen speist, d. h. das Hochwert-Wörter wie beispielsweise „Freiheit“ oder „Gleichheit“ etc. beinhaltet, welche als konsensual positiv besetzt gelten.“ Vgl. dazu auch Janich 2010.
Metadiskursive Deutung
Befund
kulturspezifisches Konzept
‘Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine Maßnahme im Rahmen der Racionalización de los Horarios Españoles:
a. Die Flexibilisierung soll den spanischen Tagesablauf verbessern und produktiver gestalten.
kulturspezifische Verknüpfungen
Schwerpunkt weibliche Arbeitnehmer
Verknüpfung mit Hochwertkonzept ›Familie‹
‘Die Flexibilisierung der Arbeitszeit wirkt sowohl dem presentismo als auch dem absentismo entgegen und erhöht die Produktivität der Mitarbeiter und der Unternehmen.’ Das Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ ist relevant. Es ist im spanischen Korpus diskursprägend und bestimmt das Sprechen über flexible Arbeitszeiten und Produktivität.
Flexible Arbeitszeiten dienen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und dabei insbesondere weiblichen Arbeitnehmern. Ihr Fehlen wird als Grund für die mangelnde Vereinbarkeit angegeben, womit die Dringlichkeit der Umsetzung betont wird.
‘Besonders Frauen profitieren von der Flexibilisierung, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördert. Flexible Arbeitszeiten unterstützen Frauen dabei, sich über ihre Rolle in der Familie hinaus zu emanzipieren.’
‘Das Fehlen von flexiblen Arbeitszeiten führt dazu, dass die Frau sich zwischen ihrer Rolle als Mutter und als Arbeitnehmerin entscheiden muss.’
Die Konzepte ›flexible Arbeitszeiten‹ und ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ werden verknüpft. Der Aspekt der Kinderbetreuung wird seltener als im Deutschen genannt.
‘Flexible Arbeitszeiten (und Heimarbeit) sind Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie vereinfachen. Das Fehlen von flexiblen Arbeitszeiten ist ein Grund für die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie.’
‘Die Flexibilisierung der Arbeitszeit umfasst meistens die Anpassung der Länge, des Beginns oder des Endes der Arbeitszeit und der Pausenzeiten oder -dauer.’
zeitliche (und gelegentlich räumliche) Anpassung der Arbeitsbedingungen
›flexibilizar los horarios‹ (dt. die Arbeitszeiten flexibilisieren) Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 7: Konzept ›flexibilizar los horarios‹
102 5 Analyse der Korpora
b. Sie ist notwendig als generelle Veränderung der Arbeitszeiten auf Ebene des Gesamtunternehmens, da diese sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Produktivität des Unternehmens unvorteilhaft sind.’
a. Sie ist vorteilhaft als moderate und individuelle Anpassung der Arbeitszeit (veränderter Arbeitsbeginn, verändertes Arbeitsende oder veränderte Pausenzeiten).
‘Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine Lösung für die Probleme des spanischen Arbeitstages:
Leserkommentarkorpus
b. bezeichnen die Ausbeutung einer anderen Gruppe von weniger privilegierten Arbeitnehmern.’
≠
a. sind das individuelle Privileg einer Klasse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
‘Flexible Arbeitszeiten
c. unbedingt notwendig, um die spanische Gesellschaft in den richtigen Rhythmus zu bringen (vgl. Racionalización de los Horarios Españoles) und die Produktivität der spanischen Unternehmen auf das Level der europäischen Konkurrenz zu erhöhen.’
b. notwendig, um weitere gesellschaftlich objektivierte Ziele (wie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, mehr Zeit für die Familie, frauenfreundlichere Unternehmensstrukturen) zu erreichen.
a. auf individueller Ebene wünschenswert.
‘Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist als Maßnahme
b. Die Flexibilisierung soll den spanischen Tagesablauf korrigieren, der seit 1942 aus dem Rhythmus geraten ist.’
Das Konzept ›flexibilizar los horarios‹ wird in den spanischen Leserkommentaren deutlich positiver bewertet als das Konzept ›flexible Arbeitszeiten‹ im deutschen Leserkommentarkorpus. Die Flexibilisierung dient als Lösung des kulturspezifischen Problems des Tagesablaufs in Spanien.
Im Diskurs selbst wird thematisiert, dass unter der Bezeichnung der „horarios flexibles“ Verschiedenes verstanden wird. Dies fällt im spanischen Korpus am Bsp. der Bekleidungsindustrie auf, einem Sektor, der in Spanien besonders produktionsstark ist.
Flexible Arbeitszeiten werden positiv und als unbedingt umzusetzen bewertet.
kulturspezifische Bewertung
positivere Bewertung als in deutschen Leserkommentaren
Metaebene
Unterschiede auf Sachverhaltsebene → unterschiedliche Konzeptkonstituierung
wirtschaftliche Effizienz/ Wirtschaftspolitik
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten
Individualität
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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d. Die Arbeitnehmer können Beruf und Familie nicht vereinbaren.
c. Den Arbeitnehmern bleibt zu wenig Zeit für Privatleben und Erholung.
b. Das Abendessen findet zu spät statt und kann eventuell nicht mit der Familie eingenommen werden.
a. Die Arbeitnehmer verbringen zu viel Zeit am Arbeitsplatz. Dies begünstigt den presentismo: Arbeitgeber setzen nicht auf Vertrauen in die Arbeitnehmer, sondern auf Kontrolle der Anwesenheit.
‘Der falsche Tagesablauf bringt Nachteile für die Arbeitnehmer mit sich:
B. ‘Der Tagesablauf in Spanien beruht auf kulturellen Traditionen. Die Veränderung von kulturellen Traditionen, Mentalitäten und Einstellungen ist schwierig.’
A. ‘Der falsche Tagesablauf resultiert aus der Zeitumstellung 1942, mit der die Zeitzone Spaniens an die Zeitzone des faschistischen Deutschlands (MEZ, UTC+1) angepasst wurde. Der veränderte Sonnenstand je nach Tageszeit führt zu anderen Tagesabläufen als in anderen Ländern. Die Umstellung der Zeit im Rahmen der Racionalización de los Horarios Españoles stellt die Zeitzone Spaniens richtig.’
Nachteile für die Arbeitnehmer sind auch Nachteile für Arbeitgeber.
Argumentation B: Kulturelle Muster können nur schwer verändert werden.
Argumentation A (der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles): Der Tagesablauf in Spanien resultiert aus der falschen Zeitzone. Die Umstellung der Zeitzone ist die Lösung.
Metadiskursive Deutung
Befund
‘Der Tagesablauf in Spanien ist falsch: Es wird zu spät mit der Arbeit begonnen, es werden zu viele Pausen gemacht, das Mittagessen findet zu spät statt und dauert zu lange. Der Arbeitstag ist insgesamt zu lang.’
Umstellung der etablierten Arbeits- und Pausenzeiten der Berufstätigen; insbesondere das Bestreben der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles y su Normalización con los de los demás países de la Unión Europea, die die Rückkehr zu der ursprünglichen und geographisch zugeordneten Zeitzone (WEZ, UTC+0) in Spanien anstrebt
›Racionalización de los Horarios Españoles‹ (dt. Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten)
wirtschaftliche Effizienz
Nachteile für Arbeitnehmer und -geber
Diskurshoheit eines Akteurs
historisch bedingte Kulturspezifik und Selbstkritik (Kritik an der eigenen Kultur und Mentalität; Veränderungswunsch)
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Subkonzept
Tabelle 8: Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹
104 5 Analyse der Korpora
e. Die Arbeitnehmer schlafen zu wenig.’
da die Arbeitnehmer unproduktiv sind.
Die Rationalisierung der Arbeitszeit wird mit den Hochwertkonzepten ›Familie‹, ›Vertrauen‹ und ›Produktivität‹ verknüpft. Die Comisión und ihr Vorsitzender Ignacio Buqueras betonen diese Vorteile und prägen damit den Diskurs. Die Argumentation widerspricht sich, es wird keine Lösung angeboten, die beides bietet. Das Konzept ›Kindeswohl‹ wird als Hochwert verknüpft. Die Krise wirkt als hemmender Faktor, obwohl umgekehrt die Rationalisierung den Weg aus der Krise ebnen könnte.
‘Die Geschäfte sollten so geöffnet sein, dass sie ein Einkaufen nach dem Arbeitstag erlauben, ohne die Mitarbeiter zu langen Arbeitszeiten auszusetzen.’
‘Das Fernsehprogramm und die Veranstaltungen sind auf den falschen Tagesablauf ausgerichtet und müssen verändert werden, damit die Arbeitnehmer, aber auch die Kinder früher zu Bett gehen.’
‘Die Wirtschaftskrise lässt die Rationalisierung der Arbeitszeit als nicht dringend erscheinen, obwohl sie eine Schlüsselfunktion auf dem Weg aus der Krise einnimmt.’
Vorteile der Rationalisierung für Arbeitnehmer sind zugleich auch Vorteile für Arbeitgeber/Unternehmen, da zufriedenere Arbeitnehmer bessere Arbeit leisten.
‘Die Rationalisierung fördert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das Vertrauen am Arbeitsplatz und die Produktivität am Arbeitsplatz.’
c. die Arbeitszeit damit produktiver gestaltet wird.’
b. weniger Pausen und kürzere (Mittags-)Pausen gemacht werden.
a. die Uhrzeit umgestellt wird und sich damit der Tagesablauf verändert (Beginn des Tages, Ende des Tages). Dieser wird damit an die europäische Norm (die in produktiveren Nachbarländern herrscht) angepasst.
‘Die Rationalisierung der Arbeitszeit behebt die genannten Probleme, indem
b.-e. da das Wohlbefinden der Arbeitnehmer sinkt und damit auch die Produktivität.’
a.
‘Die Nachteile für die Arbeitnehmer wirken sich negativ auf die Unternehmen aus,
wirtschaftliche Krise als Faktor
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Agonalität
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten
wirtschaftliche Effizienz
Vorteile für Arbeitnehmer und -geber
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
105
Konzeptsynthese zeitliche (und gelegentlich räumliche) Anpassung der üblichen Arbeitsbedingungen bspw. Anpassung der Länge, des Beginns oder des Endes der Arbeitszeit und der Pausenzeiten oder -dauer
Konzeptsynthese
zeitliche (und gelegentlich räumliche) Anpassung der üblichen Arbeitsbedingungen
bspw. Teilzeitarbeit, Gleitzeit, Elternzeit, Sabbaticals, frühzeitiger Ruhestand, Homeoffice
VEREINBARKEIT VON BERUF UND FAMILIE - Flexible Arbeitszeiten sind eine Maßnahme unter weiteren, um die Unternehmen familienfreundlicher und speziell frauenfreundlicher zu gestalten.
UNTERNEHMEN - Einige Unternehmen, v. a. Großunternehmen, bieten flexible Arbeitszeiten an.
MITARBEITER - Mitarbeiter wünschen sich flexible Arbeitszeiten. Einige nehmen diese jedoch aus Angst vor einem Karriereknick nicht in Anspruch.
KINDERBETREUUNG - Flexible Arbeitszeiten werden als eine Maßnahme neben weiteren, wie z. B. Kinderbetreuung, beschrieben.
Sprachliche Verknüpfungen
EMANZIPATION - Frauen profitieren besonders von der Flexibilisierung, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie vereinfacht.
VEREINBARKEIT VON BERUF UND FAMILIE - Flexible Arbeitszeiten vereinfachen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das Fehlen von flexiblen Arbeitszeiten ist ein Grund für die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Sprachliche Verknüpfungen
Die Konzepte ähneln sich stark. Die prototypisch genannten Maßnahmen der Flexibilisierung unterscheiden sich.
›flexibilizar los horarios‹
›flexible Arbeitszeiten‹
Tabelle 9: Vergleich FLEXIBILITÄT
106 5 Analyse der Korpora
Die Konzepte des Deutschen und des Spanischen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer konzeptuellen Verknüpfungen und Bewertungen. Sie weisen jedoch auch starke Überschneidungen auf. Keines der Konzepte kann insofern als Kulturem gelten.
Kulturspezifik
Leserkommentarkorpus - Auch in den Leserkommentaren werden flexible Arbeitszeiten unterschiedlich bewertet: Die individuelle Situation der Arbeitnehmer wird in den Vordergrund gestellt und es wird betont, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber verschiedene Dinge unter flexiblen Arbeitszeiten verstehen.
Leserkommentarkorpus - Die Flexibilisierung der Arbeitszeit wird positiv bewertet: als Lösung für die Probleme des spanischen Arbeitstages auf individueller und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene.
- Die Flexibilisierung der Arbeitszeit wird positiv bewertet, da sie auf individueller Ebene wünschenswert ist und darüber hinaus notwendig, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Emanzipation zu fördern sowie den spanischen Tagesablauf zu korrigieren.
- Flexible Arbeitszeiten und die darunter verstandenen Maßnahmen werden positiv bewertet, da sie familienfreundliche, frauenfreundliche und väterfreundliche Unternehmensstrukturen schaffen. Sie werden von einigen Unternehmen umgesetzt und von einigen Arbeitnehmern angenommen. Von anderen Arbeitnehmern werden sie nicht in Anspruch genommen.
- Flexible Arbeitszeiten und die darunter verstandenen Maßnahmen werden negativ bewertet, da sie zu mehr unbezahlten Überstunden führen können, die Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit erschweren und zu Stress sowie Burn-Out führen können. In einigen Berufen ist dies bereits so.
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
RATIONALISIERUNG - Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine Maßnahme im Rahmen der Racionalización de los Horarios. PRESENTISMO/ABSENTISMO - Die Flexibilisierung der Arbeitszeit wirkt sowohl dem presentismo als auch dem absentismo entgegen. BEKLEIDUNGSSEKTOR - Häufig sind flexible Arbeitszeiten das Privileg einer elitären Klasse von Führungskräften. Auf der anderen Seite wird unter dem Vorwand der „flexiblen Arbeitszeiten“ eine Klasse von nicht privilegierten Arbeitnehmern ausgebeutet.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
107
108
5 Analyse der Korpora
5.2.3.2 Konzeptueller Zugriff ANWESENHEIT 5.2.3.2.1 Spanisches Konzept ›presentismo‹ Der Ausdruck „presentismo“ (dt. Präsentismus) fiel zunächst in der qualitativen Analyse der Leserkommentare auf. Die anschließende Prüfung des Medientextkorpus ergab, dass der Ausdruck auch dort von Relevanz ist; der Ausdruck findet sich im spanischen Medientextkorpus 73 Mal (0.67/Million). Zusätzlich findet sich im Medientextkorpus auch der Ausdruck „presencialismo“ mit fünf Belegen.153 Sprachliche Konstituierung Mit den Ausdrucksformen wird in den spanischen Medientexten und in den Leserkommentaren (vgl. Ergänzung: Leserkommentarkorpus, S. 120) das Phänomen bezeichnet, dass spanische Arbeitnehmer täglich lange am Arbeitsplatz anwesend sind, ohne jedoch notwendigerweise produktiv zu arbeiten: 45. Hay que acabar con la cultura del presentismo, o sea, estar presente en el trabajo sin que eso se traduzca en rendimiento. (País, 01.03.2007, El Congreso propone que se den incentivos para que los hombres concilien la vida laboral y familiar)154 46. Pero en España está todavía muy extendida la cultura del presentismo, es decir, de tener que estar un determinado número de horas en el puesto de trabajo, lo que “no es sinónimo de una mayor productividad” (Mundo, 15.11.2010, El PP propone actividades extraescolares para conciliar)155 Die zwei Belege geben an, dass die große Anzahl der Stunden, die am Arbeitsplatz verbracht 153
In neun der 73 Belege wird mit dem Ausdruck nicht das beschriebene Phänomen bezeichnet, sondern auf eine Strömung hingewiesen, in der die Gegenwart im Vergleich zu Vergangenheit und Zukunft als ausschlaggebend bewertet wird. Vgl. bspw. „A eso, hay que sumar […] lo que los expertos llaman el ‚presentismo‘, la reforzada predisposición a aprovechar el momento, ‚aquí y ahora‘, en cualquier ámbito de la vida cotidiana.“ (dt. Dazu muss man summieren […] was Experten „presentismo“ nennen, die verstärkte Prädisposition, den Moment, das „Hier und Jetzt“ in jedem Bereich des täglichen Lebens auszunutzen. País, 22.06.2009, Generación “ni-ni”: ni estudia ni trabaja). Hier bezeichnet der Ausdruck die Prädisposition einer Generation, im Moment zu leben – bedingt allerdings durch die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Kapitel 5.4.3.2.2). Mit dem Ausdruck „presentismo“ wird sprachspielerisch auf zwei Teilbedeutungen des Stammausdrucks „presente“ (Nomen „el presente“, dt. die Gegenwart, Adjektiv „presente“, dt. anwesend, gegenwärtig) referiert: Während mit „presentismo“ im Sinne der Präsenz am Arbeitsplatz die Teilbedeutung ‘anwesend’ aktualisiert wird, wird im anderen Fall die Teilbedeutung ‘gegenwärtig’ in den Fokus gerückt. In den folgenden Ausführungen wird die erstgenannte und deutlich häufiger vorkommende Teilbedeutung besprochen.
154
Dt. Man muss die Kultur des presentismo beenden, nämlich: bei der Arbeit anwesend zu sein, ohne dass sich dies in der Leistung widerspiegelt.
155
Dt. Aber in Spanien ist die Kultur des presentismo noch immer sehr verbreitet. Das heißt, eine bestimmte Anzahl von Stunden am Arbeitslatz sein zu müssen, was „nicht Synonym für eine höhere Produktivität ist“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
109
werden, nicht mit einer höheren produktiven Leistung gleichzusetzen ist. In beiden Belegen wird dem Ausdruck „presentismo“ nachfolgend eine Erläuterungsformel, „es decir“ (dt. das heißt) und „o sea“ (dt. das heißt, nämlich, und zwar), angeschlossen, die die Paraphrase des Ausdrucks einleitet. Der Ausdruck scheint demzufolge noch nicht in den allgemeinen Wortschatz des Spanischen aufgenommen zu sein.156 Dieser Eindruck bestätigt sich in der weiteren Analyse der Belege: Im Kotext des Ausdrucks „presentismo“ finden sich vermehrt Marker, die darauf hinweisen, dass der Ausdruck erläuterungsbedürftig ist; so wird eine verdichtete Bedeutungserklärung mit den genannten Erläuterungsformeln angeschlossen oder in Klammern, nach einem Doppelpunkt oder in Gedankenstrichen angefügt.157 In einem Beleg wird der Ausdruck auch dezidiert als neues Phänomen bezeichnet, das im Kontext der Krise zunehme (Mundo, 20.01.2011, La crisis perjudica seriamente la salud). Die gelegentliche Rahmung des Ausdrucks „presentismo“ mit Anführungszeichen und mit dem Distanzmarker „el llamado“ (dt. der sogenannte) weisen ebenfalls darauf hin, dass es sich entweder um einen neuen, noch nicht etablierten – und damit erläuterungsbedürftigen – Ausdruck handelt oder dass ein bereits mit einer Teilbedeutung besetzter Ausdruck für ein neues Konzept verwendet wird. Alternativ markieren die Anführungszeichen und Distanzmarker, dass es sich um ein Zitat handelt oder dass sich der Emittent von dem Ausdruck distanziert. Konzeptuelle Verknüpfungen Nach Abzug der neun Belege, die ein alternatives Konzept zu dem hier vorgestellten bezeichnen und deshalb in der vorliegenden Studie ausgelassen werden, ergeben sich 64 relevante Textstellen. Diese eingeschränkte Trefferanzahl ermöglicht es, alle Belegstellen qualitativ zu betrachten. Zunächst wurde dabei der unmittelbare Kotext des Ausdrucks analysiert; anschließend wurde die Einbettung des Ausdrucks in den Absatz und den Gesamttext betrachtet, wobei besonders die Überschriften als Indikatoren für die Verknüpfung des Konzeptes angenommen wurden. Bei der Durchsicht der Belegstellen und den zugeordneten Überschriften fällt auf, dass das Konzept des ›presentismo‹ kaum zum Hauptgegenstand der Artikel gemacht wird. In einem einzigen Fall findet sich der Ausdruck bereits in der Überschrift und wird hier neben sein Gegenüber, den „absentismo“ (dt. Abwesenheit, Fernbleiben von der Arbeit) gestellt.158 In diesem Artikel findet sich der Ausdruck „presentismo“ dreimal. In 55 der insgesamt 64 Artikel, die den Ausdruck enthalten, findet sich der Ausdruck 156
Der Blick in den DRAE und den DPD bestätigt dies: Für „presentismo“, „presencialismo“ und „presencismo“ finden sich keine Einträge (vgl. http://www.rae.es/ letzter Zugriff 28.10.2017 12:00 Uhr).
157
Die genannten Anschlussformeln und Satzzeichen können korpusanalytisch dazu genutzt werden, nach Konzeptverdichtungen zu suchen. Bspw. „es decir“ (dt. das heißt).
158
Vgl. País, 15.12.2011, „Del absentismo al ‚presentismo‘“. Der Artikel wird im Abschnitt zu der Verknüpfung von ›presentismo‹ und ›absentismo‹ zitiert.
110
5 Analyse der Korpora
nur ein einziges Mal. Das Phänomen des presentismo stellt damit in der Mehrzahl der Artikel nicht den Hauptgegenstand der Berichterstattung dar, sondern wird vielmehr im Kontext anderer Themen und Konzepte erwähnt und mit diesen verknüpft. Das Konzept des ›presentismo‹ ist demzufolge besonders stark von seinen Verknüpfungen mit den folgenden Konzepten geprägt. -
›presentismo‹ und ›Produktivität‹ ›presentismo‹ und ›absentismo‹ ›presentismo‹, ›Flexibilität‹ und ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ ›presentismo‹, ›Krise‹ und ›Krankheit‹ ›presentismo‹ als ›kulturelles Phänomen‹
Abb. 11: Konzept ›presentismo‹ und Verknüpfungen
Die Abbildung zeigt die Verknüpfungen im Überblick. Auf den folgenden Seiten werden diese anhand von Textbeispielen vorgestellt.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
111
›presentismo‹ und ›Produktivität‹ Die beiden Konzepte ›presentismo‹ und ›Produktivität‹ sind im spanischen Korpus eng verknüpft, dies zeigte sich bereits in der Beschreibung der sprachlichen Konstituierung (Beleg 45 und 46). Es handelt sich also um einen zentralen Bedeutungsaspekt des Konzeptes ›presentismo‹: Die lange Anwesenheit am Arbeitsplatz wirkt sich maßgeblich auf die Produktivität der Arbeitnehmer aus und führt dazu, dass diese wenig produktiv sind, so der Tenor der Medientexte.159 Es wird des Weiteren wiederholt darauf hingewiesen, dass es sich um ein Phänomen handelt, das besonders in Spanien von Relevanz ist: 47. Y recuerdan que en España se sigue considerando erróneamente el presentismo como sinónimo de productividad. (País, 11.10.2011, Se cambia acueducto por pequeños puentes)160 Der spanischen Unternehmenskultur wird vorgeworfen, an einem veralteten Arbeitszeitmodell festzuhalten (vgl. Verknüpfung ›presentismo‹ als ›kulturelles Phänomen‹). ›presentismo‹ und ›absentismo‹ Im Korpus findet sich ein Beleg, in dem der Ausdruck „presentismo“ an zentraler Stelle vorkommt: In der Überschrift „Del absentismo al ‚presentismo‘“ (País, 15.12.2011) werden die Konzepte ›absentismo‹ – das Fernbleiben von der Arbeit – und ›presentismo‹ verknüpft. Der Artikel beschäftigt sich mit der Frage, ob die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, die durch die Krise verstärkt wurde, dazu führt, dass die Mitarbeiter seltener fehlen und damit die Produktivität des Unternehmens erhöhen; oder ob die Angst vielmehr dazu führt, dass sich die Fehlzeiten verringern, sich dabei aber keine erhöhte Produktivität der Mitarbeiter einstellt, da diese vom sogenannten absentismo direkt zum presentismo übergehen. Das entscheidende Argument, das angeführt wird, ist, dass die Anwesenheit am Arbeitsplatz allein nicht bedeute, dass der Mitarbeiter produktiv arbeite. Insbesondere für Tätigkeiten, in denen kreativ gearbeitet werden müsse, sei Kontrolle und Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes lähmend. Die Verknüpfung zwischen absentismo und presentismo ist also dadurch gekennzeichnet, dass beide Phänomene zu weniger Produktivität und weniger Kreativität am Arbeitsplatz führen. Sie werden dabei als gegenüberliegende Extreme definiert, die beide nicht mehr zeitgemäß sind: 48. El presentismo —y su otra cara, el absentismo— pasan de moda. No sólo porque ya no se lleva ir de agobiado, sino porque se impone hacer bien el trabajo, ser 159
Vgl. auch Mundo, 19.12.2010, „¿Es realmente necesario que vayamos a la oficina?“ und Mundo, 17.10.2015, „Quién se quedará al frente del nuevo mercado de trabajo“.
160
Dt. Und sie erinnern daran, dass man in Spanien noch immer fälschlicherweise den presentismo als gleichbedeutend mit Produktivität betrachtet.
112
5 Analyse der Korpora
profesional y conseguir mejores resultados, haciendo cosas diferentes para conseguir los objetivos. (Mundo, 21.03.2015, Vida personal y profesional ¿Conciliación o integración?)161 Beide Konzepte stehen der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (siehe Kapitel 5.2.3.3.1) sowie der Produktivitätssteigerung (siehe Kapitel 5.2.3.5.2) der Unternehmen im Wege. Sie sollten deshalb durch bestimmte Reformen des Arbeitsmarktes (insbesondere die Flexibilisierung desselben) und durch eine Veränderung in der Mentalität der Arbeitgeber und -nehmer verhindert werden. ›presentismo‹, ›Flexibilität‹ und ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ Das Konzept ›presentismo‹ wird häufig in Artikeln genannt, die sich mit dem Konzept der ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ auseinandersetzen. So wird in beiden bereits zitierten Artikeln „El Congreso propone que se den incentivos para que los hombres concilien la vida laboral y familiar“ (País, 01.03.2007, vgl. Beleg 45) und „Vida personal y profesional ¿Conciliación o integración?“ (Mundo, 21.03.2015, vgl. Beleg 48) festgestellt, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch den presentismo verhindert wird. Auch der folgende Beleg beschreibt, dass der presentismo das entscheidende Problem ist, das der notwendigen Vereinbarkeit von Privatleben, Familienleben und Arbeitsleben im Weg steht: 49. “Y lo lamentable es que este presentismo dificulta enormemente la necesaria conciliación entre vida personal, familiar y laboral de los trabajadores, provocándoles estrés y tensiones, lo que merma su calidad de vida y su rendimiento profesional” (País, 30.09.2007, Hartos de “calentar la silla”)162 163 Der presentismo sei dabei besonders für Frauen und jüngere Arbeitnehmer problematisch.164 Als Lösung für die zu langen und unproduktiven Arbeitszeiten, die auch dem übergeordneten Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zuträglich ist, wird das Konzept der ›Flexibilisierung der Arbeitszeiten‹ genannt, das insofern ebenfalls mit dem Konzept ›presentismo‹ verknüpft ist. 161
Dt. Der presentismo – und sein anderes Gesicht, der absentismo – sind aus der Mode gekommen. Nicht nur weil man sich nicht mehr mit Arbeit überarbeitet, sondern weil man sich auferlegt, die Arbeit gut zu machen, professionell zu sein und bessere Ergebnisse zu erzielen, indem Dinge anders gemacht werden, um die Ziele zu erreichen.
162
Dt. Und das Bedauerliche ist, dass dieser presentismo die notwendige Vereinbarkeit von Privat-, Familienund Berufsleben der Angestellten enorm erschwert, indem er Stress und Spannungen verursacht, die ihre Lebensqualität und professionelle Leistungsfähigkeit verringern.
163
Es handelt sich bei der zitierten Textstelle um ein Zitat von Ignacio Buqueras, dem damaligen Präsident der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles. Auf seine Rolle als diskursprägende Autorität gehe ich im Anschluss ein (vgl. S. 115-117).
164
Vgl. Mundo, 21.02.2011, „La reforma más necesaria“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
113
50. […] “la palabra clave es flexibilidad... Un mercado flexible y una empresa flexible, regida por resultados y no por el presentismo” (Mundo, 27.02.2011, Cuando la mujer llega y manda)165 ›presentismo‹, ›Krise‹ und ›Krankheit‹ Eine weitere Verknüpfung besteht zwischen den Konzepten ›presentismo‹ und ›Krise‹, die die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes verstärkt. 51. “Con la crisis ha aumentado mucho el presentismo”, lamenta la sindicalista, “lo que implica que mucha gente va a trabajar estando enferma por miedo a perder su puesto de trabajo” (País, 29.01.2013, Trabajar y cuidar la salud no deben ser tareas incompatibles)166 167 Bei der genaueren Analyse der Belege ergibt sich, dass die Argumentation zwei verschiedenen Mustern folgt: Erstens, die Krise schürt die Angst der Arbeitnehmer vor einer Entlassung. Diese Angst kann zunächst den kurzfristig positiven Effekt haben, dass der absentismo, das Fehlen am Arbeitsplatz, nachlässt. Sie kann des Weiteren aber dazu führen, dass die Arbeitgeber den Arbeitsplatz auch dann aufsuchen, wenn sie krank sind und besser zu Hause blieben. In diesem Fall werde der absentismo direkt vom presentismo abgelöst: 52. Tengo miedo a que me despidan ergo trabajo más. O bien: tengo miedo a que me despidan y la angustia me paraliza. ¿Es el miedo un catalizador para que el empleado aumente su productividad en la empresa? Hay un dato objetivo: con la crisis, el absentismo laboral ha bajado. La cuestión es si todo es producto de la reducción del fraude, como defienden empresarios y algunos expertos, o como explican sindicatos y académicos es también porque el pánico a quedarse en la calle lleva a muchos trabajadores a ocupar su puesto incluso cuando tendrían derecho a no hacerlo. ¿El miedo nos lleva del absentismo al presentismo? (País, 15.12.2011, Del absentismo al “presentismo”)168 165
Dt. „Das Schlüsselwort ist Flexibilität… Ein flexibler Arbeitsmarkt und ein flexibles Unternehmen, das von Resultaten geleitet wird und nicht vom presentismo“.
166
Dt. „Mit der Krise hat auch der presentismo stark zugenommen“, beklagt die Gewerkschaftlerin, „was bedeutet, dass viele Menschen arbeiten gehen, obwohl sie krank sind, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren“.
167
Vgl. auch País, 17.09.2013, „Cuando el ojo que todo lo ve es el del jefe“.
168
Dt. Ich habe Angst, entlassen zu werden, also arbeite ich mehr. Oder auch: Ich habe Angst, entlassen zu werden, und die Angst lähmt mich. Ist die Angst ein Katalysator dafür, dass der Angestellte seine Produktivität im Unternehmen erhöht? Es gibt eine objektive Zahl: Mit der Krise hat das Fernbleiben vom Arbeitsplatz abgenommen. Die Frage ist, ob alles ein Produkt der Reduzierung des Betrugs ist, wie es Unternehmer und einige Experten behaupten. Oder ob es so ist, weil die Angst, auf der Straße zu landen, viele Angestellte dazu bringt, ihren Arbeitsplatz nicht zu verlassen, auch wenn sie das Recht dazu hätten, nicht vor Ort sein zu müssen. So erklären es Gewerkschaften und Wissenschaftler. Treibt uns die Angst
114
5 Analyse der Korpora
Die Krise fördert den presentismo, wenn sie den Arbeitnehmer dazu bringt, den Arbeitsplatz im Krankheitsfall aufzusuchen, auch wenn er nicht in der Lage ist, seinen Aufgaben nachzukommen. Im schlimmsten Fall führt dies dazu, dass der kranke Arbeitgeber seine Kollegen ansteckt. Die Argumentation kann aber auch einem zweiten Muster folgen: In Zeiten der Krise verstärkt sich das Phänomen des presentismo am Arbeitsplatz aufgrund der Angst der Arbeitnehmer vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Die lange Anwesenheit am Arbeitsplatz und der entstehende Stress können zu gesundheitlichen Problemen führen: 53. Juan Oliva, profesor de Análisis Económico y Finanzas de la Universidad de Castilla-La Mancha y coeditor del informe, advertía ayer de que en época de crisis “aumenta” el presentismo laboral, un nuevo fenómeno que consiste en acudir a trabajar, a pesar de no estar en condiciones, por miedo a perder el empleo. Esto provoca “patologías diversas y trastornos mentales a largo plazo, como la depresión y la ansiedad”. (Mundo, 20.01.2011, La crisis perjudica seriamente la salud)169 170 In diesem zweiten Fall ist es also der presentismo, der die Arbeitnehmer krank macht. In beiden Fällen werden die Konzepte ›presentismo‹ und ›Krise‹ in einen engen Zusammenhang mit dem Konzept ›Gesundheit des Arbeitnehmers‹ gestellt: Es ist zu unterscheiden zwischen 1. Fällen, in denen die Krise die Angst des Arbeitnehmers vor der Arbeitslosigkeit verstärkt, sodass dieser auch krank am Arbeitsplatz erscheint, dort allerdings nicht produktiv arbeitet, und 2. Fällen, in denen die Krise längere und unproduktive Anwesenheitszeiten am Arbeitsplatz hervorruft, die den Arbeitnehmer erkranken lassen. ›presentismo‹ als ›kulturelles Phänomen‹ Bei der Betrachtung der Belegstellen fallen die Kollokationen „cultura de/del presentismo“ (dt. Kultur des presentismo, 10 Treffer) auf: Eine Analyse der sprachlichen Verknüpfung der Konzepte ›presentismo‹ und ›Kultur‹ scheint vielversprechend. Dabei wird deutlich, dass das Phänomen des presentismo als typisch spanisch beschrieben wird: 54. En España se echan muchas horas en el tajo y, sin embargo, la productividad no es ejemplar, dice el informe. Hay que acabar con la cultura del presentismo, o sea, estar presente en el trabajo sin que eso se traduzca en rendimiento. (País, 01.03.2007, vom absentismo in den presentismo? 169
Dt. Juan Oliva, Professor für Wirtschafts- und Finanzanalysen an der Universität Castilla-La Mancha und Mitherausgeber der Studie, wies gestern darauf hin, dass in Krisenzeiten der berufliche presentismo „zunehme“, ein neues Phänomen, das darin besteht, aus Angst vor der Entlassung zur Arbeit zu kommen, obwohl man nicht in der Verfassung dazu ist. Dies verursache „langfristig diverse Pathologien und mentale Störungen wie Depressionen und Angstzustände“.
170
Vgl. auch País, 13.09.2011, „La crisis no concilia“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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El Congreso propone que se den incentivos para que los hombres concilien la vida laboral y familiar)171 172 Die Gewohnheit, viele Stunden am Arbeitsplatz zu verbringen und dabei nicht produktiv zu sein, wird als „cultura del presentismo“ beschrieben und wiederholt der spanischen Unternehmenskultur zugeschrieben: Das Konzept des ›presentismo‹ wird damit als der spanischen Kultur und Mentalität zugehörig konzeptualisiert. Während die Wirtschaftskrise (die den presentismo verstärkt) als prägender, aber erst seit kurzer Zeit wirksamer Einfluss auf den spanischen Arbeitsalltag beschrieben wird, geht mit der Beschreibung des presentismo als grundständigem Bestandteil der spanischen Kultur und Mentalität auch die Befürchtung einher, dass das kulturelle Muster nur schwer zu verändern ist. Auf diese Verankerung des presentismo in der spanischen (Unternehmens-)Kultur macht auch Ignacio Buqueras, der Präsident der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles, wiederholt aufmerksam: 55. Coincide el presidente de la Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles, Ignacio Buqueras […]: “Lamentablemente, aún está muy arraigada la cultura del presentismo, que hay que erradicar. Es tercermundista. Hay que pasar a la cultura de la eficiencia buscando la excelencia, si deseamos ser productivos en un mundo cada día más globalizado”. (País, 24.01.2011, Demasiado antiguos para el teletrabajo)173 Der Diskursakteur weist darauf hin, dass der presentismo zur festen Gewohnheit vieler spanischer Arbeitnehmer gehöre, dass die Kultur des presentismo aber unbedingt abgeschafft werden müsse. Exkurs: Zum Diskursakteur Ignacio Buqueras y Bach, Präsident der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles Bei der Durchsicht der 64 relevanten Artikel fällt auf, dass ein Akteur besonders häufig genannt wird: Ignacio Buqueras, der von der Gründung im Juni 2003 bis Januar 2015 Präsident der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles war. Im spanischen Korpus wird insgesamt 81 Mal auf ihn verwiesen: Es wird ihm sowohl im Kontext des Konzeptes ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ (dt. Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten) als auch im Kontext des Konzeptes ›presentismo‹ eine 171
Dt. In Spanien verbringt man viele Stunden am Arbeitsplatz und trotzdem ist laut Bericht die Produktivität nicht vorbildlich. Man muss die Kultur des presentismo, also die Zeit, in der man bei der Arbeit anwesend ist, ohne dass sich dies in der Leistung niederschlägt, abschaffen.
172
Vgl. auch Beleg 47.
173
Dt. Der Präsident der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles, Ignacio Buqueras […], stimmt damit überein: „Leider ist die Kultur des presentismo, die beseitigt werden muss, noch immer fest verankert. Das ist eine Kultur der Dritten Welt. Man muss zu einer Effizienzkultur übergehen, die nach Exzellenz strebt, wenn wir in einer immer globalisierteren Welt produktiv sein wollen.“
116
5 Analyse der Korpora
zentrale Rolle zugewiesen, indem er in den analysierten Textbelegen benannt oder zitiert wird. Im folgenden Interview wird Buqueras als zentrale Triebfeder (siehe Titel) der Racionalización interviewt. Unter dieser ist im Folgenden die Umstellung der Arbeitszeiten, aber auch der Zeitzone in Spanien zu verstehen.174 Im Interview benennt Buqueras den presentismo als Phänomen der Dritten Welt und fordert eine unmittelbare Umstellung der (Unternehmens-)Kultur: 56. P. [= pregunta] – “Evite y combata el presentismo”. O sea, no a “calentar la silla” haciendo quinielas o visitando internet. R. [= respuesta] – El presentismo es tercermundista. Precisamos con urgencia un cambio de cultura, la de hoy debe ser la de la eficiencia buscando la excelencia. (Mundo, 25.01.2009, El mentidero. Ignacio Buqueras. Impulsor de la Racionalización de Horarios. “España necesita un mejor uso del tiempo”)175 176 Im selben Artikel fasst er zusammen, wie die Rationalisierung der Arbeitszeit auszusehen hat: Aufstehen und Frühstück zwischen 7 Uhr und 8:30 Uhr, Arbeitsbeginn zwischen 7:30 Uhr und 9 Uhr, eine Mittagspause von 45-60 Minuten zwischen 12:30 Uhr und 14 Uhr, Arbeitsschluss zwischen 16:30 Uhr und 18 Uhr, Abendessen zwischen 18 Uhr und 20:30 Uhr. Dieser Tagesablauf wird als Alternative zu den üblichen Gewohnheiten in Spanien beschrieben, die in den Textbelegen nicht explizit beschrieben werden, da es sich um geteiltes Wissen der Diskursgemeinschaft handelt.177 Stattdessen wird in den Textbelegen betont, dass es sich um kulturelle Muster handelt, die tief verwurzelt sind und nur schwer verändert werden können. Dies zeigt sich zum einen an der Kollokation „cultura de/del presentismo“, die bereits im Abschnitt der Verknüpfung ›presentismo‹ als ›kulturelles Phänomen‹ beschrieben wurde, und zum anderen an der Metaphorik Buqueras’, der den presentismo als in der spanischen Kultur „verwurzelt, und damit nur schwer zu beseitigen/auszureißen“ (Beleg 55) beschreibt. Die Kulturspezifik für Spanien wird auch mit Formulierungen wie „Es el país del presentismo“ (Dt. Es [Spanien] ist das Land des presentismo. País, 20.11.2011, Prohibido prohibir las redes 174
Für eine genauere Differenzierung des Konzeptes vgl. Kapitel 5.2.3.1.2 Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹.
175
Dt. P. [Pregunta = Frage] – „Vermeide und bekämpfe den presentismo.“ Sprich: Nein zum „Stuhlwärmen“, bei dem man sinnlose Überlegungen anstellt oder im Internet surft. R. [Respuesta = Antwort] – Der presentismo ist eine Kultur der Dritten Welt. Wir benötigen dringend einen Wandel der Kultur, die heute eine der Effizienz sein muss, die nach Exzellenz strebt. (Mundo, 25.01.2009, Die Plauderecke. Ignacio Buqueras. Federführer der Racionalización de Horarios. „Spanien muss seine Zeit besser nutzen“).
176
Der Beleg bezieht sich auf einen früheren Beleg, in dem Buqueras dazu auffordert, den presentismo zu vermeiden und zu bekämpfen: „Evite y combata, dentro de lo posible, el presentismo.“ (Dt. Vermeide und bekämpfe den presentismo im Rahmen der Möglichkeiten. País, 01.05.2008, Estar más no significa trabajar más).
177
Eine Ausnahme stellt der Beleg 44 dar, in dem die Gewohnheiten zum Teil beschrieben werden als durchgängiger Arbeitstag, überflüssige Frühstückspause und zu lange Mittagspause von einer Stunde (vgl. País, 26.09.2013, En España, siempre con ‚jet lag‘).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
117
sociales) betont, wie auch in zahlreichen Selbstbeschreibungen, in denen die Situation im Inland geschildert wird („En España…“, dt. In Spanien…, vgl. bspw. Beleg 54 und 58). Als Lösung treibt der Diskursakteur Buqueras die Racionalización de los Horarios voran, die – so seine Prognose – die spanische Unternehmenskultur einen Schritt an die „Kultur der Effizienz und Exzellenz“ annähere.178 Diese zeige der Blick in andere Länder, in denen ergebnisorientierter und produktiver gearbeitet werde: 57. La dirección de empresas en países nórdicos […] está mucho más orientada a resultados (País, 24.01.2011, Demasiado antiguos para el teletrabajo)179 58. De acuerdo con la OCDE, en España se trabajan 1.686 horas anuales, que si no parecen tantas comparadas con Suecia (1.621) sí lo son frente a los alemanes (1.397, el equivalente a 36 jornadas de 8 horas menos). […] Según los estudios que maneja Buqueras, en España se duerme menos por culpa de los horarios, y realidades como la baja natalidad se asocian a los problemas para combinar vida familiar y laboral. (País, 01.06.2014, Section: única)180 Mit diesem Vergleich mit anderen Ländern wird erneut betont, dass es sich bei dem Phänomen des presentismo um ein Kulturspezifikum Spaniens handele. Der presentismo wird also insofern mit der Rationalisierung der Arbeitszeiten verknüpft, als dass die veränderten Arbeitszeiten als Lösung für ein in der spanischen Kultur tief verwurzeltes Problem in der Arbeitskultur – den presentismo – dienen könnten. Der Diskursakteur und Vorsitzende der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles Buqueras nimmt eine zentrale Stellung in der Verhandlung um die Umstellung der Arbeitszeiten in Spanien ein. Bewertung des Konzeptes Das Konzept des ›presentismo‹ ist im spanischen Korpus ausschließlich an negative Bewertungen gebunden, die sich an den Verben, den Adjektiven und den Nomina zeigen lassen, die im Kotext des Konzeptes stehen. Auf der Verbalebene fällt zunächst auf, dass häufig Verben verwendet werden, die die Veränderung oder Beendigung eines bestehenden Zustandes beschreiben: Der presentismo muss „beseitigt“181 werden, er 178
Vgl. die Belege Mundo, 25.01.2009, „El mentidero. Ignacio Buqueras“; Mundo, 21.02.2011, „La reforma más necesaria“; País, 24.01.2011, „Demasiado antiguos para el teletrabajo“.
179
Dt. Die Geschäftsführung der nordischen Länder ist sehr viel ergebnisorientierter.
180
Dt. Laut OECD werden in Spanien 1.686 Stunden im Jahr gearbeitet, was im Vergleich mit Schweden (1.621) nicht so viel erscheint, im Vergleich mit Deutschland allerdings schon (1.397, äquivalent zu 36 AchtStunden-Arbeitstagen weniger). […] Den Studienergebnissen zufolge, über die Buqueras verfügt, schläft man in Spanien aufgrund der Arbeitszeiten weniger, und Phänomene wie die geringe Geburtenrate werden auf die Probleme der Vereinbarkeit von Familienleben und Berufsleben zurückgeführt.
181
„Hay que eliminar el presentismo“ (País, 16.03.2014, ¿Por qué no trabajamos menos horas?).
118
5 Analyse der Korpora
muss „vermieden und bekämpft“182 werden; die Kultur des presentismo muss „beendet“183 werden; der in der Kultur verwurzelte presentismo muss „ausgerissen“184 werden. Der Ausdruck wird des Weiteren mit den Adjektiven „tercermundista“ (dt. Dritte-Welt-)185 und „ineffizient“186 gekennzeichnet. Der presentismo wird als Problem – besonders als kulturelles Problem – beschrieben. Unter der Überschrift „¡Peligro!: Presentes pero ausentes“ (dt. Gefahr! Anwesend, aber abwesend, Mundo, 26.09.2010) wird die Gefahr des presentismo beschrieben. In diesem Artikel werden zwei Formen des presentismo unterschieden, von denen eine als intendierte Schädigung des Unternehmens und dessen Leitung aufgefasst wird, die zweite dagegen als nicht der Boshaftigkeit des Arbeitnehmers entspringende, unsichere und unfähige Arbeitsweise, die aber ebenfalls zu niedriger Leistung führt.187 Es fällt bei diesem Beleg auf, dass mitunter auch die Perspektive des Arbeitgebers, dessen Angestellter dem presentismo nachgeht, von Belang ist: Der presentismo stellt nicht nur eine Gefahr für den Arbeitnehmer dar, sondern auch für den Arbeitgeber, für den die geringe Produktivität des Arbeitnehmers zur Gefahr werden kann.188 Dies wird beispielsweise deutlich, wenn formuliert wird, dass der sogenannte „presentista“ (der Arbeitnehmer, der dem presentismo nachgeht) als „empleado tóxico“ (dt. toxischer Arbeitnehmer) ein schlechtes Arbeitsklima erzeugen kann.189 Gleichwohl überwiegt im Korpus die Darstellung des presentismo als Phänomen, das vor allem zu Lasten des Arbeitnehmers geht. Dieser verbringt zu viele Stunden am Tag am 182
„Evite y combata el presentismo“ (Mundo, 25.01.2009, El mentidero. Ignacio Buqueras).
183
„Hay que acabar con la cultura del presentismo“ (País, 01.03.2007, El Congreso propone que se den incentivos para que los hombres concilien la vida laboral y familiar).
184
„aún está muy arraigada la cultura del presentismo, que hay que erradicar“ (País, 24.01.2011, Demasiado antiguos para el teletrabajo).
185
Vgl. ebd.
186
El Mundo, 04.10.2014, „¿De verdad separas tu vida personal de la profesional?“.
187
Vgl. den folgenden Beleg: „[…] hay varios tipos de presentismo o absentismo emocional. Uno en el que el trabajador, de forma consciente, no rinde y pasa los días haciendo lo mínimo porque está enfadado o desilusionado con su empresa […]. Por otro lado, también hay una variedad que surge, no por maldad, sino por incapacidad o inseguridad del trabajador. El empleado se siente superado por sus obligaciones, no sabe cómo afrontarlas y esto le genera una ansiedad que se traduce en bajo rendimiento.” (dt. […] es gibt verschiedene Formen des emotionalen presentismo und absentismo. Eine, bei der der Angestellte bewusst nichts leistet und die Tage damit verbringt, das Minimum zu tun, weil er wütend auf seine Firma ist oder enttäuscht […]. Auf der anderen Seite gibt es eine Form, die nicht aus Böswilligkeit entsteht, sondern aus Unvermögen oder Unsicherheit des Angestellten. Der Arbeitnehmer fühlt sich von seinen Verpflichtungen überfordert, er weiß nicht, wie er sie angehen soll, und dies verursacht einen Angstzustand, der sich in geringer Leistungsfähigkeit niederschlägt. Mundo, 26.09.2010, ¡Peligro!: Presentes pero ausentes).
188
Vgl. auch Mundo, 05.12.2010, „La identidad digital puede arruinar su carrera“. In diesem Artikel wird auf die Gefahr hingewiesen, dass der Internetzugang den Arbeitnehmer dazu verleiten kann, private Erledigungen am Arbeitsplatz zu tätigen.
189
Vgl. País, 17.09.2013, „Cuando el ojo que todo lo ve es el del jefe“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
119
Arbeitsplatz und schafft es nicht, ein Gleichgewicht zwischen Privatleben und Berufsleben, insbesondere zwischen Familie und Beruf zu finden. Im schlechtesten Fall hat dies zusätzlich gesundheitliche Konsequenzen (siehe Verknüpfung ›presentismo‹, ›Krise‹ und Krankheit). Neben den expliziten Bewertungen in Form der genannten Adjektive wird die Konzeptualisierung des Phänomens presentismo durch die Verknüpfungen geprägt, die zu anderen Konzepten hergestellt werden: Insbesondere wird der presentismo der ›Produktivität‹, der ›Effizienz‹ und der ›Verbindlichkeit‹ gegenübergestellt.190 Es handelt sich hierbei um eine negative Korrelation (wenn mehr x, dann weniger y), bei der mit der Zunahme des presentismo die Abnahme eines anderen Zustands einhergeht. Mitunter wird sogar ausformuliert, dass eine negative Korrelation zwischen presentismo und einem anderen Konzept besteht: 59. Se ha demostrado que el exceso de horas trabajadas, el excesivo énfasis en el presentismo, tiene una correlación negativa con la creatividad y capacidad de innovación en las organizaciones. (Mundo, 30.11.2013, El reclamo para captar a los mejores: trabajar menos)191 Bei den Ausdrücken, die als negative Korrelate mit dem Konzept ›presentismo‹ verknüpft sind, handelt es sich ausschließlich um Hochwertwörter: „Produktivität“, „Effizienz“, „Verbindlichkeit“, „Kreativität“ sowie „Innovation“. Auf der anderen Seite werden Ausdrücke, die eine negative Konnotation in sich tragen (bspw. „Krankheit“ und „Krise“), ebenfalls mit dem Konzept ›presentismo‹ verknüpft. Als Lösung werden zwei unterschiedliche Argumentationsstränge im Korpus angeboten: Der erste Argumentationsstrang sieht den presentismo als in der spanischen Mentalität und Kultur verankert an; die Veränderung dieses Zustandes ist schwer und muss sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Arbeitnehmer angestrebt werden. Der zweite Argumentationsstrang sieht den presentismo als Phänomen an, das maßgeblich mit dem Problem des langen und unflexiblen Arbeitstages verknüpft ist; dieser zweiten Argumentation folgend, werden die Rationalisierung und die Flexibilisierung des spanischen Arbeitstages als Lösungsstrategien angeführt. Dabei handelt es sich um Lösungen, die unabhängig vom Arbeitnehmer auf Unternehmensebene durchgesetzt werden müssen und bei denen politische und rechtliche Reformen eine entscheidende Rolle spielen. Wir können zusammenfassend festhalten, dass die Bewertungen des Konzeptes ›presentismo‹ allesamt negativ ausfallen: Das Phänomen wird dargestellt (a) als nicht wünschenswerter Zustand, der sich negativ auf die Produktivität der Arbeitnehmer und der Unternehmen auswirkt, (b) als kulturelles Problem 190
Vgl. Mundo, 19.12.2010, „¿Es realmente necesario que vayamos a la oficina?“.
191
Dt. Es hat sich gezeigt, dass der Überschuss an gearbeiteten Stunden, das ausufernde Vorkommen des presentismo, eine negative Korrelation mit der Kreativität und der innovativen Kapazität in Organisationen hat.
120
5 Analyse der Korpora
Spaniens, das in der spanischen Mentalität und Gesellschaft verankert ist, (c) als Gefahr für den Arbeitnehmer, der kein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben herstellen kann und gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ist, (d) als Gefahr für das Unternehmen, das von der geringen Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers beeinträchtigt wird. Je nach Konzeptualisierung des Phänomens fallen die vorgeschlagenen Lösungsstrategien unterschiedlich aus: 1. Der presentismo ist an die spanische Kultur und Mentalität gebunden und kann nur durch einen Wandel derselben abgeschafft werden. 2. Dem presentismo muss durch politische und rechtliche Reformen entgegengewirkt werden – beispielsweise durch die Initiative der Racionalización de Horarios Españoles. Ergänzung: Leserkommentarkorpus Die Beobachtungen, die anhand des Medientextkorpus angestellt werden konnten, bestätigen sich beim Blick in das Leserkommentarkorpus.192 Der presentismo wird auch von Leserseite als Phänomen beschrieben, das an den spanischen Arbeitsalltag und die spanische Arbeitskultur gebunden ist: 60. El presentismo y el peloteo al jefe instaurado por los propios jefes es: MARCA ESPAÑA. (Carliño Teidensii, 29.07.2015 00:32 Uhr)193 Dieses typisch spanische Problem könne nur behoben werden, wenn sich andere Ideen und Mentalitäten unter den Führungskräften durchsetzten.194 Auch im Leserkommentarkorpus wird zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite unterschieden und darauf aufmerksam gemacht, dass der presentismo auf der Angst beruhe, nicht am Arbeitsplatz gesehen und somit nicht wahrgenommen zu werden. 61. El presentismo o presencialismo es una estupidez por las dos partes. El jefe piensa que asi domina y lo practica para dar a entender que es necesario para llegar a ciertas posiciones. El empleado lo practica por miedo a ser el diferente, a ser visto como el que menos trabaja y por lo mismo, por pensar que necesita hacerlo para progresar. […] (Lois Bello, 29.07.2015 14:56 Uhr)195 192
Die Beschreibung stützt sich auf das Leserkommentarkorpus zum Ankerpunkt „Calentar la silla hasta que se marche el jefe“ (País, 29.07.2015). Der Ausdruck „presentismo“ kommt in den Leserkommentaren fünfmal vor, der Ausdruck „presencialismo“ viermal. Es ist zu vermuten, dass das Vorkommen des Ausdrucks auch darauf zurückzuführen ist, dass sich der Ausdruck „presentismo“ mit einem Beleg im Ankerpunkt findet und die Leser diese Ausdrucksform aufgreifen.
193
Dt. Presentismo und dem Chef gefallen, eingeführt von den eigenen Chefs, ist: typisch für Spanien.
194
Vgl. Beleg 40.
195
Dt. Der presentismo oder presencialismo ist eine Dummheit von beiden Seiten. Der Chef denkt, dass er sich so durchsetzt, und macht dies, um zu verstehen zu geben, dass dies notwendig ist, um auf bestimmte Positionen zu kommen. Der Angestellte macht es aus Angst, anders zu sein; als derjenige gesehen zu werden, der am wenigsten arbeitet, und aus dem gleichen Grund wie der Chef, weil er denkt, dass es notwendig ist, um aufzusteigen.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
121
Zuletzt ist festzustellen, dass sich die Lösungsstrategien der Medientexte auch in den Leserkommentaren spiegeln: Neben dem Wunsch nach einer Veränderung der Mentalität der Arbeitnehmer und Arbeitgeber wird wiederholt auf die Notwendigkeit der Flexibilisierung beispielsweise in Form von Homeoffice-Zeiten hingewiesen: „Al final la clave es flexibilidad, tanto por el empresario como por el empleado.“196 (Some Guy, 29.07.2015 05:27 Uhr). Neben diesen Gemeinsamkeiten fallen in den Leserkommentaren zwei Besonderheiten auf. Zum einen finden sich in den Kommentaren Schilderungen, was während der Zeit, in der nicht gearbeitet wird, getan wird: 62. […] [los trabajadores] Basan su trabajo en hablar y hablar y comer y pedir. Muchos tienen miedo de quedar al descubierto si no está alguien de su equipo cuando hay una necesidad porque desconocen el alcance y se ponen muy nerviosos... Yo trabajo en Alemania y aquí además de horario flexible se puede hacer homeoffice de forma periódica y lo mejor es que nadie pide explicaciones de como te organizas. A ver si poco a poco se van jubilando los dinosaurios y se da paso a otra cultura. (paloma garcia, 29.07.2015 16:34 Uhr)197 198 Die Zeit am Arbeitsplatz werde mit Gesprächen und mit Essen verbracht. Diese Verhaltensweisen werden stark kritisiert und als (unternehmens-)kulturspezifisch beschrieben. Im Leserkommentarkorpus kann im Unterschied zum Medientextkorpus eine Konkretisierung des Konzeptes ›presentismo‹ festgestellt werden: Es wird expliziert, wofür die Zeit der überschüssigen Arbeitsstunden tatsächlich aufgewendet wird. Zum anderen unterscheidet sich die Sprache in den Leserkommentaren von der Sprache in den Zeitungstexten. So finden sich zugespitzte Metaphern wie im zitierten Beleg, in dem mit dem Ausdruck „Dinosaurier“ auf die altmodischen Führungskräfte hingewiesen wird. Des Weiteren finden sich polemische Stilmittel, wie Anführungszeichen, die eine Kritik an der Sachverhaltsebene signalisieren: „[…] los países […] con muchas horas ‚trabajadas‘ y poca productividad: Grecia, Portugal, Letonia y la ínclita España“.199 Die distanzierenden Anführungszeichen drücken hier Ironie oder Skepsis gegenüber dem Gesagten aus. 196
Dt. Am Ende ist Flexibilität der Schlüssel, für den Arbeitnehmer wie auch für den Arbeitgeber.
197
Dt. […] Die Arbeit [der Angestellten] besteht aus reden und reden und essen und daraus, Ansprüche zu stellen. Viele haben Angst, dass entdeckt wird, dass sie den Inhalt nicht kennen, wenn niemand von ihrer Abteilung da ist und es etwas Dringliches gibt, und dann werden sie sehr nervös… Ich arbeite in Deutschland, und hier kann man über die flexiblen Arbeitszeiten hinaus regelmäßig Homeoffice machen, und das Beste ist, dass niemand Erklärungen darüber verlangt, wie du dich organisierst. Mal sehen, ob nach und nach die Dinosaurier in Rente gehen und Platz für eine andere Kultur machen.
198
Obwohl der Ausdruck „presentismo“ in Beleg 62 nicht fällt, wird das Konzept durch die Beschreibung und den Kontext evoziert.
199
Dt. […] die Länder mit vielen „Arbeits“-Stunden und wenig Produktivität: Griechenland, Portugal, Lettland und das berühmte Spanien. (Enrique Fuentes, 29.07.2015 11:29 Uhr).
Bei ›presentismo‹ und ›absentismo‹ handelt es sich um zwei gegenläufige Konzepte, die aber vergleichbare Konsequenzen haben. presentismo wird als Kulturspezifikum Spaniens beschrieben. Die Unternehmenskulturen anderer Länder werden zum Vergleich herangezogen. presentismo wird als Phänomen Spanien zugeordnet: - über die diskursive Markierung des Konzeptes: Vergleiche mit anderen Ländern oder Beschreibung „in Spanien“, „bei uns“ - über die Einordnung als Teil der spanischen Kultur und Mentalität auf der Metaebene Argumentation A: Der presentismo ist in der spanischen Kultur und Mentalität verankert. Um den presentismo zu ändern, müssen die spanische Kultur und Mentalität sowie die Einstellung der Arbeitnehmer verändert
‘Der presentismo steht dem absentismo (Fehlen am Arbeitsplatz) gegenüber. Beide Phänomene führen zu weniger Produktivität und Kreativität am Arbeitsplatz.’
‘Anwesenheit am Arbeitsplatz entspricht nicht dem produktiven Arbeiten. In der spanischen Unternehmenskultur wird dies jedoch angenommen.’ ‘presentismo führt zu weniger Produktivität. Im Vergleich mit anderen Ländern bestätigt sich dies.’
‘presentismo ist Teil der spanischen Kultur und Mentalität.’ ‘presentismo ist Teil einer veralteten Unternehmenskultur. Die ergebnisorientierte Arbeitsweise anderer Länder muss als Vorbild für Spanien dienen.’
A. ‘Da der presentismo in der spanischen Kultur verwurzelt ist und es sich um ein kulturelles Problem handelt, ist dieser nur schwer zu verändern.’
Metadiskursive Deutung
Lösungsstrategien
kulturspezifisches Konzept Selbstkritik Metaebene
Kulturvergleich
kulturspezifisches Konzept
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese Spanische Arbeitnehmer sind täglich lange am Arbeitsplatz anwesend, ohne dass sich diese lange Anwesenheit notwendigerweise in Produktivität niederschlägt.
Befund
Metadiskursive Deutung Bei dem Ausdruck „presentismo“ handelt es sich um einen neuen, noch nicht etablierten Ausdruck. Das Konzept wird insbesondere durch die Verknüpfungen, die zu anderen Konzepten bestehen, geprägt.
Konzept ›presentismo‹
Tabelle 10: Konzept ›presentismo‹
122 5 Analyse der Korpora
200
Für genauere Ausführungen vgl. Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹, S. 96.
‘Die Zeit am Arbeitsplatz wird unproduktiv mit Essen und Reden verbracht.’
Die Leser beschreiben das Phänomen als Teil der spanischen Kultur und bewegen sich damit auf einer Metaebene. Die Leser konkretisieren in Erzählungen, was in der Zeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird, getan wird.
Der presentismo ist ein Teil der spanischen Unternehmenskultur, der durch die Krise verstärkt wird.
‘Krise und presentismo sind verknüpft.’ a. ‘Die Krise führt vom absentismo der Arbeitnehmer zum presentismo. Auch kranke Arbeitnehmer erscheinen am Arbeitsplatz, wo sie nicht produktiv arbeiten können und im schlechtesten Fall weitere Mitarbeiter anstecken.’ b. ‘Die Krise verstärkt den bestehenden presentismo. Dieser wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter aus. Im schlechtesten Fall ruft er Stress, psychische Krankheiten oder Depressionen hervor.’
Leserkommentarkorpus ‘presentismo ist ein spanisches Phänomen.’
Das Hochwertkonzept ›Familie‹ wird verknüpft.
werden. Argumentation B: Der presentismo ist deshalb in der spanischen Kultur und Mentalität verankert, weil die Zeitumstellung 1942 den Tagesablauf verändert hat. Die Flexibilisierung und Rationalisierung sowie die Anpassung der Zeitzone werden als effektive und durchführbare Lösungsstrategien von der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios und dem Diskursakteur Ignacio Buqueras vorgeschlagen. Die Kommission und der Diskursakteur Buqueras dominieren die Berichterstattung in den Zeitungen zum Konzept des ›presentismo‹.
‘presentismo verhindert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist die Lösung.’
B. ‘Der presentismo hängt mit dem spanischen Tagesablauf zusammen, der seit der Zeitumstellung 1942 nach hinten verschoben und deshalb unproduktiv ist. Die Flexibilisierung und die Rationalisierung der Arbeitszeit (Racionalización de los Horarios Españoles) stellen Lösungen für den presentismo dar, da sie den Tagesablauf verändern.’200
Metaebene kulturspezifisches Konzept Konkretisierung des Narrativs
wirschaftliche Krise als Faktor
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Diskursautorität
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
123
124
5 Analyse der Korpora
5.2.3.2.2 Deutsches Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ Das Konzept ›presentismo‹ fiel zunächst im spanischen Korpus auf; der spanische Ausdruck lässt sich als „Präsentismus“ ins Deutsche übersetzen,201 ist jedoch in dieser Form wenig gebräuchlich.202 Unter dem konzeptuellen Zugriff ANWESENHEIT wird das deutsche Konzept als „Anwesenheit am Arbeitsplatz“ bezeichnet, um den Vergleich mit dem spanischen Konzept zu ermöglichen: Bei der ersten Prüfung des deutschen Korpus unter dem konzeptuellen Zugriff ANWESENHEIT fiel auf, dass bei der Bezeichnung des Konzeptes im Deutschen die Ergänzung „am Arbeitsplatz“ notwendig ist, da der Ausdruck „Anwesenheit“ nicht die Information enthält, dass es sich um das Phänomen Anwesenheit im beruflichen Kontext handelt (wie dies beim spanischen Ausdruck „presentismo“ der Fall ist).203 Die Ausdrücke „Präsentismus“ und „Anwesenheit“ scheinen gewisse semantische Merkmale zu teilen; in den weiteren Analysen wird dargestellt, in welchen Teilbedeutungen sich die Konzepte gleichen und inwiefern sie sich unterscheiden. Sprachliche Konstituierung Die Kernbedeutung des Konzeptes ist zu beschreiben als Zeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird und in der nicht näher bestimmt ist, welcher Tätigkeit der Arbeitnehmer nachgeht. Häufig geht es dabei um die Frage, ob zu viel Zeit am Arbeitsplatz verbracht wird oder nicht. Mit dem Ausdruck „Präsentismus“ wird beschrieben, dass der Arbeitnehmer lange am Arbeitsplatz ist, ohne die dem Zeitraum angemessene Leistung zu erbringen. Bemerkungen zur quantitativen Konzepterschließung Um das Konzept der ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ näher zu fassen und die Teilbedeutungen im deutschen Korpus zu erschließen, werde ich im Folgenden die 201
http://de.pons.com/%C3%BCbersetzung?q=presentismo&l=dees&in=&lf=de letzter Zugriff 11.11.2016 12:00 Uhr.
202
Im Duden-Wörterbuch findet sich kein Eintrag zum Lexem „Präsentismus“ (Duden 2015 sowie http:// www.duden.de/suchen/dudenonline/pr%C3%A4sentismus%20 letzter Zugriff 24.01.2018 15:34 Uhr). Der Ausdruck findet sich im deutschen Pressetextkorpus fünfmal, wobei drei der fünf Treffer für die vorliegende Analyse relevant sind und in den folgenden Ausführungen beschrieben werden. Die anderen zwei Belege beziehen sich auf Schilderungen des Umgangs mit historischen Gegebenheiten. Interessanterweise entspricht diese Zweitbedeutung der des spanischen Ausdrucks, der ebenfalls zur Benennung einer Haltung verwendet wird, in der die Gegenwart als ausschlaggebender Faktor angesehen wird (vgl. Fußnote 153).
203
Der Ausdruck „Anwesenheit“ bezeichnet im Deutschen ein sehr viel breiteres Konzept- und Sachverhaltsspektrum (bspw. Anwesenheit in der Familie, Anwesenheit bei einer Veranstaltung etc.) als der spanische Ausdruck „presentismo“, der fast ausschließlich für den spezifischen Referenzbereich ANWESENHEIT AM ARBEITSPLATZ reserviert ist (vgl. Fußnote 153).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
125
sprachlichen Verknüpfungen analysieren. Die Belege „Präsentismus“ (fünf Treffer) und „Präsenzzeit*“ (drei Treffer) können dabei vollständig berücksichtigt werden; für die Suche nach „Anwesenheit*“ ergeben sich 1009 Treffer im Korpus.204 Die hohe Trefferanzahl lässt einen Zugang durch qualitativ-hermeneutische Lektüre nicht in Betracht kommen, weshalb die folgenden Analyseschritte und computergesteuerten Lektüreverfahren gewählt wurden. Die 1009 Belege, die die Suche nach „Anwesenheit*“ ergab, wurden mithilfe des Analyseprogramms AntConc alphabetisch nach dem Ursprungslexem „Anwesenheit*“ und den rechts nachfolgenden Lexemen an der ersten und zweiten Stelle (1r und 2r) sortiert. Die vorliegende Liste gibt in dieser Form bereits einen Eindruck darüber, welche Konstruktionen auf den Ausdruck folgen.
Abb. 12: AntConc-Suche „Anwesenheit*“ (Belegauswahl)
Durch das vorgenommene Clustering wird die Analyse der Ausdrücke und grammatischen Konstruktionen ermöglicht, die besonders häufig auf den Suchausdruck folgen oder die an einer prominenten Textstelle (bspw. Überschrift) vorkommen. Dasselbe wurde im Anschluss für den Kotext links vom Suchausdruck durchgeführt. Konzeptuelle Verknüpfungen Anwesenheit und Heimarbeit Das Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ wird im Korpus häufig dem Konzept der ›Heimarbeit‹ gegenübergestellt. Die Präsenzkultur am Arbeitsplatz, die in vielen Unternehmen noch immer verbreitet sei, stehe der Heimarbeit im Wege: 204
Die Suchanfrage „anwesen*“, die ebenfalls vielversprechend scheint, ergibt 3250 Treffer und überschreitet damit die Anzahl an Belegen, die in der qualitativen Analyse berücksichtigt werden können. Das Lexem „Anwesen“ (723 Treffer) und seine Flexionsform „des Anwesens“ (85 Treffer) spielen im Rahmen des Subthemas ARBEITSZEIT keine Rolle und können ausgeklammert werden. Die Belege „anwesend“, „anwesende/anwesenden“ und „Anwesende/Anwesenden“ wurden in einem zweiten Schritt ergänzend in die Analyse einbezogen.
126
5 Analyse der Korpora
63. Gegen Heimarbeit spricht in vielen Unternehmen offenbar noch immer eine verbreitete Präsenzkultur. „Die Anwesenheit ist den Vorgesetzten wichtig“, sagten 69 Prozent der Befragten, die nie von zu Hause arbeiten. (Welt, 19.11.2015, Heimarbeit macht glücklich) 64. Während die einen Firmen auf die Anwesenheit der Angestellten im Büro bestehen, setzen andere Konzerne auf Heimarbeit und ein flexibles Bürokonzept. (SZ, 04.05.2013, Mit Rollenkoffer und Spind) Der zuletzt zitierte Artikel beschreibt die Unternehmenspolitik verschiedener Großunternehmen (Bosch, SAP und Microsoft), die auf Heimarbeit und damit eine bestimmte Form der Flexibilisierung setzen. Auf der anderen Seite wird im selben Artikel auf die gegenläufigen Schritte der Unternehmenschefin Marissa Mayer (Yahoo) verwiesen, die zur „Anwesenheitspflicht“ zurückkehrte. Es fällt auf, dass es ausschließlich Großunternehmen sind, die genannt werden. In der Fortsetzung des Belegs (65) fällt der Okkasionalismus „Gleitort“ auf, der eine Parallelbildung zu „Gleitzeit“ darstellt: 65. „Das Homeoffice ist größtenteils technisch machbar und die Arbeitnehmer wünschen es sich, also sollten wir uns auf dem [sic] Weg machen“, sagte die Ministerin [Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD)]. Neben „Gleitzeitmodelle“ müssten verstärkt auch „Gleitortmodelle“ treten. Als ein Vorzeigeunternehmen nennt die Ministerin Robert Bosch. Dort könnten Mitarbeiter nachmittags das Büro verlassen, um ihre Kinder noch zu sehen. Die versäumte Arbeitszeit können sie dann nach 20.30 Uhr von daheim nachholen. (Welt, 19.11.2015, Heimarbeit macht glücklich) Im zitierten Beleg zeigt sich die enge Verknüpfung der Parameter Zeit und Raum, die die Struktur des Arbeitstages der Arbeitnehmer maßgeblich bestimmen. Bei der Bundesarbeitsministerin handelt es sich um eine Diskursautorität, der in der Berichterstattung eine besondere Relevanz zukommt und deren Einschätzung eine diskursprägende Wirkung zugesprochen werden kann. Sehr viel seltener wird der Anwesenheit am Arbeitsplatz das Konzept des ›Sabbatjahres‹ gegenübergestellt, der längeren Abwesenheit also, die dem Mitarbeiter von seinem Unternehmen gewährt wird. Auch hier wird auf einzelne Unternehmen verwiesen, die sich in ihrer Handhabe der Anwesenheitszeiten unterscheiden: 66. „In Unternehmen mit traditioneller Arbeitsethik sind Sabbaticals schwer durchzusetzen“, so die Sozialwissenschaftlerin Siemers. Dort werde „anständige Arbeit“ mit permanenter Anwesenheit gleichgesetzt. (Welt, 23.04.2005, Notausstieg statt Weltreise)
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
127
Anwesenheit und Produktivität Eine weitere wichtige Verknüpfung, die in zahlreichen Zeitungsartikeln und insbesondere in den Überschriften hergestellt wird, zeigt sich im Verweis auf die ›Produktivität‹ der Arbeitnehmer. Es fällt auf, dass diese im deutschen Korpus – anders als im spanischen – kaum mit dem Ausdruck „Produktivität“ benannt wird. Stattdessen wird die reine Anwesenheit der Arbeitnehmer beispielsweise dem verantwortungsvollen und zielorientierten Arbeiten gegenübergestellt: 67. „Es kann nicht sinnvoll sein, dass man für Anwesenheit bezahlt wird. Es geht ja um Verantwortung für Aufgaben und Zielerreichung.“ (SZ, 04.05.2013, Mit Rollenkoffer und Spind) Es handelt sich also zunächst um eine Negativ-Verknüpfung, in der davon ausgegangen wird, dass sich Produktivität, Leistung und das Erreichen von Zielen nicht aus der Anwesenheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz ergeben. Die folgenden Belege verdeutlichen dies: - nicht über Anwesenheit gesteuert, sondern über Leistung (Welt, 10.05.2003, Mitarbeiter im Mittelpunkt) - um Leistung und nicht Anwesenheit einzufordern (Welt, 27.03.2008, Stille Reserven) - nicht mehr nach Anwesenheit führen. Zielvorgaben sind heute passendere Instrumente (SZ, 17.11.2003, Der Chef als Produktivitätsbremse) - verstanden, dass Anwesenheit nicht gleichzusetzen ist mit Arbeit (SZ, 16.05.2015, Angst vor Freiheit)205 - Auf das Ergebnis kommt es an, […] nicht auf die Anwesenheit am Arbeitsplatz (Spiegel, 13.01.2014, Ein Konzern erfindet sich neu) Das Konzept der ›Produktivität‹ wird auf zweierlei Weise verknüpft: 1. als Argument: Anwesenheit und Produktivität sind nicht gleichzusetzen. Dieses Argument wird dafür genutzt, die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsplatzes voranzutreiben. 68. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit- und Arbeitsplatzgestaltung, um Leistung und nicht Anwesenheit einzufordern, ist dank neuer Technologien heutzutage bereits in weit mehr Bereichen möglich als in früheren Zeiten. 205
Im deutschen Korpus wird in diesem Kontext auf das Beamtentum in Deutschland verwiesen: „Auch normale Beamte, die sich auf ihrem Posten ausruhen und ein vorgegebenes Pensum nicht erfüllen, sollen vom Dienstherren in der Gehaltsstufe herabgesetzt werden können. Das wäre das Ende des bisherigen Prinzips, wonach Beamte nicht für ihre Leistung, sondern für ihre Anwesenheit bezahlt werden“ (Spiegel, 06.12.2004, Ende der Schonzeit). Bei dieser Verknüpfung handelt es sich um ein Spezifikum des deutschen Korpus, in dem eine verbreitete Meinung zum deutschen Beamtentum aufgegriffen wird.
128
5 Analyse der Korpora
(Welt, 27.03.2008, Stille Reserven: Schreit auf! Qualifizierte Frauen, Ältere und unterforderte Immigranten sind ungenutzte Potenziale unserer Gesellschaft. Wenn man sie flexibel entlohnt, könnten sie arbeiten – zum Nutzen aller)206 Da keine Verbindung zwischen Anwesenheit und Produktivität bestehe, könne die Flexibilisierung vorangetrieben werden. Dadurch erhöhe sich unter Umständen sogar die Produktivität, in jedem Falle aber ergäben sich Vorteile für Gruppen von Arbeitnehmern, die häufig Benachteiligungen erfahren. Es lässt sich also aufbauend auf 1. ein zweites Argument hinzufügen: 2. Das reine Faktum der Anwesenheit der Mitarbeiter am Arbeitsplatz führt nicht zu einer erhöhten Produktivität. Flexible Arbeitsformen, die nicht an die Anwesenheit gebunden sind, können zu einer erhöhten Produktivität führen und stellen des Weiteren eine Maßnahme zum Erreichen weiterer gesellschaftlich objektivierter Ziele dar. Die Flexibilisierung und die Auflösung der Anwesenheitspflicht sind deshalb als vorteilhaft zu bewerten und stellen ein Zwischenziel dar.207 Anwesenheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie Eine weitere Verknüpfung wird zwischen dem Konzept der ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hergestellt. Die Anwesenheitskultur in Unternehmen stelle sowohl für Mütter als auch für Väter ein Problem dar: 69. Leistung werde immer noch durch Anwesenheit definiert, noch immer herrsche die Präsenz- anstelle einer Ergebniskultur. Gerade jüngere Mitarbeiter aber „stellen das immer häufiger in Frage und verlangen nach anderen Modellen“. Und sie tauschen sich aus: Seit ein paar Jahren existiert ein bundesweites Väternetzwerk für berufstätige Männer mit Familie. (Spiegel, 30.12.2013, Die Karriereväter) 70. Viele Mütter kennen die bösen Blicke ihrer Kollegen, wenn sie früher gehen und die bösen Worte, wenn sie später gehen. Dann werden sie ganz schnell als Rabenmütter abgestempelt. Wir haben hier gleich mehrere Probleme. Teilzeitarbeit ist reine Mütterarbeit. Wenn mehr Väter in Teilzeit erwerbstätig wären, würden auch die bösen Blicke weniger. Weiterhin setzen wir Anwesenheit noch immer mit Leistung gleich. Wir müssen weg von Anwesenheitskulturen und 206
Vgl. auch Welt, 10.05.2003, „Mitarbeiter im Mittelpunkt“.
207
Der Vollständigkeit halber muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass das Konzept ›Heimarbeit‹ mitunter negativ bewertet wird, bspw. wenn die Heimarbeit dazu führt, dass die Mitarbeiter, die dies in Anspruch nehmen, sich stärker beweisen müssen als die „Vor-Ort-Kollegen, die schon durch ihre reine Anwesenheit Leistung erbracht zu haben scheinen“ (Welt, 02.03.2013, Zeit fürs Kind – oder freiwillige Ausbeutung?).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
129
brauchen die entsprechenden Strukturen. (SZ, 02.10.2010, Jutta Allmendinger über Arbeit) Die Anwesenheit am Arbeitsplatz und insbesondere die Kopplung der Leistung an die Anwesenheit wird kritisch betrachtet, insbesondere im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.208 Sowohl die Einschränkung der Arbeitszeit als auch die Arbeit von zu Hause aus führen mutmaßlich zu Nachteilen wie beispielsweise der Missgunst der Kollegen; das Festhalten an der Präsenzkultur verhindere die ausgeglichene Zeiteinteilung zwischen Beruf und Familie. Anwesenheit, Gesundheit und Wirtschaftskrise Die Verknüpfung der Konzepte ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ und ›Gesundheit‹ deutet sich im Kotext des Ausdrucks „Anwesenheit“ nur an, wenn beispielsweise die SAP-Gesundheitsmanagerin zitiert wird (SZ, 04.05.2013, Mit Rollenkoffer und Spind). Im Kotext des Ausdrucks „Präsentismus“ hingegen wird die Verknüpfung deutlicher: 71. „Der Krankenstand hat ja nicht nur etwas mit Krankheit zu tun. In wirtschaftlich schlechten Zeiten gehen auch Leute zur Arbeit, die besser zwei, drei Tage zu Hause geblieben wären.“ Nowak nennt dieses Verhalten Präsentismus. Es geht also darum, in der Firma Anwesenheit zu zeigen. Die Leute haben Angst vor einer Kündigung oder anderen Nachteilen und gehen trotz Beschwerden weiter ihrem Beruf nach. Dort erbringen sie aber nur einen Bruchteil ihrer normalen Leistung. (SZ, 15.07.2009, Das Ende der Knochenarbeit)209 Der Präsentismus wird hier als Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz Krankheit beschrieben, was wiederum zu einem Abfall der Leistung der Arbeitnehmer und damit der Unternehmensproduktion führt. Das Phänomen werde durch die Wirtschaftskrise befördert, die die Angst vor der Kündigung hervorrufe oder zumindest verstärke. Dieses Verhalten könne wiederum zu weiteren Erkrankungen führen. Im Unterschied zur spanischen Berichterstattung wird allerdings im deutschen Korpus nicht davon gesprochen, dass der Präsentismus selbst schwerwiegende physische und psychische Krankheiten verursachen kann. Er wird vielmehr als Resultat der schlechten wirtschaftlichen Situation beschrieben, die zu Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und vor Fehlzeiten am Arbeitsplatz führen kann. Während der Präsentismus im spanischen Korpus als zur allgemeinen Unternehmenskultur in Spanien gehörig betrachtet wird, stellt die Wirtschaftskrise im deutschen Korpus den wesentlichen Faktor dar, der diesen erst hervorruft.
208
Vgl. Analyse des Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ in Kapitel 5.2.3.3.2.
209
Vgl. auch Welt, 13.03.2014, „Ein Druck geht durchs Land“.
130
5 Analyse der Korpora
Anwesenheit und Unternehmenskultur Auch im deutschen Zeitungstextkorpus finden sich Komposita wie „Anwesenheitskultur“ oder „Präsenzkultur“, die darauf verweisen, dass es sich bei bestimmten Gewohnheiten um etablierte Muster handelt. 72. Voraussetzung für diese Flexibilität, die Mitarbeitern eingeräumt werden kann, sei „die Kultur in einem Unternehmen.“ Deshalb empfiehlt der Personalprofi aus München nur Unternehmen den Einstieg in das Teleworking, die „nicht eine Kontrollkultur ihr eigen nennen, sondern in denen eine Zielvereinbarungskultur“ bereits Raum gegriffen hat. (Welt, 10.05.2003, Mitarbeiter im Mittelpunkt) 73. Das größte Problem für ihre Lebensweise sehen diese „Trendsetter“ in der Arbeitskultur ihrer Unternehmen. […] Fast die Hälfte berichtet von Nachteilen beim beruflichen Aufstieg und einer Kultur, in der extrem lange Anwesenheit im Büro ausschlaggebend für Karrierechancen ist. (taz, 15.05.2008, Familie: Für Chefs ein Fremdwort) An Stelle von Anwesenheit sollen Leistung und Zielvorgaben als Werte in den Unternehmen dienen. Auffällig ist, dass die Gewohnheiten oder (Arbeits-)„Kulturen“ als spezifisch für ein Unternehmen beschrieben werden und nicht als Kulturspezifikum für die deutsche Kultur (wie es im spanischen Korpus der Fall ist, wenn Verhaltensmuster beispielsweise im Kontext des presentismo als spanische Kulturspezifika interpretiert werden). Bewertung des Konzeptes Die Bewertung des Konzeptes ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ variiert im deutschen Zeitungskorpus. Grundsätzlich werden die Vorteile des flexiblen Arbeitens und die Nachteile der übermäßig eingeforderten Anwesenheit am Arbeitsplatz betont. Es finden sich Belege, die moderate Kritik üben und die Wünsche der Arbeitnehmer in den Vordergrund stellen möchten; es finden sich aber auch Belege, die das betriebliche System der Anwesenheitskultur in Gänze ablehnen. 1. Die Handlungsempfehlungen der Akteure mit Diskursautorität schließen sich an die Wünsche und Forderungen an, die den Arbeitnehmern zugesprochen werden: Die Arbeitnehmerpositionen reichen von moderat formulierten Wünschen nach flexibleren Arbeitszeiten, insbesondere der Heimarbeit, bis hin zur starken Kritik an alten Strukturen und der Forderung nach neuen Modellen. Ebenso formulieren verschiedene Diskursakteure ihre Vorstellungen mehr oder weniger fordernd: Die ehemalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles spricht eine Empfehlung aus, die sich dem Wunsch der Arbeitnehmer anschließt (Beleg 65); die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin Jutta Allmendinger weist deutlicher auf die Probleme der Anwesenheitskultur hin (Beleg 70).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
131
2. Das Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ wird über die Gegenüberstellung von Hochwertausdrücken negativ attribuiert. Zum einen werden positiv konnotierte Konzepte des beruflichen Kontextes (›Flexibilität‹, ›Produktivität‹, ›Verantwortung‹, ›Initiative‹, ›Ergebnisse‹ etc.)210 einer Unternehmenskultur zugeordnet, die nicht auf Anwesenheit beruht. Zum anderen wird hervorgehoben, dass die eingeforderte Anwesenheit am Arbeitsplatz gesellschaftlichen Hochwerten wie „Zeit für die Familie“ und „Gesundheit“ entgegensteht.211 3. Das Konzept ›Anwesenheit‹ wird einer veralteten Unternehmenskultur zugeordnet, die auf Kontrolle und Misstrauen beruht und die negativ bewertet wird: 74. Es handelt sich vor allem um jene Garde von Bürofeldwebeln alter Schule, die wohl vor allem Angst haben, die Kontrolle zu verlieren, wenn sie ihre Untergebenen nicht ständig im Gesichtsfeld haben. […] (Übrigens kann man sich fragen, was das für ein Arbeitsverhältnis ist, in dem der Chef oder die Chefin den Untergebenen grundsätzlich mit Misstrauen begegnet.) (SZ, 13.04.2013, Vom Dasein) Das wichtigste Argument, das im Korpus gegen die Anwesenheit am Arbeitsplatz geäußert wird, baut auf diesen negativen Konnotationen auf: Die Nachteile des Konzeptes der ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ überwiegen. Vor allem aber stelle die Anwesenheit per se wie auch die Abwesenheit keinen relevanten Indikator für die Leistung der Arbeitnehmer, für die Produktivität und für die Qualität der Arbeit dar. Man könne insofern den Wünschen der Arbeitnehmer, die sich mehr Flexibilität und weniger Anwesenheitspflicht wünschen, nachkommen.
210
Vgl. Verknüpfung Anwesenheit und Produktivität sowie insbesondere den Artikel „Mitarbeiter im Mittelpunkt“ (Welt, 10.05.2003).
211
Vgl. Verknüpfung Anwesenheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Anwesenheit, Gesundheit und Wirtschaftskrise.
Die Anwesenheit am Arbeitsplatz wird der Heimarbeit gegenübergestellt. Verknüpfung der Konzepte ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹ und ›flexible Arbeitszeiten‹; die Flexibilisierung betrifft sowohl räumliche als auch zeitliche Aspekte. Die Vorteile der Arbeit von zu Hause aus werden betont. Die Relevanz neuer Technologien wird betont. Der Hochwert ›Familie‹ wird verknüpft.
‘Arbeitnehmer sind am Arbeitsplatz anwesend oder arbeiten von zu Hause aus (Homeoffice). Die Anwesenheit am Arbeitsplatz ist der Normalfall.’
‘Im Rahmen der Flexibilisierung der Arbeitszeit erfährt die Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz Veränderungen (Möglichkeit des Homeoffice, Teilzeit etc.).’
‘Anwesenheit am Arbeitsplatz ist ein veraltetes Konzept einer früheren Unternehmenskultur. Die Arbeit von zu Hause (Heimarbeit, Homeoffice)
A. ‘Produktivität, Leistung und das Erreichen von Zielen sind nicht an die Anwesenheit (ebenso wenig an die Abwesenheit) der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz gekoppelt. Es gibt deshalb keinen betriebsökonomischen Grund, auf die Anwesenheit zu bestehen.
‘Anwesenheit und Produktivität hängen nicht miteinander zusammen.’
d. ermöglicht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.’
c. beeinträchtigt nicht die Produktivität, sondern fördert diese in bestimmten Bereichen.
b. wird von den Arbeitnehmern eingefordert.
Argumentation I: Es besteht kein Zusammenhang zwischen Anwesenheit und Produktivität, ebenso wenig wie zwischen Abwesenheit und Produktivität. Daraus folgt, dass Anwesenheit nicht eingefordert werden muss.
Metadiskursive Deutung
Befund
a. ist heute aufgrund des technologischen Fortschrittes möglich.
Zeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird und in der nicht näher bestimmt ist, welcher Tätigkeit der Arbeitnehmer nachgeht
›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹
wirtschaftliche Effizienz
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
wirtschaftliche Effizienz
Individualität
Digitalisierung
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 11: Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹
132 5 Analyse der Korpora
Diskursautorität
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten vs. Verknüpfung mit negativ konnotierten Konzepten
Diskursakteure mit Diskursautorität vertreten die Arbeitnehmer und sprechen Handlungsempfehlungen aus. Die Anwesenheit am Arbeitsplatz wird negativ bewertet: a. weil sie keine ökonomischen Vorteile bietet. b. weil sie den flexiblen Arbeitszeiten und deren Vorteilen im Wege steht. Flexible Arbeitszeiten werden mit Hochwertkonzepten verknüpft. Anwesenheitspflicht und Anwesenheitskultur werden mit negativ konnotierten Konzepten verknüpft.
‘Die Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz ist Teil einer veralteten Unternehmenskultur, die
a. keine ökonomischen Vorteile bietet.
b. den Vorteilen der flexiblen Arbeitszeiten entgegensteht, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zulassen und die Ausgeglichenheit und Gesundheit der Arbeitnehmer fördern.’
Metaebene
‘Diskursakteure fordern flexible Arbeitszeiten und die Auflösung der Anwesenheitspflicht, um den Wünschen der Arbeitnehmer zu entsprechen.’
Okkasionalismus
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten
Der Ausdruck „Präsentismus“ kommt im deutschen Korpus vereinzelt vor und wird auf der Metaebene kommentiert. Er resultiert aus der Wirtschaftskrise.
Argumentation II baut auf Argumentation I auf.
Argumentation II: Da keine Nachteile aus betriebsökonomischer Sicht zu befürchten sind, kann den Wünschen der Arbeitnehmer entsprochen werden. Bei den Vorteilen der Flexibilisierung handelt es sich um gesellschaftliche Hochwertkonzepte.
‘Präsentismus meint die Tatsache, dass Arbeitnehmer trotz Krankheit am Arbeitsplatz erscheinen (insbesondere aus Angst vor einer Kündigung in wirtschaftlich schlechten Zeiten). Dort können sie nicht die übliche Leistung erbringen. Im schlimmsten Fall kann der Präsentismus zu Stress und Burn-Out führen.’
B. ‘Die Flexibilisierung der Arbeitszeit und Lockerung der Anwesenheitspflicht bringt andere Vorteile mit sich (bspw. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie) und sollte deshalb gefördert werden. Die Flexibilisierung stellt ein Zwischenziel auf dem Weg zu weiteren gesellschaftlich objektivierten Zielen dar (bspw. Gleichstellung von Frauen, Älteren oder benachteiligten Arbeitnehmern, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie).’
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
133
Konzeptsynthese Zeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird und in der nicht näher bestimmt ist, welcher Tätigkeit der Arbeitnehmer nachgeht
Konzeptsynthese
Spanische Arbeitnehmer sind täglich lange am Arbeitsplatz anwesend, ohne dass sich diese lange Anwesenheit notwendigerweise in Produktivität niederschlägt.
Sprachliche Verknüpfungen
VEREINBARKEIT - Lange Anwesenheitszeiten beeinträchtigen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie das Privatleben. Die Heimarbeit kann die Vereinbarkeit vereinfachen.
- presentismo verhindert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist die Lösung.
HEIMARBEIT - Die Arbeit von zu Hause aus steht der Anwesenheit am Arbeitsplatz gegenüber. Die Produktivität ist nicht abhängig davon, ob der Mitarbeiter von zu Hause aus oder an einem Arbeitsplatz in einem Unternehmen arbeitet.
PRODUKTIVITÄT - Die Kategorie Anwesenheit (wie auch Abwesenheit) am Arbeitsplatz beeinflusst die Produktivität nicht.
VEREINBARKEIT
- Der presentismo steht dem absentismo gegenüber. Beide Phänomene führen zu weniger Produktivität.
ABSENTISMO
PRODUKTIVITÄT - Lange Anwesenheitszeiten wirken sich negativ auf die Produktivität aus. Dennoch wird die lange Anwesenheit in Spanien häufig von den Arbeitgebern gefordert.
Einige Verknüpfungen überschneiden sich, andere Verknüpfungen unterscheiden sich. Auch wenn ähnliche Konzepte verknüpft werden, unterscheiden sich die Verknüpfungen im Detail voneinander.
Sprachliche Verknüpfungen
Die Konzepte unterscheiden sich: Das spanische Konzept verweist mit dem Ausdruck „presentismo“ darauf, dass in einem bestimmten Zeitraum, der für die produktive Arbeit vorgesehen ist, nicht produktiv gearbeitet wird.
›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹
›presentismo‹
Tabelle 12: Vergleich ANWESENHEIT
134 5 Analyse der Korpora
WIRTSCHAFTSKRISE - Die Wirtschaftskrise kann dazu führen, dass die Arbeitnehmer auch krank zur Arbeit kommen, weil sie Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes haben (dies wird bisweilen, wenn auch selten, als „Präsentismus“ bezeichnet).
- Die Wirtschaftskrise verstärkt den presentismo, da die Arbeitnehmer Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Dies kann dazu führen, dass auch kranke Arbeitnehmer am Arbeitsplatz erscheinen. Zudem kann der durch die Krise verstärkte presentismo Stress und gesundheitliche Probleme verursachen.
FLEXIBILISIERUNG - Verschiedene Maßnahmen der Flexibilisierung sollen den Umgang mit Arbeitszeit und die Anwesenheit am Arbeitsplatz modernisieren (besonders Homeoffice). Die Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz ist eine veraltete Tradition.
WIRTSCHAFTSKRISE
COMISIÓN NACIONAL PARA LA RACIONALIZACIÓN DE LOS HORARIOS ESPAÑOLES - Der Diskursakteur betont, dass Flexibilisierung und Rationalisierung die Lösung für den presentismo und für eine Steigerung der Produktivität Spaniens darstellen.
FLEXIBILISIERUNG/RATIONALISIERUNG - Die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die die Anwesenheitszeiten verändert und verkürzt sowie die lange Mittagspause verkürzt, stellt eine Lösung dar. Die Racionalización de los Horarios Españoles fordert dieselben Schritte, ergänzt diese allerdings um die Zeitumstellung (zurück zu WEZ, UTC+0), durch die der Tagesablauf in ganz Spanien verändert werden soll.
B. presentismo resultiert auch aus der Zeitumstellung im Jahr 1942. Mit der Rückkehr zur ursprünglichen Zeitzone (Racionalización de los Horarios Españoles) wird auch das Problem des presentismo behoben.
A. Er ist deshalb nur schwer zu verändern.
KULTUR presentismo ist Teil der spanischen Kultur und Mentalität.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
135
- Anwesenheit am Arbeitsplatz wird zunächst neutral bewertet. Die lange Anwesenheit am Arbeitsplatz wird negativ bewertet, da davon ausgegangen wird, dass kein Zusammenhang zwischen der Anwesenheit am Arbeitsplatz und der Produktivität der Mitarbeiter besteht, dass die Lockerung der Anwesenheitspflicht aber Vorteile hat (bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben etc.). Es finden sich also keine Argumente, die für die Anwesenheit sprechen, aber durchaus Argumente, die gegen sie sprechen.
- Der presentismo wird negativ bewertet, da er
In beiden Sprachkulturen lassen sich unter dem konzeptuellen Zugriff ANWESENHEIT vergleichbare Teilbedeutungen nachweisen, es finden sich jedoch auch signifikante Unterschiede. Das spanische Konzept ›presentismo‹ unterscheidet sich auf inhaltlicher und auf sprachstruktureller Ebene von dem deutschen Konzept ›Anwesenheit am Arbeitsplatz‹. Die Übersetzung des spanischen Ausdrucks ist im deutschen Korpus nicht gebräuchlich. Das Konzept ›presentismo‹ kann als Kulturem des spanischen Korpus gelten.
Kulturspezifik
Die Leserkommentare betonen ebenfalls, dass der presentismo ein typisch spanisches Phänomen sei, und konkretisieren das Narrativ des presentismo.
Leserkommentarkorpus
- Der presentismo wirkt sich negativ auf die Arbeitnehmer und die Unternehmen aus.
d. eine Gefahr für das Unternehmen ist, das von der geringen Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers beeinträchtigt wird.
c. eine Gefahr für den Arbeitnehmer ist, der kein Gleichgewicht zwischen Beruf und Familie herstellen kann und gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ist
b. ein kulturelles Problem Spaniens darstellt
a. sich negativ auf die Produktivität der Arbeitnehmer und der Unternehmen auswirkt
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
136 5 Analyse der Korpora
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
137
5.2.3.3 Konzeptueller Zugriff VEREINBARKEIT 5.2.3.3.1 Spanisches Konzept ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ (dt. Berufs- und Privatleben – insbesondere Familienleben – vereinbaren)212 Die Suche nach dem Ausdruck „concilia*“ (von „conciliación“, dt. Vereinbarkeit, oder „conciliar“, dt. vereinbaren) liefert im Korpusanalyseprogramm AntConc 4.253 Treffer und damit zu viele, um diese mit hermeneutisch-qualitativen Methoden auszuwerten. Stattdessen wurde der Blick in der Analyse auf die häufigsten Kollokationen und Cluster213 gerichtet. Des Weiteren wurden insbesondere Zeitungsartikel untersucht, die bereits in der Überschrift – also an besonders prominenter Diskursstelle – den Ausdruck „concilia*“ enthalten. Sprachliche Konstituierung Unter der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird im spanischen Korpus die Möglichkeit des harmonischen Umgangs mit Zeit verstanden, der es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Zeit zwischen Beruf und Privatleben – insbesondere Familienleben – ausgeglichen einzuteilen. 75. De esa organización razonable del reloj depende la armonía entre la vida laboral y la personal (sea o no familiar). (País, 13.09.2011, La crisis no concilia)214 Im genannten Beleg wird explizit auf den Aspekt des Familiären im Privatleben hingewiesen. Die quantitative Überprüfung der Zeitungstexte ergibt, dass in den Formulierungen „conciliar…“ (dt. vereinbaren) und „conciliación de…“ (dt. Vereinbarkeit von…) fast immer Arbeits- und Familienleben gegenübergestellt werden, seltener findet sich die Bezugnahme auf Arbeits- und Privatleben.
212
Die Benennung des Konzeptes wird im Folgenden abgekürzt als ›conciliar entre vida laboral y personal‹.
213
Für Erläuterungen zu Kollokationen und Clustern vgl. Kapitel 5.1.1.3 zur Wortgruppenanalyse.
214
Dt. Von dieser vernünftigen Organisation der Zeit hängt die Harmonie zwischen Berufs- und Privatleben ab (sei es Familienleben oder nicht).
138
5 Analyse der Korpora
Cluster „concilia*“215
Häufigkeit
conciliación de la vida laboral y familiar216 conciliación de la vida familiar y laboral217 conciliar la vida laboral y familiar218 conciliar la vida familiar y laboral219 la conciliación de la vida laboral y familiar220 conciliación de la vida personal y laboral221 conciliación de la vida personal, familiar222 conciliación de la vida laboral y personal223
154 126 59 54 41 12 12 11
Tabelle 13: Cluster ›conciliar entre vida laboral y personal‹
Dies mag zunächst überraschen, da es sich bei der Nennung der Familie als Referenz um die konkretere Beschreibungsebene handelt, denn unter dem Hyperonym „vida personal“ (dt. Privatleben) ist das „vida familiar“ (dt. Familienleben) wie im Deutschen eingeschlossen. Die häufigere Nennung der konkreteren Beschreibungsebene lässt sich damit begründen, dass in vielen Fällen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (bspw. von werdenden Müttern oder von arbeitenden Eltern) besprochen wird, dass dem Wert „Familie“ eine besondere Wichtigkeit im Korpus zukommt, und damit, dass es sich bei dem Wort „Familie“ um ein Hochwertwort handelt, das als unmittelbar positiv wirkender Wert in der Debatte angeführt wird. Bemerkungen zur Grammatik Bei der Durchsicht der Überschriften fällt auf, dass das Verb „conciliar“ (dt. vereinbaren) im Spanischen häufig als transitives Verb verwendet wird:
215
Gesucht wurde nach den häufigsten Clustern (6-Gramme bis 10-Gramme), die das Lexem „concilia*“ enthalten. Die Belege der Wortformen „conciliación“ und „conciliacion“ wurden zusammengefasst. Cluster, die weniger als 10 Treffer aufweisen, wurden nicht berücksichtigt.
216
Dt. Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben.
217
Dt. Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben.
218
Dt. Berufs- und Familienleben vereinbaren.
219
Dt. Familien- und Berufsleben vereinbaren.
220
Dt. die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben.
221
Dt. Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben.
222
Dt. Vereinbarkeit von Privat- und Familienleben.
223
Dt. Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
139
- La crisis no concilia (País, 13.09.2011, = Titel)224 - Si concilia el jefe concilias tú (País, 25.02.2011, = Titel)225 - Sólo un 22,7% concilia en casa. Un estudio revela que el 42% de las mujeres con más de 35 años e hijos deja su empleo, pues sólo un 22% de las parejas concilia (Mundo, 10.06.2008, = Titel)226 Die Männer, Frauen, Chefs und Paare werden als Akteure genannt, die „vereinbaren“ oder die dies nicht tun; eine Ergänzung mit einem Objekt ist im Spanischen nicht notwendig. Beim deutschen Verb „vereinbaren“ handelt es sich um ein transitives Verb, das eine Ergänzung mit einem Akkusativobjekt fordert. Die Verwendungsweise „Sie vereinbart Karriere und Familie tatsächlich.“ (SZ, 19.04.2012, Eine goldene Schürze für die Herdprämie) ist möglich, wird allerdings im deutschen Korpus selten gebraucht. Das Verb „vereinbaren“ in der Bedeutung „in Übereinstimmung, in Einklang bringen“ wird stattdessen verneint gebraucht; es geht oft darum, dass etwas nicht miteinander vereinbart werden kann.227 Konzeptuelle Verknüpfungen ›conciliar entre vida laboral y personal‹, ›flexiblizar los horarios‹ und ›productividad‹ Die Maßnahmen, die von den Unternehmen umgesetzt werden (sollen), um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu ermöglichen, sind flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit, kürzere Arbeitstage sowie Angebote zur Kinderbetreuung und Heimarbeit. 76. De entre las medidas implantadas en las empresas, la más frecuente es la flexibilidad horaria (57,7%) […]. Le siguen las medidas de trabajo a tiempo parcial y la jornada laboral reducida en un 57,5% y un 47,6% de los casos […]. Hay otras medidas de conciliación, como el servicio de guardería o el teletrabajo, que apenas existen en las empresas —solo mínimamente en algún sector—, ya que solo el 1,3% y el 6,7% de las encuestadas, respectivamente, cuentan con ellas. (País, 27.07.2003, La conciliación con la familia, en el olvido)228 224
Dt. Die Krise vereinbart nicht.
225
Dt. Wenn der Chef vereinbart, vereinbarst auch du.
226
Dt. Nur 22,7% vereinbaren zu Hause. Eine Studie offenbart, dass 42% der Frauen über 35 mit Kindern den Arbeitsplatz aufgeben, da nur 22% der Paare vereinbaren.
227
Vgl. Duden 2015, 1887. Dieser Gedanke wird in der Konstituierung des deutschen Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ (Kapitel 5.2.3.3.2) nochmals aufgegriffen. Das Verb „vereinbaren“ mit nachfolgendem Akkusativobjekt und nicht verneint findet sich im deutschen Korpus in anderen Kontexten (bspw. „Sie vereinbart Friseurtermine“, taz, 05.10.2012, Im Seniorenpark).
228
Dt. Unter den Maßnahmen, die in den Unternehmen eingeführt wurden, ist die häufigste die flexible Arbeitszeit (57,7%) […]. Ihr folgen die Maßnahmen der Teilzeitarbeit und der reduzierten Arbeitszeit in 57,5% und 47,6% der Fälle […]. Es gibt weitere Maßnahmen der Vereinbarkeit, wie Kinderbetreuungsangebote oder Teleheimarbeit, die aber in den Unternehmen kaum vorkommen. Nur in wenigen Branchen
140
5 Analyse der Korpora
Die Flexibilisierung der Arbeitszeit gehört dabei zu den häufiger umgesetzten Maßnahmen, und auch Teilzeitarbeit sowie verkürzte Arbeitszeiten werden den Arbeitnehmern relativ häufig ermöglicht, während Kinderbetreuung und Heimarbeit sehr viel seltener von den Unternehmen angeboten werden. Ein weiterer Beleg verweist auf eine Studie, die in Katalonien durchgeführt wurde und ergab, dass die am häufigsten umgesetzten Maßnahmen in den 600 untersuchten Firmen flexible Urlaubstage, Beurlaubung zur Pflege eines Familienangehörigen, reduzierte und flexible Arbeitszeiten sowie die Möglichkeit eines freien halben Tages umfassen: 77. El trabajo, realizado sobre una muestra de 600 empresas catalanas, 500 de ellas grandes y 100 pequeñas y medianas, revela que las medidas conciliadoras que más se aplican son vacaciones flexibles, excedencia por cuidado de un familiar, reducciones de jornada, horario flexible y la posibilidad de gozar de medio día libre recuperable durante la semana. La consejera de Trabajo, Mar Serna, aseguró que la adopción de estas políticas es una “pieza clave” para lograr un mayor compromiso y rendimiento de los trabajadores en la empresa, lo que redunda en un aumento de la competitividad. El absentismo es uno de los factores que más preocupan a los empresarios. “La conciliación no es un coste, es una inversión”, afirmó la profesora del Iese Nuria Chinchilla. (País, 30.06.2009, Conciliar la vida personal y laboral reduce el absentismo)229 In den Belegen 76 und 77 wird das Konzept ›flexiblizar los horarios‹ mit der Vereinbarkeit verknüpft. In beiden Belegen wird außerdem argumentiert, dass die Maßnahmen, die der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dienen, der Produktivität der Mitarbeiter und des Unternehmens keineswegs entgegenstehen, sondern diese sogar steigern; so reduziere sich beispielsweise das unbegründete Fehlen der Arbeitnehmer, der sogenannte „absentismo“ (vgl. Beleg 77). Es wird des Weiteren davon ausgegangen, dass die Maßnahmen der Vereinbarkeit die Produktivität der Unternehmen steigern, indem sie die Bindung an die Firmen stärken, zufriedenere, fleißigere Arbeitnehmer generieren und die Unternehmen für die talentiertesten Mitarbeiter attraktiver machen.230 verfügen 1,3% und 6,7% der jeweiligen Befragten darüber. 229
Dt. Die Studie offenbart anhand einer Stichprobe von 600 katalanischen Unternehmen, 500 großen und 100 kleinen bis mittleren, dass die Maßnahmen der Vereinbarkeit, die am häufigsten angewandt werden, flexible Urlaubszeiten, Beurlaubung zur Pflege eines Familienangehörigen, reduzierte Arbeitszeiten, flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit eines freien halben Tages, der während der Woche nachgeholt werden kann, sind. Die Arbeitsministerin, Mar Serna, versicherte, dass das Ergreifen dieser politischen Maßnahmen ein „Schlüsselfaktor“ sei, um eine größere Bindung und eine höhere Leistung der Angestellten in einer Firma zu erreichen, was wiederum die Konkurrenzfähigkeit steigere. Der absentismo ist einer der Faktoren, der den Unternehmenschefs Sorgen bereitet. „Maßnahmen zur Vereinbarkeit sind keine Ausgaben, sondern eine Investition“, versichert die Professorin Nuria Chinchilla von Iese [Wirtschaftshochschule in Navarra, Anm. MM].
230
Vgl. País, 20.08.2006, „Conciliación avanzada“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
141
In einem weiteren Beleg wird eine weltweit durchgeführte Studie zitiert, die ergab, dass das Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Privatleben zu den wichtigsten Aspekten des Berufes zählt und nur von der Höhe des Gehaltes übertroffen wird. 78. Este mismo análisis dice que el equilibrio entre la vida personal y laboral es uno de los factores clave del trabajo, superado sólo por la retribución. El sondeo asegura que aquellos que creen que tienen un buen equilibrio entre sus dos vidas trabajan un 21% más que aquellos que no lo tienen. (Mundo, 19.04.2009, Conciliación)231 Die Umfrage ergab des Weiteren, dass die Mitarbeiter, die glauben, ein Gleichgewicht zwischen Berufsleben und Privatleben zu haben, 21% mehr arbeiten als diejenigen, die dies nicht tun. Es wird erneut betont, dass Maßnahmen, die die Vereinbarkeit fördern, der Produktivität nicht entgegenstehen, sondern diese erhöhen. Die dargestellte Diskursposition und Teilbedeutung ‘Maßnahmen, die die Vereinbarkeit fördern, führen wider Erwarten zu mehr Produktivität in den Unternehmen’ ruft zugleich die angenommene, aber nicht explizit gemachte Gegenposition ‘Maßnahmen der Vereinbarkeit beeinträchtigen die Produktivität der Unternehmen’ (s. Beleg 83) auf. ›conciliar entre vida laboral y personal‹, Emanzipation und Gleichberechtigung Das Konzept der Vereinbarkeit wird mit der angestrebten Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau – genauer, der weiblichen Emanzipation – sowohl am Arbeitsplatz als auch im Alltag verknüpft. Vereinbarkeit wird zunächst allgemein mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau verknüpft: 79. Debemos avanzar, sin demora, hacia una España potente, de prestigio, productiva, con una prioridad absoluta en políticas consensuadas para la conciliación de la vida privada y laboral, de igualdad entre el hombre y la mujer. Es preciso impulsar una sociedad donde el humanismo y la calidad de vida ocupen un lugar preferente en la escala de valores. (Mundo, 21.02.2011, La reforma más necesaria)232 Den politischen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben, die zugleich der Gleichberechtigung von Mann und Frau dienen, wird hier absolute Priorität zugesprochen. Durch die Maßnahmen der Vereinbarkeit wird ein Schritt in Richtung der Gleichberechtigung beider Geschlechter getan. Der Beleg zeigt, dass die Verein231
Dt. Dieselbe Studie ergab, dass das Gleichgewicht zwischen Privat- und Berufsleben einer der Schlüsselfaktoren der Arbeit ist und nur von der Höhe des Gehalts übertroffen wird. Die Meinungsumfrage bestätigt, dass diejenigen, die glauben, ein gutes Gleichgewicht zwischen ihren beiden Leben[-sbereichen] zu haben, 21% mehr arbeiten als diejenigen, die dies nicht haben.
232
Dt. Wir müssen uns ohne zu zögern in Richtung eines starken, prestigereichen und produktiven Spaniens entwickeln, mit höchster Priorität auf politischen Maßnahmen der Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben und der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es ist notwendig, eine Gesellschaft voranzutreiben, in der Humanismus und Lebensqualität auf der Werteskala ganz oben stehen.
142
5 Analyse der Korpora
barkeit als wichtiges Ziel der spanischen Gesellschaft, das angestrebt werden muss („debemos avanzar“, dt. wir müssen vorankommen), positiv bewertet wird: Im darauffolgenden Satz werden die Hochwertkonzepte ›Humanismus‹233 und ›Lebensqualität‹ angeschlossen. Die politischen Maßnahmen der Vereinbarkeit dienen dem Erreichen verschiedener Hochwerte der spanischen Gesellschaft wie der Gleichberechtigung von Mann und Frau und werden insofern extrem positiv und als unbedingt umzusetzen bewertet. Die Vereinbarkeit trägt zur Emanzipation der weiblichen Arbeitnehmer bei – für diese sind die Maßnahmen der Vereinbarkeit entscheidend und von ihnen werden die Maßnahmen häufiger in Anspruch genommen: 80. Las trabajadoras también se muestran más preocupadas por la conciliación que sus colegas varones: el 55% reconoce tener problemas para compatibilizar trabajo y familia […] (País, 15.05.2005, La conciliación es cosa de todos)234 235 Gleichwohl wird in demselben Artikel bereits in der Überschrift darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen beide Geschlechter betreffen. Es wird wiederholt argumentiert, dass sich die (Arbeits-)Welt an die Bedürfnisse der Frauen anpassen müsse, dass diese Bedürfnisse jedoch den Bedürfnissen der Gesellschaft als ganzer entsprächen. 81. Es necesario “cambiar las estructuras” y favorecer la conciliación de la vida familiar y laboral, una tarea que concierne a mujeres y varones. “El hombre tiene que asumir que debe tener responsabilidad en el hogar”, puntualizo Ana Botella. De esa forma se atacaría el problema de la “doble jornada” femenina, que, a su juicio, “se agudiza a medida que la escala social es más baja”. “Mientras la conciliación de la vida familiar y laboral sea un asunto solo de mujeres no iremos a ningún sitio” (País, 02.03.2004, La conciliación, según Ana Botella)236 Im zitierten Beleg fällt die Formulierung „doble jornada feminina“ (dt. doppelter 233
Unter „Humanismus“ ist hier weniger die geistesgeschichtliche Haltung, sondern vielmehr eine allgemeine Haltung der Menschlichkeit zu verstehen.
234
Dt. Die weiblichen Angestellten sorgen sich ebenfalls stärker um die Vereinbarkeit als ihre männlichen Kollegen: 55% gibt an, Probleme bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu haben (Titel: Die Vereinbarkeit ist eine Sache aller).
235
Vgl. auch: „Por sexo, las mujeres buscan sobre todo empresas que les permitan conciliar vida personal y laboral, mientras que los hombres seleccionan oportunidades laborales sobre la base de su desarrollo de carrera.“ (Mundo, 08.02.2009, Expectativas de futuro) Dt. Nach Geschlecht getrennt, suchen Frauen vor allem Unternehmen aus, die ihnen die Vereinbarkeit von Privatleben und Berufsleben ermöglichen, während Männer ihre beruflichen Möglichkeiten eher nach den Karrierechancen wählen.
236
Dt. Es ist notwendig, „die Strukturen zu verändern“ und die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben zu begünstigen, eine Aufgabe, die Frauen und Männer betrifft. „Der Mann muss anerkennen, dass er Verantwortung im Haushalt übernehmen muss“, stellt Ana Botella klar. Auf diese Weise würde man das Problem des „doppelten Arbeitstages“ der Frau angehen, das sich nach ihrem Urteil „verschärft, wenn die soziale Schicht niedriger ist“. „Solange die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben nur Sache der Frauen ist, werden wir nichts erreichen“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Arbeitstag der Frau) auf, mit der gemeint ist, dass die Frau häufig sowohl die Arbeit im Beruf als auch die Arbeit im Haushalt erledigt. Die Veränderung der bestehenden Strukturen und die Unterstützung der Maßnahmen der Vereinbarkeit betreffe sowohl Frauen als auch Männer, die Verantwortung für den Haushalt übernehmen müssten. Es lässt sich zusammenfassen, dass im Kontext des Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹ zwischen zwei Gruppen von Arbeitnehmern differenziert wird: zwischen weiblichen Arbeitnehmern, denen die Maßnahmen der Vereinbarkeit besonders nützen (würden) und die diese häufiger in Anspruch nehmen, und männlichen Arbeitnehmern, die – so wird stets betont – ebenso von der fehlenden Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie betroffen sind.237 ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ und Krise Die Vereinbarkeit wird mit der Wirtschaftskrise verknüpft. In deren Kontext ist die Differenzierung zwischen jüngeren und älteren Arbeitnehmern relevant: Mit dem Eintritt der neuen Generation in den Arbeitsmarkt äußern sich auch deren Ansprüche und Bedürfnisse. Neben dem Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz, der durch die hohe Arbeitslosigkeit und die Krise entstünde, sei ihnen insbesondere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gelegentlich auch von Beruf und Freizeitaktivitäten oder Weiterbildung, wichtig. 82. Expectativas de futuro. De mayor quiero ser funcionario. Ante unos datos de paro desbocados, los jóvenes confirman que la Administración Pública es su opción laboral preferida, porque garantiza un empleo fijo y posibilita la conciliación. (Mundo, 08.02.2009, = Titel)238 Die Krise und die Arbeitslosigkeit, die durch die Krise verstärkt wird, werden mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verknüpft: Der Wunsch nach Sicherheit und Vereinbarkeit werde bei den jungen Arbeitnehmern präsenter, aber auch schwieriger umzusetzen. Dies lässt sich auch im folgenden Artikel mit der bezeichnenden Überschrift „La crisis no concilia“ (dt. Die Krise vereinbart nicht, País, 13.09.2011) nachvollziehen: 83. La mala situación económica dificulta la racionalización de los horarios laborales Cuando la prioridad es mantener el trabajo, la igualdad se tiende a considerar un lujo [= Lead, Anm. MM] “Con la crisis, hay quien ha dejado un poco aparcadas estas cuestiones, y debería ser al revés” […] De esa organización razonable del reloj depende la armonía entre la vida laboral y la personal (sea o no familiar). Y esta compaginación, sazonada de corresponsabilidad en casa, es, a 237
Für eine rollenspezifische Betrachtung des Korpus vgl. Kapitel 5.4.3.1.2.
238
Dt. Zukunftserwartungen. Wenn ich groß bin, möchte ich Beamter sein. Angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen bestätigt die junge Generation, dass der öffentliche Dienst ihre bevorzugte Arbeitsoption ist, weil er einen festen Arbeitsplatz und die Vereinbarkeit garantiert.
144
5 Analyse der Korpora
su vez, un pilar clave para la igualdad real entre mujeres y hombres. Un círculo virtuoso que aumenta la productividad, según sus defensores. Un círculo que la crisis va cuadrando.239 Vor dem Hintergrund der Krise werden Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, die eine entscheidende Rolle in der Gleichberechtigung von Mann und Frau spielen, als Luxus betrachtet. Laut Aussage von Ignacio Buqueras handelt es sich hierbei um einen fundamentalen Fehler, da sowohl die Vereinbarkeit als auch die Gleichberechtigung letztendlich zu mehr Produktivität führen. Die Krise verhindere die Maßnahmen, die den Weg aus der Krise ermöglichen würden. Die Argumentation Buqueras’ mündet in die Forderung, die Gleichberechtigung auch vor dem Hintergrund der Krise nicht als Luxus der florierenden Zeiten zu betrachten. Bewertung des Konzeptes Das Konzept ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ wird durchgängig sehr positiv bewertet. Die Diskursakteure sind sich einig darin, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, insbesondere Familienleben, ein unbedingt voranzutreibender Wert der (spanischen) Gesellschaft ist. Dieser muss durch verschiedene politische Maßnahmen umgesetzt werden, um a. dem Arbeitnehmer eine ausgeglichene Zeiteinteilung zwischen Beruf, Familie und Freizeit zu ermöglichen. b. die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu fördern und insbesondere der Emanzipation der Frau den Weg zu bereiten. c. die Produktivität der Unternehmen zu steigern. In den Zeitungsartikeln wird auf Studienergebnisse verwiesen, Diskursautoritäten aus Wissenschaft und Politik werden zitiert und Vertreter der Unternehmen unterstreichen die Wichtigkeit der Vereinbarkeit. Kritik wird an Unternehmen geäußert, die die Maßnahmen zum Erreichen des gesellschaftlich objektivierten Ziels der Vereinbarkeit nicht umsetzen. Das Konzept der Vereinbarkeit wird in der Berichterstattung mit verschiedenen Hochwerten wie Emanzipation und Gleichberechtigung verknüpft. In der Ausdrucksform „conciliar entre vida laboral y familiar“ selbst findet sich der Hochwertausdruck 239
Dt. Die schlechte wirtschaftliche Situation erschwert die Rationalisierung der Arbeitszeiten – wenn die Priorität ist, die Arbeitsstelle zu behalten, neigt man dazu, die Gleichberechtigung als Luxus zu betrachten [Lead] „Durch die Krise gibt es Leute, die diese Fragen vertagen, und es muss genau umgekehrt sein“. […] Von dieser vernünftigen Einteilung der Arbeitszeit hängt die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ab (sei es Familienleben oder nicht). Und diese Vereinbarkeit, gepaart mit der gemeinsamen Verantwortung im Haushalt, ist gleichzeitig ein zentraler Pfeiler der wirklichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Ein wirksamer Kreislauf, der seinen Verfechtern zufolge die Produktivität steigert. Ein Kreislauf, dem die Krise entgegenwirkt.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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„Familie“, der als Pfeiler in der spanischen Gesellschaft unantastbar ist – das Konzept selbst wird von den Diskursakteuren als Hochwertkonzept etabliert. Die Krise wird als Gefahr für diesen neu etablierten Hochwert der Vereinbarkeit wahrgenommen. Zugleich wird argumentativ entgegengehalten, dass die Förderung der Vereinbarkeit letztendlich die Produktivität der Unternehmen steigere und damit der schlechten wirtschaftlichen Situation entgegenwirke. Exkurs: Metasprache und Bewertungen Bei der qualitativ-hermeneutischen Analyse fällt auf, dass das Verb „conciliar“ (dt. vereinbaren) und das Nomen „conciliación“ (dt. Vereinbarkeit) auf der Metaebene kommentiert werden: Das Konzept wird auch hier positiv bewertet, allerdings wird der Ausdruck der „conciliación“ stark kritisiert. 84. Montse Ventosa, directora de Employee Branding, recuerda que la definición que figura en el diccionario sobre “conciliación” nos remite a la armonización de dos opiniones contrarias. En este caso, entre “trabajo” y “vida”. En Reino Unido y Estados Unidos lo llaman work life balance, que de nuevo hace referencia al equilibrio entre dos fuerzas opuestas. Si bien es cierto que el trabajo requiere de gran parte de nuestro tiempo, también nuestra vida requiere de tiempo; desde estar con nuestra pareja, a comprar, hacer recados, leer un libro, comer... En otras palabras, para que la conciliación sobreviva al nuevo escenario necesitamos cambiar el chip, y en lugar de ver el trabajo versus la vida, hay que ver esta como la suma de trabajo, tiempo libre y familia. […] Nuria Chinchilla [profesora del IESE] cree que es preferible hablar de enriquecimiento, de integrar o de empatía: El cambio más importante es ver la parte positiva; que las personas sean responsables de su propia vida, y no sólo que la empresa ponga algo de su parte. (Mundo, 29.11.2009, El nuevo equilibrio de la conciliación)240 Die genannten Diskursakteure weisen darauf hin, dass „conciliar“ und „conciliación“ die Bedeutung haben, dass zwei konträre Positionen, Meinungen oder Aktivitäten 240
Dt. Montse Ventosa, Leiterin von Employer Branding, erinnert daran, dass die Definition von „Vereinbarkeit“ im Wörterbuch auf die Harmonisierung zweier entgegengesetzter Positionen verweist. In diesem Fall von „Arbeit“ und „Leben“. In Großbritannien und den USA nennen sie es Work-Life-Balance, was sich erneut auf das Gleichgewicht von zwei entgegengesetzten Kräften bezieht. Auch wenn es stimmt, dass die Arbeit einen großen Teil unserer Zeit beansprucht, braucht auch unser Leben Zeit: Zeit mit dem Partner verbringen, einkaufen, Besorgungen machen, ein Buch lesen, essen… In anderen Worten, damit die Vereinbarkeit unter den neuen Umständen überlebt, müssen wir den „Chip“ auswechseln und Arbeit nicht mehr als Gegenpol zum Leben sehen, sondern das Leben als Summe aus Arbeit, Freizeit und Familie... […] Nuria Chinchilla [Professorin der IESE Business School] glaubt, dass es vorteilhaft ist, von Bereicherung, Integration und Empathie zu sprechen: Die wichtigste Veränderung ist, den positiven Teil zu sehen; dass die Leute verantwortlich für ihr eigenes Leben sind, und nicht nur, dass die Firma ihren Teil dazu beiträgt.
146
5 Analyse der Korpora
miteinander in Einklang gebracht werden.241 Die Konzeptualisierung, die „Arbeit“ und „(Privat-)Leben“ in dem Syntagma „conciliación de vida laboral y personal“ damit als zwei entgegengesetzte Pole im Leben ausgibt, wird kritisiert. Im zitierten Beleg machen verschiedene Personen auf die allgemeinen Probleme der Vereinbarkeit und auf die speziellen Probleme im Verständnis des Begriffes aufmerksam. So werde der Ausdruck auf verschiedene Art und Weise missverstanden: als Argument der Frauen, die mehr Zeit für sich haben möchten, als Umschreibung verschiedener Maßnahmen, die ausschließlich den weiblichen Arbeitnehmern helfen sollen, aber vor allem als Ausdruck, der dem englischen Wort „Work-Life-Balance“ entspreche und wie dieser den Fehler mache, Leben und Arbeit als zwei sich entgegenstehende Kräfte aufzufassen. Stattdessen sei es sinnvoller (hier wird wiederum eine Diskursakteurin, Nuria Chinchilla, zitiert, die als Professorin einer Wirtschaftshochschule als Diskursautorität gekennzeichnet wird), die Arbeit nicht als gegenüberliegenden Pol zum Privatleben zu verstehen, sondern das Leben als Summe aus Arbeit, Freizeit und Familie aufzufassen. Dafür müsse der „Chip“, der das Denken bestimme, ausgetauscht werden, daher empfiehlt die Professorin, eher von Bereicherung, Integration oder Empathie zu sprechen. Interessant ist hierbei die Argumentation, die der Beleg nachzeichnet: Es wird davon ausgegangen, dass das Denken über die Sprache geändert werden kann.242 Exkurs: Gesetze als Indikatoren der Sachverhaltsebene PLAN CONCILIA243 und LEY DE CONCILIACION DE LA VIDA FAMILIAR Y LABORAL Das Konzept ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ ist stark von Referenzen auf die Sachverhaltsebene geprägt: In der Diskussion wird auf verschiedene Gesetze (Ley de Conciliación de la Vida Familiar y Laboral244, Ley de Igualdad245, Ley de Dependencia246) und auf den sogenannten Plan Concilia247 verwiesen, ein Paket von Maßnahmen des Verwaltungsministeriums (Ministerio de Administraciones Publicas), 241
Vgl. auch Mundo, 03.12.2008, „Hoy miércoles. Paradojas de la conciliación“.
242
Auf die Macht der Sprache wird auch im Artikel „II Estrategias“ (Mundo, 02.12.2008) hingewiesen, der darlegt, dass bestimmte Beschreibungen im Kontext der Vereinbarkeit (bspw. „el equilibrio del tiempo“, dt. die ausgeglichene Zeiteinteilung, „ganar tiempo“, dt. Zeit gewinnen) irreführend sein können.
243
Auf den offiziellen Seiten der spanischen Regierung (Gobierno de España, Ministerio de Política Territorial) findet sich eine Darstellung, in der die Maßnahmen erläutert werden (vgl. https://www. google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=0ahUKEwi-zJTe1uHYAhWpiqYKHU mDA2wQFggvMAE&url=https%3A%2F%2Figualdad.uniovi.es%2Fc%2Fdocument_library%2Fget_ file%3Fuuid%3D3dea85b0-b20b-465a-9a66-09e95a80d815%26groupId%3D336079&usg=AOvVaw2KmWs dQaGVAcC18E300LGC letzter Zugriff 18.01.2018 15:05 Uhr.). Vgl. auch Anhang 4 für eine Gegenüberstellung der alten Maßnahmen mit den neuen des „Plan Concilia“.
244
Dt. Gesetz zur Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben.
245
Dt. Gleichberechtigungsgesetz.
246
Dt. Pflegegesetz.
247
Dt. Plan zur Vereinbarkeit.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
147
das den Angestellten des öffentlichen Dienstes die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen soll. Die wichtigsten Maßnahmen des Plan Concilia, der am 1. Januar 2006 in Kraft trat, werden im folgenden Beleg beschrieben: 85. Permiso de paternidad y ampliación del de maternidad a un lado, el nuevo menu a la carta de los padres funcionarios incluye además una reducción de las horas de presencia fija y la flexibilización de un tercio de la jornada para compatibilizar hogar y trabajo; la posibilidad de limitar la estancia por cuidado de hijos de hasta 12 años (Mundo, 08.12.2005, Las funcionarias disfrutaran de un mes más por maternidad que el resto de trabajadoras. La jornada de los empleados del Estado concluirá a las 6 de la tarde para conciliar vida familiar y laboral.)248 249 Neben der 10-tägigen Beurlaubung für Väter nach der Geburt ihres Kindes und der Erweiterung des Mutterschutzes um vier Wochen (von 16 auf 20 Wochen), wird die Anwesenheitspflicht durch die Umstellung gelockert: Zum einen wird das Ende des Arbeitstages auf 18 Uhr festgesetzt, zum anderen ist es den Mitarbeitern möglich, die Anwesenheit am Arbeitsplatz um eine Stunde zu verkürzen, um sich um Kinder unter 12 Jahren zu kümmern.250 Von den Maßnahmen profitieren zunächst die staatlichen Angestellten (vgl. Überschrift Beleg 85). Im Anschluss an die Verabschiedung wurde darüber diskutiert, ob die Maßnahmen auch in spanischen Unternehmen umgesetzt werden sollten (Mundo, 21.05.2006, Plan concilia, un modelo a seguir por las empresas, dt. Plan zur Vereinbarkeit, ein Modell, dem auch die Unternehmen folgen sollten), bislang gelten in den Unternehmen jedoch die Regelungen der Ley de Igualdad (vgl. den folgenden Abschnitt). Einige Diskursakteure betonen, dass die Maßnahmen auch in nichtstaatlichen Unternehmen umgesetzt werden sollten, wie beispielsweise der ehemalige Verwaltungsminister Jordi Sevilla: 86. El permiso de paternidad forma parte del Plan Concilia, un conjunto de medidas que ha puesto en marcha el Ministerio de Administraciones Públicas para conciliar la vida laboral con la familiar. De momento solo afecta a los 542.125 empleados de la Administración central. Pero el ministro Jordi Sevilla, firme impulsor del 248
Neben dem Vaterschaftsurlaub und der Erweiterung des Mutterschaftsurlaubs auf der einen Seite enthält das neue Wahlmenü für Eltern, die verbeamtet sind, außerdem eine Reduzierung der Präsenzarbeitszeiten und die Flexibilisierung eines Drittels des Arbeitstages, um den Haushalt und die Arbeit zu vereinbaren; sowie die Möglichkeit, die Präsenzzeit zu verkürzen, um sich um Kinder unter 12 Jahren zu kümmern (Titel: Die weiblichen Beamten profitieren von einem Monat mehr Mutterschutz als die anderen weiblichen Berufstätigen. Der Arbeitstag der Staatsdiener wird um sechs Uhr enden, um Familien- und Arbeitsleben zu vereinbaren.).
249
Vgl. auch Mundo, 21.05.2006, „Plan concilia, un modelo a seguir por las empresas“.
250
Eine weitere Maßnahme im Rahmen des Plan Concilia ist die Schaffung von Beratungsstellen, an die sich die Arbeitnehmer mit verschiedenen Belangen wenden können: Das Themenspektrum umfasst künstliche Befruchtung, Adoptionsrecht, Pflege schwerkranker Familienangehöriger und Fälle von sexueller Belästigung (vgl. Mundo, 08.12.2005, Las funcionarias disfrutaran de un mes más por maternidad que el resto de trabajadoras sowie Anhang IV.4).
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5 Analyse der Korpora
proyecto, pretende que cunda el ejemplo en otras administraciones y, sobre todo, en la empresa. (País, 19.01.2006, Primer beneficiado del Plan Concilia)251 Die Vereinbarkeit wird hier als Hochwert beschrieben, der der Förderung der Familie dient und von Diskursakteuren eingefordert wird. Der Plan Concilia (dt. Plan zur Vereinbarkeit) verdeutlicht bereits auf der Ausdrucksebene, dass es sich um Maßnahmen handelt, die die Vereinbarkeit vereinfachen sollen. Auf das Maßnahmenpaket wird in insgesamt 66 Textstellen hingewiesen, in 13 Fällen handelt es sich dabei um prominente Textstellen (Überschriften, Leads sowie Bildunterschriften). Deutlich seltener wird auf die frühere Ley 39/1999, de 5 de noviembre, para promover la conciliación de la vida familiar y laboral de las personas trabajadoras252 verwiesen: Im Korpus finden sich 27 Belege, die allesamt Teil des Fließtextes der Artikel sind. Bei der Ley de Conciliación de la Vida Laboral y Familiar handelt es sich um ein Gesetz, das 1999 in der Legislaturperiode der PP (Partido Popular) verabschiedet wurde und das als wichtigste Maßnahme die Verlängerung der Elternzeit von vier auf zehn Wochen beinhaltet, die zwischen Vater und Mutter aufgeteilt werden können.253 Bei den Verweisen auf das Gesetz handelt es sich zumeist um Belegstellen, die das Gesetz kritisieren oder seine Reform fordern: 87. Se limitan a remitir a lo que dice la Ley de Conciliación de 1999, que se ha quedado claramente obsoleta […]. Para Obeso, tenemos una Ley de Conciliación de hace cinco años caracterizada por su “sexismo”, al establecer una “vinculación de los cuidados de los hijos al sexo femenino, excluyendo al padre, al que se le atribuye un papel secundario y patrimonial, no emocional, es decir, se le considera meramente como el que esta para pagar”. (País, 09.05.2004, Convenios sin vida familiar)254 255
251
Dt. Der Vaterschaftsurlaub ist Teil des Plan Concilia, eines Maßnahmenbündels, das das Ministerio de Administraciones Públicas [Ministerium für Angelegenheiten der öffentlichen Verwaltung, das seit 2009 nicht mehr existiert] verabschiedet hat, um Berufs- und Familienleben zu vereinbaren. Im Moment betrifft dies nur die 542.125 Angestellten der zentralen Verwaltung. Aber der Minister Jordi Sevilla, starker Vertreter des Projektes, strebt an, das Beispiel auf weiteren Verwaltungsebenen und vor allem in Unternehmen zu übernehmen.
252
Dt. Gesetz 39/1999, vom 5. November, zur Förderung der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben von weiblichen Berufstätigen. Im Korpus wird das Gesetz als Ley de Conciliación de la Vida Laboral y Familiar (dt. Gesetz zur Vereinbarung von Berufs- und Familienleben) benannt, weshalb auch im Folgenden diese abgekürzte Bezeichnung verwendet wird. Vgl. https://www.boe.es/buscar/doc.php?id=BOEA-1999-21568 letzter Zugriff 06.11.2017 11:55 Uhr.
253
Vgl. “En la primera legislatura, el PP aprobó la Ley de Conciliación de la Vida Familiar y Laboral (1999), que facilitó las excedencias no retribuidas y amplió de cuatro a 10 las semanas de permiso retribuido que pueden tomar los nuevos padres si las madres trabajadoras les ceden el derecho.” (País, 31.01.2004, Ayuda a madres trabajadoras y rechazo a las uniones de hecho) Dt. In der ersten Legislaturperiode verabschiedete die PP das Gesetz zur Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben (1999), das unvergütete Beurlaubungen vereinfachte und die bezahlte Elternzeit von vier auf zehn Wochen ausdehnte, die auch der Vater in Anspruch nehmen kann, wenn die arbeitende Mutter auf ihren Anspruch verzichtet.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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In dem zitierten Beleg schreibt der Direktor des renommierten Wirtschaftsinstituts Esade dem Gesetz Sexismus zu, da es die Erziehung der Kinder vor allem dem weiblichen Geschlecht zuordne und die Rolle des Vaters auf die Funktion des Geldgebers beschränke. In den Belegen bis 2006 betonen beide führenden Parteien, die PSOE (Partido Socialista Obrero Español)256 und die PP, die das Gesetz 1999 verabschiedete, die Notwendigkeit, das veraltete Gesetz zur Vereinbarkeit zu erneuern: 88. El PP presentará en Congreso una proposición de ley para “reforzar” las medidas de la ley de conciliación de la vida laboral y familiar, aprobada bajo su mandato. (El País, 06.03.2005, El PP propone mejorar la conciliación de la vida familiar y laboral)257 Die Anführungszeichen verweisen an dieser Stelle darauf, dass die Maßnahmen bislang kaum umgesetzt wurden und sich als ineffektiv herausgestellt haben. Trotz des Scheiterns der Maßnahmen sind beide Parteien bestrebt, den Hochwert der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für ihre Partei zu reklamieren. Ab dem Jahr 2006, in dem der Plan Concilia in Kraft trat, wird kaum mehr über das Gesetz zur Vereinbarkeit von 1999 diskutiert. LEY DE IGUALDAD und LEY DE DEPENDENCIA Zwei weitere Gesetze werden im Korpus insbesondere im Kotext des Konzeptes der Vereinbarkeit genannt: die Ley de Igualdad und die Ley de Dependencia. Die Ley Orgánica 3/2007, de 22 de marzo, para la igualdad efectiva de mujeres y hombres258 beinhaltet verschiedene Maßnahmen, die zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, insbesondere am Arbeitsplatz, beitragen sollen. Zu den maßgeblichen Änderungen im Rahmen des Gesetzes gehört die Etablierung einer Quote für weibliche Führungskräfte 254
Dt. Sie beschränken sich darauf, auf das Gesetz zur Vereinbarkeit von 1999 zu verweisen, das inzwischen ganz klar überholt ist […]. Nach Ansicht Obesos haben wir seit fünf Jahren ein Vereinbarkeitsgesetz, das sich durch seinen Sexismus auszeichnet, indem es eine Verknüpfung zwischen der Kinderbetreuung und dem weiblichen Geschlecht herstellt, das den Vater ausschließt, indem es ihm eine sekundäre und finanziell absichernde, aber keine emotionale Rolle zuschreibt. Das heißt, dass der Vater ausschließlich als derjenige betrachtet wird, der da ist, um zu bezahlen.
255
Kritik äußert sich auch, indem auf die pompöse, aber nicht zutreffende Bezeichnung des Gesetzes hingewiesen wird: „la pomposamente denominada Ley de Conciliación de la Vida Laboral y Familiar“ (País, 09.11.2002, No da más de sí) Dt. das hochtrabend benannte Gesetz zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben.
256
Vgl. País, 22.04.2004, „Trabajo concede el permiso de maternidad a los padres viudos“.
257
Dt. Die PP wird im Kongress einen Gesetzesvorschlag vorstellen, um die Maßnahmen des Gesetzes zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben, das unter ihrem Mandat verabschiedet wurde, zu „verbessern“.
258
Dt. Verfassungsgesetz [Gesetz auf Verfassungsebene] vom 22.03.2007 zur effektiven Gleichstellung von Frau und Mann. Vgl. https://www.boe.es/buscar/act.php?id=BOE-A-2007-6115 letzter Zugriff 06.11.2017 11:50 Uhr.
150
5 Analyse der Korpora
in Verwaltungsräten von 40%.259 Für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist entscheidend, dass das Gesetz eine Regelung zum freiwilligen Vaterschaftsurlaub (permiso de paternidad voluntaria) enthält, die dem Vater bis zu 13 Tage vergüteten Vaterschaftsurlaub gewährt.260 Im folgenden Beleg beschreibt Jordi Sevilla (damaliger Verwaltungsminister), wie Vaterschaftsurlaub und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusammenhängen: 89. “Lo más importante de Concilia es el permiso de paternidad, porque lanza el mensaje de que los niños son cosa de dos, que todos, padres y madres, se pueden tomar permisos para cuidar de sus hijos. Eso puede ayudar a cambiar nuestra cultura; […]” (País, 08.12.2005, Jordi Sevilla / Ministro de Administraciones Publicas “Le pedí a Zapatero unos días y me los concedió”)261 Zuletzt wird im Kotext der „Vereinbarkeit“ von Beruf und Privatleben auch die Ley de Dependencia262 genannt. Die Vereinbarkeit ist besonders für Frauen problematisch, da sie es sind, die sich mehrheitlich um pflegebedürftige Familienmitglieder kümmern. 90. El 84% de los cuidadores de personas dependientes son hoy mujeres. […] no extraña que el 61% de esas cuidadoras tengan graves problemas profesionales y económicos, como pérdida del empleo (11,7%), reducción de jornada (11,2%), incumplimiento de horarios (10%) y resentimiento de su vida profesional (7%). […] Esto choca de forma radical con la Ley para la Igualdad Efectiva de Hombres y Mujeres, de marzo pasado, y tiene que ver con la puesta en marcha de la llamada Ley de Dependencia. […] Dos de cada tres nuevas empresas las montan en España mujeres. Ellas crean el 70% de los nuevos empleos. Pero sólo el 2% de los puestos de decisión en las empresas están hoy ocupados por mujeres. (País, 09.07.2007, El reto de la igualdad efectiva)263
259
Vgl. ebd.
260
Bei dem sogenannten „permiso de paternidad“ handelt es sich um die umstrittene Regelung, wie viele Tage Vaterschaftsurlaub dem Arbeitnehmer nach der Geburt seines Kindes zu gewähren sind. Die gesetzliche Regelung zum Vaterschaftsurlaub wurde inzwischen erneuert und kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht im Detail dargestellt werden. Für weitere Informationen vgl. http://www.seg-social. es/Internet_1/Masinformacion/TramitesyGestiones/PrestaciondePaterni51457/index.htm letzter Zugriff 06.11.2017 12:06 Uhr.
261
Dt. Das Wichtigste an der Vereinbarkeit ist der Vaterschaftsurlaub, da dieser die Botschaft verbreitet, dass die Kinder eine Sache von zwei Menschen sind, dass alle, Väter und Mütter, Urlaub nehmen können, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Dies kann dazu beitragen, unsere Kultur zu verändern; […].
262
Dt. Pflegegesetz. Im Korpus wird der verkürzte Titel des Gesetzes genannt, das offiziell als Ley 39/2006, de 14 de diciembre, de Promoción de la Autonomía Personal y Atención a las personas en situación de dependencia (dt. Gesetz 39/2006 vom 14. Dezember, zur Förderung der persönlichen Autonomie und der Betreuung von pflegebedürftigen Personen) bezeichnet wird. Vgl. für detaillierte Informationen https://www.boe.es/buscar/act.php?id=BOE-A-2006-21990 letzter Zugriff 06.11.2017 12:13 Uhr.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
151
Im Beleg wird beschrieben, dass das Pflegegesetz dem Gesetz zur Gleichheit von Männern und Frauen entgegenstehe: Für Frauen sei es problematisch, dass die Pflege von Familienangehörigen durch die Ley de Dependencia, die am 14. Dezember 2006 in Kraft trat, zwar ermöglicht werde, dass aber durch das Gesetz nicht verhindert werde, dass sich die berufliche Situation der weiblichen Berufstätigen, die sich der Pflege ihrer Angehörigen annehmen, signifikant verschlechtert.263 In den belegten Textstellen werden verschiedene Gesetze, Gesetzesentwürfe und Maßnahmen diskutiert und kritisiert. Die Maßnahmen und die konkreten Gesetze sind unter den partizipierenden Diskursakteuren umstritten, das Ziel – die Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und Familie – wird hingegen von allen Akteuren als anzustrebendes Hochwertkonzept geteilt. Die sogenannte „Vereinbarkeit“, die als Ausdruck gelegentlich kritisiert wird, als Konzept jedoch beansprucht wird, und der Hochwert Familie sind immer wieder Teil der Wahlkämpfe und der politischen Strategien. Auf der abstrakten Ebene herrscht also Einigkeit, welche Ziele anzustreben sind; auf der konkreten Sachverhaltsebene, bei der es um die Umsetzung von Maßnahmen geht, ist es hingegen sehr viel schwieriger, Einigkeit herzustellen.
263
Dt. 84% der Pflegenden von pflegebedürftigen Personen sind heute Frauen. […] Es erstaunt nicht, dass 61% dieser weiblichen Pflegenden gravierende berufliche und wirtschaftliche Probleme haben, wie den Verlust des Arbeitsplatzes (11,7%), die Kürzung der Arbeitszeit (11,2%), das Nichteinhalten der Arbeitsstunden (10%) und Ressentiments in ihrem beruflichen Leben (7%). […] Dies steht dem Gesetz zur effektiven Gleichstellung von Männern und Frauen des vergangenen März entgegen und hat mit der Verabschiedung des sogenannten Pflegegesetzes zu tun. […] In Spanien stützen sich zwei von drei neugegründeten Unternehmen auf Frauen. Sie stellen 70% der neuen Angestellten. Aber nur 2% der entscheidungsrelevanten Positionen in den Unternehmen sind mit Frauen besetzt.
Im Korpus werden verschiedene Maßnahmen benannt, die von den Unternehmen umgesetzt werden, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Einige der Maßnahmen werden häufiger angeboten als andere.
‘Flexible Arbeitszeiten sind eine Maßnahme, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht und die Produktivität der Arbeitnehmer steigert.’
‘Die Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern, sichern die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der spanischen Gesellschaft.’
iii. indem sie das Unternehmen für die besten Arbeitnehmer attraktiver machen.’
ii. indem sie zufriedenere und fleißigere Mitarbeiter generieren.
i. indem sie dem presentismo und absentismo entgegenwirken.
b. da sie die Produktivität der Mitarbeiter und des Unternehmens erhöhen,
a. da sie dem Arbeitnehmer die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen.
‘Die Maßnahmen zur Vereinbarkeit sind vorteilhaft,
Die Maßnahmen dienen der Emanzipation der Frauen, der
Die Maßnahmen werden positiv für die Arbeitnehmer (a) und für die Unternehmen (b) bewertet.
In der Konzeptkonstituierung wird betont, dass die Maßnahmen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern. Das Hochwertkonzept ›Familie‹ wird verknüpft.
Metadiskursive Deutung
Befund
‘Flexible Arbeitszeiten werden als Maßnahme besonders häufig von Unternehmen angeboten. Teilzeitarbeit und kürzere Arbeitstage werden ebenfalls angeboten. Angebote zur Kinderbetreuung und Heimarbeit werden selten angeboten.’
Möglichkeit eines harmonischen Umgangs mit Zeit, der es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Zeit zwischen Beruf und Privatleben – insbesondere Familienleben – ausgeglichen einzuteilen
›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ (dt. Berufs- und Privatleben – insbesondere Familienleben – vereinbaren)
Rollenspezifik
Vorteile für Arbeitnehmer und Unternehmen
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 14: Konzept ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹
152 5 Analyse der Korpora
Das Konzept ›Doppelbelastung der weiblichen Arbeitnehmer‹ ist im Spanischen lexikalisiert als Ausdruck „doble jornada femenina“.
≠
Das Konzept ›Krise‹ wird verknüpft, jedoch wird zugleich betont, dass die Krise kein maßgeblicher Faktor für die Maßnahmen der Vereinbarkeit sein sollte, da die Maßnahmen die Produktivität steigern.
‘Die Krise lässt die Maßnahmen zur Vereinbarkeit als Luxus erscheinen: Angesichts der unmittelbaren Bedrohungen der hohen Arbeitslosigkeit können Maßnahmen zur Vereinbarkeit und zur Gleichberechtigung vernachlässigbar erscheinen. Hierbei handelt es sich um eine Fehleinschätzung, da dieselben Maßnahmen letztendlich auch die Produktivität steigern und Spanien so aus der Krise verhelfen könnten.’
Die Ausdrücke werden auf der Metaebene kommentiert. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Denken wird reflektiert. Im Korpus werden verschiedene Gesetze benannt, die die Vereinbarkeit von Beruf
‘Die Ausdrücke „conciliar“ (dt. vereinbaren) und „conciliación“ (dt. Vereinbarkeit) sind nicht vorteilhaft, da sie die Gefahr bergen, Arbeit und Leben als zwei gegenüberliegende Pole zu konzeptualisieren. Andere Bezeichnungen sind vorteilhafter. Mit einer anderen Bezeichnung kann ein anderes Denken etabliert werden.’
‘Die Vereinbarkeit von Familienleben und Berufsleben muss ermöglicht werden. Dazu werden verschiedene Gesetze und Maßnahmenpakete erlassen
Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird zusätzlich betont. Das Konzept wird ausschließlich positiv bewertet.
Die Hochwertkonzepte ›Humanismus‹/ ›Menschlichkeit‹ und ›Lebensqualität‹ werden verknüpft.
‘Die Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern, fördern den Humanismus und die Lebensqualität in der spanischen Gesellschaft.’
‘Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie betrifft sowohl Frauen als auch Männer. Die Maßnahmen entsprechen den Bedürfnissen der gesamten spanischen Gesellschaft.’
Gleichberechtigung, aber auch der spanischen Gesellschaft insgesamt. Die Hochwertkonzepte ›Gleichberechtigung‹ und ›Emanzipation‹ werden verknüpft.
‘Die Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern, tragen zur Emanzipation der Frau in der spanischen Gesellschaft bei. Frauen sind häufig doppelt belastet, da sie einem Beruf nachgehen und den Haushalt übernehmen („doble jornada femenina“, dt. doppelter Arbeitstag der Frau). Ihnen helfen die Maßnahmen zur Vereinbarkeit deshalb besonders.’
Ringen um Hochwertkonzepte und Diskursautorität
Sprache und Denken
Metaebene
wirtschaftliche Krise als Faktor
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten
Agonalität
kulturspezifisches Konzept (lexikalisierter Ausdruck)
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
153
‘Die Ley de Dependencia und die Ley de Igualdad beinhalten ebenfalls Maßnahmen, die die Vereinbarkeit fördern sollen (Regelungen zur Pflege von Angehörigen, Vaterschaftsurlaub). Allerdings wird mit der Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflegetätigkeit, die häufig von Frauen übernommen wird, zugleich die Gleichberechtigung von Mann und Frau gefährdet: Die Pflegetätigkeit von weiblichen Berufstätigen wird mit dem Gesetz gefördert, die berufliche Benachteiligung von Frauen wird dadurch aber nicht verhindert, sondern weiterhin ermöglicht.’
b. ‘Die Ley de Conciliación de la Vida Laboral y Familiar von 1999 ist sexistisch, da sie die Kinderbetreuung vor allem den weiblichen Berufstätigen zuordnet.’
a. ‘Der Plan Concilia von 2006 erweitert die Ley de Conciliación de la Vida Laboral y Familiar von 1999. Er beinhaltet bspw. die Erweiterung des Mutterschutzes, des Vaterschaftsurlaubs und die Flexibilisierung der Arbeitszeit.’
(Ley de Conciliación de la Vida Laboral y Familiar, Plan Concilia etc.).’
Die Gesetze und Maßnahmen sind unter den Diskursakteuren umstritten und werden kritisiert.
und Familie ermöglichen sollen. Diskursakteure aus dem Bereich der Politik beanspruchen die Hochwertkonzepte ›Vereinbarkeit‹ und ›Familie‹ für sich und diskutieren über die Maßnahmen, um diese gesellschaftlich anerkannten Ziele zu erreichen. Mit der Regelung der Arbeitszeit, der Elternzeit etc. über Gesetze werden Bezüge zur Sachverhaltsebene hergestellt. Agonalität
Sachverhaltsebene
154 5 Analyse der Korpora
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
155
5.2.3.3.2 Deutsches Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ Das deutsche Korpus enthält den Ausdruck „vereinbar*“ 5642 Mal – das schließt die Treffer „Vereinbarkeit“, alle flektierten Formen des Verbs „vereinbaren“, das Adjektiv „vereinbar“ sowie alle zusammengesetzten Formen ein. Das Nomen „Vereinbarkeit“ findet sich im Korpus 896 Mal. Wie im Fall des spanischen „concilia*“ ist auch im Deutschen die Trefferanzahl zu hoch, um sie mit hermeneutisch-qualitativen Methoden auszuwerten, und so soll auch im Folgenden zunächst der Blick auf die Überschriften, die häufigsten Kollokationen und die häufigsten Cluster gerichtet werden. Ausgehend von diesen Analyseschritten werden qualitative Betrachtungen einzelner Belege angeschlossen. Das häufigste Cluster ist „die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, das mit 122 Treffern fast doppelt so häufig vorkommt wie „die Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ (66 Belege). Auch im deutschen Korpus wird damit die Familie an die erste Stelle gerückt und ihre Wichtigkeit betont. Sprachliche Konstituierung Das Konzept der ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ beschreibt die Möglichkeit für Berufstätige, die Zeit zwischen Arbeit, Alltag und Familie ausgeglichen einzuteilen.264 Wie im spanischen Korpus wird auch im deutschen Korpus insbesondere auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verwiesen; dies verdeutlicht beispielsweise das oben genannte häufige Vorkommen des Clusters „die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Der Ausdruck „Vereinbarkeit“ wird gelegentlich auch in anderen Kontexten verwendet,265 zumeist bezieht er sich jedoch auf die genannten Themenfelder: Auch wenn der Ausdruck nicht attributiv ergänzt wird, ist der Bezugspunkt fast immer die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. In folgendem Beleg, bei dem es sich um eine Artikelüberschrift handelt, wird dies durch den Kotext deutlich: 91. Vereinbarkeit? Dieses Gerede ist nichts als Lüge. Die neuen Väter: Marc Brost und Heinrich Wefing zeigen in dem Buch „Geht alles gar nicht“, wie schwer es ist, Karriere, Kinder und Beziehung unter einen Hut zu bringen (Welt, 28.03.2015, = Titel) Mit der „Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben“ wird vor allem auf das klassische Familienmodell bestehend aus Eltern und Kindern verwiesen, das mit dem Beruf vereinbart werden muss. Im deutschen Korpus wird mitunter erläutert, dass „Vereinbarkeit 264
Bspw. wie Kinder und Beruf vereinbart werden können. Es stellt sich dabei die „Frage nach der Kinderbetreuung“, die Frage also, wer die Kinderbetreuung übernimmt und wie diese mit einer Berufstätigkeit zu vereinbaren ist (SZ, 07.08.2009, Trügerisches Idyll).
265
Bsp.: „die Vereinbarkeit der Gema mit dem Grundgesetz“ (Der Spiegel, 13.02.2010, Melodien für Millionen).
156
5 Analyse der Korpora
von Beruf und Familie […] nicht immer etwas mit Kindern zu tun [hat]“ (SZ, 13.10.2015, Nahaufnahme. Eine Frau für die Familie), sondern dass beispielsweise auch die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege von Angehörigen Gegenstand der Diskussion sein kann (s. ebd.) – diese Beispiele finden sich jedoch sehr viel seltener. In deutlich geringerem Maß wird auch über die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeitgestaltung (Hobbys, Sport, Weiterbildungen) gesprochen. Es fällt auf, dass sich in vielen Fällen Bewertungen an das Konzept anschließen: Im Word Sketch266 fallen die Adjektive „mangelnde“, „schwierige“, „bessere“, „schlechte“ auf, die bereits auf der Ebene der quantitativen Betrachtung darauf aufmerksam machen, dass die Bewertung des Konzeptes von zentraler Bedeutung ist. Sowohl das Nomen „Vereinbarkeit“ als auch das Verb „vereinbaren“ deuten darauf hin, dass es sich um zwei Aspekte handelt, deren Vereinbarkeit wünschenswert, jedoch schwer zu erreichen ist. Dies bestätigt auch die grammatische Erläuterung zum Verb „vereinbaren“, das mit „in Übereinstimmung, in Einklang bringen (meist verneint) [Hervorhebung MM]“ (Duden 2015, 1887) paraphrasiert wird. Dies deutet bereits darauf hin, dass die Vereinbarkeit häufig nicht gelingt.267 Konzeptuelle Verknüpfungen Vereinbarkeit und Maßnahmen, um diese zu erreichen Das deutsche Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ wird, wie das spanische Konzept, von den Maßnahmen geprägt, die durchgesetzt werden sollen, um das Ziel der Vereinbarkeit zu erreichen. Zu den Maßnahmen, die als solche bezeichnet werden und die mit dem Konzept verknüpft werden, gehören Arbeitszeitregelungen wie Gleitzeit, Teilzeit und Elternzeit, Flexibilität bei der Wahl des Arbeitsplatzes in Form von Homeoffice und betriebliche sowie staatliche Unterstützung bei der Kinderbetreuung in Form von Kindertagesstätten und Kindergärten. Zu den weniger verbreiteten Maßnahmen gehören Eltern-Kind-Büros oder die betriebliche Notfallversorgung für kranke Kinder. Der Nutzen von Maßnahmen wie betrieblichen Sportangeboten oder Rückzugsräumen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeitleben ermöglichen sollen, ist umstritten (SZ, 24.12.2014, Geht doch, Kindergeld?). Im selben Artikel wird darauf hingewiesen, dass die Unternehmen von der Umsetzung anderer familienfreundlicher Maßnahmen profitieren: 92. Eine Studie der Prognos AG zeigt, dass sich familienfreundliche Maßnahmen in Betrieben auch lohnen: Fluktuation wird verringert, Frauen kommen schneller aus der Elternzeit zurück, Mitarbeiter fehlen seltener und Kosten für die Suche von neuem Personal entfallen. Das Ergebnis: Von 100 Euro, die ein Unternehmen in 266
Vgl. Anhang 5 Word Sketch „Vereinbarkeit“.
267
Vgl. Bemerkungen zur Grammatik, S. 138.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
157
familienfreundliche Maßnahmen steckt, fließen 125 Euro zurück. Und dabei wurde noch nicht berücksichtigt, dass motivierte Mitarbeiter produktiver arbeiten und dass das Unternehmen sich mit einem positiven Image brüsten kann. (ebd.) Die Maßnahmen lohnen sich für Unternehmen also finanziell und verbessern darüber hinaus das Ansehen. Die Argumentation gleicht hier derjenigen des spanischen Korpus (vgl. die konzeptuelle Verknüpfung ›conciliar entre vida laboral y personal‹, ›flexiblizar los horarios‹ und ›productividad‹, S. 146): Familienfreundliche Maßnahmen sind auch für die Unternehmen von Vorteil.268 Die Vorteile auf Seiten der Berufstätigen, die Arbeit und Privatleben vereinbaren können, sind bereits durch die Konzeptkonstituierung evident; die Vorteile auf Unternehmensseite sind hingegen unerwartet und müssen deshalb expliziert werden. Die Beschreibung der Vorteile auf Unternehmensseite verdeutlicht die positive Gesamtbewertung des Konzeptes. Vereinbarkeit und das notwendige Vertrauen in die Mitarbeiter Die Verknüpfung des Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ mit dem Hochwertausdruck „Vertrauen“ fällt im Korpus auf: Einige Maßnahmen fordern, so die Aussage im Korpus, das Vertrauen der Arbeitgeber in die Arbeitnehmer, wie beispielsweise die eigenverantwortliche, flexible Handhabe der Arbeitszeit und des Arbeitsplatzes. Diese Maßnahmen seien dabei für die Unternehmen finanziell wenig aufwendig und zugleich besonders effektiv. 93. „[…] Dafür braucht es nicht unbedingt viel Geld, sondern vor allem die richtige Einstellung.“ […] Weg von Kontrolle und Präsenzkultur, hin zur Flexibilität. „Was läge näher, als einfach Vertrauen in die Mitarbeiter zu haben?“, sagt Expertin Birgit Wintermann. „Bekommt jeder Mitarbeiter einen Laptop, mit dem er von Zuhause arbeiten und auf interne Systeme zugreifen kann, ist das hilfreicher als ein Eltern-Kind-Büro oder Notfallversorgung für kranke Kinder.“ (SZ, 24.12.2014, Geht doch, Kindergeld?) Die Umsetzung der flexiblen Arbeitszeiten fordere, verglichen mit anderen Maßnahmen, einen geringeren finanziellen Aufwand und setze stattdessen eine Veränderung in der Einstellung der Unternehmen, aber auch der Arbeitskollegen voraus. Bei der quantitativen Prüfung der Verknüpfung der Konzepte ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben‹ und ›Vertrauen‹ wird augenfällig, dass die beiden Konzepte nicht unmittelbar miteinander verknüpft sind, sondern stattdessen über das Konzept ›Arbeitszeit‹ miteinander verbunden sind.269 Beide Konzepte stehen im Kotext von 268
In beiden Korpora werden die Motivation der Mitarbeiter und das Ansehen des Unternehmens als Vorteile genannt. Im spanischen Korpus wird auf die Reduktion der unentschuldigten Fehlzeiten hingewiesen. Im zitierten Beleg 92 bleibt unklar, durch welche konkreten Umstellungen die betrieblichen Ersparnisse eintreten.
269
Die Sketch Engine-Kotextsuche ergibt, dass die Ausdrücke „Vertrauen“ und „Vereinbarkeit“ nicht im un-
158
5 Analyse der Korpora
„Arbeitszeit“: Vereinbarkeit wird durch den flexiblen Umgang mit der Arbeitszeit vereinfacht und eben dieser flexible Umgang erfordert Vertrauens in die Mitarbeiter. Vereinbarkeit zwischen Beruf und weiteren Aspekten des Privatlebens I Partnerschaft In der Beschreibung des Kernkonzeptes habe ich bereits angesprochen, dass unter dem Terminus „Vereinbarkeit“ zumeist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verstanden wird: die Vereinbarkeit der Tätigkeit Beruf mit der Gruppe Familie, die prototypisch aus berufstätigem Vater, (eventuell arbeitender) Mutter und gemeinsamen Kindern besteht. In einigen Fällen werden weitere Aspekte des Privatlebens angesprochen, die vereinbart werden sollen: Hobbys, sportliche Tätigkeiten, Weiterbildungen, politisches Engagement oder eine Partnerin oder ein Partner. Diese Aspekte werden zum großen Teil sowohl im deutschen als auch, wenn auch seltener, im spanischen Korpus genannt. Besonders interessant ist der Aspekt der Vereinbarkeit in einer Partnerschaft zwischen Mann und Frau, die keine Kinder haben. Dieser fällt zunächst ausschließlich im deutschen Korpus auf. 94. Stress scheint es eher in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Partnerschaft und eigenen Bedürfnissen zu geben – ausgelöst durch Erwartungen, die nicht erfüllt werden oder man selbst nicht erfüllen kann. (SZ, 05.10.2002, Der lange Lauf zum Selbst. Jobben oder Joggen) Das Kernkonzept der ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ beinhaltet die dominante Teilbedeutung ‘Die Familie als Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind(ern) muss mit dem Arbeitsalltag vereinbart werden’. Dass die angestrebte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben allerdings nicht ausschließlich die Familie im klassischen Sinne als Ausgangspunkt haben muss, verdeutlichen einige Texte des deutschen Korpus, in denen die Vereinbarkeit von Beruf und Alltag in einer Zweierbeziehung diskutiert wird. In der im Folgenden zitierten Textstelle wird beschrieben, wie Beruf und Alltag sowie die Vereinbarkeit der zwei Bereiche eine Partnerschaft beeinflussen: 95. Kann Verhandeln die Liebe retten? Gerechtigkeit. Familie und Arbeit lassen sich nicht vereinbaren. Das ist die neue Ernüchterung der Mittelschicht. Ein Mann und eine Frau aus Berlin versuchen es doch. Sie schließen einen Vertrag (taz, 27.09.2014, = Titel) mittelbaren Kotext voneinander auftreten (15 r/l); allerdings stehen sowohl „Vertrauen“ (Sketch EngineSuche: „Arbeitszeit“ 15 r/l von „Vertrauen“: 5 Treffer) als auch „Vereinbarkeit“ (Sketch Engine-Suche: „Arbeitszeit“ 15 r/l von „Vereinbarkeit“: 27 Treffer) im Kotext von „Arbeitszeit“. Das lässt darauf schließen, dass die beiden Konzepte nicht unmittelbar, sondern über das Konzept ›Arbeitszeit‹ miteinander verbunden sind.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
159
Der Artikel beschreibt die Vorgehensweise eines jungen Paares, das versucht, das Berufsleben von zwei Personen mit der Sorge um das gemeinsame Kind zu vereinbaren, und dabei auf eine gleichberechtigte Aufgabenverteilung Wert legt. Die individuellen Ansprüche der Elternteile werden beschrieben und es wird thematisiert, inwiefern diese für eine gesunde Liebesbeziehung notwendig sind. Ein weiterer Beleg beschreibt auf der Metaebene, dass sich das Konzept ›Vereinbarkeit‹ meist mit der Vereinbarkeit von Beruf und Nachwuchs beschäftigt und die Eltern weniger als Individuen betrachtet werden, die eigene Bedürfnisse haben, sondern vielmehr als „Erzeuger“: 96. Betreuungsnotstand, Schulmisere, Kinderarmut: Wenn in Deutschland über Familien diskutiert wird, geht es meist darum, wie es dem Nachwuchs geht. Weniger im Mittelpunkt stehen die Erzeuger, und wenn, dann als überforderte Problemgruppe. (taz, 12.04.2008, Eltern wollen gerechte Arbeitsteilung) Im deutschen Korpus wird die partnerschaftliche Beziehung der zwei Elternteile an einigen Stellen thematisiert. II Pflege von Angehörigen Ein weiterer Aspekt, der mit der Berufstätigkeit vereinbart werden muss, ist die Pflege von Familienangehörigen. 97. Entsprechend formulierten die nun von Allensbach befragten Frauen Forderungen an die Politik: 78 Prozent von ihnen sagten, sie wünschten sich eine bessere Unterstützung für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Erste Ansätze in diese Richtung gab es bereits: Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) hatte im Jahr 2010 die Debatte um eine Familienpflegezeit angestoßen. (Welt, 05.12.2012, Deutschland läuft in die Pflegefalle) Im deutschen Korpus wird, wie auch im spanischen Korpus, darauf verwiesen, dass es vor allem Frauen sind, die sich um Pflegefälle in der Familie kümmern. Es werden Forderungen an die Politik wie auch an die Wirtschaft formuliert.270 Vereinbarkeit als politischer Hochwert: Streit um Worte – Familie als „Gedöns“ Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird als Ziel von verschiedenen Akteuren und Parteien formuliert und damit in Anspruch genommen: Der Hochwert Familie ist dabei besonders umkämpft, die Umsetzung familienfreundlicher Maßnahmen wird parteiübergreifend gefordert. Welche Maßnahmen konkret umgesetzt werden sollen, 270
Die Forderung nach Gesetzesänderung in diesem Kontext kann als Verweis auf die Sachverhaltsebene verstanden werden. Solche Forderungen werden jedoch deutlich seltener geäußert als im spanischen Korpus (vgl. Kapitel 5.2.3.3.1 Exkurs: Gesetze als Indikatoren der Sachverhaltsebene) und werden deshalb an dieser Stelle nicht vertieft.
160
5 Analyse der Korpora
um das allgemein geforderte Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erreichen, ist allerdings umstritten.271 In einigen Artikeln, in denen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie thematisiert wird, findet sich ein Verweis auf eine Formulierung des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der 1998 nach der gewonnenen Bundestagswahl die Belange des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als „Gedöns“ bezeichnete.272 Der Ausdruck findet sich 131 Mal im Korpus, nimmt in den meisten Fällen Bezug auf das Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers und steht in 47 Fällen in distanzierenden Anführungszeichen. In den Artikeln geht es um die Maßnahmen, die unter dem Überbegriff der Familienpolitik umgesetzt werden (sollen) und die mit dem Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie überschrieben werden. In dem Ausdruck „Gedöns“ spiegeln sich die Bewertungen dieser Maßnahmen – insbesondere die veränderte Wertschätzung, die sich in der Politik vollzog: 98. Die „Familie“ geht zu Seehofer, bei Reiche bleiben allenfalls noch Fragen der Vereinbarkeit, Familien-„Gedöns“, könnte man ironisch sagen. (Welt, 03.07.2002, Dribbelt sich die Union ins Abseits?) 99. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben sich inzwischen Politiker aller Parteien auf die Fahnen geschrieben. Längst ist die Familienpolitik auch für Kanzler Schröder nicht mehr nur „Gedöns“: Sie ist neben dem Arbeitsmarkt und der Außenpolitik zu einem zentralen Bestandteil des Wahlkampfs geworden. Ein Blick auf die Statistik zeigt zudem die Brisanz des Themas: Auf 1.000 Einwohner kommen nur noch 8,7 Geburten im Jahr. Im WeltbankVergleich belegt Deutschland damit von 190 Staaten den 185. Platz. (Welt, 13.08.2005, Gefühlte Gemeinsamkeit mit der Kanzlergattin) Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird nicht mehr als „Gedöns“ bezeichnet, sondern ist zum Hochwert geworden, der von Politikerinnen und Politikern273 verschiedener Parteien beansprucht wird.
271
Vgl. Welt, 02.02.2006, „‚Förderung nach dem Gießkannenprinzip‘“.
272
Anlässlich der Vereidigung des Bundeskabinetts im Oktober 1998.
273
Der Artikel „Familie macht er mit links“ (taz, 09.04.2015) verweist darauf, dass nun auch Männer Familienpolitik machen und sich niemand mehr daran störe. In dem Artikel wird festgehalten, dass sich die Familienbilder gewandelt haben und dass der Umgang der Politik mit Familienthemen sich seit der Äußerung des Ex-Kanzlers Gerhard Schröder gewandelt habe. Die Rolle des familienpolitischen Sprechers Wunderlich (Die Linke), der sich als „großer, kompakter Mann mit einer tiefen Stimme und einem festen Händedruck“ (s. ebd.) mit familienpolitischen Fragen auseinandersetze, wird dessen ungeachtet als ungewöhnlich gekennzeichnet. Zur Rollenkonzeption vgl. Kapitel 5.4.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
161
Deutsches Subkonzept ›Work-Life-Balance‹ Sprachliche Konstituierung Der Ausdruck „Work-Life-Balance“ bezeichnet im deutschen Korpus das Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben, das von Berufstätigen angestrebt wird. Es handelt sich also um ein Konzept, das fast synonym zu demjenigen der ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ ist. Der Ausdruck „Work-LifeBalance“ findet sich im deutschen Korpus 277 Mal, während er im spanischen Korpus nur fünfmal vorkommt.274 Zwischen den beiden Konzepten ›Work-Life-Balance‹ und ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie – insbesondere Privatleben‹ ist im deutschen Korpus ein geringer semantischer Unterschied festzustellen, der sich vor allem in den Verknüpfungen des Konzeptes ›Work-Life-Balance‹ mit den Themen GESUNDHEIT und KARRIERE zeigt. Konzeptuelle Verknüpfungen ›Work-Life-Balance‹ und Gesundheit Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird mit der Gesundheit als wichtigem Faktor eines guten Lebens verknüpft. 100. Kein Wunder also, dass das Thema Work-Life-Balance seit einigen Jahren boomt. Bei ihm geht es im Wesentlichen um die Frage: Wie kann ich das erforderliche Gleichgewicht zwischen den vier Lebensbereichen „Arbeit und Leistung“, „Körper und Gesundheit“, „Familie und Kontakte“ sowie „Sinn und Kultur“ bewahren? Denn diese beeinflussen sich wechselseitig (Welt, 24.12.2009, Raus aus dem Hamsterrad. Wie sich das erforderliche Gleichgewicht zwischen den Lebensbereichen Arbeit, Gesundheit, Familie und Freizeit bewahren lässt) Das Konzept ›Work-Life-Balance‹ fasst zusammen, dass eine Balance zwischen Arbeit und Leben entscheidend für die Zufriedenheit, die Leistungsfähigkeit und die generelle Gesundheit ist. Als wichtiger Faktor wird Gesundheit im Titel des Artikels neben den Kernthemen Arbeit, Familie und Freizeit benannt. Das Thema der Gesundheit und der Work-Life-Balance am Arbeitsplatz wird auch in der Wissenschaft diskutiert: 101. Die Notbremse ziehen, bevor der berufliche Stress krank macht. Michael Kastner, Experte für Work-Life-Balance, referiert im Stellenforum der WELT über das Thema „Führungskraft der Zukunft – leisten und leben in Balance“ (Welt, 08.09.2007, = Titel)
274
Es handelt sich hierbei um eine auffällig große Differenz zwischen den zwei Korpora. Die Treffer des spanischen Korpus werden am Ende dieses Kapitels kurz erläutert.
162
5 Analyse der Korpora
Es wird davon ausgegangen, dass Stress am Arbeitsplatz, der durch die verhinderte Vereinbarkeit des Berufs- und Privatlebens entsteht, die Gesundheit beeinträchtigt und zu Depressionen und Erschöpfungssyndromen führen kann. Dabei sind es vor allem ausgewählte Großunternehmen, wie beispielsweise SAP oder BASF, die versuchen, den Belangen der Arbeitnehmer gerecht zu werden, indem sie Stellen einrichten, die sich mit der Gesundheit am Arbeitsplatz und der Work-Life-Balance der Mitarbeiter beschäftigen.275 ›Work-Life-Balance‹ und Karriere Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie scheint ein Thema zu sein, dass alle Arbeitnehmer betrifft. Der aus dem Englischen übernommene Terminus der „Work-LifeBalance“ beinhaltet eine semantische Verengung auf eine bestimmte Gruppe von Berufstätigen, die tendenziell eher in Berufen tätig ist, die hohe Anforderungen stellen. 102. Die Work-Life-Balance, also die Möglichkeit einen anspruchsvollen Job mit einem ausgefüllten Privatleben zu vereinbaren, hat gerade bei jungen Leuten Vorrang. (Welt, 14.01.2006, Neues Denken bei Beratern) Unter der Bezeichnung der „Work-Life-Balance“ wird vor allem auf Berufe verwiesen, die lange Arbeitszeiten, Überstunden und Wochenendarbeit beinhalten, und darauf, dass dieser Umgang mit Arbeitszeit für eine gute Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu vermeiden sei: 103. So hat Booz Allen Hamilton jüngst so genannte work-life-balance-guidelines verabschiedet, wonach Wochenendarbeit nur in Ausnahmefällen zulässig ist und die Berater vier Nächte zu Hause verbringen sollen. (ebd.) Auf der anderen Seite wird im deutschen Korpus beschrieben, dass gerade diesen Berufen – Unternehmensberatern, Führungskräften, Wissenschaftlern – eine gewisse „Schieflage“ zugunsten der Arbeit innewohne: 104. Alle Erfinder, Gründer und CEOs sind besessen von einem Dämon. Sie ordnen alles ihrem Ziel unter. Daher hatte das Leben der Macher immer eine Schieflage, und genau das machte auch einen Teil ihres Erfolgs aus. (Welt, 19.03.2005, Entspannt auf dem Hochseil. Work-Life-Balance) Im Kontext des Konzeptes bestünden Widersprüchlichkeiten, da das Konzept die erwünschte Vereinbarkeit zweier gegenüberliegender Pole bezeichne. Auf diese Widersprüchlichkeiten wird im Diskurs mit Formulierungen wie „Work-Life-Bullshit“ 275
Vgl. bspw. SZ, 02.01.2012, „Büro mit Kuscheleck. Das Softwareunternehmen SAP gilt in Deutschland als Vorbild für familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Vor allem die Väter profitieren“ oder SZ, 07.11.2013, „Arbeiten und leben. BASF bietet den Mitarbeitern mehr als Kinderkrippe“. Dass es sich dabei vor allem um Maßnahmen einiger Großunternehmen handelt, verdeutlicht der Artikel „Strategien für den Nachwuchs“ (Welt, 13.11.2009).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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hingewiesen (SZ, 09.11.2013, Wert der Arbeit); in anderen Belegen wird der Ausdruck als „Nullwort“ kritisiert (SZ, 13.04.2013, Pünktlich in den Feierabend). Das Konzept ›Work-Life-Balance‹ im spanischen Korpus Im spanischen Korpus findet sich der Ausdruck „work life balance“276 fünf Mal: Er wird zitiert als Bezeichnung eines Programmes, das die „conciliación“ in dem USamerikanischen Software-Unternehmen Sun Microsystems fördert (Mundo, 12.10.2008, Las mejores formas para trabajar). In zwei der Belege verweist ein Autor darauf, dass man mit dem Ausdruck der „work life balance“ in Großbritannien und den USA das bezeichne, was in Spanien unter „conciliación“ verstanden werde: 105. […] la definición que figura en el diccionario sobre “conciliación” nos remite a la armonización de dos opiniones contrarias. En este caso, entre “trabajo” y “vida”. En Reino Unido y Estados Unidos lo llaman work life balance, que de nuevo hace referencia al equilibrio entre dos fuerzas opuestas. (Mundo, 29.11.2009, El nuevo equilibrio de la conciliación)277 Der zweite Artikel „Por qué trabajamos más y mucho peor“ stammt aus dem Jahr 2015 und erschien in derselben Zeitung, verfasst von demselben Autor (Mundo, 14.11.2015, Tino Fernández). Auch hier wird erwähnt, dass man die Vereinbarkeit in Großbritannien und den USA als „work life balance“ bezeichne. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Ausdruck „work life balance“ im spanischen Korpus kaum gebräuchlich ist und fast ausschließlich in der Referenz auf die Länder Großbritannien und USA verwendet wird. Bewertung des Konzeptes In der Darstellung des Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ und der Beschreibung der konzeptuellen Verknüpfungen wurde an einigen Stellen auf die sprachlichen Bewertungen des Konzeptes hingedeutet. I. Die quantitativ analysierten Wortlisten zeigen bereits, dass wertende Adjektive wie „mangelnde“, „schwierige“, „bessere“ oder „schlechte“ häufig vor dem Syntagma stehen – es wird kritisiert, dass die Vereinbarkeit nicht ermöglicht wird, oder gefordert, dass die Vereinbarkeit besser ermöglicht werden sollte. Die Bewertung durch begleitende Adjektive spielt bei dem Konzept der Vereinbarkeit eine so große Rolle, dass sie das Kernkonzept beeinflusst. Das Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – 276
Die Schreibweise variiert im Spanischen: Es finden sich „work life balance“, „Work Life Balance“ und einmal „Work-life Balance”.
277
Dt. […] die Definition von „Vereinbarkeit“ im Wörterbuch verweist auf die Harmonisierung zweier entgegengesetzter Positionen. In diesem Fall von „Arbeit“ und „Leben“. In Großbritannien und den USA nennen sie es Work-Life-Balance, was erneut auf das Gleichgewicht von zwei entgegengesetzten Kräften referiert.
164
5 Analyse der Korpora
insbesondere Familie‹ ist geprägt durch die positive Teilbedeutung: ‘Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, besonders Familie, ist ein gesellschaftliches Ziel, das den Arbeitnehmern von betrieblicher und politischer Seite ermöglicht werden sollte’. II. Im Korpus konnte gezeigt werden, dass auf die Vorteile auf der Mitarbeiterseite wie auch auf die Vorteile auf der Unternehmensseite hingewiesen wird, die die Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit mit sich bringen. Einer zunächst als Gegenargument gedachten Position – ‘Unternehmen investieren in die Maßnahmen der Vereinbarkeit zu Gunsten der Mitarbeiter, tragen dabei aber die finanziellen Risiken oder realen Einbußen’ – werden die unerwarteten Vorteile auf Unternehmensseite entgegengehalten. III. Das Konzept ist verknüpft mit positiv einzuordnenden Konzepten wie ›Vertrauen‹ (‘Die wichtigste Veränderung auf Unternehmensebene ist das Vertrauen in die Mitarbeiter, das eine bessere Vereinbarkeit ermöglicht.’), ›Partnerschaft‹ und ›Liebe‹ (‘Wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben gefördert wird, werden damit Partnerschaft und Liebe ermöglicht.’). Das Konzept ›Gesundheit‹ wird ebenfalls verknüpft; die Vereinbarkeit wird dann besonders häufig mit dem Ausdruck „Work-Life-Balance“ bezeichnet (‘Eine gute Work-Life-Balance bestimmt maßgeblich die (psychische und physische) Gesundheit der Arbeitnehmer.’). Gemeinsam prägen diese Konzepte das positive Konnotat des Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben‹. Das Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ wird als wünschenswertes, anzustrebendes, aber schwer zu erreichendes Konzept bewertet. Durch diese Bewertungsstrukturen wird das Konzept ausschließlich positiv konzeptualisiert – es ist inzwischen als Hochwertkonzept etabliert, um das verschiedene Akteure der Wirtschaft und Politik ringen. Dieser Effekt wird potenziert, wenn an Stelle der „Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben“ von der „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ gesprochen wird. Es wird der Hochwertausdruck „Familie“ hinzugefügt, der spätestens seit Anfang des 21. Jahrhunderts extrem populär geworden ist und längst nicht mehr als sogenanntes „Gedöns“ bezeichnet wird.
Die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsplatzes wird als effektiv und kostengünstig bewertet. Das Hochwertkonzept ›Vertrauen‹ wird der beschriebenen Arbeitskultur zugeordnet.
‘Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie soll den Arbeitnehmern durch verschiedene Maßnahmen ermöglicht werden: Zu den Maßnahmen, die Unternehmen umsetzen, gehören
a. besonders häufig Maßnahmen der Flexibilisierung wie Gleitzeit, Teilzeit und Elternzeit, Flexibilität bei der Wahl des Arbeitsplatzes in Form von Heimarbeit.
‘Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein gesellschaftliches Ziel und
‘Die Maßnahmen der Vereinbarkeit sind schwer umzusetzen, insbesondere in bestimmten Berufsgruppen und in Führungspositionen. Sie sind jedoch unbedingt anzustreben, weil die Arbeitnehmer, die Unternehmen und die Gesellschaft von ihnen profitieren.’
‘Maßnahmen, die der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dienen, sind auch für die Unternehmen vorteilhaft. Sie stellen eine Investition dar, von der das Unternehmen profitiert.’
c. selten Eltern-Kind-Büros, eine betriebliche Notfallversorgung für kranke Kinder o. Ä.’
b. die betriebliche Unterstützung bei der Kinderbetreuung in Form von Kindertagesstätten und Kindergärten. Daneben werden auch staatliche Kindertagesstätten und Kindergärten gefordert.
Die Vorteile auf der Unternehmensseite werden betont. Die Vorteile auf Arbeitnehmerseite sind bereits Teil der
Die positive Bewertung ist ein maßgeblicher Aspekt der Konzeptbedeutung. Das Konzept wird extrem positiv bewertet und scheint selbst zum Hochwertkonzept zu werden.
Die Maßnahmen werden auf der Metaebene als Maßnahmen bezeichnet. Einige Maßnahmen werden häufiger als andere umgesetzt.
Befund
Etablierung als Hochwertkonzept
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
wirtschaftliche Effizienz
Metaebene
Metadiskursive Deutung
›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹
i. Der flexible Umgang mit der Arbeitszeit und dem Arbeitsplatz ist besonders effektiv, da er kaum finanziellen Aufwand des Unternehmens, sondern vor allem Vertrauen in die Mitarbeiter erfordert.
Möglichkeit für Berufstätige, die Zeit zwischen Arbeit und Alltag – insbesondere Familie – ausgeglichen einzuteilen Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 15: Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
165
‘Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie können nicht mehr als „Gedöns“ abgetan werden, wie noch 1998 von Gerhard Schröder. Familienfreundliche Maßnahmen werden von Politikern und Politikerinnen verschiedener Parteien gefordert.’
b. die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeitaktivitäten (Hobbys, Sport, Weiterbildungen).’
iii. Pflegebedürftige Angehörige müssen mit dem Arbeitsalltag vereinbart werden.
ii. Partner müssen mit dem Arbeitsalltag vereinbart werden.
i. Eine Familie als Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind(ern) muss mit dem Arbeitsalltag vereinbart werden.
Um die Bezeichnung „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird gerungen. Die Ausdrücke „Familie“ und „Familienfreundlichkeit“ stellen Hochwerte dar, die von verschiedenen politischen Akteuren für sich beansprucht werden. In der veränderten Wortwahl und dem Ringen um die Ausdrücke zeigt sich ein Wandel im Denken.
Neben der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeitaktivitäten ein relevantes Thema im Korpus.
Mit dem Konzept wird zumeist auf das klassische Familienmodell aus Eltern und Kindern verwiesen. Gelegentlich werden auch kinderlose Partnerschaften erwähnt. Auch auf der Metaebene wird kommentiert, dass Eltern häufig in ihrer Rolle als Erzeuger betrachtet werden.
‘Unter der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist zu verstehen
a. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie:
Kernbedeutung des Konzeptes.
sollte den Arbeitnehmern von betrieblicher und politischer Seite ermöglicht werden.’
Sprache und Denken
Streit um Wörter
Semantischer Kampf
Diskursautorität
Metaebene
Rollenspezifik
166 5 Analyse der Korpora
Das Konzept ›Work-Life-Balance‹ weist eine engere semantische Verknüpfung zu einer Gruppe von Berufstätigen auf, die in Berufen tätig sind, die hohe Anforderungen an sie stellen. Es unterscheidet sich damit im Detail von dem Konzept der Vereinbarkeit.
‘Menschen, die berufstätig sind, suchen ein Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben. Insbesondere in karriereorientierten Berufen ist dieses Gleichgewicht problematisch.’
‘Work-Life-Balance ist ein Nullwort, „Bullshit“ etc.’
‘In einigen Berufen gehört ein Ungleichgewicht zugunsten der Arbeit dazu.’
≠
‘Eine gute Work-Life-Balance ist gerade in Berufen mit hohen Anforderungen entscheidend.’
‘Großunternehmen wie SAP und BASF richten Abteilungen und Posten ein, die die Work-Life-Balance fördern. In mittelständischen Unternehmen kann die Förderung der Vereinbarkeit schwierig sein.’
Der Ausdruck wird auf der Metaebene kritisiert.
Die Diskurspositionen widersprechen sich.
Metadiskursive Deutung
Befund
‘Eine gute Work-Life-Balance ist entscheidend für die Zufriedenheit, die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit von Berufstätigen.’
Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben, das von Berufstätigen angestrebt wird
›Work-Life-Balance‹
Metaebene
Agonalität
semantische Verengung von Konzept zu Subkonzept
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Subkonzept
Tabelle 16: Subkonzept ›Work-Life-Balance‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
167
Möglichkeit für Berufstätige, die Zeit zwischen Arbeit und Privatleben – insbesondere Familie – ausgeglichen einzuteilen
Möglichkeit des harmonischen Umgangs mit Zeit, der es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Zeit zwischen Beruf und Privatleben – insbesondere Familienleben – ausgeglichen einzuteilen
PRODUKTIVITÄT - Die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes stellt fast keinen finanziellen Aufwand dar, wirkt sich aber vorteilhaft auf die Produktivität aus.
PRODUKTIVITÄT - Flexible Arbeitszeiten als Maßnahme zur Vereinbarkeit steigern die Produktivität der Arbeitnehmer und der Unternehmen, indem sie presentismo und absentismo entgegenwirken, zufriedenere und fleißigere Mitarbeiter generieren und die Unternehmen attraktiv für die besten Mitarbeiter machen.
VERTRAUEN - Die Flexibilisierung als Maßnahme der Vereinbarkeit erfordert Vertrauen in die Mitarbeiter und eine Abkehr von der Kontrollkultur.
- Als Maßnahmen der Vereinbarkeit werden des Weiteren Gleitzeit, Teilzeit, Heimarbeit sowie Kinderbetreuungsangebote von Unternehmen und dem Staat angeboten.
- Flexible Arbeitszeiten werden als Maßnahme besonders häufig von Unternehmen angeboten. Weitere Maßnahmen sind Teilzeitarbeit, kürzere Arbeitstage, Angebote zur Kinderbetreuung und Heimarbeit.
- Die Maßnahmen sind vorteilhaft für die Mitarbeiter und das Unternehmen.
FLEXIBILISIERUNG - Flexiblere Arbeitszeiten sind eine Maßnahme, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht.
FLEXIBILISIERUNG - Flexible Arbeitszeiten sind eine Maßnahme, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht.
In beiden Korpora werden die Konzepte mit Maßnahmen verknüpft, die umgesetzt werden sollen, um das Ziel VEREINBARKEIT zu erreichen. Zum Teil werden ähnliche Maßnahmen verknüpft, die unterschiedlich bewertet werden, und zum Teil werden unterschiedliche Maßnahmen verknüpft.
Sprachliche Verknüpfungen
Sprachliche Verknüpfungen
Konzeptsynthese
Konzeptsynthese
Die Konzepte sind sich sehr ähnlich.
›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹
›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹
Tabelle 17: Vergleich VEREINBARKEIT
168 5 Analyse der Korpora
GESETZE - Die Vereinbarkeit soll durch Gesetze gefördert werden, deren Wirkung jedoch stark umstritten ist.
WIRTSCHAFTSKRISE - Die Wirtschaftskrise verhindert Maßnahmen, die der Vereinbarkeit dienen, obwohl diese Maßnahmen zugleich den Weg aus der Krise aufzeigen (da die Maßnahmen auch die PRODUKTIVITÄT fördern).
- Die Maßnahmen betreffen sowohl Männer als auch Frauen und entsprechen den Bedürfnissen der spanischen Gesellschaft.
- Die Maßnahmen dienen der Emanzipation der Frauen in der spanischen Gesellschaft und werden von diesen häufiger in Anspruch genommen.
GLEICHBERECHTIGUNG - Die Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der spanischen Gesellschaft.
GESUNDHEIT - Eine gute Work-Life-Balance ist entscheidend für die Zufriedenheit, die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit von Berufstätigen.
KARRIERE - Der Ausdruck bezeichnet die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in Berufen, die hohe zeitliche oder fachliche Anforderungen stellen. Die Work-Life-Balance ist besonders in diesen Berufen schwer herzustellen.
WORK-LIFE-BALANCE - Der Ausdruck bezeichnet ein verwandtes Konzept.
PARTNERSCHAFT - Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben betrifft nicht nur Beruf und Familie (im klassischen Sinne mit Kindern), sondern auch Beruf und Partnerschaft sowie Beruf und Freizeitaktivitäten.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
169
- Die Vereinbarkeit wird ausschließlich positiv bewertet, da sie Vorteile
- Die Vereinbarkeit und die Maßnahmen, die diese fördern, werden ausschließlich positiv bewertet.
- Inzwischen ringen verschiedene Akteure um die Ausdrücke „Familie“ und „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“. In diesem sprachlichen Wandel manifestiert sich auch ein politischer Wandel.
Das spanische und das deutsche Konzept ähneln sich stark. Einige Verknüpfungen des spanischen Korpus weisen auf kulturspezifische Denkhaltungen (vgl. GLEICHBERECHTIGUNG) und Gegebenheiten (WIRTSCHAFTSKRISE) hin. Im deutschen Korpus manifestieren sich im Kotext des Ausdrucks „WorkLife-Balance“ spezifische Teilbedeutungen. Die Adaption des Anglizismus im deutschen Korpus, nicht aber im spanischen Korpus, weist auf eine kulturspezifische Verwendung eines Konzeptes hin: Die spezifischen Teilbedeutungen, die der Ausdruck bündelt, sind für die deutsche Konzeptualisierung relevanter als für die spanische.
Kulturspezifik
- Das Konzept wird positiv bewertet. An den Ausdrücken „Vereinbarkeit“ und „Work-Life-Balance“ wird im Korpus Kritik geäußert.
- Das Konzept wird ausschließlich positiv bewertet, allerdings wird im Korpus Kritik an dem Ausdruck „conciliación“ geäußert.
„GEDÖNS“ - An der Kritik an der Wortwahl Schröders (1998) zeigt sich die Kritik an der Sache (Abwertung des Themas Familie).
- Die Maßnahmen zur Vereinbarkeit sind schwer umzusetzen, sollten aber angestrebt werden.
- Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie entspricht den wichtigsten Werten der spanischen Gesellschaft (FAMILIE, GLEICHBERECHTIGUNG). Zugleich wird durch die Förderung der Vereinbarkeit auch die PRODUKTIVITÄT vorangetrieben.
für Arbeitnehmer und auch für die Arbeitgeber/Unternehmen bietet.
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
170 5 Analyse der Korpora
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
171
5.2.3.4 Konzeptueller Zugriff ESSEN Die Relevanz des konzeptuellen Zugriffs ESSEN fiel zunächst bei der qualitativen Analyse der spanischen Leserkommentare auf; das Thema wird in den spanischen Leserkommentaren häufig aufgegriffen und ist durch eine überraschende thematische Breite gekennzeichnet (so bestehen bspw. Verknüpfungen zu zahlreichen weiteren Konzepten). In den deutschen Leserkommentaren findet das Thema hingegen kaum Beachtung. Der Blick in beide Medientextkorpora, das deutsche wie auch das spanische, ergibt, dass sich in beiden Korpora relevante Konzepte finden, die unter dem konzeptuellen Zugriff ESSEN verglichen werden können. In der Darstellung finden die Teilbedeutungen Beachtung, die im Hinblick auf das Subthema ZEIT von Interesse sind. 5.2.3.4.1 Spanisches Konzept ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹ (dt. Essen und Essenspausen als Faktoren, die den Arbeitstag beeinflussen)278 Die Analyse der Leserkommentare ist dem folgenden Kapitel als Exkurs angeschlossen. Der quantitative Zugriff auf das Medientextkorpus bestätigt, dass das Konzept auch in den Medientexten von Bedeutung ist: Die hohe Trefferanzahl einiger Ausdrucksmuster („comer“ 5.996 Treffer, dt. essen, und „comida“ 6.278 Belege, dt. Essen), die inhaltlich auf das angesetzte Konzept verweisen, verdeutlicht die Relevanz des Themas. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›comida y pausas para la comida‹ fasst zusammen, dass im spanischen Leserkommentarkorpus und Medientextkorpus die lange Mittagspause, die sogenannte siesta (dt. Mittagsruhe, Mittagspause) und die häufigen Kaffeepausen am Arbeitsplatz als Faktoren betrachtet werden, die den Arbeitstag und seine Struktur stark beeinflussen.279 Der Hauptgegenstand der Debatte ist die Länge und der Zeitpunkt der Mittagspause, seltener wird beschrieben, wie die Mittagspause verbracht wird. Daneben werden die häufigen Kaffeepausen während des Arbeitstages und die generellen Essgewohnheiten Spaniens im Zusammenhang mit den Charakteristika des spanischen Arbeitstages beschrieben.
278
Das Konzept wird im Folgenden abgekürzt als ›comida y pausas para la comida‹.
279
Unter der erkenntnisleitenden Frage, wie die Konzepte ›Beruf‹ und ›Alltag‹ miteinander verknüpft werden, bietet sich die Betrachtung des Konzeptes ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹ an, da das Konzept ›Essen‹ hier in den Kontext des Arbeitstages gestellt wird. Für eine andere Untersuchungsfrage könnte die Betrachtung des allgemeiner gefassten Konzeptes ›Essen in Spanien‹ von Interesse sein.
172
5 Analyse der Korpora
Konzeptuelle Verknüpfungen Mittagspause und „jornada partida“ (dt. geteilter Arbeitstag) Das Konzept ›comida y pausas para la comida‹ wird zumeist im Hinblick auf den spezifischen Arbeitstag in Spanien angesprochen: Ein großes Problem, das dabei benannt wird, ist die späte und lange Mittagspause, die durch den sogenannten jornada partida entsteht: 106. Miguel está obligado a hacer una pausa para comer. Y da igual que tarde más o menos en comer porque en la práctica “está muy mal visto irte a media tarde”. Así que antes de las siete y media o las ocho de la tarde es muy raro que Miguel abandone su silla. “La gente no se atreve a levantarse e irse. Aunque haya hecho su trabajo y cumplido las horas. Piensan que van a estar en el disparadero. Sabes que si te organizas de otra manera y te vas antes que el jefe tus posibilidades de promoción son mínimas. Se interpretaría como que tu compromiso con la empresa es menor”. […] A las dos de la tarde, Miguel, como los demás en su oficina, hace una pausa para comer. Aprovecha el largo parón para ir a un gimnasio. Después come solo en una cafetería de comida rápida. Tarde de trabajo de cuatro y media a siete y media u ocho y vuelta a casa en el coche. “Llego muy cansado después de pasar todo el día fuera. Me da tiempo a cenar y a leer un poco en la cama.” (País, 28.07.2015, Una vida partida por la jornada)280 Die Tradition der langen Mittagspausen, die bis 16:00 oder 16:30 Uhr dauern können, hängt mit der Organisation des Arbeitstages in zwei Blöcken zusammen. Sowohl die Mittagspause als auch der geteilte Arbeitstag erschweren es den Arbeitnehmern, einem Tagesablauf nachzugehen, der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht. Dem Arbeitnehmer Miguel – so wird es im zitierten Artikel geschildert – werde durch die Möglichkeit, den Arbeitstag am Morgen flexibel zu beginnen (eine Stunde Gleitzeit) zwar ermöglicht, mit seinen beiden Töchtern zu frühstücken und sie zur Schule zu bringen, allerdings werde durch die unnötig lange Mittagspause ein früheres Ende des Arbeitstags verhindert: Auch die Kürzung der Mittagspause sei nicht sinnvoll, da die lange Anwesenheit am Arbeitsplatz als Indikator der Arbeitsqualität angesehen 280
Dt. Miguel ist dazu verpflichtet, eine Essenspause zu machen. Und es ist egal, ob er lange isst oder nicht, denn in der Praxis „ist es sehr schlecht angesehen, mitten am Nachmittag zu gehen“. Darum kommt es sehr selten vor, dass Miguel seinen Arbeitsplatz vor halb acht oder acht Uhr verlässt. „Die Leute trauen sich nicht, aufzustehen und zu gehen. Auch wenn man seine Arbeit gemacht und sein Stundensoll erfüllt hat. Sie denken, dass man ansonsten auf der Abschussliste landet. Du weißt, dass deine Chancen auf eine Beförderung minimal sind, wenn du dich anders organisierst und vor dem Chef gehst. Das würde man als geringeres Commitment zum Unternehmen interpretieren.“ […] Um zwei Uhr mittags macht Miguel, wie die anderen in seinem Büro, eine Pause, um zu essen. Er nutzt die lange Pause, um ins Fitnessstudio zu gehen. Danach isst er allein in einem Schnellimbiss. Dann der Arbeitsnachmittag von halb fünf bis halb acht oder acht Uhr und die Autofahrt nach Hause. „Ich komme sehr müde zu Hause an, nachdem ich den ganzen Tag nicht zu Hause war. Ich habe noch Zeit zu essen und ein bisschen im Bett zu lesen.“
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
173
werde. Der Artikel zeigt prototypisch die Verknüpfung der spanischen Mittagspause mit dem geteilten und langen Arbeitstag auf, der wiederum die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beeinträchtigt.281 Mittagspause, Nachteile für die Gesundheit und die Produktivität sowie die Rationalisierung als Lösung Im folgenden Beleg wird der für Spanien charakteristische Tagesablauf geschildert und seine Auswirkung in Zahlen ausgedrückt: Um 20 Uhr sind erst 50% der Menschen in Spanien zu Hause und um 22 Uhr sind es noch immer mehr als 20%, die noch nicht zu Hause sind. 107. Los horarios españoles permanecen a pesar de sus perjuicios para la salud y la productividad [= Lead, Anm. MM] Sinceramente, no acabo de encontrarle las ventajas a los horarios españoles. Seguramente las tienen, puesto que las resistencias a cambiarlos son tan persistentes, pero todas las indicaciones de los que han analizado el asunto son contrarias a un sistema tan único en Europa. Este consiste, básicamente, en madrugar, cubrir una larguísima jornada matutina que, por lógica, ha de interrumpirse para acallar los rugidos del estómago, mantener una comida tardía y copiosa y volver al trabajo -que no a la siestapara finalizar una larga jornada que impedirá estar de vuelta a casa al filo de las seis y dormir lo necesario para reponer fuerzas. Los datos son espectaculares: en España, a las ocho de la tarde, solo el 50% de la gente está ya en casa y hasta las diez no están el 80%. (País, 28.04.2014, Comer a las tres de la tarde)282 All dies führe dazu, dass die Gesundheit der spanischen Arbeitnehmer bedroht sei (spätes Abendessen, zu wenig Zeit für Ausgleich und Familie, Stress); darüber hinaus verringere der Arbeitsablauf die Produktivität der spanischen Firmen. Als mögliche Lösung für die vorgestellten Probleme wird im Artikel die Rationalisierung der Arbeitszeit vorgeschlagen, die die sogenannte Comisión Nacional para la Racionalización de 281
Diese Verknüpfung zeigt sich in weiteren Artikeln, vgl. bspw. País, 28.04.2014, „Comer a las tres de la tarde“, País, 26.09.2013, „En España, siempre con ‚jet lag‘“ oder País, 01.06.2014, „Spain is different: 11 marcas España“.
282
Dt. Die spanischen Arbeitszeiten bleiben trotz der Nachteile für die Gesundheit und die Produktivität [Lead] Ganz ehrlich, ich kann die Vorteile der spanischen Arbeitszeiten nicht nachvollziehen. Sie müssen aber sicherlich welche haben, da die Widerstände, sie zu verändern, so anhaltend sind. Aber alle Hinweise derjenigen, die die Angelegenheit untersucht haben, widersprechen diesem System, das in Europa so einmalig ist. Dieses besteht grundsätzlich in dem frühen Aufstehen, darin, einen langen morgendlichen Arbeitstag zu verbringen, der logischerweise unterbrochen werden muss, um das Knurren des Magens zu beruhigen. Danach ein spätes und üppiges Mittagessen und zurück an die Arbeit – nicht zur Siesta –, um einen langen Arbeitstag abzuschließen, der verhindern wird, um Punkt sechs zu Hause zu sein und genügend zu schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen. Die Daten sind aufsehenerregend: In Spanien sind um acht Uhr abends nur 50% der Menschen zu Hause, und bis zehn Uhr sind es noch immer keine 80%.
174
5 Analyse der Korpora
los Horarios Españoles283 seit Jahren fordere, die allerdings bisher kaum umgesetzt werde. Weitere Schritte könnten durch die Arbeitnehmer selbst, die Unternehmer und die Führungsetagen eingeleitet werden. Die Verknüpfung zwischen dem Arbeitstag in Spanien, seinen Charakteristika und den Nachteilen, die damit einhergehen (u. a. wenig Zeit für Familie und Privatleben, fehlendes Abendessen mit der Familie, geringe Produktivität), wurde bereits im Kapitel 5.2.3.1.2 zum Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹ dargestellt. Die Verbindung mit der Rationalisierung und die Begründung des Tagesablaufs Spaniens mit der Zeitumstellung 1942 stellen die Grundlage für die argumentative Verknüpfung dar, die im folgenden Abschnitt erläutert wird. Essgewohnheiten und die Kultur Spaniens Im Kotext der Verweise auf das Konzept ›comida y pausas para la comida‹ finden sich häufig Verweise auf die Kulturspezifik der Mittagspause. So wird beschrieben, wie der Ablauf des spanischen Arbeitstages (horario español) ist und dass dieser in ganz Europa einmalig sei („un sistema tan único en Europa“, vgl. Beleg 107). In dem Artikel „Spain is different: 11 marcas España“ (País, 01.06.2014) werden verschiedene Spezifika Spaniens beschrieben und mit Studienergebnissen bzw. den Stimmen verschiedener Diskursautoritäten belegt. Der letzte Absatz beschäftigt sich dabei mit den Besonderheiten des spanischen Arbeitsalltags, der, im Vergleich mit den weiteren europäischen Ländern, von vielen Feiertagen und langen Arbeitstagen geprägt ist: Die langen Arbeitstage sowie die hohe Anzahl an jährlichen Arbeitsstunden werden durch den Tagesablauf in Spanien mit einer langen und späten Mittagspause gefördert. 108. “Lo estamos haciendo todo mal. Tendríamos que regresar al meridiano que nos toca, almorzar a la una de la tarde, llegar antes a casa y adelantar el prime time televisivo”, argumenta [Nuria Chinchilla, profesora]. “Tenemos muchas fiestas fruto de nuestra tradición religiosa, pero a final de año la cantidad de horas que hemos pasado en la oficina o haciendo tiempo para volver de la pausa de la comida son excesivas”. Buqueras y Chinchilla coinciden en que tanto políticos como industriales o dueños de cadenas de televisión ven muy lógicas estas propuestas, pero que luego nadie quiere dar un paso al frente. “Esto solo se puede arreglar modificando las leyes”, concluye la profesora. (País, 01.06.2014, Spain is different: 11 marcas España)284 283
Vgl. Fußnote 147.
284
Dt. „Wir machen alles falsch. Wir müssten zu der Uhrzeit zurückkehren, die uns entspricht [eigentl.: zu dem Meridian, der uns entspricht, Anm. MM], nämlich um ein Uhr Mittagessen, früher zu Hause ankommen und die Primetime im Fernsehen nach vorne verlegen“, argumentiert sie [Nuria Chinchilla, Professorin]. „Wir haben viele Feiertage aufgrund unserer religiösen Tradition, aber am Ende des Jahres ist die Anzahl der Stunden, die wir im Büro verbracht haben oder für die lange Mittagspause verschwendet haben, ausufernd.“ Buqueras und Chinchilla stimmen darin überein, dass Politiker, Wirtschaftschefs und Eigentümer von Fernsehsendern die Logik dieser Vorschläge verstehen, dass aber niemand den ersten
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
175
Die berühmten langen Mittags- und Frühstückspausen werden in dem zitierten Absatz als ein Spezifikum neben weiteren (viele Feiertage, Kultur des presentismo) genannt: Die Umstellung der traditionellen Essenspausen wird als ein Schlüsselfaktor zu einer Arbeitskultur dargestellt, die dem Arbeitnehmer mehr Freiraum biete und die Produktivität der Unternehmen verbessere. Die Rolle der als spezifisch spanisch beschriebenen Essensgewohnheiten wird betont, indem ihre besondere Problematik wie auch ihr Potential als Schlüsselfaktor in der Optimierung des Arbeitstages in den Vordergrund gestellt wird. Im zitierten Beleg wird darauf verwiesen, dass eine Gesetzesänderung notwendig sei, da die als sinnvoll anerkannten Schritte ansonsten nicht durchgeführt werden würden.285 Bewertung des Konzeptes Bei der Betrachtung der sprachlichen Bewertungen des Konzeptes ›comida y pausas para la comida‹ im Kontext des Arbeitstages und speziell im Kontext der Arbeitszeit werden die Dauer und der Zeitpunkt der (Mittags-)Pausen kritisiert.286 Die traditionelle spanische Mittagspause, die um ca. 14 Uhr beginnt, bis zu zweieinhalb Stunden dauern kann und mit der siesta verbunden ist, wird im Medientextkorpus negativ bewertet. Diese Bewertung kann entweder explizit formuliert werden („Lo estamos haciendo todo mal“, vgl. Beleg 108) oder durch die Verknüpfung mit weiteren problematischen Aspekten (hohe Zahl an Arbeitsstunden bei geringer Produktivität, fehlende Vereinbarkeit von Beruf- und Privatleben, Nachteile für Gesundheit, vgl. Beleg 107) verdeutlicht werden: Der langen Mittagspause wird die „Schuld“ an diesen Problemen zugesprochen, weil sie den langen und geteilten Arbeitstag (den jornada larga bzw. jornada partida) verursache, der zudem von presentismo geprägt sei: 109. De acuerdo con la OCDE, en España se trabajan 1.686 horas anuales, que si no parecen tantas comparadas con Suecia (1.621) sí lo son frente a los alemanes (1.397, el equivalente a 36 jornadas de 8 horas menos). La culpa es de las dos horas de pausa para almorzar y de la “cultura del presentismo”, considera Ignacio Buqueras, presidente de la Asociación Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles. (País, 01.06.2014, Spain is different: 11 marcas España)287 Schritt machen möchte. „Dies kann nur über Gesetzesänderungen geregelt werden“, folgert die Professorin [Chinchilla]. 285
Die Referenz auf Gesetze und die Sachverhaltsebene wird im Exkurs 5.2.3.3.1 Gesetze als Indikatoren der Sachverhaltsebene beleuchtet. Die Gesetze, die darin beschrieben werden, betreffen zum Teil ähnliche Fragestellungen (Vereinbarkeit von Beruf und Familie angesichts der kulturellen Strukturen in Spanien).
286
Die Bewertung des Essens in Spanien könnte als Untersuchungsgegenstand unter anderer Perspektive von Relevanz sein, wird aber in der vorliegenden Untersuchung zurückgestellt. Umstritten ist also nicht, was gegessen wird oder dass während des Arbeitstages eine Mittagspause für die Arbeitnehmer notwendig ist, sondern wie die Pause in den Arbeitstag eingegliedert ist, welchen zeitlichen Umfang sie haben sollte und welche Art des Mittagessens sich dafür eignet.
287
Dt. Laut OECD werden in Spanien 1.686 Stunden im Jahr gearbeitet, was im Vergleich mit Schweden
176
5 Analyse der Korpora
Es wird betont, dass es sich bei der Gestaltung des Arbeitstages mit Kaffeepause(n) und langem, spätem Mittagessen um ein Kulturspezifikum Spaniens handelt, und dieses wird innerhalb der spanischen Medientexte (wie auch in den spanischen Leserkommentaren) mehrheitlich als negativ beurteilt. Den eigenen Gewohnheiten werden die Gewohnheiten anderer Länder, wie Deutschland, gegenübergestellt, die – so das Urteil in den Medientexten – zu mehr Zeit für andere Tätigkeiten, erhöhter Produktivität etc. führen würden und insofern als Vorbilder gelten sollten. Ergänzung: Leserkommentarkorpus Das Konzept ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹ fiel zunächst im spanischen Leserkommentarkorpus auf, in dem die lange Mittagspause, die häufigen Kaffeepausen am Arbeitsplatz und das fehlende gemeinsame Abendessen mit der Familie zu Hause angesprochen werden. 110. Es un atraso, mi vida en Madrid era un infierno! Llegaba a casa todos los días a las 9 o 10 de la noche, y todo por tener 2 horas para comer. Además, son tantas horas fuera de casa, que no aprovechas el tiempo en el trabajo. Se pierde mucho el tiempo, al final sabes que va a tener que estas esas horas sí o sí. Desde que vivo en UK, tengo calidad de vida. Entro a las 9, una hora antes, 30 min para comer. Pero eso supone que a las 5 de la tarde estoy fuera y a las 6 cenando. Tengo vida, puedo hacer otras actividades que me enriquezcan como persona, incluso me ayuden a ser mejor en mi trabajo. Además, el tiempo que estoy en el trabajo, soy más productiva, no distracciones. Lo de 2 horas para comer es un gran atraso. […] (Eva Rodríguez, 15.12.2014 20:59 Uhr)288 289 Die Leser legen in den Kommentaren ihre persönlichen Narrative und ihre Einschätzungen der Gesamtsituation dar. Die Verknüpfungen und Bewertungen fallen ähnlich aus wie in den Zeitungstexten. Im zitierten Beleg werden die Essensgewohnheiten mit (1.621) nicht so viel erscheint, im Vergleich mit Deutschland allerdings schon (1.397, äquivalent zu 36 AchtStunden-Arbeitstagen weniger). […] Den Studienergebnissen zufolge, über die Buqueras verfügt, schläft man in Spanien aufgrund der Arbeitszeiten weniger, und Phänomene wie die geringe Geburtenrate werden auf die Probleme der Vereinbarkeit von Familienleben und Berufsleben zurückgeführt. 288
Dt. Das ist ein Rückstand, mein Leben in Madrid war die Hölle! Ich kam jeden Tag um neun oder zehn Uhr abends zu Hause an, und das alles wegen der zweistündigen Mittagspause. Außerdem sind das so viele Stunden außer Haus, dass du die Zeit bei der Arbeit nicht richtig nutzt. Man trödelt sehr viel herum, am Ende weißt du, dass du die Stunden dort so oder so verbringen wirst. Seit ich in Großbritannien wohne, habe ich mehr Lebensqualität. Ich fange um 9 Uhr an zu arbeiten, eine Stunde früher, 30 Minuten, um zu essen. Aber das heißt, dass ich um fünf Uhr nachmittags draußen bin und um sechs Uhr abendesse. Ich habe ein Leben, ich kann anderen Aktivitäten nachgehen, die mich als Person bereichern und mir sogar dabei helfen, bei meiner Arbeit besser zu sein. Außerdem bin ich während der Zeit am Arbeitsplatz produktiver, keine Ablenkungen. Das mit der zweistündigen Mittagspause ist ein großer Rückstand. […].
289
Bei dem Beleg handelt es sich um einen Kommentar zum Ankerpunkt „España, ¿buena para vivir, mala para trabajar?“ (País, 14.12.2014).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
177
den Konzepten ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ und ›productividad‹ verknüpft. Auch in weiteren Leserkommentaren wird die zweistündige Mittagpause als großer Rückstand bezeichnet, als „dos horas inútiles para comer“ (dt. zwei überflüssige Stunden, um zu essen, Juan G. Gomez, 14.12.2014 18:09 Uhr)290, die dazu führen, dass die Arbeitnehmer spät nach Hause kommen und keine Zeit mehr für andere Aktivitäten haben. In der quantitativen Analyse des Leserkommentarkorpus wird die Relevanz des Themas deutlich: So kommt das Verb „comer“ (dt. essen) als Infinitiv bereits 160 Mal vor, das 4-Gramm „una hora para comer“ (dt. eine Stunde, um zu essen) zwölf Mal und das Lexem „almuerzo/s“ (dt. Frühstück/ Mittagessen) immerhin fünfzehn Mal.291 Bei der Analyse fällt des Weiteren auf, dass das Konzept häufig in Relation zu den Gewohnheiten anderer Länder definiert und bewertet wird. 111. Lo de las jornadas laborales viene por la estúpida costumbre de “almuercito”, “cafecito” y “una horita o más para comer”. He trabajado en UK, y allí, ni almuerzo ni gaitas. Había 1 hora para comer, pero podías perfectamente comer en media hora y salir antes. Del café ya ni hablamos.. una cocina donde te pones el café que quieres y te vuelves a tu lugar de trabajo, nada de irte al bar y perder 30-45 minutos. Lo mismo para el almuerzo, comes lo que quieras en tu silla, nada de salir fuera. Total, que en lugar de hacer de 8:30 a 19:00, como hace la mayoría de gente aquí, hacía de 8:30 a 17:00. Mejor no entro a comentar la diferencia en calidad de vida que supone el no TIRAR A LA BASURA [Hervorhebung im Original, Anm. MM] dos horas diarias con chorradas. Olvidaos de que esta situación de las jornadas laborales cambie, habría que cambiar a la población entera. Por cierto, aquí se trabaja más, en general, que fuera, al menos por mi experiencia. El problema es que se planifica mal, se paga poco y se pierde el tiempo con parones absurdos que solo ocurren en este país de vividores, aficionados a la terracita del bar, y similares. (kissin kissin, 14.12.2014 15:23 Uhr)292 290
Bei diesem Beleg wie auch bei dem folgenden (111) handelt es sich um Kommentare zum Ankerpunkt „España, ¿buena para vivir, mala para trabajar?“ (País, 14.12.2014).
291
Der Vergleich mit den deutschen Leserkommentaren ergibt, dass das Konzept spezifisch für das spanische Leserkommentarkorpus ist: Beide Ausdrücke „Frühstück“ und „Mittagessen“, kommen im deutschen Leserkommentarkorpus nicht vor. Der Infinitiv „essen“ findet sich fünf Mal im deutschen LeserkommentarGesamtkorpus (entspricht 87 Treffern pro Million, vgl. „comer“ mit 1.259 Treffern pro Million).
292
Dt. Die langen Arbeitstage kommen von diesen dummen Gewohnheiten des „Frühstückchens“, „Kaffeechens“ und „einem Stündchen oder mehr fürs Mittagessen“. Ich habe in Großbritannien gearbeitet und dort gibt es kein Frühstück und gar nichts. Man hatte eine Stunde, um zu essen, aber du konntest auch wunderbar in einer halben Stunde essen und früher nach Hause gehen. Vom Kaffee gar nicht zu sprechen… eine Küche, wo du dir deinen Kaffee so machst, wie du magst, und danach gehst du an deinen Arbeitsplatz zurück. Keine Rede davon, in die Bar zu gehen und 30-45 Minuten zu verlieren. Dasselbe beim Mittagessen, du isst, was du willst, an deinem Platz, nichts da von wegen rausgehen. Alles in allem, anstelle von 8:30 bis 19 Uhr, wie es die Mehrheit der Leute hier macht, habe ich von 8:30 bis 17
178
5 Analyse der Korpora
Die eigenen Gewohnheiten des „Frühstückchens“, „Kaffeechens“ und „einer Stunde oder mehr, um Mittag zu essen“ werden vor der Hintergrundfolie des Arbeitsalltags und der Essensgewohnheiten anderer Länder kritisch betrachtet und als „Unsinn“ bezeichnet, der die Lebensqualität stark beeinträchtige.293 Im Leserkommentar schließt sich direkt die Prognose des Verfassers an, dass sich der Ablauf des Arbeitstages nicht ändern lasse, weil dann die gesamte spanische Bevölkerung geändert werden müsse. Der Blick wird auf die eigene Kultur und Mentalität im Vergleich zum „Anderen“ gerichtet. Auch die Essgewohnheiten selbst werden im Leserkommentarkorpus kritisiert. Der langen Mittagspause, in der gewöhnlich ein Mittagessen mit zwei Gängen, Nachtisch und Kaffee sowie optional Wein294 eingenommen wird, wird das Konzept ›ein Brötchen am Schreibtisch essen‹ gegenübergestellt: 112. En España ya nos montamos la conciliación laboral por nuestra cuenta […]. ¡Qué van a venir a enseñarnos estos europeos cuadriculados de trabajar todos los días y comer un sándwich en la mesa de trabajo, hombre! (Steve Urkel, 29.07.2015 12:36 Uhr)295 296 Uhr gearbeitet. Am besten spreche ich erst gar nicht vom Unterschied in der Lebensqualität, den es bedeutet, wenn man nicht zwei verplemperte Stunden täglich für Nichts AUS DEM FENSTER WIRFT [Hervorhebung im Original, Anm. MM]. Ihr könnt es vergessen, dass sich dieser Ablauf der Arbeitstage verändert, man müsste die gesamte Bevölkerung verändern. Natürlich arbeitet man hier generell mehr als im Ausland, wenigstens meiner Erfahrung nach. Das Problem ist, dass man schlecht plant, wenig bezahlt bekommt und Zeit mit absurdem Leerlauf verliert, der nur in diesem Land der an Barterrässchen gewöhnten Schmarotzer und Ähnlichen vorkommt. 293
Als Ursache für die Essgewohnheiten wird dabei unter anderem das Klima Spaniens (vgl. Verknüpfung zu Konzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹), aber auch die soziokulturelle Prägung angeführt: „Tiene usted razón en parte (el clima influye) pero la mayor parte de nuestros problemas laborales son de tipo cultural. Todavía hoy, comer a la una se considera ‚la hora de los albañiles‘. Comemos tarde porque ‚el señorito‘ comía tarde, en una época en la que el trabajo agrícola imponía sus horarios. […]“ (Jorge López, 29.07.2015 11:52 Uhr) Dt. Sie haben zum Teil recht (das Klima hat einen Einfluss), aber der größte Teil unserer beruflichen Probleme ist kulturell bedingt. Heute noch versteht man das Mittagessen um ein Uhr als ein Mittagessen zur „Stunde der Maurer/Handwerker“. Wir essen spät, weil der „feine Herr“ spät aß, in einer Zeit, in der die Landwirtschaft die Arbeitszeiten auferlegte.
294
Nur in zwei Leserkommentaren wird das späte und üppige Mittagessen mit Wein positiv bewertet und als förderlich für die Arbeitsleistung bewertet; in den Beispielen wird eine landwirtschaftliche Tätigkeit beschrieben, für die der Arbeitende die Stärkung der Pause und des Mittagessens benötige (Rob Vandick, 27.12.2014 20:41 Uhr und León To, 27.12.2014 20:46 Uhr). Es handelt sich um Kommentare zum Artikel „La felicidad de trabajar de ocho a tres“ (País, 26.12.2014).
295
Dt. In Spanien sind wir selbst schuld daran, dass die berufliche Vereinbarkeit nicht möglich ist […]. Mensch, auf dass endlich die kleinkarierten Europäer kommen und uns beibringen, jeden Tag zu arbeiten und ein Brötchen am Schreibtisch zu essen!
296
Vgl. auch „Hay que empezar a comer un bocadillo enfrente del ordenador en 20 minutos y a las 17:30 fuera.” (javier12e3, 14.12.2014 19:22 Uhr) Dt. Man muss anfangen, ein Brötchen in 20 Minuten vor dem Computer zu essen, und um 17:30 Uhr raus. Bei dem Beleg handelt es sind um einen Kommentar zum Ankerpunkt „España, ¿buena para vivir, mala para trabajar?“ (País, 14.12.2014).
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
179
Die Bezeichnung „cuadriculado“ (dt. (klein-)kariert) ist in diesem Kontext besonders interessant: Mit ihr wird auf andere Europäer verwiesen, die in ihrem Arbeitsalltag als organisiert wahrgenommen werden. Im Leserkommentarkorpus werden die Essgewohnheiten am Arbeitsplatz in Spanien sehr stark kritisiert: Es wird beschrieben, dass man spät und lange esse, weil ein Verlassen des Arbeitsplatzes vor 20 Uhr (in Extremfällen auch 21 oder 22 Uhr) nicht möglich sei und weil es sich um ein kulturell geprägtes Verhaltensmuster handele. Dieser Tagesablauf wirke sich negativ auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus, die unter diesen Umständen nicht möglich sei; darüber hinaus sei der Arbeitsablauf noch nicht einmal produktiv. Das Leserkommentarkorpus weist damit Verknüpfungen zu den Konzepten ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ und ›productividad‹ auf, die sich in den Analysen des Medientextkorpus bestätigten. Besonders häufig werden Vergleiche mit anderen Ländern angeführt, die als produktiver bewertet und darum als Vorbild angeführt werden. In den Leserkommentaren wird vermehrt eine individuelle Perspektive eingenommen: Die Nutzer berichten von ihrem Arbeitsalltag im Ausland und beschreiben ihren eigenen Tagesablauf. In dieser individuellen Perspektive wird dennoch immer wieder darauf verwiesen, dass es sich bei den Verhaltensmustern um kulturelle Gewohnheiten handelt, die in Spanien üblich sind, von Spaniern so befolgt werden und darum nur schwer zu ändern sind. Mit dieser Einbettung wird eine Metaperspektive auf die eigene Kultur eingenommen und zugleich eine kollektive, kulturelle Perspektive insinuiert.
Das Konzept wird mit einem Hochwertkonzept verknüpft: Die Produktivität (Hochwertkonzept) wird durch die Gewohnheiten der Mittagspause und des Arbeitstages verringert.
Bei den Ausdrücken jornada partida und jornada larga handelt es sich um feststehende Ausdrücke, die im Spanischen lexikalisiert sind.
‘Die Struktur des Arbeitstages verringert die Produktivität der Arbeitnehmer.’
kulturspezifische Konzepte und lexikalisierte Ausdrücke jornada partida/ jornada larga
Die Mittagspause sowie der übliche Arbeitstag in Spanien sind kulturspezifisch. Sie bedingen sich gegenseitig: Da es nicht üblich ist, früh nach Hause zu gehen, können die Arbeitnehmer eine lange Mittagspause machen. Da die lange Mittagspause üblich ist, verlängert sich der Arbeitstag.
‘In Spanien sind die lange und späte Mittagspause und der jornada partida (dt. geteilter Arbeitstag)/der jornada larga (dt. langer Arbeitstag) üblich. Die Arbeitnehmer gehen nicht früher nach Hause, weil dies schlecht angesehen ist, und können darum auch eine lange Mittagspause machen.’
Das Konzept wird mit einem Hochwertkonzept verknüpft: Die Vereinbarkeit (Hochwertkonzept) wird durch die Gewohnheiten der Mittagspause und des Arbeitstages verhindert.
kulturelle Gewohnheiten
Metadiskursive Deutung
Befund
‘Die Struktur des Arbeitstages und das späte Ende des Arbeitstages erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.’
Die lange, späte Mittagspause und die häufigen Kaffeepausen am Arbeitsplatz resultieren in einem langen Arbeitstag in Spanien (jornada larga, dt. langer Arbeitstag, oder jornada partida, dt. geteilter Arbeitstag).
›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹ (dt. Essen und Essenspausen als Faktoren, die den Arbeitstag beeinflussen).
negative Verknüpfung mit Hochwertkonzept
negative Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 18: Konzept ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹
180 5 Analyse der Korpora
Die Mittagspause und die Struktur des Arbeitstages werden als Spezifika der spanischen Kultur und Mentalität definiert. b. Die Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles betont die Relevanz der Zeitumstellung 1942. Indem die Zeitumstellung als Ursache festgelegt wird, kann die Rationalisierung als Lösung angeführt werden. Die Kommission und ihre Vertreter fungieren als Diskursakteure mit Diskurshoheit.
‘Die Essgewohnheiten und die daraus resultierende Struktur des Arbeitstages sind spanische Kulturspezifika.
b. Die Spezifika beruhen auf der Zeitumstellung 1942 und lassen sich durch die Rückkehr zur ursprünglichen Zeitzone berichtigen. Die Racionalización de los Horarios (dt. Rationalisierung der Arbeitszeit) verändert die Struktur des Arbeitstages und behebt die genannten Probleme (mangelnde Vereinbarkeit, geringe Produktivität, Beeinträchtigung der Gesundheit).’
‘Die Essgewohnheiten gehören zur spanischen Kultur. In anderen Kulturen finden das Mittagessen und die Kaffeepausen anders statt. Wenn die Gewohnheiten geändert werden sollen, muss die Mentalität geändert werden.’
Der Blick wird häufig auf das Ausland gerichtet.
Die Argumente der Medientexte wiederholen sich in den Leserkommentaren.
‘Die Ess- und Pausengewohnheiten am Arbeitsplatz verhindern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.’
‘Die Ess- und Pausengewohnheiten am Arbeitsplatz verringern die Produktivität der Mitarbeiter.’
Die Gewohnheiten werden als spezifisch für Spanien beschrieben und sehr negativ bewertet.
‘Bei den Gewohnheiten des späten, langen Mittagessens und dem späten Ende des Arbeitstages handelt es sich um rückständige Gewohnheiten der spanischen Gesellschaft.’
Leserkommentarkorpus
a. Kulturspezifika lassen sich nicht oder nur schwer verändern.
Das Konzept wird mit einem Hochwertkonzept verknüpft: Die Gesundheit der Arbeitnehmer (Hochwertkonzept) kann durch die Gewohnheiten der Mittagspause und des Arbeitstages beeinträchtigt werden.
‘Die Struktur des Arbeitstages kann die Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigen.’
Kulturvergleich
Metaebene
Kulturvergleich
Argumentation: Ursache – Lösung
Diskursautorität
Selbstkritik und Veränderungswunsch
Kulturspezifik
negative Verknüpfung mit Hochwertkonzept
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
181
182
5 Analyse der Korpora
5.2.3.4.2 Deutsches Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹ Das Thema ESSEN spielt im deutschen Zeitungstextkorpus eine maßgebliche Rolle: Der Ausdruck „essen/Essen“ findet sich darin 15.057 Mal. Diese Trefferanzahl übersteigt die Möglichkeiten der qualitativen Analyse und ist im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht sinnvoll, da sich viele der Treffer nicht auf das Subthema ARBEITSZEIT beziehen. Im Folgenden wird der Schwerpunkt der Analyse auf das konkretere Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹ gelegt: Das Mittagessen ist als Mahlzeit besonders interessant, weil es den Arbeitstag unterbricht – das Mittagessen steht damit in besonderer Weise zwischen Beruf und Alltag. Es findet im Rahmen des Arbeitstages statt, aber es handelt sich um einen Zeitraum, in dem nicht gearbeitet wird. Frühstück und Abendessen liegen häufig außerhalb des Arbeitstages und werden von diesem nur mittelbar beeinflusst, beispielsweise über ein verspätetes Arbeitsende, das das Abendessen nach hinten verschiebt.297 Der Ausdruck „Mittagessen*“ findet sich 1.285 Mal im deutschen Medienkorpus. Das Konzept kann damit nicht vollständig mit qualitativen Methoden erschlossen werden; stattdessen werden im Anschluss an die quantitative Analyse des Word Sketchs bei Sketch Engine ausgewählte Beleglisten qualitativ betrachtet. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹ richtet den Blick auf die Mittagspause in deutschen Unternehmen, die häufig um 12 Uhr in der betriebseigenen Kantine stattfindet. In der Konzeptkonstitution ist vor allem die Verknüpfung zum Aspekt der sozialen Beziehungen entscheidend: Die Mittagspause wird als Moment der Begegnung konzeptualisiert. Die Bewertung des Konzeptes spielt im deutschen Korpus eine untergeordnete Rolle, was vor allem im Vergleich mit dem spanischen Konzept ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹ auffällt, bei dem die Konzeptbewertung von zentraler Bedeutung ist (vgl. die Vergleichstabelle, S. 193). Konzeptuelle Verknüpfungen Das Mittagessen als Moment der sozialen Beziehungen Beim Sprechen über das Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹ wird betont, dass das Mittagessen „gemeinsam“ stattfindet. Der Word Sketch zum Ausdruck „Mittagessen“ zeigt 48 Belege für „gemeinsam* Mittagessen“.298 Die Kontexte, die genannt werden, können verschieden sein. Einen Standardfall stellt dabei 297
Im spanischen Korpus hingegen spielt auch das Frühstück eine Rolle, da es den Vormittag des Arbeitstages üblicherweise unterbricht, vgl. Kapitel 5.2.3.4.1.
298
Vgl. Anhang 6 Word Sketch „Mittagessen“.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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das Mittagessen mit Kollegen in der Kantine dar, das im folgenden Kapitel zum Subkonzept ›Kantine‹ beschrieben wird (vgl. S. 188-190). Weitere Kontexte ergeben sich durch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die neue Arbeitsformate entstehen lassen. So stellt ein gemeinsames Mittagessen für Berufsgruppen, die nicht mit weiteren Mitarbeitern an einem gemeinsamen Ort arbeiten (bspw. virtuelle Teams, Freiberufler), keine Selbstverständlichkeit, sondern einen besonderen Wert dar: 113. Ein gemeinsames Mittagessen, ein kurzes Gespräch auf dem Flur – das helfe sehr bei der Zusammenarbeit. Für die Wirtschaftspsychologin Julia Hoch ist der persönliche Kontakt so etwas wie das Erfolgsgeheimnis bei der Arbeit in virtuellen Teams. „Persönlicher Kontakt baut Vertrauen auf – und das ist für erfolgreiche Teamarbeit essenziell“, meint die Expertin. (Welt, 17.05.2013, Teamwork ohne Grenzen) 114. Sechs Jahre lang hatte sie als Festangestellte im Büro einer politikwissenschaftlichen Forschungseinrichtung gearbeitet. Dort gab es einen geregelten Arbeitsalltag, Austausch mit den Kollegen und gemeinsame Mittagessen. Nun fielen diese Strukturen weg. Zuhause und im Internetcafé fehlte ihr das kreative Umfeld, in den Büros ihrer Auftraggeber fühlte sie sich nicht zugehörig. (taz, 25.09.2009, Zusammen arbeiten und Spaß dabei haben) 115. Man tauscht sich beim gemeinsamen Mittagessen oder Kaffeetrinken aus und kann mit der Zeit auch geschäftliche Kontakte knüpfen, sagt er. (SZ, 20.10.2006, Chance für Gründer und Freiberufler. Kontakte knüpfen in der Küche) Wenn der persönliche Kontakt am Arbeitsplatz wegfällt, weil es sich um ein virtuell zusammenarbeitendes Team handelt oder weil man als Freiberufler nicht in einem Unternehmen mit weiteren Mitarbeitern arbeitet, werde das gemeinsame Mittagessen oder Kaffeetrinken zu einem Wert, der sowohl auf sozialer als auch auf ökonomischer Ebene vorteilhaft sei: Aus den persönlichen Kontakten, die bei solchen Gelegenheiten ermöglicht werden, entstehe Vertrauen unter den Mitarbeitern, was wiederum die Teamarbeit erfolgreicher gestalte, oder es entstehen geschäftliche Kontakte. Aus dem Wert sozialer Kontakte, aus dem informellen „man tauscht sich aus“ wird so ein Kapital, das auf weiteren Ebenen vorteilhaft ist. Das Mittagessen wird als Moment definiert, in dem persönliche Verbindungen und Vertrautheit hergestellt werden können.299 Auf diese positive Wirkung einer gemeinsam eingenommenen Mahlzeit wird auch in hierarchischen Beziehungen gesetzt; so beispielsweise, wenn Angela Merkel mit 299
Der verbindende Charakter des gemeinsamen Essens wird nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in der Familie betont: „SZ: Essen in der Familie hat im Idealfall etwas Verbindendes. […] Meier-Gräwe: Der Wunsch ist in allen Familien präsent. Oft lässt er sich aus Zeitgründen nicht realisieren.“ (SZ, 07.02.2009, Interview. „Kochen ist eindeutig Frauensache”). Der zitierte Beleg deutet auf das Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ hin (Kapitel 5.2.3.3.2).
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5 Analyse der Korpora
dem erfolgreichen YouTuber LeFloid zu Mittag isst.300 Dass die Überschreitung der Grenzen und der Hierarchien zwischen Chef und Mitarbeitern in dem sozialen Setting Mittagessen nicht immer erfolgreich verläuft, schildert der folgende Beleg: 116. Die Sache war gut gemeint. Um seinen Mitarbeitern zu zeigen, dass er sich für ihre Belange interessiert, ging Friedrich Rummel, Human-Resources-Manager der Allianz Elementar Versicherungs-AG in Österreich, jeden Tag gemeinsam mit ihnen zum Mittagessen. Jedesmal suchte er sich eine neue Gruppe, stellte Fragen zum Arbeitsalltag und hörte zu. „Ich fühlte mich wirklich gut dabei“, sagt Rummel. Um so überraschender traf ihn das Ergebnis des 360-Grad-Feedback, das er selbst eingeführt hatte. „Wie im Examen“ hatten sich seine Mitarbeiter mittags in der Kantine gefühlt und immer gehofft, dass er mit seinem gefüllten Tablett an ihnen vorüberziehen würde. (SZ, 10.09.2005, Wie findet ihr mich?) Die Intimität und Vertrautheit im Setting des Mittagessens wird in diesem Fall durch das Eindringen einer Person, die sich nicht von ihrer Rolle Chef lösen kann, gestört. Arbeitszeit und Mittagspause werden im zitierten Beleg als getrennte (Zeit-)Räume wahrgenommen, während derer die bestehende hierarchische Ordnung erhalten bleibt. Die Überschreitung der Rollengrenzen führt hier zu negativem Feedback. Mittagessen, Wohlbefinden und Produktivität der Mitarbeiter Das Mittagessen wird als Faktor betrachtet, der einerseits die Produktivität der Mitarbeiter und andererseits das Wohlbefinden der Mitarbeiter beeinflussen kann. Im deutschen Medienkorpus wird mit Studienergebnissen argumentiert, um nachzuweisen, wie sich die Mittagspause auf die Arbeitsleistung der Arbeitnehmer auswirke. 117. Ein gemeinsames Mittagessen entspannt, kann für die Aufmerksamkeit aber schlechter sein als eine Pause allein am Schreibtisch. Dies berichten Forscher der Berliner Humboldt-Universität und anderer Hochschulen im Journal „Plos one“. „Bei einer gemeinsamen Mahlzeit lässt die kognitive Kontrolle nach, das 300
„Kanzleramt. Sie ist die mächtigste Frau der Welt. Er ist der wichtigste YouTuber Deutschlands. Wie zuletzt die Queen empfängt Bundeskanzlerin Angela Merkel (60) Florian Mundt, der als LeFloid (26) auf einem Videostreamingportal für Pubertierende ein Star ist. Er kommt in Jeans, Lederjacke und Basecap. Sie trägt roten Blazer zu schwarzer Bundfaltenhose und lässigen Sommer-Loafern. Erst ein Rundgang draußen. Dann ein gemeinsames Mittagessen (Kartoffelsuppe und Streuselkuchen, zu trinken gibt es Most). Zum Abschluss darf der YouTuber die Bundeskanzlerin interviewen. Merkel hofft auf den Obama-Effekt. Der Präsident der Vereinigten Staaten ließ sich Anfang des Jahres von amerikanischen Bloggern und YouTubern interviewen. Seitdem ist er so beliebt wie nie zuvor.“ (Welt, 10.07.2015, What the f***?). Mit dem beschriebenen bodenständigen Gericht (wie auch mit der legeren Kleidung) wird die Zugänglichkeit und Authentizität der Bundeskanzlerin Angela Merkel betont. Im Setting des informellen Mittagessens wird die Grenze, die zwischen der Diskursakteurin Merkel als Bundeskanzlerin und dem YouTuber LeFloid besteht, für kurze Zeit außer Kraft gesetzt.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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heißt, man wird liberaler und nachlässiger, nimmt eigene Fehler weniger ernst“, erklärt der Leiter der Forschungsgruppe, der Psychologe Werner Sommer. Aus dem Experiment lasse sich aber nicht schließen, wie gesund oder ungesund es sei, die Mittagspause allein im Büro zu verbringen. (Welt, 01.08.2013, Psychologie: Alleine zu Mittag essen ist besser für die Arbeit) In der kurzen Meldung werden Forschungsergebnisse zitiert, in denen nachgewiesen wird, dass eine gemeinsame Mittagspause die Mitarbeiter so sehr entspannt, dass sie die eigenen Fehler weniger streng betrachten. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass sich aus dem Experiment nicht auf den allgemeinen Wert der Mittagspause für die Gesundheit der Mitarbeiter schließen lasse. Während in Beleg 117 die kognitive Leistung in den Vordergrund gestellt wird, beschäftigen sich andere Belege vermehrt mit der sozialen Ebene, auf der die gemeinsame Mittagspause Vorteile mit sich bringe, die sowohl die Gesundheit wie auch die Produktivität der Mitarbeiter positiv beeinflussen: 118. Die zentrale Erkenntnis, die er aus seinen Datenmassen gezogen hat, lautet: Der Austausch zwischen Kollegen von Angesicht zu Angesicht ist der Schlüssel für den Erfolg eines Unternehmens. Besonders wichtig ist die informelle Kommunikation: der Plausch an der Kaffeemaschine, der Austausch auf dem Flur. […] Einer der ersten Kunden Wabers war eine amerikanische Großbank, die ihn beauftragte, die Burn-out-Fälle in ihren Callcentern zu ergründen. Er brachte die Bank dazu, gemeinsame Kaffeepausen zu erlauben. Bislang hatten die Mitarbeiter nacheinander und damit jeder für sich Pause gemacht, weil das als effizienter galt. Doch Wabers Datenauswertung hatte das Gegenteil belegt: Je mehr die Callcentermitarbeiter mit ihren Kollegen redeten, desto produktiver und weniger gestresst waren sie. Waber rechnete den Bankmanagern vor, dass sie durch eine neue Pausenregelung jährlich 15 Millionen Dollar sparen würden. […] Auch andere Aufträge bestärken Wabers These: Die Kündigungsquote einer Pharmafirma sei um 20 Prozent gesunken, nachdem die Angestellten Geld für das gemeinsame Mittagessen erhalten hätten, sagt er. „Die Mittagspause ist der wichtigste Teil des Arbeitstages“, lautet eine seiner Losungen; „Firmen müssen ein Umfeld schaffen, das zum Austausch anregt“, eine andere. Ziemlich menschliche Maximen also, die da mit Maschinenhilfe errechnet wurden. (Spiegel, 14.08.2015, Von A bis Z) Die gemeinsamen Mittags- und auch Kaffeepausen fördern, so die Aussage des Artikels, den Austausch zwischen den Mitarbeitern, reduzieren den Faktor Stress und die Kündigungsquote und steigern so letztendlich die Produktivität des Unternehmens. Das gemeinsame Mittagessen am Arbeitsplatz wird als Faktor angeführt, der eine deutliche Auswirkung auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter hat. Es wird davon ausgegangen, dass das Wohlbefinden der Mitarbeiter die Effizienz des Einzelnen und damit letztendlich die Produktivität des Gesamtunternehmens beeinflusst. In
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5 Analyse der Korpora
den Medientexten ist umstritten, ob die gemeinsame Mittagspause auch negative Auswirkungen auf die Leistung der Arbeitnehmer haben kann. Mittagessen in Deutschland und im Ausland Essen ist neben Arbeit ein fundamentaler Bestandteil des Alltags; dies schildert beispielsweise die folgende Artikelüberschrift der taz, die einen durchschnittlichen Tag in Stichworten schildert: 119. Mehr vom Gleichen. SEIN. Aufstehen, Zähne putzen, frühstücken, arbeiten, Mittagessen, arbeiten, Abendessen, du, ich, wir. Und dann bald wieder Zähne putzen. Das Leben ist schön (taz, 22.08.2015, = Titel) Der Alltag scheint durch den Wechsel von Mahlzeiten und Arbeit geprägt, umrahmt von der Beseitigung der letzten Spuren der Mahlzeiten. In den deutschen Zeitungstexten werden die Essgewohnheiten vieler Arbeitnehmer, die als anthropologische Konstanten zum Alltag gehören, häufig als spezifisch deutsch dargestellt: 120. 12.00 Uhr. Wie die Deutschen Mittag essen [Absatz entfernt, MM] Bornkessel sagt, dass man die Essenszeit wohl nicht ändern kann. Den uralten 12-UhrTermin. Er wird eine ewige deutsche Gewohnheit bleiben, er ist nicht reformierbar. Bornkessel hat es versucht. Er schrieb E-Mails an die Mitarbeiter, er wies darauf hin, dass das Essen auch um 13 Uhr nicht schlechter sei, die Auswahl nicht geringer, dafür die Warteschlangen kürzer seien. Es änderte sich nichts. 80 Prozent der Kantinenessen werden zwischen 11.30 Uhr und 12.30 Uhr ausgeteilt. Die durchschnittliche Essenszeit beträgt 15 Minuten, schätzt Bornkessel. (Spiegel, 21.04.2008, Der König von Deutschland)301 Die Mittagspause des Durchschnittsdeutschen findet nach Aussage des Artikels in der Kantine des Unternehmens statt und ist relativ kurz. Im Artikel wird darauf hingewiesen, dass sich der Essensgeschmack der Deutschen seit 1900 verändert habe, dass das Bewusstsein für die Lebensmittel wie auch die Ansprüche an das Essen gestiegen seien, die Bereitschaft, mehr zu bezahlen, jedoch nicht. Die Uhrzeit, zu der die Deutschen Mittag essen, und die Länge der Mittagspause blieben jedoch konstant. Sie werden im betreffenden Artikel als typisch deutsche Gewohnheiten beschrieben, die nicht zu verändern seien.302 301
Wenn Mittagspausen in anderen Kontexten (bspw. in der Strafvollzugsanstalt vgl. SZ, 02.09.2014, „Billig und willig“, oder auf einem Seenotkreuzer vgl. Welt, 23.07.2009, „Immer einsatzbereit: Mit dem Seenotkreuzer auf Kontrollfahrt“) erwähnt werden, so wird auch hier geschildert, dass diese im Zeitraum zwischen 11 und 13 Uhr stattfinden und zumeist eine Stunde dauern.
302
Kulturspezifische Erklärungen für die frühe und kurze Mittagspause finden sich im deutschen Korpus kaum. In einem Textbeleg wird argumentiert, dass das gemeinsame warme Mittagessen in Deutschland einen so hohen Wert habe, dass die Unterrichtszeiten der Schulen besonders früh angesetzt wurden, um das gemeinsame Mittagessen zu ermöglichen: „Andere Bildungshistoriker führen den frühen Beginn und
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Der deutschen Gewohnheit der frühen und kurzen Mittagspause werden die Mittagspausen in anderen Ländern gegenübergestellt, insbesondere die der südeuropäischen Länder, an wenigen Stellen auch die anderer Kulturen.303 Im folgenden Beleg wird auf die Siesta, die lange Mittagspause in Spanien, verwiesen: 121. Seit Herbst 2012 gibt es in Spanien keine Siesta mehr. Die Regierung schaffte sie auf Druck der Euro-Troika ab, denn „Faulenzen“, auch in brütender Mittagshitze, meint sich das Land mitten im Staatsbankrott nicht mehr leisten zu können. Jahrhundertelang hielten die Südländer ab der sechsten Stunde nach Sonnenaufgang (sexta hora) zwischen 12 und 16 Uhr ihre Mittagspause. Sie kamen vom Feld und aus den Geschäften nach Hause und ruhten sich aus, sie aßen miteinander, unterhielten sich im Kreise von Familie und Freunden, machten sich keinen Stress. Das Nickerchen war ihnen heilig. Nun ist es mit der Idylle vorbei. (Spiegel, 24.06.2013, Siempre la Siesta) Die Wegrationalisierung der Siesta wird in dem zitierten Spiegel-Artikel als Anpassung Spaniens an das Vorbild des deutschen Arbeitstages beschrieben, die der Schuldenkrise entgegenwirken soll – als Opfer in einem „Kulturkampf […], bei dem nicht nur die Lebensart der lateinischen Völker in Bedrängnis gerät“ (ebd.). Die Siesta wird dabei als Kulturgut einer „Ruhe- und Mußekultur“ und als Zeitraum konzeptualisiert, in dem ein gemeinsames Mittagessen mit der Familie stattfinden kann: 122. Die Spanier haben also ihre Siesta, das gemeinsame Essen mit der Familie, die Muße, die Kunst des guten Lebens, gegen mehr Arbeit und mehr Konsum getauscht. Es ist ein schlechter Tausch, und sie demonstrierten auch dagegen, aber vergebens. Ist der Tausch nicht absurd? Vor hundert Jahren verdienten die Spanier 20-mal weniger als heute. Könnten sich die Spanier ihre Siesta heute nicht um ein Vielfaches eher leisten als damals? Die Spanier sehen im Verlust ihrer Tradition ein deutsches Diktat. Sie sollen zu preußischen Tugenden bekehrt werden. „Man spricht jetzt Deutsch in Europa“, wie Volker Kauder einmal in treudeutscher Unschuld formulierte. (ebd.) Diese Darstellung, nach der die Spanier an ihrer Siesta festhalten und sich keinem „deutschen Diktat“ beugen wollen, widerspricht den Artikeln des spanischen Korpus, die mehrheitlich den geringen Nutzen der Siesta in den Vordergrund stellen, da sie Schulschluss zur Mittagszeit darauf zurück, dass das gemeinsame warme Mittagessen in Deutschland, anders als in anderen Ländern, einen hohen Stellenwert hatte. Weit vor acht begann die Schule meist in der ehemaligen DDR, wo viele Frauen berufstätig waren und der Staat sich um die Kinderbetreuung kümmerte“ (Welt, 26.03.2009, Wem die Stunde schlägt). 303
In einem Artikel wird auf die Mittagspause in einer afghanischen Schule hingewiesen, die, wie die deutsche Mittagspause, zwischen 12 und 13 Uhr stattfindet: „Jalda: Ich bin 19 und in der zwölften Klasse. In der Mittagspause der Schule von 12 bis 13 Uhr bringe ich Erwachsenen das Lesen und Schreiben bei […]“ (taz, 26.05.2004, Den Taliban nicht erlegen).
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5 Analyse der Korpora
lange Arbeitstage verursache und der Zeit mit der Familie im Wege stehe (vgl. Kapitel 5.2.3.4.1). Bewertung des Konzeptes In der Konzeptualisierung des ›Mittagessens im Kontext des Arbeitstages‹ steht der Aspekt der Bewertung im Hintergrund. Während die lange und späte Mittagspause in Spanien im spanischen Korpus oft kritisiert und als Ursache für weitere Missstände genannt wird, wird die Mittagspause, wie sie in Deutschland generell üblich ist, keiner grundsätzlichen Kritik unterzogen. Als Zeitraum, der den Arbeitstag unterbricht und in dem soziale Kontakte gepflegt werden können, ist sie positiv konnotiert. Wenn Kritik geäußert wird, dann an Teilaspekten wie dem täglichen Massenansturm in Großkantinen um 12 Uhr oder der Auswahl der Gerichte. Das Mittagessen, der Zeitraum des Mittagessens und der Ort Kantine, an dem das Mittagessen häufig stattfindet, sind als solche fest in der Gesellschaft verankert. Deutsches Subkonzept ›Kantine‹304 Der deutsche Angestellte eines Großunternehmens nimmt sein Mittagessen häufig in der betriebseigenen Kantine ein. In dem Artikel „Der König von Deutschland“, der sich mit dem Durchschnittsdeutschen beschäftigt, wird beschrieben, dass sich dieser um 12 Uhr in der Kantine einfindet und dort in einer kurzen Mittagspause mit großer Wahrscheinlichkeit „Currywurst, Schnitzel, Cordon bleu, Spaghetti [oder] dicke Linsen mit Schweinebauch, Würstchen und Spätzle“ verspeise (Spiegel, 21.04.2008). Bei diesen Gerichten handelt es sich laut Aussage von Franz Bornkessel, dem Leiter der Zentralküche im Mercedes-Benz-Werk in Sindelfingen, um die beliebtesten Gerichte. 123. „Linsen“, sagt Bornkessel, „sind das absolute Highlight.“ Der Betriebsrat verfügte, dass die Linsen als einziges Gericht zweimal in fünf Wochen angeboten werden müssen, aufgrund der Nachfrage. (Spiegel, 21.04.2008, Der König von Deutschland) In einem Artikel aus dem Jahr 2014 wird erwähnt, dass in Deutschland jeden Tag 18 Millionen Menschen in Kantinen essen.305 Die Relevanz des Konzeptes ›Kantine‹ wird 304
Das Subkonzept ›Kantine‹ ist als Ort, an dem die Mittagspause stattfindet, dem Subthema Raum zuzuordnen. Als Subkonzept ist es dem Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹ zugehörig und wird darum an dieser Stelle beschrieben.
305
„In der Werkskantine von Volkswagen in Hannover stehen Auszubildende für Currywurst an – neben Spaghetti Bolognese, Pizza und Schnitzel mit Pommes hierzulande immer noch das beliebteste Menü am Arbeitsplatz. Jeden Tag essen in Deutschland rund 18 Millionen Menschen in Kantinen. Die Betriebskantinen in Deutschland beschäftigen selbst insgesamt gut 43.000 Mitarbeiter. Pro Jahr setzen sie fast 15 Milliarden Euro um“. Bei dem Beleg handelt es sich um eine Bildunterschrift zu einem Interview der
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also durch die Zeitungsartikel selbst betont, sie zeigt sich aber auch auf quantitativer Ebene an den insgesamt 1.033 Belegen im Korpus.306 Konzeptuelle Verknüpfungen und Bewertung des Konzeptes Die Kantine als Ort der Begegnung: Nahbarkeit, Bodenständigkeit und Authentizität Die Mittagspause und das Mittagessen, das während dieser eingenommen wird, stelle einen Zeitraum dar, in dem soziale Interaktion stattfinden könne, die sich positiv auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter und auf die Produktivität des Unternehmens auswirke (vgl. Belege 117 und 118). Der Ort, an dem dies stattfindet, ist die Kantine: Hier treffen Kollegen und Vorgesetzte aufeinander. Das Aufbrechen der Hierarchien wird positiv (Beleg 125) oder negativ (Beleg 116) bewertet. Bei der Konzeptualisierung der Kantine als Ort der sozialen Begegnung spielen Verknüpfungen mit weiteren Konzepten eine Rolle. Es wird geschildert, wie die Kantine durch ihren Charakter als Ort, der räumliche Nähe begünstigt, soziale Verknüpfungen stiftet: 124. Viele Jahre lang aßen die Journalismuslehrlinge mittags in der Kantine, am Nebentisch der Großen unserer Zunft. Aber die enge Verbindung bleibt, das versprechen wir Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen. (SZ, 11.11.2008, Letzte und allerletzte Worte) 125. Taylor ist zwar Chef des erfolgreichsten Auslandswerks der Marke mit dem Stern, aber einen reservierten Parkplatz gibt es für ihn und andere Topmanager nicht. Sie benutzen auch denselben Eingang wie die Fließbandarbeiter, essen gemeinsam in der einzigen Kantine und arbeiten in einem Großraumbüro. Das sind zwar Äußerlichkeiten. Aber sie dürften zu dem Teamgeist beitragen, der ein wichtiger Teil der Erfolgsstory des einzigen Automobilwerks der Marke MercedesBenz in den USA geworden ist. (Welt, 02.09.2003, Millionen für „Detroit des Südens“) In beiden Belegen wird die räumliche Nähe – unabhängig vom gemeinsamen Essen oder dem Gespräch – als Faktor festgesetzt, der eine Verbindung zwischen den Mitarbeitern, aber auch zu den Führungskräften entstehen lässt und den Teamgeist fördert. Die Kantine steht des Weiteren für etwas typisch Deutsches, Bodenständiges und Authentisches. Sie wird als Konzept mit diesen Attributen verknüpft. Wenn beschrieben wird, dass die Topmanager dasselbe Essen in derselben Räumlichkeit zu sich nehmen, wird damit betont, dass sie trotz ihrer höheren Stellung und der höheren Gehaltsschecks die Bodenständigkeit des gemeinen Arbeiters bewahrt haben.307 Welt (29.03.2014, „Man hätte mit Putin früher in Kontakt treten sollen“). 306
Gesucht wurde nach „Kantine*“.
307
Auch die Gerichte, die in den Belegen beschrieben werden, können auf diese Art und Weise gedeutet werden. So wird im folgenden Beleg geschildert, dass auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel „einst in
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5 Analyse der Korpora
Eine gute Kantine als Vorzug eines Unternehmens: Wohlbefinden und Gesundheit der Mitarbeiter Die Unternehmenskantine spielt eine Rolle in der Evaluation der Unternehmen. Eine gute Kantine wird im Korpus als Aspekt genannt, der die Attraktivität des Unternehmens für die Mitarbeiter erhöhe: 126. Wir suchen einen gut qualifizierten Mitarbeiter für unser Team. Der genaue Job wird an Ihr Profil angepasst. Wir bieten flexible Arbeitszeiten, Home Office, Sportclub mit Wellnessbereich und zwei Stunden Weiterbildung pro Woche während der Arbeitszeit. Die Kantine wird von einem Sternekoch betrieben. Es gibt eine betriebseigene Kita sowie Schule mit Ganztagsbetreuung. Eine Wohnung suchen wir Ihnen. Gratis stellen wir Ihnen eine Innenarchitektin zur Einrichtung. Unsere Betriebsärzte, Physiotherapeuten und Ernährungsberater stehen Ihnen und Ihrer Familie rund um die Uhr zur Verfügung. (Welt, 06.09.2013, Mächtige Mitarbeiter) Bei dem Beleg handelt es sich um eine fiktive Stellenanzeige eines Autoherstellers im Jahr 2030, die überspitzt auf die steigenden Erwartungen der Arbeitnehmer hinweist. Der Beleg, in dem die Kantine als ein Faktor neben weiteren genannt wird, ordnet dieser eine besondere Wichtigkeit für die Unternehmen der Zukunft zu. Auch heute sei es in Unternehmen bereits üblich, ein Angebot für die Arbeitnehmer bereitzustellen, das das Wohlbefinden und die Gesundheit fördere. 127. Auch bei Adidas haben die Gesundheitsmanager beides im Blick: Was bringt das Angebot dem Unternehmen? Und was bringt es den Beschäftigten? „Das wichtigste Gut, das ein Mitarbeiter hat, ist die Gesundheit“, sagt Carolin Dörfler, die den Mitarbeitersport bei Adidas organisiert. „Für ein Unternehmen ist es wichtig, das zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen.“ Deswegen achtet Adidas auf gesundes Essen in der Kantine. Deswegen stellt der Betriebsarzt auf Wunsch den Arbeitsplatz ergonomisch ein, damit die Beschäftigten gesund daran sitzen. (SZ, 24.08.2013, Gesund im Job. Burn-out? Muss nicht sein. Was Unternehmen tun, damit Arbeit nicht krank macht) Gesundes Essen in der Kantine dient neben dem Sportangebot dazu, die Mitarbeiter gesund zu halten. Die Kantine und die Qualität des Essens in der Kantine werden als Faktoren genannt, die zum einen auf die Attraktivität eines Unternehmens wirken und zum anderen die Gesundheit des einzelnen Mitarbeiters und damit die Effizienz eines ganzen Unternehmens beeinflussen.
der Adlershofer Kantine Bouletten aß“ (Welt, 05.10.2006, Unternehmer wider Willen). Mit der Beschreibung dieses unprätentiösen, deutschen Gerichts wird ein Bild von Nahbarkeit und Bodenständigkeit gezeichnet. Vgl. auch Fußnote 300.
‘Das Mittagessen findet als Moment der sozialen Beziehungen häufig gemeinsam mit Kollegen statt.’
≠
b. die im Alltag unterschiedliche Rollen ausüben (Bundeskanzlerin und YouTube-Star).’
a. die im Beruf durch die bestehende hierarchische Ordnung getrennt sind (Chef und Angestellte).
‘Bei einem gemeinsamen Mittagessen kann ein informeller und authentischer Austausch zwischen Personen stattfinden,
b. ‘Ein gemeinsames Mittagessen unterbricht die Konzentration und beeinträchtigt die Arbeitsleistung.’
≠
iii. Sie können geschäftliche Kontakte entstehen lassen (bspw. bei Freiberuflern, die einen Arbeitsplatz teilen).’
ii. Sie verbessern die Zusammenarbeit der Mitarbeiter und steigern die Produktivität der Unternehmen.
i. Diese fördern das Wohlbefinden der Mitarbeiter und das Vertrauen untereinander.
Attribute des Settings wirken auf die Akteure
Die Medienartikel und die angeführten Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Überwiegend schreiben sie der gemeinsamen Mittagspause unter Kollegen Vorteile zu. In einigen Belegen werden aber auch Nachteile erwähnt.
Befund
Dem Setting ›Kantine‹ und seinen Merkmalen (bspw. bestimmte Speisen) werden charakteristische Attribute (bspw. ‘Authentizität’, ‘Bodenständigkeit’) zugeschrieben. Den Akteuren im Setting können diese Attribute ebenfalls zugeschrieben werden (bspw. ‘Der Chef ist „einer von uns“’, ‘Die Bundeskanz-
Darstellung der Vorteile überwiegt
Metadiskursive Deutung
›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹
a. ‘Ein gemeinsames Mittagessen wirkt sich positiv aus, da soziale Bindungen entstehen können.
Das Mittagessen findet in Deutschland im Rahmen einer Mittagspause um 12 Uhr statt. Häufig findet es in einer betriebseigenen Kantine mit Kollegen statt. Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 19: Konzept ›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
191
Das Mittagessen um 12 Uhr wird als deutsche Gewohnheit bezeichnet, die sich nicht ändern lässt. Belege, die die Gewohnheit als Kulturspezifikum einordnen und erklären, finden sich kaum. Es wird auf die Gewohnheiten anderer Länder verwiesen. Im Vergleich mit diesen werden die deutschen Gewohnheiten als produktiv charakterisiert.
‘Das kurze Mittagessen um 12 Uhr von einer halben bis einer Stunde ist eine typisch deutsche Gewohnheit. Die Gewohnheit, um 12 Uhr zu Mittag zu essen, lässt sich nicht ändern.’
‘In anderen Ländern ist die Mittagspause später und länger. Die Spanier passen ihre lange und späte Mittagspause und die siesta widerwillig an das deutsche Vorbild an.’ Es wird angeführt, dass die Anpassung der Mittagspause in Spanien als deutsches Diktat aufgefasst wird. Dies kann im spanischen Korpus nicht nachgewiesen werden – hier wird eine Veränderung als kaum umsetzbar, aber wünschenswert bewertet. Die Fremdwahrnehmung der Tendenzen in Spanien stimmt nicht mit der Eigenwahrnehmung überein, die im spanischen Korpus nachgewiesen werden kann.
lerin ist ein Mensch wie du und ich’). Mitunter scheitert diese Zuschreibung allerdings.
‘Der informelle und authentische Austausch gelingt nicht, weil die Rollen auch im Setting des Mittagessens wirksam sind.’
Fremdwahrnehmung vs. Eigenwahrnehmung
Kulturvergleich
Inszenierung
192 5 Analyse der Korpora
Metadiskursive Deutung In der Kantine werden berufliche Hierarchien aufgebrochen. Chefs, Führungskräfte und Angestellte essen im selben Raum. Die beliebtesten Gerichte sind typische deutsche Gerichte mit Fleisch. Vorteile für die Mitarbeiter sind auch Vorteile für die Unternehmen. Das Hochwertkonzept ›Gesundheit‹ ist verknüpft.
Befund
‘In der Kantine essen alle gemeinsam und halten sich im selben Setting auf.’
‘In der Großkantine von Mercedes Benz sind die beliebtesten Gerichte Currywurst, Schnitzel, Cordon bleu, Spaghetti und Linsen.’
‘Eine gute Kantine erhöht die Attraktivität eines Unternehmens. Die gesunde Ernährung der Mitarbeiter wird für die Unternehmen immer wichtiger.’
Konzeptsynthese Das Mittagessen findet in Deutschland im Rahmen einer Mittagspause um 12 Uhr statt. Häufig findet es in einer betriebseigenen Kantine mit Kollegen statt.
Konzeptsynthese
Die lange, späte Mittagspause und die häufigen Kaffeepausen am Arbeitsplatz resultieren in einem langen Arbeitstag in Spanien (jornada larga oder jornada partida).
Die Kernbedeutungen der beiden Konzepte unterscheiden sich stark. Im Spanischen wird das Konzept mit der Länge und der Struktur des Arbeitstages verknüpft (jornada partida/jornada larga), woraus auch die negative Bewertung des Konzeptes resultiert. Bei der deutschsprachigen Konzeptualisierung steht der Bewertungsaspekt nicht im Mittelpunkt; stattdessen bestehen im Kontext des Konzeptes und des Settings weitere Verknüpfungen.
›Mittagessen im Kontext des Arbeitstages‹
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Vorteile für Arbeitnehmer und Unternehmen
kulturspezifische Verknüpfung
berufliche Hierarchien
›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹
Tabelle 21: Vergleich ESSEN
In deutschen (Groß-)Unternehmen findet die Mittagspause zumeist in der betriebseigenen Kantine statt.
›Kantine‹ Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Subkonzept
Tabelle 20: Subkonzept ›Kantine‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
193
RACIONALIZACIÓN DE LOS HORARIOS - Die lange und späte Mittagspause resultiert aus der Zeitumstellung 1942. Die Rationalisierung der Arbeitszeit passt die Zeitzone Spaniens an und behebt die genannten Probleme (geringe Produktivität, mangelnde Vereinbarkeit, gesundheitliche Probleme).
KULTUR - Die lange Mittagspause und die Essgewohnheiten gehören zur Kultur Spaniens und können nur schwer verändert werden. Sie werden stark kritisiert.
VEREINBARKEIT - Die Struktur des Arbeitstages (Mittagspause, jornada partida) und das späte Ende des Arbeitstages (jornada larga) erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das Abendessen in der Familie ist oft nicht möglich.
GESUNDHEIT - Die Struktur des Arbeitstages (inkl. der Mittagspause) beeinträchtigt die Gesundheit der Arbeitnehmer. Durch den langen Arbeitstag kann Stress entstehen.
PRODUKTIVITÄT - Die Struktur des Arbeitstages und der Mittagspause beeinträchtigt die Produktivität der Arbeitnehmer: Sie sind weniger produktiv.
- Die lange und späte Mittagspause führt zum jornada partida/jornada larga. Die Gewohnheit des jornada partida/jornada larga ermöglicht die lange und späte Mittagspause.
JORNADA PARTIDA/JORNADA LARGA
Sprachliche Verknüpfungen
KANTINE - In vielen deutschen Großunternehmen findet das Mittagessen in der
KULTUR - Die Mittagspause um 12 Uhr in der Kantine gehört zur deutschen Esskultur und lässt sich nicht verändern.
PRODUKTIVITÄT - Eine gemeinsame Mittagspause fördert das Wohlbefinden der Mitarbeiter. Die Auswirkungen auf die Produktivität werden unterschiedlich bewertet.
Sprachliche Verknüpfungen
194 5 Analyse der Korpora
betriebseigenen Kantine statt.
- Die Mittagspause wird neutral beschrieben und nicht kritisiert. Wenn Kritik geäußert wird, dann nur an Teilbedeutungen wie der Auswahl der Gerichte in der Kantine o. Ä.
- Die Gewohnheit der langen und späten Mittagspause wird als Spezifikum der spanischen Kultur beschrieben und stark pejorativ bewertet, da sie sich negativ auf Produktivität, Gesundheit und Vereinbarkeit auswirkt.
Die Konzepte unterscheiden sich durch die konzeptuellen Verknüpfungen und Bewertungen. Besonders auffällig ist die sprachstrukturelle Einbettung des spanischen Konzeptes: Die metasprachliche Einordnung der Umstände der Mittagspause als kulturspezifisch und die negative Bewertung derselben kennzeichnen das Konzept ›comida y pausas para la comida como factores que influyen la jornada‹. Bei dem Konzept selbst handelt es sich nicht um ein Kulturem; die sprachstrukturelle Einbettung des Konzeptes kann als kulturemhaft beurteilt werden.
Kulturspezifik
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
GESUNDHEIT - Eine gute Kantine erhöht die Attraktivität eines Unternehmens. Eine gesunde Ernährung ist für die Mitarbeiter und das Unternehmen vorteilhaft, da gesunde Arbeitnehmer mehr Leistung bringen.
SOZIALER
RAUM - Die Kantine ist ein Ort, an dem soziale Begegnungen stattfinden und Hierarchien aufgebrochen werden können.
GERICHTE - Die beliebtesten Gerichte sind typisch deutsche Speisen.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
195
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5 Analyse der Korpora
5.2.3.5 Konzeptueller Zugriff PRODUKTIVITÄT Bei dem deutschen Konzept und dem spanischen Konzept handelt es sich um fachspezifische Konzepte der Wirtschaftswissenschaften, die in den Zeitungstexten vermittlungssprachlich konzeptualisiert werden. Die sprachliche Konstituierung, die konzeptuellen Verknüpfungen und die Bewertung der Konzepte unterscheiden sich. Diese inhaltlichen Unterschiede können in den folgenden Ausführungen nachvollzogen werden. Bestimmte Strukturen lassen sich im Kontext des konzeptuellen Zugriffs PRODUKTIVITÄT in beiden Korpora feststellen: In beiden Sprachen finden sich Metaphern der Referenzbereiche WACHSTUM, RÜCKGANG und STAGNATION, um die Konzepte zu bewerten. In beiden Korpora ringen Diskursakteure um die Konzepte, was auf sprachstruktureller Ebene in Form von Agonalität und Metasprache nachzuweisen ist. Den einzelsprachlichen Ausführungen zu den Konzepten wird ein Zwischenfazit (5.2.3.5.1) zu den Strukturen der Konzeptbewertung im Deutschen und im Spanischen angehängt, das sich in die Teile (1) Metapher und Bewertung am Beispiel PRODUKTIVITÄT sowie (2) Agonalität, Metasprache und Ringen um Diskurshoheit als Merkmale der Konzeptbewertung am Beispiel PRODUKTIVITÄT untergliedert. 5.2.3.5.1 Deutsches Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ Das Ausdruck „Produktivität“ findet sich 1.044 Mal im Korpus, die Suchanfrage „Produktivität*“ ergibt 1.318 Treffer. Bei der Differenz handelt es sich fast ausschließlich um Komposita (selten auch die Pluralform „Produktiväten“), die für die Analyse von Relevanz sein werden. Sowohl die Komposita als auch die Kollokationen von „Produktivität“ weisen darauf hin, dass die Referenzbereiche WACHSTUM, RÜCKGANG und STAGNATION eine entscheidende Rolle in der Konzeptualisierung spielen. Da diese Referenzbereiche vor allem die Bewertung des Konzeptes maßgeblich bestimmen, werden diese im Abschnitt „Sprachliche Bewertungen“ (S. 204-206) näher erläutert. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹308 bezeichnet die Faktoren, die die Produktivität in Deutschland beeinflussen. Es ist geprägt von unterschiedlichen Verknüpfungen, die vor allem die Ursachen für eine Steigerung oder einen Rückgang der Produktivität in Deutschland benennen. Das Konzept ist maßgeblich bestimmt von der unterschiedlichen Bewertung der Ursachen für Produktivität, vom Widerstreit der Akteure und von den 308
In den folgenden Ausführungen wird das deutsche Konzept als ›Produktivität‹ und das spanische Konzept als ›productividad‹ abgekürzt. Die vollständige Bezeichnung wird nur angeführt, wenn explizit auf die Nuancierung des Konzepts hingewiesen werden soll.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
197
Referenzbereichen WACHSTUM, RÜCKGANG und STAGNATION, die das Sprechen über Produktivität über die Metaphorisierung beeinflussen. Konzeptuelle Verknüpfungen Produktivität und Länge der Arbeitszeit: Kein kausales Abhängigkeitsverhältnis und widersprüchliche Argumente Die Suche nach dem Ausdruck „Produktivität“ im Kotext von „Arbeitszeit“ (Suchanfrage bei Sketch Engine: Kotext 15 r/l) ergibt zehn Treffer. Wenn in den Belegen ein Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Produktivität hergestellt wird, dann derjenige, dass kürzere Arbeitszeiten zu höherer Produktivität führen. 128. Jede Studie zeigt: Wer seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zwingt, länger zu arbeiten, der senkt die Produktivität.309 Die Menschen entwickeln Strategien, um sich der Arbeit zu entziehen. Sie werden langsamer, machen längere Pausen, gehen eine Viertelstunde zum Klo. Der Schuss geht für beide, für Firma und Arbeiter, nach hinten los. (taz, 05.04.2004, „Auf diese blöde Idee kommen nur Deutsche“) 129. Die Präsenzkultur in der deutschen Arbeitswelt ist überbewertet. Als ob der am besten arbeiten kann, der am längsten am Bürostuhl klebt. Etliche Studien weisen vielmehr eine höhere Produktivität bei Teilzeit oder flexibler Arbeitszeit nach. Auch deshalb wollen wir die Präsenzkultur knacken. (Welt, 09.03.2013, „Die Agenda 2010 hat das Land vorangebracht“) In den Belegen 128 und 129 wird die Aussage getroffen, dass kürzere Arbeitszeiten zu mehr Produktivität führen, insbesondere, weil bei einer längeren Arbeitszeit auch längere Pausen gemacht werden. Die Präsenzkultur am Arbeitsplatz spiele auch in Deutschland eine Rolle; so wird es in Beleg 129 von der damaligen SPDGeneralsekretärin Andrea Nahles formuliert, die im Artikel zitiert wird. Insbesondere in Beleg 128 wird zudem Diskursautorität beansprucht, indem vorangestellt wird, dass „[j]ede Studie zeigt […]“.310 Dieser Annahme der Produktivitätssteigerung durch die Verkürzung der Arbeitszeiten wird wiederum auf zwei verschiedene Arten widersprochen.
309
Diese eindeutige Aussage wird im Verlauf des Interviews relativiert. Auf die Frage, wie „hiesige“, also deutsche, Unternehmen mit den Unternehmen im Osten Europas mithalten können, wird stattdessen die vage Forderung nach „hoch qualifizierten Leuten“, „anderen Abläufen“, „neuen Produkten“ und „effektiveren Verfahren“ angeführt.
310
Bei dem Artikel handelt es sich um ein Interview mit einem Vertreter einer wissenschaftlichen Einrichtung (Steffen Lehndorff vom Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik).
198
5 Analyse der Korpora
1. Faktische Gegenposition: ‘Die verkürzte Arbeitszeit in Europa lässt die Produktivität sinken.’ 130. Europäer müssen mehr und länger arbeiten; das empfehlen kurz und knapp Ökonomen der Weltbank, die in einer umfangreichen Studie die Wachstumsbedingungen in Europa untersucht haben. „Die Europäer arbeiten weniger Stunden pro Woche, weniger Wochen pro Jahr und weniger Jahre ihres Lebens als Arbeitnehmer in anderen Regionen der Welt“, heißt es in der Studie „Goldenes Wachstum: Wie das europäische Wirtschaftsmodell seinen Glanz zurückbekommt“. […] Angesichts der Schuldenprobleme der öffentlichen Haushalte und einer alternden Bevölkerung seien jedoch Reformen dringend nötig. Zu den größten Problemen der europäischen Volkswirtschaft zählen sie die geringe Lebensarbeitszeit und die dadurch sinkende Produktivität der Wirtschaft. Die Ökonomen haben ausgerechnet, wie Europa im Vergleich mit der übrigen Welt dasteht: Demnach arbeitet ein US-Amerikaner im Schnitt jedes Jahr einen Monat länger als beispielsweise ein Niederländer, ein Franzose, ein Deutscher oder ein Schwede. Noch in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts arbeiteten Westeuropäer im Schnitt rund einen Monat länger als US-Amerikaner. „Amerikaner kaufen mit ihrem Wohlstand mehr Güter und Dienstleistungen, Europäer dagegen mehr Freizeit“, schreiben die Experten der Bank. Als eine Folge sinkt die Produktivität der europäischen Volkswirtschaften. (Welt, 26.01.2012, Weltbank kritisiert geringe Arbeitszeit in Europa. Die Produktivität der Alten Welt ist seit Mitte der 90er-Jahre gegenüber Japan und den USA stark gesunken) Die Arbeitszeit müsse gesteigert werden, da die Produktivität Europas im Vergleich mit anderen großen Nationen kaum gestiegen bzw. in den südeuropäischen Ländern sogar gefallen sei; als Grund dafür wird die sinkende (Lebens-)Arbeitszeit genannt. Obwohl Länder wie Deutschland, Finnland, Schweden und die Schweiz „beständig an Produktivität und Innovationskraft gewonnen hätten“, sind sie innerhalb Europas von zu geringem Wirtschaftswachstum bedroht und werden in die Forderung eingeschlossen, dass Europäer mehr und länger arbeiten müssen, um „Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen“ (vgl. ebd.). 2. „Rhetorik und Realität widersprechen einander“ 131. „Kürzere, nicht längere Arbeitszeiten sind die historisch richtige Antwort auf die steigende Produktivität der Arbeit.“ Doch Rhetorik und Realität fallen immer stärker auseinander. In Wahrheit schafft es nicht einmal die mächtige IG Metall, die 1990 mit Warnstreiks erkämpfte 35-Stunden-Woche zu verteidigen. Viele Metaller arbeiten längst wieder 38, 39 oder 40 Stunden die Woche. Nicht selten hat die IG Metall den flexibleren und längeren Arbeitszeiten selbst zugestimmt: etwa in eigenen Haustarifen mit Firmen wie Debis und
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199
Jenoptik oder im Rahmen so genannter Bündnisse für Arbeit. (Spiegel, 03.11.2003, Verwirrende Vielfalt) In diesem Beleg wird der Schwerpunkt der Aussage verlagert und betont, dass die Umsetzung der geforderten Maßnahmen scheitere, obwohl der Wille zur kürzeren Arbeitszeit da sei. In der Diskussion über Produktivität und Arbeitszeit werden widersprüchliche Positionen vertreten: Zum einen wird in den einzelnen Artikeln mitunter eine klare Aussage getroffen (bspw. ‘Kürzere Arbeitszeiten führen zu mehr Produktivität’), die im Verlauf des Artikels relativiert wird (vgl. Beleg 128). Zum anderen wird auf der Metaebene thematisiert, dass sich die Diskurspositionen widersprechen und dass sowohl die Kürzung als auch die Verlängerung der Arbeitszeiten Vorteile und Nachteile mit sich bringen. Dies wird beispielsweise in dem Artikel „Verwirrende Vielfalt“ (Spiegel, 03.11.2003) dargelegt: 132. Unternehmen wollen, dass ihre Beschäftigten kürzer arbeiten, Ökonomen und Politiker fordern eine Verlängerung der Arbeitszeit – wie passt das zusammen? Tatsächlich dienen beide Modelle dem gleichen Ziel: Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern oder neue zu schaffen. […] Unternehmer sind für, eine Gewerkschaft ist gegen eine Arbeitszeitverkürzung – damit hat die verquere Debatte darüber, wie lange die Deutschen arbeiten müssen, einen skurrilen Höhepunkt erreicht. [= Lead, Anm. MM] (ebd.) Obwohl die Gewerkschaften „jahrzehntelang für kürzere Arbeitszeiten stritten und streikten“, sprächen sie sich nun gegen eine Arbeitszeitverkürzung aus; Unternehmen, die seit langem über die „viel zu kurzen Arbeitszeiten in Deutschland klagen und darin eine wesentliche Ursache für die Standort-Misere sehen, fordern plötzlich kürzere Arbeitszeiten“ (vgl. ebd.). Die Akteure wechseln also mitunter die Fronten. Ihre Diskussion wird im Artikel als „Scheindebatte“ bezeichnet, denn eigentlich sei nicht die Arbeitszeit der Menschen in Fabriken und Büros entscheidend, „sondern wie produktiv sie dabei sind und wie viel Lohn ihre Arbeitgeber dafür zahlen müssen“ (vgl. ebd.). An diesen Belegen zeigt sich exemplarisch die Problematik beim Sprechen über PRODUKTIVITÄT: Einige Artikel vertreten vehement, dass längere Arbeitszeiten nicht der Schlüssel zu mehr Produktivität sind. Andere Artikel verweisen auf die Problematik der Debatte, die einerseits darunter leidet, dass zwischen der politischen Ebene und der Praxis Lücken klaffen, und andererseits die Grundproblematik aufweist, dass unter den Diskursakteuren keine klare Lösungsstrategie durchgesetzt werden kann. Die Positionen der Politik, der Wirtschaft, ebenso wie diejenigen der (Wirtschafts-)Wissenschaften widersprechen sich und keine der Positionen kann Diskurshoheit erlangen: Die Frage Wovon hängt die Produktivität eines Unternehmens und die Produktivität Deutschlands ab? bleibt offen.
200
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Produktivität und Arbeitslöhne: Lohnstückkosten Die Produktivität in Deutschland wird mit dem Arbeitslohn verknüpft. Die Verknüpfung variiert dabei; auf der einen Seite werden sowohl die Produktivität als auch die Löhne in Deutschland als hoch eingeschätzt: 133. Aber Deutschland ist nun einmal ein Land hoher Preise, hoher Löhne und hoher Produktivität. Letztendlich muss jeder von seinem Lohn leben können. (Spiegel, 13.09.2004, „Autos kaufen keine Autos“) Auf der anderen Seite steht die Aussage, dass die Löhne in Deutschland in den letzten Jahren gesunken sind: 134. Deutschland betreibt seit Jahren systematisches Lohndumping, das heißt die deutschen Löhne (und die damit verbunden [sic] Lohnstückkosten) sinken im Verhältnis zu seiner Produktivität und im Verhältnis zu seinen europäischen Partnerländern. (SZ, 19.03.2010, Exportweltmeister – was nun?)311 In diesem Falle werden die europäischen Nachbarländer als Vergleichsreferenz angeführt. Die zwei Dimensionen, Produktivität und Arbeitslohn, ergeben zusammen die Lohnstückkosten – also die Arbeitskosten je Arbeitnehmer im Verhältnis zur erbrachten Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigem.312 Auch diese werden im Korpus unterschiedlich bewertet. Die folgenden zwei Belege vertreten die entgegengesetzten Aussagen, dass die niedrigen Lohnstückkosten in Deutschland die Wettbewerbsfähigkeit und das Wirtschaftswachstum des Landes positiv beeinflussen (Beleg 135) und umgekehrt, dass die Lohnstückkosten in Deutschland im Vergleich zu denen der Konkurrenz zu weit oben lägen (Beleg 136): 135. Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum Deutschlands ergeben sich laut Memorandum aus der hohen Produktivität und den daher niedrigen Lohnstückkosten. (taz, 06.05.2004, Umwege zum Wohlstand) 136. SZ: Wenn die Mitarbeiter Ihr wertvollstes Kapital sind, warum sehen Sie dann in den Lohnforderungen eine solche Bedrohung? Für das wertvollste Kapital sollte man gut zahlen. Wittenstein: Auch mit unserem wertvollsten Kapital stehen wir im Wettbewerb mit Menschen aus anderen Ländern, heute mehr denn je. Im Vergleich zu unseren heftigsten Wettbewerbern in der OECD liegen die Lohnstückkosten in Deutschland immer noch ganz weit oben. Der Abstand ist zwar kleiner geworden, aber Arbeit ist in Deutschland nach wie vor zu teuer.
311
Vgl. auch SZ, 29.04.2010, „Tief gespaltenes Euroland“.
312
Vgl. http://www.wirtschaftundschule.de/lehrerservice/wirtschaftslexikon/l/lohnstueckkosten/ letzter Zugriff 08.11.2017 17:00 Uhr.
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201
Wir können das nicht durch höhere Produktivität ausgleichen. (SZ, 19.04.2008, „Ausgerechnet jetzt wird die soziale Frage gestellt”)313 Die Einschätzung der Lohnstückkosten variiert je nachdem, welche Referenz gewählt wird. Im Hinblick auf unterschiedliche Referenzpunkte (Vergleich im Inland, Vergleich mit Ausland, Entwicklung in den letzten Jahren, aktueller Stand…) werden auch die Produktivität und die Höhe der Arbeitslöhne unterschiedlich bewertet. Produktivität und Faktoren, die mit Produktivität verknüpft werden Im deutschen Korpus werden diverse Faktoren benannt, denen ein Einfluss auf die Produktivität des einzelnen Arbeitenden und des Gesamtunternehmens unterstellt wird. Die Faktoren werden im Folgenden mit einigen Beispielen belegt. Über die Varianz der Faktoren hinaus ist bezeichnend, dass innerhalb des Korpus häufig keine Einigkeit darüber herrscht, wie sich die Faktoren auf die Produktivität auswirken. ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ und… - technischer Fortschritt und Qualität der Produkte 137. […] die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes hängt nicht von der Jahresarbeitszeit ab, sondern von der Arbeitsleistung pro Stunde, von den Lohnstückkosten, dem technischen Fortschritt und der Qualität der Produkte. Hier ist Deutschland führend, während die Krisenländer Griechenland, Portugal und Italien großen Nachholbedarf haben, wie die Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen. (Welt, 27.07.2011, Freizeitmeister Deutschland) - Homeoffice 138. Jeder nach Hause verbannte Beschäftigte bringt 11.000 Dollar pro Jahr, wie eine Beraterfirma kalkuliert. Schließlich bekommt die Firma dann das Büro samt Betrieb gratis. Zudem steigt die Produktivität, wenn nur Ergebnisse gemessen werden und nicht die Arbeitszeit, in der vom privaten Schwatz mit dem Kollegen bis hin zur Büro-Intrige diverse arbeitsfremde Aktivitäten den Tag durchziehen. […] Hinzu kommen die volkswirtschaftlichen Ersparnisse. Der Energieverbrauch, die Umweltbelastung und alle Kosten des Straßenverkehrs sinken erheblich, wenn der tägliche Weg zur Arbeit entfällt. (SZ, 27.02.2013, Heimarbeit)
313
Die unterschiedliche Bewertung könnte auch aus dem zeitlichen Abstand zwischen den Belegen resultieren. Weitere Belege weisen jedoch darauf hin, dass auch über die Zeit hinweg widersprüchliche Aussagen getroffen werden. Vgl. bspw. SZ, 29.04.2010, „Tief gespaltenes Euroland“. In diesem Artikel wird ein höherer Anstieg der ausländischen Lohnstückkosten (Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland) im Vergleich zu Deutschland festgestellt.
202
5 Analyse der Korpora
- (Aus-)Bildung 139. Dank hohem Kapitaleinsatz, guter Infrastruktur und guter Ausbildung der Erwerbstätigen liegt die Produktivität in Deutschland immer noch weltweit mit an der Spitze. (SZ, 06.03.2006, Was zumutbar ist) 140. „In Deutschland gab es in den vergangenen zehn Jahren keine aus Bildung erklärbaren Zuwächse an Produktivität“, sagt Andreas Schleicher von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die in regelmäßigen Abständen 30 Staaten miteinander vergleicht. (Spiegel, 08.03.2004, Die Wohlstands-Illusion) - Alter der Arbeitnehmer 141. Das Problem ist, daß der Mensch zwischen 40 und 50 Jahren seine größte Produktivität erreicht. Die höchsten Löhne bekommen in Deutschland aber alte Arbeitnehmer. Eigentlich müßte einer, der mit 55 oder 60 Jahren weniger produktiv geworden ist, weniger Geld bekommen. Weil wir uns da etwas vormachen und das nicht zulassen, sagen wir, wir lassen ältere Arbeitnehmer lieber arbeitslos werden. (Welt, 03.02.2006, „Das System funktioniert so nicht mehr“) - Konflikte innerhalb des Unternehmens und zwischen Unternehmen 142. Ungelöste Konflikte innerhalb des Unternehmens führen bei Mitarbeitern häufig zu Resignation, innerer Kündigung oder gar offener Auflehnung. Auseinandersetzungen zwischen Unternehmen können darüber hinaus zu unbefriedigenden Geschäften oder zum Abbruch der Geschäftsbeziehungen führen. „Schwerwiegende Konflikte hemmen Unternehmen und senken die Produktivität, Innovationsfähigkeit und Flexibilität“, zählt Expertin Azad auf. „Dadurch kommen sie Unternehmen teuer zu stehen.“ (Welt, 27.09.2013, Lieber zum Schlichter als zum Richter) - Feiertage und Brückentage in Deutschland 143. „Kaum ein Land leistet sich so viel Freizeit wie wir. Clement hat völlig Recht, wenn er sagt, die Produktivität in Deutschland müsse erhöht und die Zahl der Feiertage zur Debatte gestellt werden. Wir sollten einen Anfang machen, indem wir unproduktive Brückentage vermeiden“, sagte er der WELT. Die Brückentage würden gerade kleine Betriebe in ihrer Auftragsbearbeitung stören. (Welt, 18.06.2003, Clement: Deutsche arbeiten zu wenig. Auch Zahl der Feiertage auf dem Prüfstand – Deutsche Wirtschaft für zweites Halbjahr skeptisch) Die Faktoren, die als relevant für die Produktivität des einzelnen Mitarbeiters, des Unternehmens und der deutschen Wirtschaft insgesamt erachtet werden, sind divers. Über ihre Auswirkungen auf die Produktivität herrscht Uneinigkeit, was sich am Beispiel
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der Verknüpfung Produktivität und (Aus-)Bildung zeigt: Es werden widersprüchliche Diskurspositionen vertreten. Die Varianz der konzeptuellen Verknüpfungen und die unterschiedliche Bewertung der Relevanz der Faktoren für die Produktivität zeigen, dass im Korpus zur Debatte steht, wovon die Produktivität in Deutschland abhängig ist. Produktivität und Deutschland Das Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs‹ wird im Korpus spezifisch auf die Produktivität Deutschlands bezogen. In den bereits angeführten Belegen fallen dabei Aussagen wie beispielsweise die folgenden: 144. Aber Deutschland ist nun einmal ein Land hoher Preise, hoher Löhne und hoher Produktivität. (Spiegel, 13.09.2004, „Autos kaufen keine Autos“) 145. Im Hochproduktivitätsland Deutschland kommen diese kaum vom Fleck. Am Mittelmeer steigen die Löhne stärker als die Produktivität. (SZ, 29.04.2010, Tief gespaltenes Euroland. Wenn Athen, Madrid und Lissabon nicht wirtschaftlich leistungsfähiger werden, dann versinken sie in Schulden) In diesen Belegen wird eine Aussage über Deutschland getätigt – in diesem Fall, dass die Produktivität in Deutschland hoch ist. Im ersten Beleg wird Deutschland über die Situationsbeschreibung im Land implizit in einen Vergleich mit anderen Ländern gesetzt, in denen die Preise, die Löhne und die Produktivität niedriger sind. Im zweiten Beleg wird der Mittelmeerraum als Vergleichsparameter angeführt. Die Produktivität Deutschlands wird besonders häufig in diesem europäischen Vergleich betrachtet. Hier wird sie einerseits mit den stärker von der Wirtschaftskrise betroffenen Ländern des Mittelmeerraumes verglichen;314 andererseits werden einzelne Länder als Vergleichsinstanzen angeführt: 146. Jedenfalls legen das die Beispiele Schweden oder Frankreich nahe: Dort funktioniert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeblich so viel besser als in Deutschland, aber dort sind die tatsächliche Wochenarbeitszeit und Produktivität pro Kopf geringer. (SZ, 26.04.2012, Ein armseliges Signal) In diesem Beleg wird argumentiert, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Schweden und Frankreich eher möglich sei, da die Wochenarbeitszeit und damit auch die Produktivität geringer seien. Im Korpus wird Deutschland nicht nur mit innereuropäischen Ländern verglichen, sondern auch mit außereuropäischen wie beispielsweise den USA. In diesen Fällen wird die Rolle Deutschlands innerhalb Europas häufig
314
Vgl. Beleg 145 sowie Welt, 27.07.2011, „Freizeitmeister Deutschland. EU-Studie: Nirgendwo in Europa haben Arbeitnehmer mehr Urlaub“.
204
5 Analyse der Korpora
betont.315 In einigen Belegen wird zwischen der Produktivität innerhalb Deutschlands in Ost- und Westdeutschland differenziert und hervorgehoben, dass die Produktivität im Osten Deutschlands unter dem westdeutschen Niveau liege.316 Bewertung des Konzeptes Die Bewertung des Konzeptes ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ manifestiert sich auf der sprachlichen Oberfläche vor allem anhand von Metaphern, die entweder dem Referenzbereich WACHSTUM oder RÜCKGANG entstammen. Die positive oder negative Bewertung resultiert daraus, dass der Bereich WACHSTUM in der Wirtschaftssprache bzw. im Sprechen über Produktivität konventionell positiv besetzt ist und der Bereich RÜCKGANG/STAGNATION negativ.317 Die Metaphern können sich dabei in Form von Komposita zeigen, gebildet aus dem Determinans „Produktivität“ und einem Determinatum (dem semantischen Kern des Kompositums) aus einem anderen Referenzbereich: Referenzbereich WACHSTUM (= positive Bewertung)
Referenzbereich RÜCKGANG/STAGNATION (= negative Bewertung)
Komposita mit „Produktivität-“ Produktivitätssteigerung(en) (57 Treffer) Produktivitätsfortschritt (16) Produktivitätsgewinn(e) (16) Produktivitätswachstum (16) Produktivitätszuwachs (16) Produktivitätsentwicklung (9) Produktivitätsschub (5)
Produktivitätskiller (4) Produktivitätsausfälle (4) Produktivitätsbremse (3) Produktivitätseinbußen (3)
Tabelle 22: Sprachliche Bewertungen des Konzeptes ›Produktivität‹: Komposita318
315
Vgl. Beleg 130 sowie Spiegel, 05.05.2014, „Das Kapital frisst die Zukunft“ und SZ, 19.04.2008, „Ausgerechnet jetzt wird die soziale Frage gestellt”.
316
Vgl. taz, 16.01.2004, „Modell Deutschland – warum ist der Reifen platt“ und Welt, 31.10.2009, „Heimweh nach dem Osten. Mecklenburg-Vorpommern wirbt mit bescheidenem Erfolg um Landeskinder, die der Arbeit nach Westen gefolgt sind. Ein Besuch bei einigen der raren Rückkehrer“.
317
Vgl. dazu die Ausführungen bei Hundt 1995, 42, die grundlegenden Überlegungen bei Lakoff/Johnson 1980, 14 sowie Kapitel 5.2.3.5.1.1 der vorliegenden Arbeit.
318
Die Suche nach „Produktivitäts*“ ergibt 273 Treffer, die hierfür ausgewertet wurden.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
205
Einige Komposita (wie „Produktivitätskiller“ oder „Produktivitätsbremse“) fallen dabei besonders als Metaphern auf; bei anderen Komposita handelt es sich um lexikalisierte Metaphern, die als solche nicht mehr ins Auge stechen.319 Auch die Adjektive und Verben, die im Kotext von „Produktivität“ stehen, entstammen fast ausschließlich den Referenzbereichen WACHSTUM und RÜCKGANG. Referenzbereich WACHSTUM (= positive Bewertung)
Referenzbereich RÜCKGANG/STAGNATION (= negative Bewertung)
Verben („Produktivität“ als Akkusativobjekt) in Auswahl steigern (12 Treffer) erhöhen (11) steigen (8) fördern (5) gehen (5)
senken (5)
Verben („Produktivität“ als Subjekt) in Auswahl steigen (32) wachsen (8) steigern (5)
liegen (12) sinken (4) bleiben (4)
Adjektive (als Begleiter von „Produktivität“) in Auswahl hoch (42, v. a. höhere Produktivität) steigend (13) künstlerisch (9) gesteigert (6) erhöht (6) ungeheuer (6) gestiegen (5) unheimlich (4) enorm(4) wachsend (4)
niedrig (15) gering (14)
Tabelle 23: Sprachliche Bewertungen des Konzeptes ›Produktivität‹: Verben und Adjektive320
319
Vgl. Metzler Lexikon Sprache 2010, 424.
320
Vgl. Anhang 7 Word Sketch „Produktivität“.
206
5 Analyse der Korpora
Das Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ wird mit positiv besetzten Adjektiven und Verben aus dem Bereich WACHSTUM kombiniert, wenn es darum geht, was angestrebt wird, und mit negativen Adjektiven und Verben, wenn es darum geht, was vermieden werden soll: 147. Zudem steigt die Produktivität, wenn nur Ergebnisse gemessen werden und nicht die Arbeitszeit, in der vom privaten Schwatz mit dem Kollegen bis hin zur Büro-Intrige diverse arbeitsfremde Aktivitäten den Tag durchziehen. (SZ, 27.02.2013, Heimarbeit) 148. „Schwerwiegende Konflikte hemmen Unternehmen und senken die Produktivität, Innovationsfähigkeit und Flexibilität“ (Welt, 27.09.2013, Lieber zum Schlichter als zum Richter) Auch auf Satzebene werden Metaphern verwendet, um zu charakterisieren, dass sich sowohl die Löhne als auch die Produktivität nach vorne bewegen sollen: 149. Im Hochproduktivitätsland Deutschland kommen diese kaum vom Fleck. Am Mittelmeer steigen die Löhne stärker als die Produktivität. (SZ, 29.04.2010, Tief gespaltenes Euroland. Wenn Athen, Madrid und Lissabon nicht wirtschaftlich leistungsfähiger werden, dann versinken sie in Schulden) 150. Dank hohem Kapitaleinsatz, guter Infrastruktur und guter Ausbildung der Erwerbstätigen liegt die Produktivität in Deutschland immer noch weltweit mit an der Spitze. (SZ, 06.03.2006, Was zumutbar ist) Die Beispiele zeigen, dass das Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ nicht generell Gegenstand von Kritik ist, sondern dass vielmehr das fehlende Wachstum oder der Rückgang der Produktivität kritisiert werden und dass Wachstum als etwas konzeptualisiert wird, das anzustreben ist. Die Bewertung des Konzeptes ist nicht eindeutig positiv oder negativ, da sich Teilbedeutungen finden, die die hohe Produktivität in Deutschland (besonders im Vergleich zu anderen Ländern) positiv bewerten, sowie Teilbedeutungen, die die zu niedrige Produktivität negativ bewerten.
Die Teilbedeutungen A und B stehen sich agonal gegenüber.
‘Zwischen Produktivität und Arbeitszeit besteht ein Zusammenhang.’
›Produktivität‹ wird konzeptualisiert als von vielen verschiedenen Faktoren abhängig. Die Faktoren werden je nach Kontext als unterschiedlich relevant eingeordnet. Die Einschätzungen widersprechen sich
‘Die Produktivität ist abhängig vom technischen Fortschritt und von der Qualität der Produkte. Hier ist Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern führend.’
‘Die Produktivität in Deutschland ist abhängig von der (Aus-)Bildung der Arbeitnehmer.’
B. ‘Die Löhne in Deutschland sind nicht zugleich mit der Produktivität angestiegen bzw. sinken im Vergleich zu anderen Ländern.’
≠
A. ‘Deutschland ist ein Land mit hohen Löhnen und hoher Produktivität.’
Die Einschätzung und Bewertung der Lohnstückkosten (und die davon abhängige Bewertung der Produktivität und des Arbeitslohnes) variiert ebenfalls, je nachdem, welche Referenz gewählt wird (Vergleich im Inland, Vergleich mit Ausland, Entwicklung in den letzten Jahren, aktueller Stand etc.). Die Diskurspositionen widersprechen sich.
‘Zwischen Produktivität und Arbeitslohn besteht ein Zusammenhang. Dieser schlägt sich in den Lohnstückkosten nieder.’
i. ‘Die Beschäftigten sollten länger und mehr arbeiten, um die Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern.’
B. ‘Europäer und Deutsche arbeiten zu wenig. Die kurze (Lebens-)Arbeitszeit lässt die Produktivität in Europa sinken bzw. nicht wachsen.’
≠
i. ‘Die Arbeitszeiten der Beschäftigten sollten gekürzt werden, um die Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern.’
Die Verknüpfungen und Teilbedeutungen variieren je nach Vergleichsparameter (unterschiedliche Länder als Vergleichsparameter).
Metadiskursive Deutung
Befund
A. ‘Kürzere Arbeitszeiten führen zu mehr Produktivität (auf individueller Ebene).’
Faktoren, die die Produktivität in Deutschland beeinflussen; die Ursachen für die Steigerung und den Rückgang der Produktivität in Deutschland werden unterschiedlich benannt und bewertet.
›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹
Kulturvergleich
Agonalität
Kulturvergleich
Agonalität
Agonalität
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 24: Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
207
Durch die Verwendung von Metaphern aus den Referenzbereichen WACHSTUM und RÜCKGANG wird die positive und negative Bewertung des Konzeptes evoziert: Die Steigerung der Produktivität wird positiv bewertet, der Rückgang der Produktivität negativ.
‘Produktivität ist anzustreben. Wachstum ist gut. Rückgang und Stagnation sind zu vermeiden.’
b. ‘Das, was gesagt wird, wird nicht umgesetzt.’
a. ‘Standpunkte von Akteuren ändern sich.’
Die Komplexität und Problematik des Diskurses zeigt sich, indem auf der Metaebene beschrieben wird, dass sich Akteure widersprechen und dass sich Diskurspositionen im zeitlichen Verlauf der Debatte ändern können.
‘In der Debatte widersprechen sich die Akteure und Positionen: Wirtschaftsunternehmen, (Wirtschafts-)Wissenschaftler, Politiker und Gewerkschaften äußern sich unterschiedlich zur angestrebten Produktivität.’
c. ‘Die Produktivität ist innerhalb Deutschlands – im Osten und im Westen – unterschiedlich hoch. Im Osten Deutschlands ist die Produktivität geringer.’
b. ‘Europäer müssen länger arbeiten und produktiver sein, um weiterhin im Vergleich mit anderen Ländern (USA, Japan) produktiv zu bleiben.’
a. ‘Deutschland ist produktiv im Vergleich zu Ländern des Mittelmeerraumes/ Krisenländern.’
‘Deutschland ist ein produktives Land.’
Metaphern und Bewertung
Metaebene
Ringen um Diskursautorität
Kulturvergleich
Kulturvergleich
‘Die Produktivität ist abhängig von den Feiertagen und Brückentagen. Deutschland hat viele Feier- und Brückentage, die die Produktivität verschlechtern.’
wirtschaftliche Effektivität
Arbeitsklima
Deutschland wird auf der Metaebene mit anderen Ländern verglichen. Abhängig von den jeweils angeführten Ländern variieren sowohl die konzeptuellen Verknüpfungen als auch die Bewertung des Konzeptes ›Produktivität‹.
zudem teilweise. Die Faktoren werden im Vergleich mit verschiedenen Ländern unterschiedlich bewertet.
‘Konflikte (auf Unternehmensebene oder zwischen den Mitarbeitern) hemmen die Produktivität.’
‘Die Produktivität ist abhängig vom Alter der Arbeitnehmer.’
‘Mit dem Angebot des Homeoffice kann die Produktivität gesteigert werden, weil nur Ergebnisse gemessen werden. Homeoffice hat außerdem volkswirtschaftliche Vorteile.’
B. ‘Es gab in den letzten zehn Jahren keine durch Entwicklungen in der Bildungspolitik erklärbaren Zuwachse der Produktivität.’
A. ‘Die (Aus-)Bildung in Deutschland ist gut.’ ≠
208 5 Analyse der Korpora
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
209
5.2.3.5.2 Spanisches Konzept ›productividad en España y factores determinantes‹ (dt. Produktivität in Spanien und bestimmende Faktoren) Der Ausdruck „productividad“ findet sich 2.786 Mal im spanischen Korpus. Im Deutschen verschafft der Blick auf die Komposita mit „Produktivität*“ einen ersten Eindruck von der Konzeptkonstituierung. Bei der Analyse des spanischen Korpus spielt stattdessen die Kollokationsanalyse eine größere Rolle. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›productividad en España y factores determinantes‹ beschreibt die Produktivität der spanischen Industrie und die Faktoren, die sie bestimmen. Die Produktivität der spanischen Wirtschaft wird mit verschiedenen Faktoren verknüpft, wobei stets im Mittelpunkt steht, wie die Produktivität in Spanien verbessert werden kann. Der Faktor Krise nimmt im spanischen Korpus eine dominante Rolle ein. Das Sprechen über die Konzepte ist im spanischen wie auch im deutschen Korpus von verschiedenen Metaphern der Referenzbereiche WACHSTUM, RÜCKGANG und STAGNATION geprägt.321 Konzeptuelle Verknüpfungen Einige der Verknüpfungen des Konzeptes ›productividad en España y factores determinantes‹ können dem Word Sketch zu „productividad“322 bei Sketch Engine entnommen werden; so können beispielsweise die Verknüpfungen zwischen dem Ausdruck „productividad“ und weiteren Substantiven über die Konnektoren „y“ (dt. und) und „o“ (dt. oder) nachvollzogen werden. Zu den häufigsten Kollokationen, die mit den Konnektoren verknüpft werden, gehört der Ausdruck „competitividad“ (48 Treffer, dt. Wettbewerbsfähigkeit). 151. La salida de la crisis requiere un aumento sustancial de la productividad y la competitividad de la economía española. (País, 08.05.2011, Valoración de un año de reformas)323 Bei dieser Verknüpfung handelt es sich um die Wiederholung zweier verwandter Konzepte; die Ausdrücke werden als partielle Synonyme nacheinander aufgezählt.324 Einige weitere Verknüpfungen werden im Folgenden dargestellt. 321
Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel konzeptueller Zugriff PRODUKTIVITÄT.
322
Vgl. Anhang 8 Word Sketch „productividad“.
323
Dt. Der Ausweg aus der Krise erfordert eine erhebliche Steigerung der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft.
324
Vgl. auch die Verknüpfungen productividad y eficiencia (dt. Produktivität und Effizienz) oder la productividad y los resultados de la empresa (dt. die Produktivität und die Ergebnisse des Unternehmens), die ebenfalls große semantische Überschneidungen aufweisen.
210
5 Analyse der Korpora
Produktivität und Wirtschaftskrise: Die Krise als prägender Faktor für die Produktivität Spaniens In den deutschen Korpusbelegen wird die Wirtschaftskrise zum einen als Faktor erwähnt, der die Länder des Euroraumes, und damit auch Deutschland, beeinflusst (Beleg 130); zum anderen werden bestimmte Länder hervorgehoben, die stärker von der Krise betroffen sind, wie beispielsweise Spanien (vgl. Fußnote 313). Im spanischen Korpus ist die Krise hingegen als Faktor in die Konzeptualisierung eingewoben. Die Krise beeinflusst die Situation in Spanien maßgeblich und zeigt sich im Korpus als bestimmender Faktor der unmittelbaren Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft: 152. Desde el inicio de la crisis estamos escuchando que la posición de nuestro país en el ranking de productividad y competitividad está alejada de los puestos de cabeza de la Unión Europea. (Mundo, 26.10.2012, Cartas al director)325 153. […] mejorar la productividad, invertir en capital humano326 y reducir gastos en plena crisis económica. (País, 16.11.2011, Zabaleta aboga por un pacto plural que haga posible la jornada laboral flexible)327 328 In den Belegen wird die Krise als prägend für „unsere“ Situation in Spanien benannt und eine Steigerung der Produktivität als einziger Weg aus der Krise beschrieben. Produktivität und Arbeitszeit: Der presentismo als Problem, die Flexibilisierung als Lösung Im spanischen Korpus überwiegt die Aussage, dass die langen Arbeitszeiten, die in Spanien üblich sind, nicht zu mehr Produktivität führen bzw. dass die Kürzung der Arbeitszeit die Produktivität erhöhe: 154. El gran problema que tiene en estos momentos el País es su baja productividad que se ha empeorado con estos horarios. Los horarios, cuanto más largos son, producen un deterioro de la persona y va bajando el rendimiento. Hay una equivocación en España, donde impera la cultura de presencia en lugar de eficiencia. (Mundo, 21.05.2006, Entrevista/Ignacio Buqueras)329 325
Dt. Seit Beginn der Krise hören wir, dass der Platz unseres Landes in der Rangliste der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit weit von der Spitze der Europäischen Union entfernt ist.
326
Der Ausdruck „Humankapital“ war 2004 Unwort des Jahres in Deutschland (vgl. http://www.unwortdesjahres.net/ letzter Zugriff 10.11.2017 15:18 Uhr).
327
Dt. Die Produktivität verbessern, in das Humankapital investieren und die Ausgaben mitten in der Krise senken.
328
Vgl. auch Beleg 151.
329
Dt. Das große Problem, das das Land im Moment hat, ist seine niedrige Produktivität, die sich mit diesen Arbeitszeiten noch verschlechtert hat. Die Arbeitszeiten, je länger sie sind, verschlechtern die Gesamtverfassung der Person, und dadurch sinkt ihre Leistungsfähigkeit. In Spanien, wo die Präsenzkultur anstelle der Effizienzkultur vorherrscht, besteht ein Irrtum.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
211
155. Trabajo apuesta por adoptar una jornada laboral como la europea. Un estudio avala que la reducción de horarios aumenta la productividad (País, 18.05.2010, = Titel)330 In den Belegen wird das Konzept ›productividad‹ dem Konzept des ›presentismo‹ am Arbeitsplatz gegenübergestellt, der die Produktivität mindert. Als Lösung wird wiederum die Flexibilisierung angeführt. Im folgenden Beleg kann diese Verknüpfung exemplarisch nachvollzogen werden: 156. Está demostrado que flexibilizar el horario motiva a los empleados y mejora su calidad de vida, lo que “revierte positivamente en las empresas”, según el PP. Pero en España está todavía muy extendida la cultura del presentismo, es decir, de tener que estar un determinado número de horas en el puesto de trabajo, lo que “no es sinónimo de una mayor productividad”, añaden. (Mundo, 15.11.2010, El PP propone actividades extraescolares para conciliar)331 332 Wenn im spanischen Korpus Produktivität, Arbeitszeiten und Flexibilisierung verknüpft werden, geht es in der Mehrzahl der Fälle um gesamtgesellschaftliche Überlegungen, so zum Beispiel um die Frage, wie die Produktivität der spanischen Unternehmen auf das europäische Niveau angehoben werden kann und wie dies auf Arbeitnehmerseite umgesetzt werden sollte. In seltenen Fällen steht der individuelle Arbeitstag einer Person im Fokus; in diesen Fällen geht es zumeist um selbstständige Arbeitnehmer oder Berufstätige in Führungspositionen, denen ein freierer Umgang mit ihrer Arbeitszeit ein kreativeres und produktiveres Schaffen erlauben würde. 157. El horario no tiene que ver con la productividad, el beneficio o los objetivos. Ovidio Peñalver, socio director de Isavia, considera que “para ser eficiente, lo ideal es adecuar los ritmos de trabajo a los propios biorritmos, y a los momentos de especial creatividad e inspiración. Un día trabajas 10 horas y otro 5... Depende de cómo te encuentres en cada momento... Hay ocasiones de especial productividad y creatividad, y debemos ajustar el horario a esos instantes de inspiración”. (Mundo, 18.09.2011, ¿Compensa ser un “trabajador extremo”?)333 330
Dt. Das Arbeitsministerium [„Trabajo“ kürzt „Ministerio de trabajo“ ab, Anm. MM] setzt darauf, den europäischen Arbeitstag zu übernehmen. Eine Studie bürgt dafür, dass die Verringerung der Arbeitszeit die Produktivität erhöht.
331
Dt. Es ist nachgewiesen, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeiten die Angestellten motiviert und ihre Lebensqualität erhöht, was wiederum „positiv auf die Unternehmen zurückfällt“, so die Aussage der PP. Aber in Spanien ist die Kultur des presentismo noch immer sehr verbreitet, das heißt, eine bestimmte Anzahl von Stunden am Arbeitsplatz zu verbringen, was „nicht Synonym für eine höhere Produktivität ist“, fügen sie hinzu.
332
Für weitere Erläuterungen und Beispielbelege vgl. Kapitel 5.2.3.1.2 ›flexibilizar los horarios‹ und 5.2.3.2.1 ›presentismo‹.
333
Dt. Die Arbeitszeit hat nichts mit der Produktivität, dem Gewinn oder den Zielen zu tun. Ovidio Peñalver, teilhabender Chef von Isavia, geht davon aus, dass „es ideal ist, die Arbeitsrhythmen an die eigenen
212
5 Analyse der Korpora
In dem zitierten Beleg wird die individuelle Anpassung der Arbeitszeiten als Schlüssel zu mehr Produktivität angeführt.334 Der Artikel schildert die Situation im Berufszweig Unternehmensberatung, verweist dabei mehrmals auf Studienergebnisse amerikanischer Unternehmen und Universitäten und geht zuletzt kurz auf den Sektor der Unternehmensberatung in Spanien ein. Im Artikel werden die Konzepte ›Produktivität‹ und ›Arbeitszeit‹ nicht kulturspezifisch verknüpft, sondern es wird ein Phänomen im globalen Kontext nachgezeichnet, das sich in eingeschränktem Maße – darauf wird am Ende des Artikels verwiesen – auch in Spanien zeigt. Produktivität und Bildung: Das rückständige spanische Bildungssystem als Erklärung für die geringe Produktivität Spaniens Das deutsche und das spanische Medientextkorpus teilen die Verknüpfung der Konzepte ›Produktivität‹ und ›Bildung‹. Bildung wird im deutschen Korpus als Faktor benannt, der die Produktivität beeinflusst, der jedoch widersprüchlich beurteilt wird: Es finden sich Stimmen im Korpus, die die deutsche Produktivität positiv auf die gute Ausbildung der Arbeitskräfte zurückbeziehen, aber auch Stimmen, die das deutsche Bildungssystem in Teilen kritisieren. Im spanischen Korpus wird das Bildungssystem hingegen in vielen Belegen für die Probleme der spanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht: 158. El sistema de formación que hay en España, con fondos de la Union Europea, no siempre han [sic] servido para que tengamos gente capacitada y, de hecho, tenemos un problema de competitividad, de productividad. Si esos fondos de formación se hubieran aplicado bien seríamos un país mucho más productivo de lo que somos, lo cual indica que la formación no ha funcionado en España. (Mundo, 15.10.2010, „Hoy, la gente necesita habilidades“)335 159. Mejorar la formación del capital humano y su uso en el mercado de trabajo es fundamental. Solo con reformas decididas del sistema educativo y del mercado de trabajo y de productos se podrán alcanzar esos objetivos. En la formación de Biorhythmen und an die Momente besonderer Kreativität und Inspiration anzupassen, um leistungsfähig zu sein. Einen Tag arbeitest du zehn Stunden, einen anderen fünf… das hängt davon ab, wie du dich an jedem Tag fühlst… Es gibt Zeitspannen besonderer Produktivität und Kreativität, und wir müssen die Arbeitszeiten an diese Momente der Inspiration anpassen“. 334
Der zitierte Textbeleg ist Teil eines Artikels, der als Reportage verfasst ist und in dem die individuelle Sichtweise der Gesamtsituation in den Vordergrund gerückt wird: Dies zeigt sich besonders zu Beginn mit der Situationsschilderung eines Abendessens. Insgesamt ist festzustellen, dass im spanischen Korpus weniger Artikel im Reportagestil verfasst sind als im deutschen Korpus.
335
Dt. Das spanische (Aus-)Bildungssystem mit Geldern der Europäischen Union hat nicht immer dazu geführt, dass wir gut ausgebildete Leute haben, und tatsächlich haben wir ein Problem mit der Wettbewerbsfähigkeit, der Produktivität. Wenn man diese Gelder für das (Aus-)Bildungssystem gut genutzt hätte, wären wir ein sehr viel produktiveres Land, als wir es sind, was darauf hindeutet, dass die Ausbildung in Spanien nicht funktioniert.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
213
capital humano nada ha cambiado. El sistema educativo español vive instalado en la mediocridad, sin aparente demanda social de los padres para resolver un problema crucial en una economía globalizada. (País, 08.05.2011, Valoración de un año de reformas)336 Das spanische Bildungssystem wird als mittelmäßig bewertet; Gelder habe man nicht richtig eingesetzt, das zeige die mangelnde Produktivität in Spanien; Reformen des Bildungssystems (und des Arbeitsmarktes) seien dringend notwendig. Bessere Vereinbarkeit steigert die Produktivität Auf die Verknüpfung der Konzepte ›productividad‹ und ›conciliar entre vida laboral y personal‹ wurde bereits in Kapitel 5.2.3.3.1 eingegangen. Es wird darum an dieser Stelle nur ein Beleg genannt, der die Argumentationsstruktur exemplarisch abbildet: Maßnahmen der Flexibilisierung zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie seien nicht als Luxusgut zu bewerten, das im Rahmen der Krise vernachlässigt werden kann, sondern als ein fundamentaler Schritt, um die Unternehmen zu mehr Produktivität zu führen: 160. La mala situación económica dificulta la racionalización de los horarios laborales Cuando la prioridad es mantener el trabajo, la igualdad se tiende a considerar un lujo [Lead, Anm. MM] “Con la crisis, hay quien ha dejado un poco aparcadas estas cuestiones, y debería ser al revés” (País, 13.09.2011, La crisis no concilia)337 Produktivität und Spanien Spanien wird in den Artikeln des spanischen Korpus im Hinblick auf seine Wirtschaft und speziell seine Produktivität sehr negativ bewertet. Dies lässt sich bereits an den genannten Verknüpfungen Produktivität und Wirtschaftskrise und Produktivität und Bildung ablesen. In einigen Belegen finden sich noch deutlichere Worte: 161. R. [Respuesta, Anm. MM] España es el país más ineficiente de Europa. La productividad total de los factores [las tecnologías y las universidades, Anm. MM] es cero. Hay una carencia de inversiones en capital humano y tecnológico para
336
Dt. Es ist entscheidend, die (Aus-)Bildung des Humankapitals und dessen Verwendung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Nur mit entschlossenen Reformen des Bildungssystems und des Arbeitsmarkts und der Produkte können diese Ziele erreicht werden. In der Ausbildung des Humankapitals hat sich nichts geändert. Das spanische Bildungssystem hat sich im Mittelmaß eingerichtet, ohne sichtbare gesellschaftliche Forderungen der Eltern, ein entscheidendes Problem in einer globalisierten Wirtschaft zu lösen.
337
Dt. Die schlechte wirtschaftliche Situation erschwert die Rationalisierung der Arbeitszeiten – wenn die Priorität ist, die Arbeitsstelle zu behalten, neigt man dazu, die Gleichberechtigung als Luxus zu betrachten [Lead] „Mit der Krise gibt es Leute, die diese Fragen vertagen, und es muss genau umgekehrt sein“.
214
5 Analyse der Korpora
garantizar que España sea pionera en sectores tecnológicos de alta productividad. (Mundo, 04.01.2009, Conversaciones en Andalucía)338 Spanien wird mit Europa im Ganzen verglichen, oder mit Ländern Europas, die eine höhere Wirtschaftsleistung aufweisen: 162. Desde el inicio de la crisis estamos escuchando que la posición de nuestro país en el ranking de productividad y competitividad está alejada de los puestos de cabeza de la Unión Europea. (Mundo, 26.10.2012, Cartas al director)339 163. Figueruelas (General Motors), Vigo (PSA) o Landaben-Pamplona (Volkswagen) tienen un nivel medio de productividad y competitividad no muy inferior a la de las alemanas. (País, 08.07.2008, En economía no hay milagros)340 Wie im deutschen Korpus wird dabei häufig auf Studien oder Rankings verwiesen, die sich teilweise widersprechen.341 Des Weiteren wird im Korpus auf regionale Unterschiede innerhalb Spaniens hingewiesen, beispielsweise auf die Wirtschaftsleistung einzelner Regionen wie Katalonien: 164. […] la preocupación en Cataluña, hoy por hoy, debe orientarse a sentar las bases de un nuevo modelo de competitividad para las empresas industriales. No una competitividad a la vieja usanza, basada en deprimir salarios y condiciones laborales precarias (en esto no debemos competir con los Países emergentes), sino una competitividad que tenga sus fundamentos en las mejoras de productividad a largo plazo. Hay muchos motivos para desear seguir siendo un País industrial. La riqueza y el empleo que viene de la industria es más deseable que la que viene, por ejemplo, del turismo de costa tradicional o de la cría de cerdos. Por eso, uno de los retos que tenemos en los próximos años es decidir si queremos ser industriales, hoteleros o criadores de cerdos. (País, 19.01.2004, ¿Se desindustrializa Cataluña?)342 343 344 338
Dt. R. [Respuesta = Antwort, Anm. MM] – Spanien ist das am wenigsten leistungsfähige Land Europas. Die Gesamtproduktivität der Faktoren [der Technologie und der Universitäten] ist gleich null. Es besteht ein Mangel an Investitionen in das Human- und Technologiekapital, das gewährleisten könnte, dass Spanien in den hochproduktiven, technologischen Sektoren eine Pionierrolle einnehmen würde.
339
Dt. Seit Beginn der Krise hören wir, dass der Platz unseres Landes in der Rangliste der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit weit von der Spitze der Europäischen Union entfernt ist.
340
Dt. Figueruelas (General Motors), Vigo (PSA) oder Landaben-Pamplona (Volkswagen) haben ein mittleres Produktivitätsniveau und eine Wettbewerbsfähigkeit, die nicht viel unter der deutscher Unternehmen liegt.
341
Vgl. dazu Agonalität, Metasprache und Ringen um Diskurshoheit als Merkmale der Konzeptbewertung am Beispiel PRODUKTIVITÄT, S. 224.
342
Dt. […] die Sorge in Katalonien muss sich heutzutage danach ausrichten, die Grundlagen eines neuen Wettbewerbsmodells für die Industrieunternehmen festzulegen. Keine Wettbewerbsfähigkeit nach alter Sitte, die auf Lohndumping und prekären Arbeitsbedingungen beruht (hier dürfen wir nicht mit den Schwellenländern konkurrieren), sondern eine Konkurrenzfähigkeit, die ihre Grundlagen auf der langfris-
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
215
Der Beleg 164 fordert ein neues Wettbewerbsmodell für Katalonien, das seine Wirtschaft nicht auf den Küstentourismus und die Schweinezucht ausrichten sollte, sondern auf die Industrie.345 343 344
Bewertung des Konzeptes Das Konzept ›productividad en España y factores determinantes‹ ist im spanischen Medientextkorpus von negativen Bewertungen geprägt. Die spanische Wirtschaft und insbesondere die niedrige Produktivität der spanischen Wirtschaft werden als großes, kultureigenes Problem bezeichnet: 165. Nuestro problema es la baja productividad (País, 27.11.2009, El desafío de la economía sostenible)346 166. […] ninguno de los grandes problemas estructurales de nuestra economía se ha solucionado: baja productividad, tasa de paro inasumible y endeudamiento privado (Mundo, 14.12.2014, Hacia una economía más democrática)347 Im Diskurs ist umstritten, welche Faktoren für die niedrige Produktivität maßgeblich sind und mit welchen Schritten das Problem der niedrigen Produktivität zu lösen ist. Einigkeit besteht in der Bewertung der Produktivität als zu niedrig und demzufolge problematisch. Neben diesen deutlichen Bewertungen, mit denen auf der Metaebene auf ein Problem verwiesen wird, findet die Bewertung auch über Metaphern statt: Dabei gibt es Metaphern, die eindeutig als solche zu identifizieren sind, wie im folgenden Beleg, in dem die niedrige Produktivität als „Achillesferse“ der spanischen Wirtschaft benannt wird:
tigen Verbesserung der Produktivität hat. Es gibt viele Gründe dafür, anzustreben, weiterhin ein Industrieland zu sein. Der Wohlstand und die Arbeit, die von der Industrie kommen, sind wünschenswerter als der Wohlstand und die Arbeit des traditionellen Küstentourismus und der Schweinezucht beispielsweise. Darum ist es eine der Herausforderungen der nächsten Jahre zu entscheiden, ob wir Industrielle, Hoteliers oder Schweinezüchter sein wollen. 343
Der zitierte Artikel erschien in der Regionalausgabe Barcelonas.
344
Vgl. auch País, 18.05.2010, „Trabajo apuesta por adoptar una jornada laboral como la europea“. Es handelt sich um einen Artikel der Regionalausgabe des Baskenlandes von El País.
345
Eine Analyse der regionalspezifischen Unterschiede in den Konzeptualisierungen wäre von großem Interesse. In der vorliegenden Arbeit, die den Fokus auf den interlingualen und internationalen Diskursvergleich legt, kann diese nicht geleistet werden.
346
Dt. Unser Problem ist die niedrige Produktivität.
347
Dt. […] keines der großen strukturellen Probleme unserer Wirtschaft ist gelöst: niedrige Produktivität, eine nicht hinnehmbare Arbeitslosenquote und private Verschuldung.
216
5 Analyse der Korpora
167. Este plan es, para Gallardón [Alberto Ruiz-Gallardón, alcalde de Madrid, Anm. MM], “un paso histórico que afecta al talón de Aquiles de nuestra economía, la baja productividad”. (Mundo, 15.09.2010, A las cinco se echa la llave)348 349 Auf der anderen Seite ist das Konzept ›Produktivität‹ von Metaphern des Bereiches WACHSTUM und RÜCKGANG bestimmt, die auch die Sprache des deutschen Korpus beeinflussen. 168. España intenta superar el problema más importante de su economía, que es el bajo crecimiento de productividad y las bases tecnológicas de la economía. (País, 21.05.2006, „Europa es menos proteccionista que Estados Unidos“)350 In der Beschreibung des Wachstums der Produktivität als „gering“ äußert sich eine negative Bewertung, die an die übliche Metaphorisierung in der Wirtschaftssprache gebunden ist, in der UNTEN/GERING negativ konnotierte Gegenstandsbereiche sind, während OBEN/GROSS/VIEL positive Gegenstandsbereiche sind. Der Blick auf den Word Sketch von „productividad“ verdeutlicht, dass die Referenzbereiche WACHSTUM und RÜCKGANG/STAGNATION im spanischen Korpus ebenso eine Rolle spielen wie bereits im deutschen Korpus. Die folgende Tabelle ermöglicht einen Überblick über einige Belege: Referenzbereich WACHSTUM (= positive Bewertung)
Referenzbereich RÜCKGANG/ STAGNATION (= negative Bewertung)
„productividad“ ist Objekt (aumentar la productividad) aumentar zunehmen/steigern (136 Treffer) incrementar erhöhen (41) elevar erhöhen (14) impulsar antreiben (12)
reducir reduzieren (11) medir messen/mäßigen (8) mermar sich verringern (5) disminuir nachlassen/verringern (4) lastrar belasten (3)
348
Dt. Dieser Plan ist für Gallardón [Alberto Ruiz-Gallardón, damaliger Bürgermeister von Madrid, Anm. MM] „ein historischer Schritt, der die Achillesverse unserer Wirtschaft, die niedrige Produktivität, betrifft“.
349
Die spanische Wirtschaft wird hier von Alberto Ruiz-Gallardón, dem damaligen Bürgermeister Madrids, im Kontext des „plan Madridconcilia“ (dt. Plan Madrid vereinbart) so bezeichnet. Vgl. auch die Belege País, 02.01.2006, „Un balance positivo“ und Mundo, 29.09.2004, „Una economia en declive“, in denen die spanische Wirtschaft ebenfalls als Achillesferse bezeichnet wird.
350
Dt. Spanien versucht die größten Probleme seiner Wirtschaft zu lösen, das geringe Wachstum der Produktivität und die technologischen Grundlagen der Wirtschaft.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
fomentar fördern (9) lograr erreichen (8) crecer wachsen (7) estimular anregen (5) incentivar fördern (4) potenciar potenzieren (4) triplicar verdreifachen (3) acelerar beschleunigen (3)
217
minar untergraben (3) frenar bremsen (3)
„productividad“ ist Subjekt (la productividad crece) crecer wachsen (20) aumentar zunehmen/steigern (12) subir steigen (4) „productividad“ modifiziert ein anderes Wort (el aumento de la productividad) aumento Zunahme (105) incremento Steigerung (57) crecimiento Wachstum (57) ganancia Gewinn (23) avance Fortschritt (15) plus Plus (8) evolución Entwicklung (8)
pérdida Verlust (18) descenso Rückgang (7) merma Abnahme (auch: Gewichtsverlust) (3) perdido Verlust (3) brecha Lücke (3) caída Fall (3)
Tabelle 25: Sprachliche Bewertungen des Konzeptes ›productividad‹: Verben und Nomen351
Da die Metaphorisierung in beiden Sprachen dem Bereich WACHSTUM/RÜCKGANG/ STAGNATION entstammt, werden die Überlegungen hierzu im folgenden Kapitel vorgestellt.
351
Vgl. Anhang 8 Word Sketch „productividad“.
Metadiskursive Deutung Die Krise wird als maßgeblich für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Spaniens und seine Produktivität angesehen.
Befund
‘Spanien ist als Land stark von der Wirtschaftskrise betroffen/Wir sind als Land stark von der Wirtschaftskrise betroffen. Die Produktivität Spaniens wurde und wird dadurch beeinflusst und muss verbessert werden, um einen Weg aus der Krise zu finden.’
Die Ausbildung und das Bildungssystem in Spanien werden als nachteilig für die Produktivität beurteilt. Die Produktivität bildet den Schlusspunkt in der Argumentation für die Flexibilisierung und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dabei handelt es sich um ein Argument, das sowohl für die Arbeitnehmer- als auch für die Arbeitgeberseite relevant ist.
‘Das schlechte Bildungssystem Spaniens ist eine Ursache der niedrigen Produktivität.’
‘Maßnahmen der Flexibilisierung, die der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie dienen, fördern letztendlich die Produktivität.’
b. Dies fördert auf individueller Ebene in bestimmten Berufen Produktivität und Kreativität.’
a. Dies erhöht die Produktivität der Arbeitnehmer.
Zumeist wird thematisiert, dass die Produktivität in der Gruppe der Berufstätigen oder Arbeitnehmer gesamtgesellschaftlich erhöht werden soll. Seltener geht es um die Leistung einzelner Personen (Führungskräfte, Unternehmensberater, Kreative), deren Produktivität erhöht werden soll.
‘Der presentismo (die lange Anwesenheit am Arbeitsplatz) stellt ein großes Problem für die Produktivität in Spanien dar. Die Lösung ist die Flexibilisierung und Verkürzung der Arbeitszeit.
Die Situation in Spanien wird häufig in der 1. Person Plural beschrieben.
Produktivität in Spanien und die Faktoren, die diese bestimmen; die Produktivität muss vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise gesteigert werden.
›productividad en España y factores determinantes‹ (dt. Produktivität in Spanien und bestimmende Faktoren)
Vorteile für Arbeitnehmer und Unternehmen
Bildungspolitik
gesamtgesellschaftlich vs. individuell
wirtschaftliche Krise als Faktor
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 26: Konzept ›productividad en España y factores determinantes‹
218 5 Analyse der Korpora
Auf der Metaebene wird auf die Agonalität im Diskurs und im Kontext des Konzeptes ›Produktivität‹ hingewiesen: Damit werden etablierte Formen von Wissen in Frage gestellt.
‘Mitunter stehen sich Positionen agonal gegenüber:
Auf der Metaebene wird eine stark emotionalisierte Wertung ausgesprochen. Die Positionen von Akteuren und Institutionen der Wirtschaft und Politik widersprechen sich.
‘Bei einigen Aussagen handelt es sich um Lügen, um Unsinn, um Täuschungen oder um Ketzerei.’
‘Politiker haben eine politische Intention.’
c. Die Lösungen von Experten funktionieren nicht.’
b. Zwischen Theorie und Praxis besteht ein Unterschied.
a. Rankings und Studien sind nicht immer korrekt.
Das Konzept wird über die Referenzbereiche WACHSTUM und RÜCKGANG/ STAGNATION metaphorisiert.
Spanien wird im regionalen Vergleich beurteilt (c.).
- Vergleichsinstanz: produktionsstarke Länder wie Deutschland (b.)
- Vergleichsinstanz: Europäische Union und die durchschnittliche Produktivität (a.)
Spanien wird im internationalen Vergleich beurteilt:
Über einige generelle Aussagen (‘Die Produktivität Spaniens ist gering.’, ‘Die Wirtschaftsleistung Spaniens ist geringer als die Wirtschaftsleistung Deutschlands.’) besteht Einigkeit. In der Differenzierung der Aussagen (z. B. wie weit die Produktionsleistung Spaniens von der Deutschlands entfernt ist) besteht Uneinigkeit.
‘Die geringe Produktivität in Spanien stellt ein Problem dar. Eine Produktivitätssteigerung ist dringend notwendig.’
d. Einige Industriezweige sind wünschenswerter als andere.’
c. Einige Regionen Spaniens sind wirtschaftlich stärker als andere (Baskenland, Katalonien).
b. Die Wirtschaftsleistung Spaniens ist geringer als die Wirtschaftsleistung Deutschlands.
a. Spanien ist ein ineffizientes Land, das weit von den wirtschaftsstärksten Ländern entfernt ist.
‘Die Produktivität Spaniens ist zu gering.
Emotionalisierung
Agonalität
Metaebene
Metaphern
intrakultureller Vergleich
Kulturvergleich
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
219
220
5 Analyse der Korpora
Zwischenfazit: Strukturen der Konzeptbewertung im Deutschen und im Spanischen Metapher und Bewertung am Beispiel PRODUKTIVITÄT Bei den Konzepten ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ und ›productividad en España y factores determinantes‹ (dt. Produktivität in Spanien und bestimmende Faktoren) fällt auf, dass häufig die Referenzbereiche WACHSTUM und RÜCKGANG bzw. STAGNATION verwendet werden. Die Tabelle 25 zeigen die Einteilung der quantitativ ermittelten Belege in die zwei Kategorien WACHSTUM und RÜCKGANG/STAGNATION. Diese Gegenüberstellung der Metaphern des Deutschen und des Spanischen schließt grundsätzlich an eine Überlegung von Jäkel an, der feststellt, dass „in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch mit wenigen Ausnahmen dieselben metaphorischen Ursprungsbereiche verwendet werden, wenn von ökonomischen Vorgängen die Rede ist“ (Jäkel 1994, 19). Bei der Durchsicht der Belege fällt auf, dass einige Ausdrücke eine deutlichere Bildlichkeit evozieren als andere: Metaphorik
Im Deutschen
Im Spanischen
Schwache Metaphorik
Produktivitätsschub Produktivität + sinken
productividad + aumentar (dt. steigen)
Starke Metaphorik
Produktivitätskiller Produktivitätsbremse
productividad + frenar (dt. bremsen)
Tabelle 27: Metaphern PRODUKTIVITÄT
Während die Metaphorik in Ausdrücken wie „Produktivitätskiller“ sofort ins Auge springt, fallen die weiteren Beispiele, die vor allem aus dem Referenzbereich WACHSTUM und RÜCKGANG/STAGNATION stammen, kaum noch als Metaphern auf. Im Folgenden sollen hierzu einige Überlegungen angestellt werden, die sich vor allem auf Hundt 1995 stützen. Nach Hundt lassen sich zwei Einschätzungen zur Wachstumsmetaphorik unterscheiden. Erstens: die Einschätzung der Wachstumsmetapher in der Wirtschaftssprache als verblasste Metapher, die aus einem biologischen Wachstumsmodell hervorging, das bei der heutigen Verwendung der Wachstumsmetapher nicht mehr aufgerufen wird (Kroeber-Riel 1969, 87). Zweitens: die Entwicklung der Wachstumsmetapher in der Wirtschaftssprache aus einem generellen Verständnis von Wachstum, eine Einschätzung die Hundt vertritt: Fraglich ist m. E., inwiefern bei dieser Metapher jemals an ein biologisch definiertes Wachstum gedacht wurde oder ob nicht vielmehr von Anfang an – und dies auch noch jetzt bei einer stark habitualisierten Verwendung – das Verstehen der Metapher über ein (alltagstheoretisches) metaphorisches Modell von Wachstum zustande kam. (Hundt 1995, 42)
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
221
Der bildliche Charakter der Wachstumsmetapher ist nach beiden Erklärungsmodellen heutzutage nicht mehr klar zu erkennen. Metaphern können als solche „vergessen“ werden; zwischen metaphorischer und begrifflicher Verwendung ist dann nicht mehr genau zu unterscheiden. Um die Metaphern des deutschen und spanischen Konzeptbereichs PRODUKTIVITÄT genauer zu differenzieren, nachdem sie bisher grob den Referenzbereichen WACHSTUM und RÜCKGANG/STAGNATION zugeordnet wurden, folge ich Hundts Vorschlag der „Mentale[n] Modelle in der Geldtheorie“.352 Hundt unterscheidet vier große Modelle: das Modell LEBEWESEN, das Modell MECHANIK, das Modell HANDLUNG und das Modell RAUM/GEOMETRIE. Jedes Modell ist wiederum in verschiedene Komponenten unterteilbar; die Belege der hier behandelten Korpora lassen sich jeweils einer Untergruppe eines Modells zuordnen.353 Modell LEBEWESEN Submodell ORGANISMUS/WACHSTUM Konjunktur beleben (1): Nicht nur die Bevölkerung schrumpft, auch die Wirtschaft. Dagegen hilft keine „Staatsknete“ und kein noch so gut gemeintes Konjunkturprogramm (taz, 06.05.2004, Umwege zum Wohlstand)
Este plan es, para Gallardón, “un paso histórico que afecta al talón de Aquiles de nuestra economía, la baja productividad”. (Mundo, 15.09.2010, A las cinco se echa la llave)354
352
Hundt entwickelt seine Kategorisierung der „Mentale[n] Modelle in der Geldtheorie“ auf Grundlage verschiedener wissenschaftlicher Vorarbeiten zum Metaphernbegriff (vgl. Hundt 1995, 39-45 und 90-117). Besonders eng knüpft er erstens an den Gedanken der Basiskonzepte nach Lakoff/Johnson an: Seine „hier favorisierte kognitive Theorie der Metapher [geht] von Wahrnehmungsprimitiven in der Art aus, daß unmittelbare Körpererfahrungen […] letztlich die Grundlage für die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke und der dahinter stehenden Konzepte sind“ (Hundt 1995, 101, der hier auf Lakoff 1987, 267 und Johnson 1987, 25 verweist). Sein Modell baut des Weiteren auf den Studien Jakobs’ zu Techniksprache (Jakobs 1991) und Jäkels zur Quantitätsmetapher auf: „Als Untergruppen dieser Quantitäts-Metaphern lassen sich AUTONOME HORIZONTAL-BEWEGUNG […], ORGANISCHES WACHSTUM […], AUTONOME VERTIKAL-BEWEGUNG […] sowie PASSIVER VERTIKALTRANSPORT […] unterscheiden“ (Jäkel 1994, 9).
353
Hundt schlägt das zitierte Modell für Wirtschaftstheorietexte vor. Er merkt an, dass das Sprechen in Metaphern in (Wirtschafts-)Pressetexten mitunter auffälliger ist (Hundt 1995, 108).
354
Dt. Dieser Plan ist für Gallardón [Alberto Ruiz-Gallardón, damaliger Bürgermeister von Madrid, Anm. MM] „ein historischer Schritt, der die Achillesverse unserer Wirtschaft, die niedrige Produktivität, betrifft“.
222
5 Analyse der Korpora
Modell MECHANIK Submodell BEWEGUNG Treibende Kraft sind die Löhne. Im Hochproduktivitätsland Deutschland kommen diese kaum vom Fleck. Am Mittelmeer steigen die Löhne stärker als die Produktivität. (SZ, 29.04.2010, Tief gespaltenes Euroland)
“El riesgo ahora es que el Estado, al intervenir, paralice la actividad en algún sector privado” (Mundo, 04.01.2009, Conversaciones en Andalucía)355
Modell HANDLUNG Submodell STEIGEN/FALLEN Wenn die Arbeitskosten die Produktivität überholen, dann klettern die Lohnstückkosten und somit auch die Preise. Vom Start der Währungsunion bis zum Ausbruch der momentanen Krise stiegen die Lohnstückkosten in Paris siebenmal so stark wie in Berlin. Die spanischen, portugiesischen und griechischen Lohnstückkosten kletterten sogar neun- bis elfmal so stark wie hierzulande. (SZ, 29.04.2010, Tief gespaltenes Euroland. Wenn Athen, Madrid und Lissabon nicht wirtschaftlich leistungsfähiger werden, dann versinken sie in Schulden)
355
Dt. Das Risiko ist jetzt, dass der Staat die Wirtschaftlichkeit im privaten Sektor lähmt, wenn er sich einmischt.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
223
Modell RAUM/GEOMETRIE Submodell OBEN/UNTEN Dank hohem Kapitaleinsatz, guter Infrastruktur und guter Ausbildung der Erwerbstätigen liegt die Produktivität in Deutschland immer noch weltweit mit an der Spitze. (SZ, 06.03.2006, Was zumutbar ist)
Desde el inicio de la crisis estamos escuchando que la posición de nuestro país en el ranking de productividad y competitividad está alejada de los puestos de cabeza de la Unión Europea. (Mundo, 26.10.2012, Cartas al director)356
Im Vergleich zu unseren heftigsten Wettbewerbern in der OECD liegen die Lohnstückkosten in Deutschland immer noch ganz weit oben. (SZ, 19.04.2008, „Ausgerechnet jetzt wird die soziale Frage gestellt”)
El gran problema que tiene en estos momentos el País es su baja productividad que se ha empeorado con estos horarios. Los horarios, cuanto más largos son, producen un deterioro de la persona y va bajando el rendimiento. (Mundo, 21.05.2006, Entrevista/Ignacio Buqueras)357
Die Gegenüberstellung der deutschen und spanischen Belege nach Metaphernbereich zeigt, dass in den deutschen und spanischen Zeitungstexten größtenteils ähnliche Metaphern verwendet werden, um über die Konzepte ›Produktivität‹ und ›productividad‹ zu sprechen. Besonders häufig stammen die Metaphern aus den Referenzbereichen WACHSTUM und RÜCKGANG/STAGNATION. Nach Hundts „Mentale[n] Modellen in der Geldtheorie“ können die Metaphern noch genauer kategorisiert werden, wobei es jedoch häufig zu Überschneidungen kommt. So ließe sich der folgende Beleg problemlos sowohl in das Modell MECHANIK Submodell BEWEGUNG als auch in das Modell HANDLUNG Submodell STEIGEN/FALLEN einordnen: 169. Wenn die Arbeitskosten die Produktivität überholen, dann klettern die Lohnstückkosten und somit auch die Preise. Vom Start der Währungsunion bis zum Ausbruch der momentanen Krise stiegen die Lohnstückkosten in Paris siebenmal so stark wie in Berlin. Die spanischen, portugiesischen und griechischen Lohnstückkosten kletterten sogar neun- bis elfmal so stark wie hierzulande. (SZ, 29.04.2010, Tief gespaltenes Euroland. Wenn Athen, Madrid und Lissabon nicht wirtschaftlich leistungsfähiger werden, dann versinken sie in Schulden) 356
Dt. Seit Beginn der Krise hören wir, dass der Platz unseres Landes in der Rangliste der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit weit von der Spitze [wörtlich: vom Kopf, Anm. MM] der Europäischen Union entfernt ist.
357
Dt. Das große Problem, das das Land im Moment hat, ist seine niedrige Produktivität, die sich mit diesen Arbeitszeiten noch verschlechtert hat. Die Arbeitszeiten, je länger sie sind, verschlechtern die Gesamtverfassung der Person, und dadurch sinkt ihre Leistungsfähigkeit. In Spanien, wo die Präsenzkultur anstelle der Effizienzkultur vorherrscht, besteht ein Irrtum.
224
5 Analyse der Korpora
Bei den Konzepten ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ und ›productividad en España y factores determinantes‹ handelt es sich um komplexe Zugriffe auf wirtschaftliche Prozesse. Burger/Luginbühl gehen davon aus, dass fachliche Themen dieser Art „in den Medien nur präsentiert werden [können], wenn die fachimmanente Komplexität des Gegenstandes für das Laien-Publikum reduziert wird“ (2014, 367). Zu den sprachlichen Verfahren, die eine solche Reduktion erlauben, gehören Metaphern, mit denen „abstrakte Domänen auf konkrete, alltägliche Erfahrungsbereiche“ zurückgeführt werden können (ebd.). Neben diesem Verfahren zur Reduktion der Komplexität über Metaphern und Vergleiche verweisen Burger/Luginbühl (ebd., 364-375) auf die weiteren Verfahren der lexikalischen Erläuterungen, der Personalisierung von Sachverhalten sowie der Dramatisierung und Emotionalisierung zur Vermittlung von Fachwissen in Medientexten. Diese Verfahren zeigen sich zum Teil in den Zeitungskorpora der vorliegenden Arbeit und werden im folgenden Abschnitt anhand von Analysebeispielen verdeutlicht. Agonalität, Metasprache und Ringen um Diskurshoheit als Merkmale der Konzeptbewertung am Beispiel PRODUKTIVITÄT Das Sprechen über die Konzepte ›Produktivität‹ und ›productividad‹ im deutschen und im spanischen Zeitungskorpus ist von entgegengesetzten Teilbedeutungen, von sich widersprechenden Diskurspositionen und von metasprachlichen Kommentaren geprägt. Diese Merkmale beeinflussen die Bewertung des Konzeptes. Sie werden in den folgenden drei Abschnitten erläutert: Agonalität: Entgegengesetzte Teilbedeutungen zeigen sich im Kotext eines Konzeptes. Ringen um Diskurshoheit: Diskursakteure und Institutionen äußern sich, widersprechen sich und beanspruchen Diskurshoheit. Metaebene: Widersprüchlichkeiten werden auf der Metaebene kommentiert. In der Praxis, d. h. in den Untersuchungskorpora, prägen sich die drei Phänomene gegenseitig: Die metasprachliche Kommentierung ist bei der Darstellung gegensätzlicher Teilbedeutungen und Diskurspositionen üblich und verstärkt das Bewertungsmoment. Im Folgenden werden die Merkmale anhand von Beispielen getrennt voneinander betrachtet, um die drei sprachstrukturellen Auffälligkeiten im Detail nachzuvollziehen.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
225
Agonalität Das deutsche Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ weist Teilbedeutungen auf, die einander agonal gegenüberstehen. Diese können sich sowohl innerhalb eines Artikels wie auch in mehreren Artikeln manifestieren. Agonalität innerhalb eines Artikels ‘Die Beschäftigten sollten kürzer arbeiten, um die Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern.’
≠
‘Die Beschäftigten sollten länger arbeiten, um die Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern.’
Unternehmen wollen, dass ihre Beschäftigten kürzer arbeiten, Ökonomen und Politiker fordern eine Verlängerung der Arbeitszeit – wie passt das zusammen? Tatsächlich dienen beide Modelle dem gleichen Ziel: Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern oder neue zu schaffen. (Spiegel, 03.11.2003, Verwirrende Vielfalt) Agonalität innerhalb eines Diskurses ‘Deutschland ist ein Land mit hohen Löhnen und hoher Produktivität.’
a. ‘Die Löhne in Deutschland sind nicht mit der Produktivität gestiegen, bzw. sinken im Vergleich.’
Aber Deutschland ist nun einmal ein Land hoher Preise, hoher Löhne und hoher Produktivität. (Spiegel, 13.09.2004, „Autos kaufen keine Autos“)
Deutschland betreibt seit Jahren systematisches Lohndumping, das heißt die deutschen Löhne (und die damit verbunden [sic] Lohnstückkosten) sinken im Verhältnis zu seiner Produktivität und im Verhältnis zu seinen europäischen Partnerländern. (SZ, 19.03.2010, Exportweltmeister – was nun?) b. ‘Die Produktivität Europas und Deutschlands sinkt im Vergleich mit anderen Ländern.’ Demnach arbeitet ein US-Amerikaner im Schnitt jedes Jahr einen Monat länger als beispielsweise ein Niederländer, ein Franzose, ein Deutscher oder ein Schwede. Noch in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts arbeiteten Westeuropäer im Schnitt rund einen Monat länger als US-Amerikaner. „Amerikaner kaufen mit ihrem Wohlstand mehr Güter und Dienstleistungen, Europäer dagegen mehr Freizeit“, schreiben die Experten der Bank. Als
226
5 Analyse der Korpora
eine Folge sinkt die Produktivität der europäischen Volkswirtschaften. (Welt, 26.01.2012, Weltbank kritisiert geringe Arbeitszeit in Europa. Die Produktivität der Alten Welt ist seit Mitte der 90er-Jahre gegenüber Japan und den USA stark gesunken) Tabelle 28: Agonalität PRODUKTIVITÄT
Die Bewertung des Konzeptes ist nicht eindeutig positiv oder negativ, da sich Teilbedeutungen finden, die die Produktivität in Deutschland hoch einschätzen und daher positiv bewerten, sowie Teilbedeutungen, die die Produktivität in Deutschland als zu niedrig einschätzen und daher negativ bewerten. Im spanischen Korpus überwiegen die Teilbedeutungen, die die Produktivität in Spanien als zu gering bewerten. Es lässt sich also zunächst für das spanische Korpus feststellen, dass sich einzelne Teilbedeutungen kaum agonal gegenüberstehen. Dennoch sind im spanischen Diskurs Uneinigkeiten festzustellen: Umstritten ist, welche Faktoren im Vergleich mit anderen Ländern zu berücksichtigen sind, welche Maßnahmen umgesetzt werden sollten, um die Produktivität Spaniens zu steigern und, ebenfalls in diesem Zusammenhang, auf welche Ursachen die geringe Produktivität zurückzuführen ist.358 Ringen um Diskurshoheit Im deutschen Korpus äußern sich Gruppen oder Gruppenmitglieder als Vertreter ihrer Gruppen und nehmen dabei unterschiedliche Standpunkte ein. Zu den häufig genannten Akteuren gehören u. a. Wirtschaftsunternehmen, (Wirtschafts-) Wissenschaftler, Politiker und Gewerkschaften. Die Akteurgruppen können als solche genannt werden, wenn sie beispielsweise eine bestimmte Position vertreten, oder es werden Experten als Vertreter einer Gruppe herangezogen, um eine Position zu stützen und sich im Kampf um die Diskurshoheit günstig zu positionieren. Akteur: Internationale Organisation „In Deutschland gab es in den vergangenen zehn Jahren keine aus Bildung erklärbaren Zuwächse an Produktivität“, sagt Andreas Schleicher von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die in regelmäßigen Abständen 30 Staaten miteinander vergleicht. (Spiegel, 08.03.2004, Die Wohlstands-Illusion)
358
Die unterschiedlichen Einschätzungen und Teilbedeutungen können in der Konzepttabelle ›productividad en España y factores determinantes‹ nachvollzogen werden.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
227
Akteur: Wirtschaftswissenschaftler Europäer müssen mehr und länger arbeiten; das empfehlen kurz und knapp Ökonomen der Weltbank, die in einer umfangreichen Studie die Wachstumsbedingungen in Europa untersucht haben. […] Die Wissenschaftler loben darin […] Die Ökonomen haben ausgerechnet, wie […] (Welt, 26.01.2012, Weltbank kritisiert geringe Arbeitszeit in Europa. Die Produktivität der Alten Welt ist seit Mitte der 90er-Jahre gegenüber Japan und den USA stark gesunken) Akteur: Politiker (der vom Präsident der Handwerkskammer unterstützt wird) Um die Konjunktur anzukurbeln, müssen die Deutschen laut Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) wieder länger arbeiten. „Wir sind, was Urlaubszeit, Feiertage und Arbeitszeit angeht, zweifelsohne an der Grenze angelangt“ […] Unterstützung erhält Clement von Handwerkspräsident Dieter Philipp. „Kaum ein Land leistet sich so viel Freizeit wie wir. Clement hat völlig Recht, wenn er sagt, die Produktivität in Deutschland müsse erhöht und die Zahl der Feiertage zur Debatte gestellt werden […]“, sagte er der WELT. (Welt, 18.06.2003, Clement: Deutsche arbeiten zu wenig) einander gegenübergestellte Akteure: Unternehmen, Ökonomen, Politiker Unternehmen wollen, dass ihre Beschäftigten kürzer arbeiten, Ökonomen und Politiker fordern eine Verlängerung der Arbeitszeit – wie passt das zusammen? Tatsächlich dienen beide Modelle dem gleichen Ziel: Lohnkosten zu senken und Arbeitsplätze zu sichern oder neue zu schaffen. (Spiegel, 03.11.2003, Verwirrende Vielfalt) Tabelle 29: Diskurshoheit PRODUKTIVITÄT
Auch im spanischen Korpus beanspruchen verschiedene Akteure Diskurshoheit. Im folgenden Beleg widersprechen sich die PP, also ein politischer Diskursakteur, und ein Wirtschaftsvertreter: 170. Tampoco se entrega [Juan Roig, jefe de Mercadona, Anm. MM] al PP. “Lo peor de la crisis está por llegar” y “2011 tiene una cosa buena, que será mejor que 2012”, dijo el jueves. Dos frases que no han gustado en la calle Génova. “Este tipo de mensajes no facilitan el cambio que se va a producir con el nuevo Gobierno”, afirma un próximo a Rajoy. Pero para el jefe de Mercadona no es un tema político […] (Mundo, 13.03.2011, Uno al que le va bien sin pasar por Moncloa ni abrazar al PP)359 359
Dt. Er [Juan Roig, Chef der Supermarktkette Mercadona, Anm. MM] ergibt sich auch nicht der PP. „Das Schlimmste der Krise steht uns noch bevor.“ Und „2011 hat das Gute, dass es besser sein wird als 2012“, sagte er am Donnerstag. Zwei Sätze, die man in der Calle Génova [Straße, in der die Partido Popular ihren Hauptsitz hat, Anm. MM] nicht gerne hört. „Diese Art von Nachrichten begünstigt nicht den Wandel,
228
5 Analyse der Korpora
Der Chef der Supermarktkette Mercadona stellt sich mit seiner Meinung gegen die PP. Besonders interessant ist die Argumentation in dem Zitat des unbekannten Oppositionsnahen, in dem gesagt wird, dass eine solche negative Prognose zur wirtschaftlichen Situation im kommenden Jahr 2012 den Wechsel zur neuen Regierung nicht erleichtere. Damit wird nicht der Aussage des Wirtschaftsvertreters widersprochen, sondern offen bekannt, dass es sich bei der Frage, welche Botschaft gesandt werden solle, vielmehr um eine politische Abwägung handle. Nicht der Inhalt der Äußerung wird damit kritisiert, sondern die Wirkung der Worte wird betrachtet. Für den Vertreter der Wirtschaft wiederum ist der politische Aspekt zweitrangig. Insgesamt werden im spanischen Korpus ähnliche Akteure genannt wie im deutschen Korpus, insbesondere Akteure der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Metaebene Sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus wird die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Diskurses um die Konzepte ›Produktivität‹ und ›productividad‹ in der Debatte selbst erwähnt. Im Deutschen wird dies in folgendem Beleg besonders deutlich: 171. Es gibt Tage, da erwecken Nachrichten, die aus Unternehmen, von Gewerkschaften und Arbeitgebern kommen, den Eindruck: Die Wirtschaft ist ein riesiges Irrenhaus. Aus jedem Zimmer dringen andere Rufe, die für sich genommen schon schwer verständlich sind, zusammen genommen aber scheinbar überhaupt keinen Sinn mehr ergeben. (Spiegel, 03.11.2003, Verwirrende Vielfalt) Der Artikel beschreibt anschließend, welche verschiedenen Positionen eingenommen werden und welche Probleme die beschriebenen Positionen wiederum aufweisen: - Unternehmer sind für, eine Gewerkschaft ist gegen eine Arbeitszeitverkürzung – damit hat die verquere Debatte darüber, wie lange die Deutschen arbeiten müssen, einen skurrilen Höhepunkt erreicht. (Spiegel, 03.11.2003, Verwirrende Vielfalt) - Sinns Vorschlag und Seiferts Konter zeigen: Ökonomen unterliegen in der Debatte um längere Arbeitszeiten oft dem gleichen Irrtum wie Politiker. (ebd.) - Beides ist jedoch utopisch, so Sinn, weil in der Praxis nicht durchsetzbar. (ebd.) - Doch Rhetorik und Realität fallen immer stärker auseinander. (ebd.)
der mit der neuen Regierung stattfinden wird“, versichert ein Vertrauter von Rajoy. Aber für den Chef von Mercadona ist dies kein politisches Thema.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Es wird auf der Metaebene darauf hingewiesen, dass sich die angeführten Positionen widersprechen und dass die Akteure ihre Positionen scheinbar willkürlich ändern. Zudem ist ein wesentliches Argument des Artikels, dass der Diskurs um Produktivität das grundsätzliche Problem aufweist, dass zwischen Erkenntnis und Umsetzung (oder auch politischer Ebene und Praxis) eine Lücke klafft. Im spanischen Korpus lassen sich ähnliche Argumente beobachten. So wird auch hier festgestellt, dass Theorie und Praxis nicht miteinander übereinstimmen: 172. Se podría aducir que la segunda vía, aunque sea teóricamente insostenible, es prácticamente conveniente porque concentra la atención política en la necesidad de actuar sobre la productividad. (País, 25.03.2007, Competitividad, productividad y déficit exterior)360 Eine Vorgehensweise, die praktisch nützlich und umsetzbar ist, wird in der Theorie als unhaltbar beurteilt. Die Argumentation gleicht hier derjenigen des deutschen Korpus, in dem darauf hingewiesen wird, dass „Rhetorik und Realität“ immer stärker auseinanderfallen. Im spanischen Korpus lässt sich des Weiteren beobachten, dass etabliertes Wissen in Frage gestellt wird: 173. Varias son las observaciones que hay que hacer en relación con el declive, esperemos que no irrecuperable, de la industria española. En primer lugar, que la competitividad y la productividad del sector industrial español es equiparable al de cualquier país de nuestro entorno, en contra de muchos informes que circulan sin mayor análisis. La capacitación del personal en que descansa la actividad industrial, en todos los niveles de dicho personal, está fuera de toda duda, como demuestra el actual éxito de nuestro sector exterior. (País, 22.12.2013, Sin industria no hay país)361 174. Desde el inicio de la crisis estamos escuchando que la posición de nuestro país en el ranking de productividad y competitividad está alejada de los puestos de cabeza de la Unión Europea. Esta afirmación, que tiene muy buena venta en una política de desprestigio cuando un país está debilitado, no deja de ser una auténtica mentira cuando se comparan empresas multinacionales implantadas en diferentes países de la UE. Quienes hemos trabajado en estas empresas sabemos 360
Dt. Man könnte anführen, dass der zweite Weg, obwohl er theoretisch unhaltbar ist, in der Praxis angebracht ist, weil er die politische Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit lenkt, Einfluss auf die Produktivität zu nehmen.
361
Dt. Die Bemerkungen, die es in Bezug auf den – hoffentlich nicht irreparablen – Rückgang der spanischen Industrie gibt, sind vielfältig. In erster Linie, dass die Wettbewerbsfähigkeit und die Produktivität des spanischen Industriesektors vergleichbar mit der eines jeden Landes im näheren Umkreis ist, entgegen vieler Berichte, die ohne große Analyse zirkulieren. Die Qualifikation der Belegschaft, auf der die industrielle Betriebsamkeit auf allen Ebenen beruht, steht außer Zweifel, wie der aktuelle Erfolg unseres Exportsektors zeigt.
230
5 Analyse der Korpora
cuál es la posición de las factorías implantadas en España. (Mundo, 26.10.2012, Cartas al director)362 In beiden Belegen wird etabliertem Wissen in Form von Berichten und Rankings der Wahrheitsgehalt abgesprochen. Im ersten Beispiel wird der Widerspruch auf Berichte bezogen, die ohne größere Analyse erstellt wurden und nun zirkulieren. Es wird ergänzt, dass die aktuellen Erfolge im Außenhandel den Widerspruch stützen. Im zweiten Beispiel werden die Rankings angezweifelt, die seit Beginn der Krise die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit Spaniens als weit entfernt von der Spitze der Europäischen Union einordnen. Diese werden als „beglaubigte Lüge“ bezeichnet, die sich gut verkaufe. Diese Einschätzung wird auf persönliche Erfahrung gegründet.363 Mit dem Hinweis darauf, dass der Theorie in der Praxis häufig nicht entsprochen wird, und mit der Infragestellung von etabliertem Wissen wird metasprachlich Agonalität erzeugt. Zuletzt ist festzustellen, dass die Wortwahl, mit der widersprüchliche Positionen im Kontext des Konzeptes ›productividad‹ im spanischen Korpus angesprochen werden, mitunter als stark wertend und emotionalisiert einzuordnen ist. 175. He aquí dos proposiciones tan repetidas como equívocas y equivocadas. En la economía, como en la religión, las herejías más insidiosas son las que más se asemejan a la ortodoxia. […] La relación entre competitividad y productividad es más resbaladiza. (País, 25.03.2007, Competitividad, productividad y déficit exterior)364 176. Centrar el foco de atención en el reparto es engañar a los españoles (Mundo, 29.11.2015, El PSOE es como podemos)365
362
Dt. Seit Beginn der Krise hören wir, dass der Platz unseres Landes in der Rangliste der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit weit von der Spitze der Europäischen Union entfernt ist. Diese Behauptung kommt sehr gut in der Politik an, die das Ansehen verliert, wenn ein Land ohnehin bereits geschwächt ist. Sie ist dennoch eine authentische Lüge, wenn man die multinationalen Firmen in verschiedenen EULändern vergleicht. Diejenigen von uns, die in den Unternehmen gearbeitet haben, wissen, welches die Position der spanischen Unternehmen ist.
363
Es ist hinzuzufügen, dass es sich bei diesem Beispiel um einen Leserbrief handelt, der von der Zeitung abgedruckt wurde. Der Autor kann sich in seiner Argumentation also nicht auf redaktionellen Rückhalt stützen, sondern wird mit seiner Aussage als Individuum wahrgenommen, dem vom Leser mehr oder weniger Glaubwürdigkeit zugesprochen wird.
364
Dt. Das hier sind zwei Aussagen, die so oft wiederholt werden wie sie falsch und irrtümlich sind. In der Wirtschaft, wie auch in der Religion, ist es der heimtückischste Unsinn, der dem Glauben/der Orthodoxie am meisten ähnelt. […] Das Verhältnis von Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität ist dabei am schlüpfrigsten.
365
Dt. Den Aufmerksamkeitsfokus auf die Verteilung zu lenken ist gleichbedeutend damit, die Spanier zu betrügen.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Die deutlichen Äußerungen und Bewertungen auf der Metaebene als „falsch und irrtümlich“, als „heimtückischster Unsinn“ und als Betrug an den Spaniern machen auf den agonalen Charakter des Konzeptes aufmerksam: Sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus finden sich deutliche Hinweise auf metasprachlicher Ebene, die auf die starken Auseinandersetzungen über das Konzept ›Produktivität‹ aufmerksam machen. Es lässt sich zusammenfassen, dass in beiden Korpora nicht die Ergründung und Beschreibung des Konzeptes PRODUKTIVITÄT im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen; stattdessen ist die Medienberichterstattung geprägt von der Diskussion und Auseinandersetzung verschiedener Akteure darüber, wie eine Produktivitätssteigerung im eigenen Land am effektivsten erreicht werden kann bzw. welche Ursachen für die geringe Produktivität im eigenen Land benannt werden können. Es konnte insbesondere gezeigt werden, dass agonale Positionen eingenommen werden (bspw. in der Gegenüberstellung von entgegengesetzten Teilbedeutungen), dass ein Ringen um Diskurshoheit zwischen Wirtschaft, Politik und mitunter Wissenschaft stattfindet und dass in der argumentativen Auseinandersetzung sprachliche Meta-Strategien der Personalisierung und der Emotionalisierung (insbesondere im spanischen Korpus) angewandt werden. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Debatte um das Konzept ›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹ weisen darauf hin, dass es sich um ein Konzept handelt, dass auf Datenbasis für den Laien schwer zugänglich ist. Der Diskurs der Pressetexte weist demzufolge eine große Varianz an Positionen auf, die von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen ins Feld geführt werden.
Konzeptsynthese Produktivität in Spanien und die Faktoren, die diese beeinflussen; die Produktivität muss vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise gesteigert werden.
Konzeptsynthese
Faktoren, die die Produktivität in Deutschland beeinflussen; die Ursachen für die Steigerung und den Rückgang der Produktivität in Deutschland werden unterschiedlich benannt und bewertet.
ARBEITSZEIT - Es ist unklar, ob kürzere Arbeitszeiten zu einer höheren oder niedrigeren Produktivität führen. Die Arbeitszeiten werden mit denen anderer Länder verglichen.
Sprachliche Verknüpfungen
FLEXIBILISIERUNG - Maßnahmen der Flexibilisierung fördern die Produktivität (wie auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie).
PRESENTISMO - Die lange, unproduktive Anwesenheit am Arbeitsplatz muss verhindert werden, da sie der Produktivität im Wege steht.
ARBEITSZEIT - Es wird davon ausgegangen, dass kürzere Arbeitszeiten zu einer höheren Produktivität führen.
KRISE - Spanien ist als Land von der Wirtschaftskrise betroffen. Die Produktivität Spaniens wurde und wird dadurch beeinflusst und muss verbessert werden, um einen Weg aus der Krise zu finden.
Sprachliche Verknüpfungen
Die Kernbedeutungen der beiden Konzepte ähneln sich; in den beiden Korpora werden jedoch unterschiedliche Verknüpfungen hergestellt. Im spanischen Korpus wird der Einfluss der Krise betont. Die Bewertung der Konzepte unterscheidet sich inhaltlich; die sprachliche Struktur der Konzeptbewertung ist ähnlich: In beiden Korpora werden Metaphern aus bestimmten Referenzbereichen verwendet. In beiden Kontexten wird ein fachspezifisches Konzept der (Wirtschafts-)Wissenschaft in Medientexten vermittelt. Dabei werden ähnliche sprachliche Strategien angewandt: Metaphorisierung, Personalisierung, Emotionalisierung.
›productividad en España y factores determinantes‹
›Ursachen der Produktivitätssteigerung und des Produktivitätsrückgangs in Deutschland‹
Tabelle 30: Vergleich PRODUKTIVITÄT
232 5 Analyse der Korpora
FEIERTAGE UND BRÜCKENTAGE - Deutschland hat viele Feier- und Brückentage. Diese beeinträchtigen die Produktivität.
- Konflikte zwischen Mitarbeitern (und Unternehmen) hemmen die Produktivität.
MITARBEITER - Ältere Arbeitnehmer sind weniger produktiv.
HOMEOFFICE - Homeoffice kann die Produktivität steigern.
TECHNISCHER FORTSCHRITT UND QUALITÄT - Produktivität ist abhängig von technischem Fortschritt und der Qualität der Produkte. Hier ist Deutschland führend.
- Das Verhältnis von Produktivität und Arbeitslohn zeigt sich in den Lohnstückkosten. Es ist umstritten, ob diese in Deutschland niedrig genug sind.
LÖHNE - Es ist umstritten, ob die Löhne in Deutschland angemessen hoch sind oder nicht. Die Löhne werden mit denen anderer Länder verglichen.
- Es gab in den letzten zehn Jahren keine durch Entwicklungen in der Bildungspolitik erklärbaren Zuwächse der Produktivität.
≠
BILDUNG - Die Ausbildung in Deutschland ist gut. Dies wirkt sich positiv auf die Produktivität aus.
BILDUNG - Die Produktivität in Spanien ist niedrig, weil das Bildungssystem in Spanien mangelhaft ist.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
233
Positionen widersprechen. Etabliertes Wissen (Studien, Rankings) wird in Frage gestellt. Die Wortwahl wertet mitunter stark emotional.
Kulturspezifik Die Konzepte unterscheiden sich insbesondere durch die Konzeptverknüpfungen und -bewertungen. Im spanischen Korpus wird die Produktivität Spaniens als problematisch beurteilt, der Einfluss der Wirtschaftskrise betont und die Vorbildfunktion anderer Länder in den Mittelpunkt gerückt. Die Produktivität Deutschlands wird im deutschen Korpus neutraler konzeptualisiert. Auf sprachstruktureller Ebene lassen sich ähnliche sprachliche Strategien feststellen – insbesondere in der Metaphorisierung der Konzepte, die der Vermittlung der komplexen Wirtschaftsinhalte dient. Die stärkere Emotionalisierung unterscheidet das spanische Korpus vom deutschen Korpus.
- Metaphern aus den Referenzbereichen WACHSTUM und RÜCKGANG bewerten das Konzept positiv oder negativ.
sprechen (Wirtschaftsunternehmen, (Wirtschafts-)Wissenschaftler, Politiker und Gewerkschaften), dass sich Standpunkte ändern und dass Gesagtes nicht umgesetzt wird.
- Es wird auf der Metaebene thematisiert, dass sich Akteure und
- Die Produktivität in Spanien wird mehrheitlich als zu gering bewertet. In der Differenzierung der Aussage besteht Uneinigkeit. Einige Regionen Spaniens sind wirtschaftsstärker als andere.
- Deutschland wird mehrheitlich als produktives Land beschrieben. Die Produktivität muss weiter wachsen, um mit bestimmten Ländern mithalten zu können.
- Auf der Metaebene wird thematisiert, dass sich Akteure und Positionen wider-
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
234 5 Analyse der Korpora
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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5.2.3.6 Konzeptueller Zugriff FREIZEIT 5.2.3.6.1 Deutsches Konzept ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ Das Konzept manifestiert sich im deutschen Korpus vor allem in dem Ausdruck „Freizeit“, der sich 5.639 Mal in den deutschen Medientexten findet. Die Belege wurden zunächst mit computergestützten Verfahren betrachtet und anschließend in Auswahl einer qualitativ-hermeneutischen Analyse unterzogen. Sprachliche Konstituierung Der Ausdruck, der am häufigsten verwendet wird, um auf das Konzept ›Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ hinzuweisen, ist „Freizeit“. Mit dem Ausdruck wird klassischerweise die „Zeit ohne Erwerbsarbeit“ (taz, 17.06.2004, Männer besser als ihr Ruf) bezeichnet, also die Zeit nach Feierabend, am Wochenende,366 an Feiertagen oder an Urlaubstagen. Seltener wird das Verständnis von Freizeit genauer definiert, beispielsweise als „Zeit, die nach Abzug von Arbeit, Weg dorthin, Schlafen und Tätigkeiten wie Waschen und Essen übrig“ bleibt (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit). Andere Belege beschreiben Freizeit als „unstrukturierte Zeit“ (SZ, 26.01.2008, Peter Raue über Mut), als Zeit der „Zweckfreiheit und Individualität“ (taz, 11.06.2004, Antilibidinöse Ökonomie) oder als Zeit, in der man nicht erreichbar ist (Spiegel, 19.07.2010, Leben im Stand-by-Modus). Konzeptuelle Verknüpfungen Freizeit und Arbeit – ein Abhängigkeitsverhältnis Dem Konzept ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ ist die Verknüpfung zum Konzept ›Arbeit‹ inhärent. Von der Anzahl und der Verteilung der Arbeitsstunden, der Quantität also, hängt ab, wie viel Freizeit zur Verfügung steht und wann diese verbracht werden kann. Daneben bedingt aber auch die Qualität der Arbeit, wie die Freizeit verbracht wird – ob beispielsweise ein Entspannen und Abschalten möglich ist und mit welchen Tätigkeiten die zur Verfügung stehende Zeit gefüllt wird. Das quantitative Abhängigkeitsverhältnis zeigt sich zum Beispiel in folgendem Beleg: 177. Einen Freizeitausgleich für die Mehrarbeit gab es nicht. (Welt, 02.02.2008, Zu viele Überstunden?) 366
Dieses klassische Verständnis wird nur in Sonderfällen in Frage gestellt oder überhaupt thematisiert, bspw. in juristischen Prozessen: „Der Richter begründet dies damit, dass der Sonnabend – wenn auch kein Feiertag im herkömmlichen Sinne – für die Mehrheit der Bevölkerung zumindest ein arbeitsfreier Tag sei. Er werde der Freizeit und Erholung gewidmet, also ins Wochenende einbezogen. Damit diene er ‚nach dem überwiegenden Verständnis der Bevölkerung nicht zur Vornahme rechtsgeschäftlicher Handlungen oder deren Vorbereitung‘. An diesem Tag sei es auch nicht möglich, Rechtsrat einzuholen, weil die Kanzleien geschlossen hätten. Also: Der Samstag gilt faktisch als Ruhetag, nicht als Werktag.“ (taz, 29.10.2005, Der Samstag ist ein Werktag).
236
5 Analyse der Korpora
Arbeit und Freizeit sind über die Arbeitszeit miteinander verknüpft: Dabei gilt, dass Mehrarbeit in Form von Überstunden durch einen Freizeitausgleich beglichen werden kann, und, so wird häufig ergänzt, auch sollte. Die Veränderung der Arbeitszeiten und damit auch die Veränderung der Freizeit fordere eine andere Organisation. Dabei geht es nicht unbedingt darum, dass sich die Arbeitszeiten verlängert haben, sondern dass sie flexibler geworden sind. Dieser flexiblere Umgang mit der Zeit, in der gearbeitet wird, und dem Ort, von dem aus gearbeitet wird, verändert das Abhängigkeitsverhältnis von Beruf und Freizeit: 178. Arbeitskräfte wissen, wie schwer es ist, im Alltag die Grenzen von Arbeit und Freizeit genau zu ziehen. Arbeit, das war früher die Zeit zwischen 9 und 17 Uhr. Die Zeit danach war Freizeit. Freie Zeit. Wer als digitaler Nomade mit Laptop-Tasche unterwegs ist, hat nur in der Wahrnehmung seiner Kollegen den ganzen Tag Freizeit. Er selbst dagegen hat meistens das Gefühl, 14 Stunden am Tag zu arbeiten. Und der Eindruck ist oft gar nicht so falsch. Bei permanenter Verfügbarkeit wird Arbeitszeit zu einer Frage der Eigenverantwortung. (SZ, 26.07.2011, Mobiles Einsatzkommando)367 Hier wird darauf hingewiesen, dass das Definieren von Arbeitszeit und Freizeit und damit das Festlegen eines bestimmten Zeitraumes als Freizeit schwieriger ist, wenn die Grenzen unschärfer werden. Besonders in bestimmten Berufsgruppen der Kreativbranche und der IT-Branche ist die Grenzziehung problematisch.368 Die Abhängigkeit von Freizeit und Arbeit zeigt sich auch in dem Extremfall der Arbeitslosigkeit. Obwohl zunächst vermutet werden könnte, dass sich die Freizeit erhöht, wird im folgenden Beleg die gegenteilige Wahrnehmung geschildert: 179. Tatsächlich habe ich viel Zeit zur freien Verfügung. Das ist aber etwas anders als Freizeit. Kurze Zeit nachdem ich arbeitslos wurde, habe ich diese viele freie Zeit vor allem als leere Zeit empfunden. Das fühlte sich nicht gut an […] Weil das Gegenüber zu Freizeit Arbeit heißt. Freizeit hat man also nur, wenn man auch Arbeit hat? […] Ja, so ist es wohl. Ich habe mir, nachdem ich arbeitslos wurde, Jobs im ehrenamtlichen Bereich gesucht. (taz, 31.12.2015, Arbeit muss wertvoll sein) Im Interview wird differenziert zwischen „freier Zeit“ und „Freizeit“: Obwohl sich die freie Zeit durch den Verlust des Arbeitsplatzes erhöht, geht damit keine Erhöhung der Freizeit einher. Wenn das Gegenüber der Freizeit – die Arbeit – wegfällt, wird die übrige Zeit nicht mehr als verdiente Freizeit wahrgenommen, in der nicht mehr gearbeitet werden darf. 367
Vgl. auch Welt, 21.10.2006, „Den Schalter umlegen. Für immer mehr Angestellte gehören Schichtdienst und Wochenendarbeit zum Alltag. Klare Absprachen und Rituale helfen bei der Organisation von Alltag und Freizeit“.
368
Vgl. die Analyse der gruppenspezifischen Privilegien und Nachteile in Kapitel 5.4.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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Freizeit und Stress I Stress bei der Arbeit und zu wenig Freizeit Im Kontext des Konzeptes ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ wird auf den Faktor Stress hingewiesen. Stress kann durch zu hohe Anforderungen im Beruf entstehen, die sich auch auf die Freizeit auswirken. 180. „Viel Stress. Wenig Freizeit. Kaum Zeit für mich und meine Lieben.“ Geschweige denn für einen Hund. Familienpläne sieht die Agenda nicht vor. (SZ, 14.02.2004, Die Gipfelstürmerin) 181. Korrigieren am Küchentisch. Studie der Arbeitsmedizin: LehrerInnen sind burnout-gefährdet, allerdings nicht so stark wie ÄrztInnen. Problem: Fehlende Trennung von Arbeit und Freizeit (taz, 26.11.2002, = Titel) Die Trennung von Beruf und Freizeit wird als schwierige Herausforderung beschrieben. Die Berufsgruppen, in denen sich der Stress am Arbeitsplatz auf die Freizeit und das Privatleben auswirkt, sind unter anderem LehrerInnen, ÄrztInnen und Führungskräfte der Medienindustrie (in Beleg 180 bspw. die ehemalige Geschäftsführerin des Senders MTV).369 II Freizeitstress Es besteht des Weiteren eine zweite Verknüpfung zwischen dem Konzept ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ und dem Faktor Stress, die sich in dem Kompositum „Freizeitstress“ herauskristallisiert. 182. Der Durchschnittsdeutsche geht 27 verschiedenen Freizeittätigkeiten in der Woche an [sic]. Im Vergleich zu 2007 sind damit wieder zwei Aktivitäten hinzugekommen. In dieser Fülle sieht Reinhardt eine mögliche Ursache für den Freizeit-Stress, den offensichtlich viele haben. „Wenn im Durchschnitt 27 Aktivitäten ausgeübt werden, überrascht die Klage über Freizeitmangel kaum.“ Der hohe Anspruch an die Freizeit lässt dann ein umso größeres Bedürfnis nach Ruhe und Innehalten entstehen. (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit) Bei dem Ausdruck „Freizeitstress“ handelt es sich um einen Neologismus der 90er Jahre, der dem Zukunftsforscher Horst Opaschowski zugeschrieben wird.370 Es wird 369
In Kapitel 5.4 gehe ich vertiefend auf einige gruppenspezifische Aspekte ein.
370
So bspw. in einem Interview der Süddeutschen Zeitung: „SZ: Sie haben das Wort vom ‚Freizeitstress‘ geprägt und in den Neunziger Jahren den Trend beschrieben, dass Deutsche nach der Arbeit Abenteuer und Freiheit suchen. Ist das noch so?“ (SZ, 23.09.2011, Reden wir über Geld mit Horst Opaschowski). Im Korpus der vorliegenden Arbeit kommt der Ausdruck „Freizeitstress“ zum ersten Mal in dem Artikel „Urlauben wir unerlaubt?“ (taz, 21.06.2005) vor.
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5 Analyse der Korpora
beschrieben, dass viele verschiedene Aktivitäten in die Freizeit gedrängt werden und dass die Freizeit wie bereits die Arbeitszeit mit wechselnden Aufgaben verplant wird. 183. Die Fitness-App mahnt die nächsten 100 Liegestützen Training an, der Hund will dringend Gassi, dann muss man sich entscheiden zwischen Bergtour, Schwimmbad und Rennrad – und diese Dings wollte man eigentlich auch schon lange mal wieder anrufen. Es gibt so verflucht viel zu tun außerhalb der Arbeitszeit, dass schnell Freizeitstress ausbricht. (SZ, 30.06.2015, Glotzen und Gammeln) 184. Die Geschäftsführerin des Münchner Beratungsunternehmens EQ Dynamics International beobachtet bei Bekannten und Geschäftspartnern immer wieder, dass diese ihre freie Zeit wie Arbeitszeit verplanen. Ein Termin jagt den anderen: Nach dem Kaffeetrinken bei den Eltern geht’s noch schnell mit Freunden ins Theater. Außerdem muss auf dem Speicher Ordnung geschaffen und das neue Computerprogramm installiert werden. So bleibt auch in der Freizeit keine „freie Zeit“. (Welt, 03.01.2009, 2009 wird alles anders!) Dieser Umgang mit Freizeit wird mitunter als Konsequenz der Ökonomisierung des Alltags bewertet, in dem der Mensch seine Aktivitäten nach dem größten „Nutzen“ ausrichtet: 185. Nicht mal mehr unsere Freizeit sei freie Zeit, sondern eine, die der moderne Uhr-Mensch minutiös plane, in der er alle Tätigkeiten nach ihrem Nutzwert unterteile. Innehalten oder Trödeln seien fast schon frivole Aktivitäten, für die es sich zu rechtfertigen gelte. (Spiegel, 01.09.2014, Der Uhr-Mensch) Diese Verknüpfung scheint spezifisch für das deutsche Untersuchungskorpus zu sein. Freizeit und Freizeitgestaltung/Hobbys Im deutschen Medientextkorpus fallen die Belege auf, in denen thematisiert wird, welcher Beschäftigung am liebsten in der Freizeit nachgegangen wird. Die verbreitete Frage Was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten? ist beispielsweise eine der 22 Fragen, die in der Reihe „22 Fragen an […]“ (Die Welt) prominenten Personen gestellt werden. Die Antworten lassen sich dabei in verschiedene Kategorien einteilen, für jede Kategorie wird im Folgenden ein beispielhafter Beleg zitiert.
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Kategorie
Beispiele
Beleg als Antwort auf die Frage Was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten?
Sport
Joggen, Tennis, Wandern, Radfahren
Drei Dinge: Joggen um die Außenalster, Tennis spielen und fernsehen, insbesondere Fußball und gute Spielfilme. (Welt, 13.01.2006, 22 Fragen an Dirk Fischer)
Entspannung
Lesen, Spazierengehen, Schlafen, Kaffee trinken, Fernsehen, Musikhören
Ausspannen, ein gutes Buch lesen und ohne Zeitdruck mit meiner Freundin frühstücken. (Welt, 01.07.2005, 22 Fragen an Dietmar Beiersdorfer)
Essen
Essen, Kochen (für andere), Wein trinken, Kaffee trinken
Ich bekoche die Menschen in meiner Umgebung. Alle, die es wollen und die es nicht wollen. (Welt, 30.04.2007, 22 Fragen an Jürgen Klimke)
Soziale Kontakte/ Zeit mit jmd. verbringen
Zeit mit jmd. verbringen: Familie, Kinder, Frau, Freunde
Zeit mit meiner Familie verbringen. (Welt, 10.11.2008, 22 Fragen an Thomas Collien)
Draußen und Natur
Garten, Spazierengehen, Wetter genießen
Alles, so lange es draußen stattfindet. (Welt, 18.11.2005, 22 Fragen an Matthias Böge)
Musik machen, Fotografieren, Uhren reparieren
Musik mit meiner Band. (Welt, 08.09.2006, Axel Ludwig)
Kreative/Handwerkliche Tätigkeiten
Bei Sonne: Rad fahren, bei Regen: CDs hören, wetterunabhängig: Freunde treffen. (Welt, 28.05.2004, 22 Fragen an Roger Kusch)
Tabelle 31: Konzeptuelle Verknüpfungen FREIZEIT
Die Kategorien schließen die am häufigsten genannten Beschäftigungen ein. Einige werden dabei jedoch deutlich seltener genannt (Kreatives/Handwerkliches) als andere (Sport, Essen). Es fällt auf, dass die Wetter- und Jahreszeitenabhängigkeit der Tätigkeiten in verschiedenen Kategorien betont wird. Interessant ist, dass das Hobby fernsehen kaum genannt wird – und wenn überhaupt, dann genauer definiert als Fußball oder Spielfilme
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5 Analyse der Korpora
schauen –, obwohl es sich verschiedenen Studien zufolge um das häufigste Hobby der Deutschen handelt (siehe Verknüpfung Freizeit und Deutschland). Die Tätigkeiten während der Freizeit werden mitunter dazu genutzt, die Interessengebiete des Berufs weiterzuverfolgen (wie bei dem Dirigenten Rolf Beck, der als liebste Beschäftigung in der Freizeit „Partituren studieren“ angibt, vgl. Welt, 12.08.2005, 22 Fragen an Rolf Beck); häufiger allerdings werden Tätigkeiten gewählt, die sich von denen des Berufs deutlich unterscheiden: entweder als Abgrenzung von Beruf und Freizeit (Beleg 186) oder auch als Verlagerung der Interessengebiete, wenn diese im Beruf nicht realisiert werden können (Beleg 187): 186. Wir sollten uns mehr Zeit nehmen, um neben der Arbeit auch Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Wir sollten uns ein Hobby zulegen, meint unser Autor – er hat darüber ein Buch geschrieben […] Es geht um Antworten auf eine elementare Frage unserer spätmodernen Zeit, der nach der – schlimmes Wort, aber wichtiger Gedanke – Work-Life-Balance: Wie schaffen wir es, unser Leben so einzurichten, dass es nicht von der Arbeit dominiert wird, auch die Freizeit zu ihrem Recht kommt? (taz, 20.08.2014, Rettet das Hobby!) 187. 1964 schrieb die Wissenschaftlerin Liselotte Moser in ihrer Doktorarbeit über die Zusammenhänge zwischen Beruf und Hobby: „Ein nicht realisierter, echter Berufswunsch wird oft kompensiert durch ein mit diesem Berufswunsch verwandtes Hobby.“ Über eines ihrer Fallbeispiele, eine junge Medizinstudentin, die lieber Bildhauerin geworden wäre, aber die Kunst nun als Hobby ausübt, schreibt sie: „Ihr bevorzugtes Hobby wirkt gegen die gereizte Stimmung so sicher wie ein gutes Beruhigungsmittel gegen Nervosität.“ (SZ, 28.01.2013, Wo ist das Hobby hin?) Eine weitere Kategorisierung, die beim Konzept ›Freizeit‹ relevant ist, ist die Einteilung in sinnhafte und nicht sinnhafte Freizeit. 188. Genau das ist der Unterschied zwischen Muße und Freizeit; Freizeit als arbeitsfreie Zeit bedeutet noch keineswegs, dass diese mit Sinn aufgeladen ist. Freizeit wird dann tatsächlich oft mit bloßem Konsum, zum Beispiel Fernsehen, gefüllt, ohne dass sich ein mit Arbeit analoger Sinn ergäbe. (taz, 07.07.2009, „Jetzt ist die Chance, umzudenken“) 189. Kurze Zeit nachdem ich arbeitslos wurde, habe ich diese viele freie Zeit vor allem als leere Zeit empfunden. Das fühlte sich nicht gut an. Ich habe mir dann schnell Dinge gesucht, wo ich mich engagieren kann, die sich sinnvoll anfühlen. […] Ich habe mir, nachdem ich arbeitslos wurde, Jobs im ehrenamtlichen Bereich gesucht. Ich begleite Flüchtlinge im Alltag und zu Behördenterminen. Einmal im Monat schreibe ich nun Filmrezensionen für eine linke Webseite, marx21.de.
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Dafür bekomme ich kein Geld, aber ich kann kostenlos ins Kino gehen. Das ist meine Arbeit. (taz, 31.12.2015, Arbeit muss wertvoll sein) Freizeit wird also auch hier mit denselben Richtwerten gemessen wie Arbeit: Zuvor ging es um das straffe Aneinanderreihen verschiedener Freizeitaktivitäten, das im „Freizeitstress“ enden kann; in den hier zitierten Belegen wird beschrieben, dass die Freizeit mit sinnhaften Tätigkeiten verbracht wird, wie der Arbeit mit Flüchtlingen. Zugleich wird wiederum der Vergleich mit dem Beruf eingefügt, der Sinn haben kann und der durch die Bezahlung auch eine Wertschätzung erhält. Dem Konzept ›Freizeit‹ werden also verschiedene Funktionen zugeordnet: I. Freizeit als Zeit, in der Tätigkeiten nachgegangen wird, die sich von den beruflichen Tätigkeiten unterscheiden (Zweiteilung in Beruf und Freizeit) - als bewusste Abgrenzung von Beruf und Freizeit mit dem Ziel der Entspannung. - als Verlagerung der Interessengebiete vom Beruf in die Freizeit. II. Freizeit als individuelle Zeit - in der Beschäftigungen nachgegangen wird, die Menschen prägen. - in der Beschäftigungen nachgegangen wird, die Sinn stiften, weil sie anderen helfen. Freizeit und Deutschland In der Medienberichterstattung wird betont, dass deutsche Arbeitnehmer über viel Freizeit verfügen und im europäischen Vergleich der täglichen, wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit günstig abschneiden: 190. Freizeitmeister Deutschland. EU-Studie: Nirgendwo in Europa haben Arbeitnehmer mehr Urlaub (Welt, 27.07.2011, = Titel) 191. Welt: Die Diskussion um früheren Berufsbeginn, späteren Renteneintritt, weniger Urlaubs- und Feiertage ist voll entbrannt – nimmt Deutschland Abschied von der Freizeitgesellschaft? Ulrich Reinhardt: Fakt ist: Im internationalen Vergleich steht der deutsche Arbeitnehmer mit durchschnittlich 38,4 Wochenarbeitsstunden – im europäischen Durchschnitt sind es 42 – und 31 Urlaubstagen – im EuropaSchnitt 28 – sehr günstig da. (Welt, 20.06.2003, „Viele Menschen wollen mehr arbeiten und mehr verdienen“) 192. Der Deutsche hat vier Stunden täglich Freizeit – und nutzt sie mit Fernsehen, Kaffeetrinken und „Gedanken nachgehen“ [Lead] (SZ, 30.06.2015, Glotzen und Gammeln)
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5 Analyse der Korpora
Mitunter wird Deutschland als „Freizeitmeister“ und die deutsche Gesellschaft als „Freizeitgesellschaft“ bezeichnet, wobei der zweite Ausdruck insbesondere als Gegenstück zur „Arbeitsgesellschaft“371 entstanden ist. Die Studie Freizeitmonitor, die in Artikeln des Korpus angeführt wird, weist darauf hin, dass die Deutschen in dieser freien Zeit am häufigsten der Beschäftigung des Fernsehens nachgehen und dass sich an dieser „Lieblingsbeschäftigung der Deutschen […] trotz gesellschaftlicher Umwälzungen seit 25 Jahren nichts geändert“ hat (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit).372 Neben der Nutzung des Fernsehers hat vor allem die Nutzung des Internets in den letzten Jahren zugenommen, obwohl diese innerhalb der deutschen Gesellschaft variiert. Insgesamt nehmen die elektronischen Medien eine zentrale Stellung in der Freizeit der Deutschen ein: 193. Seit der letzten Erhebung im Jahr 2007 hat vor allem die Computer- und Internetnutzung zugelegt. […] Allerdings gibt es bei der Online-Nutzung erhebliche Unterschiede. Zum einen ist sie bei den Jüngeren längst Alltag, zum anderen aber auch eine Frage der formalen Bildung. 71 Prozent der Deutschen, die mindestens Abitur haben, gehen in ihrer Freizeit regelmäßig ins Internet. Bei Menschen mit Hauptschulabschluss sind es nur 32 Prozent. (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit) 194. Offensichtlich sind den Deutschen also zwischenmenschliche Aktivitäten wichtiger als die Nutzung elektronischer Medien. Doch die Antwort auf die Frage, wie sie ihre Freizeit tatsächlich verbringen, ergibt ein ganz anderes Bild. Die häufigste Freizeitbeschäftigung ist nach wie vor das Fernsehen. (Welt, 28.08.2014, Freunde sind den Deutschen wichtiger als der eigene Partner. Studie zum Freizeitverhalten zeigt: Zwischen dem, was die Bundesbürger wollen, und dem, was sie tun, klafft eine Lücke) In Beleg 194 wird beschrieben, dass sich die Wünsche und die tatsächlichen Tätigkeiten in der Freizeit stark unterscheiden – obwohl die Deutschen formulieren, dass sie mehr Zeit mit Freunden, der Familie oder dem Partner verbringen möchten, ist die häufigste Form der Freizeitgestaltung die Nutzung elektronischer Medien, denn „[e]s ist eben einfacher, die Glotze anzuschalten“ (SZ, 30.06.2015, Glotzen und Gammeln).373 Im diachronen Vergleich werden daneben weitere Schlüsse gezogen, die der Umdeutung des Konzeptes ›Freizeit‹ zugeschrieben werden: 371
Die zwei Ausdrücke werden beispielsweise im Artikel „Suche nach Wurzeln. Philosoph Ludger Honnefelder über die Stärke der Religion und die Krise der Moderne“ (Welt, 01.11.2005) gegenübergestellt.
372
Vgl. auch den Artikel „Glotzen und Gammeln“ (SZ, 30.06.2015), in dem auf die Studie Freizeitmonitor 2011 und 2014 verwiesen wird.
373
In vereinzelten Belegen wird dennoch festgestellt, dass die Deutschen im Vergleich zu früher wieder „häufiger in die Kneipe gehen. 35 Prozent tun es mindestens einmal pro Monat. 2007 waren es nur 28 Prozent“ (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit). Dieser Beleg ist insbesondere im Vergleich mit dem spanischen Korpus interessant (vgl. Beleg 202).
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195. „Vieles, was früher als Freizeitaktivität galt, wird heute nicht mehr dazugezählt“, sagt Reinhardt. Dazu gehören der Besuch bei Verwandten oder „soziale Pflichten“. Mit anderen Worten: Es hat eine Umdeutung von Freizeit gegeben. Früher, bis in die 60er-Jahre hinein, wurde 48 Stunden die Woche gearbeitet, meistens an sechs Tagen. Der Jahresurlaub betrug neun Tage, die meisten Stunden nach dem Aufstehen und vor dem Zu-Bett-Gehen waren dem Broterwerb gewidmet. Die Frauen blieben meist zu Hause und hatten genug mit Putzen, Kochen und Kinder aufziehen zu tun. Um in den Genuss richtiger Mußestunden zu gelangen, musste die Produktivität steigen. Gewerkschaften rangen den Unternehmen viel für die Belegschaften ab. Erst seit den 70er-Jahren stellte sich so richtig die Frage nach Freizeitaktivitäten – auch als Geschäftsmodell. (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit) Es wird konstatiert, dass die Deutschen inzwischen über deutlich mehr Freizeit verfügen, dass sie aber viele der Aktivitäten, die in dieser Zeit stattfinden, nicht mehr als Freizeitaktivitäten auffassen. Zuletzt wird erneut auf den Aspekt der Ökonomisierung der Freizeit (vgl. Beleg 185) hingewiesen und darauf, dass sich ab den 70er Jahren die Freizeitindustrie entwickelte (bspw. Kinos, Freizeitparks). Diese neue Konzeptualisierung von Freizeit und die Gewöhnung daran, einen Zeitraum für sich zur Verfügung zu haben, der mit dem Ausdruck „Freizeit“ benannt wird, habe zugleich den Anspruch an die Freizeit steigen lassen. In dieser müssten nun zahlreiche Aktivitäten untergebracht werden, die im schlimmsten Fall in sogenannten „Freizeitstress“ münden. Bewertung des Konzeptes In der Konzeptualisierung von ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ scheint der Bewertungsaspekt weniger als bei anderen Konzepten im Mittelpunkt zu stehen. ›Freizeit‹ ist generell positiv konnotiert. Wenn negative Bewertungen geäußert werden, dann beziehen sie sich nicht auf das allgemeine Konstrukt ›Freizeit‹, sondern auf einzelne Teilbedeutungen wie: ‘Berufstätige Menschen hätten gerne mehr Zeit für Freunde, Familie und Partner’, ‘Stress im Job kann dazu führen, dass auch in der Freizeit keine Entspannung mehr möglich ist’ oder ‘Zu viele Aktivitäten während der Freizeit können zu Freizeitstress führen’. 196. Subjektiv klagen die Menschen: Mehr als jeder Dritte – 34 Prozent der Befragten – hätte gern mehr Zeit für sich. In den Familien sind es sogar 55 Prozent, die gern mehr Freizeit hätten. (Welt, 30.08.2011, Sehnsucht nach Freizeit) 197. Zeit, so heißt es, sei so viel wert wie Geld – mindestens – und genauso knapp. Horst Opaschowski vom Freizeit-Forschungsinstitut in Hamburg, verkündete in diesem Jahr das Ende des Jahrhunderts der Freizeit: „Arbeitnehmer klagen zunehmend über Zeitnot-Probleme, weil Arbeiten zu ungewöhn-
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5 Analyse der Korpora
lichen Zeiten die private und familiäre Planung erheblich erschweren.“ Besonders Samstags- und Sonntagsarbeit sowie Schicht- und Nachtarbeit führten zu Zeitproblemen. Auch Arbeitszeitverlängerungen und der Trend zur 40-StundenWoche raubten den Familien wertvolle freie Zeit. (taz, 11.12.2004, Verschenktes Ich) Beim Konzept ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹ kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein Konzept mit hohem Wert handelt. Zum einen ist das Konzept nicht Gegenstand allgemeiner Kritik. Zum anderen verbindet sich die Kritik, die mitunter an Teilbedeutungen des Konzeptes geäußert wird, mit dem Wunsch nach mehr Freizeit bzw. der Angst vor weniger Freizeit. Es handelt sich also um eine negative Bewertung, die sich ausschließlich auf die quantitative Veränderung eines Gutes bezieht, dessen genereller Wert nicht umstritten ist.
Metadiskursive Deutung Der Ausdruck „Freizeit“ bezeichnet allgemein die Zeit, in der nicht gearbeitet wird. Im Korpus wird angemerkt, dass bestimmte weitere Tätigkeiten ebenfalls von der Zeit, die als Freizeit verstanden wird, abgezogen werden müssen. Es wird auf eine diachrone Veränderung in der Auffassung von „Freizeit“ hingewiesen: Einige Tätigkeiten, die früher als Freizeit aufgefasst wurden, werden heute nicht mehr als Teil dieses Konzeptes aufgefasst. Im Korpus wird über das Konzept diskutiert. Es gibt Diskussionen darüber, was Freizeit ist und was sie sein sollte.
Befund
‘Freizeit ist die Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird. Zusätzlich muss die Zeit abgezogen werden, die mit dem Weg zur Arbeit, mit Schlafen oder mit Tätigkeiten wie Waschen oder Essen verbracht wird.’
‘Früher wurden Tätigkeiten wie das Besuchen von Verwandten oder soziale Pflichten als Freizeit aufgefasst. Heute ist dies mitunter nicht mehr so.’
A. ‘Freizeit ist unstrukturierte Zeit.’
Im Korpus wird eine Metaperspektive eingenommen: Das Konzept könne sich erst in Abgrenzung zu einem anderen Konzept konstituieren. Im Korpus wird festgestellt, wie viel Freizeit Menschen in Deutschland im Durchschnitt haben und wie sie diese Freizeit verbringen.
‘Freizeit definiert sich erst in Abgrenzung zur Arbeit. Ohne Arbeit ist die freie Zeit keine Freizeit.’
‘Berufstätige Menschen in Deutschland verfügen über sehr viel Freizeit und gehen in ihrer Freizeit sehr vielen unterschiedlichen Tätigkeiten nach:
C. ‘Freizeit ist die Zeit, in der man nicht erreichbar ist.’
B. ‘Freizeit ist zweckfreie, individuelle Zeit.’
Zeit ohne Erwerbsarbeit nach Feierabend, am Wochenende, an Feiertagen oder an Urlaubstagen
›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹
Kulturbeschreibung
Metaebene
diachrone Konzeptveränderung
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 32: Konzept ›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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a. um eine bewusste Abgrenzung von Beruf und Freizeit mit dem Ziel der Entspannung vorzunehmen.
‘In der Freizeit wird sozialem Engagement nachgegangen.’
b. um die Interessengebiete vom Beruf in die Freizeit zu verlagern.
In der Freizeit wird Tätigkeiten nachgegangen, die sich vom Beruf unterscheiden,
b. Die Ökonomisierung der Freizeit kann ebenfalls zu Stress führen.
a. Die Arbeitszeit wirkt sich quantitativ und qualitativ auf die Freizeit aus. Bestimmte Berufsgruppen werden exemplarisch genannt, um zu belegen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit schwierig sein kann.
Die Aussagen, womit Menschen die Freizeit verbringen möchten und womit sie sie tatsächlich verbringen, unterscheiden sich.
‘Die Freizeit wird mit Sport, Entspannung, kreativen/handwerklichen Tätigkeiten, Essen und sozialen Kontakten verbracht. Man wünscht sich, dabei draußen zu sein und schönes Wetter zu haben.’
b. Zu viele Aktivitäten während der Freizeit können zu Freizeitstress führen.’
Die flexible Einteilung der Arbeitszeit kann dazu führen, dass Freiberufler oder Selbstständige keine Freizeit mehr haben bzw. Schwierigkeiten damit haben, bestimmte Zeiträume als Freizeit zu definieren.
a. Stress im Job kann dazu führen, dass auch in der Freizeit keine Entspannung mehr möglich ist.
‘Arbeit und Freizeit können Stress verursachen:
Die Wünsche in Bezug auf die Freizeitgestaltung und die tatsächliche Freizeitgestaltung differieren.’
b. Menschen in Deutschland möchten mehr Sport treiben.
a. Menschen in Deutschland wünschen sich mehr Zeit für Freunde, Familie und Partner.
≠
Menschen in Deutschland verbringen ihre Freizeit mit Fernsehen und der Nutzung elektronischer Medien.
Individualität
Gruppenspezifik
Metaebene
246 5 Analyse der Korpora
‘Menschen möchten mehr Freizeit und möchten diese gut/sinnvoll verbringen.’
Freizeit ist ein hoher Wert in der Gesellschaft. Einzelne Teilbedeutungen können negativ konnotiert sein; dabei handelt es sich allerdings um Teilbedeutungen wie die Verkürzung oder die schlechte Gestaltung der Freizeit (quantitativ und qualitativ). Das Gesamtkonzept ist dennoch immer positiv besetzt.
Die Auswahl der Freizeitaktivitäten (etwa individuelle oder sinnstiftende Beschäftigungen) ist integraler Bestandteil der Selbstdefinition und des Selbstbildes eines Menschen. Die Frage nach der favorisierten Freizeitbeschäftigung ist deshalb eine beliebte Interviewkategorie. Etablierung als Hochwertkonzept
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
247
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5 Analyse der Korpora
5.2.3.6.2 Spanisches Konzept ›ocio: tiempo fuera del trabajo‹ (dt. Freizeit: Zeit außerhalb der Arbeit) Das spanische Konzept ›ocio: tiempo fuera del trabajo‹ wurde im Korpus vor allem über die Ausdrücke „ocio“ (9.358 Treffer) und „tiempo libre“ (1.191 Treffer) erschlossen. Da beide Suchanfragen sehr viele Treffer ergeben, wurden relevante Belege berücksichtigt, die über computergestützte Analyseverfahren ermittelt und anschließend qualitativ betrachtet wurden. Sprachliche Konstituierung Das spanische Konzept ›ocio: tiempo fuera del trabajo‹ bezeichnet die Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird und die mit den Ausdrücken „ocio“ (dt. Freizeit) oder „tiempo libre“ (dt. freie Zeit) gefasst werden kann. Dazu gehört die Zeit vor und nach der täglichen Erwerbsarbeit, am Wochenende und während des Urlaubs. An einigen wenigen Stellen des Korpus wird thematisiert, dass die Definition des Konzeptes ›ocio‹ nicht immer eindeutig ist, wenn beispielsweise darauf verwiesen wird, dass Frauen tendenziell über weniger Freizeit verfügen, da die Arbeit im Haushalt oft fälschlicherweise als Freizeit verstanden werde. Der Ausdruck „ocio“ weist weitere Bedeutungsnuancen auf, die nicht mit dem deutschen Ausdruck „Freizeit“ gleichgesetzt werden können: So finden sich im Spanischen Fügungen wie „ocio nocturno“, was im Deutschen mit „nächtlichem Ausgehen/Vergnügen“ ausgedrückt werden würde,374 oder der Buchtitel „La teoría de la clase ociosa“ des US-amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen, der im Englischen mit „The Theory of the Leisure Class“ (1899) ähnlich lautet, im Deutschen allerdings als „Die Theorie der feinen Leute“ übersetzt wurde. Konzeptuelle Verknüpfungen Freizeit und Zeit I Zeitraum, der für die Freizeit zur Verfügung steht In vielen Belegen des spanischen Korpus wird diskutiert, wie viel Zeit für die Freizeit zur Verfügung steht, wobei sich die Einschätzungen deutlich unterscheiden: Es wird zum einen kritisiert, dass die Einteilung 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Schlaf, 8 Stunden Freizeit, die besonders prominent von Ignacio Buqueras, dem Wortführer der Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles, vertreten wird, nicht der Realität entspreche: 198. Nadie que trabaje en lo que se entiende como trabajar trabaja sólo ocho horas. ¿Ocho horas de ocio? ¡Vamos, anda! (Mundo, 04.12.2015, Vida y trabajo)375 374
Eine Übersetzung mit „nächtliche Freizeit“ wäre in einigen Kontexten möglich, scheint im Deutschen allerdings wenig idiomatisch.
375
Dt. Niemand, der einer Arbeit nachgeht, die man auch als Arbeit bezeichnen kann, arbeitet nur acht
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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199. Ocho horas de trabajo, ocho horas de ocio, ocho horas de descanso. ¿Hay alguien que se crea esta falacia? Se olvidaron de contar las horas extra en las que te tienes que quedar en el trabajo para acabar las tareas y que no se molesten los compañeros, los jefes, los clientes o el dueño. Se olvidaron de contar el tiempo en que se tarda en llegar al trabajo: los atascos, los transbordos en el metro, los retrasos del autobús. No solo se invierten las ocho horas al día; las 40 horas a la semana son, además, las horas extra, las horas de transporte, el llegar muy puntual. (País, 12.04.2015, Horas de trabajo)376 377 In Beleg 198 und 199 wird argumentiert, dass kaum ein Arbeitnehmer nur acht Stunden am Arbeitsplatz verbringe und dass der Weg zur Arbeit, der von Staus und Verspätungen begleitet ist, die verbleibende Zeit weiter einschränke. Diesen Einschätzungen widersprechen andere Artikel im Medienkorpus, in denen angeführt wird, dass die freie Zeit von einigen Gesellschaftsgruppen – bspw. von jungen Berufseinsteigern – in Spanien nur von Deutschland und Italien übertroffen werde.378 Im spanischen Korpus wird nicht eindeutig dargestellt, wie viel Zeit zur freien Verfügung steht. II Frauen haben weniger Zeit zur freien Verfügung als Männer Im spanischen Korpus wird darauf hingewiesen, dass Frauen im Allgemeinen weniger freie Zeit zur Verfügung stehe als Männern. Dies wird darauf zurückgeführt, dass Frauen mehr Haushaltsaufgaben übernehmen, die zwar in einen Zeitraum außerhalb der beruflichen Tätigkeit fallen, die aber dennoch nicht als Freizeit zu bewerten sind: 200. Los eruditos del Kinsey han llegado a la conclusión de que antes la inmensa mayoría de las señoras eran amas de casa que tenían un tiempo libre que ocupar […], pero ahora, sin embargo, no solo trabajan como sus compañeros, sino que además cuidan de los niños y de la casa. (Mundo, 21.01.2003, La cama matrimonial, cada vez más fría)379 Stunden. Acht Stunden Freizeit? Ach komm, so ein Quatsch! 376
Dt. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf. Gibt es jemanden, der an diesen Betrug glaubt? Sie haben vergessen, die Extra-Stunden zu zählen, die du bei der Arbeit bleiben musst, um die Aufgaben fertigzustellen und damit sich weder die Kollegen, die Chefs, die Kunden noch die Eigentümer beklagen. Sie haben vergessen, die Zeit dazuzuzählen, die man benötigt, um zur Arbeit zu kommen: die Staus, das Umsteigen in der Metro, die Verspätungen der Busse. Man investiert nicht nur die acht Arbeitsstunden am Tag; zu den vierzig Stunden in der Woche muss man auch die Extra-Stunden zählen, die Pendelzeiten, das pünktliche Ankommen bei der Arbeit.
377
Bei diesem Beleg handelt es sich um einen Leserbrief.
378
Vgl. País, 28.05.2009, „Ellas se divierten menos“. Im Artikel wird die Gruppe der jungen Menschen zwischen 15 und 24 angesprochen. Der Artikel beschreibt nicht, ob junge arbeitslose Menschen in der Zählung Berücksichtigung finden.
379
Dt. Die Experten von Kinsey sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die große Mehrheit der Frauen zuvor Hausfrauen waren, die etwas Freizeit auszufüllen hatten […], die aber jetzt nicht nur wie ihre Kollegen arbeiten, sondern die sich darüber hinaus um die Kinder und das Haus kümmern.
250
5 Analyse der Korpora
201. Igualdad en el trabajo doméstico. Solo dos de cada 10 hombres limpian la casa ¿Tiempo de ocio para limpiar la casa? ¿para hacer la cama? ¿para poner la lavadora? Demasiadas veces sí cuando responde una mujer. Porque ocho de cada 10 asumen que esas horas que deberían dedicar a su disfrute pasaran sin pena ni gloria absobidas por la aspiradora o diluidas entre el vapor de la plancha. ¿Y ellos? Tan tranquilos, sin angustia alguna: solo el 18% de los hombres se plantea trabajar en casa además de en la oficina. (Mundo, 02.04.2003, Igualdad. Solo dos de cada 10 hombres limpian la casa)380 Die Eingliederung der Frau in den Arbeitsmarkt habe stattgefunden, aber damit sei nicht die Übernahme von Haushaltsaufgaben durch den Mann einhergegangen, weshalb nun ein Ungleichgewicht zwischen der Zeit bestehe, die Frauen und die Männern zur freien Gestaltung zur Verfügung stehe. Freizeit und Freizeitgestaltung: Veränderungen durch die Wirtschaftskrise Der Artikel „Ellas se divierten menos”381 (País, 28.05.2009), in dem die Freizeitgestaltung verschiedener Länder verglichen wird, erläutert, welchen Aktivitäten die Spanier in ihrer Freizeit am liebsten nachgehen: An vorderster Stelle findet sich, wie bereits im deutschen Korpus, das Fernsehen („En general para todas las edades, la televisión es la estrella a la hora de repartir el tiempo de ocio“, dt. Im Allgemeinen ist der Fernseher an vorderster Stelle in allen Altersgruppen, wenn es darum geht, die Freizeit einzuteilen). Zu den weiteren beliebten Aktivitäten gehören Ausgehen, Essen gehen mit Freunden und Sport – hier wird allerdings ergänzt, dass die hohe Prozentzahl der Sportbegeisterten in Spanien im Vergleich mit anderen Ländern wohl am ehesten damit zu erklären sei, dass man in Spanien jegliche Aktivität an der frischen Luft als Sport bezeichne.382 In weiteren Belegen wird die Wirtschaftskrise als Faktor genannt, der die Verhaltensmuster während der Freizeit beeinflusse, indem statt teureren Aktivitäten wie Ausgehen oder Kino eher günstigere Alternativen zu Hause gewählt werden:383 380
Dt. Gleichberechtigung in der Hausarbeit. Nur zwei von zehn Männern machen zu Hause sauber. Freizeit, um zu Hause zu putzen? Das Bett zu machen? Die Waschmaschine anzumachen? Zu oft ist die Antwort ja, wenn eine Frau antwortet: Denn acht von zehn Frauen nehmen auf sich, dass diese Stunden, die sie für ihr Vergnügen nutzen sollten, sang- und klanglos vom Staubsauger aufgesaugt werden oder sich im Dampf des Bügeleisens auflösen. Und die Männer? So gelassen, ohne jede Sorge: Nur 18% der Männer ziehen in Erwägung, im Büro und darüber hinaus zu Hause zu arbeiten.
381
Dt. Sie [die Frauen, Anm. MM] amüsieren sich weniger.
382
Vgl. ebd.
383
Mitunter wird die Reduktion des Budgets, das für Essen und Trinken ausgegeben wird, auf andere Gründe zurückgeführt, wie beispielsweise auf das wachsende Bewusstsein für einen gesünderen Lebensstil, wie in diesem Beleg: „Un estudio […] dice que en los últimos 20 años los catalanes han reducido del 50% al 20% el presupuesto que destinan a comida y bebida. Hoy, el 15% de las personas de entre 16 y 64 años muestra una ‚predisposición‘ en la mejora de su salud, apunta Costa. ‚Sólo comen sano, hacen deporte y en los fines de semana llevan a cabo actividades relacionadas con la relajación de cuerpo y mente‘, añade.“ (País,
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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202. Menos salir a bares o al cine; más comida a domicilio, videojuegos y “teles” planas La crisis acelera la tendencia hacia lo hogareño […] En España hay más de 350.000 restaurantes y bares. La tasa de uno por cada 130 habitantes duplica la de la mayoría de los países europeos. ¿Puede sostenerse ese número cuando el dinero escasea? La cultura del ocio está tan firmemente implantada que los primeros compases de una crisis económica no van a derribarla. Ahora bien, hay ocio más caro y ocio más barato: el que supone salir, frente al que pueda conseguirse en casa. Y todo hace indicar que, a falta de dinero, es el momento para el ocio hogareño. Una tendencia de fondo, relacionada con la globalización y el abandono del estilo de vida mediterráneo, que la crisis económica no ha hecho más que acelerar. (País, 03.01.2009, El ocio ahora se queda en casa)384 Anstatt in eine Bar zu gehen, bleibe man eher zu Hause, um Geld zu sparen. Im Artikel wird aber auch darauf verwiesen, dass die Wirtschaftskrise die etablierte Freizeitkultur, die sich in Spanien auf Bars und Restaurants stütze, nicht unmittelbar stürzen könne. Freizeit und Spanien In den zitierten Belegen wurden bereits Aspekte der Freizeitgestaltung als Spezifika für Spanien bezeichnet. Besonders in den Belegen der Verknüpfung Freizeit und Freizeitgestaltung: Veränderungen durch die Wirtschaftskrise wird darauf hingewiesen, welche Freizeitaktivitäten in Spanien besonders beliebt seien und wie sich dies durch das Wirken der Wirtschaftskrise verändert hätten. In einer Vielzahl der Artikel besteht Einigkeit darüber, welcher Freizeitbeschäftigung in Spanien am meisten Zeit gewidmet wird (dem Fernsehen, gefolgt von sozialen Aktivitäten wie Ausgehen und Essen gehen). Hingegen ist unklar, ob die Spanier im internationalen Vergleich über viel oder wenig Freizeit verfügen.
29.06.2006, Barcelona Edición) Dt. Eine Untersuchung […] sagt, dass die Katalanen das Haushaltsbudget für Essen und Trinken in den letzten 20 Jahren von 50% auf 20% reduziert haben. Heute neigen 15% der 16- bis 64-Jährigen dazu, ihre Gesundheit zu verbessern, merkt Costa an. „Sie essen ausschließlich gesund, machen Sport und gehen am Wochenende Aktivitäten zur Entspannung von Körper und Geist nach“, fügt er hinzu. 384
Dt. Weniger in Bars oder ins Kino ausgehen; mehr Essen zu Hause, Videospiele und Flachbildschirme – die Krise verstärkt die Tendenz in Richtung von Aktivitäten zu Hause […] In Spanien gibt es mehr als 350.000 Restaurants und Bars. Die Quote, eine Bar pro 130 Einwohner, ist doppelt so hoch wie in der Mehrzahl der europäischen Länder. Kann diese Zahl erhalten werden, wenn das Geld knapp wird? Die Freizeitkultur ist so fest etabliert, dass die ersten Anzeichen einer Wirtschaftskrise sie nicht stürzen werden. Dennoch gibt es teurere und günstigere Freizeitaktivitäten: bei einigen geht man aus, bei anderen kann man auch zu Hause bleiben. Und all das deutet darauf hin, dass aktuell, aufgrund des mangelnden Geldes, der Moment der häuslichen Freizeitgestaltung ist. Eine Grundtendenz, die mit der Globalisierung und dem Zurücklassen eines mediterranen Lebensstils zusammenhängt und die durch die Wirtschaftskrise nur weiter vorangetrieben wurde.
252
5 Analyse der Korpora
203. Para aprovechar el tiempo libre, no obstante, es necesario disponer de él. Con 1.601 horas de faena laboral al año los españoles están entre los que más trabajan sólo superados por los estadounidenses y los ciudadanos de algunos países del Este. Además, indica López, algunos países como EE UU no tienen reguladas las vacaciones ni hacen horas extras tras la jornada laboral. Los españoles son, no obstante, quienes disfrutan de más días de vacaciones al año (34), justo detrás de portugueses y austriacos (35). (País, 28.05.2009, Ellas se divierten menos)385 Die spanischen Arbeitnehmer arbeiten also viele Stunden im Jahr, haben aber zugleich sehr viele Urlaubstage. Im Korpus wird des Weiteren zwischen verschiedenen Gruppen differenziert: So verfügen jüngere und ältere Arbeitnehmer über mehr Freizeit als der Durchschnitt und Frauen generell über weniger Freizeit als Männer (vgl. ebd.). Weitere Gruppen, zwischen denen im Korpus unterschieden wird, sind Zugehörige verschiedener Regionen Spaniens (Katalonien vs. Spanien, vgl. País, 29.06.2006, Barcelona Edición) und Zugehörige verschiedener Nationalitäten (País, 20.02.2007, Matrimonios blancos). Auf diese Differenzierungen wird in den Kapiteln des dritten Subthemas ROLLEN/GRUPPEN (5.4) vertiefend eingegangen. Bewertung des Konzeptes Das spanische Konzept ›ocio: tiempo fuera del trabajo‹ ist als Konzept selbst nicht der Gegenstand von Kritik. Stattdessen wird kritisiert, dass die spanischen Arbeitnehmer und speziell die spanischen Frauen zu wenig Freizeit haben. Wie im deutschen Korpus richtet sich die Kritik an einzelne Teilbedeutungen des Konzeptes, die verändert werden sollen. Mitunter ist dabei ein Unterschied zwischen dem, was Arbeitnehmer subjektiv wahrnehmen, und dem, was in Studien zitiert wird, festzustellen. Dieser Unterschied wird jedoch nicht (wie beispielsweise im deutschen Korpus) explizit gemacht.
385
Dt. Um die freie Zeit genießen zu können, ist es gleichwohl notwendig, über diese zu verfügen. Mit 1.601 Stunden beruflicher Schwerstarbeit gehören die Spanier zu den Menschen, die am meisten arbeiten. Sie werden dabei nur von den US-Amerikanern sowie den Bürgern einiger östlicher Länder übertroffen. López weist darauf hin, dass einige Länder, wie die USA, die Urlaubstage nicht reguliert haben und keine Überstunden über den Arbeitstag hinaus machen. Die Spanier sind gleichwohl diejenigen, die nach den Portugiesen und den Österreichern (35 Urlaubstage) die meisten Urlaubstage pro Jahr genießen (34).
Der Ausdruck „Freizeit“ bezeichnet allgemein die Zeit, in der nicht gearbeitet wird. Im Korpus wird angemerkt, dass bestimmte weitere Tätigkeiten ebenfalls von der Zeit, die als Freizeit verstanden wird, abgezogen werden müssen.
‘Es ist eine Illusion, dass die Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird, vor allem als Freizeit angesehen werden kann.
Die Freizeitaktivitäten haben sich durch die Wirtschaftskrise und das geringere Budget der Arbeitnehmer verändert. Typische Gewohnheiten (Ausgehen, Essen gehen) haben sich verändert. Es wird zwischen verschiedenen Gruppen auf nationaler und internationaler Ebene differenziert.
‘Unterschiedliche Gruppen haben mehr oder weniger Freizeit (Frauen, Männer, Jüngere, Ältere).’
Die Freizeit wird mit der Freizeit in anderen Ländern verglichen.
Die subjektive Wahrnehmung der berufstätigen Menschen in Spanien, die über zu wenig Freizeit klagen, unterscheidet sich von Studienergebnissen, die aussagen, dass Spanier über viel Freizeit verfügen.
‘Zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten in Spanien gehören Fernsehen, Ausgehen und Essen gehen. Mit der Wirtschaftskrise haben sich die Aktivitäten vom öffentlichen Raum in den privaten Raum verlagert.’
‘Berufstätige Menschen in Spanien haben viele Feiertage und Urlaubstage im Vergleich zu anderen Ländern.’
≠
‘Berufstätige Menschen in Spanien haben eine hohe Zahl an Jahresarbeitsstunden im Vergleich zu anderen Ländern.’
b. Arbeitnehmer müssen viel Zeit für den Weg zur Arbeit in Autos oder öffentlichen Verkehrsmitteln aufwenden. Diese Zeit muss von der Freizeit abgezogen werden.’
Die Medienberichterstattung legt einen Fokus auf Frauen und deren Gleichberechtigung.
Metadiskursive Deutung
Befund
a. Die Zeit, die mit Hausarbeit und der Betreuung der Kinder verbracht wird, ist nicht als Freizeit anzusehen. Sie wird überwiegend von Frauen erledigt – egal, ob diese berufstätig sind oder nicht –, die dadurch weniger Freizeit haben.
Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird, vor oder nach der täglichen Arbeit, am Wochenende oder während des Urlaubs
›ocio: tiempo fuera del trabajo‹ (dt. Freizeit: Zeit außerhalb der Arbeit)
Gruppenspezifik
wirtschaftliche Krise als Faktor
Kulturvergleich
subjektive Wahrnehmung vs. empirische Forschung
Emanzipation
Gruppenspezifik/Geschlechterspezifik
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 33: Konzept ›ocio: tiempo fuera del trabajo‹
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
253
Konzeptsynthese Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird, vor oder nach der täglichen Arbeit, am Wochenende oder während des Urlaubs
Konzeptsynthese
Zeit ohne Erwerbsarbeit nach Feierabend, am Wochenende, an Feiertagen oder an Urlaubstagen
AKTIVITÄTEN I - Deutsche sehen in ihrer Freizeit häufig fern oder nutzen die elektronischen Medien, obwohl sie gerne mehr Zeit mit der Familie oder Freunden verbringen oder Sport treiben würden. AKTIVITÄTEN II - Deutsche gehen in ihrer Freizeit verschiedenen Aktivitäten nach (Sport, Entspannung, Kreatives etc.). Diese können dazu dienen, eine Abgrenzung von den beruflichen Tätigkeiten vorzunehmen, die mit dem Beruf verbundenen Interessengebiete weiterzuverfolgen oder sich sozial zu engagieren.
KRISE - Die Wirtschaftskrise beeinflusst die Freizeitgestaltung: Da weniger Geld zur Verfügung steht, werden Aktivitäten vom öffentlichen (Essen gehen, Ausgehen) in den privaten Raum verlegt.
- Zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten in Spanien gehören Fernsehen, Ausgehen und Essen gehen.
AKTIVITÄTEN
- Es ist umstritten, ob Spanier über viel oder wenig Freizeit verfügen. Subjektiv wird über zu wenig Freizeit geklagt.
ZEIT - Freizeit ist die Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird, abzüglich weiterer Zeitspannen wie dem Weg zur Arbeit oder Tätigkeiten im Haushalt.
- Deutsche verfügen über viel Freizeit. Subjektiv wird über zu wenig Freizeit geklagt.
Sprachliche Verknüpfungen ZEIT - Es ist eine Illusion, dass die Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird, vor allem als Freizeit anzusehen ist. Zeitspannen wie der Weg zur Arbeit oder Tätigkeiten im Haushalt (die vor allem von Frauen übernommen werden) müssen ebenfalls abgezogen werden.
Sprachliche Verknüpfungen
Die Kernbedeutungen der beiden Konzepte ähneln sich stark. Die Ausdrücke „Freizeit“ und „ocio“, die auf das Konzept verweisen, eröffnen zum Teil weitere Bedeutungsnuancen (vgl. „ocio“). Sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus wird thematisiert, dass „Freizeit“ verschiedene Konzepte umfassen kann.
›tiempo fuera del trabajo‹
›Freizeit als Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird‹
Tabelle 34: Vergleich FREIZEIT
254 5 Analyse der Korpora
- Der Bewertungsaspekt ist zweitrangig. Wenn Kritik artikuliert wird, dann daran, dass man zu wenig Freizeit hat und dass speziell die spanischen Frauen zu wenig Freizeit haben.
- Der Bewertungsaspekt ist zweitrangig. Es ist etabliert, dass es sich um ein positives Konzept handelt. Wenn Kritik artikuliert wird, dann an Teilbedeutungen wie der Gestaltung der Freizeit. Man hätte gerne mehr Freizeit bzw. würde die Freizeit gerne anders nutzen.
Die Konzepte ähneln sich stark; keines der Konzepte ist als kulturspezifisch einzuordnen. Einige der Verknüpfungen sind kulturspezifisch.
Kulturspezifik
Sprachliche Bewertungen
GRUPPEN - Bestimmte Gruppen (Jüngere, Ältere) verfügen über mehr Freizeit.
FRAUEN - Frauen verfügen über weniger Freizeit, weil sie einen größeren Teil der Hausarbeit übernehmen, unabhängig davon, ob sie berufstätig sind oder nicht.
Sprachliche Bewertungen
FREIZEITSTRESS - Die Freizeit wird mit so vielen wechselnden Aktivitäten gefüllt, dass keine Entspannung mehr möglich ist.
STRESS - Eine anspruchsvolle berufliche Tätigkeit beeinträchtigt die Freizeit und kann zu Stress führen. Bestimmte Berufsgruppen sind besonders gefährdet.
- Es ist schwierig, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit zu finden, insbesondere wenn die Parameter Arbeitszeit und Arbeitsplatz verschwimmen (Selbstständige, Freiberufler).
ARBEIT - Ohne eine Tätigkeit, die als Arbeit definiert wird, gibt es keine Freizeit.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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256
5 Analyse der Korpora
5.2.4 Strukturelle Besonderheiten der Leserkommentarkorpora An ausgewählten Stellen wurde bereits darauf verwiesen, dass sich die Konzeptualisierungen der analysierten Konzepte in den Leserkommentaren von denen des Zeitungstextkorpus unterscheiden. Es zeigten sich dabei zum einen inhaltliche Unterschiede in der sprachlichen Konstituierung, Verknüpfung und Bewertung der Konzepte (= Konzeptualisierung) des deutschen und des spanischen Leserkommentarkorpus. Diese decken sich zu großen Teilen mit den Unterschieden zwischen den deutschen und spanischen Zeitungstexten und können in den Konzeptkapiteln 5.2.3.1 FLEXIBILITÄT, 5.2.3.2 ANWESENHEIT und 5.2.3.4 ESSEN nachgelesen werden. Zum anderen manifestieren sich in den deutschen und den spanischen Leserkommentaren Unterschiede struktureller Art. Diese strukturellen Besonderheiten des Sprechens in den Leserkommentaren werden im Folgenden für das Deutsche, das Spanische und im Vergleich dargestellt.386 5.2.4.1 Strukturelle Besonderheiten der deutschen Leserkommentare 5.2.4.1.1 Narration: Individualismus und Gruppenbewusstsein Ein Motiv, das sich durch die Leserkommentare zieht, ist die Betonung der individuellen Ebene. Bereits in Kapitel 5.2.3.1.1 zum Konzept ›flexible Arbeitszeit‹ wurde darauf hingewiesen, dass in den Leserkommentaren individuell argumentiert wird und Beispielnarrationen angeführt werden. Die Leser verweisen in der ersten Person Singular auf ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse, wie beispielsweise in folgenden Kommentaren: 205. Ich brauche es [Stechuhr, Anwesenheitspflicht, strikte Trennung von Beruf und Privatleben, Anm. MM] nicht und bin froh, dass es andere Möglichkeiten gibt. (amandaR, 27.07.2015 11:28 Uhr) 206. Was auch hinzukommt: als IT-Dienstleister brauche ich kein Büro, weil ich mit meinen Kunden nur vor Ort oder per E-Mail konkurriere [sic]387, gelegentlich noch per Telefon. (Soletan, 27.07.2015 11:29 Uhr) In den Kommentaren wird die individuelle Situation der Arbeitnehmer als solche beschrieben oder es wird – noch expliziter – darauf hingewiesen, dass es die individuellen Bedingungen sind, die die Arbeitszeit bestimmen sollten:
386
Zwischen den Zeitungstexten und den Leserkommentaren einer Sprache (also bspw. innerhalb des Deutschen) finden sich kaum Unterschiede in der Konzeptualisierung. Die Konzepte scheinen textsortenunabhängig zu bestehen. Die strukturellen Auffälligkeiten in der Sprache des Leserkommentarkorpus beeinflussen jedoch ebenfalls die Konzeptualisierungen.
387
Die Leserkommentare werden unverändert übernommen.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
257
Ob die Arbeitsleistung dann von 8 bis 5, 9 bis 5, nur vormittags, nachmittags, in Schicht oder sonst wie erbracht wird, ist von zu vielen individuellen Randbedingungen abhängig. Dem einen reichen 20h/Woche, anderen sind 50h/Woche noch zu wenig. Manche haben Familie, andere leben allein. Dem einen reicht eine Arbeit, ein ander [sic] möchte Karriere. (kuestenwache, 27.07.2015 10:48 Uhr) Auf dieser Metaebene ist auch der folgende Kommentar einzuordnen, in dem die Empfehlung ausgesprochen wird, sich mit dem Thema des individuellen Zeit- und Selbstmanagements zu beschäftigen: 207. Ich kann nur jedem, der nicht völlig fremdbestimmt arbeitet, raten, sich mit dem Thema Zeit- und Selbstmanagement zu beschäftigen. (Maria_B., 27.07.2015 11:49 Uhr) In den Leserkommentaren werden also besonders die Bedürfnisse und Lebensbedingungen des Einzelnen betont. Eine weitere Auffälligkeit der Leserkommentare stellt das Gruppenbewusstsein der Kommentatoren dar: 208. Die Verschmelzung von Arbeit und persönlichen Interessen privilegiert sie. Damit gehören sie zu einer Minderheit in Deutschland, dass [sic] darf man diesbezüglich nicht vergessen. Auch ist die Verknüpfung zwischen Müssen und Wollen größtenteils abhängig vom jeweiligen Beruf. Für manche ist die Erreichbarkeit am späten Nachmittag, am Abend, oder am Wochenende irrelevant zum ausgeführten Beruf, für andere absolut relevant. Und im Zeichen der fortlaufenden Globalisierung, und den bestehenden verschiedenen Zeitzonen kann die Relevanz für gewisse Berufe in der Wirtschaft zukünftig eher steigen. (SkyzZ, 27.07.2015 11:00 Uhr)388 5.2.4.1.2 Diskussionen und Auseinandersetzungen In den Leserkommentaren fällt auf, dass häufig Widerspruch geäußert wird: Zum einen äußern die Leser Kritik am Inhalt der vorausgehenden Kommentare sowie persönliche Kritik an den Kommentatoren, die sich zuvor geäußert haben. Zum anderen wird der Ankerpunktartikel und speziell der Autor als Person kritisiert. a. Kritik an Kommentaren und Kommentatoren Kritische Stimmen in den Leserkommentaren richten sich nicht nur gegen den Ausgangsartikel und dessen Autor, sondern auch gegen vorausgehende Kommentare oder ihre Verfasser: 388
Bei dem zitierten Kommentar handelt es sich um eine Antwort auf den Kommentar „12. Auch ein Wissenschaftler hier…“ (PWeierstrass, 27.07.2015 10:29 Uhr).
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5 Analyse der Korpora
209. Wenn ich mir einige Kommentare durchlese, habe ich das Gefühl, manche merken gar nicht, wie sehr sie die Arbeit inzwischen im Griff hat. […] Macht euch nicht zum Sklaven! (Infamia, 27.07.2015 11:28 Uhr) 210. Richtig, aber: „Auch zum Thema gehört die Tatsache, dass die Zerfaserung des Arbeitalltages bei vielen dazu führt, dass sie nicht an regelmäßig stattfindenden Terminen teilnehmen können und (vor allem wenn auch noch Kinder da sind) dazu auch gar nicht die Zeit hätten - seien es Trainingsstunden im Sportverein, VHS-Kurse, Kegeln und vieles mehr.“ Auch dies ließe sich aber durch eine humane Arbeitswelt ändern. […] Ich stimme zu, dass die Arbeitswelt human werden muss, ich finde aber das Argument „deshalb brauchen wir starre Arbeitszeiten pro Tag“ nicht stichhaltig, schon allein auch deshalb weil z.B. dein Argument nicht wirklich greift wenn z.B. beide Elternteile am VHSAbend teilnehmen wollen, aber in verschiedenen Arbeitszeiten sind, dann haben wir das Schichtarbeitsproblem. Die Lösung wären da eher noch flexiblere Kurse bei der VHS etc. ich [sic] würde jedenfalls bezweifeln, dass der Autor z.B. maunzt weil er nach seiner Regelarbeitszeit zwar im Stadtrat sich engagieren kann, dies aber seinem Kinderbetreuer nicht möglich ist (Beispiel) […] (DerFlauschigeMaxi, 27.07.2015 15:06 Uhr) In Beleg 210 wird eine Antwort auf den vorausgehenden Kommentar „Demokratieund Teilhabedefizit“ formuliert. Verschiedene Aspekte werden aufgegriffen, Zitate angeführt und Argumente genannt, mit denen die alternative Sichtweise begründet wird. b. Kritik am Ausgangsartikel und an dessen Autor In einigen Kommentaren werden Punkte genannt, die den Argumenten des Ankerpunktartikels hinzuzufügen wären,389 oder Aspekte des Artikels werden in Frage gestellt.390 In anderen Kommentaren wird der Artikel als Ganzer kritisiert und ironisch kommentiert: 211. Das beste Modell! Die Heizung soll abgelesen werden? Urlaub nehmen! Rauchmelder-Inspektion? Urlaub nehmen! Gang zum Amt? Urlaub nehmen! TÜV mal wieder fällig? Urlaub nehmen! Hautkrebsvorsorge? Urlaub nehmen! Zahnreinigung? Urlaub nehmen! Zum Friseur? Samstags hin und von dem tollen 9 to 5 Job unter der Woche erzählen! Oder fröhlich pfeifend um 5 kommen und sich freuen, dass man Feierabend hat! Ein Traum, dieses beste Modell. Wer will schon verreisen wenn er seinen halben Jahresurlaub wegen 2 Stunden Terminen nehmen darf? Hah, was für Knechte die sich kaputt machen und um 12 auf der Arbeit aufschlagen dürfen weil die Postlieferung 2 Stunden verspätet kam. Lasst uns kämpfen für 9 to 5! Einen größeren Zugewinn an Glück gibt es nicht als wenn man morgens 389
Vgl. bspw. Zeitleser5000, 27.07.2015 13:54 Uhr, „Was zu ergänzen wäre […]“.
390
Vgl. bspw. FlameDance, 27.07.2015 11:52 Uhr, „Widerspruch! […]“.
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den Busfahrer fragen kann seit wann er auf den Beinen ist. Sarkasmus beiseite: Ein schwachsinniger Artikel der ein System bejubelt das Leute in Korsette zwängt und ihnen ihre Freiheit nimmt. Und das auch nur für einen Teil von Leuten (siehe Busfahrer, Friseure, Einzelhandel, Plizei [sic], etc). Zumal das bejubelte System eigenverantwortlich gelebt werden kann, wenn man nur will und sich traut dafür einzustehen. Aber derjenige der seinem Chef gegenüber auf 40 Stunden besteht, diese aber auch am Wochenende oder um 22 Uhr ableistet ist der Knecht. Schon klar. (dyx, 27.07.2015 15:24 Uhr) Nicht nur der Artikel wird dabei scharf verurteilt, sondern darüber hinaus wird in weiteren Kommentaren die Kompetenz des Autors angezweifelt: 212. Kompetenz gewünscht […] Damit ist leider Gottes dieser ganze Text als Theorie eines Schreiberlinges entlarvt, der keine Ahnung hat, wovon er redet. Liebe ZEIT: Ich möchte keine Autotests von Menschen lesen, die keinen Führerschein haben! (Nachtauge12, 27.07.2015 10:48 Uhr) 5.2.4.1.3 Themenvielfalt Die Leserkommentare weisen ein großes Themenspektrum auf. In den 88 Leserkommentaren, die sich auf den Artikel „Gib mir Feierabend“ (Die Zeit, 27.07.2015) beziehen, werden diverse Themen angeführt. Zum Teil ergeben sich die Themen aus Aspekten, die im Ankerpunktartikel bereits angesprochen wurden (Vorteile und Nachteile der Flexibilisierung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Pendeln zum Arbeitsplatz, Öffnungszeiten der Geschäfte, dauerhafte Erreichbarkeit auch außerhalb der Arbeitszeiten). Zum anderen werden Aspekte in die Diskussion eingebracht, die im vorausgehenden Artikel nicht erwähnt werden: gesetzlich vorgeschriebene Pausenzeiten, die den Arbeitstag von 9 bis 17 Uhr („nine-to-five“) zwangsläufig verlängern, Anforderungen verschiedener Berufsgruppen (Wissenschaftler, Journalisten, Ärzte oder Busfahrer), Drogenmissbrauch, um mit den Anforderungen des Berufs oder des Alltags zurechtzukommen, Vorteile des Wohnens auf dem Land, Nichtteilhabe bestimmter Gruppen an politischer Arbeit in Parteien, da die Arbeitszeiten dies nicht zulassen. Die Themen werden von verschiedenen Lesern eingebracht, wobei sich aus den aufgeworfenen Fragen wiederum neue Themen ergeben. Da es sich bei den Leserkommentaren um kürzere Texte von einer Vielzahl von Autoren391 handelt, werden sehr viele verschiedene Themen angesprochen. 391
Die Dominanz einiger Diskursakteure in den Kommentarsträngen stellt einen interessanten Aspekt dar: Die Mehrzahl der Kommentatoren äußert sich mit einem Kommentar oder zwei Kommentaren (vgl. bspw. Horatio Caine 13, 15). Einzelne Leser bringen sich vermehrt in die Debatte ein, indem sie lange aufeinanderfolgende Kommentare verfassen oder sich immer wieder zu Wort melden (vgl. bspw. DerFlauschigeMaxi, Kommentar 9, 11, 20, 27, 33, 37, 38, 43, 44, 50, 52, 54, 55, 58, 59, 67, 70, 74, 75, 79, 81, 84). Diese Diskursdominanz ist dabei eher selten.
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5.2.4.2 Strukturelle Besonderheiten der spanischen Leserkommentare 5.2.4.2.1 Narration: Individualismus und Gemeinschaftsbewusstsein Auch in den Leserkommentaren der spanischen Zeitung El País verweisen die Nutzer häufig auf ihre eigenen Erfahrungen, um eine Situation zu erläutern oder um ihre Argumentation zu untermauern: 213. Depende de la industria y posicion. Yo trabajo en I+D [Investigación y Desarrollo, Anm. MM] desarrollando sistemas de diagnostico. Somos fundamentalmente cientificos, ingenieros y tecnicos de manufacturacion. Pero tambien hay calidad, RR.HH [Recursos Humanos, Anm. MM], finanzas, etc. Entiendo que estos ultimos pueden teletrabajar mas facilmente. Nosotros los tecnicos tenemos que pasar el tiempo en el laboratorio fundamentalmente. Y aunque no sea asi, la interaccion, creacion de ideas, resolucion de problemas, etc mejora en el cara a cara. Pero no pasa nada si un dia uno tiene que simplemente escribir los resultados o analizar datos o leer y se pueda quedar en casa. Lo que si estoy de acuerdo es que en mi profesion la comunicacion cara a cara sigue siendo mejor. Esta bien usar teleconferencias, etc para algunas reuniones y ahorras en viajes. Pero a veces en temas tecnicos del dia a dia, es mejor trabajar en equipos mas pequenos en el mismo lugar. (Lois Bello, 29.07.2015 14:20 Uhr)392 Der Nutzer antwortet auf einen vorausgehenden Kommentar, in dem darauf verwiesen wird, dass die Arbeit von zu Hause kein Allheilmittel sei und es immer noch wichtig sei, die Gesichter der Kollegen zu kennen (vgl. Jorge López, 29.07.2015 12:01 Uhr). Der antwortende Leser differenziert in seinem Kommentar zwischen den Anforderungen verschiedener Branchen und Positionen. Er schildert die Erfahrungen, die er in seiner Branche gemacht hat, und schließt seine Bewertung an diese Erfahrungen an. Besonders häufig werden im spanischen Leserkommentarkorpus die Erfahrungen angeführt, die die Arbeitnehmer im Ausland gemacht haben: 214. Yo trabajo en Londres […] (memeconmigo no me da la gana, 29.07.2015 12:02 Uhr)393 392
Dt. Das hängt vom Sektor und von der Position ab. Ich arbeite in der Forschung und Entwicklung und entwickle diagnostische Systeme. Wir sind vor allem Wissenschaftler, Ingenieure und Herstellungstechniker. Aber es gibt auch die Qualitätskontrolle, Human Resources, die Finanzabteilung etc. Ich verstehe, dass die Letztgenannten einfacher Teleheimarbeit machen können. Wir, die Techniker, müssen vor allem Zeit im Labor verbringen. Und auch wenn das nicht so wäre, die Interaktion, Ideenfindung, Problemlösung etc. verbessert sich im direkten Austausch. Aber es ist nicht weiter schlimm, wenn man einen Tag einfach mal Ergebnisse aufschreiben oder Daten analysieren oder lesen muss, und man zu Hause bleiben kann. Ich stimme zu, dass in meinem Beruf die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht noch immer besser ist. Es ist gut, anstelle von einigen Besprechungen Telefonkonferenzen zu halten und Reisewege einzusparen. Aber manchmal ist es in den tagtäglichen technischen Themen besser, in kleinen Gruppen am selben Ort zu arbeiten.
393
Dt. Ich arbeite in London […].
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
261
215. Hace más de 40 años en una empresa de Milán -Italia, ya se veía con malos ojos que algunos ingenieros superiores españoles se quedasen después de salir el resto, hubo incluso broncas por parte de la dirección italiana porque no comprendían esa forma de gastar luz y calefacción de los españoles […] (Pedro maria Arto, 29.07.2015 09:30 Uhr)394 Die Leserkommentare verweisen auf Arbeitszeiten im Ausland, die von den Kommentatoren als üblich erfahren werden (214) und wurden (215). In beiden Beispielen soll die Schilderung verdeutlichen, dass es eine bessere Alternative zu den in Spanien üblichen Arbeitszeiten gibt, die in den ausländischen Firmen zu funktionieren scheint. Diese Spezifik der Leserkommentare, in denen die Nutzer gezielt auf ihre eigenen Erfahrungen im Ausland verweisen und die Umstände in Spanien kritisieren, wurde bereits im Exkurs zu den Leserkommentaren im Kontext des Konzeptes ›flexibilizar los horarios‹ erläutert (vgl. Kapitel 5.2.3.1.1). 5.2.4.2.2 Diskussionen und Auseinandersetzungen a. Kritik an Kommentaren und Kommentatoren: Interaktion zwischen den Kommentatoren Im spanischen wie auch im deutschen Korpus besteht die Möglichkeit auf die vorausgehenden Kommentare zu antworten. Von dieser Möglichkeit wird im Falle der spanischen Kommentare auffallend oft Gebrauch gemacht: Von insgesamt 119 Kommentaren antworten 55 auf einen vorausgehenden Kommentar eines anderen Nutzers. Die spanischen Kommentare beginnen häufig mit einer Zustimmungsformel wie exacto/ exactamente (dt. richtig), cierto (dt. wahr, bestimmt), eso es (dt. so ist es) oder totalmente de acuerdo (dt. absolut einverstanden). An die Zustimmungsformel schließt sich ein zustimmender Kommentar an. 216. Exacto, es lo que me pasa a mi tambien en mi industria. Mientras cumplas con tus horas, te lo puedes organizar como te de la gana. Totalmente de acuerdo en que es un problema de mentalidad y cultural. (Torch Bearer, Antwort an Some Guy, 29.07.2015 06:24 Uhr)395 396 Mitunter wird ein vorausgehender Kommentar als Zitat in den eigenen Kommentar eingebettet. Deutlich häufiger finden sich jedoch kritische Kommentare. Der Wider394
Dt. Vor über 40 Jahren war es in einem Unternehmen in Mailand (Italien) schon schlecht angesehen, wenn einige höhergestellte spanische Ingenieure länger als der Rest blieben. Es gab sogar Ärger von der italienischen Chefetage, weil sie diese Art der Licht- und Heizungsausgaben der Spanier nicht verstanden.
395
Dt. Genau, das passiert mir in meiner Branche auch. Wenn du deine Stunden erfüllst, kannst du dich organisieren, wie du Lust hast. Ich bin völlig damit einverstanden, dass es ein Problem der Mentalität und Kultur ist.
396
Vgl. auch Demarato..., Antwort an Sancho Quijote, 29.07.2015 20:00 Uhr.
262
5 Analyse der Korpora
spruch kann sich dabei an die vorher genannten Argumente richten, wie im folgenden Beleg: 217. Perdone que me entrometa. ¿Sobrecualificación en el mismo saco que improductividad?. Licenciados/as en empresariales que no saben calcular un descuento, o más grave […] ¿Eso es sobrecualificación o improductividad? A ver si lo que sobran son títulos. (Jorge López, Antwort an Demarato..., 29.07.2015 11:27 Uhr)397 Oder er richtet sich an den Verfasser eines Kommentars und stellt dessen Kompetenz in Frage: 218. Es que eso no es necesariamente teletrabajo, creo que no entiendes de qué se está hablando. El teletrabajo es trabajar en un lugar que no es la oficina sino el que elige el trabajador no que el trabajador esté disponible las 24 horas, no confundamos términos. (Demarato..., Antwort an Estrella Martínez, 29.07.2015 12:11 Uhr)398 Diese Form der Kritik findet sich im spanischen Leserkommentarkorpus häufig und soll im Folgenden am Beispiel einer Diskussion zwischen zwei Nutzern, Demarato… und memeconmigo no me da la gana, nachvollzogen werden. Die Diskussion zwischen den beiden Nutzern erstreckt sich über 15 Kommentare hinweg und fällt damit innerhalb des gesamten Kommentarstrangs von 119 Kommentaren auf. Sie beginnt mit einem Kommentar des Nutzers memeconmigo no me da la gana (29.07.2015 12:09 Uhr), der in Frage stellt, inwiefern die Argumente des Nutzers Demarato… das Thema des Ausgangsartikels, die Arbeitszeit, betreffen, und mündet in eine Auseinandersetzung, in der die orthografische Kompetenz, der Tonfall und der Sachverstand des Gegenübers angeprangert werden: 219. te mataste con el comentario (memeconmigo no me da la gana, Antwort an Demarato..., 29.07.2015 12:20 Uhr)399 220. Y tú con la ortografía. Si eso es todo lo que tienes que aportar, por favor, vete a darle la brasa a otro forista. (Demarato..., Antwort an memeconmigo no me da la gana, 29.07.2015 12:24 Uhr)400 397
Dt. Entschuldige, dass ich mich einmische. Überqualifikation im selben Topf wie Unproduktivität? Leute mit einem Abschluss in Betriebswissenschaft, die nicht wissen, wie man einen Rabatt berechnet oder noch schlimmer […]. Ist das Überqualifikation oder Unproduktivität? Mal sehen, ob am Ende Abschlüsse übrigbleiben.
398
Dt. Das ist nicht notwendigerweise Teleheimarbeit. Ich glaube, du verstehst nicht, von was hier gesprochen wird. Teleheimarbeit bedeutet, an einem Ort zu arbeiten, der nicht das Büro ist, sondern den der Angestellte selbst wählt. Es heißt nicht, dass der Angestellte 24 Stunden erreichbar ist, verwechseln wir bitte keine Begrifflichkeiten.
399
Dt. Mit dem Kommentar hast du dir ins eigene Fleisch geschnitten.
400
Dt. Und du mit der Rechtschreibung. Wenn das alles ist, was du dazu beizutragen hast, geh bitte einem anderen Forenmitglied auf die Nerven.
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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221. A ver, eres tú el que te has metido en una conversación con un tono un tanto chulesco sin saber de qué estábamos hablando. Pero repito, no pierdas el tiempo conmigo.... (Demarato..., Antwort an memeconmigo no me da la gana, 29.07.2015 12:39 Uhr)401 222. el tono chulesco lo has leído tú, que te crees que el foro es tuyo. Si te pusieras a buscar trabajo en vez de tomarte esto como tu chiringuito te iría mejor. (memeconmigo no me da la gana, Antwort an Demarato..., 29.07.2015 12:42 Uhr)402 Die ausführliche und mitunter ausfallende Auseinandersetzung zwischen den zwei Kommentatoren verdeutlicht verschiedene Spezifika des Kommentarforums von El País: Zunächst ist festzustellen, dass keine redaktionelle Moderation der Kommentare stattfindet.403 Die Diskussion entfernt sich immer mehr von einem sachlichen Austausch verschiedener Meinungen und wird zu einem Schlagabtausch, in dem Beleidigungen ausgesprochen werden und der Sachverstand beider Diskutanten in Frage gestellt wird. Zum anderen fällt beim Vergleich der Kommentarforen von www.elpais. com und www.zeit.de auf, dass im Falle des spanischen Forums weniger deutlich dargestellt wird, dass sich ein Kommentar auf einen vorausgehenden Beitrag bezieht. Vielmehr wird durch die Darstellungsweise, in der die Namen der Verfasser sichtbar sind, nicht jedoch der Titel des angesprochenen Kommentars, der Nutzer-Bezug sehr viel stärker: Der Widerspruch scheint sich nicht an einen Kommentar zu richten, sondern an den Kommentator selbst.404 Im spanischen Leserkommentarforum findet sich wiederholt der Fall, dass ein Kommentator mehrere Kommentare nacheinander verfasst, die jeweils einen anderen Nutzer kritisieren – dies fällt sowohl bei dem bereits genannten Demarato… auf (der seinen Widerspruch unter anderem an die Nutzer memeconmigo no me da la gana, Estrella Martínez und Elena Gonzalez richtet) als auch bei dem Nutzer Jorge López, der in drei 401
Dt. Lass mal sehen, du warst es, der sich mit einem so großkotzigen Ton in ein Gespräch eingemischt hat, ohne zu wissen, von was wir sprechen. Aber ich wiederhole, verschwende deine Zeit nicht mit mir…
402
Dt. Den großkotzigen Ton hast du so rausgelesen, für wen hälst du dich eigentlich, dass du denkst, dass das hier dein Forum ist. Wenn du dich daran machen würdest, einen Arbeitsplatz zu suchen anstatt das hier als dein kleines Geschäft aufzufassen, würde es besser bei dir laufen.
403
Auch bei der Dopplung von Kommentaren erfolgte im analysierten Kommentarstrang kein redaktioneller Eingriff. Der zurückhaltende redaktionelle Eingriff der Auszeichnung einiger Benutzer als „Usuario destacado“, mit dem laut Forenpolitik (vgl. http://elpais.com/estaticos/normas-de-participacion/ letzter Zugriff 20.01.2018 11:53 Uhr) Nutzer ausgezeichnet werden, die durch sachliche Kommentare und die Abwesenheit von Diskreditierungen herausstachen, fällt kaum auf.
404
Durch einen weiteren Klick lässt sich nachvollziehen, welcher Kommentar konkret gemeint ist. Das Kommentarforum von El País wurde in der Zeit nach der Korpuserhebung angepasst. Verschiedene Funktionen, wie die Sortierung der Kommentare in chronologischer Reihenfolge oder in Konversationssträngen („en modo conversación“), wurden seitdem hinzugefügt. Die Darstellung in Konversationssträngen stellt die Kommentare inklusive der zugeordneten Kommentare direkt untereinander dar und erlaubt es so nachzuvollziehen, welche Kommentare sich auf welchen Ausgangskommentar beziehen.
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5 Analyse der Korpora
aufeinanderfolgenden Kommentaren die Nutzer antonio recio matamoros, Demarato… und Madrede Dios anspricht. Die Kritik wird im spanischen Forum damit persönlicher und emotionaler. b. Kritik am Ausgangsartikel und an dessen Autor Während im deutschen Leserkommentarkorpus kritische Bezugnahmen auf den Ausgangsartikel und den Autor festgestellt wurden, findet sich in den spanischen Kommentaren nur wenig Kritik am Ausgangsartikel, wie beispielsweise im Folgenden: 223. Aquí se están mezclando churras con merinas. La problematica de la mujer es independiente de la problemática de la falta de meritocracia. Guste o no, la maternidad tiene difícil encaje en el mundo competitivo en el que vivimos. […] Luego está el tema del presentismo, que es distinto. […] Al final la clave es flexibilidad, tanto por el empresario como por el empleado. (Some Guy, 29.07.2015 05:27 Uhr) 405 Der Kommentator weist darauf hin, dass der Ausgangsartikel verschiedene Dinge miteinander vermische, die getrennt betrachtet werden müssen. Demgegenüber finden sich im spanischen Korpus auch Kommentare, die den Ausgangsartikel, die Artikelserie406 und die Zeitung El País loben: 224. Doy mi sincera enhorabuena al diario El País por esta colección de artículos sobre los horarios laborales que pone de manifiesto lo mucho que queda por avanzar en la sociedad española para acercarse a los usos europeos. (Charli Moral, 29.07.2015 11:41 Uhr)407 225. Ya era hora de que alguien se atreviera en este país a publicar en un periodico de nivel nacional una serie de articulos con labor de investigación de una de las mayores lacras de la sociedad española, la cultura del presentismo en la empresa privada, lo que hace falta es una renovación importante de las cupulas directivas de las empresas españolas con gente con nuevas ideas y nuevas mentalidades. Conocer y aceptar la enfermedad es el primer paso para curarla (Raul Dominguez, 29.07.2015 11:30 Uhr408 405
Dt. Hier werden Äpfel und Birnen verglichen. Die Problematik der Frau ist unabhängig von der Problematik der fehlenden Meritokratie. Ob es einem gefällt oder nicht, die Mutterschaft hat eine schwierige Position in der kompetitiven Welt, in der wir leben. […] Dann ist da noch das Thema des presentismo, das ein anderes ist. […] Am Ende ist Flexibilität der Schlüssel, für den Unternehmer wie auch für den Angestellten.
406
https://politica.elpais.com/politica/2015/07/17/actualidad/1437119064_481842.html 20.01.2018 12:00 Uhr).
407
Dt. Ich gratuliere der Tageszeitung El País ganz herzlich zu dieser Serie von Artikeln über die Arbeitszeiten, die zeigt, wie weit die spanische Gesellschaft noch vorankommen muss, um sich an die europäischen Normen anzupassen.
(letzter
Zugriff
5.2 Analyse des ersten Subthemas Zeit in den deutschen und spanischen Zeitungs- und Leserkommentarkorpora
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5.2.4.3 Zwischenfazit: Vergleich der Spezifika der deutschen und spanischen Leserkommentare )408 In beiden Leserkommentarkorpora charakterisiert sich die Sprache der Benutzer durch die häufige (1) Referenz auf die persönliche Ebene: Die Kommentatoren führen ihre individuellen Narrationen an, um auf bestimmte Rahmenbedingungen aufmerksam zu machen oder um ihre Argumentation zu stützen.409 Im deutschen Korpus verweisen die Leser auf die spezifischen Anforderungen und Bedingungen in bestimmten Berufen. Im spanischen Korpus scheint auch die Individualnarration von einem Gemeinschaftsbewusstsein geprägt: Es wird vermehrt darauf verwiesen, wie die Aufgaben, die Anforderungen und die Umstände in Spanien sind und mit welchen Bedingungen diese im Ausland zu vergleichen sind. Sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus finden sich (2) Diskussionen und Auseinandersetzungen, die sich auf den Ausgangstext und dessen Autor sowie auf die vorausgehenden Kommentare beziehen. In den deutschen Leserkommentaren werden der Inhalt, die Struktur und die Argumentation des Ausgangstextes kritisiert und dem Autor wird mangelnde Kompetenz unterstellt – Zustimmung findet sich kaum. Auch die vorausgehenden Kommentare werden zumeist kritisch kommentiert, in einigen Fällen findet sich eingeschränkte Zustimmung; in anderen werden die Autoren persönlich angesprochen, Beleidigungen finden sich nicht. Auch in den spanischen Leserkommentaren wird der Ausgangstext und dessen Verfasser angesprochen, zumeist kritisch, jedoch werden der Artikel und die vierteilige Serie der Tageszeitung El País zum Thema Arbeitszeit, in der der Artikel erschien, auch gelobt. Darüber hinaus ist das spanische Kommentarforum von extensiver Interaktion zwischen den Kommentatoren geprägt: Sehr viele Kommentatoren nehmen aufeinander Bezug, leiten ihre Kommentare mit Zustimmung ein oder widersprechen vorausgegangenen Kommentaren. Die Interaktion ist von deutlicherer Kritik geprägt, die sich in vielen Fällen nicht nur an den Inhalt des verfassten Kommentars, sondern an den Verfasser selbst richtet. Die Diskussion kann sich bis zu einem Streit zuspitzen, in dem Beleidigungen ausgetauscht werden und einige wenige Nutzer das Kommentarforum dominieren, ohne dass ein redaktioneller Eingriff stattfände.
408
Dt. Es war an der Zeit, dass sich jemand in diesem Land traut, in einer nationalen Zeitung eine Serie von Artikeln zu veröffentlichen, die sich mit einem der größten Missstände der spanischen Gesellschaft auseinandersetzen, der Kultur des presentismo in der Privatwirtschaft. Es braucht eine entscheidende Erneuerung der Führungsspitze der spanischen Firmen mit Menschen mit neuen Ideen und neuen Mentalitäten. Die Krankheit zu erkennen und zu akzeptieren, ist der erste Schritt, um sie zu heilen.
409
Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich darauf eingegangen werden, inwiefern die Nutzer der Kommentarforen hier auf eine spezifische Argumentationsstrategie zurückgreifen, um sich eine privilegierte Diskursposition zu verschaffen. Eine Analyse des Nutzerverhaltens und der Argumentationsstrategien, die bewusst oder unbewusst eingesetzt werden, könnte weiterführende Resultate ergeben.
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5 Analyse der Korpora
Das deutsche Leserkommentarkorpus weist im Vergleich zum spanischen Leserkommentarkorpus eine größere Themenvielfalt (3) auf: In den deutschen Leserkommentaren werden viele, voneinander isolierte Themen angesprochen, die sich teils auf den Ausgangsartikel rückbeziehen und sich teils von den Themen des Ausgangsartikels entfernen. Die spanischen Kommentare beziehen sich besonders häufig aufeinander (und deutlich seltener auf den Ausgangsartikel), sodass immer wieder dieselben Themen angesprochen werden oder aber unterschiedliche Aspekte eines Themas dominant gesetzt werden. Die genannten Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen und spanischen Leserkommentare betreffen die diskursive Einbettung und den Gebrauch einiger Konzepte. Die Beschreibung ist damit auf einer analytischen Metaebene angesiedelt, auf der nicht inhaltliche Aspekte der Konzeptkonstituierung im Vordergrund stehen, sondern Strukturen der Verwendungsweise der Konzepte. Die sprachliche Konstituierung, die konzeptuellen Verknüpfungen und die Bewertung des Konzeptes, die die inhaltliche Ebene betreffen, wurden hingegen in den Konzeptkapiteln 5.2.3.1 bis 5.2.3.6 beschrieben. 5.3 Analyse des zweiten Subthemas RAUM in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora 5.3.1 RAUM in der Sprachwissenschaft Sprachliche Zugänge zum Thema RAUM lassen sich üblicherweise aus zwei Perspektiven beschreiben: Die erste Perspektive – Sprache im Raum – beschäftigt sich mit Sprache, Sprachen und Sprechweisen im physischen und sozialen Raum. Sie wird in der deutschen Sprachwissenschaft unter anderem in der Disziplin der Varietätenlinguistik behandelt. Die zweite Perspektive – Raum in der Sprache – beschäftigt sich mit sprachlichen Referenzen auf Raum, also damit, wie über Räume und räumliche Strukturen gesprochen wird.410 Beide Perspektiven überschneiden sich, da unsere Sprechweise wesentlich vom physischen und sozialen Raum, in dem wir uns befinden, abhängig ist und räumliche Strukturen zugleich durch das Sprechen über sie wahrnehmbar und damit gestaltbar werden. In der vorliegenden Arbeit interessiere ich mich vor allem für die zweite Perspektive – Raum in der Sprache. Habel geht davon aus, dass der Zusammenhang von Raum und Sprache über die Trias Welt – Mentale /Konzeptuelle Repräsentation – Sprachliche Struktur bestimmbar ist, und stellt dabei den 410
Vgl. bspw. die Vortragsreihe „Sprache und Raum – Linguistic Perspectives on Space“ an der Hermann Paul School of Linguistics, Basel – Freiburg (http://hpsl-linguistics.org/1133 letzter Zugriff 24.01.2018 14:41 Uhr). Der Beschreibung der Vorträge können Beispiele für beide Perspektiven entnommen werden. Vgl. weiterführend Auer/Schmidt 2009 und Levinson 1996.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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zweiten Schritt in den Vordergrund: „die Übertragung einer multimodalen räumlichen Repräsentation, die Wissen über räumlich strukturierte Gegebenheiten enthält, in eine auf die Versprachlichung hin orientierte konzeptuelle Repräsentation“ (Habel 2000, 2). Diese Übertragung wird in der vorliegenden Arbeit auf dem umgekehrten Wege, von der versprachlichten Form hin zur konzeptuellen Repräsentation, nachvollzogen. Über die Analyse der sprachlichen Oberfläche der Textkorpora werden die Konzepte des Subthemas RAUM erschlossen. Bei dieser Analyse spielen die folgenden inhaltlichen Kategorien eine Rolle: die räumlichen Eigenschaften von Umgebungen (bspw. die Beschaffenheit und Ausstattung von Büroräumen), räumliche Beziehungen und Beziehungen im Raum (bspw. der Zusammenhang des physischen und sozialen Raums am Arbeitsplatz) und Veränderung im Raum (bspw. Formen der Mobilität zwischen Wohnort und Arbeitsort). 5.3.2 Die Analyse von RAUM in der vorliegenden Arbeit Nach der Analyse des ersten Subthemas ZEIT folgt die Analyse des Subthemas RAUM, das sich in der quantitativen Analyse der Medientexte als relevant erwiesen hat (vgl. Kapitel 5.1). Der konzeptuelle Zugriff auf das Subthema über die sprachliche Oberfläche gestaltet sich dabei diverser: Während die zum Subthema ZEIT zugehörigen Konzepte in vielen Fällen in einer Ausdrucksform fassbar sind (vgl. ›flexible Arbeitszeiten‹, ›presentismo‹ oder ›Freizeit‹), ist dies beim Subthema RAUM bei den Konzepten 5.3.3.1 und 5.3.3.3 mit den Ausdrücken „Homeoffice“, „teletrabajo“, „Mobilität“ und „movilidad“ möglich, bei den Konzepten des Kapitels 5.3.3.2 jedoch nicht. Die Konzepte des konzeptuellen Zugriffs SOZIALER UND PHYSISCHER RAUM ‚UNTERNEHMEN‘ müssen stattdessen über die Kollokationsanalyse verschiedener Ausdrücke und die Kombination von Suchausdrücken (bspw. „despacho” (dt. Büro) UND „empleado“ (dt. Angestellter) oder „*raum“ UND „Unternehmen“) erschlossen werden. Dies lässt sich an einem kurzen Beispiel verdeutlichen: Im Deutschen bezeichnet das Kompositum „Arbeitsplatz“ (4.008 Belege) den Ort, an dem Berufstätige arbeiten, und den Raum, in dem sie arbeiten. Daneben wird der Ausdruck aber auch sehr häufig in seiner übertragenen Bedeutung als Bezeichnung für die berufliche Beschäftigung selbst verwendet: 226. Die meisten haben Angst um ihren Arbeitsplatz, die wenigsten geben sich weiter cool. (Welt, 15.10.2002, Die Party ist aus) 411 Der Ausdruck „Arbeitsplatz“ deckt also ein Bedeutungsspektrum ab; die kontextsensitive Analyse des Ausdrucks ermöglicht einen Zugang zu verschiedenen Diskursphänomenen. Der Ausdruck „Arbeitsort“, der ausschließlich den physischen Ort der Arbeit 411
Vgl. Duden 2015, 177.
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5 Analyse der Korpora
beschreibt, findet sich sehr viel seltener (95 Treffer), wird aber in der Korpusanalyse ebenfalls eine große Rolle spielen. Im deutschen und im spanischen Korpus lässt sich nachvollziehen, dass die Kategorie RAUM deutlich stärkeren Veränderungen unterworfen ist als die Kategorie ZEIT. Zwar gibt es immer wieder Bestrebungen, eine generelle Veränderung der Arbeitszeit umzusetzen – so beispielsweise die Kürzung der täglichen Arbeitszeit auf sechs Stunden oder die Anpassung des spanischen Tagesablaufs –, jedoch handelt es sich dabei um theoretische Überlegungen, die in der Zukunft von Relevanz sein könnten. Der Arbeitsplatz ist hingegen von Veränderungen betroffen und wird in diesem Prozess des Wandels in den Medientexten kritisiert und gelobt. Alle Konzepte des Subthemas RAUM beinhalten Aspekte der Technisierung, die den Wandel des Arbeitsplatzes vorantreibt: Arbeit ist nicht mehr an einen bestimmten Ort, bestimmte Räumlichkeiten und die Ausstattung dieser Räumlichkeiten gebunden, sondern kann von überall aus stattfinden.412 Der Arbeitsplatz wird ins Virtuelle verlegt. Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass die Kategorien ZEIT und RAUM – wie auch die Kategorie ROLLEN/GRUPPEN, die später folgen wird – starke Verknüpfungen aufweisen: So war im Analysekapitel 5.2.1 zur Erfassung des konzeptuellen Zugriffs FLEXIBILITÄT die Berücksichtigung von zeitlichen und räumlichen Dimensionen essenziell; ebenso sind die Konzepte der Zugriffe VEREINBARKEIT, PRODUKTIVITÄT, ANWESENHEIT und ESSEN sowohl von zeitlichen wie auch von räumlichen Aspekten gekennzeichnet. Um die analytische Schärfe zu gewährleisten, wurden die Konzepte dennoch dem ersten Subthema ZEIT zugeordnet. Bei der Analyse der folgenden Konzepte verfahre ich äquivalent: Die Konzepte werden primär durch die Zuordnung zur Kategorie RAUM charakterisiert, in der Detailbeschreibung werden aber auch zeitliche Dimensionen berücksichtigt.
412
Von dieser Konzeptualisierung des Arbeitsplatzes sind nur bestimmte Gruppen von Berufstätigen betroffen. So sind produzierende Gewerbe grundsätzlich ausgenommen, da sie an einen Produktionsort gebunden sind. Der Schwerpunkt der Medientexte liegt nicht auf diesen Berufsgruppen, weshalb der Fokus der Analyse ebenfalls entsprechend gesetzt wurde. Vgl. Verknüpfung Heimarbeit wird von bestimmten Gruppen in Anspruch genommen, S.273.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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5.3.3 Konzeptanalyse 5.3.3.1 Konzeptueller Zugriff ZUHAUSE 5.3.3.1.1 Deutsches Konzept ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ Sprachliche Konstituierung Der Anglizismus „Homeoffice“ (der gelegentlich auch unter der Schreibweise „Home-Office“ oder „Home Office“ zu finden ist) bezeichnet die Arbeit von zu Hause aus. Der Ausdruck setzt sich aus den englischen Wörtern „home“ (dt. Heim) und „office“ (dt. Büro) zusammen und hat sich mittlerweile auch in der deutschen Medienberichterstattung etabliert; die deutsche Bezeichnung „Heimarbeit“ findet sich mit 149 Treffern etwa gleich häufig im Untersuchungskorpus („Homeoffice“ 45 Treffer, „Home-Office“ 52 Treffer, „Home Office“ 50 Treffer).413 Der Ausdruck bezeichnet laut Duden ein „[mit moderner Kommunikationstechnik ausgestattetes] Büro im eigenen Wohnhaus“ (Duden 2015, 886) – es handelt sich also um (Büro-)Arbeit, die von zu Hause aus erledigt wird. Ein externes Büro in einem Unternehmen kann dabei zusätzlich vorhanden sein, muss es aber nicht (bspw. im IT-Bereich oder bei freien journalistischen Tätigkeiten). Der Ausdruck wird dabei nicht nur als Orts- (im Homeoffice arbeiten), sondern auch als Tätigkeitsbezeichnung (Homeoffice machen) verwendet. Die Parameter RAUM und ZEIT kreuzen sich in dem Konzept: Im Homeoffice verbringt eine berufstätige Person Zeit an einem bestimmten Ort, dem Zuhause, und geht dort ihrer Erwerbstätigkeit nach. Ob dies mit mehr oder weniger großem Erfolg – im Sinne einer gesteigerten Produktivität oder Kreativität – geschieht und mehr Vor- als Nachteile hat, wird im Medienkorpus diskutiert. Zu der Kernbedeutung des Konzeptes gehört die Verknüpfung mit dem (Teil-)Konzept ›technischer Fortschritt, der die 413
Im Spanischen ist der Anglizismus „Homeoffice“ nicht gebräuchlich. Stattdessen wird der Ausdruck „teletrabajo“ (dt. Telearbeit/Teleheimarbeit) verwendet. Die wörtliche Übersetzung „Telearbeit“ findet sich im deutschen Korpus zum Teil (85 Mal). Der Ausdruck „Teleheimarbeit“ findet sich mit nur einem Beleg im deutschen Korpus, weist aber – im Gegensatz zu den Stichworten „Homeoffice“ oder „Heimarbeit“ – einen eigenen Wikipedia-Artikel auf. In den Artikeln der Wikipedia zu den Stichworten „Teleheimarbeit“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Teleheimarbeit letzter Zugriff 05.06.2017 16:15 Uhr) und „teletrabajo“ (https://es.wikipedia.org/wiki/Teletrabajo#Para_el_trabajador letzter Zugriff 05.06.2017 16:25 Uhr) fällt das Bewertungsmoment auf, das auch in den Korpora der vorliegenden Arbeit entscheidend ist. In beiden Wikipedia-Artikeln zeigt sich bereits in der inhaltlichen Gliederung, dass im Kontext der Konzepte vor allem die Bewertung entscheidend ist. Die Artikel stellen die Vor- und die Nachteile der Heimarbeit ausführlich dar, wobei jeweils die Arbeitgeberseite und die Arbeitnehmerseite beleuchtet wird. Im Spanischen wird zusätzlich auf die Vor- und Nachteile für den Staat und die Gesellschaft eingegangen. Interessant ist dabei, dass die Konzepte in den Wikipedia-Artikeln und in den Zeitungstexten vergleichbar dargestellt werden, dass sich der Titel des Online-Lexikons aber nicht mit der Wortwahl des deutschen Korpus deckt. Anmerkung: Im Januar 2018 wurde der deutsche Artikel „Teleheimarbeit“ mit dem Artikel „Telearbeit“ ersetzt (https://de.wikipedia.org/wiki/Telearbeit letzter Zugriff 24.01.2018 16:49 Uhr).
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5 Analyse der Korpora
Arbeit von zu Hause aus erlaubt‹. Diese Teilbedeutung deutet auch der Duden an; hier findet sich der eingeklammerte Zusatz „[mit moderner Kommunikationstechnik ausgestattetes] […]“ (ebd.). Konzeptuelle Verknüpfungen Viele der verknüpften Konzepte im Korpus sind in die Kategorien VORTEILE und NACHTEILE einzuordnen. Das Moment der Bewertung nimmt eine zentrale Stellung in der Konstitution des Konzeptes ein: Die Verknüpfungen werden danach geordnet, ob sie vorteilhaft oder nachteilhaft bewertet werden. Homeoffice und Technisierung/Digitalisierung Die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Möglichkeit der Arbeit von zu Hause werden eng verknüpft: Die Digitalisierung ermöglicht die Arbeit von einem anderen Ort aus über moderne Kommunikationstechniken; diese Techniken bergen zugleich die Gefahr, dass sie die Abgrenzung von Arbeit und Alltag nicht mehr zulassen. 227. „Das Homeoffice ist größtenteils technisch machbar und die Arbeitnehmer wünschen es sich, also sollten wir uns auf den Weg machen.“ (SZ, 16.11.2015, Homeoffice wagen)414 228. Wer im Homeoffice oder unterwegs arbeitet, braucht keinen Platz im Büro. Und wer ins Büro geht, bekommt eine individuelle Ausstattung – das System erkennt jeden Kollegen beim Log-in. So sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus (SZ, 06.11.2015, Einen Schreibtisch, bitte) 229. „Die Technik werden wir ebenso wenig abschaffen wie die Globalisierung oder das Internet“, sagte die Ministerin [Ursula von der Leyen] damals in Berlin. Die CDU-Politikerin forderte damals „glasklare Regeln“ für den Umgang mit Dienst-Handys. Es liege im Interesse der Arbeitgeber, „dass ihre Leute verlässlich vom Job abschalten, weil sie sonst auf Dauer ausbrennen“, sagte sie. (SZ, 01.03.2014, Tschüss, bis gleich!) In den Belegen werden gleichermaßen Chancen und Gefahren des mobilen Arbeitens und der Heimarbeit genannt. Es besteht Konsens darüber, dass es sich um die Arbeitsform der Zukunft handelt.415 Die Entwicklung wird dabei einerseits als wünschenswert, andererseits als nicht aufhaltbar und als reglementierungsbedürftig bewertet.
414
Bei dem Beleg handelt es sich um ein Interview mit der ehemaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles.
415
Vgl. auch SZ, 20.03.2013, „Auf Abruf“.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Arbeitsumgebung und das Wohlbefinden der Arbeitnehmer Die Verknüpfung des Konzeptes ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ mit dem Faktor des persönlichen Wohlbefindens der Arbeitnehmer wird im Medienkorpus als besonders wichtig gekennzeichnet, indem sie in besonders vielen Kontexten als (Teil-)Aspekt angeführt, auf der Metaebene als entscheidender Faktor beschrieben und in zentralen Textstellen genannt wird. 230. „Geben Unternehmen ihren Mitarbeitern mehr Freiheiten, die eigene Arbeitsumgebung zu wählen, zu gestalten und zu kontrollieren, erhöht dies die Zufriedenheit und das Wohlbefinden signifikant.“ Und darauf kommt es an. Arbeitspsychologen wissen: Wer sich im Büro wohlfühlt, arbeitet effektiver. (SZ, 06.11.2015, Einen Schreibtisch, bitte) Nicht nur die Freiheit in der Organisation der Arbeitszeit (die in Kapitel 5.2.3.1 beschrieben wurde), sondern auch die Freiheit bei der Wahl des Arbeitsplatzes beeinflusse das Wohlbefinden der Mitarbeiter enorm.416 Zum Wohlbefinden der Mitarbeiter gehören ihre allgemeine Zufriedenheit sowie der Aspekt der psychischen und physischen Gesundheit. 231. Am zufriedensten seien Eltern, die sich ihre Arbeit frei einteilen und zu Hause arbeiten könnten. „Von den gesundheitlich nicht belasteten Eltern hat ein signifikant größerer Anteil die Option zum Homeoffice“, schreiben die Autoren. „Zugleich zeigt sich, dass Eltern, denen es gesundheitlich nicht gut geht, signifikant häufiger Partner haben, die an feste Arbeitszeiten gebunden sind oder häufig Wochenendarbeit leisten müssen.“ (Welt, 07.03.2014, Jedes fünfte Kind fühlt sich krank) Die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, wird hier mit dem Wohlbefinden aller Familienangehörigen, beispielsweise der Lebenspartner, aber auch demjenigen der Kinder, verknüpft. Heimarbeit ermöglicht die bessere Vereinbarkeit Das Konzept ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ wird mit dem Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ verknüpft, die dadurch ermöglicht wird. So finden sich Verknüpfungen zwischen der Heimarbeit und dem Aspekt der Kinderbetreuung:
416
In vielen Belegen endet die Argumentation mit einem Verweis auf die Produktivität der Unternehmen, die sich durch eine bestimmte Form der Unternehmensorganisation – in diesem Fall die Einrichtung von Homeoffice-Arbeitsplätzen – erhöhe. Das Konzept ›Produktivität‹ wird so als Hintergrundfolie hinter eine Vielzahl von anderen Konzepten gestellt (siehe auch Kapitel 5.2.3.5.1).
272
5 Analyse der Korpora
232. Geht doch, Kindergeld? Schön und gut. Aber wenn der Arbeitgeber den Mitarbeitern viel Raum lässt bei der Wahl von Arbeitszeit und Arbeitsort, dann hilft das wesentlich besser, Familie und Karriere zu vereinbaren (SZ, 24.12.2014, = Titel) Neben der Option, im Homeoffice zu arbeiten und so zugleich die Kinder zu betreuen, werden im Kontext der Kategorie RAUM weitere Möglichkeiten der Kinderbetreuung genannt, zum Beispiel die Einrichtung von betrieblichen Kindergärten oder von Eltern-Kind-Arbeitszimmern in den Unternehmen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die durch räumliche Gestaltung ermöglicht wird, betrifft nicht nur die Betreuung von Kindern, sondern auch die Pflege von Angehörigen, die durch die Arbeit von zu Hause aus besser ermöglicht wird.417 Das Konzept der häuslichen Pflege von Familienangehörigen, der Wunsch nach Vereinbarkeit von Berufs- und Pflegetätigkeit und der Lösungsansatz des flexiblen Umgangs mit dem Arbeitsplatz werden verknüpft.418 Heimarbeit als Faktor, der die Umwelt beeinflusst Einige der genannten Vorteile wirken sowohl auf individueller Ebene wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. So wird angenommen, dass die Arbeit im Homeoffice die Fahrtzeiten der Arbeitnehmer und die Zeit, die diese täglich im Stau verbringen, signifikant verringert, was sich wiederum positiv auf die globalen CO2-Emissionen auswirkt. 233. Weniger Reisekosten, weniger Energieverbrauch in den Büros, weniger Staus. Würde jedermann die Hälfte seiner Arbeitszeit im Home Office verbringen, hat der Interessenverband Global Workplace Analytics ausgerechnet, dann würden sich allein in den USA die CO2-Emissionen um 51 Millionen Tonnen pro Jahr verringern […] Auch anderswo erkennt man die ökologischen Vorteile: Japan bietet Firmen Steuervorteile, die ihren Mitarbeitern einen Telearbeitsplatz ermöglichen. (SZ, 13.04.2013, Vom Dasein) 234. Jeder nach Hause verbannte Beschäftigte bringt 11.000 Dollar pro Jahr, wie eine Beraterfirma kalkuliert. Schließlich bekommt die Firma dann das Büro samt Betrieb gratis. Zudem steigt die Produktivität, wenn nur Ergebnisse gemessen werden […] Hinzu kommen die volkswirtschaftlichen Ersparnisse. Der Energieverbrauch, die Umweltbelastung und alle Kosten des Straßenverkehrs sinken erheblich, wenn der tägliche Weg zur Arbeit entfällt. (SZ, 27.02.2013, Heimarbeit) Zudem verringere sich die Energieabrechnung des Unternehmens, das im Idealfall nicht mehr Arbeitsplätze für alle Mitarbeiter bereitstellen muss oder die Arbeitsplätze für eine Teilzeitnutzung optimieren kann. 417
Vgl. taz, 08.01.2011, „Kraft sparen und Zeitinseln schaffen“.
418
Vgl. Kapitel 5.2.3.3.2 zum Konzept ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Heimarbeit wird von bestimmten Gruppen in Anspruch genommen Das Konzept ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ wird mit Wörtern verknüpft, die eine bestimmte Gruppe von Menschen bezeichnen: zum einen weibliche Arbeitnehmer, zum anderen bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern. I Heimarbeit und weibliche Arbeitnehmer: eine Chance für die Emanzipation Die Arbeit von zu Hause aus wird in den Medientexten als Arbeitsform konzeptualisiert, die besonders für Frauen von großem Interesse ist: Sie profitieren von der Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, da sie vermehrt für die Betreuung des Nachwuchses verantwortlich sind und häufig die Pflege von Angehörigen übernehmen. 235. Nicht nur Frauen in Führungspositionen sind vermehrt von Fragen des Homeoffice betroffen, sondern auch Frauen generell und Frauen, die Kinder haben (SZ, 02.05.2015, Digitalisierung)419 Die Arbeit im Homeoffice wird als maßgebliche Rahmenbedingung genannt, mit der Unternehmen weibliche Arbeitnehmer anziehen können und deren Fehlen bestimmte Unternehmen, Positionen oder Sektoren – wie die Ingenieurberufe – für Frauen weniger erstrebenswert scheinen lässt. Zum anderen wird das Konzept ›Homeoffice‹ in den Medientexten als Attribut zur Charakterisierung eines bestimmten Typus von Frau genutzt: 236. Zwei Wochen vor der Geburt verließ Belz ihr Büro, zwei Monate danach richtete sie sich ein Homeoffice ein, nach fünf Monaten kam sie Vollzeit zurück. Ihre Mutterpflichten organisiert sie mit Hilfe von Kindermädchen, Großmutter und Kita. Anstrengend sei das schon und auch teuer: „Frauen müssen dafür bezahlen, dass sie arbeiten dürfen.“ Dafür erntet sie im Bekanntenkreis auch noch schiefe Blicke und offene Vorwürfe. (Spiegel, 28.01.2008, „Eine Sache des Wollens“) Der Beleg charakterisiert exemplarisch eine Staatsanwältin als ambitionierte Mutter, die sich bemüht, Kind und Karriere zu vereinbaren, und dafür auf Maßnahmen wie die Arbeit im Homeoffice oder alternative Möglichkeiten der Kinderbetreuung angewiesen ist.420 Für eine Frau, die beruflich erfolgreich ist und es zugleich schafft, sich um ihre Kinder zu kümmern, wird häufig die Bezeichnung der „Karrierefrau“ oder auch der „Karrieremutter“ verwendet (vgl. Kapitel 5.4 zum Subthema ROLLEN/GRUPPEN).
419
Vgl. auch SZ, 13.04.2013, „Vom Dasein“ und SZ, 16.04.2011, „Die Zeiten ändern sich. Wie sich die Unternehmen um Ingenieurinnen bemühen – und woran es immer noch fehlt“.
420
Vgl. hierzu auch taz, 17.11.2012, „Nur Masse bewegt“: In diesem Beleg wird die ehemalige Familienministerin Kristina Schröter über eine ähnliche Beschreibung charakterisiert.
274
5 Analyse der Korpora
II Heimarbeit als privilegierte Arbeitsform bestimmter Gruppen In den Belegen 235 und 236 deutet sich bereits an, dass die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten, nur von einer Gruppe bestimmter Arbeitnehmer in Anspruch genommen wird. Dies wird in den folgenden Belegen noch deutlicher: 237. Sicher, nicht jeder Job eignet sich für Telearbeit. Krankenschwestern oder Handwerker müssen immer noch präsent sein. Aber es geht um all jene ehemaligen Büroinsassen, um Reiseagenturmitarbeiterinnen, um Ingenieure und Entwickler, um Wissenschaftler und Designer, deren Jobschwerpunkt längst im Virtuellen liegt – bei denen es also nicht mehr relevant ist, wo oder wann, sondern nur, dass und wie die jeweiligen Aufgaben erledigt werden. Manchmal stellt sich dann heraus, dass für die junge Mutter Abend- oder Nachtstunden als Arbeitszeit günstig sind, weil dann die Kinder schlafen. (SZ, 13.04.2013, Vom Dasein) 238. Besonders verbreitet ist die Heimarbeit in großen Betrieben mit über 500 Beschäftigten. Dort bietet – etwa gleich verteilt auf alle Branchen – gut jedes zweite Unternehmen auch Homeoffice an. Dies gilt in erster Linie für die Angestellten und kaum für Arbeiter, die oft an Produktionsorte gebunden sind. Am häufigsten finden sich Heimarbeiter unter den Führungskräften im Dienstleistungssektor. Dort sitzen 64 Prozent der Chefs zumindest gelegentlich auch zu Hause am Schreibtisch. (Welt, 19.11.2015, Heimarbeit macht glücklich) 239. Fabrikarbeiter zum Beispiel. Menschen, die bei BMW, Daimler oder VW am Band stehen und Autos zusammenschrauben, haben Feierabend, wenn ihre acht Stunden im Werk rum sind, weil sie ja schlecht ein halbes Auto mit nach Hause nehmen können, um daheim weiterzuschrauben. (SZ, 01.03.2014, Tschüss, bis gleich!) Die Gruppen, die laut den analysierten Artikeln des Medientextkorpus am häufigsten im Homeoffice arbeiten, sind: a. Angestellte, die ihrer Bürotätigkeit im Homeoffice nachgehen (weil sie dies bevorzugen, bspw. aufgrund ihrer familiären Verhältnisse), b. Führungskräfte aller Bereiche, die ihre Arbeit mit nach Hause nehmen und häufig lange Arbeitszeiten haben, c. Freiberufler, Kreative und Wissenschaftler, die zum Teil über kein Büro verfügen und ihrer Arbeit zu Hause oder an öffentlichen Plätzen (Kaffees, Bibliotheken…) nachgehen. All diese Gruppen von Arbeitnehmern lassen sich als privilegierte Arbeitnehmer beschreiben, auch wenn die Arbeitsbedingungen mitunter nicht an die Höhe des Gehaltes gebunden sind. Eine andere Gruppe weniger privilegierter Arbeitnehmer –
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
275
wie die genannten Fabrikarbeiter (vgl. Beleg 239) – hat keinen Zugang zu Arbeitsformen wie Homeoffice oder zu flexiblen Arbeitszeiten. Arbeitsumgebung: gesteigerte Kreativität und Produktivität in bestimmten Berufsgruppen Im Kontext einiger der genannten Berufsgruppen wird darauf verwiesen, dass sich die Arbeitsumgebung auf die Arbeitsleistung auswirken kann: 240. Und manchmal stellt sich auch heraus, dass sich für den nerdigen, aber genialen Webdesigner die Taktung von zwei Stunden Arbeit, zwei Stunden Schlaf, dann wieder ein paar Stunden Arbeit . . . als sehr produktiv erweist. Warum muss es immer der klassische Working-nine-to-five-Arbeitstag sein? […] Telearbeit wird, so sagen Wissenschaftler, mit signifikant höherer Zufriedenheit im Job assoziiert. Telearbeiter denken seltener daran, sich anderswo eine Stelle zu suchen. Sie haben weniger Stress. Und sogar das Verhältnis zu den Vorgesetzten fällt besser aus. Das wohl bekannteste Experiment zur Produktivität im Home Office stammt von der Universität Stanford. In einer chinesischen Reiseagentur wurden die Angestellten per Zufallsgenerator ausgewählt – entweder für einen HomeArbeitsplatz oder fürs Büro. Die Resultate waren eindeutig: Heimarbeiter waren seltener krank und fielen daher weniger aus, sie schafften mehr Anrufe in der gleichen Zeit und waren um einiges zufriedener als ihre Kollegen im Büro. Nach Abschluss der Studie ließ die Agentur ihre Angestellten wählen, ob sie lieber von zu Hause aus arbeiten wollten – oder nicht. Die Produktivität der Agentur stieg daraufhin um 22 Prozent. Andere große Firmen stellten fest, dass sie eine Menge Geld sparen konnten, wenn sie Telearbeit zuließen. Selbst eine kritische Metastudie der California State Polytech University kam zu dem Schluss, dass es schwierig sei, Veröffentlichungen zu finden, die darauf hinwiesen, dass Telearbeit die Produktivität um weniger als zehn Prozent steigere. (SZ, 13.04.2013, Vom Dasein) Einerseits wird in individuellen Narrativen beschrieben, dass sich bestimmte Arbeitsabläufe zu Hause besser realisieren lassen, andererseits werden Studien beschrieben, die eine Produktivitätssteigerung auf Unternehmensebene feststellen. Das Konzept ›Homeoffice‹ wird mit Hochwerten der deutschen Gesellschaft verknüpft – zum einen mit sozialen Hochwerten wie den Konzepten ›Emanzipation‹ und ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹, zum anderen mit ökonomischen Hochwertkonzepten wie ›technischer Fortschritt‹, ›gesenkte Energiekosten/CO2-Emissionen‹ und ›Produktivität‹. Die Gefahren des Homeoffice: Selbstausbeutung und Vereinsamung Die ausgewerteten Zeitungsartikel stellen sowohl die positiven Seiten als auch die negativen Seiten der Arbeit von zu Hause aus dar. Die positiven Effekte zeigen sich in
276
5 Analyse der Korpora
den Verknüpfungen zu den genannten Hochwerten. Auf der anderen Seite wird auf die Gefahren der Arbeit von zu Hause aus verwiesen: Die dauerhafte Erreichbarkeit, die durch die Digitalisierung des Arbeitsplatzes möglich wird, führe zu einer zu starken Vermischung von Berufs- und Privatleben, Abschalten sei mitunter gar nicht mehr möglich, so mancher Arbeitnehmer setze sich selbst allzu sehr unter Druck. 241. Die flexiblere Gestaltung bringe den Beschäftigten zwar neue Freiräume, aber auch neuen Druck: „Das Gute an solchen Modellen ist: Wir können immer und überall arbeiten. Das Schlechte daran: Wir können immer und überall arbeiten“, so die Psychologin. Nicht wenige fühlten sich deshalb beispielsweise im Homeoffice besonders unter Druck gesetzt, es falle ihnen schwerer, wirklich Feierabend zu machen. „Die Arbeit greift viel stärker ins Privatleben ein. Manch einer denkt, weil er immer erreichbar sein könnte, muss er das auch tatsächlich sein.“ Und manch einer will es durchaus auch sein. (SZ, 12.09.2013, Die Welt in Zahlen) 242. Genau das, denkt man sich, sollte doch in Zeiten von Skype und Facetime nicht mehr allzu schwierig sein. Aber offenbar gilt immer noch: aus den Augen, aus dem Sinn. Und dieses Vergessen wirkt sich auf die Selbstbefindlichkeit der draußen Arbeitenden aus. Obwohl Home Office grundsätzlich zufriedener macht, gehört zu den häufigen Klagen das Gefühl der Vereinsamung. Kein Mensch mag es, dass er offenbar gar nicht für andere existiert. (SZ, 13.04.2013, Vom Dasein)421 Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich bringt und die weithin auflösen, wann und wo gearbeitet werden kann, stellen also – bei falschem Umgang – zugleich eine Gefahr für das Wohlbefinden der Berufstätigen dar. Rechtliche Situation und Arbeitsplatz Einige Artikel verweisen darauf, dass die rechtliche Situation vermeintlich eindeutig geregelt ist und allgemein eine bestimmte Höchstarbeitszeit gilt. Deshalb brauche es nach Meinung vieler Experten auch keine Regeln zu einem „Recht auf Unerreichbarkeit“ (SZ, 01.03.2014, Tschüss, bis gleich!): 243. Doch das Arbeitszeitgesetz zieht klare Grenzen. Höchstens zehn Stunden am Tag darf jemand beschäftigt werden, 48 Stunden in der Woche. Auch Sonntagsarbeit ist verboten. Und: Rein rechtlich gibt es außerhalb der Arbeitszeit keine Verpflichtung, auf dem Dienst-Handy ständig erreichbar zu sein. (ebd.) Dennoch finden sich auch Beispiele mit Verweisen auf eine bestimmte Arbeitssituation, die verdeutlichen, dass die allgemeinen Regeln in bestimmten Kontexten wiederum nicht gültig sind: 421
Vgl. auch SZ, 02.05.2015, „Digitalisierung“ und SZ, 28.12.2015, „Einfach abschalten“.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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244. „Wenn Sie mit Begeisterung bei der Sache sind – und das muß eine Führungskraft sein – können Sie nicht einfach einen Schalter umlegen, wenn Sie das Büro verlassen“, meint Hermann Simon, Chairman der Unternehmensberatung Simon Kucher in Bonn. „Umgekehrt können Sie ja auch als Familienvater oder -mutter nicht völlig abschalten, wenn zum Beispiel die Kinder daheim krank sind.“ (Welt, 19.03.2005, Entspannt auf dem Hochseil) 245. Auch in seinem HomeOffice ist er rund um die Uhr mit den Nervenzentren der internationalen Finanzwelt verbunden. „Das ist so in meinem Arbeitsvertrag geregelt”, sagt Rizos, und es klingt fast wie eine Entschuldigung. (SZ, 27.07.2006, Vom Bauingenieur zum Milliardenjongleur) Obwohl das Arbeitszeitgesetz regelt, wie viele Stunden in der Woche Arbeitnehmer erreichbar zu sein haben, scheint die permanente Erreichbarkeit dennoch zu bestimmten Berufsgruppen und Posten dazuzugehören: Der Arbeitsplatz als Ort, der der Tätigkeit des Arbeitens gewidmet ist und sich damit gegenüber den anderen Orten, die für andere Tätigkeiten genutzt wurden, auszeichnet, löst sich auf und stellt damit zugleich das allgemeine Verhältnis von Beruf und Alltag in Frage. Bewertung des Konzeptes Die sprachliche Bewertung des Konzeptes ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ stellt einen zentralen Aspekt dar: In der Diskussion, ob die Arbeit von zu Hause aus ermöglicht wird oder ermöglicht werden sollte, finden sich zahlreiche Bewertungen. Einige Belege weisen ausschließlich auf die Vorteile des Homeoffice hin, so zum Beispiel auf die gesteigerte Produktivität in Unternehmen, die die Arbeit im Homeoffice ermöglichen. Andere Belege weisen auf Vorteile hin, wie die gesparte Fahrtzeit zum Arbeitsplatz, die geringeren CO2-Emissionen und die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, nennen aber auch Gefahren des Homeoffice, wie eine mögliche Überlastung der Arbeitnehmer durch die ständige Erreichbarkeit oder auch die drohende Gefahr der Vereinsamung: 246. Die Vorteile des Homeoffice liegen für die Beschäftigten auf der Hand: Sie sparen Fahrzeit und können Beruf und Privatleben besser vereinbaren, geben jeweils mehr als 70 Prozent der Befragten an. Manche Tätigkeiten ließen sich ohnehin besser von daheim erledigen, sagen 63 Prozent. Weniger schwer wiegt dagegen der schlechtere Kontakt mit Kollegen (22 Prozent) und die stärkere Vermischung von Arbeit und Privatem, über die etwa jeder zweite Heimarbeiter klagt. Tatsächlich arbeiten Heimarbeiter mehr und machen mehr Überstunden als ihre Kollegen, die nie von zu Hause arbeiten. Die Konturen zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen aber auch für die anderen zusehends. So bekommen etwa zwei Drittel aller Angestellten auch in der Freizeit gelegentlich dienstliche Anrufe oder müssen dringende Mails beant-
278
5 Analyse der Korpora
worten. Der Anteil derjenigen, die außerhalb der Arbeit nie dienstlich erreichbar sind, sank seit 2013 von 40 auf 35 Prozent. (Welt, 19.11.2015, Heimarbeit macht glücklich) Die Vorteile werden explizit als solche benannt und damit als handfeste Tatsachen konzeptualisiert. Die Nachteile hingegen werden als „weniger schwer [wiegend]“ (ebd.) gekennzeichnet und als möglicherweise drohend, aber durchaus vermeidbar beschrieben, beispielsweise durch genügende Selbstdisziplin.422 Durch den richtigen Umgang mit der Heimarbeit könnten die Nachteile vermieden werden. Während es sich bei den Vorteilen außerdem um gesellschaftsübergreifende Aspekte handelt, die zum Beispiel die globale Umwelt betreffen, finden sich negative Auswirkungen fast ausschließlich auf persönlicher Ebene. Auch hier ist jedoch das Argument, sich um ein krankes Kind kümmern zu können, entscheidender als das Argument, dass der Stress, der durch die Doppelbelastung entsteht, das Wohlbefinden des Nachwuchses und des Partners beeinträchtigen könnte. Die Arbeit von zu Hause aus wird zudem als Arbeitsform der Zukunft beschrieben, die durch den Prozess der Digitalisierung ermöglicht wird und sich in den kommenden Jahren weiter durchsetzen wird. Verschiedene politische Akteure, wie die frühere Arbeitsministerin Ursula von der Leyen423 und die nachfolgende Arbeitsministerin Andrea Nahles,424 weisen darauf hin, dass Schritte in diese Richtung unternommen werden müssten. Die Diskursakteure verweisen mitunter auf die rechtliche Situation, nach der Homeoffice ermöglicht werden, jedoch nicht erzwungen werden kann. Der Zwang zur dauerhaften Erreichbarkeit sei hingegen über das Arbeitszeitgesetz ausgeschlossen, das in den meisten Berufsgruppen eingehalten werde. Die Vorteile der Arbeit im Homeoffice werden damit weiter in den Vordergrund gerückt. Das Thema der Arbeitszeit scheint bereits länger diskutiert zu werden, nun schließt sich das Thema des Arbeitsplatzes an. Der Diskurs ist geprägt von Anglizismen, die auf die Neuheit des Phänomens im deutschen Diskurs verweisen; so arbeitet die „digitale Boheme“ in „Co-Working-Spaces“ oder „Virtual Offices“ und nutzt dazu „Smartphones“ und „Notebooks“ – das „Sharing“ (dt. Teilen) des Arbeitsplatzes wird als Zukunftsmodell propagiert (vgl. SZ, 06.11.2015, Einen Schreibtisch, bitte). Bei all dem handelt es sich um eine „Win-Win-Situation“ für Arbeitgeber wie für Angestellte (vgl. SZ, 04.05.2013, Mit Rollenkoffer und Spind) – um eine Situation also, in der beide Seiten gewinnen.
422
Vgl. SZ, 28.12.2015, „Einfach abschalten“.
423
Vgl. SZ, 01.03.2014, „Tschüss, bis gleich!“.
424
Vgl. SZ, 16.11.2015, „Homeoffice wagen“.
Die Arbeit von zu Hause aus wird zumeist mit dem Anglizismus „Homeoffice“ oder dem deutschen Ausdruck „Heimarbeit“ bezeichnet. Der Anglizismus „Homeoffice“ und die vielen Anglizismen im Kotext („Co-Working-Spaces“, „Virtual Offices”, „Sharing“ (dt. Teilen des Arbeitsplatzes) etc.) verweisen darauf, dass es sich um ein neueres Diskursphänomen handelt, das aus dem angloamerikanischen Raum übernommen wurde. Heimarbeit wird durch die Verknüpfung mit positiv bewerteten Konzepten (›Gesundheit‹, ›technischer Fortschritt‹, ›Vereinbarkeit‹, ›gesenkte Energiekosten/ CO2-Emissionen‹, ›Emanzipation‹, ›Kreativität‹, ›Produktivität‹ etc.) ebenfalls positiv konnotiert.
‘Homeoffice wird durch die Technisierung und Digitalisierung möglich und ist die Arbeitsform der Zukunft.’
‘Heimarbeit bietet viele Vorteile.’
a. ‘Heimarbeit wird besonders von weiblichen Arbeitnehmern in Anspruch genommen und fördert die Emanzipation der Frau.’
‘Die Arbeit im Homeoffice ist besonders in bestimmten Gruppen verbreitet.’
‘Heimarbeit verkürzt den Weg zum Arbeitsplatz und vermeidet so lange Fahrtzeiten und Staus. So werden die CO2-Emissionen und darüber hinaus die Energiekosten des Unternehmens gesenkt, weil weniger Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden müssen.’
‘Heimarbeit vereinfacht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. die Vereinbarkeit von Beruf und der Pflege von Angehörigen.’
Das Konzept wird gruppenspezifisch verknüpft: Einige Gruppen von Arbeitnehmern nehmen Homeoffice häufiger in Anspruch. In bestimmten Gruppen ist
Metadiskursive Deutung
Befund
‘Die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, erhöht das Wohlbefinden der Arbeitnehmer und beugt gesundheitlichen Problemen vor.’
(Büro-)Arbeit, die von zu Hause aus erledigt wird und bei der moderne Kommunikationskanäle genutzt werden
›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹
Gruppenspezifik
Verknüpfung mit Hochwertkonzepten
Neuheit des Diskursphänomens
Anglizismen
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 35: Konzept ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
279
‘Das Arbeitszeitgesetz regelt, wie viele Stunden Arbeitnehmer in der Woche erreichbar sein dürfen. Die Obergrenze darf auch im Homeoffice nicht überschritten werden. Dennoch gibt es Berufsgruppen, in denen diese Regeln nicht gelten.’
‘Heimarbeit kann zu Selbstausbeutung, Stress, Burn-Out und Vereinsamung führen.’
≠
- mehr Vor- als Nachteile genannt werden.
‘Heimarbeit wirkt sich positiv auf die Arbeitsleistung aus und steigert die Kreativität und Produktivität.’
Diskursakteure verweisen auf die Eindeutigkeit der Gesetzgebung; dennoch finden sich Ausnahmen.
Es wird auf individuelle Situationen verwiesen, in denen sich die Produktivität verbessert, und es werden Studien zitiert, die die Produktivitätssteigerung im Homeoffice nachweisen. Während die Vorteile als sehr wahrscheinlich konzeptualisiert werden, werden die Nachteile als vermeidbar bewertet.
- Homeoffice als Arbeitsform der Zukunft beschrieben wird.
- die Nachteile als vermeidbar gekennzeichnet werden.
- gewichtigere Vor- als Nachteile genannt werden.
Das Konzept ›Homeoffice‹ wird überwiegend positiv bewertet, indem
die Arbeit von zu Hause aus eher möglich; bei diesen Gruppen handelt es sich um privilegierte Berufsgruppen.
‘Die Arbeit im Homeoffice hat viele Vorteile und einige Nachteile, die aber vermeidbar sind.’
c. ‘Bestimmte Berufsgruppen sind an einen festen Ort gebunden, an dem sie ihre Arbeit erledigen.’
iii. Freiberufler, Kreative, Wissenschaftler.’
ii. Führungskräfte
i. Angestellte
b. ‘Heimarbeit ist als privilegierte Arbeitsform besonders in bestimmten Gruppen verbreitet:
Gesetzgebung
Diskursautorität durch Studien
positive Bewertung
280 5 Analyse der Korpora
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
281
5.3.3.1.2 Spanisches Konzept ›teletrabajo‹ (dt. Teleheimarbeit) Der Ausdruck „teletrabajo“ findet sich im spanischen Medientextkorpus 385 Mal und lässt sich mit dem Nomen „(Tele-)Heimarbeit“ ins Deutsche übersetzen. Die Ausdrucksform deckt auch die erste Person Singular des Verbs „teletrabajar“ (1. Ps. Sg. Präsens „teletrabajo“, dt. ich arbeite von zu Hause aus) ab, die aber deutlich seltener verwendet wird; als Verb in unterschiedlichen Konjugationsformen findet sich der Ausdruck 51 Mal. Zuletzt findet sich auch der Ausdruck „teletrabajador/a/es/as“ mit 46 Treffern als Gruppenbezeichnung für die Berufstätigen, die im Homeoffice arbeiten. Zwei der Treffer beschreiben dabei explizit weibliche Arbeitnehmer als „teletrabajadora“ bzw. „teletrabajadoras“; diese werden im Folgenden gesondert betrachtet. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›teletrabajo‹ meint eine Arbeitsform, bei der der angestellte Arbeitnehmer regelmäßig und vertraglich festgelegt außerhalb des Firmengebäudes im eigenen Zuhause arbeitet. Dazu nutzt er digitale Kanäle, die vom Unternehmen bereitgestellt werden. Das Aufrufen von E-Mails und das Tätigen eines Anrufes nach Dienstschluss werden nicht als Teleheimarbeit aufgefasst; im Gegensatz zum deutschen Konzept ›Homeoffice‹ schließt das spanische Konzept ›teletrabajo‹ die Tätigkeiten von Freiberuflern, Kreativen und Wissenschaftlern nicht ein. Wie beim deutschen Konzept spielen auch im spanischen Konzept die Dimensionen RAUM und ZEIT gemeinsam eine Rolle. Darüber hinaus ist das Konzept vom Sprechen über die Vor- und Nachteile der Umsetzung des „teletrabajo“ geprägt. Konzeptuelle Verknüpfungen Die Verknüpfungen des Konzeptes ›teletrabajo‹ decken sich zum Teil mit jenen, die bereits im deutschen Korpus festgestellt wurden, zum Teil ergeben sich Unterschiede. Im Folgenden werden zunächst die gemeinsamen Verknüpfungen des Deutschen und Spanischen dargestellt, anschließend die spezifischen Verknüpfungen des spanischen Korpus. Die Verknüpfungen lassen sich erneut in die Kategorien VORTEILE und NACHTEILE einteilen. Vorteile und Nachteile der Heimarbeit Anhand des folgenden Artikels „Teletrabajar no es trabajar en pijama desde el sofá“ lässt sich nachvollziehen, dass sich viele der Vor- und Nachteile der Heimarbeit mit denen des deutschen Korpus überschneiden.
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5 Analyse der Korpora
247. […] “el empleado debe acondicionar bien su espacio y ser respetuoso con ciertos hábitos y rutinas. Y el empresario debe tener en cuenta que teletrabajar no significa estar disponible 24 horas 365 días al año para atender de forma remota las demandas de la organización”. “Teletrabajar no es trabajar en pijama tirado en un sofá. Tienes que tener una disciplina y una cierta organización”, añade Juan Luis Martín. […] “El empleado se evita los atascos, puede ser más productivo al no ser interrumpido por sus compañeros, tiene más flexibilidad horaria y esto le permite conciliar mejor la vida personal y profesional; aunque también tiene algunos riesgos como que algunos empleados aprovechen para esquivar sus responsabilidades al no existir un control visual; o que se produzcan fugas de información como temen algunas empresas”. (Mundo, 15.03.2015)425 426 Zu den genannten Vorteilen gehören die Vermeidung der Staus auf dem Weg zur Arbeit (und die damit einhergehenden ökologischen Vorteile), die gesteigerte Produktivität, größere Flexibilität und die bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Wie bereits im deutschen Korpus, wird auch im spanischen Korpus darauf hingewiesen, dass die Unternehmen Kosten sparen, wenn sie vermehrt auf Heimarbeit setzen.427 Als zu vermeidende Schwierigkeiten werden die dauerhafte Erreichbarkeit, die ungenügende Selbstdisziplin, die zu langen Arbeitstagen führt, und die Isolation von den Kollegen genannt. Die Vor- und Nachteile werden am Ende des Artikels noch einmal zusammengefasst. Damit wird in der Medienberichterstattung visuell hervorgehoben, dass es verschiedene Aspekte gibt, die berücksichtigt werden müssen (vgl. ebd.). Zuletzt wird angeführt, dass einige Unternehmen auch mangelhafte Datensicherheit befürchten.
425
Dt. „Der Angestellte muss seine Räumlichkeiten gut herrichten und sich an bestimmte Gewohnheiten und Routinen halten. Und der Unternehmer muss beachten, dass Teleheimarbeit nicht bedeutet, an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden erreichbar zu sein, um sich aus der Ferne um die Anliegen des Unternehmens zu kümmern.“ „Teleheimarbeit heißt nicht, im Schlafanzug vom Sofa aus zu arbeiten. Du musst eine bestimmte Disziplin und Organisation haben“, fügt Juan Luis Martín hinzu. […] „Der Angestellte vermeidet die Staus [auf dem Weg zur Arbeit], kann produktiver sein, wenn er nicht von seinen Kollegen unterbrochen wird, hat mehr zeitliche Flexibilität, und dies erlaubt ihm, sein Privatleben und Berufsleben besser zu vereinbaren; es gibt aber auch ein paar Risiken, wie dass sich einige Angestellte um ihre Verantwortung drücken, wenn es keine visuelle Kontrolle gibt; oder dass es Probleme mit der Datensicherheit gibt, wie einige Unternehmen befürchten“.
426
Vgl. auch País, 23.09.2012, „El teletrabajo crea miedo por el aislamiento“, Mundo, 09.10.2011, „El teletrabajo que mejor se paga“ und Mundo, 10.02.2009, „Gelo Alvarez/Interiorista y promotor de ‚en el trabajo como en casa‘“.
427
Vgl. Mundo, 09.10.2011, „El teletrabajo que mejor se paga“ und País, 29.01.2008, „La nueva utopía es vivir lejos y mejor“.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Heimarbeit und Frauen Im spanischen Korpus wird deutlich in den Vordergrund gestellt, dass es vor allem Frauen sind, die von der Möglichkeit der Heimarbeit profitieren und die diese in Anspruch nehmen. Die Verknüpfung ähnelt damit der Verknüpfung, die bereits im deutschen Korpus auffiel: Frauen sind eine Gruppe, die die Schwierigkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie besonders betrifft, und somit sind sie zugleich die Gruppe von Arbeitnehmern, die am deutlichsten von den Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit, so beispielsweise vom Angebot der Heimarbeit, profitiert. 248. “En España, las mujeres son un grupo sensible a las dificultades de conciliar la vida profesional y laboral. Para equilibrar estos aspectos, hay ayudas promovidas por los organismos centrales y gestionadas en el ámbito regional, por ejemplo, las ayudas al empleo: medidas de conciliación de la vida laboral y familiar.” (País, 30.03.2008, ¿Se subvenciona el teletrabajo?)428 Die Maßnahme ›teletrabajo‹ unterstützt die Integration der weiblichen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt und fördert die Emanzipation. Dieser Aspekt wurde auch im deutschen Korpus erwähnt. In den spanischen Medientexten wird diese Forderung allerdings mit deutlicheren Worten artikuliert, indem beispielsweise Überschriften formuliert werden, die die Ungleichheit zwischen den männlichen und weiblichen Arbeitnehmern explizit betonen: - País, 14.11.2010: Más formadas, pero con peores empleos429 - Mundo, 13.05.2007: Conciliación. La desigualdad también reina en el teletrabajo. Los funcionarios que se apuntaron al plan piloto elogian el teletrabajo en la Administración, pero los sindicatos advierten que la masiva inscripción de mujeres puede ser perversa y perpetuar las desigualdades.430 In einem Artikel, der grundsätzlich davon ausgeht, dass die Arbeit im Homeoffice den weiblichen Arbeitnehmern die Vereinbarkeit erleichtere, wird dennoch befürchtet, dass die große Zahl der weiblichen Arbeitnehmer, die Homeoffice in Anspruch nehmen, sich negativ auswirken könne und die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen aufrechterhalte anstatt sie abzumildern. Im selben Artikel wird ein Arbeitneh428
Dt. „In Spanien ist es die Gruppe der Frauen, die besonders von den Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Berufs- und Arbeitsleben betroffen ist. Um diese Aspekte auszugleichen, gibt es Hilfen, die von den zentralen Behörden gefördert und regional verwaltet werden, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt: Maßnahmen der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben.“ (Titel: Wird die Teleheimarbeit subventioniert?).
429
Dt. Besser ausgebildet, aber mit schlechteren Jobs.
430
Dt. Vereinbarkeit. Die Ungleichheit herrscht auch in der Teleheimarbeit. Die Beamten, die sich für das Pilotprojekt angemeldet haben, loben die Teleheimarbeit in der öffentlichen Verwaltung, aber die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass die große Teilnahme der Frauen den umgekehrten Effekt haben und die Ungleichheiten aufrechterhalten könne.
284
5 Analyse der Korpora
mer aus Finnland zitiert – einem Land, das in diesem Kontext stets als Vorbild angeführt wird –, der sich über den großen Ansturm unter den weiblichen Arbeitnehmern auf das Homeoffice wundert: 249. Curiosamente, las iniciativas piloto que se han puesto en marcha en nuestro país han suscitado el interés de muchas más mujeres que de hombres. “Durante uno de los cursos de adaptación que recibimos”, recuerda Marian, “un participante nos dijo que le llamaba mucho la atención que la mayoría de los interesados en el teletrabajo fueran mujeres. Él era finlandés y, en su país, la situación era la contraria: eran los hombres los que accedían mayoritariamente al teletrabajo”. […] “Si esa tendencia no se corrige y limita, en la práctica se acabará abonando el efecto perverso de convertir la llamada conciliación en la perpetuación de la doble jornada y en una mayor confinación femenina en las tareas domésticas”. (Mundo, 13.05.2007, Conciliación)431 Heimarbeit und Menschen mit Behinderung Im spanischen Korpus findet sich wie im deutschen die Verknüpfung der Konzepte ›teletrabajo‹ und ›weibliche Arbeitnehmer, die Schwierigkeiten haben, Beruf und Betreuung von Kindern oder Angehörigen zu vereinbaren‹. Darüber hinaus werden die Konzepte ›teletrabajo‹ und ›Menschen mit Behinderung‹ direkt miteinander verknüpft: 250. Cree que “es importante seguir trabajando por la accesibilidad de los entornos laborales y que, aunque hay que aprovechar las ventajas del teletrabajo, éste no debe utilizarse para hacer aún más invisible el problema de la discapacidad”. (Mundo, 01.02.2009, Inserción laboral. Teletrabajo, otra vía para la integración de discapacitados)432 Wie bereits bei der Verknüpfung Heimarbeit und Frauen wird befürchtet, dass sich eine zunächst vorteilhaft scheinende Situation negativ auf die Gleichberechtigung auswirken könnte: Während bei den weiblichen Arbeitnehmern die Befürchtung ist, dass eine Doppelbelastung durch das Homeoffice noch wahrscheinlicher sei, wird im 431
Dt. Erstaunlicherweise haben die Pilotinitiativen, die in unserem Land gestartet wurden, das Interesse von sehr viel mehr Frauen als Männern geweckt. „Während eines Anpassungskurses, den wir bekamen“, erinnert sich Marian, „hat uns ein Teilnehmer gesagt, dass es ihn verwundert hat, dass die Mehrheit der Interessierten am Homeoffice Frauen waren. Er war aus Finnland und in seinem Land sei es umgekehrt: Es sind vor allem Männer, die mehrheitlich Homeoffice in Anspruch nähmen“. […] „Wenn diese Tendenz nicht korrigiert und limitiert wird, wird sie in der Praxis noch den umgekehrten Effekt haben und an Stelle der sogenannten Vereinbarkeit die Zementierung des zweifachen Arbeitstages [„doble jornada“] fördern und zu einer noch stärkeren Verbannung der Frau zur Hausarbeit führen.“
432
Dt. Er glaubt, „dass es wichtig ist, an der Zugänglichkeit der Arbeitsplätze zu arbeiten. Auch wenn man von den Vorteilen des Homeoffice profitiert, darf dies nicht dazu genutzt werden, das Problem der Behinderung noch unsichtbarer zu machen“.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
285
Kontext von Arbeitnehmern mit einer Behinderung befürchtet, dass das Homeoffice – das die Arbeit zunächst erleichtern könnte – die Folge haben könne, dass die Sensibilität für dieses Thema weiter sinke, indem diese am Arbeitsplatz „unsichtbar gemacht werden“. Der Umgang mit Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz wird in beiden Korpora, dem deutschen und dem spanischen, angesprochen, fällt aber quantitativ nicht ins Gewicht. Heimarbeit und Beamtentum: Pilotprojekt Neben der Gruppe der weiblichen Arbeitnehmer wird die Gruppe der „funcionarios“, also der Beamten bzw. der Angestellten im öffentlichen Dienst besonders häufig im Kontext der Heimarbeit genannt. Sie gehören in Spanien zu den Arbeitnehmern, für die die Arbeit im Homeoffice besonders häufig möglich ist. Im Jahr 2007 wurde zunächst ein Pilotprojekt gestartet, das die Heimarbeit für Angestellte im öffentlichen Dienst ermöglichte. In dem sogenannten „Manual para teletrabajadores de la administración“ (dt. Handbuch für Teleheimarbeiter der öffentlichen Verwaltung) werden dabei klare Richtlinien genannt: So handle es sich um ein freiwilliges Programm auf begrenzte Zeit, das einigen Angestellten die Heimarbeit ermöglicht. Die Arbeitnehmer müssen dabei bestimmte Voraussetzungen nachweisen, wie beispielsweise IT-Grundkenntnisse und einen Vorbereitungskurs. Es wird aber auch auf die Verantwortung der Führungskräfte hingewiesen, die den Angestellten, die im Homeoffice arbeiten, klare Aufgaben und Arbeitsziele geben müssen (vgl. Mundo, 13.05.2007, Manual para teletrabajadores de la administración). Die Heimarbeit unter Beamten wird darüber hinaus mit den bereits genannten Konzepten verknüpft: So wird auch hier eine Produktionssteigerung festgestellt433 und zugleich befürchtet, dass sich die Ungleichheit zwischen weiblichen und männlichen Arbeitnehmern verschlimmere.434 Zwar wird im spanischen Korpus nicht genau definiert, welchen Gruppen von „funcionarios“ die Arbeit im Homeoffice ermöglicht wird, es ist jedoch aufgrund des Kontextes davon auszugehen, dass Angestellte des öffentlichen Dienstes in Verwaltungspositionen angesprochen sind, die über einen klassischen Arbeitsplatz verfügen.435
433
Vgl. País, 01.07.2011, „El teletrabajo eleva en Euskadi la productividad“.
434
Vgl. Mundo, 13.05.2007, „Conciliación. La desigualdad también reina en el teletrabajo“.
435
Lehrer oder Professoren, die in Spanien ebenfalls Beamtenstatus haben, werden nicht explizit angesprochen, weil sie ebenso wie in Deutschland nicht ausschließlich an einen festen Arbeitsplatz gebunden sind.
286
5 Analyse der Korpora
Verbreitung der Heimarbeit in Spanien und notwendige Veränderung bestehender Strukturen Die Medientexte weisen darauf hin, dass die Arbeit im Homeoffice in Spanien deutlich weniger verbreitet ist als in anderen Ländern wie beispielsweise den USA oder Finnland. 251. Son los teletrabajadores, una fuerza laboral que en España todavía representa aproximadamente al 8% de los empleados, frente al 15% de EE UU o el 17% de países nórdicos como Finlandia. (País, 24.01.2011, Demasiado antiguos para el teletrabajo)436 437 Die Artikel suggerieren, dass die Vorteile der Heimarbeit überwiegen und dass diese zu fördern ist. Es werden Gründe aufgeführt, warum die Heimarbeit in Spanien weniger verbreitet ist. Zum einen wird die Präsenzkultur (vgl. Kapitel 5.2.3.2.1 ›presentismo‹) angeführt, die der Arbeit im Homeoffice konträr gegenüberstehe und die weitere Verbreitung des Homeoffice verhindere. 252. En nuestro país aún está muy arraigada “la cultura de presencia física en el puesto de trabajo y de largas jornadas de trabajo”, sostiene Jesús Gómez Carrasco, profesor de RRHH [Recursos Humanos] en Cerem Business School. “Y, además, la dirección por objetivos no es una práctica habitual en la mayoría de organizaciones. Al no existir objetivos concretos ni renovados periódicamente no es fácil medir la eficacia del teletrabajo. […]” (Mundo, 15.03.2015, Teletrabajar no es trabajar en pijama desde el sofá)438 Zum anderen wird der Führungsstil der Vorgesetzten genannt: Dieser beruhe zu sehr auf der falschen Kontrolle der Anwesenheit und zu wenig auf dem Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Stattdessen müsse der Chef klare Aufgaben und Zielvorgaben formulieren, diese kontrollieren und dem Arbeitnehmer zugleich vertrauen, dass er die Arbeitsstunden im Homeoffice produktiv nutze. 253. Otro factor que influye en la baja implantación del teletrabajo es el estilo de liderazgo de los directivos. “En España hay una cultura de control, de estar encima del empleado”, sostiene Mayo, porque “si no ves lo que está haciendo, no confías” (País, 24.01.2011, Demasiado antiguos para el teletrabajo)439 440 436
Dt. Teleheimarbeiter sind Arbeitskräfte, die in Spanien noch immer nur ungefähr 8% der Angestellten darstellen, gegenüber 15% in den USA und 17% in den nordischen Ländern wie Finnland.
437
Vgl. auch País, 29.01.2008, „La nueva utopía es vivir lejos y mejor“ und Mundo, 15.03.2015, „Teletrabajar no es trabajar en pijama desde el sofá“.
438
Dt. In unserem Land ist „die Kultur der physischen Präsenz am Arbeitsplatz und der langen Arbeitstage“ sehr verwurzelt, vertritt Jesús Gómez Carrasco, Professor für Personalwesen der Cerem Business School. „Und darüber hinaus ist die Mitarbeiterführung anhand von Zielen keine sehr verbreitete Praxis in der Mehrheit der Unternehmen. Wenn keine konkreten und immer wieder erneuerten [Arbeits-]Ziele existieren, ist es nicht einfach, die Effizienz des Homeoffice zu messen. […]“.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
287
In einigen Belegen wird, wie im deutschen Korpus, darauf hingewiesen, dass der Arbeitnehmer seine Zeit im Homeoffice organisieren müsse. Im spanischen Korpus wird aber zusätzlich auf die große Verantwortung der Führungskräfte hingewiesen, die fähig sein müssen, die Aufgaben des Arbeitnehmers zu koordinieren und zu evaluieren: 439 440 254. El trabajo a distancia, ensayado en la Administración, es posible – Su éxito requiere empleados motivados que sepan organizar su tiempo, objetivos nítidos y jefes capaces de coordinar y evaluar (País, 05.07.2011, El teletrabajo funciona, pero no en pijama)441 Stärker als im Deutschen wird also die Verantwortlichkeit bei den Chefs gesucht und damit zugleich eine Kritik am üblichen Führungsstil in Spanien formuliert.442 An die Kritik an der Situation in Spanien und dem Führungsstil der spanischen Chefs schließt sich erneut die Forderung nach einem organisatorischen und kulturellen Wandel an: 255. La dirección de empresas en países nórdicos, explica Mayo, está mucho más orientada a resultados: al empleado se le indican claramente los objetivos que debe cumplir, y se le especifica además el bono o la recompensa que recibirá si alcanza la meta fijada. […] Hará falta un cambio cultural y organizacional por el que las empresas entiendan que el teletrabajador es el primer y último responsable de su labor. (País, 24.01.2011, Demasiado antiguos para el teletrabajo)443 Die europäischen Nachbarländer und speziell die nördlichen Länder werden als Vorbilder konzeptualisiert: Um deren Produktivität zu erreichen, müssen sich die Rahmenbedingungen in Spanien ändern. Bewertung des Konzeptes Der Diskurs über das Konzept ›teletrabajo‹ ist von der Diskussion über die sinnvolle Umsetzung und die Vor- und Nachteile der Telearbeit geprägt. Die Vor- und Nachteile decken sich hier zu großen Teilen mit denen des deutschen Korpus, allerdings 439
Dt. Ein anderer Faktor, der die geringe Umsetzung des Homeoffice beeinflusst, ist der Führungsstil der leitenden Angestellten. „In Spanien existiert eine Kontrollkultur, in der der Chef über dem Angestellten steht“, vertritt Mayo, „wenn du nicht siehst, was sie [die Mitarbeiter] machen, hast du kein Vertrauen“.
440
Vgl. auch País, 28.12.2010, „Justicia impulsa el teletrabajo en la Administración pública“.
441
Dt. Die Arbeit auf Distanz, die in der öffentlichen Verwaltung ausprobiert wird, ist möglich – für den Erfolg braucht es einen motivierten Angestellten, der seine Zeit organisieren kann, klare Ziele und Chefs, die in der Lage sind, zu koordinieren und zu evaluieren.
442
Vgl. Kapitel 5.4.3.3.1 ›Hierarchien auf dem Arbeitsmarkt‹.
443
Dt. Die Führung in Unternehmen in nordischen Ländern, erklärt Mayo, ist sehr viel mehr an Zielen orientiert: Dem Angestellten werden klare Ziele angegeben, die er erreichen muss, und der Bonus oder die Belohnung, die er bekommt, wenn er das Ziel erreicht, wird genau bestimmt. […] Es braucht einen kulturellen und organisatorischen Wandel, sodass die Unternehmen verstehen, dass der Teleheimarbeiter derjenige ist, der für seine Arbeit verantwortlich ist.
288
5 Analyse der Korpora
ist die Berichterstattung im spanischen Korpus insgesamt stärker von der Forderung nach Veränderungen im eigenen Land – beispielsweise in Form von Telearbeit – geprägt. An die stärker eingeforderten Veränderungen sind auch stärkere Bewertungen des Konzeptes gebunden. I.
Die Verantwortlichkeit des Chefs, der Zielvorgaben machen müsse und statt Kontrolle auf Vertrauen setzen solle, um die Heimarbeit zu ermöglichen und produktiv zu gestalten, wird deutlicher betont. Damit wird ein maßgeblicher Teil der Unternehmenskultur kritisiert: Mit der Forderung nach Telearbeit und der starken Kritik am Führungsstil der Unternehmenschefs, der dies bisher verhindere und der unbedingt geändert werden müsse, fällt die implizite Bewertung des eingeforderten Konzeptes positiver aus.
II. Im deutschen wie im spanischen Korpus besteht Konsens darüber, dass die Arbeit von zu Hause aus die Produktivität der Mitarbeiter steigere, wenn sie von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern richtig organisiert und angeleitet wird. Sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus wird dies mit Studien belegt (vgl. bspw. País, 01.07.2011, El teletrabajo eleva en Euskadi la productividad). Auch in diesem Kontext wird im spanischen Korpus hervorgehoben, dass es die spanische Unternehmenskultur sei, die sich ändern müsse, um die Arbeit von zu Hause zu ermöglichen und sich so letztendlich der Produktivität der Vorbildländer anzunähern. Die Telearbeit nehme in diesem Prozess eine Schlüsselfunktion ein. III. Im Kontext der Gleichberechtigung und Emanzipation der weiblichen Arbeitnehmer, die durch die Telearbeit erzielt werden soll, wird zum einen auf die große Notwendigkeit der Telearbeit hingewiesen und zum anderen angefügt, dass negative Auswirkungen der Telearbeit (wie die verstärkte Doppelbelastung der weiblichen Arbeitnehmer) nicht ausgeschlossen sind. Insgesamt scheint das spanische Konzept von extremeren Bewertungen, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne, und von stärkeren Forderungen bestimmt zu sein. Dadurch erhalten das Konzept und die verknüpften Konzepte eine auffällige Ambiguität und eine stärkere Emotionalität.
‘Die Teleheimarbeit ist in Spanien weniger verbreitet als in anderen europäischen Ländern. Dies muss verändert werden, um die Produktivität an die der anderen Länder anzugleichen.’
- ungenügende Selbstdisziplin der Arbeitnehmer, die zu langen Arbeitstagen
- dauerhafte Erreichbarkeit der Arbeitnehmer
‘Mögliche Nachteile der Teleheimarbeit sind:
- Senkung der Unternehmenskosten.’
- bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
- größere Flexibilität
- gesteigerte Produktivität
- Vermeidung von Pendlerstrecken (Vermeidung von Staus, ökologische Vorteile)
‘Zu den Vorteilen der Teleheimarbeit gehören:
‘Unternehmenschefs haben eine große Verantwortung und sollten die Teleheimarbeit durch ihren Führungsstil ermöglichen.’
- die Führungskultur in Spanien, die auf der Kontrolle der Anwesenheit und nicht der Kontrolle der Leistung und dem Vertrauen in den Arbeitnehmer beruht.’
- die Kultur des presentismo.
Die Vorteile überwiegen qualitativ und
In der Medienberichterstattung wird explizit darauf hingewiesen, dass die Teleheimarbeit Vor- und Nachteile hat. Die Vorteile sind dabei an keine Bedingungen geknüpft, sondern treffen auf jeden Fall zu. Die Nachteile sind hingegen als mögliche Nachteile oder als vermeidbare Schwierigkeiten konzeptualisiert, die durch den richtigen Umgang mit der Teleheimarbeit und den Teleheimarbeitern vermieden werden können.
positive Bewertung
Kritik der Führungskultur und Führungskräfte
Die Teleheimarbeit wird stark eingefordert. Es wird darauf hingewiesen, dass die Unternehmensstrukturen in Spanien dies verhindern und deshalb verändert werden müssen. Es wird betont, dass dazu ein kultureller Wandel nötig ist. Die Teleheimarbeit wird sehr positiv bewertet.
Befund
Die spanische Unternehmenskultur wird teilweise stark kritisiert.
Kulturspezifik und Selbstkritik (Kritik an der eigenen Kultur und Mentalität und Veränderungswunsch)
Metadiskursive Deutung
›teletrabajo‹ (dt. Teleheimarbeit)
‘Der Etablierung der Teleheimarbeit in Spanien steht entgegen:
Arbeitsform, bei der der angestellte Arbeitnehmer regelmäßig und vertraglich festgelegt außerhalb des Firmengebäudes im eigenen Zuhause arbeitet und dabei digitale Kanäle nutzt Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 36: Konzept ›teletrabajo‹
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
289
führt
‘Verschiedene Pilotprojekte haben die Teleheimarbeit im Bereich der öffentlichen Verwaltung getestet und hier eine Produktivitätssteigerung festgestellt.’
‘Im schlechtesten Fall führt sie dazu, dass diese nicht mehr sichtbar sind und die Sensibilität für ihre Bedürfnisse sinkt.’
‘Teleheimarbeit kann helfen, Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt zu fördern.’
‘Teleheimarbeit kann im schlechtesten Fall einen negativen Effekt haben, wenn sie besonders von weiblichen Arbeitnehmern in Anspruch genommen wird und die Doppelbelastung weiter fördert, indem sie diese durch die Heimarbeit noch besser ermöglicht.’
‘Teleheimarbeit fördert die Gleichberechtigung und Emanzipation der weiblichen Arbeitnehmer.’
- Führungskräfte, die die Teleheimarbeiter gut anleiten.’
- die gute Organisation und Selbstdisziplin der Teleheimarbeiter.
‘Die möglichen Nachteile der Teleheimarbeit sind vermeidbar durch
- mangelhafte Datensicherheit.’
- Isolation von den Kollegen
Es wird auf Studien als objektive Quelle verwiesen.
Das Konzept wird gruppenspezifisch verknüpft: Neben den überwiegenden Vorteilen drohen auch Nachteile.
Das Konzept wird gruppenspezifisch verknüpft: Einige Gruppen von Arbeitnehmern nehmen Homeoffice häufiger in Anspruch. Dadurch drohen auch Nachteile. Vor- und Nachteile werden stärker bewertet und emotionalisiert.
quantitativ.
Diskursautorität durch Studien
Emotionalisierung
Ambiguität der Vorteile
Gruppenspezifik
Emotionalisierung
Ambiguität der Vorteile
Gruppenspezifik
290 5 Analyse der Korpora
Konzeptsynthese Arbeitsform, bei der der angestellte Arbeitnehmer regelmäßig und vertraglich festgelegt außerhalb des Firmengebäudes im eigenen Zuhause arbeitet und dabei digitale Kanäle nutzt
Konzeptsynthese
(Büro-)Arbeit, die von zu Hause aus erledigt wird und bei der moderne Kommunikationskanäle genutzt werden
Sprachliche Verknüpfungen
WOHLBEFINDEN DER MITARBEITER - Die Möglichkeit, den Arbeitsplatz in Form von Homeoffice-Zeiten zu wählen, erhöht das Wohlbefinden der Mitarbeiter, was sich wiederum auf die Produktivität auswirkt.
GRUPPE: WEIBLICHE ARBEITNEHMER - Besonders weibliche Arbeitnehmer, die die Kinderbetreuung oder die Betreuung von Angehörigen häufig übernehmen, profitieren vom Angebot des Homeoffice.
VEREINBARKEIT - Die Arbeit im Homeoffice erleichtert die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, bspw. die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung oder häuslicher Pflege.
- Teleheimarbeit kann so allerdings die Doppelbelastung der weiblichen Arbeitnehmer noch verstärken.
GRUPPE: WEIBLICHE ARBEITNEHMER - Besonders weibliche Arbeitnehmer, die die Kinderbetreuung oder die Betreuung von Angehörigen häufig übernehmen, profitieren vom Angebot des Homeoffice.
VEREINBARKEIT - Die Teleheimarbeit erleichtert die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, bspw. die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung oder häuslicher Pflege.
Viele der sprachlichen Verknüpfungen des Deutschen und Spanischen ähneln sich. In beiden Korpora wird auf die Vor- und Nachteile der Heimarbeit bzw. der Teleheimarbeit hingewiesen.
Sprachliche Verknüpfungen
Die Kernkonzepte ähneln sich. Der im Deutschen verbreitete Ausdruck „Homeoffice“ schließt weitere Berufsgruppen wie Freiberufler, Kreative und Wissenschaftler ein, auf die die spanische Bezeichnung „teletrabajadores“ (dt. Teleheimarbeiter) nicht abzielt.
›teletrabajo‹
›Homeoffice oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹
Tabelle 37: Vergleich ZUHAUSE
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
291
DISZIPLIN UND ORGANISATION - Die Teleheimarbeit setzt voraus, dass der Arbeitnehmer seine Zeit eigenmächtig organisiert, um so bspw. zu langen Arbeitszeiten vorzubeugen und die zu starke Vermischung von Beruf und Privatleben zu verhindern.
DISZIPLIN UND ORGANISATION - Die Arbeit im Homeoffice setzt voraus, dass der Arbeitnehmer seine Zeit eigenmächtig organisiert, um so bspw. zu langen Arbeitszeiten vorzubeugen und die zu starke Vermischung von Beruf und Privatleben zu verhindern.
UNTERNEHMENSSTRUKTUREN UND FÜHRUNGSSTIL IN SPANIEN - Der Etablierung der Teleheimarbeit in Spanien stehen die Unternehmensstrukturen und der Führungsstil in Spanien entgegen, die zum einen auf
VERANTWORTUNG DES CHEFS - Der Vorgesetzte muss den Teleheimarbeiter anleiten.
SELBSTAUSBEUTUNG UND VEREINSAMUNG - Die Teleheimarbeit birgt die Gefahr der Selbstausbeutung und Vereinsamung.
II BEAMTE - In Pilotprojekten wurde die Teleheimarbeit in einigen Beamtengruppen eingeführt und hat dort zu einer Steigerung der Produktivität geführt. Besonders Frauen nehmen die Teleheimarbeit in Anspruch.
HEIMARBEIT UND GRUPPEN I WEIBLICHE ARBEITNEHMER - Heimarbeit bietet weiblichen Arbeitnehmern die Chance zur Gleichberechtigung und Emanzipation, da die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleichtert wird.
SELBSTAUSBEUTUNG UND VEREINSAMUNG - Die Arbeit im Homeoffice birgt die Gefahr der Selbstausbeutung und Vereinsamung.
In diesen Gruppen kann die Arbeit im Homeoffice die Produktivität und Kreativität erhöhen, allerdings kann sie auch zur Selbstausbeutung führen bzw. ist Selbstausbeutung bereits üblich.
II PRIVILEGIERTE ARBEITSFORM BESTIMMTER GRUPPEN - Homeoffice-Zeiten werden besonders von einigen Gruppen in Anspruch genommen, z. B. von Büroangestellten, Führungskräften, Freiberuflern, Kreativen und Wissenschaftlern.
HEIMARBEIT UND GRUPPEN I WEIBLICHE ARBEITNEHMER - Heimarbeit bietet weiblichen Arbeitnehmern die Chance zur Gleichberechtigung und Emanzipation, da die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleichtert wird.
292 5 Analyse der Korpora
- Das Konzept wird positiv bewertet, indem die Vorteile als quantitativ und qualitativ überwiegend dargestellt werden (mehr Vorteile, gewichtigere Vorteile, gesamtgesellschaftlich wirksame Vorteile, die Nachteile sind vermeidbar). - Die Teleheimarbeit wird als Schlüsselfaktor beschrieben, der verschiedene Probleme zu lösen vermag (Produktivitätssteigerung, bessere Vereinbarkeit, Gleichberechtigung) und der von den spanischen Unternehmensstrukturen und der Führungskultur verhindert wird. Beide Aspekte werden stark kritisiert und eine Änderung wird gefordert.
- Das Konzept wird positiv bewertet, indem die Vorteile als quantitativ und qualitativ überwiegend dargestellt werden (mehr Vorteile, gewichtigere Vorteile, gesamtgesellschaftlich wirksame Vorteile, die Nachteile sind vermeidbar).
- Heimarbeit wird als Arbeitsform der Zukunft beschrieben und von verschiedenen politischen Akteuren eingefordert.
Die Konzepte ähneln sich stark; keines der Konzepte ist als kulturspezifisch einzuordnen. Die spanischen Texte sprechen Führungspersonen große Verantwortung in der Gestaltung des Arbeitsmarktes zu. Die Vor- und Nachteile des Konzeptes der Heimarbeit werden im spanischen Korpus betont, sodass die Bewertung des Konzeptes agonaler und emotionaler ausfällt.
Kulturspezifik
- Das Konzept ist geprägt vom Sprechen über die Vor- und Nachteile der Etablierung des Homeoffice.
- Das Konzept ist geprägt vom Sprechen über die Vor- und Nachteile der Etablierung des Homeoffice.
- Die Diskussion um die Teleheimarbeit ist von stärkeren Forderungen, stärkeren Bewertungen und einer stärkeren Emotionalität geprägt.
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
- Für einige Gruppen gilt dieses Recht nicht.
GESETZGEBUNG - Das Arbeitszeitgesetz regelt die Zeit, in der der Arbeitnehmer erreichbar ist (auch während der Heimarbeit).
- Der Führungsstil muss sich ändern, Vorgesetzte müssen Aufgaben und Ziele formulieren und dem Arbeitnehmer vertrauen.
der Kultur des presentismo und zum anderen auf der Kontrolle der Anwesenheit (und nicht der Kontrolle der Leistung) beruhen.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
293
294
5 Analyse der Korpora
5.3.3.2 Konzeptueller Zugriff SOZIALER UND PHYSISCHER RAUM ‚UNTERNEHMEN‘ 5.3.3.2.1 Deutsches Konzept ›Räumlichkeiten im Unternehmen – das Unternehmen als sozialer Raum‹ Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›Räumlichkeiten im Unternehmen – das Unternehmen als sozialer Raum‹ expliziert sich nicht über eine singuläre Ausdrucksform, sondern wird durch eine Vielzahl verschiedener sprachlicher Referenzen auf das Konzept abgebildet. In ihm treffen die drei Konstituenten RAUM, UNTERNEHMEN und MENSCHEN am Arbeitsplatz (= soziale Dimension) auf charakteristische Weise zusammen: Das Konzept beschreibt den Umstand, dass Arbeit im physischen Raum stattfindet und dabei Räumlichkeiten beansprucht, die den Tätigkeiten der Arbeitenden angemessen sind. Zugleich ist das Unternehmen durch die Mitarbeiter, die die Räumlichkeiten nutzen, ein sozialer Raum, in dem bestimmte hierarchische, tätigkeitsbezogene, aber auch gesellschaftliche Strukturen wirken. In den folgenden Verknüpfungen wird deutlich, dass die räumlichen Strukturen und die personalen Strukturen aufeinander einwirken: Die Räumlichkeiten werden im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden der Arbeitnehmer, ihrer Produktivität oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie beschrieben. Zugleich führt die Technisierung der Arbeitswelt zu einschneidenden Veränderungen in der Strukturierung des Arbeitstages und damit auch der Strukturierung der genutzten Arbeitsumgebung. Konzeptuelle Verknüpfungen Das Büro der Zukunft – Auflösung der traditionellen Räume Das klassische Arbeitszimmer eines Büroangestellten wird im deutschen Korpus kaum beschrieben: Da es keinen Neuheitswert besitzt, wird es in den Medientexten nicht aufgegriffen, sondern höchstens in Abgrenzung zu den neuesten Entwicklungen genannt. 256. Das Büro selbst wird zum „Morphing Office”: ein Raum von höchster Wandlungsfähigkeit. „Mitarbeiter können je nach Bedarf Raumsituationen für Gruppengespräche, Präsentationen, Projektarbeiten schaffen. Variable Anschlüsse für Notebooks, schnurlose Telefone, Raumteiler, bewegliche Tische kennzeichnen diese Räume”, so die Stuttgarter Forscher. (SZ, 13.09.2002, Wie das Büro der Zukunft aussieht)
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
295
Die Entwicklung der Gebäude- und Raumstruktur wird in Zusammenhang mit den zukünftigen Anforderungen der Arbeitswelt gestellt: 257. Flache Hierarchien, ein Bedeutungsgewinn der Kommunikation, flexible Teams, der Abschied von starren Arbeitszeiten und das Zusammenwachsen von Arbeit und Freizeit – das sind die großen Trends, die die Zukunftsforscher in ihren Szenarien entwerfen. […] „Büroarbeitsplätze werden immer mehr zu Kommunikationsfeldern, in denen sich Projektteams treffen und in denen soziale Kontakte gepflegt werden”, so die Innenarchitektin Christina Hilger, die sich auf die Einrichtung und den Umbau moderner Büros spezialisiert hat. (ebd.) Dies beeinflusse nicht nur die Architektur von Büros, sondern auch von Fluren, Besprechungsräumen und Kantinen, die auf die größtmögliche Flexibilität ausgerichtet sein sollen. Die Bedeutung der Kommunikation, der Zusammenarbeit und des Austausches unter Kollegen im Unternehmen wird betont. Die Räumlichkeiten werden den neuen Ansprüchen entsprechend verändert. Auf der anderen Seite finden sich gegensätzliche Beschreibungen. So wird die Auflösung der traditionellen Arbeitsumgebung und der Büroarbeitsplätze durch eine Verlagerung in das Zuhause der Arbeitnehmer und ins Virtuelle beschrieben. 258. Die Unternehmen kalkulieren, dass der eingesparte Büroraum ihnen unter dem Strich mehr bringt als die Tatsache, dass ihre Mitarbeiter daheim nicht exakt auf 38,5 Wochenstunden reine Arbeitszeit kommen – zumal die „reine Arbeitszeit“ ohnehin schwer zu bewerten ist. (SZ, 05.07.2011, Mittags in der Sonne, nachts am Schreibtisch)444 Durch die technische Entwicklung sind bestimmte Arbeiten – insbesondere Büroarbeit oder IT-Tätigkeiten – nicht mehr an eine bestimmte Arbeitsumgebung gebunden und können von überall erledigt werden: Der klassische Arbeitsplatz im Büro, in dem die Arbeitsgeräte stehen, stellt keine Notwendigkeit mehr da. Das verknüpfte Konzept ›Homeoffice, Heimarbeit oder das Zuhause als Arbeitsplatz‹ wird in Kapitel 5.3.3.1.1 untersucht. Räumlichkeiten und Wohlbefinden der Mitarbeiter: Kinderbetreuung, Sport und Gesundheit Unternehmen gestalten den Raum so, dass sich das Wohlbefinden der Mitarbeiter potentiell erhöht. Dabei werden praktische Aspekte berücksichtigt, wie die Betreuung der Kinder oder Hilfe im Haushalt für die vielbeschäftigten Mitarbeiter: 259. Büro mit Kuschelecke. Das Softwareunternehmen SAP gilt in Deutschland als Vorbild für familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Vor allem die Väter profitieren (SZ, 02.01.2012, = Titel) 444
Vgl. auch SZ, 12.09.2013, „Die Welt in Zahlen“.
296
5 Analyse der Korpora
260. Bei Otto in Hamburg gibt es ein Eltern-Kind-Arbeitszimmer. (SZ, 24.12.2014, Geht doch, Kindergeld?) Mit diesen Maßnahmen reagieren die Unternehmen auf den Mangel an verfügbaren und geeigneten Kinderbetreuungsangeboten und damit auf eine unmittelbare Problematik im Alltag der Arbeitnehmer, in dem die Kinder auf die eine oder andere Art und Weise betreut werden müssen. Darüber hinaus wird beschrieben, dass Aspekte des Wohlbefindens der Mitarbeiter berücksichtigt werden, die nicht als unbedingte Notwendigkeit zu bezeichnen wären. So bieten einige deutsche Großunternehmen beispielsweise Sportkurse auf dem Betriebsgelände an: 261. Noch fünfzehn Sekunden müssen sie durchhalten. Nur auf den linken Unterarm gestützt stemmen sich acht junge Frauen in neonfarbenen Tops und schwarzen Trainingshosen von ihren Yogamatten. Totale Körperspannung. Ächzer und Seufzer erfüllen den Fitnessraum auf dem Adidas-Campus in Herzogenaurach. Das Sportgelände für Mitarbeiter ist so groß wie 55 Fußballfelder und bietet neben dem Fitnessstudio Beachvolleyballfelder, Tennis- und Basketballplätze. Noch fünfzehn Sekunden im Seitstütz, dann ist das mittägliche Krafttraining vorbei, dann geht es zum Duschen ins Mitarbeiter-Stadion. Normalität in Herzogenaurach, Standard beim Arbeitgeber Adidas. Beruf plus Sport plus Freizeit. (SZ, 23.11.2013, Schwitzen für die Firma. Was sich Unternehmen alles einfallen lassen, damit junge Mitarbeiter Spaß an ihrem Job haben. Und damit sie gut funktionieren) Vorbilder sind, so die Darstellung in den Medientexten, US-amerikanische Großunternehmen wie Google oder Facebook. Im deutschen Korpus werden aber durchaus auch Großunternehmen und Global Player genannt, die ihren Hauptsitz in Deutschland haben (vgl. Adidas, Münchner Werbeagentur Serviceplan, SAP). In der Medienberichterstattung wird im unmittelbaren Kotext der Konzepte ›Räumlichkeiten im Unternehmen‹ und ›Wohlbefinden der Mitarbeiter‹ darauf hingewiesen, dass nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Unternehmen von den Gesundheits- und Sportprogrammen profitieren, indem die Produktivität der Mitarbeiter gesteigert, die Krankheitskosten gesenkt und die Popularität der Unternehmen unter den Arbeitnehmern erhöht werden. Vorbild Silicon Valley wird von deutschen Großunternehmen adaptiert und kritisiert Im deutschen Korpus wird auf die Entwicklungen der Räumlichkeiten US-amerikanischer Großunternehmen hingewiesen, die zumeist dem IT- oder Kreativbereich entspringen: 262. Die Welt vor dem Werkstor mag grässlich sein, aber drinnen leben Pixar-Werktätige in einer Oase, in der die New Economy schadlos überdauert hat. Ange-
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stellte auf Skateboards flitzen über die Flure. Und natürlich haben die Mitarbeiter Billardtische, Saunen, einen modernen Fitnessraum, Kurse in Yoga und chinesischer Kalligrafie, einen Pizzaofen in der Kantine, Sofas in den Konferenzräumen und Pixar-Aktienoptionen im Bankdepot. Jeder Animationskünstler durfte sich in seinem Büro mit Heimwerker-Attitüde eine eigene Welt erschaffen: Ein Büro sieht aus wie eine Puppenstube, ein anderes wie ein Blockhaus in der Wildnis, das nächste wie ein Stück Weltraum; keines gleicht dem anderen. Und zwischen alledem steht eine Bar mit Zapfhahn und eine Bühne für die hauseigenen Feierabendbands. Wenn Karl Marx diese Firma gekannt hätte – er hätte vermutlich andere Bücher geschrieben. (Spiegel, 10.11.2003, Raubfische in Entenhausen) Der Abschnitt charakterisiert die räumlichen Möglichkeiten in dem US-Großunternehmen Pixar in einem Artikel, der sich mit der Erfolgsgeschichte des Unternehmens beschäftigt, das sich stets gegen seinen größten Konkurrenten Walt Disney behaupten müsse. Mit den Angeboten für die Mitarbeiter sollen verschiedene Aspekte, wie die Individualisierung des Arbeitsplatzes und die engere Verbindung von Arbeit und Leben, berücksichtigt werden. Ähnliche Beschreibungen finden sich auch im Bezug auf deutsche Großunternehmen, jedoch wird hier zum einen der Aspekt der Gesundheit der Arbeitnehmer in den Vordergrund gestellt und zum anderen zumeist unmittelbar darauf hingewiesen, dass die Angebote oft nicht den gewünschten Erfolg mit sich bringen: 263. ThyssenKrupp hat einen Raum der Stille eingerichtet, in dem Mitarbeiter in einem meditativen Umfeld zur Ruhe kommen können. Stahlmanager meditieren ihren Stress weg – eine Lösung? (taz, 31.10.2013, „Das Land der Bürokraten und Workaholics“. Burn-Out) 264. Aber: Es gibt auch Maßnahmen von Unternehmen, die gut gemeint sind, aber nichts bringen. Wintermann: „Wir haben mal eine kleine Firma begutachtet, die unbedingt wollte, dass sich die Mitarbeiter wohl fühlen. Es gab einen Whirlpool im Unternehmen, eine Sportecke und einen Rückzugsraum mit Walgesängen.“ Doch: Die Mitarbeiter nahmen die Angebote gar nicht an. Wintermann: „Die Deutschen wünschen sich eine Grenze zwischen Arbeit und Privatleben.“ (SZ, 24.12.2014, Geht doch, Kindergeld?) Bei dieser Kritik und der Betonung des Aspektes der Gesundheit der Arbeitnehmer handelt es sich um ein Spezifikum der deutschen Kultur, so die Narration in den deutschen Medientexten. In den Zeitungsartikeln werden über die undifferenzierte, verallgemeinernde Bezeichnung mit dem bestimmten Artikel „die Deutschen“ kulturelle Charakteristika impliziert.
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5 Analyse der Korpora
Neue Arbeitsplätze von ITlern, Kreativen, Freelancern Bestimmte Branchen nutzen besonders häufig alternative Bürokonzepte: 265. Samsarah Lilja entwirft an ihrem Laptop viel Design für einen Klinikbetreiber. Dazu betreibt sie zwei Architekturportale, produziert elegante Visitenkarten und arbeitet an Websites kleinerer Firmen. Zum Arbeitsort hat sie sich bewusst das Betahaus in Berlin-Kreuzberg erwählt, in dem es vor Netzwerkern wimmelt. Auf drei Etagen der ehemaligen Putzlappenfabrik mieten 200 Digitalos tage- oder monatsweise Schreibtische oder, wenn ihr Start-up gewachsen ist, ganze Büros. (SZ, 12.07.2011, Der Geschmack der Freiheit, Junge Selbständige suchen eine Existenz abseits der klassischen Firmenstrukturen) Die Bürokonzepte dieser jungen Berufstätigen sind von bestimmten, wiederkehrenden Strukturen gekennzeichnet: verlassene Fabrikgebäude, Altbauten in günstigen Stadtvierteln von Metropolen, die durch Start-Ups, junge Berufstätige und die Medienund Kreativszene aufgewertet werden. Diese Gruppe von Berufstätigen beeinflusst dabei nicht nur den Wandel ganzer Stadtviertel (vgl. Konzept 5.3.3.3.1), sondern formt auch die Innenarchitektur und -einrichtung der Gebäude: 266. Ihr Büro in einem Hinterhaus in Prenzlauer Berg: eine lange Arbeitsplatte aus mehreren über- und untereinandergeschobenen Tischen. Ein altes Paar Kinositze. Computer. Teetassen und Kekse. Unbezahlte Arbeit in Hülle und Fülle. Allein die Cutterin hat ein halbes Jahr lang ehrenamtlich geschnitten. (taz, 25.01.2007, Das alte Lied von verlorenen Träumen) Der zitierte Beleg beschreibt eine Filmproduktionsfirma, die dem Unternehmensentwurf der jungen Berliner Kreativszene selbst folgt und ihre Hinterhausfirma mit den Attributen ihrer sozialen Gruppe ausstattet, um mit dem eigenen Produkt – einem Dokumentarfilm – eben jene Generation zu kritisieren, die sich in den angesagten Stadtvierteln Berlins niederlässt. Bewertung des Konzeptes Im deutschen Korpus wird die Auflösung des klassischen Arbeitsplatzes in bestimmten Branchen beschrieben, in denen die Arbeit nicht an eine festgelegte Umgebung gebunden ist, sondern vor allem über digitale Kanäle stattfinden kann. Einige Entwicklungen werden dabei als zwangsläufige charakterisiert, die sich durch neue Arbeitsumstände wie die vermehrte Zusammenarbeit und Kommunikation unter Kollegen, die Einebnung von Hierarchien und ganz besonders die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes ergeben. Einige wenige Entwicklungen betreffen dabei die nichtvirtuelle Zusammenarbeit (bspw. die vermehrte Einrichtung von Konferenz- und Gemeinschaftsräumen),
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
299
deutlich häufiger liegt der Schwerpunkt der Berichterstattung aber auf der virtuellen (Zusammen-)Arbeit. Das Angebot der Heimarbeit wird für den Arbeitnehmer vor allem positiv bewertet (vgl. Konzept 5.3.3.1.1), und auch dem Arbeitgeber werden ökonomische Vorteile attestiert, da er seine Räumlichkeiten auf die geringere Nutzung ausrichten kann. Es wird des Weiteren betont, dass die räumlichen Gegebenheiten der Unternehmen sich auf das Wohlbefinden des Arbeitnehmers auswirken: Die Vorteile einer betriebseigenen Kinderbetreuung sind dabei unbestritten, während der gesundheitliche Nutzen von Sport- und Wellnessangeboten diskutiert wird. Auch die Übernahme der Raumgestaltung von US-amerikanischen Großunternehmen sowie die Entwicklungen unter Freelancern, Kreativen und Medienschaffenden, die sich ihre Arbeitsplätze in den aufstrebenden Stadtvierteln deutscher Großstädte – zumeist Berlin – einrichten, werden kritisch gesehen: Der Nutzen für Arbeitnehmer und auch Arbeitgeber, die sich eine bessere Work-Life-Balance, mehr Flexibilität und eine gesteigerte Produktivität und Kreativität von der Raumgestaltung im Unternehmen versprechen, kann kaum nachgewiesen werden.
‘Die Räumlichkeiten in Unternehmen verändern sich.’
- Angebote der Kinderbetreuung oder Haushaltshilfe
‘Die Räumlichkeiten im Unternehmen beeinflussen das Wohlbefinden der Mitarbeiter:
II. ‘Im Zuge der wachsenden Bedeutung der Kommunikation, der Zusammenarbeit und des Austausches verändern sich die Räumlichkeiten in Unternehmen.’
‘Durch die Nutzung alternativer Arbeitsplätze (Homeoffice) können Arbeitsplätze im Unternehmen eingespart werden.’
Die Wirksamkeit einiger Maßnahmen ist umstritten. Andere Maßnahmen, bspw. Teilzeitarbeit, die die Betreuung
Es wird auf Vorteile für die Arbeitnehmer, aber auch für die Unternehmen hingewiesen.
II. Durch neue Arbeitsmethoden: Durch die vermehrte Zusammenarbeit entstehen neue physische Räume (Konferenzräume, Gruppenarbeitsräume), aber auch neue virtuelle Räume.
I. Durch den technischen Fortschritt: Heimarbeit bietet Vorteile für die Arbeitnehmer. Die Reduktion der Arbeitsplätze hat ökonomische Vorteile für die Unternehmen.
Es werden zwei verschiedene Veränderungen der Räumlichkeiten in Unternehmen festgestellt. Beide Entwicklungen werden als natürliche beschrieben.
Befund
Vorteile für Arbeitnehmer und Unternehmen
Kritik
Vorteile für Arbeitnehmer und Unternehmen
natürliche Entwicklung
Metadiskursive Deutung
›Räumlichkeiten im Unternehmen – das Unternehmen als sozialer Raum‹
I. ‘Bestimmte Arbeiten sind durch die Digitalisierung nicht mehr an bestimmte Räumlichkeiten gebunden.’
Arbeit findet im physischen Raum statt und beansprucht Räumlichkeiten, die den Tätigkeiten der Arbeitenden angemessen sind. Die Räumlichkeiten des Unternehmens beeinflussen die Mitarbeiter und bilden einen sozialen Raum, in dem bestimmte hierarchische, tätigkeitsbezogene und gesellschaftliche Strukturen wirken. Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 38: Konzept ›Räumlichkeiten im Unternehmen – das Unternehmen als sozialer Raum‹
300 5 Analyse der Korpora
- Sport-, Freizeit- und Wellnessangebote’
‘Bestimmte Berufsgruppen (Start-Ups, junge Berufstätige, Medien- und Kreativszene), die nicht an ein bestimmtes Arbeitsumfeld gebunden sind, nutzen alternative Bürokonzepte und prägen damit die Entstehung neuer Räume und neuer Arbeitsumgebungen.’
‘Die Wirkung und Effizienz der Programme wird kritisch gesehen.’
‘Vorbild sind US-amerikanische Großunternehmen wie facebook und google. Aber auch deutsche Global Player bieten Sport- und Freizeitprogramme an (SAP, Adidas), die auf die Gesundheit der Mitarbeiter ausgerichtet sind.’
‘Das Wohlbefinden der Mitarbeiter beeinflusst ihre Leistungsfähigkeit.’
Die Schaffung neuer Räume wird kritisch gesehen.
von Kindern erlaubt, werden als sinnvoller bewertet als die Einrichtung von Räumlichkeiten vor Ort. Die Programme werden von bestimmten Unternehmen angeboten und richten sich an spezifische Gruppen von privilegierten Arbeitnehmern. Kritik
Gruppenspezifik
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
301
302
5 Analyse der Korpora
5.3.3.2.2 Spanisches Konzept ›empresa y despachos‹ (dt. Unternehmen und Büros) Sprachliche Konstituierung Auch das spanische Konzept ›empresa y despachos‹ manifestiert sich im Korpus nicht in einer einzelnen Ausdrucksform. Ebenso wie im Deutschen wird es durch das Zusammenspiel der drei Konstituenten RAUM, UNTERNEHMEN und MENSCHEN am Arbeitsplatz charakterisiert: Der physische Raum ‚Unternehmen‘ stellt den Arbeitsund Aufenthaltsort für die Mitarbeiter des Unternehmens dar. Im Spanischen ist das Konzept jedoch deutlicher durch die Kritik an der Arbeitsumgebung geprägt: In der Medienberichterstattung stehen das Verschwinden der klassischen Büroarbeitsplätze durch die Flexibilisierung, die Trostlosigkeit der bestehenden Bürogebäude und das 2006 in Kraft tretende Rauchverbot am Arbeitsplatz im Vordergrund. Als potentielle – wenn auch nicht kritikfreie – Vorbilder werden die Firmenstrukturen der US-amerikanischen Großunternehmen Apple oder Facebook genannt, deren Unternehmensstruktur sich allerdings kaum in spanischen Unternehmen umgesetzt findet. Konzeptuelle Verknüpfungen Veränderung und Verschwinden des Arbeitsplatzes Im spanischen Korpus gilt wie im deutschen, dass der klassische Büroarbeitsplatz in einem Unternehmen kaum beschrieben wird, da er aufgrund seiner Alltäglichkeit nicht von Interesse ist. In seltenen Fällen wird er in Reportagen zur Charakterisierung eines Settings oder einer Person beschrieben: 267. Manuela era una directiva media de una empresa de ámbito nacional. Tenía despacho, ordenador, cuenta de correo electrónico, coche de la empresa para los desplazamientos, dietas y vales de comida. (País, 02.10.2008, Mujeres decentes)445 Häufiger finden sich stattdessen Schilderungen, die davon ausgehen, dass der klassische Arbeitsplatz im Rahmen der fortschreitenden Flexibilisierung der Unternehmen abgeschafft wird und die Unternehmensfläche damit reduziert wird: 268. Se reduce la superficie requerida por las empresas para su ubicación y también el espacio asignado a cada trabajador. (País, 26.12.2010, Reinventando la oficina)446 269. María Cruz Muñoz, directora de proyectos y construcción de Aguirre Newman, 445
Dt. Manuela war eine mittlere leitende Angestellte in einer Firma, die auf nationaler Ebene agierte. Sie hatte ein Büro, einen Computer, einen E-Mail-Account, einen Firmenwagen für die Außeneinsätze, Spesengelder und Essensmarken für die Kantine.
446
Dt. Die benötigte Oberfläche der Firmen für einen Standort wird reduziert und auch der Platz, der dem einzelnen Arbeiter zugeteilt wird.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
303
recuerda que “en el pasado, uno estaba en la oficina. En el presente, tu escritorio es la oficina; pero en el futuro tú eres la oficina”. Muñoz añade que “ésta desaparece, y nace el espacio, innovador, inspirador e intuitivo. La oficina como lugar único de trabajo ha desaparecido, y la tecnología no sólo ha extendido ese lugar al espacio global, sino que le ha dado a este otros valores. Trabajar es estar conectado; entrar en colaboración con tu equipo”. (Mundo, 24.02.2008, Expansión y empleo)447 448 Beleg 269 weist darauf hin, dass das Verschwinden des Büros mit der Verschiebung bestimmter Werte einhergeht: Die Zusammenarbeit in Teams werde immer wichtiger, allerdings könne diese auch im virtuellen Raum stattfinden. Veränderte Raumgestaltung im Unternehmen und das Wohlbefinden der Mitarbeiter I. Arbeitsplatz und Wohlbefinden: Kritik am Zustand Im spanischen Korpus wird darauf hingewiesen, dass der Raum, wie er in den spanischen Unternehmen aktuell gestaltet und genutzt wird, nicht zum Wohlbefinden – und damit auch nicht zur Produktivität – der Mitarbeiter beitrage. 270. A V. M., de 31 años, le “encanta” su profesión, pero “odia” su lugar de trabajo. Aunque desde hace seis años forma parte del departamento de innovación de una empresa del sector de telecomunicaciones, paradójicamente su oficina está situada en el sótano del edificio, sin luz natural y muy poca ventilación. Lo cierto es que V. M., que trabaja unas nueve horas diarias, siente que estas condiciones atentan contra su salud física y mental. “A las cuatro o cinco horas empiezo a sentir la vista cansada, lo que a veces deriva en falta de concentración; dolores de cabeza, nervios y estrés, sobre todo por no tener más remedio que seguir sentado delante del ordenador en medio de un ambiente triste, aburrido y gris”, lamenta este profesional. Su situación también es la realidad de millones de trabajadores, y se debe a que “la cultura empresarial española ha ignorado una verdad fundamental: el espacio de trabajo influye notablemente en el bienestar de las personas y, por ende, en su rendimiento profesional”, afirma Elvira Muñoz, directora de diseño de la consultora DEGW, especializada en desarrollar soluciones para optimizar sedes empresariales. (País, 07.09.2008, Bienestar en la oficina)449 447
Dt. María Cruz Muñoz, Managerin für Projekt- und Bauplanung bei Aguirre Newman, erinnert daran, dass „man in der Vergangenheit im Büro war. Heute ist dein Desktop das Büro; aber in der Zukunft bist du das Büro“. Muñoz fügt hinzu, dass „das Büro verschwinde und ein neuer, inspirierender und intuitiver Raum entstehe. Das Büro als einziger Ort des Arbeitens ist verschwunden und die Technologie hat den Raum nicht nur in den globalen Raum ausgedehnt, sondern ihm auch neue Werte gegeben. Arbeiten bedeutet, verbunden zu sein und in deiner Arbeitsgruppe zusammenzuarbeiten“.
448
Vgl. auch Mundo, 06.07.2013, „¿Esta lista tu empresa para la flexibilidad?“.
449
Dt. A. V. M., 31 Jahre alt, bereitet seine Arbeit viel „Freude“, aber er „hasst“ seinen Arbeitsplatz. Obwohl
304
5 Analyse der Korpora
Die Unternehmen und Arbeitsplätze seien aktuell nicht so gestaltet, dass die Mitarbeiter sich wohlfühlen können. Beleg 270 verweist auf die individuelle Situation einer Mitarbeiterin einer Telekommunikationsfirma, deren Arbeitsplatz äußert ungünstige Rahmenbedingungen aufweist. Die Individualnarration wird anschließend auf den spanischen Arbeitnehmer im Allgemeinen übertragen. Die spanische Unternehmenskultur ignoriere, dass das Arbeitsumfeld, das Wohlbefinden der Mitarbeiter und ihre Produktivität in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Der Artikel beschreibt außerdem, dass ein großer Bedarf zur Veränderung bestehe, dass aber nur wenige tatsächliche Veränderungen durchgeführt werden. Eine entscheidende Veränderung wird in einem älteren Artikel des Jahres 2005 genannt, in dem die sogenannte Ley antitabaco verabschiedet wurde, die das Rauchen in den Räumlichkeiten der Arbeitsstätte (und an weiteren Orten wie Hotels und Restaurants) verbot und damit die bisher bestehenden Raucherzimmer in Unternehmen abschaffte (siehe unten). II. Arbeitsplatz und Wohlbefinden: Blick auf Vorbilder im globalen Kontext Im spanischen Korpus wird, ebenso wie im deutschen Korpus, auf globale Unternehmen hingewiesen, die ihre räumlichen Strukturen und die Arbeitsplätze der Mitarbeiter auf das Wohlbefinden eben jener ausrichten: 271. La tecnología es algo que siempre sucede en California. En lugares que llevan por nombre Cupertino (sede de Apple), Mountain View (Google), Palo Alto (Hewlett-Packard) o San José (Cisco Systems). Destinos donde trabajar podría parecer placentero. Empresas que dan espacio y tiempo para que sus empleados jueguen al billar, al futbolín o se muevan en monopatín por las instalaciones. (País, 23.05.2010, La tecnología es móvil)450
er seit sechs Jahren Teil der Innovationsabteilung einer Firma des Telekommunikationssektors ist, befindet sich sein Büro paradoxerweise im Kellergeschoss eines Gebäudes, ohne natürliches Licht und ausreichende Belüftung. Es steht fest, dass V. M., der jeden Tag neun Stunden arbeitet, spürt, dass die Arbeitsbedingungen seine physische und mentale Gesundheit beeinträchtigen. „Nach vier oder fünf Stunden fängt mein Blick an, müde zu werden, was manchmal zu Konzentrationsschwierigkeiten führt; zu Kopfschmerzen, Nervosität und Stress, vor allem weil es keine andere Abhilfe gibt als weiter vor dem Computer zu sitzen inmitten einer traurigen, langweiligen und grauen Umgebung“, bedauert der Berufstätige. Seine Situation entspricht der von Millionen Arbeitern und ist der „Unternehmenskultur in Spanien geschuldet, die eine entscheidende Wahrheit nicht kennt: Der Arbeitsraum beeinflusst das Wohlbefinden der Personen beträchtlich und folglich auch ihre berufliche Leistungsfähigkeit“, bestätige Elvira Muñoz, Designchefin der Consultingfirma DEGW, die darauf spezialisiert ist, Lösungen zur Optimierung von Unternehmenssitzen zu entwickeln. 450
Dt. Die Weiterentwicklung der Technologie findet immer in Kalifornien statt. An Orten namens Cupertino (Sitz von Apple), Mountain View (Google), Palo Alto (Hewlett-Packard) oder San José (Cisco Systems). Orte, an denen Arbeit wie Vergnügen erscheinen kann. Firmen, die Räume und Zeiträume schaffen, sodass ihre Angestellten Billard oder Tischfußball spielen oder sich mit dem Skateboard durch die Räumlichkeiten bewegen.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
305
Es wird beschrieben, dass der Arbeitsplatz zu einem angenehmen Ort gemacht werde, indem die Unternehmen ihren Mitarbeitern Freizeitangebote wie Billard oder Tischfußball zur Verfügung stellen. Die Darstellung ist dabei nicht kritiklos, rückt aber die Vorteile der Unternehmensstrukturen von Apple, Google und weiteren US-amerikanischen Unternehmen in den Vordergrund. Außerdem fällt auf, dass in den Medientexten des spanischen Korpus fast ausschließlich US-amerikanische Unternehmen genannt werden, die die genannten Freizeitangebote in ihre Räumlichkeiten integrieren. Nur wenige spanische Unternehmen werden genannt (wie Unternehmensberatungen oder Niederlassungen globaler Unternehmen in Spanien, vgl. Mundo, 24.02.2008, Expensión y empleo/Primer empleo. El lugar de trabajo también retiene el nuevo talento). Stärker als im deutschen Korpus wird darauf verwiesen, dass die räumliche Gestaltung des Arbeitsumfelds mit Freizeit- und Sportangeboten ein Trend ist, den bisher vor allem (US-amerikanische) Global Player setzen. Dieser wird als mögliches Vorbild konzeptualisiert, bleibt jedoch sehr stark der US-amerikanischen Unternehmenswelt zugeordnet. Arbeitsplatz und Rauchverbot Im spanischen Korpus fällt des Weiteren die häufige Verknüpfung zwischen Arbeitsplatz und Rauchen am Arbeitsplatz auf. Die meisten Belege dazu finden sich am Ende des Jahres 2005 und zu Beginn des Jahres 2006, in dem die Ley antitabaco (dt. Gesetz zum Rauchverbot) in Kraft trat.451 272. El Congreso sentenció que no habrá salas de fumadores en las empresas, que el centro de trabajo será un espacio libre de humo. (Mundo, 06.10.2005, Nadie podrá fumar en el trabajo a partir del 1 de enero de 2006)452 453 Bewertung des Konzeptes Das spanische Konzept ›empresa y despachos‹ wird im Korpus zumeist negativ bewertet, da die Räumlichkeiten in den spanischen Unternehmen kritisiert werden. Positive Aspekte finden sich nur vereinzelt, wenn beispielsweise beschrieben wird, dass die wachsende Flexibilisierung der Mitarbeiter zur Verringerung der Arbeitsfläche führe, was wiederum ökonomische Vorteile für den Arbeitgeber habe. US-amerikanische Großunternehmen werden zum Teil als Vorbilder beschrieben, die Unternehmens451
Im deutschen Medienkorpus finden sich weniger Belege, die sich mit dem Rauchverbot am Arbeitsplatz auseinandersetzen, da die „Arbeitsstättenverordnung“ dies bereits seit 2002 in Deutschland verbietet. Gelegentlich finden sich Hinweise darauf, dass die Umsetzung problematisch sei, wenn Arbeitnehmer von Kollegen oder Vorgesetzten verlangen, am Arbeitsplatz auf das Rauchen zu verzichten (vgl. bspw. Spiegel, 12.06.2006, Das Ende der Toleranz).
452
Dt. Der Kongress entschied, dass es keine Raucherzimmer in den Firmen geben wird, sodass die Arbeitseinrichtung ein rauchfreier Raum sein wird.
453
Vgl. auch Mundo, 15.01.2006, „Tabaco/Así luchan los adictos. El fumador que no tiene arreglo.“
306
5 Analyse der Korpora
strukturen bleiben jedoch den ausländischen Unternehmen zugeordnet und finden sich kaum in spanischen Unternehmen. In anderen Fällen werden die Räumlichkeiten spanischer Unternehmen von Arbeitnehmerseite kritisiert und es wird darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang zwischen dem Arbeitsplatz und dem Wohlbefinden der Mitarbeiter in der spanischen Unternehmenskultur ignoriert werde.
Metadiskursive Deutung Es wird auf die Wichtigkeit der Teamarbeit und Kommunikation hingewiesen. Diese erfordert jedoch nicht unbedingt die Schaffung von physischen Räumen, sondern kann auch über digitale Kanäle stattfinden.
Befund
‘Der klassische Büroarbeitsplatz verschwindet durch die Flexibilisierung der Arbeitsmethoden. Die Unternehmen können Arbeitsplätze einsparen.’
‘Seit 2006 herrscht Rauchverbot in den Räumlichkeiten der Unternehmen.’
B. ‘Internationale und vor allem US-amerikanische Großunternehmen sind Vorbilder, die Sport- und Freizeitangebote anbieten und so das Wohlbefinden der Mitarbeiter fördern. Nur wenige spanische Unternehmen folgen diesen Vorbildern.’
A. ‘In vielen Unternehmen sind die Räumlichkeiten nicht so gestaltet, dass sich die Mitarbeiter wohlfühlen können. Die spanische Unternehmenskultur ignoriert, dass die Räumlichkeiten das Wohlbefinden und die Produktivität der Mitarbeiter beeinflussen.’
‘Die Räumlichkeiten des Unternehmens beeinflussen das Wohlbefinden der Mitarbeiter.’
‘Die Zusammenarbeit in Teams wird immer wichtiger, diese kann jedoch häufig im virtuellen Raum stattfinden.’
Der physische Raum ‚Unternehmen‘ stellt den Arbeits- und Aufenthaltsort für die Mitarbeiter des Unternehmens dar. Dieser beeinflusst die Mitarbeiter.
›empresa y despachos‹ (dt. Unternehmen und Büros)
Kulturvergleich
Die Darstellung der Vorbildunternehmen ist nicht kritiklos, jedoch werden die Vorteile deutlich hervorgehoben.
Gesundheit
Selbstkritik an Unternehmen im eigenen Land und Unternehmenskultur
Die Räumlichkeiten von Unternehmen sowie die spanische Unternehmenskultur werden kritisiert: Es wird darauf hingewiesen, dass es sich vor allem um spanische Unternehmen handelt, die den Zusammenhang von Unternehmensräumlichkeiten, Wohlbefinden und Produktivität ignorieren.
Vorteile für Unternehmen
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 39: Konzept ›la empresa y sus despachos‹
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
307
Konzeptsynthese Der physische Raum Unternehmen stellt den Arbeits- und Aufenthaltsort für die Mitarbeiter des Unternehmens dar. Dieser beeinflusst die Mitarbeiter.
Konzeptsynthese
Arbeit findet im physischen Raum statt und beansprucht Räumlichkeiten, die den Tätigkeiten der Arbeitenden angemessen sind. Die Räumlichkeiten des Unternehmens beeinflussen die Mitarbeiter und bilden einen sozialen Raum, in dem bestimmte hierarchische, tätigkeitsbezogene und gesellschaftliche Strukturen wirken.
- Der Nutzen der Angebote ist umstritten.
WOHLBEFINDEN DER MITARBEITER - Die Räumlichkeiten im Unternehmen beeinflussen das Wohlbefinden der Mitarbeiter. Dies wird zum Teil von Unternehmen berücksichtigt – durch praktische Angebote, wie die Kinderbetreuung oder Haushaltshilfe, sowie Sport-, Freizeit- und Wellnessangebote.
- Durch die Nutzung alternativer Arbeitsplätze (Homeoffice) können Büroarbeitsplätze eingespart werden.
- Viele spanische Unternehmen berücksichtigen nicht, dass die Räumlichkeiten das Wohlbefinden und die Produktivität der Mitarbeiter beeinflussen.
WOHLBEFINDEN DER MITARBEITER - Die Räumlichkeiten im Unternehmen beeinflussen das Wohlbefinden der Mitarbeiter.
- Durch die Nutzung alternativer Arbeitsplätze (teletrabajo) können Büroarbeitsplätze eingespart werden.
ZUKÜNFTIGE ARBEITSWELT - Die zukünftigen Entwicklungen der Arbeitswelt (Kommunikation, Zusammenarbeit) verändern vor allem den virtuellen Arbeitsraum.
ZUKÜNFTIGE ARBEITSWELT - Die zukünftigen Anforderungen der Arbeitswelt (Kommunikation, Zusammenarbeit, Austausch) verändern den physischen Raum des Unternehmens (Konferenzräume, Gruppenarbeitsräume).
- Die Zusammenarbeit kann häufig auch virtuell erfolgen.
Sprachliche Verknüpfungen
Sprachliche Verknüpfungen
Die Kernkonzepte ähneln sich: In beiden Konzepten wird davon ausgegangen, dass der physische Raum die Mitarbeiter beeinflusst. Während im deutschen Korpus die Anpassungen der Räumlichkeiten positiv und negativ bewertet werden, wird im spanischen Korpus kritisiert, dass spanische Unternehmen kaum Veränderungen vornehmen.
›empresa y despachos‹
›Räumlichkeiten im Unternehmen – das Unternehmen als sozialer Raum‹
Tabelle 40: Vergleich SOZIALER UND PHYSISCHER RAUM ‚UNTERNEHMEN‘
308 5 Analyse der Korpora
Die Konzepte ähneln sich. Im Kontext des spanischen Konzeptes wird Kritik an der spanischen Unternehmenskultur geäußert.
Kulturspezifik
- Der Nutzen alternativer Büroräume durch Start-Ups und die Medienund Kreativbranche ist ebenfalls umstritten.
- Die räumlichen Strukturen US-amerikanischer Großunternehmen werden als Vorbilder konzeptualisiert.
- Die Vorteile von Sport- und Freizeitangeboten sowie anderen praktischen räumlichen Angeboten am Arbeitsplatz sind umstritten.
- Die Räumlichkeiten in spanischen Unternehmen werden häufig kritisiert und es wird der Vorwurf erhoben, dass die spanische Unternehmenskultur nicht berücksichtigt, dass die Räumlichkeiten das Wohlbefinden und die Produktivität der Mitarbeiter beeinflussen.
- Die zukünftigen Entwicklungen der Arbeitswelt (Technisierung, Virtualisierung) vollziehen sich bereits und beeinflussen sowohl den physischen als auch den virtuellen Raum.
- Die Verringerung der Unternehmensfläche durch Angebote wie Teleheimarbeit wird positiv bewertet.
- Die Räumlichkeiten eines Unternehmens beeinflussen die Mitarbeiter und ihr Wohlbefinden.
- Die Räumlichkeiten eines Unternehmens beeinflussen die Mitarbeiter und ihr Wohlbefinden.
- Einige Entwicklungen werden dabei als vorteilhaft bewertet (vermehrte Zusammenarbeit in Gruppenarbeitsräumen, Verringerung der Büroarbeitsplätze durch Homeoffice).
Sprachliche Bewertungen
- Internationale und vor allem US-amerikanische Großunternehmen werden als Vorbilder beschrieben, die Sport- und Freizeitangebote anbieten und so das Wohlbefinden der Mitarbeiter fördern.
Sprachliche Bewertungen
- Sie prägen damit die Entstehung neuer Räume und Arbeitsumgebungen.
ALTERNATIVE ARBEITSPLATZKONZEPTE - Bestimmte Berufsgruppen (Start-Ups, junge Berufstätige und die Medienund Kreativszene) sind nicht an ein bestimmtes Arbeitsumfeld gebunden und nutzen alternative Bürokonzepte.
- US-amerikanische Großunternehmen sind Vorbilder. Einige deutsche Unternehmen bieten ebenfalls Sport- und Freizeitprogramme an, die auf die Gesundheit der Mitarbeiter ausgerichtet sind, und profitieren von der Investition in die Mitarbeiter.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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5 Analyse der Korpora
5.3.3.3 Konzeptueller Zugriff MOBILITÄT – UNTERNEHMEN IM RAUM 5.3.3.3.1 Deutsches Konzept ›Mobilität im Beruf‹ In der Einleitung zu Subthema 2 RAUM wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich der Ausdruck „Arbeitsplatz“ deutlich weniger dazu eignet, das Thema RAUM zu erschließen, als der im Kontext des Subthemas 1 ZEIT benutzte Ausdruck „Arbeitszeit“. Das Lexem „Arbeitsplatz“ scheint zunächst augenfällig und findet mit 4.008 Treffern im Korpus deutlich häufiger Verwendung als der Ausdruck „Arbeitsort“ (95 Treffer). Sehr viele der Treffer bezeichnen allerdings nicht den physischen Raum, sondern verweisen auf den „Arbeitsplatz“ als Berufstätigkeit. Der Ausdruck „Arbeitsort“ bezeichnet hingegen den Ort, an oder in dem gearbeitet wird. Er eignet sich deshalb besser für die Erschließung des Konzeptes ›Mobilität‹. Die Kollokationen „Wohnort und Arbeitsort“ und „Lebensort und Arbeitsort“, die im Korpus prominent sind, machen deutlich, dass es sich um ein „Dazwischen“ handelt, das im Folgenden näher betrachtet wird. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›Mobilität im Beruf‹ bezeichnet das Faktum, dass sich das Leben von Berufstätigen zwischen zwei Punkten, dem des Lebens/Wohnens (hier verstanden als Zeit, die am Wohnort verbracht wird) und dem des Arbeitens, aufspannt. In den meisten Fällen stimmen die Orte, an denen sich die zwei Tätigkeiten vollziehen, nicht miteinander überein, sodass das Konzept der ›Mobilität‹, verstanden als Beweglichkeit einer großen Gruppe von Berufstätigen, relevant wird. Mobilität beschreibt also die Beweglichkeit von Berufstätigen zwischen den Polen Beruf und Alltag. Mobilität kann des Weiteren eine mehr oder weniger große Beweglichkeit eines Berufstätigen in verschiedenen Facetten der Berufstätigkeit bezeichnen – zwischen verschiedenen Firmenstandorten im In- und Ausland, zwischen verschiedenen Abteilungen oder Aufgabenbereichen innerhalb einer Firma, oder auch zwischen verschiedenen Firmen oder Branchen. 273. Lange Strecken pendeln, ständig auf Dienstreise oder gar des Jobs wegen umziehen: Mobilität gehört für viele Menschen längst zum Alltag. (SZ, 12.10.2013, Immer auf Achse) Konzeptuelle Verknüpfungen Pendeln zwischen den Polen Arbeitsort und Wohnort Bei der Analyse des Konzeptes ›Mobilität‹ fällt das verknüpfte Konzept ›Pendeln zwischen Arbeits- und Wohnort‹ auf, das große Überschneidungen mit dem Ausgangskonzept aufweist: Es bezeichnet eine Bewegung zwischen zwei Punkten, zwischen denen notwendigerweise eine Linie gezogen werden muss, da an einem Ort gearbeitet
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
311
und an dem anderen Ort gewohnt, gelebt oder auf sonstige Weise Zeit verbracht wird. 274. Etwa 30 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik sind Berufspendler. Das sagt der Mikrozensus 2004, die jährliche Haushaltsbefragung des Statistischen Bundesamts. 5,1 Millionen, also 17 Prozent von ihnen, fahren mehr als 25 Kilometer weit zur Arbeit, 1,5 Millionen (5 Prozent) legen über 50 Kilometer zurück. (taz, 10.01.2006, Moderne Nomaden) Ab welcher zurückgelegten Strecke von „Pendlern“ gesprochen wird, unterscheidet sich. Klassischerweise wird unter einem Berufspendler jemand verstanden, der regelmäßig, zumeist täglich, eine bestimmte Strecke mit einem Verkehrsmittel (Auto, Zug, Bus) zwischen Wohnort und Berufsstätte zurücklegt. Die Wochenendpendler stellen eine Untergruppe der Berufspendler dar und werden im zitierten Beleg und der beschriebenen Haushaltsbefragung des Mikrozensus als Gruppe beschrieben, die zwischen zwei Haushalten und der Arbeitsstätte pendelt, „die werktags am Arbeitsort wohnen und in ihrer Freizeit den Haupthaushalt heimsuchen, den sie gemeinsam mit Partner, Familie, Freunden führen“ (ebd.). Steigende Mobilität: Gesundheit, Familie, Partnerschaft Im Korpus wird dargestellt, dass die steigende Mobilität zum Alltag von immer mehr berufstätigen Menschen in Deutschland gehört. Zum einen seien es dabei die Arbeitgeber, die von ihren Arbeitnehmern immer mehr Mobilität verlangten: 275. Wir befinden uns im Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer. Diesen Titel hat die Europäische Kommission dem Jahr 2006 verpasst, um Studenten und Berufstätige zum Wechsel in ein anderes Land zu ermutigen und um die Durchlässigkeit der Arbeitsmärkte zu verbessern. Tatsächlich wird mittlerweile vor allem von Berufsanfängern ganz selbstverständlich erwartet, dass sie für das Unternehmen immer und überallhin umziehen. Welche Folgen die ständigen Ortswechsel für das Privatleben haben, steht dabei selten zur Debatte. (SZ, 28.10.2006, Immer auf dem Sprung. Mobil im Dienste der Firma. Wer nicht zum Umzug bereit ist, gilt als unmotiviert) In anderen Belegen wird die steigende Mobilisierung der Arbeitswelt als natürliche Konsequenz des technischen Fortschritts, der besseren Verkehrsmittel und -wege sowie der wachsenden Globalisierung dargestellt: 276. Die meisten Menschen glauben, dass sie Zeit gewinnen würden, wenn man Staus vermeiden könnte. Ein Irrtum, sagt Zumkeller. Die Leute nutzen die gewonnene Zeit sofort, um ihren Aktionsradius zu erweitern. Etwa 80 Minuten sind wir jeden Tag unterwegs, sagt Zumkeller, seit Ewigkeiten schon. Vor 30 Jahren legten die Deutschen in dieser Zeit rund 27 Kilometer am Tag zurück, heute sind
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5 Analyse der Korpora
es 39 Kilometer. Je besser der Mensch vorankommt, desto weiter fährt er. (Spiegel, 21.04.2008, Der König von Deutschland)454 Diese gesteigerte Mobilität wird mit den Vorteilen, aber auch den Problemen, die aus ihr hervorgehen können, verknüpft, so beispielsweise mit dem Vorteil der familiären Nähe, die durch das Pendeln bewahrt werden kann, und dem Nachteil der potentiell bedrohten Gesundheit der Arbeitnehmer: 277. Von Köln nach Frankfurt und am Abend zurück – und das fünfmal die Woche. Früher war es eine Auszeichnung, wenn man für die Firma auf Dienstreise ging. […] „Das liegt aber nicht nur an den Anforderungen der Arbeitgeber, sondern auch an den Wünschen der Arbeitnehmer.“ Dabei geht es vor allem um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. So nehmen viele lieber einen langen Weg in Kauf, als etwa auf ein Eigenheim zu verzichten. Immer größere Mobilität und Flexibilität bieten Vorteile für Unternehmen und ihre Mitarbeiter – allerdings gibt es auch Risiken. So machten AOK und Techniker Krankenkasse im vergangenen Jahr darauf aufmerksam, dass dies auch auf Kosten der Gesundheit gehen kann. In seinem Fehlzeitenreport 2012 stellte etwa das Wissenschaftliche Institut der AOK einen Zusammenhang von Fehltagen, der Zahl psychischer Erkrankungen und der Länge des Arbeitsweges fest. Eine Erkenntnis: Pendler mit großen Strecken unterliegen einem um 20 Prozent höheren Risiko, an psychischen Leiden zu erkranken. (SZ, 12.10.2013, Immer auf Achse) Die gesteigerte Mobilität wird in Beleg 277 mit dem Konzept ›Familie‹ verknüpft, indem betont wird, dass die Vereinbarkeit ein Grund für die gesteigerte Mobilität der Mitarbeiter sein kann, obwohl diese sich – wenn die Strecke zu lang ist oder zu oft zurückgelegt werden muss – auf die Gesundheit auswirken kann. Häufiger wird in den deutschen Medientexten jedoch dargelegt, dass die gesteigerte Mobilität, die von vielen Firmen erwartet werde, zu Problemen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie führe: 278. Schon jeder vierte Arbeitnehmer unter 25 Jahren ist nur noch „befristet” beschäftigt. […] Wie soll unter diesen Umständen eine Familie gegründet werden: ohne Aussicht auf ein verlässliches, dauerhaftes Einkommen? […] 60 Prozent der jungen Arbeitnehmer betrachtet die geforderte Mobilität als Hinderungsgrund für Eheschließung. Heute hier, morgen dort. Die Braut nach Norden, der Bräutigam nach Süden. Zwischen Beschäftigung heute in Hamburg, morgen in München reicht’s vielleicht gerade für den Standesamtsbesuch in Frankfurt. (SZ, 10.08.2004, Außenansicht, Die neuen Job-Nomaden)455
454
Vgl. auch taz, 08.07.2011, „Die Stadt als Mobilitätsmaschine“.
455
Vgl. auch Beleg 275.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Besonders auffällig ist, dass nicht nur die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung angeführt wird, sondern auch das Konzept der ›Partnerschaft‹ und der ›Ehe‹ verknüpft wird. Über das klassische Familienmodell hinaus wird auch anderen sozialen Beziehungen Relevanz im Kontext der Arbeitswelt zugesprochen. Pendler und die rechtliche Situation in Deutschland Im deutschen Korpus werden im Kontext des Konzeptes ›Mobilität‹ immer wieder rechtliche Fragen oder Streitpunkte genannt. Das Thema der Pendlerpauschale wird durch die steigende Mobilität bedeutsamer und ist in verschiedenen Belegen umstritten: 279. Arbeitnehmern wird eine immer größere Mobilität abverlangt. Dass der Staat dies steuerpolitisch unterstützt, ist nicht nur familienpolitisch sinnvoll, sondern auch volkswirtschaftlich. Denn die zusätzliche Mobilität führt zu mehr Flexibilität. Unternehmen und ihre Beschäftigten können schneller auf Marktänderungen reagieren, was die Grundlage für Erfolg und damit auch Steuereinnahmen schafft. Auch regionalpolitisch ist das sinnvoll: Abgelegene Regionen, zum Beispiel in Ostdeutschland oder im ehemaligen Grenzgebiet, sind ökonomisch nur lebensfähig, wenn ihre Bewohner in weiter entfernte Gebiete pendeln. Eines stimmt aber auch: Die Pendlerpauschale fördert die Zersiedelung der Landschaft, wenn Familien ins vermeintlich grüne Umland der Städte abwandern. Dieser Wahnsinn, der überflüssigen Verkehr erzeugt, kann mit vielen anderen Maßnahmen bekämpft werden: indem lebenswerte Innenstädte geschaffen werden oder auf neue Straßen verzichtet wird – vor allem aber durch restriktive Vorgaben an Gemeinden, nicht überall neues Bauland auszuweisen. (taz, 10.12.2008, Entlastung für Arbeitnehmer. Pro: Das Urteil zur Pendlerpauschale fördert nötige Mobilität)456 Es wird sowohl auf Vor- als auch auf Nachteile der Pendlerpauschale verwiesen. Die Belege finden sich insbesondere im Jahr 2008, in dem das Bundesverfassungsgericht eine frühere Fassung der Entfernungspauschale – im Volksmund Pendlerpauschale – im deutschen Einkommenssteuerrecht von 2007 für verfassungswidrig erklärte. In weiteren Belegen werden zudem Fragen des deutschen Steuerrechts, die die Zweitwohnsitzsteuer betreffen, behandelt.457 Im deutschen Korpus fallen die Belege, die das Konzept ›Mobilität im Beruf‹ und rechtliche Fragen verknüpfen, aufgrund ihrer Häufigkeit besonders auf. Mitunter betrifft die Mobilität der Berufstätigen dabei auch 456
Vgl. auch Welt, 25.03.2008, „Streit um die Pendlerpauschale“ und SZ, 24.01.2008, „Kein Geld, für niemanden“.
457
Vgl. Welt, 04.07.2009, „Der zweite Haushalt. Wie der Fiskus die Wohnung am Arbeitsort mitfinanziert“ und Welt, 10.03.2014, „Sparen mit zwei Wohnsitzen. Wer berufsbedingt ein doppeltes Zuhause hat, kann für 2013 noch kräftig Steuern kürzen. Jetzt gelten neue Regeln“.
314
5 Analyse der Korpora
den Grenzübertritt von Deutschland in ein Nachbarland, sodass wiederum andere Steuerabkommen eine Rolle spielen.458 Raumgestaltung durch Unternehmen und Stadtentwicklung Im deutschen Korpus wird in verschiedenen Artikeln darauf hingewiesen, dass einige Branchen die Entwicklung von Städten und von einzelnen Stadtteilen stark beeinflussen. So werden beispielsweise ehemalige Industrie-Standorte innerhalb von Großstädten von kleinen oder mittelgroßen Unternehmen als Büro- oder Produktionsstätten genutzt (Welt, 30.10.2002, Berlins Gewerbehöfe haben Konjunktur). Dabei können sich wiederum Potentiale für die Stadtentwicklung ergeben, die insbesondere der Medien- und Kulturwirtschaft zugeschrieben werden: 280. Kreative Arbeit braucht Räume – geistige, aber auch handfeste in Form von Immobilien. Im wachsenden Segment der meist kleinen Unternehmen der Kreativbranche, zu der Künstler und Designer genauso gehören wie Werbetreibende und Medienschaffende, stoßen neue Raumnutzungsformen zunehmend auf großes Interesse. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Initiative Creative.NRW. […] Die Branche beginne, die immense Bedeutung der Kreativen für die Stadt- und Raumentwicklung zu begreifen. Denn die Kreativwirtschaft gilt vielerorts als Beschäftigungsmotor und Treiber ökonomischer Innovationen. Sie hat als Ideenlabor und Talentschmiede in den vergangenen Jahren zunehmend Beachtung gefunden. Vielerorts steht die Branche auch als Impulsgeber für die Stadtentwicklung und damit auch bei der Immobilienbranche hoch im Kurs. Denn dort, wo sich Künstler und Kreativfirmen ansiedeln, entstehen neue Initiativen. Auf diese Weise rücken vergessene, oft brachliegende Flächen und Gebäude wieder in das öffentliche Bewusstsein. Und die Aktivitäten der Kreativen können zur Belebung und Aufwertung ganzer Stadtviertel beitragen. (Welt, 19.11.2011, Die hohen Ansprüche der Kreativen. Die Medien- und Kulturwirtschaft ist eine treibende Kraft für die Stadtentwicklung) Der Artikel betont hier die hohe Bedeutung einer kleinen, esoterischen Gruppe von Berufstätigen für die Entwicklung einer Stadt: Die Branche der Medien- und Kulturschaffenden und ihre Ansprüche beeinflussen die Art der Gestaltung und der Nutzung von Räumen innerhalb des Unternehmens und um das Unternehmen herum. Erneut schließt sich an die Verknüpfung von Arbeitsplatz und Wohlbefinden die Aussage an, dass beides wiederum die Produktivität steigere und es sich somit um lohnenswerte Investitionen handele, die darüber hinaus noch gesellschaftliche Relevanz hätten.
458
Vgl. SZ, 14.05.2001, „Worauf muss ein Einsteiger achten?“.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
315
Arbeitsmigration Das Konzept ›Mobilität im Beruf‹ wird in einer Vielzahl von Belegen als Mobilität von bestimmten Berufsgruppen dargestellt, die ihre Arbeit über digitale Kanäle erledigen können: Büroangestellte, die im Homeoffice arbeiten, Führungskräfte, die zwischen verschiedenen Firmenstandpunkten pendeln oder Kreativschaffende, die ihre Arbeit in öffentlichen Cafés oder an flexiblen Arbeitsplätzen erledigen. Eine andere Form der Mobilität beschreibt das Kompositum „Arbeitsmigration“: 281. Gekommen und geblieben. Heimat und Fremde. Arbeitsmigration ist ein Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Historische Museum Hannover hat sich des Themas angenommen, blickt mit der Ausstellung „‚Gastarbeit‘ in Hannover“ aber auch über die Stadtgrenzen hinaus (taz, 19.02.2011, = Titel und Lead). Diese Form der Berufsmobilität, bei der das Heimatland verlassen werden muss, um eine Erwerbsarbeit in einem anderen Land zu ergreifen, betrifft Gruppen von Berufstätigen, die über weniger Privilegien verfügen. Während sich Beleg 281 auf die Geschichte der Arbeitsmigration bezieht, beschreibt der folgende Beleg aktuelle Fragestellungen: 282. Es gibt keine offizielle Statistik darüber, zu welchen Stundenlöhnen Bulgaren und Polen in Deutschland arbeiten. Niemand weiß, wie viele von ihnen nur 2 oder 3 Euro die Stunde erhalten. Es gibt keine realistischen Schätzungen, weil das überhaupt nicht sichtbar ist, sagt Nivedita Prasad von Ban Ying, einer Beratungsstelle für ausgebeutete Arbeitnehmer. Während einige Arbeiter gar nichts bekommen, weil sie fiktive und überhöhte Schulden für ihre Einschleusung nach Deutschland abarbeiten müssen, kommen andere auf 10 Euro pro Stunde. Oft wird am Ende auch weniger gezahlt als versprochen. […] Noch schlimmer als die der EU-Bürger ist nach Prasads Erfahrung jedoch die Ausbeutung der Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, etwa aus Asien oder Afrika. Bei ihnen weiß man nicht einmal, wie viele in Berlin leben. Sie pflegen Senioren in Privathaushalten, arbeiten auf dem Bau, als Saisonarbeiter auf dem Bauernhof oder in Nagelstudios. Die Arbeiten sind meist schmutzig, gefährlich oder erniedrigend, so Prasad. (taz, 22.12.2012, Auf der Suche nach dem besseren Leben. Arbeitsmigration. Vor allem Polen und Bulgaren zieht es nach Berlin) Diese Form der Mobilität betrifft vor allem junge Menschen aus weniger entwickelten Ländern, die nach Deutschland kommen, um eine besser bezahlte Arbeitsstelle zu finden. Im Kontext des Konzeptes ›Mobilität im Beruf‹ ist hier besonders auf die temporäre und saisonale Arbeitsmigration zu verweisen, bei der Arbeitnehmer ihren Wohnsitz zeitweise nach Deutschland verlagern.459 Auf die verschiedenen mehr oder weniger privilegierten Gruppen von Arbeitnehmern wird in Kapitel 5.4.3.3.1 vertiefend eingegangen. 459
Vgl. taz, 11.11.2011, „Knochenjob im Urlaub“.
316
5 Analyse der Korpora
Bewertung des Konzeptes Bei dem Konzept ›Mobilität im Beruf‹ handelt sich um eines der Konzepte, die als bedeutsam für die Zukunft der Arbeitswelt konzeptualisiert werden: Es wird davon ausgegangen, dass eine verbesserte Mobilität unbedingt notwendig sein wird und dass sie Chancen in verschiedensten Bereichen birgt (Innovationsfähigkeit von Unternehmen durch Werbung der besten Talente, verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie etc.). Die Probleme, die durch die steigende Mobilität entstehen können, werden als potentielle Probleme beschrieben, die die Notwendigkeit der Mobilitätssteigerung nicht aufheben und die deshalb so gut wie möglich abgefedert werden müssen. Damit werden sie als weniger ausschlaggebend konzeptualisiert als die genannten Vorteile. Die Diskussion um die Pendlerpauschale und die entsprechenden Gesetzesänderungen belegt, dass es sich um ein umstrittenes Diskursthema handelt, zu dem sich Diskursakteure der Politik äußern. In der bereits bestehenden und weiter wachsenden Mobilität einer kleinen Gruppe von Berufstätigen in Medienunternehmen, Kreativunternehmen oder Start-Ups, die nicht an klassische räumliche Strukturen gebunden sind, wird großes Potential für die Entwicklung von Stadtvierteln gesehen, die durch günstige Mieten zunächst als Standpunkte attraktiv sind und durch die neue Szene von jungen Berufstätigen als Raum aufgewertet werden.
Metadiskursive Deutung
Befund
b. natürliche Konsequenz des Fortschritts.
b. da der technische Fortschritt, die besseren Verkehrsmittel und -wege und die Globalisierung dies ermöglichen.’
‘Die Mobilität, die oft vom Arbeitgeber vorausgesetzt wird, kann Partnerschaften und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Wege stehen.’
≠
‘Um Beruf und Familie zu vereinbaren, nehmen Berufstätige oft lange und häufige Strecken zum Arbeitsplatz in Kauf.’
a. vom Arbeitgeber eingefordert.
a. da der Arbeitgeber dies voraussetzt.
Die Teilbedeutungen stehen sich agonal gegenüber: Einerseits wird die Vereinbarkeit durch die Mobilität ermöglicht, andererseits wird befürchtet, dass die Mobilität der Vereinbarkeit entgegensteht.
Mobilität wird als Teil der zukünftigen Arbeitswelt konzeptualisiert, deren Entwicklung nicht aufzuhalten ist und die mehr Chancen als Risiken birgt.
Die steigende Mobilität wird konzeptualisiert als
‘Die steigende Mobilität und das Pendeln von Arbeits- zu Wohnstätte gehören für immer mehr Berufstätige zum Alltag:
‘Pendler legen regelmäßig, zumeist täglich, die Strecke zwischen Wohnort und Berufsstätte mit einem Verkehrsmittel zurück. Wochenendpendler pendeln zwischen zwei Wohnorten und der Arbeitsstätte.’
Beweglichkeit von Berufstätigen zwischen den Polen Beruf und Alltag, zwischen Wohnort und Arbeitsort, zwischen verschiedenen Firmenstandorten im In- und Ausland, zwischen verschiedenen Abteilungen oder Aufgabenbereichen innerhalb einer Firma oder zwischen Firmen
›Mobilität im Beruf‹
Agonalität
Entwicklung
positive Bewertung
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 41: Konzept ›Mobilität im Beruf‹
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
317
In den Medientexten werden die steuerlichen Vor- und Nachteile der verschiedenen Maßnahmenpakete diskutiert. Es sind zumeist spezifische Gruppen von Berufstätigen, die von der wachsenden Mobilität betroffen sind.
Das Lexem „Arbeitsmigration“ bezeichnet diese spezifischere Form der Mobilität, die im Korpus deutlich seltener aufgegriffen wird.
‘Für manche Arbeitnehmer kann ein Zweitwohnsitz am Arbeitsort sinnvoll sein. Eventuell können steuerliche Vorteile geltend gemacht werden.’
‘Berufstätige in der Medien- und Kreativbranche, der IT-Branche oder in StartUps weisen eine besonders hohe Mobilität auf, da sie nicht an feste Arbeitsplätze und -umgebungen gebunden sind. Sie weisen ein großes Potential für die Stadtentwicklung auf, indem sie leerstehende Gebäude nutzbar machen und den öffentlichen Raum in weniger attraktiven und günstigeren Stadtvierteln aufwerten.’
‘Junge Menschen aus industriell weniger entwickelten Ländern kommen nach Deutschland, um Geld zu verdienen und einen höheren Lebensstandard zu erlangen.’
‘Auf der anderen Seite birgt sie die Gefahr der Zersiedelung.’
Migration
Stadtentwicklung
Gruppenspezifik
Sachverhaltsebene
Diskursakteure ringen um Diskurshoheit
Vor- und Nachteile
Die Pendlerpauschale hat sowohl Vorals auch Nachteile. Insbesondere in den Jahren 2007 und 2008 ist sie umstritten und wird von politischen Akteuren unterschiedlich bewertet.
‘Die Pendlerpauschale hat familienpolitische und volkswirtschaftliche Vorteile. Sie kann dazu führen, dass ländlichere Regionen weiterhin bewohnt bleiben.’
≠
negative Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Das Konzept wird mit einem Hochwertkonzept verknüpft: Die höhere Mobilität kann die Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigen.
‘Lange und häufig zurückgelegte Strecken zwischen Wohn- und Arbeitsplatz können die Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigen.’
318 5 Analyse der Korpora
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
319
5.3.3.3.2 Spanisches Konzept ›movilidad laboral‹ (dt. berufliche Mobilität) Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›movilidad laboral‹ beschreibt die berufliche Mobilität einer Gruppe von Arbeitnehmern im Inland Spaniens und im (europäischen) Ausland. Es können dabei verschiedene Formen von Mobilität unterschieden werden: die geographische Mobilität, um die es im Korpus meist geht, die Mobilität zwischen verschiedenen Arbeitsbranchen oder Abteilungen und die funktionale Mobilität, die den Wechsel von Arbeitsaufgaben beschreibt („movilidad geográfica, sectorial y funcional del trabajador”)460. Die geographische Mobilität beschreibt die Bewegung zwischen dem Arbeitsort und dem Zuhause, oder aber die Bewegung zwischen verschiedenen Arbeitsorten. Sie kann kürzere Wege zum Arbeitsplatz meinen, aber auch große Distanzen zwischen verschiedenen Ländern oder Kontinenten. Es handelt sich dabei um ein Konzept, das vor allem bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern betrifft, die im Korpus als „joven, con alta formación y sin hijos“ (dt. jung, hochgebildet und kinderlos, País, 28.03.2008, Las ofertas de empleo, cerca de casa, por favor) charakterisiert werden. Konzeptuelle Verknüpfungen Mangel an Mobilität in Spanien: kulturelle Faktoren Im spanischen Medienkorpus wird angeführt, dass die Arbeitnehmer in Spanien weniger mobil seien als vergleichbare Gruppen im europäischen Ausland: 283. España está entre los países europeos con menos movilidad geográfica de sus empleados – El apego a la familia, la vivienda en propiedad y el bajo nivel de idiomas disuaden de trabajar fuera (País, 28.03.2008, Las ofertas de empleo, cerca de casa, por favor)461 Im Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt und insbesondere mit Ländern wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den skandinavischen Ländern falle die Mobilität der spanischen Arbeitnehmer sehr gering aus. Als Ursachen für diese fehlende Mobilität werden die starken familiären Verbindungen in Spanien (und den südlichen Ländern Europas), die mangelhaften Sprachkenntnisse der spanischen Arbeitnehmer und die Gewohnheit, in eigenen Immobilien zu wohnen und nicht zu mieten, genannt. Die Gründe werden als „motivos culturales“ (dt. kulturelle Gründe, ebd.) bezeichnet, die zwar als solche erkannt werden, aber kaum zu ändern sind. Die geringe Mobilität manifestiere sich auch in weiteren Lebensabschnitten: So zeigen Studierende eine geringe Bereitschaft zur internationalen, aber auch zur regionalen Mobilität. 460
Vgl. País, 07.08.2009, „¿Cambio de modelo sin reforma laboral?“.
461
Dt. Spanien ist unter den Ländern Europas, die die geringste geographische Mobilität unter ihren Angestellten aufweisen – die Verbundenheit mit der Familie, der Besitz eines Eigenheims oder einer Wohnung und die schlechten Fremdsprachenkenntnisse halten die Menschen von der Arbeit anderswo ab.
320
5 Analyse der Korpora
284. […] no hay más que echar un vistazo al número de universitarios que estudia en su región o provincia: 9 de cada 10. (ebd.)462 Ebenso ist unter den Arbeitnehmern nicht nur die Mobilität zwischen verschiedenen Ländern gering, sondern auch zwischen verschiedenen Firmen; auch in diesem Kontext wird festgestellt, dass es sehr lange dauere, bis sich Veränderungen in Spanien – bei „uns“ – durchsetzen: 285. España también es diferente en lo que se refiere a la permanencia de profesionales en las empresas. Parece que las tendencias que se dan en otros lugares, o no van con nosotros o, como casi siempre, tardarán en implantarse aquí más que en ningún otro sitio. Un estudio de Randstad refleja que 13 de cada 100 españoles llevan más de 20 años en el actual empleo. (Mundo, 26.06.2011, ¿Por qué somos tan fieles a nuestras empresas?)463 Verschiedenen Gruppen in der spanischen Gesellschaft wird zugeschrieben, deutlich weniger mobil zu sein als vergleichbare Gruppierungen in anderen Ländern. Die fehlende Mobilität wird als eines der Hauptprobleme der spanischen Unternehmenswelt konzeptualisiert.464 Mobilität und Auswirkungen: Familie und Emanzipation Im spanischen Medienkorpus wird angenommen, dass das Konzept ›movilidad laboral en el espacio‹ sich auf verschiedene weitere Konzepte auswirkt: Am prominentesten ist die Verknüpfung zum Konzept ›Familie‹, auf das sich bereits kürzere räumliche Distanzen auswirken, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beeinträchtigen. 286. Y lo es porque la dependencia familiar frena la movilidad social. Cuanto más unido esté uno a su familia y cuanto más dependa de las redes de favores y obligaciones de la familia, menos fácil le será cambiar de trabajo o de lugar de residencia y más difícil le será encontrar trabajo. (Mundo, 27.02.3010, “Lo justo sería extender la edad de jubilación y congelar el sueldo a los funcionarios”)465 462
Dt. […] man braucht nicht mehr zu tun, als einen Blick auf die Nummer der Studierenden zu richten, die in ihrer Region oder Provinz studieren: 9 von 10.
463
Dt. Spanien unterscheidet sich auch im Hinblick auf die Dienstzeit der Fachleute in den Unternehmen. Es scheint, als ob die Tendenzen, die an anderen Orten stattfinden, entweder nicht mit unseren übereinstimmen oder dass sie hier länger brauchen werden als an allen anderen Orten. Eine Untersuchung von Randstad spiegelt wider, dass 13 von 100 Spaniern seit mehr als 20 Jahren in ihrer aktuellen Beschäftigung sind.
464
Vgl. País, 23.04.3006, „En guerra contra la rotación“. Als weitere Probleme werden die geringe Motivation der Mitarbeiter, das unentschuldigte Fehlen am Arbeitsplatz und die mangelhafte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben benannt.
465
Dt. Und das ist so, weil die Abhängigkeit von der Familie die gesellschaftliche Mobilität bremst. Je verbundener man mit der Familie ist und je mehr man von Freundschaftsdiensten abhängig ist und fa-
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
321
Die engen familiären Beziehungen in Spanien führen dazu, dass die Arbeitnehmer wenig mobil sind und in der Nähe ihrer Familie bleiben möchten. Im Korpus wird darauf verwiesen, dass viele junge Menschen in Spanien sehr lange bei ihren Eltern wohnen, häufig bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr: 287. Los jóvenes son los más dispuestos, en general, a moverse, pero en España no logran moverse siquiera del domicilio familiar hasta la treintena. La edad media a la que los españoles se emancipan, los 29 años, es de las más altas de la UE. (País, 28.03.2008, Las ofertas de empleo, cerca de casa, por favor)466 Besonders auffällig ist auch, dass der Aspekt der Emanzipation der weiblichen Arbeitnehmer betont wird (vgl. Konzept 5.4.3.1.1). So wird darauf hingewiesen, dass der Zugang zu Arbeitsplätzen, die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar seien, oft besonders schwer für Frauen sei, da diese mitunter über keinen Führerschein verfügten oder pro Haushalt nur ein Auto zur Verfügung stehe, das in den meisten Fällen von den männlichen Arbeitnehmern genutzt werde.467 Mitunter wird die größere Distanz zur Familie als in Kauf zu nehmende Notwendigkeit beschrieben. 288. A Elena Bobadilla (30 años) le tiró más un trabajo mejor en Madrid que seguir viviendo con su hermana y su novio en Logroño, a 35 kilómetros de su pequeño pueblo natal, Baños de Río Tobía, donde vive su familia. Ella pasó hace un par de meses a formar parte de ese porcentaje pequeñito de trabajadores viajeros. Eso sí, después de darle muchas vueltas y de recibir el apoyo de su gente —“Preferimos verte los fines de semana contenta que todos los días aburrida y desmotivada”, le dijeron —. (ebd.)468 Der Hochwert Familie wird in diesem Beleg ausnahmsweise in seiner Wirkungskraft eingeschränkt. Die grundsätzliche Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es sich nicht um Eltern handelt, die sich um ihre Kinder kümmern müssen.
miliären Verpflichtungen nachkommen muss, desto schwieriger wird der Wechsel der Arbeit oder des Wohnortes sein. Und desto schwieriger wird es sein, Arbeit zu finden. 466
Dt. Die Jungen sind im Allgemeinen diejenigen, die am ehesten bereit dazu sind, sich zu bewegen, aber in Spanien schaffen sie es dennoch nicht, das Elternhaus zu verlassen, bis sie die Dreißig erreicht haben. Das durchschnittliche Alter, in dem Spanier selbstständig werden und ausziehen, beträgt 29 Jahre. Sie sind damit in der Europäischen Union unter den Ältesten.
467
Vgl. País, 17.04.2003, „Llegar al lugar de trabajo“.
468
Dt. Elena Bobadilla (30 Jahre) wollte lieber eine bessere Arbeit in Madrid als weiterhin mit ihrer Schwester und ihrem Freund in Logroño zu leben. 35 Kilometer von ihrem Geburtsort, Baños de Río Tobía, wo ihre Familie wohnt. Vor ein paar Monaten wurde sie Teil der sehr kleinen Anzahl von Berufspendlern. [Allerdings] erst nach reiflicher Überlegung und mit der Unterstützung ihrer Leute: „Es ist uns lieber, wenn wir dich an den Wochenenden sehen und du zufrieden bist, als dich jeden Tag gelangweilt und unmotiviert zu sehen“, sagten sie ihr.
322
5 Analyse der Korpora
Mobilität und Krise Die Konzepte ›Mobilität‹ und ›Krise‹ werden im Korpus auf zweierlei Weise miteinander verknüpft. Zum einen führe die Krise in Spanien dazu, dass sich spanische Arbeitnehmer gezwungenermaßen nach Arbeitsstellen im Ausland umsehen: 289. Con un mercado laboral seco de oportunidades, el hecho de iniciar una vida profesional en el extranjero está en la mente de muchos españoles. Según el último informe sobre movilidad internacional de Adecco, la crisis ha obligado a más de 110.000 nacionales a expatriarse en busca de un nuevo trabajo. Y las cifras aumentarán porque “continúa la falta de empleo y la pérdida de prestaciones por paro”, apunta Eloy Capellán, director del departamento de movilidad internacional de la empresa de recursos humanos. (Mundo, 20.03.2011, Fórmulas para buscar un empleo fuera de España)469 470 Zum anderen verhindere die Krise und die damit einhergehende Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zugleich die Bereitschaft der Arbeitnehmer, die Firma oder die Arbeitsstelle innerhalb der Firma zu wechseln, da Nachteile befürchtet werden: 290. El procedimiento haría más fácil la movilidad: el trabajador podría cambiarse de empresa, sin temor a perder la indemnización que le corresponde de acuerdo con el actual sistema proteccionista. (País, 08.07.2004, La OCDE exige reformas laborales a España en la víspera del dialogo social)471 Mobilität und Zukunft Mobilität im Beruf wird als Arbeitsform der Zukunft konzeptualisiert. Dank des mobilen Arbeitens ist der Arbeitnehmer nicht mehr an einen bestimmten Ort – üblicherweise das Büro – gebunden, sondern kann mithilfe von neuesten technischen Geräten überall arbeiten: 291. A pesar de tener horarios flexibles y de hacer las reuniones entre las 09.30 y 17.00 horas, como hemos conseguido mejorar la productividad? Con nuestra tecnología y con el concepto de movilidad. Todos los empleados tienen un móvil, conexión a internet y un portátil. No solo se trata de que puedas trabajar desde 469
Dt. Mit einem Arbeitsmarkt ohne Aussichten auf Anstellung ist das Vorhaben, ein berufliches Leben im Ausland zu beginnen, für viele Spanier präsent. Laut des letzten Berichts zur internationalen Mobilität von Adecco hat die Krise mehr als 110.000 Bürger dazu gezwungen, auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz das Land zu verlassen. Und die Zahlen werden noch steigen, da „der Mangel an Arbeitsplätzen und der Verlust von Leistungen durch die Arbeitslosigkeit sich fortsetzen“, sagt Eloy Capellán, Chef der Abteilung für internationale Mobilität der Firma für Personalwesen.
470
Vgl. auch Mundo, 25.11.2012, „La banca gana la batalla hipotecaria“.
471
Dt. Das Verfahren würde die Mobilität vereinfachen. Die Angestellten könnten die Firma wechseln, ohne Angst davor zu haben, die Abfindung zu verlieren, die ihnen laut des gegenwärtigen protektionistischen Systems zusteht.
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casa, sino que puedas aprovechar tiempos muertos. (Mundo, 14.10.2006, Rosa María García. Presidenta de Microsoft Ibérica. “En 2010, habrá 10.000 puestos sin cubrir por falta de formación”)472 Die Entwicklung hin zu mobilen Arbeitsformaten wird mit dem Aspekt der Produktivität verknüpft, der als finales Argument von Befürwortern angeführt wird. Dieselbe Argumentationsstruktur – der Verweis auf die gesteigerte Produktivität – findet sich auch in weiteren Belegen, die die Mobilität unter jungen Arbeitnehmern, in diesem Fall verstanden als Internationalisierung der Arbeitnehmer, als Arbeitsform der Zukunft beschreiben und als Möglichkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu gewährleisten.473 Globale Vorbilder für spanische Unternehmen Im spanischen Medientextkorpus sind es zumeist internationale Großunternehmen, die Mobilitätskonzepte umsetzen und diese dann auch in den spanischen Niederlassungen etablieren. Häufig handelt es sich dabei um US-amerikanische Firmen wie Microsoft, zum Teil sind es auch spanische Großunternehmen wie Telefónica: 292. Grandes empresas multinacionales, abanderadas de lo que se conoce como sociedad del conocimiento, como Microsoft, Indra y Telefónica, entre otras, han sido pioneras en España en la introducción de estas políticas de equilibrio entre vida personal y laboral. Microsoft Ibérica cuenta desde hace cuatro años con un programa de movilidad y teletrabajo para todos sus empleados que ha sido reconocido con diversos premios y sellos de calidad. (País, 04.05.2008, Conciliar no cuesta ni un euro)474 475 Mobilität und Veränderung von Raum Die zunehmende Mobilisierung der Arbeitswelt verändert den physischen Raum. Die Technisierung vieler Berufe fordert andere Ausstattungen und Räumlichkeiten, wobei zum einen beispielsweise mehr Computerarbeitsplätze geschaffen werden und zum 472
Dt. Abgesehen von den flexiblen Arbeitszeiten und dass wir alle Konferenzen zwischen 09:30 und 17 Uhr ansetzen, wie haben wir es geschafft, unsere Produktivität zu verbessern? Mit unserer Technologie und dem Mobilitätskonzept. Alle Mitarbeiter haben ein Handy, eine Internetverbindung und einen Laptop. Es geht nicht nur darum, zu Hause arbeiten zu können, sondern auch darum, dass du Leerlaufzeiten nutzen kannst.
473
Vgl. Mundo, 24.01.2010, „Así será el empleo del futuro“.
474
Dt. Große multinationale Unternehmen wie Microsoft, Indra und Telefónica unter anderen – wichtige Repräsentanten der sogenannten Wissenschaftsgesellschaft – waren in Spanien Pioniere der Maßnahmen der Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben. Microsoft Ibérica verfügt seit vier Jahren über ein Mobilitäts- und Teleheimarbeitsprogramm für seine Angestellten, das mit diversen Auszeichnungen und Qualitätssiegeln prämiert wurde.
475
Vgl. auch Beleg 290.
324
5 Analyse der Korpora
anderen Arbeitsplätze eingespart werden können, wenn Mitarbeiter von zu Hause arbeiten (vgl. Konzept 5.3.3.1.2). Auch der öffentliche Raum verändert sich mitunter: Das verstärkte Bedürfnis nach Computerarbeitsplätzen auch außerhalb von Unternehmen führte beispielsweise dazu, dass in den frühen 2000er Jahren mehr Internetcafés entstanden, in denen junge Arbeitnehmer arbeiteten.476 Die Veränderung des Raumes durch die Veränderung der Arbeitsformate zeigt sich im folgenden Beleg, der die Entstehung von neuen Wohnkonzepten – hier bezeichnet als „urbanización descentralizada“ (dt. dezentralisierte Wohnsiedlung) – außerhalb der großen Metropolen beschreibt, in denen die Arbeitnehmer im Grünen wohnen und dennoch ihre Arbeitsplätze in der Großstadt behalten: 293. Ahora, él sube al coche cada mañana para recorrer los más de 55 kilómetros que separan una urbanización de Guadalajara, donde vive, y Barajas, su lugar de trabajo. Aunque reconoce pasar más tiempo al volante y sufrir a menudo los atascos, está seguro de haber ganado en calidad de vida. Probablemente estén de acuerdo los miles de personas que cada año abandonan las aglomeraciones urbanas para vivir en ciudades medianas o pequeñas, impulsando así un nuevo estilo de vida y experimentando nuevas formas de trabajar gracias a las nuevas tecnologías. (País, 29.01.2008, La nueva utopía es vivir lejos y mejor. El teletrabajo y la comunicación están redibujando el mapa demográfico y urbano de España)477 Durch die Technisierung, die das gelegentliche Arbeiten im Homeoffice erlaubt, wird den Arbeitnehmern ermöglicht, nicht täglich zu pendeln und damit weiter weg vom Wohnsitz zu arbeiten. Die höhere Mobilität des Arbeitnehmers wird hier mit mehr Lebensqualität verknüpft. Im zitierten Medientext selbst wird aber darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung – die auch in weiteren westlichen Ländern zu beobachten ist – ausschließlich in einer bestimmten Klasse von Arbeitnehmern vorkommt: 294. „Estos hábitos, si bien son relativamente recientes en la mayoría de los países europeos, cuentan con ya con cierta historia en la llamada service class [profesionales liberales] estadounidense y británica. Y es que, si para un médico o un abogado, 476
Vgl. Mundo, 12.10.2002, „Cibermadrid (y V)“. Bei diesem Beleg handelt es sich um einen Medientext aus dem Jahr 2002, der damit – angesichts der rasanten Entwicklung der IT-Branche – veraltet ist. Er verdeutlicht dennoch den Einfluss, den die Veränderung der Arbeitswelt und der verbreiteten Arbeitsweisen auf physische Räume hat.
477
Dt. Jetzt steigt er jeden Morgen ins Auto, um etwas mehr als 55 Kilometer zurückzulegen, die zwischen der Wohnsiedlung in Guadalajara, wo er wohnt, und Barajas, seinem Arbeitsplatz, liegen. Auch wenn er einräumt, dass er mehr Zeit hinter dem Lenkrad verbringt und häufig im Stau steht, ist er sicher, dass er an Lebensqualität dazugewonnen hat. Wahrscheinlich sind Tausende von Personen seiner Meinung, die jedes Jahr die städtischen Ballungsgebiete verlassen, um in mittelgroßen und kleinen Städten zu leben. Sie treiben so einen neuen Lebensstil voran und experimentieren mit neuen Arbeitsformen, die dank neuer Technologien möglich sind. (Titel = Die neue Utopie ist es, besser und weiter entfernt zu wohnen. Die Teleheimarbeit und die Kommunikation zeichnen die spanische Karte der Bevölkerung und der Städte neu).
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el mudarse a una ciudad más pequeña y desplazarse todos los días a su lugar de trabajo puede ser un alivio, para una señora ecuatoriana con pocos recursos puede ocurrir todo lo contrario. Porque para una persona que, por ejemplo, no puede permitirse pagar un abono de autobús, esta supuesta calidad de vida se convierte así en un problema cotidiano más.“ (ebd.)478 Zudem entstehen durch das tägliche Pendeln vieler Arbeitnehmer neue Probleme, wie der Mangel an Parkmöglichkeiten in Großstädten, da nur Einwohnern mit Parkausweis das Parken gestattet wird.479 Auf der anderen Seite findet sich auch die Entwicklung von Industrie- oder Geschäftsparks („parque de negocio“), mit denen auf einen Schlag sehr viele Arbeitsplätze außerhalb von großen Metropolen geschaffen werden.480 Diese stellen die Arbeitnehmer wiederum vor die umgekehrte Problematik, den täglichen Weg vom Wohnort, ob in der Stadt oder auf dem Land, zu dem neu entstandenen Industriepark auf sich zu nehmen. Zuletzt finden sich im Korpus Belege, die ausführen, dass und wie der ländliche Raum wieder bevölkert werden solle: 295. En unos meses la localidad madrileña de Robledo de Chavela acogerá el primer prototipo de vivienda sostenible y digital pensada para repoblar las zonas rurales. Su propietario será un periodista que vivirá en ella y además desarrollará su profesión bajo el modelo del teletrabajo. (País, 10.07.2011, Viviendas para teletrabajar)481 Auch diese Form der Neugestaltung von Raum, angetrieben durch die britische Mobilfunkgesellschaft Vodafone, richtet sich an Gruppen von Berufstätigen, die bestimmten ortsungebundenen Tätigkeiten nachgehen und die tendenziell zu einer bestimmten sozioökonomischen Schicht gehören. Bewertung des Konzeptes Die Medientexte, die sich mit dem Konzept ›movilidad laboral en el espacio‹ auseinandersetzen, weisen eine ambige Bewertungsstruktur auf: Es handelt sich um eines 478
Dt. Diese Gewohnheiten blicken bereits auf eine gewisse Tradition in der sogenannten service class [den Freiberuflern] der USA und Großbritannien zurück, wenngleich sie in der Mehrheit der europäischen Länder relativ neu sind. Und ja, für einen Arzt oder einen Anwalt kann es eine Erleichterung sein, in eine kleinere Stadt zu ziehen und jeden Tag zum Arbeitsplatz zu pendeln. Für eine Frau aus Ecuador mit wenig finanziellen Ressourcen kann es das genaue Gegenteil sein. Denn für eine Person, die sich beispielsweise die Monatskarte für den Bus nicht leisten kann, verwandelt sich die mutmaßliche Lebensqualität in ein weiteres tägliches Problem.
479
Vgl. País, 02.05.2005, „Pienso en empadronarme en Barcelona“.
480
Vgl. País, 17.07.2002, „El arquitecto Richard Rogers visita el futuro parque de negocios de Viladecans“.
481
Dt. In einigen Monaten wird die Stadt Robledo de Chavela in der Nähe von Madrid den ersten Prototyp des nachhaltigen und digitalen Neubaus erhalten, der dazu gedacht ist, die ländlichen Gebiete wieder zu bevölkern. Sein Eigentümer wird ein Journalist sein, der darin wohnen und seinen Beruf mit dem Modell der Teleheimarbeit ausüben wird.
326
5 Analyse der Korpora
der Konzepte, die stets in einem Bewertungszusammenhang stehen, der aber stark von der aktuellen Ausformulierung des Konzeptes abhängig ist. Je nachdem, um welche Formen der Mobilität es sich handelt – ob lange oder kurze Distanzen vom Wohnort zum Arbeitsplatz überbrückt werden müssen, ob es sich um eine erzwungene oder eine freiwillige Mobilität des Arbeitnehmers handelt, ob die familiären Umstände des Arbeitnehmers die Mobilität zulassen –, differiert die Bewertung. Es gibt dabei Formen der Mobilität, die grundsätzlich negativ beschrieben werden, wie die erzwungenen Formen der Mobilität, die durch den prekären Arbeitsmarkt und die Wirtschaftskrise verursacht werden. Grundsätzlich ist das Konzept allerdings von positiven Bewertungen gekennzeichnet: So wird Mobilität als etwas beschrieben, das in Spanien in der nahen und fernen Zukunft eine große Rolle spielen sollte, um die Wettbewerbsfähigkeit und die notwendige Produktivitätssteigerung des Landes voranzutreiben. Verschiedene kulturelle Faktoren werden dabei als Grund für die zu geringe Mobilität in Spanien genannt, wie die engen Familienbande, die mangelhaften Sprachkenntnisse der Arbeitnehmer und die Tendenz dazu, Wohnräume eher zu besitzen als zu mieten. Es wird ausgeführt, dass die Mobilitätssteigerung dennoch unumgänglich und in den meisten Fällen wünschenswert sei. Der Hochwert Familie müsse dabei eine Rolle spielen, jedoch sei es in seltenen Fällen notwendig, die Arbeit zu priorisieren, insbesondere wenn es nicht die Vereinbarkeit von Beruf und Kindern sei, die zur Disposition stehe. Keiner der genannten Faktoren, die der wachsenden Mobilität im Wege stehen, wird als so gewichtig beschrieben, dass Mobilität verhindert werden sollte. In den Medientexten dominiert erneut der kritische Blick auf die eigene Kultur und Mentalität. Stattdessen werden Mobilitätsentwürfe anderer europäischer Länder oder der USA als Vorbilder gesetzt.
‘Die Mobilität der spanischen Arbeitnehmer im In- und im Ausland ist gering im Vergleich zu anderen Ländern.’
‘Mobilität kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beeinträchtigen; junge Menschen sind oft nicht mobil und wohnen sehr lange bei ihren Eltern.’
‘Es können kürzere Distanzen (bspw. vom Wohn- zum Arbeitsort) zurückgelegt werden oder größere Distanzen (zwischen Firmenstandpunkten im Inund Ausland).’
‘Die geringe Mobilität zeigt sich auch in anderen Lebensabschnitten, wie bspw. während des Studiums, wo wenige Studierende ihre Region verlassen oder zum Studieren ins Ausland gehen.’
Es handelt sich um Aspekte der spanischen Kultur, die nur schwer zu verändern sind.’
- die Gewohnheit, Immobilien zu besitzen und nicht zu mieten.
- die mangelhaften Sprachkenntnisse der Arbeitnehmer.
- die engen familiären Bindungen in Spanien.
Der Hochwert Familie kann sich auch negativ auswirken. Es wird betont, dass die engen familiären Bindungen in
Die Kulturspezifik wird betont, indem dargestellt wird, dass die Verhaltensweisen nicht vom Parameter Lebensabschnitt abhängen.
Verknüpfung mit Hochwert als Problem
Im Kontext des konzeptuellen Zugriffs MOBILITÄT wird im spanischen Korpus vor allem der Mangel an Mobilität in Spanien konstatiert.
Befund
Im Korpus wird eine Metaperspektive eingenommen: Die Mobilität in Spanien wird mit der Mobilität in anderen Ländern verglichen und es wird festgestellt, dass die Mobilität in Spanien zu gering ist. Dies wird vor allem mit kulturellen Gewohnheiten begründet.
Kulturspezifik und Selbstkritik (Kritik an der eigenen Kultur und Mentalität und Veränderungswunsch)
Metadiskursive Deutung
›movilidad laboral‹ (dt. berufliche Mobilität)
‘Die Gründe dafür sind:
Beweglichkeit einer Gruppe von Berufstätigen zwischen dem Arbeitsort und dem Zuhause oder zwischen verschiedenen Arbeitsorten. Es wird zumeist über die zu geringe Mobilität der Arbeitnehmer in Spanien gesprochen. Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 42: Konzept ›movilidad laboral‹
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
327
wirtschaftliche Krise als Faktor
Die Gegebenheiten der Wirtschaftskrise wirken auf vielfältige Art und Weise.
‘Die Mobilität der Arbeitnehmer und die Wirtschaftskrise hängen zusammen.’
Die Mobilitätsformate internationaler Großunternehmen werden als Vorbilder angegeben. Mobilität beeinflusst den städtischen und ländlichen Raum.
‘Neue Mobilitätsformate werden vor allem von internationalen Großunternehmen angeboten. Einige spanische Großunternehmen ziehen nach.’
‘Die wachsende Mobilität, die bspw. das Arbeiten von zu Hause aus ermöglicht, lässt neue Wohnformate außerhalb der Großstädte entstehen.’
- da die Produktivität erhöht wird und die Wettbewerbsfähigkeit so garantiert wird.’
Stadtentwicklung
Kulturvergleich
Vorbilder im Ausland
Spanien muss in seiner Entwicklung mit anderen Ländern mithalten können.
‘Die Arbeitswelt der Zukunft wird von Mobilität geprägt sein:
- da der technische Fortschritt dies ermöglicht.
Gruppenspezifik
Mobilität als Anforderung an Arbeitnehmer wird gruppenspezifisch betrachtet.
‘Es ist zumeist die Gruppe der jungen, gebildeten, kinderlosen Arbeitnehmer, von der wachsende Mobilität gefordert wird. Auch in dieser Gruppe ist die Mobilität in Spanien zu gering.’
B. ‘Die Wirtschaftskrise verhindert die Mobilität in Spanien, da Arbeitnehmer durch den Wechsel der Arbeitsstelle Nachteile befürchten.’
A. ‘Die Wirtschaftskrise fordert eine höhere Mobilität von Arbeitnehmern, die mitunter ins Ausland gehen müssen, um Arbeit zu finden.’
negative Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Mobilität wird mit der Emanzipation der weiblichen Arbeitnehmer verknüpft: Die vermehrt eingeforderte Mobilität könne die Emanzipation verhindern.
‘Die wachsende Mobilität benachteiligt weibliche Arbeitnehmer und steht ihrer Emanzipation im Wege, da sie häufig weniger mobil sind.’
Spanien ein Hindernis für die notwendige Mobilität der Arbeitnehmer sein können.
328 5 Analyse der Korpora
Konzeptsynthese Beweglichkeit einer Gruppe von Berufstätigen zwischen dem Arbeitsort und dem Zuhause oder zwischen verschiedenen Arbeitsorten. Es wird zumeist über die zu geringe Mobilität der Arbeitnehmer in Spanien gesprochen.
Konzeptsynthese
Beweglichkeit von Berufstätigen zwischen den Polen Beruf und Alltag, zwischen Wohnort und Arbeitsort, zwischen verschiedenen Firmenstandorten im In- und Ausland, zwischen verschiedenen Abteilungen oder Aufgabenbereichen innerhalb einer Firma oder zwischen Firmen
PENDELN ZWISCHEN ARBEITSORT UND WOHNORT - Unter dem Konzept ›Mobilität‹ wird häufig das Pendeln zwischen Arbeitsort und Wohnort verstanden. Seltener wird die Mobilität zwischen verschiedenen Arbeitsorten (Firmenstandorten, verschiedenen Unternehmen oder Abteilungen) damit bezeichnet.
PENDELN ZWISCHEN ARBEITSORT UND WOHNORT - Das Konzept ›Pendeln zwischen Arbeitsort und Wohnort‹ weist große Überschneidungen mit dem Konzept ›Mobilität‹ auf und beschreibt Berufspendler, die regelmäßig, zumeist täglich, eine bestimmte Strecke mit einem Verkehrsmittel (Auto, Zug, Bus) zwischen Wohnort und Arbeitsstätte zurücklegen.
- Seltener: Mobilität kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Ehe oder Partnerschaft ermöglichen.
FAMILIE, EHE, PARTNERSCHAFT - Die eingeforderte Mobilität von Arbeitnehmern steht der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Ehe oder Partnerschaft im Wege.
PENDLER UND DIE RECHTLICHE SITUATION - Vor- und Nachteile der Pendlerpauschale und ihrer Anpassung 2007/2008 werden in den Medientexten diskutiert.
- Wochenendpendler verfügen über zwei Wohnsitze und pendeln zwischen diesen und der Arbeitsstelle hin und her.
Sprachliche Verknüpfungen
Sprachliche Verknüpfungen
Die Kernkonzepte ähneln sich. Im spanischen Korpus werden die Vorteile der steigenden Mobilität betont und zugleich die zu geringe Mobilität der spanischen Arbeitnehmer kritisiert.
›movilidad laboral‹
›Mobilität im Beruf‹
Tabelle 43: Vergleich MOBILITÄT – UNTERNEHMEN IM RAUM
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
329
GESUNDHEIT UND STRESS - Die steigende Mobilität kann die Gesundheit der Berufstätigen beeinträchtigen.
- Die Wirtschaftskrise verhindert die Mobilität in Spanien, da Arbeitnehmer Angst vor Entlassungen und sonstigen Nachteilen haben.
WIRTSCHAFTSKRISE - Die Wirtschaftskrise fordert internationale Mobilität von spanischen Arbeitnehmern.
- Junge Berufstätige wohnen oft lange bei ihren Eltern, sind wenig mobil und haben Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden.
EMANZIPATION - Mobilität kann für weibliche Arbeitnehmer besonders schwierig sein, wenn diese keinen Führerschein besitzen oder nur ein Auto pro Haushalt zur Verfügung steht.
- Mobilität ist dennoch notwendig.
FAMILIE - Die steigende Mobilität erschwert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
- Die zu geringe Mobilität zeigt sich auch in anderen Lebensabschnitten, bspw. im Studium.
- Die zu geringe Mobilität in Spanien wird auf kulturelle Faktoren zurückgeführt (enge familiäre Bindung, mangelhafte Sprachkenntnisse, Immobilienbesitz), die nur schwer zu ändern sind.
- Spanische Arbeitnehmer sind weniger mobil als die Arbeitnehmer anderer Länder.
MANGEL AN MOBILITÄT IN SPANIEN UND KULTURELLE FAKTOREN
330 5 Analyse der Korpora
- Spanien muss die Mobilität der Berufstätigen steigern, um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu gewährleisten und die Produktivität zu steigern.
- Die Nachteile werden als potentielle und durch den richtigen Umgang vermeidbare gekennzeichnet.
Die Konzepte weisen insbesondere in den konzeptuellen Verknüpfungen Unterschiede auf. Das spanische Konzept wird mit Denkmustern und Verhaltensweisen verknüpft, die in den Korpora als kulturspezifisch bewertet werden – diese metasprachliche Kennzeichnung charakterisiert den Konzeptkontext. Sowohl die Verknüpfungen als auch die sprachstrukturelle Einbettung des spanischen Konzeptes sind kulturspezifisch.
Kulturspezifik
- Keines der potentiellen Probleme wird als so gewichtig bewertet, dass es der steigenden Mobilität der zukünftigen Arbeitswelt im Wege stehen sollte.
- Die steigende Mobilität kann zu Problemen führen.
- Die Arbeitswelt der Zukunft ist durch Mobilität gekennzeichnet.
- Der steigenden Mobilität werden viele Vorteile zugeordnet.
- Das Konzept wird als zukünftige Entwicklung der Arbeitswelt konzeptualisiert, die nicht aufgehalten werden kann und sollte.
Sprachliche Bewertungen
VERÄNDERUNG VON RAUM - Durch die steigende Mobilität entstehen neue Wohnformate außerhalb von Großstädten.
Sprachliche Bewertungen
ARBEITSMIGRATION - Weniger privilegierte Gruppen von Arbeitnehmern sind von anderen Formen der Berufsmobilität betroffen und verlassen ihr industriell weniger entwickeltes Heimatland, um Geld zu verdienen oder sich einen höheren Lebensstandard zu erarbeiten.
RAUMGESTALTUNG UND STADTENTWICKLUNG - Mobile Arbeitsformen von bestimmten Gruppen beeinflussen die Stadtentwicklung, indem leerstehende Gebäude in weniger attraktiven Stadtvierteln in geteilte Arbeitsräume (Shared Spaces) verwandelt werden oder der öffentliche Raum durch eine junge Kreativszene aufgewertet wird.
5.3 Analyse des zweiten Subthemas Raum in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
331
332
5 Analyse der Korpora
5.4 Analyse des dritten Subthemas ROLLEN/GRUPPEN in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora 5.4.1 ROLLEN und GRUPPEN in der Sprachwissenschaft In einer Gruppe nimmt das Individuum eine soziale Rolle ein. Diese soziale Rolle wird bestimmt durch kulturelle und gesellschaftliche Muster, die das Individuum mit seiner sozialen Gruppe teilt: Dazu gehören unter anderem sprachliche Muster und Verhaltensmuster. Das dritte Subthema greift einen zentralen Begriff der Soziologie – den der ›Rolle‹ – auf, der in der aktuellen linguistischen Diskussion kaum Relevanz besitzt (Müller 2015, 27). Marcus Müller stellt in seinen Ausführungen die soziologischen Rollenbegriffe dar und verweist auf die einschlägigen Arbeiten von George Herbert Mead (1934/2005) und Talcott Parsons (1952), und auf Erving Goffmans berühmte Darstellung „The presentation of self in everyday life“ (1959/2008). Eine Auseinandersetzung mit dem Rollenbegriff, der zwischen Individuum und Gesellschaft vermittele, finde ansatzweise in der interaktionalen Linguistik (Schwitalla 2001) und der Textlinguistik (Adamzik 2002) statt. In der Diskursanalyse, wo eine Auseinandersetzung erwartet werden könne, da die „sprachwissenschaftliche Sicht auf Diskurse […] immer wieder doppelt perspektivierte Gegenstände hervor[bringe], an denen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu diskutieren wäre“ (Müller 2015, 27), finde sie hingegen nicht statt. Stattdessen werde auf den Begriff ‚Akteur‘ zurückgegriffen, der dieses Verhältnis systematische ausblende (ebd.).482 Das Rollenkonzept der Sozialwissenschaft knüpft an zwei Konzepte an: das Konzept der Normativität und das der Interaktionalität. Einerseits meint der Begriff der ›Rolle‹ ein konventionelles Rollenkonzept, „das die Rolle als eine normative Verhaltenserwartung begreift, die unmittelbar an soziale Positionen gebunden ist“, und andererseits ein „interaktionistisches Rollenkonzept, das das wechselseitige […] Aushandeln von Rollenentwürfen innerhalb eines gewissen Ermessensspielraumes gegenüber Norm und Erwartung betont“ (Steinig 1976, 145). Das Aushandeln von Rollenentwürfen ist an soziale Positionen innerhalb von Gruppen gebunden, weshalb an dieser Stelle kurz auf das Verhältnis der Konzepte ›Rolle‹ und ›Gruppe‹ eingegangen werden soll: Jan E. Stets und Peter J. Burke weisen darauf hin, 482
Marcus Müller kritisiert den Ausdruck „Akteur“ als zu grobkörnig, wenn er sowohl „an Diskursen sprachlich partizipierende Instanzen als auch in Diskursen thematisierte Instanzen“ (Müller 2015, 38) bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit wird der Ausdruck sowohl für am Diskurs partizipierende Instanzen als auch für im Diskurs benannte Instanzen verwendet, da beide das Kriterium der Beteiligung und der Betroffenheit miteinander teilen. Die Grenze zwischen der Nennung von Diskursakteuren und deren Partizipation ist häufig nicht eindeutig zu ziehen (bspw. im Falle von Politikern, die im Diskurs benannt und oft zitiert werden und die damit zugleich thematisierte Instanzen und sprachlich partizipierende Instanzen sind). In uneindeutigen Fällen wird spezifiziert, um welche Art von Akteur es sich im Einzelfall handelt.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
333
dass „one always and simultaneously occupies a role and belongs to a group, so that role identities and social identities are always and simultaneously relevant to, and influential on, perceptions, affect, and behavior. For this reason we cannot easily separate role from group, either analytically or empirically“ (Stets/Burke 2000, 228). In der Definition der sozialen Rolle betonen Stets und Burke, dass jede Rolle zugleich durch das Gegenüber weiterer Rollen gekennzeichnet sei, anhand derer die Aushandlung des Rollenverhaltens geschehe. An die soziale Rolle seien Rollenerwartungen geknüpft und ein Verständnis davon, wie die eigene Rolle im Vergleich zu weiteren Rollen einzuordnen sei. Mit dem Konzept der ›Gruppe‹ werde hingegen der Aspekt der Mitgliedschaft (und weniger des Verhaltens) fokussiert, es gehe damit weniger um die Relationen innerhalb der Gruppe, sondern zwischen verschiedenen Gruppen (Stets/Burke 2000, 227-228). Mit dem Konzept der ›Gruppe‹ wird in den Vordergrund gerückt, wer zu welcher Gruppe gehört und in welchen Unterschieden zwischen den Gruppen dies begründet liegt. Die Konzepte der ›Rolle‹ und der ›Gruppe‹ sind häufig nicht eindeutig zu trennen. 5.4.2 Die Analyse von ROLLEN und GRUPPEN in der vorliegenden Arbeit Die vorliegende Arbeit analysiert die Darstellung von kulturellen und gesellschaftlichen Mustern in deutschen und spanischen Medientexten. Dabei wird betrachtet, wie verschiedene Rollen im deutschen und spanischen Korpus konstituiert werden (rollenspezifische Zuschreibungen, Erwartungen im Kontext sozialer Rollen, Forderungen nach Veränderung etc.) und welche Gruppen im deutschen und im spanischen Korpus von Relevanz sind. Der Analyseschwerpunkt liegt im Folgenden auf den Unterschieden in der Darstellung der Rollen und Gruppen in den deutschen und spanischen Korpora: Über den Sprachvergleich werden beispielsweise Fremd- und Selbstzuschreibungen nachvollzogen. Diese Zuschreibungen werden über die sprachliche Etikettierung und die Beschreibung der Rolle und der Gruppe analysiert.483 Die zwei zentralen Begriffe in der Rollentheorie ›Normativität‹ und ›Interaktionalität‹ sind auch für die vorliegende Arbeit entscheidend: Das Rollenkonzept ist zwischen normativer Verhaltenserwartung, die an soziale Positionen gebunden ist, und interaktionalem Aushandeln von Rollenentwürfen anzusiedeln. Dies zeigt sich in den analysierten Korpora auf zweifache Weise. Zum einen lassen sich in den Medientexten beschriebene Aushandlungen von sozialen Rollen (bspw. berufstätige Mutter und berufstätiger Vater) nachlesen. Zum anderen findet über die Medientexte selbst eine Aushandlung statt: In den prägenden 483
Müller stellt in einer Kookkurenzanalyse der Selbst- und Fremdzuschreibungen folgende Rollenkategorien auf: Berufsrollen, akzidentelle Rollen, Identitätsrollen, anthropologische Rollen, Gruppenzugehörigkeit (Müller 2015, 40-41). In der vorliegenden Analyse werden besonders die Berufsrollen sowie weitere im Zusammenhang mit beruflichen Tätigkeiten relevante Rollen betrachtet.
334
5 Analyse der Korpora
Medien wird die sprachliche Konstituierung der Rollen dargestellt und verhandelt, wie diese Rollen aussehen können und was als gesellschaftlich etabliert gelten kann. 5.4.3 Konzeptanalyse 5.4.3.1 Konzeptueller Zugriff GENDER UND DISKRIMINIERUNG In beiden Medienkorpora – dem deutschen und dem spanischen – spielen die Kategorien Frau und Mann beim Sprechen über berufstätige Personen eine hervorgehobene Rolle. Unter dem konzeptuellen Zugriff GENDER UND DISKRIMINIERUNG werden im Folgenden das deutsche Konzept ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ und das spanische Konzept ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ (dt. Ungleichheit von Frauen und Männern und Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt) verglichen. Die Zuspitzung der Konzepte durch die Dimension der DISKRIMINIERUNG erfolgte aus zwei Gründen: Erstens lässt sich im Korpus beobachten, dass genderspezifische Rollenkonstruktion oder die Diskussion derselben fast immer von Überlegungen zu tatsächlich stattfindenden oder befürchteten Diskriminierungen begleitet wird.484 Zweitens ermöglicht die Zuspitzung der Konzepte den Fokus auf den Sprachvergleich. Im Fokus stehen nicht die detaillierten Rollenkonstruktionen der einzelnen Korpora, sondern die spezifischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten des deutschen und des spanischen Korpus, die sich exemplarisch anhand des Zugriffs GENDER UND DISKRIMINIERUNG zeigen lassen. Die Benennung der Konzepte verweist bereits auf unterschiedliche Fokusse in der Konzeptkonstituierung des Deutschen und des Spanischen und ist an die Ausdrucksmuster angelehnt, die in den Medientexten mit großer Häufigkeit verwendet werden. Im deutschen Korpus wird mit dem Ausdruck „Diskriminierung“ und mit den Lexemen rund um den Wortstamm „-gleichheit“ („Gleichheit“, „Ungleichheit“, „Chancengleichheit“ etc.) 485 auf das Konzept der ›ungleichen Behandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ verwiesen. Im spanischen Medienkorpus ist der Ausdruck „*igualdad“ sehr viel häufiger als der Ausdruck „discriminación“.486 Während man im 484
In einigen Fällen lässt sich konstatieren, dass genderspezifische Attribute erwähnt werden, um eine Person zu charakterisieren. Diese Rollenkonstruktion könnte für weitere Analysen interessant sein, spielt in der vorliegenden Arbeit, die die sprachspezifischen Unterschiede fokussiert, aber eine untergeordnete Rolle.
485
Die Ausdrücke „Diskriminierung“ und „(Un-)Gleichheit“ verweisen dabei auf unterschiedliche Referenzbereiche und Bedeutungsfacetten; beide sind jedoch im Umfeld des Konzeptes anzusiedeln und ihre Gegenüberstellung ist besonders im Vergleich mit dem spanischen Korpus sinnvoll.
486
„*gleichheit“ ist im deutschen Korpus mit 2.906 Treffern belegt („Gleichheit“, „Ungleichheit“, „Chancengleichheit“, „Entgeltungleichheit“ etc.); „Diskriminierung“ mit 1.646 Treffern. Im Vergleich dazu ist „*igualdad“ (dt. *gleichheit) im spanischen Korpus mit 9.878 Treffern nachgewiesen; „discriminación“ (auch „discriminacion“, dt. Diskriminierung) mit 2.664 Treffer.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
335
Deutschen also sowohl von der „(Un-)Gleichheit“ als auch von der „Diskriminierung“ am Arbeitsplatz spricht, wird der Ausdruck der „(Un-)Gleichheit“ im Spanischen deutlich öfter verwendet. In den folgenden Abschnitten erläutere ich, welche Unterschiede in den Bedeutungsfacetten der Konzepte damit indiziert werden. 5.4.3.1.1 Deutsches Konzept ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ Das folgende Kapitel betrachtet das Konzept ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ zwischen den zwei Parametern ‚Diskriminierung‘ und ‚Geschlechterrollen‘. Frauen und Männer werden zwischen Arbeit und Alltag in ihren geschlechterspezifischen Rollen Frau, Mutter und Vater beschrieben. Die explizite Benennung der Rollen erfolgt insbesondere dann, wenn gruppenspezifische Diskriminierungen festgestellt oder befürchtet werden. „Diskriminierung“ wird in der vorliegenden Arbeit verstanden als Benachteiligung einer Gruppe oder eines Individuums.487 Im Folgenden werden Formen der Diskriminierung gegenüber Frauen und Männern dargestellt und die rollenspezifischen Verknüpfungen benannt. In den drei Verknüpfungen I Diskriminierung von weiblichen Arbeitnehmern, II Diskriminierung von berufstätigen Müttern und III Diskriminierung von berufstätigen Vätern werden Formen der Diskriminierung beschrieben, die im Korpus genannt und mit verschiedenen Rollenprofilen verknüpft werden. Die männlichen Arbeitnehmer, die entweder keine Kinder haben oder bei denen die Kinder die Berufssphäre nicht oder kaum beeinflussen, stellen im Korpus kaum einen Diskussionsgegenstand dar, da sie als „Normalfall“ – als DefaultVorstellung – zu betrachten sind.488 Sie werden in den Medientexten fast ausschließlich als Hintergrundfolie angeführt, vor der die weiteren Rollen spezifiziert werden. Im Anschluss werden weitere Verknüpfungen beschrieben, die verdeutlichen, auf welche Art und Weise soziale Rollen und Diskriminierung verknüpft werden: So lassen sich Argumentationsmuster feststellen, die von einer unterschiedlichen Kommunikations- und Verhaltensweise von Frauen und Männern ausgehen (Rollenspezifik und Diskriminierung). Es finden sich Bezüge zur Sachverhaltsebene, indem ein konkretes Diskursereignis aufgegriffen wird (Diskriminierung, Sexismus und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sowie Diskursereignis: Sexismus-Debatte), indem Verantwortlichkeiten zugesprochen oder nicht zugesprochen werden (Diskriminierung und (fehlende) Zuschreibung von Verantwortlichkeit) und indem auf die Gesetzeslage verwiesen wird (Frauenquote und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz). 487
Von dieser allgemeinsprachlichen Bedeutung des Ausdrucks ist die fachsprachliche Bedeutung „Diskriminierung“ als Unterscheidung abzugrenzen (Duden 2015, 429). In der vorliegenden Arbeit spielt diese zweite Bedeutung eine untergeordnete Rolle.
488
Vgl. bspw. „[E]in (statistischer) Familienvater [kann] durch einen regulären Arbeitsplatz seine Frau und zwei Kinder nicht mehr ernähren“ (Welt, 10.05.2008, Wenn netto nichts bleibt).
336
5 Analyse der Korpora
Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ beschreibt Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, die an soziale Rollen gebunden werden und die anhand von Korpusbelegen nachgewiesen werden: Sowohl Frauen als auch Männer können von Formen der Diskriminierung betroffen sein, insbesondere in ihren Rollen als berufstätige Mütter und Väter. In den Textbelegen des Korpus werden verschiedene Rollenprofile konstruiert. Die Bewertung des Konzeptes stellt einen fundamentalen Bestandteil des Konzeptes dar: Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund von geschlechtlichen Merkmalen wird per se negativ bewertet. Die Bewertung des Konzeptes lässt sich nicht von den Verknüpfungen isolieren, weshalb sie in der Darstellung der Verknüpfungen bereits erwähnt wird und im abschließenden Teil „Bewertung des Konzeptes“ zusammengefasst wird. Konzeptuelle Verknüpfungen I Diskriminierung von weiblichen Arbeitnehmern Die Diskriminierungen zwischen männlichen und weiblichen Berufstätigen, die in den Medientexten genannt werden, umfassen erstens: die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz. 296. Dass in Deutschland immer noch die Männer die Karriere machen und die Frauen zu Hause bleiben oder sich in Teilzeit aufreiben, hat oft einen ganz einfachen Grund: Nach wie vor werden Frauen für vergleichbare Arbeit schlechter bezahlt als Männer. (Spiegel, 31.01.2011, Die Machtfrage) 297. Was heißt schon gleich? Nirgendwo in Europa liegt der Verdienst von Männern und Frauen so weit auseinander wie in Deutschland. Daran können auch Initiativen wie der Weltfrauentag und der „Equal Pay Day“ bislang nichts ändern. […] Der Kampf um Gleichberechtigung ist noch lange nicht gewonnen. (SZ, 05.03.2014, = Titel)489 Die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern wird in den Medientexten als Benachteiligung und Diskriminierung verstanden, die durch die bestehenden Strukturen verursacht werde und der durch verschiedene Maßnahmen entgegengewirkt werden müsse. Die Maßnahmen werden allerdings als wenig erfolgreich bewertet (vgl. SZ, 05.03.2014, Was heißt schon gleich?). Es wird einschränkend darauf hingewiesen, dass das Problem der unterschiedlichen Bezahlung mitunter nicht klar betrachtet und die Diskussion unehrlich geführt werde: 489
Vgl. auch taz, 21.02.2014, „Im Dialog gegen das Patriarchat“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
337
298. Schröder: Auch so ein Beispiel für die Unehrlichkeit der Diskussion. Gleiches Geld für gleiche Arbeit – der Grundsatz ist völlig richtig. Aber die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Da heißt es etwa, Frauen verdienen im Durchschnitt 23 Prozent weniger als Männer. Das heißt aber nicht, dass Frauen in genau der gleichen Position 23 Prozent weniger verdienen. Und ja, ich halte es für legitim, wenn ein Unternehmen einen E-Techniker besser bezahlt als eine Germanistin. Was ich aber für problematisch halte, ist, wenn ein Tierpfleger besser bezahlt wird als eine Kinderpflegerin. Da liegt nämlich das Problem: Oft werden klassisch weibliche Berufe schlechter bezahlt als klassisch männliche. Das liegt oftmals auch daran, dass klassisch männliche Berufe den Unternehmen mehr Gewinn bringen. (SZ, 29.11.2010, „Die Quote ist leistungsfremd!“ – „Sie könnten mit Leistung überzeugen“) Von der Diskursakteurin Kristina Schröder, der damaligen Familienministerin, wird in diesem Beleg auf der Metaebene darauf hingewiesen, dass die Diskussion und die Sachverhaltslage problematisch seien (vgl. Agonale Diskurspositionen, S. 354). Als zweite Form der Diskriminierung, die unmittelbar mit der geringeren Bezahlung von weiblichen Arbeitskräften verknüpft ist, wird die geringere Zahl weiblicher Führungskräfte genannt. Denn: Auf niedrigeren Posten ist auch die Bezahlung geringer. 299. Als ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zu gleicher Bezahlung sehen Wissenschaftler indes, dass es zu wenig Frauen in die Chefetagen schaffen. „In den Spitzenpositionen sitzen fast ausschließlich Männer“, hadert Elke Holst vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Und auch bei den niedrigeren Leitungsposten seien Frauen unterrepräsentiert. Als Folge würde Führungsstärke immer noch mit traditionell männlichen Werten identifiziert. (Spiegel, 11.10.2010, Das bescheidene Geschlecht) Im Korpus wird auf einen Sachverhalt (die ungleiche Verteilung von Führungsrollen zwischen den Geschlechtern) hingewiesen, der verändert werden müsse, um ein gesellschaftlich anerkanntes Ziel (die Gleichberechtigung, hier konkretisiert als gleiche Bezahlung) zu erreichen. Als grundsätzliches Problem wird benannt, dass die Sachverhaltslage (weniger Frauen in Führungspositionen) die Konzeptualisierung der Rollen (männliche Werte als Führungsstärke) präge und dass diese wiederum die Einstellungspolitik beeinflusse.490 In den Zeitungstexten wird eine wechselseitige Abhängigkeit der Sachverhaltslage und des Verständnisses der Rolle sowohl konstruiert als auch auf der Metaebene kritisiert. 490
Mitunter wird darauf verwiesen, dass die Sachverhaltslage auch die Selbstkonzeptualisierung beeinflusse: „Weiblich, schlau, unterbezahlt: Frauen bringen sich selbst um den Lohn ihrer Leistung, weil sie schon bei ihrer ersten Bewerbung zurückhaltend auftreten. Selbst mit Spitzennote fordern Studentinnen weniger als ihre schwächeren männlichen Kommilitonen.“ (Spiegel, 11.10.2010, Das bescheidene Geschlecht).
338
5 Analyse der Korpora
Der dritte Unterschied, der im Korpus genannt wird, betrifft die Zeit, die Frauen und Männer mit bezahlter und unbezahlter Arbeit verbringen: Während Männer statistisch gesehen mehr Zeit am Arbeitsplatz verbrächten, wendeten Frauen – ob berufstätig oder nicht – mehr Zeit für unbezahlte Arbeiten wie Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung auf.491 300. Wer etwas genauer hinschaut wird allerdings feststellen, dass Frauen erheblich öfter als Männer unbezahlte Tätigkeiten verrichten. Bei ihnen machen bezahlte und sozialversicherte Jobs nur ein knappes Drittel der Arbeit aus, die sie tatsächlich leisten – zwei Drittel bestehen aus Haushalt, Kinderbetreuung, Ehrenamt, Pflege von Angehörigen. Zählt man bezahlte und unbezahlte Tätigkeiten zusammen, wie das Statistische Bundesamt es tut, arbeiten Frauen in der Woche eine Stunde mehr als Männer. Die Zeit, die sie mit Abspülen und Putzen verbringen, ist zwar geschrumpft, von 33 auf knapp 30 Stunden die Woche – weil manches im Schnellverfahren erledigt oder abgegeben wird. Die unbezahlte Arbeit aber macht bei Frauen immer noch zwei Drittel ihrer Tätigkeit aus. Bei Männern ist das Verhältnis umgekehrt: zwei Drittel Arbeit gegen Geld, ein Drittel für Gotteslohn. Das klingt nicht, als habe sich an der traditionellen Rollenverteilung in Deutschland allzu viel geändert. (SZ, 27.08.2015, Die Deutschen und ihre Zeit) In den Medientexten werden die Ergebnisse der Studien mit Rollenbildern von Mann und Frau verknüpft. Die Unterschiede in der Aufgabenübernahme werden auf die traditionelle Rollenverteilung zurückgeführt. Weiterhin werden auch die Gesetzgebung und Politik in Deutschland als Gründe benannt: 301. Die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung ist weiterhin fest in der Tiefenstruktur unseres Wohlfahrtsstaats eingelassen, angefangen von den Regelungen der Steuergesetzgebung bis hin zur Sozialpolitik. (taz, 11.05.2007, Global mit Besen und Schrubber)492 Der Staat unterstütze die traditionelle Aufgabenverteilung, die bestehenden Rollenkonzeptionen und damit zugleich die Diskriminierungen, die durch das bestehende System gefördert würden. Als Gründe für die fortwährende Diskriminierung werden im Korpus also systemische Gründe angegeben. Im deutschen Korpus fallen somit drei Unterschiede auf, die, so die Aussage der Medientexte, zwischen weiblichen und männlichen Berufstätigen bestehen:
491
Bei den Belegen, die dies formulieren, handelt es sich vor allem um Belege der Jahre 2003 und 2015, die sich auf die damaligen Erhebungen des statistischen Bundesamtes beziehen. Vgl. bspw. Welt, 03.12.2003, „Mehr Zeit für Familie und Hobbys“, SZ, 27.08.2015, „Die Deutschen und ihre Zeit“.
492
Vgl. auch taz, 24.01.2015, „Frauen wollen keine Raketen steuern“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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a. Frauen werden schlechter bezahlt als Männer (allgemein, in den gleichen Positionen, in niedrigeren Positionen und in Berufen, die ihnen gesellschaftlich zugeschrieben werden, die sie selbst wählen und die schlechter bezahlt sind). b. Frauen haben seltener Führungspositionen inne. c. Frauen leisten mehr unbezahlte Arbeit als Männer, auch wenn sie berufstätig sind. Alle drei Aspekte werden mit Rollenzuschreibungen verknüpft, indem davon ausgegangen wird, dass sich die bestehenden Verhältnisse, in denen Frauen benachteiligt und unterrepräsentiert sind, auf die Rollenkonzeption auswirken. Diese Konzeption führt wiederum dazu, dass die bestehenden Gegebenheiten nur schwer verändert werden können. Alle drei Aspekte werden als Benachteiligung der weiblichen Berufstätigen konzeptualisiert: Diese wird als gesellschaftlich verankerte und systemisch bedingte Form der Diskriminierung betrachtet.
Abb. 13: Taschengeld als Gender Pay Gap493
493
Facebook-Abbildung mit Beschriftung: „Laut der Kinder Medien Studie 2017 beginnt der sog. Gender Pay Gap bereits im Alter von vier Jahren. Mehr über die Ergebnisse der Studie hier: http://bit.ly/2ikE4Su.“ (https://www.facebook.com/UNWomenDeutschland/photos/a.317296394948997.88100.197033803641924/ 1860236773988277/?type=3&theater letzter Zugriff 29.01.2018 15:06 Uhr).
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II Diskriminierung von berufstätigen Müttern Im Korpus wird besonders häufig konstatiert, dass Mütter im Kontext des Arbeitsmarktes diskriminiert werden. Die häufigsten Formen der Diskriminierung sind, so die Aussage der Medientexte, die Nichteinstellung und die Nichtbeförderung sowie die erschwerte Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Mutterschaftspause: 302. Trotz der „bedeutenden Fortschritte“, die es in den vergangenen Jahrzehnten gegeben habe, und trotz der vielen Gesetzesänderungen zugunsten der Gleichberechtigung von Mann und Frau am Arbeitsplatz gebe es immer noch große Herausforderungen: So würden Frauen weiter in der Schwangerschaft oder als Mütter diskriminiert – oder einfach weil sie schwanger werden könnten. Die Fälle von Kündigungen wegen Schwangerschaft oder der Nichtauszahlung von Gehaltsleistungen vor oder nach der Geburt hätten zugenommen. Schwangerschaften würden auch besonders häufig als Grund für die Nichtbeförderung von Frauen genannt. Viele Frauen klagen zudem, dass der Arbeitgeber sie nach der Mutterschaftspause nicht an den alten Arbeitsplatz zurückkehren lässt. (Welt, 16.05.2011, Mehr Diskriminierungen im Job während der Krise) 303. Von der Leyen: Die Probleme fangen an, wenn das erste Kind kommt. Der Lohnunterschied zwischen Frauen ohne Kinder und mit Kindern ist größer als der zwischen Frauen und Männern. Wir haben in Deutschland so viele Frauen in Führungspositionen wie im europäischen Durchschnitt. Das ist nicht berühmt, aber es ist so. Doch wir sind Schlusslicht bei Frauen, die Chefs sind und Kinder haben, die jünger als fünf Jahre alt sind. (Spiegel, 06.04.2009, „Sorry, liebe Männer“) In den zitierten Belegen wird betont, dass Frauen unabhängig von ihrem tatsächlichen Vorhaben, Kinder zu bekommen, als potentielle Risikogruppe betrachtet werden: Die Diskriminierung von weiblichen Berufstätigen wird an den Faktor Nachwuchs gebunden. Die damalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, beschreibt in Beleg 303 die bestehende Situation. Auf die Nachfrage, ob Firmen beweisen sollten, dass sie nicht diskriminieren, antwortet sie, dass „[w]ir […] ein Antidiskriminierungsgesetz“ haben und dies darum nicht notwendig sei (ebd.). In den Medientexten werden also konkrete Formen der Diskriminierung benannt, wie die Kündigung von schwangeren Arbeitnehmerinnen oder die Nichtbeförderung von Frauen, die schwanger werden könnten, häufig werden die konkreten Formen der Diskriminierung jedoch nicht an Akteure gebunden, denen Verantwortung zugesprochen wird, sondern es wird stattdessen allgemein formuliert, dass eine Benachteiligung von Frauen stattfindet. Die Artikel des deutschen Korpus vergleichen die Situation von Frauen und Müttern am Arbeitsplatz in Deutschland mit den Verhältnissen in anderen Ländern. Meist werden die Verhältnisse in anderen europäischen Ländern als Vorbild angeführt:
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304. Die krippenverwöhnten Dänen etwa haben vor allem bei Kinderzahl und Müttererwerbsquote den Deutschen einiges voraus. Während die deutsche Geburtenziffer auf 1,3 Kinder pro Frau gesunken ist, liegt sie in Dänemark bei 1,8. Das Fünf Millionen-Volk gehört damit zu den vermehrungsfreudigsten in der EU. Gleichzeitig sind in Dänemark die meisten Mütter berufstätig. Nach der Geburt bleiben die Frauen selten länger als ein Jahr ihrem Arbeitsplatz fern. Die Erwerbsquote von Müttern, deren jüngstes Kind unter drei ist, liegt bei über 70 Prozent. (Spiegel, 25.02.2008, Glaubenskrieg ums Kind)494 305. Französinnen arbeiten in der Regel Vollzeit, sie machen nicht selten Karrieren wie Männer, sie denken meist nicht darüber nach, ob sie überhaupt Kinder haben wollen, sondern wie viele Kinder sie bekommen möchten. Französische Politikerinnen tragen übrigens auch ziemlich häufig Röcke. Vinken, 51, glaubt, dass die Frauen in Deutschland durch kulturelle Prägungen behindert werden. […] „Wie auch immer die Frauen es für sich lösen“, sagt Vinken, „Weiblichkeit in Deutschland ist ein Mangel eingeschrieben.“ (Spiegel, 31.01.2001, Die Machtfrage)495 Beleg 305 ist in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen wird das Frauenbild explizit an die deutsche (respektive die französische) Kultur gebunden, was im deutschen Korpus ansonsten selten geschieht. Es wird angenommen, dass die schwierige Rolle der Frau mit einem kulturspezifischen Frauenbild zu tun hat, dass die Rolle der beruflich erfolgreichen Mütter nicht vorsieht. Zum anderen wird die Rolle der Akteurin Barbara Vinken über Attribuierungen ausformuliert: 306. An einem klammfeuchten Januar-Tag trägt Barbara Vinken in ihrem Büro an der Uni helle Netzstrümpfe, Lack-Pumps und einen knappen, eleganten Rock. Die Kunstzeitschrift „Monopol“ nennt sie die „glamouröseste Professorin Deutschlands“. Barbara Vinken, Mutter eines Sohnes, sieht überhaupt nicht so aus, wie man sich eine „deutsche Mutter“ vorstellt, und sie sieht auch nicht annähernd so aus, wie sich deutsche Karriere-Coachs eine Frau in einem Männerberuf vorstellen. (ebd.)
494
In ähnlicher Art und Weise wird auch auf Schweden hingewiesen. Bspw. im Artikel Spiegel, 06.04.2009, „Sorry, liebe Männer“.
495
Seltener verweisen die Zeitungsartikel auf Situationen in anderen Ländern, in denen extremere Formen der Diskriminierung von Frauen an der Tagesordnung sind. Vgl. bspw. SZ, 05.03.2014, „Was heißt schon gleich?“: In diesem Beleg wird darauf hingewiesen, dass Initiativen wie der „Equal Pay Day“ angesichts der weltweiten Diskriminierung von Frauen unbedingt notwendig sind. Die Diskriminierung reiche von der Verweigerung des Schulbesuchs von Mädchen in einigen Ländern bis hin zur noch immer andauernden ungleichen Bezahlung von Männern und Frauen in westlichen Ländern. Auf die verheerende rechtliche Situation von Frauen weisen auch diese Artikel hin: Welt, 16.10.2010, „Ein Türöffner zum Glück“ und taz, 28.11.2009, „Ich brauche die Freiheit der Stadt“.
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5 Analyse der Korpora
Die Kleidung und das Auftreten der erfolgreichen Professorin und Mutter wird beschrieben und es wird hervorgehoben, dass es sich um Attribute handelt, die im deutschen Kontext nicht rollentypisch sind. Insbesondere die prototypische Vorstellung der ‚Mutter‘ wird kritisiert. Im Kontext der Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz werden in vielen Fällen keine Gründe für die Nichtbeförderung oder die geringere Bezahlung benannt. Der Faktor ‚Nachwuchs‘ stellt dabei eine Ausnahme dar: Während in den zuvor zitierten Belegen (Verknüpfung I Diskriminierung von weiblichen Arbeitnehmern) zumeist offengelassen wurde, aus welchen Gründen eine Diskriminierung stattfindet, und stattdessen bestehende gesellschaftliche Strukturen als Erklärungsmoment angeführt wurden, wird in den zuletzt zitierten Belegen darauf hingewiesen, dass Frauen in ihrer (potentiellen) Rolle als Mutter diskriminiert werden. Der weiblichen Berufstätigen steht die zweite Rolle der Mutter zur Verfügung, und die Tatsache, dass ihr diese Rolle grundsätzlich zur Verfügung steht, wird in den Medientexten als Grund genannt, warum Mütter am Arbeitsplatz diskriminiert werden. Reflexion: Rollenkonstruktion zwischen Muttersein, Karriere und Diskriminierung am Beispiel der sprachlichen Etikettierung mit dem Ausdruck „Rabenmutter“ Die Bezeichnung „Rabenmutter*“ (inklusive des Plurals „Rabenmütter*“) findet sich im deutschen Korpus 201 Mal. Sie hat allgemein die abwertende Bedeutung „lieblose, hartherzige Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt“ (Duden 2015, 1413). Im Untersuchungskorpus wird das Konzept zugespitzt auf die Bedeutung ›Mutter, die ihren mütterlichen Pflichten nicht nachkommt, weil sie einer beruflichen Tätigkeit nachgeht‹. Es handelt sich um die sprachliche Etikettierung einer Rolle, die einer Gruppe von Personen zugesprochen wird. In Einzelfällen wird der Terminus noch immer in dieser Funktion verwendet: 307. Jene, vorwiegend Männer, die die Wahl der promovierten Theologin zu verhindern suchten, stöhnten auf: Viel zu jung sei sie, hieß es, obendrein eine Frau, mehr noch, Mutter von vier Töchtern. Eine Rabenmutter als Bischöfin?, unkte man öffentlich. (taz, 01.11.2003, Die nette Musterschülerin)496 Sehr viel häufiger findet sich der Ausdruck nicht als eigentliche Bezeichnung einer Gruppe, sondern als „Metavokabel“, anhand derer diskutiert wird, ob das Konzept der ›Rabenmutter‹ in der deutschen Gesellschaft noch immer relevant ist. Im Korpus finden sich diesbezüglich zwei unterschiedliche Positionen: Der Ausdruck sei längst veraltet und die sogenannte „Rabenmutterdiskussion“ beendet, so die eine Seite. Berufstätige und insbesondere karriereorientierte Frauen müssten immer noch fürchten, als Rabenmütter bezeichnet zu werden, so die andere Seite. 496
Die Bezeichnung bezieht sich im zitierten Beleg auf Margot Käßmann, die zu diesem Zeitpunkt das Amt der Landesbischöfin der hannoverschen Landeskirche innehatte und für die Wahl zur Ratsvorsitzenden
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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308. „Rabenmütter“ sterben aus: Berufstätige Mütter, die ihre Kinder in die Obhut einer Kinderkrippe geben, müssen nicht befürchten, dafür von der Gesellschaft als „Rabenmutter“ gescholten zu werden. 88 Prozent der Deutschen halten diesen Begriff für nicht angebracht. Frauen lehnen diesen Begriff sogar zu 90 Prozent ab. (Welt, 10.09.2007, „Rabenmütter“ sterben aus, „Rabenväter“ gibt es viele) 309. Ich glaube, dass wir in Deutschland, was das angeht, merkwürdig aufgestellt sind. In Frankreich ist es gesellschaftlich gut angesehen, wenn eine Frau nach der Geburt ihres Kindes nach einem halben Jahr wieder arbeiten geht. In Deutschland ist sie dann noch immer eine Rabenmutter. Auch wenn eine Frau Akademikerin ist und einen sehr guten Job hat. Da wird gesagt: Dann hätte sie das Kind eben nicht auf die Welt bringen dürfen. [= Interviewantwort S. Richter, Anm. MM] Bekommen deshalb so viele deutsche Akademikerinnen keine Kinder? [= Interviewfrage SZ, Anm. MM] Vielleicht. Natürlich muss man sich um Kinder kümmern und sie erziehen. Aber ich habe das Gefühl, dass wir hier in Deutschland eine viel zu große Nummer machen: Wenn man als Mutter sein Kind nicht in zwei Schwimmkurse, einen Musikkurs und einen Englischkurs schickt, wenn es fünf Jahre alt ist, dann hat man sich ja nicht genügend gekümmert. [= Interviewantwort S. Richter, Anm. MM] (SZ, 05.08.2006, Sigrun Richter über Karriere) Beleg 309 verdeutlicht, dass es sich um eine Debatte handelt, die sich auf eine bestimmte Gruppe von gebildeten, karriereorientierten Müttern und Familien bezieht. Das Konzept der ›Rabenmutter‹ wird häufig als spezifisch deutsches Konzept bezeichnet, das in anderen Ländern weder eine sprachliche Übersetzung noch eine konzeptuelle Entsprechung habe.497 „Rabenmütter“ gebe es in Frankreich nicht, „weder als Muster gesellschaftlicher Vorverurteilung noch als Vokabel“ (Spiegel, 05.01.2004, Rabenmütter gibt es nicht). Ebenso sei es in Italien und Spanien (SZ, 17.06.2011, Frauen und der Arbeitsmarkt). Stattdessen handele es sich bei der patriarchalen Vorstellung, dass Mütter ganz und gar für ihre Kinder da sein müssten, um ein „faschistisches Mutterbild“. Der Muttermythos habe sich tief in das deutsche Bewusstsein eingegraben, so formuliert es die Soziologie-Professorin Sigrid Metz-Goeckel, und der Ausdruck „Rabenmutter“, den es nur in Deutschland gebe, sei ein Symbol für dieses kulturelle Phänomen (taz, 11.01.2005, „Unser Mutterbild ist noch faschistisch“).498
der Evangelischen Kirche Deutschlands kandidierte. Vgl. auch SZ, 02.10.2010, „Jutta Allmendinger über Arbeit“. 497
Vgl. auch Jacob/Mattfeld 2016, die das das Konzept ›Rabenmutter‹ in einer deutsch-englischen Mediendiskursanalyse zum Betreuungsgeld betrachten.
498
Vgl. auch Welt, 31.08.2010, „Was heißt schon Rabenmutter?“.
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5 Analyse der Korpora
Die aufgeführten Belege beschreiben das Konzept auf der Metaebene und stellen fest, dass es sich um ein veraltetes Konzept handelt. Die Komposita „Rabenmutterdiskussion“, „Rabenmutter-Diskurs“ oder „Rabenmutter-Mythos“ zeigen ebenfalls, dass der Ausdruck nicht mehr unmittelbar angewandt wird, sondern dass die Debatte als solche wahrgenommen wird: Gegenstand der Debatte ist nicht mehr, ob eine berufstätige Frau eine „Rabenmutter“ ist, sondern ob sie – aufgrund von etablierten, immer noch wirkenden gesellschaftlichen Vorstellungen – als solche wahrgenommen wird oder fürchtet, als solche wahrgenommen zu werden. Denn obwohl die Medientexte und die befragten Akteure die Bezeichnung selbst als „veraltet“, „überholt“ und „böswillig“ bewerten, nehmen diese auch an, dass das Konzept noch immer reale Konsequenzen habe, wie beispielsweise, dass es berufstätige Frauen davon abhalte, Kinder zu bekommen (ebd.).
Abb. 14: Rollenverteilung und Rechtfertigung499 499
Die Darstellung spitzt die Bewertung der Frauenrolle satirisch zu und ist nicht Teil des Untersuchungskorpus der vorliegenden Arbeit. Sie unterscheidet sich stark von den untersuchten Zitaten, lässt sich
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Im deutschen Korpus finden sich weitere sprachliche Etikettierungen, die verdeutlichen, dass Rollenkonzepte von Frauen von Bedeutung sind: Als weniger bildhaftes Äquivalent zu „Rabenmutter“ findet sich der Ausdruck „Karrieremutter“ (14 Belege), der als Kompositum inhärent darauf aufmerksam macht, dass berufstätige Mütter zwei Rollen miteinander vereinbaren müssen, die traditionell zwischen den Geschlechtern aufgeteilt wurden. Der Bezeichnung „Rabenmutter“ werden die Ausdrücke „Heimchen am Herd“ (taz, 25.01.2005, CDU setzt auf Einigkeit und Gottes Segen) oder „Nur-Hausfrau“ (Spiegel, 31.01.2011, Die Machtfrage) gegenübergestellt, die die Rolle der Frau auf den Haushalt beschränken und abwerten. Der Ausdruck „Nur-Hausfrau“ impliziert bereits in der Ausdrucksform, dass etwas fehle und dass es sich also um eine defizitäre Rolle handle. Eine weitere sprachliche Etikettierung, die die Gruppe der berufstätigen Frauen betrifft, ist der Ausdruck der „Quotenfrau“ (vgl. S. 352). III Diskriminierung von berufstätigen Vätern Der Ausdruck „Karrierevater“, der das männliche Äquivalent zum Ausdruck „Karrieremutter“ darstellt, findet sich ein einziges Mal im deutschen Korpus. Als Kompositum aus „Karriere“ und „Vater“ überschreibt der Ausdruck einen Artikel, der sich damit beschäftigt, dass berufstätige Väter zwei Sphären miteinander in Einklang bringen müssen. 310. Dem neuen Selbstverständnis müssen sich zähneknirschend auch die Arbeitgeber stellen, die sich doch gerade erst daran gewöhnt hatten, besser auf die Belange ihrer weiblichen Mitarbeiter einzugehen. Plötzlich sind es die männlichen Angestellten, die von ihren Personalverantwortlichen neue Arbeitszeitmodelle einfordern und monatelange Auszeiten nehmen, die ganze Nachmittage in Kalendern blocken, weil sie die Kinder aus der Kita abholen müssen, oder wichtigen Meetings fernbleiben, weil ein Laternenumzug oder Schulfest ansteht. „Männer werden für Unternehmen damit genauso unberechenbar wie Frauen – und das ist auch gut so“, sagt Volker Baisch, der Unternehmen berät, wie sie väterfreundlicher werden können. (Spiegel, 30.12.2013, Die Karriereväter) Berufstätige Väter, so die Aussage in den Medientexten, fordern vermehrt Zeit für die Familie, beispielsweise Teilzeit, Elternzeitmonate oder flexible Arbeitszeiten, und sehen sich damit denselben Schwierigkeiten ausgesetzt wie Mütter, die versuchen, Kinder und Karriere zu vereinbaren. Auf der anderen Seite finden sich Belege, die beschreiben, dass sich die traditionelle Rollenverteilung trotz des vermehrten Wunsches nach mehr Zeit für die Familie kaum ändere und sowohl im Haushalt als auch bei der Kinderbetreuung weiterbestehe: diesen aber thematisch zuordnen und verdeutlicht den problematischen Aushandlungsprozess der Frauenrolle prägnant. Vgl. https://www.facebook.com/diezeit/photos/a.129402053796680.23733.1148038485898 34/1625969487473255/?type=3&theater letzter Zugriff 29.01.2018 14:53 Uhr.
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5 Analyse der Korpora
311. Jeder dritte Vater wünscht sich laut Studie mehr Zeit für Unternehmungen mit seinen Kindern, jeder zweite würde gern kürzer am Schreibtisch sitzen oder im Labor. […] Von einer paritätischen Verteilung von Berufs- und Familienzeit aber sind die Deutschen laut Studie weit entfernt. „Mütter verbringen mit Kindern etwa doppelt so viel Zeit wie Väter“, sagte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler. Väter nähmen sich heute zwar mehr Zeit für ihre Kinder als 2001. Allerding handle es sich im Schnitt um zehn Minuten pro Woche. (SZ, 27.08.2015, Die Deutschen und ihre Zeit. Berufstätige Frauen bügeln mehr, sie kaufen häufiger ein und putzen öfter. Männer sind länger im Büro) Den Schwierigkeiten, vor denen berufstätige Väter stehen, die mehr Zeit für ihre Familie möchten, sehen sich berufstätige Mütter schon länger ausgesetzt: Moderne Väter würden dabei am Arbeitsplatz ebenso diskriminiert wie Mütter. Berufstätigen Müttern droht die Gefahr dabei von zwei Seiten: Von Unternehmensseite wird befürchtet, dass Frauen als Mütter am Arbeitsplatz ausfallen; auf der anderen Seite besteht noch immer der sogenannte „Rabenmutter-Verdacht“, die Befürchtung also, dass sie ihren Mutterpflichten nicht ausreichend nachkommen. Berufstätige Väter sehen sich eher dem Problem ausgesetzt, dass ihre Wünsche nach mehr Zeit für die Familie im Unternehmen nicht gut aufgenommen werden.500 Eine mögliche Gefahr, dass berufstätige Väter ihren Vaterpflichten nicht nachkommen, oder die Sorge, dass dies gesellschaftlich so wahrgenommen werden könnte, wird in diesem Kontext nicht erwähnt. Rollenspezifik und Diskriminierung: Verhalten und Kommunikation von Frauen und Männern Im Korpus finden sich immer wieder Belege, in denen Verhaltensweisen von Frauen und Männern am Arbeitsplatz als rollentypisch beschrieben werden. 312. Kathrin stöhnt über einem Stapel Papier. „Es wird nicht einfach, den Zeitplan für das Projekt einzuhalten.“ Thomas reagiert genervt: „Wieso das denn?“ „Ich habe zuviel zu tun.“ „Dann müssen Sie wohl Ihre Prioritäten anders setzen.“ Kathrin: „Das meine ich nicht.“ Männer und Frauen ticken unterschiedlich, wie schon diese kleine Situation zeigt. […] Während sich Kathrin nämlich nur Luft machen, einfach nur zeigen wollte: Hey, ich fühle mich momentan überlastet und gestresst, sieht Thomas in dieser Konversation in erster Linie das Problem. Er hat auch gleich einen gut gemeinten Rat parat – obwohl ihn niemand darum gebeten hat. Kathrin wiederum fühlt sich von dem forschen Vorschlag des Kollegen persönlich angegriffen: Der denkt, ich kann das nicht. […] Inzwischen haben Wirtschaft und Arbeitswelt die für typisch weiblich befundenen Eigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Intuition längst zu 500
Vgl. taz, 26.10.2006, „Traumberuf Vater“.
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erwünschten Schlüsselqualifikationen erklärt. (Welt, 24.05.2008, Typisch Mann, typisch Frau!) Die zitierte einleitende Narration nimmt ein „Diplompsychologe und Persönlichkeitscoach“ – der mit dieser sprachlichen Etikettierung als Experte ausgewiesen wird – als Ausgangspunkt, um das Verhalten von weiblichen und männlichen Kollegen zu interpretieren. In den Medientexten wird dargestellt, dass die üblicherweise als weiblich konzeptualisierten Kommunikations- und Handlungsformate in den Führungsetagen traditionell nicht üblich sind: 313. Als Folge würde Führungsstärke immer noch mit traditionell männlichen Werten identifiziert. „Rational ist gut, emotional ist schlecht, hart ist gut, weich ist schlecht“, so skizziert Holst das Koordinatensystem. (Spiegel, 11.10.2010, Das bescheidene Geschlecht)501 An diese oder ähnliche Feststellungen schließen sich zwei unterschiedliche Handlungsvorschläge an: Zum einen wird Frauen geraten, ihre Kommunikationsund Handlungsmuster zu verändern und an diejenigen der Männer anzupassen. Zum anderen finden sich Vorschläge, wie Frauen ihre eigenen Handlungsformate beibehalten können und auf höhere Posten kommen, „ohne dass sie männliche Strategien und Ellenbogen einsetzen“ (Welt, 24.05.2008, Typisch Mann, typisch Frau!). Gelegentlich wird auf Einzelfälle verwiesen, in denen weibliche Protagonisten mit individuellen Strategien auf Chefpositionen gelangen konnten,502 oder andererseits angeführt, dass die Unternehmen von mehr weiblichen Führungskräften profitieren könnten.503 Die Texte des Korpus, die rollenspezifische Zuschreibungen konstruieren,504 benennen zumeist, dass sich ausgehend von der konstatierten Rollenspezifik Diskriminierungen am Arbeitsplatz feststellen lassen. Oder anders ausgedrückt: Es finden sich im deutschen Medienkorpus kaum Texte, die rollenspezifisches Verhalten thematisieren, ohne dass sie dabei das Phänomen der Diskriminierung benennen, die sich ausgehend davon 501
Vgl. auch Welt, 07.01.2005, „Frauen sind Gefangene des Mutterbildes“.
502
So wird unter anderem auf die Strategie des „Auflaufen-lassens“ von Angela Merkel verwiesen (Welt, 24.05.2008, Typisch Mann, typisch Frau!).
503
Vgl. bspw. die Belege: „Das sind keine Wohltaten für bislang Unterdrückte. Mehr weibliche Arbeitskräfte kommen den Bilanzen zugute. Das amerikanische Frauenforschungsinstitut Catalyst hat nachgewiesen, dass jene Firmen, in denen besonders viele Frauen einen Sitz im Vorstand haben, eine bis zu 53 Prozent höhere Eigenkapitalrendite erzielen.“ (Spiegel, 31.01.2001, Die Machtfrage) oder auch: „Nur wenn die Stellung von Frauen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gestärkt wird, lassen sich die Probleme der Menschheit in den Griff bekommen. Beim UN-Gipfel an diesem Wochenende gibt es eine Chance dafür“ (SZ, 26.09.2015, Endlich Chefsache).
504
Die Medientexte, die rollenspezifisches Verhalten unterstellen (bspw. Welt, 07.01.2005, „Frauen sind Gefangene des Mutterbildes“), sind zu unterscheiden von den Texten, die rollenspezifische Zuschreibungen auf der Metaebene wiedergeben (Beleg 315). Die Abgrenzung der Ebene, über die in den Texten geurteilt wird, ließe vielversprechende rollentheoretische Überlegungen zu, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht unternommen werden können.
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5 Analyse der Korpora
entwickeln kann. In fast allen Belegen wird eine Metaperspektive eingenommen: Dabei wird in einem ersten Schritt darüber diskutiert, ob es zulässig sein kann, rollenspezifische Verhaltensweisen zu unterstellen. In einem zweiten Schritt wird kritisiert, dass die Zuschreibung rollenspezifischen Verhaltens zu Diskriminierungen führe: 314. Ich tue mich mit der gesamten Literatur schwer, die Aussagen über weibliches Führungsverhalten trifft. Die methodischen Grundlagen dieser Literatur sind sehr dünn. Ich kann doch die wenigen Frauen, die in Führungspositionen sind, nicht gleichsetzen mit allen Frauen, die gegebenenfalls in solche Positionen kommen könnten. Ich habe also hohe Selektivitätsprobleme und vergleiche sehr wenige Frauen mit sehr vielen – und damit sehr unterschiedlichen – Männern. (SZ, 02.10.2010, Jutta Allmendinger über Arbeit) 315. Schröder: Er sollte es auf jeden Fall nicht sein. Wenn sämtliche Unterschiede zwischen Mann und Frau tatsächlich nur ein soziales Konstrukt oder anerzogen wären, könnten wir mit der Frauenpolitik erst aufhören, wenn es 50 Prozent E-Technikerinnen, Lokführerinnen und Ingenieurinnen gäbe. Ortgies: Das ist doch Unsinn. Es ist genau umgekehrt. Wenn man argumentiert wie Sie, dann könnte man mit dem Kampf um echte Gleichberechtigung sofort aufhören. Wer biologische Unterschiede als gottgegeben annimmt, der muss nichts mehr tun, weil ja gar nichts mehr dagegen getan werden kann. Sie unterstellen bei Frauen ein anderes Bindungsverhalten, ein anderes Aggressionsverhalten, wahrscheinlich noch: mehr Muttergene. Dann bleibt die Frau am Ende doch lieber wieder zu Hause. Schröder: Das ist reine Polemik. Ich sage: Natürlich hat die Erziehung einen großen Einfluss auf Verhalten und Entwicklung. Aber viele Frauen, die eine gute Ausbildung sowie gute Job-Perspektiven haben, entscheiden sich bei der Geburt des ersten Kindes doch dafür, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Wollen Sie denen vorhalten, sie hätten die falsche Entscheidung getroffen? Sagen Sie diesen Frauen, du willst gar nicht bei deinem Kind bleiben, das sind nur Rollenerwartungen der Gesellschaft? (SZ, 29.11.2010, „Die Quote ist leistungsfremd!“ – „Sie könnten mit Leistung überzeugen“) In Beleg 314 weist die Diskursakteurin Jutta Allmendinger darauf hin, dass die empirischen Grundlagen nicht ausreichend dafür sind, rollenspezifisches Verhalten von Frauen und Männern in Führungspositionen festzustellen. In Beleg 315 diskutieren die Diskursakteurinnen Kristina Schröder (damalige Familienministerin) und Lisa Ortgies (Journalistin und TV-Moderatorin) darüber, ob rollenspezifische Verhaltensmuster biologisch bedingt sind oder gesellschaftlich anerzogen. Vor allem aber steht die Frage im Mittelpunkt, zu welchen Formen der Diskriminierung die Unterstellung spezifischer geschlechterspezifischer Verhaltensweisen führen kann.
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Diskriminierung, Sexismus und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Im Kontext des Konzeptes ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ wird im Zeitungskorpus auf konkrete Formen sexueller Belästigung oder sexueller Gewalt gegenüber Frauen505 am Arbeitsplatz verwiesen: 316. In einer repräsentativen Untersuchung des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2010 haben fast 60 Prozent der befragten Frauen angegeben, dass sie schon einmal Situationen sexueller Belästigung erlebt haben – in der Öffentlichkeit, bei der Arbeit oder „im sozialen Nahraum“. […] Für 22 Prozent der Befragten war die Arbeits- oder Ausbildungsstätte Tatort, sie konnten also nicht einfach verschwinden. Manche waren regelrecht traumatisiert und hatten panische Angst davor, ins Büro zu gehen. „Tatsächlich ist in den meisten Fällen ein großes Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern zu beobachten“, heißt es in der Studie, „besonders oft werden Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt.“ (SZ, 26.01.2013, Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz)506 Die bestehenden Hierarchien am Arbeitsplatz und das Machtgefälle zwischen Frauen und Männern seien hierbei von Bedeutung. Im Korpus stehen sich dabei insbesondere zwei Diskurspositionen gegenüber: Auf der einen Seite wird angeführt, dass Frauen – und seltener Männer507 – ihre Verhaltensweisen anpassen sollten; auf der anderen Seite wird Widerwille geäußert, die eigene Verhaltensweise aufgrund von Rollenerwartungen zu verändern. 317. „[…] Übrigens“, so sagt sie, und mustert ihre beiden Besucherinnen, die Kleid und Rock tragen, „Hosenanzüge sind besser.“ Warum eigentlich? „Weniger Fleisch heißt weniger Angriffsfläche.“ Es beginnt ein Ringen. Wir sehen das alles nicht ganz ein. Anders werden? Es geht doch um Authentizität, sonst wird es künstlich, und das – langsam werden wir ärgerlich – ist doch die eigentliche Zumutung für Frauen: Zuerst werden sie kaum hineingelassen in die Arbeitswelt, und dann dürfen sie nur mitspielen, wenn sie agieren wie ein Mann? „Nein“, sagt Marion Knaths, „Sie müssen kein Mann werden. Aber Sie müssen die Regeln akzeptieren, die in Ihrem Unternehmen herrschen. Sie müssen da mitmachen, sonst werden Sie scheitern.“ (Spiegel, 31.01.2011, Die Machtfrage) 505
Die Schilderung von Sexismus gegenüber Männern findet sich nur vereinzelt in den Medientexten. Wenn dieser Erwähnung findet, geschieht dies im Kontext von Sexismus gegenüber Frauen: „Ja, es gibt Sexismus gegenüber Männern. Er ist nur nicht eingebunden in eine Gesellschaft, in der Frauen dominieren und diese Dominanz mit Sexismus markieren. Meist sind sie schlicht nicht in der Position dafür. Sind sie es doch, gehört auch ihr Sexismus geahndet. Ein Grund mehr, Diskriminierungen wahr- und ernst zu nehmen.“ (taz, 26.02.2013, Flirt ist Flirt).
506
Vgl. auch Welt, 16.05.2011, „Mehr Diskriminierungen im Job während der Krise“.
507
Vgl. bspw.: „in Vorstands- oder anderen Leitungsrunden müssen sich Männer erst darauf einstellen, dass man mit Frauen am Tisch manche Wortmeldung und etwaige Abendprogramme anders gestalten sollte.“ (SZ, 26.01.2013, Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz).
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5 Analyse der Korpora
Diskriminierung und (fehlende) Zuschreibung von Verantwortlichkeit In den bislang zitierten Belegen fällt auf, dass geschildert wird, dass Diskriminierung stattfindet, wie diese stattfindet und wie dieser entgegengewirkt werden könnte. Die Medientexte sprechen jedoch nur in Ausnahmefällen davon, wer diskriminiert, weitaus häufiger erfolgt keine Benennung des Akteurs.508 Stattdessen finden sich in den Texten die folgenden Versprachlichungsstrategien: - Passivkonstruktionen, in denen der Akteur benannt werden könnte Bsp.: „Frauen werden schlechter bezahlt“ (taz, 21.02.2014, Im Dialog gegen das Patriarchat) - Sachverhaltsbeschreibungen ohne Benennung der Akteure Bsp.: „Nirgendwo in Europa liegt der Verdienst von Männern und Frauen so weit auseinander wie in Deutschland.“ (SZ, 05.03.2014, Was heißt schon gleich?) Bsp.: „Wir haben in Deutschland so viele Frauen in Führungspositionen wie im europäischen Durchschnitt.“ (Spiegel, 06.04.2009, „Sorry, liebe Männer“) - „Deutschland“ als Akteur Bsp.: „dieses Land [Deutschland] muss nicht nur Arbeitskräfte aus dem Ausland importieren, sondern auch verstärkt jene fördern, die bislang vernachlässigt wurden. Frauen also.“ (Spiegel, 31.01.2011, Die Machtfrage) - Generische Gruppenbezeichnungen, besonders Männer und Frauen Bsp.: „Liebe Männer und männerähnliche Wesen im taz-Kosmos, wann habt ihr zum letzten Mal im angeregten Gespräch den Busen einer Bekanntschaft kommentiert?“ (taz, 26.02.2013, Flirt ist Flirt) Die fehlende Zuschreibung von Verantwortlichkeit wird auch im Korpus selbst thematisiert, zum Beispiel in folgendem Beleg: 318. Es gibt diese Momente montags vormittags. Man sitzt auf der gepolsterten Bank am Fenster und schaut die Herren am Mitteltisch an und denkt: schöne Anzüge. Sitzen tadellos. Bei den meisten. Aber warum nur Herrenanzüge? Warum nur Männer? Der Blick geht von einem zum anderen, es gibt niemanden, den man als Schuldigen ausmachen könnte. Niemand kann wirklich sagen, woran es liegt, und trotzdem ist es ungerecht, ärgerlich und demütigend. 32 zu 2. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Im Grundgesetz steht etwas anderes, seit 508
In einigen Belegen wird als verantwortliche Instanz der Arbeitgeber angeführt („Viele Frauen klagen zudem, dass der Arbeitgeber sie nach der Mutterschaftspause nicht an den alten Arbeitsplatz zurückkehren lässt.“, Welt, 16.05.2011, Mehr Diskriminierungen im Job während der Krise). Eine Ausnahme stellen auch Diskursereignisse wie der Fall Rainer Brüderles dar, in dem der FDP-Politiker als verantwortlicher Akteur benannt wird (vgl. bspw. taz, 26.02.2013, Flirt ist Flirt: „Die Debatte um Rainer Brüderle hat gezeigt, dass die Mehrheit der Deutschen nicht halb so emanzipiert ist, wie wir dachten.“).
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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62 Jahren steht es da, Artikel 3: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. (Spiegel, 31.01.2011, Die Machtfrage) Diskursereignis: Sexismus-Debatte Während viele der zitierten Belege keine diskriminierenden Akteure oder Instanzen benennen, fällt im Fall der Sexismus-Debatte der Fokus auf den FDP-Politiker Rainer Brüderle auf. Das konkrete Diskursereignis führt dazu, dass dem Diskursakteur Brüderle Verantwortung zugesprochen wird. Die Analyse des Ausdrucks „Sexismus“ im Korpus ergibt, dass der Ausdruck für verschiedene Sachverhalte verwendet wird (bspw. Sexismus am Arbeitsplatz, aber auch Sexismus in Kinofilmen, SZ, 25.09.2014, Männerphantasien). Das Kompositum „Sexismus-Debatte“ (auch: „Sexismusdebatte“) referiert in den Medientexten hingegen ausschließlich auf ein Anfang 2013 ausgelöstes Diskursereignis: „Die Sexismusdebatte um Rainer Brüderle“ (taz, 29.01.2013, Es wird anders). In dieser Zeit erhob die SternJournalistin Laura Himmelreich den Vorwurf des Sexismus gegen den FDP-Politiker Rainer Brüderle, der zu Beginn des Jahres 2012 den nie dementierten Satz „Sie könnten ein Dirndl auch ausfüllen“ an sie richtete. Mit diesem Vorwurf wurde eine bundesweite Debatte ausgelöst, die unter anderem unter dem Hashtag #aufschrei bei Twitter geführt wurde.509 Sowohl das Kompositum „Sexismus-Debatte“ als auch das Hashtag #aufschrei verweisen im Korpus auf die Debatte, das Diskursereignis und den Diskursakteur Brüderle.510 Diskriminierung und Gesetze Im Kontext der Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz wird auf die Gesetzeslage verwiesen. Damit wird die Sachverhaltsebene in den Vordergrund gerückt. Es finden sich 78 Verweise auf das sogenannte „Antidiskriminierungsgesetz“ (eigentlich „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“, 57 Belege)511, das 2006 verabschiedet wurde, um die Benachteiligungen aufgrund von Alter, Religion, ethnischer Herkunft, Behinderung, sexueller Identität und Geschlecht im Alltag und insbesondere am Arbeitsplatz zu verhindern. Es ergänzt damit Paragraph 3 des Grundgesetzes um die 509
In der anschließenden Debatte wurde nicht nur diskutiert, wie sich Sexismus äußert und wie dieser vermieden werden kann, sondern auch, welche Auswirkungen der Vorwurf des Sexismus hat und wie sich dieser im Wahljahr 2013 auf den Politiker Brüderle und seine Partei auswirkt.
510
Vgl. bspw. taz, 02.12.2013, „Nur formal das Gleiche“ und Welt, 02.01.2014, „Meine zehn Twitterdates“.
511
Auf das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ wird im Korpus häufiger mit dem Ausdruck „Antidiskriminierungsgesetz“ verwiesen, weshalb dieser in den Konzepttabellen übernommen wird. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass beide Bezeichnungen unterschiedliche Bedeutungsaspekte in den Vordergrund rücken: Während das „Antidiskriminierungsgesetz“ etwas verhindern soll, rückt das „Allgemeine Gleichstellungsgesetz“ in den Vordergrund, dass ein Zustand – der der allgemeinen Gleichstellung – hergestellt werden soll.
352
5 Analyse der Korpora
Aspekte des Alters und der sexuellen Orientierung (Welt, 18.08.2006, Redseliger Gesetzgeber). Bei der Analyse der Belege fällt auf, dass häufig zwischen politischer Ebene und Umsetzung unterschieden wird. Die Diskriminierung am Arbeitsplatz werde durch die Gesetzeslage geregelt (auch bereits vor 2006 durch das Grundgesetz) – die Umsetzung sei jedoch mangelhaft: 319. Ein reines Gewissen glaubte man auch zu haben; schließlich ist die Gleichstellung in Deutschland längst umfänglich geregelt. Kaum eine Behörde kommt ohne Gleichstellungsbeauftragte aus. Die öffentliche Verwaltung ist gehalten, bis zu einer bestimmten Quote gleichqualifizierte Frauen bei Einstellung und Beförderung den Männern vorzuziehen. Laut Paragraf 611a des Bürgerlichen Gesetzbuches dürfen Frauen am Arbeitsplatz nicht benachteiligt werden. Laut Bundesjustizministerium ein selten genutzter Paragraf. (Spiegel, 15.05.2006, „Übelriechender Handkäse“) 320. 77 Prozent der Befragten finden, dass Frauen am Arbeitsplatz unterrepräsentiert sind. Die Umfrage zeigt zudem, dass das Gros der EU-Bürger gar nicht weiß, dass es Antidiskriminierungsgesetze gibt und beispielsweise die Diskriminierung bei der Stellenbesetzung verboten ist. (Welt, 31.01.2007, Familienministerin will neues Bild des Alters entwickeln)512 Agonale Diskurspositionen: Frauenquote und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz soll Benachteiligungen aufgrund von verschiedenen Faktoren – unter anderem aufgrund des Geschlechtes – sowohl im Privatleben wie auch im Arbeitsleben verhindern. Die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz gehört zu den zentralen Belangen des Gesetzes, weshalb die Forderung nach einer Frauenquote in Unternehmen und insbesondere in Führungspositionen häufig mit dem Gesetz verknüpft wird: 321. Schröder: […] Frauen, die für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden, können außerdem nach dem Antidiskriminierungsgesetz klagen. (SZ, 29.11.2010, „Die Quote ist leistungsfremd!“ – „Sie könnten mit Leistung überzeugen“) 322. Zur Frage der Gleichstellung der Geschlechter sagte er [Franz Müntefering, Anm. MM]: „Wir müssen endlich erreichen, dass wir nicht nur auf Parteitagen über Quoten reden, sondern dass die Chancen von Männern und Frauen im realen Leben gleich sind.“ Die Schaffung einer Gleichbehandlungsstelle sei unverzichtbar. (taz, 17.05.2004, Münte will Gerechtigkeit. SPD-Chef kündigt ein Gesetz gegen Diskriminierung an. Schaffung einer Gleichbehandlungsstelle unverzichtbar) 512
Vgl. auch SZ, 29.11.2010, „‚Die Quote ist leistungsfremd!‘ – ‚Sie könnten mit Leistung überzeugen‘“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
353
Die Frauenquote in Unternehmen wird im Korpus als Mittel diskutiert, das die Gleichstellung von Männern und Frauen in Unternehmen herstelle und das damit erfülle, was das Allgemeine Gleichstellungsgesetz verspreche, aber nicht halte. Im Kontext der Quote weiblicher Arbeitnehmer finden sich immer wieder Verweise auf andere Länder, insbesondere auf Vorbilder im europäischen Kontext: 323. Aber wie? Vorbild ist das Musterland Norwegen, wo schon 2003 eine 40-Prozent-Marke für die Aufsichtsräte aller börsennotierten Unternehmen per Gesetz beschlossen wurde, die bis 2008 erfüllt sein müsste. Und siehe da, das Land existiert noch. […] Genau wie in Frankreich gibt es auch in Spanien eine Quote von 40 Prozent für Aufsichtsratsgremien, die bis 2015 erfüllt sein soll. Und in den Niederlanden ist ein Gesetz in Vorbereitung, das eine 30-Prozent-Quote für Aufsichtsräte und Vorstände vorsieht. Außerdem macht inzwischen auch die EU-Kommission Druck und droht mit einer gesetzlichen Quote, falls bis Ende 2011 nichts geschehe. (Spiegel, 31.01.2011, Die Machtfrage) Bei der Frauenquote handelt es sich um eine umstrittene Maßnahme. Der folgende Beleg verdeutlicht zwei Diskurspositionen, die sich agonal gegenüberstehen: 324. Schröder: Die Quote ist nicht das Allheilmittel, auch wenn das viele behaupten. Die Frauenquote doktert nämlich nur an den Symptomen herum und heilt nicht die Ursachen. Außerdem benötigen wir dieses Mittel heute nicht mehr – die Unternehmen haben längst erkannt, dass sie Frauen an der Spitze brauchen. […] SZ: Sie sind doch selbst eine Quotenfrau. Als die Kanzlerin eine Nachfolgerin für Ursula von der Leyen suchte, musste es eine Frau aus Hessen sein. Die doppelte Quote sozusagen. Schröder: Sehen Sie, da haben Sie es: Quote ist ein Schmähbegriff! Und das genau stört mich, weil Menschen damit abqualifiziert werden sollen. Ortgies: Aber Sie könnten doch trotzdem durch Leistung überzeugen. Frauen machen sich darüber Sorgen, ob sie als Quotenfrau bezeichnet werden, Männern ist das egal, und die sind ja nun wirklich auch nicht alle über Qualifikation in ihren Job gekommen. Im Übrigen: Quote bedeutet, dass eine Frau bei gleicher (!) Qualifikation vorgezogen wird. (SZ, 29.11.2010, „Die Quote ist leistungsfremd!“ – „Sie könnten mit Leistung überzeugen“) Die Diskursakteurinnen Kristina Schröder (damalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) und Lisa Ortgies (Journalistin, TV-Moderatorin) nennen Argumente für und gegen die Quote. Die Argumente betreffen dabei nicht nur die Sachverhaltsebene, sondern auch die sprachliche Ebene: So wird der Ausdruck
354
5 Analyse der Korpora
„Frauenquote“ kritisiert, weil er Menschen abqualifiziere (Quote als „Schmähbegriff“).513 In dem Zeitungsartikel fällt auf, dass den Diskursakteurinnen Schröder und Ortgies von Beginn an Rollen zugeschrieben werden. Die Moderatorin Ortgies wird im ersten Absatz als „bekennende Feministin“ und ehemaliges Redaktionsmitglied der Zeitschrift Emma vorgestellt. Die damalige Familienministerin Schröder wird hingegen als Feminismus-Kritikerin inszeniert und von der SZ als „Quotenfrau“ bezeichnet. Im Artikel selbst wird von den Akteurinnen wiederum auf bestehende Rollenerwartungen und deren Wirkungsweise verwiesen. Schröder: Das ist reine Polemik. Ich sage: Natürlich hat die Erziehung einen großen Einfluss auf Verhalten und Entwicklung. Aber viele Frauen, die eine gute Ausbildung sowie gute Job-Perspektiven haben, entscheiden sich bei der Geburt des ersten Kindes doch dafür, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Wollen Sie denen vorhalten, sie hätten die falsche Entscheidung getroffen? Sagen Sie diesen Frauen, du willst gar nicht bei deinem Kind bleiben, das sind nur Rollenerwartungen der Gesellschaft?
Ortgies: Das ist doch Unsinn. Es ist genau umgekehrt. Wenn man argumentiert wie Sie, dann könnte man mit dem Kampf um echte Gleichberechtigung sofort aufhören. Wer biologische Unterschiede als gottgegeben annimmt, der muss nichts mehr tun, weil ja gar nichts mehr dagegen getan werden kann. Sie unterstellen bei Frauen ein anderes Bindungsverhalten, ein anderes Aggressionsverhalten, wahrscheinlich noch: mehr Muttergene. Dann bleibt die Frau am Ende doch lieber wieder zu Hause.
Schröder: Wir dürfen jetzt aber auch nicht so tun, als würden alle Frauen eine Führungsposition anstreben. Viele Frauen wollen sich das unter den heutigen Bedingungen auch nicht antun – 70 Stunden pro Woche arbeiten und keine Zeit mehr für die Familie.
Ortgies: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Die Frauen scheitern an den Strukturen, wollen aber gleichzeitig darauf Einfluss nehmen, sie haben die Ambitionen und den Ehrgeiz, aber die Strukturen sind gegen sie.
(SZ, 29.11.2010, „Die Quote ist leistungsfremd!“ – „Sie könnten mit Leistung überzeugen“) Tabelle 44: Agonale Diskurspositionen: Frauenquote
513
Interessant ist des Weiteren der Ausdruck der „gläsernen Decke“, auf den Ortgies verweist: Er referiert darauf, dass Frauen seltener als Männer in Führungspositionen zu finden sind, und suggeriert, dass Frauen nicht befördert werden, weil Männer, die Führungspositionen besetzen, bei der Beförderung Männer bevorzugen (vgl. Duden. Deutschland. Alles, was man wissen muss 2015).
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
355
Besonders umstritten ist dabei, ob Frauen aufgrund ihrer eigenen Vorlieben zu Hause bleiben möchten oder ob bestehende gesellschaftliche Strukturen diese Wahl mehr oder weniger beeinflussen. Die Diskursakteurinnen nehmen dabei eine Metaperspektive ein, indem sie die Rollenerwartungen bewusst zum Gegenstand der Diskussion machen. Bewertung des Konzeptes Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Diskriminierung von sozialen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt – oder in Bereichen des Privatlebens, die mit der Berufstätigkeit direkt oder indirekt zusammenhängen – als Problem bewertet wird: Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie von Vätern und Müttern wird durch Artikel 3 des Grundgesetzes festgeschrieben; die ungleiche Behandlung von Mann und Frau ist damit als Verstoß gegen das Grundgesetz einzuordnen. Auch weitere Gesetze, wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, verbieten die Benachteiligung von sozialen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt. Auf politischer und gesetzlicher Ebene – und damit der Sachverhaltsebene – scheint die Bewertung des Konzeptes also vorgegeben zu sein: Die ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ muss als rechtswidrig bewertet werden. Auch in den Zeitungstexten wird das Konzept grundsätzlich negativ bewertet. Die ungleiche Behandlung und vor allem Bezahlung von Männern und Frauen wird als zu verändernde, also negative Tatsache konzeptualisiert. Es finden sich Argumente (bspw. die Wahl schlechter bezahlter Berufe von Frauen), die die negative Bewertung nivellieren, indem sie den Benachteiligten eine Teilschuld an der Situation zuschreiben. Die Diskussion kreist um die Frage, inwiefern Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen und inwiefern diese Unterschiede gesellschaftlich anerzogen bzw. biologisch bedingt sind. Die Diskursakteure und Medientexte beantworten diese Frage unterschiedlich – von der Antwort hängt wiederum die Bewertung des Konzeptes ab: Wird die ungleiche Behandlung als gesellschaftlich und strukturell bedingt eingeordnet, wird sie als deutlich ungerechter bewertet. In diesem Fall schließen sich häufig Forderungen an, die Situation zu verändern. Die Forderungen nach der Veränderung der Situation weisen auf einen zweiten Argumentationsstrang hin, der die Nivellierung des Konzeptes bewirkt: die Zuordnung des Konzeptes ›Diskriminierung‹ zu verantwortlichen Akteuren und Institutionen. Im deutschen Korpus finden sich kaum Zuschreibungen von Verantwortlichkeiten. Stattdessen werden Versprachlichungsstrategien gewählt, die die Nennung von Verantwortlichen vermeiden. Damit wird das Konzept auf eine abstrakte Ebene gehoben und die Lösung als solche problematisiert. Die Veränderung einer Situation gestaltet sich schwieriger, wenn keine Schuld zugeschrieben werden kann. In wenigen Fällen, beispielsweise dann, wenn schwerwiegende Diskriminierungen in Form von
356
5 Analyse der Korpora
sexueller Belästigung thematisiert werden, werden verantwortliche Akteure benannt (vgl. Diskursereignis: Sexismus-Debatte). Wird die Debatte auch hier auf eine abstrakte, gesellschaftliche Ebene gehoben, verkompliziert sich das Problem, die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten wird schwieriger und die Bewertung des Konzeptes fällt wiederum neutraler aus. Zuletzt ist auf einen Argumentationsstrang hinzuweisen, in dem das Problem der Diskriminierung anerkannt wird, in dem aber davon ausgegangen wird, dass die Veränderung der Sachlage schwierig ist, da bereits Gesetze bestehen, die die Diskriminierung von sozialen Gruppen als verfassungswidrig einordnen. In diesem Kontext wird auf die Lücke zwischen gesetzlicher Regelung und Umsetzung der Gesetze hingewiesen. Auch in dieser Argumentation wird die Bewertung des Konzeptes ›Diskriminierung‹ nivelliert, da die Situation als komplexer, systemisch bedingt und damit als schwieriger bewert- und veränderbar gekennzeichnet wird.
Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz wird als bestehender Sachverhalt beschrieben, der verändert werden muss, um das gesellschaftlich anerkannte Ziel und Hochwertkonzept ›Gleichberechtigung‹ zu erreichen.
‘Männer und Frauen werden im beruflichen Kontext nicht gleich behandelt.’
- liegen in den staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen (bspw. im Steuersystem).’
- sind in den traditionellen Rollenverständnissen zu suchen.
‘Die Gründe für das bestehende Ungleichgewicht und die fortbestehende Diskriminierung
c. Frauen verbringen mehr Zeit mit unbezahlten Tätigkeiten.’
b. Frauen haben seltener Führungspositionen inne.
a. Frauen werden im Vergleich zu Männern schlechter bezahlt (allgemein, in den gleichen Positionen, in niedrigeren Positionen und in Berufen, die ihnen gesellschaftlich zugeschrieben werden, die sie selbst wählen und die schlechter bezahlt sind).
Die Diskriminierung wird als gesellschaftlich verankerte und systemisch bedingte Form der Diskriminierung betrachtet.
Für die bestehenden Diskriminierungen werden verschiedene Gründe angegeben. Die bestehende Situation (Sachverhaltsebene) und die Konzeptualisierung der Rollen beeinflussen sich wechselseitig. Die traditionellen Rollen konzepte erschweren die Veränderung der Sachverhaltsebene.
Im Korpus wird beschrieben, dass verschiedene Formen der Diskriminierung und der Ungleichheit von Männern und Frauen existieren. Diese werden als gegeben benannt: Verantwortlichkeiten werden nicht zugeschrieben. Stattdessen werden Versprachlichungsstrategien gewählt, die die Nennung von Verantwortlichen vermeiden.
Metadiskursive Deutung
Befund
‘I. Frauen sind von Formen der Diskriminierung betroffen/Frauen werden diskriminiert:
Frauen, Mütter und Väter sind am Arbeitsplatz und im Kontext des Arbeitsmarktes von Diskriminierungen betroffen. Die Diskriminierung wird in verschiedene Narrationen eingebettet und in diesen als mehr oder weniger gravierend bewertet.
›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹
(kultur- und) systembedingte Erklärung
Agonalität
Sachverhalt und Konzept sind voneinander abhängig
Versprachlichungsstrategien
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
Zustandsbeschreibung
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 45: Konzept ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
357
‘Berufstätige Väter fordern das Entgegenkommen von Arbeitgebern und stoßen damit auf dieselben Schwierigkeiten wie Mütter. Arbeitgeber gehen kaum auf die Forderungen zur Vereinbarkeit ein.’
‘Väter sind am Arbeitsplatz von Formen der Diskriminierung betroffen.’
B. ‘Im Deutschland stehen Mütter noch immer unter dem Druck, eine gute Mutter zu sein, insbesondere wenn sie berufstätig sind.’
Im Korpus wird die Befürchtung geäußert, dass Väter ihre Arbeit vernachlässigen. Die Befürchtung, dass berufstätige Väter ihre Kinder vernachlässigen (vgl. „Rabenmutter“), findet sich nicht.
Männer werden über ihre soziale Rolle Vater wahrgenommen, wenn sich die Rolle auf das berufliche Leben auswirkt.
Die Diskurspositionen widersprechen sich: Gegenstand der Debatte ist nicht mehr, ob eine berufstätige Frau eine „Rabenmutter“ ist, sondern ob sie – aufgrund von etablierten, immer noch wirkenden gesellschaftlichen Vorstellungen – als solche wahrgenommen wird oder fürchten muss, als solche wahrgenommen zu werden.
A. ‘Frauen müssen nicht mehr fürchten, als „Rabenmutter“ bezeichnet zu werden. Das Konzept gibt es nicht mehr.’
≠
Um den Ausdruck „Rabenmutter“ findet eine Debatte auf der Metaebene statt: Im Korpus finden sich kaum Belege der Bezeichnung ohne eine distanzierende Kennzeichnung oder einen expliziten Kommentar.
Es wird auf andere Länder verwiesen, die als Vorbilder dienen können.
Die Texte spezifizieren, dass Frauen insbesondere aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden sozialen Rolle Mutter diskriminiert werden. Diese Rolle wird als potentiell drohende Gefahr wahrgenommen, auch wenn die Frau keine Kinder hat.
‘Frauen werden als „Rabenmütter“ bezeichnet, wenn sie Kinder haben und dennoch beruflich tätig sind, insbesondere dann, wenn sie erfolgreich sind und befürchtet wird, dass sie sich aufgrund ihres Berufs nicht mehr um die Kinder kümmern können.’
Exkurs: Ausdruck „Rabenmutter“
‘In anderen europäischen Ländern ist es üblicher, dass Mütter berufstätig sind. Das Frauenbild ist ein anderes und sie werden besser unterstützt.’
- Frauen können nach der Mutterschaftspause nicht immer an den Arbeitsplatz zurückkehren.’
- Frauen werden deshalb seltener befördert.
- Frauen werden deshalb seltener eingestellt.
‘Frauen werden stark in ihrer Rolle als Mutter oder als Person, die Mutter sein könnte, wahrgenommen, unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder möchten.
‘Mütter sind am Arbeitsplatz von Formen der Diskriminierung betroffen.’
soziale Rolle Vater nicht dominant in der gesellschaftlichen Wahrnehmung
Wahrnehmungsebene vs. Sachverhaltsebene
Agonalität
Metaebene
sprachliche Etikettierung einer sozialen Rolle durch eine despektierliche Bezeichnung
Kulturvergleich
soziale Rolle Mutter
358 5 Analyse der Korpora
Im Korpus werden unterschiedliche Handlungsanweisungen gegeben.
A. ‘Frauen müssen ihr Verhalten, ihre Kommunikationsweise und ihr Auftreten anpassen, um sich in der männlich dominierten Unternehmenswelt durchzusetzen.’
Das Kompositum „Sexismus-Debatte“ wird in den Medientexten fast ausschließlich dazu verwendet, um auf die durch den „Fall Brüderle“ ausgelöste Debatte zum Sexismus zu referieren, die vor allem bei Twitter unter dem #aufschrei geführt wurde. In diesem Fall wird ein Verantwortlicher des Sexismus beschuldigt.
‘Der „Fall Brüderle“ löst Anfang 2013 eine Debatte zum Sexismus in Deutschland und speziell in der deutschen Arbeitswelt aus.’
‘Frauen sollten authentisch auftreten und sich nicht verstellen.’
≠
Das Aussehen von berufstätigen Frauen spielt eine große Rolle und kann zur Projektionsfläche von Sexismus werden. Es ist umstritten, ob die Verhaltensweisen angepasst werden sollten.
‘Frauen sollten ihr Auftreten am Arbeitsplatz anpassen, um Sexismus zu vermeiden und um Führungspositionen zu erreichen.’
‘Frauen können Opfer von Sexismus und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz werden. Die Formen reichen von Kommentaren zu Kleidung, Figur oder Auftreten bis hin zu sexuellen Übergriffen.’
B. ‘Frauen sollten ihre Verhaltensweisen nicht anpassen, weil diese in der männlich dominierten Unternehmenswelt Stärken darstellen können. Unternehmen können von mehr weiblichen Führungskräften profitieren.’
≠
Die Begründungen der Unterschiede zwischen Frauen und Männern differieren.
B. ‘Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind biologisch bedingt.’
≠
A. ‘Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind gesellschaftlich konstruiert.’
Metaebene
Diskursereignis
Agonalität
Aussehen
Agonalität
Verhalten
Kommunikation
Agonalität
Metaebene
Zuschreibung
‘Frauen und Männer verhalten sich rollenspezifisch. Die Verhaltens- und Kommunikationsweisen von Männern werden als Führungsqualitäten wahrgenommen.’
Frauen und Männern werden spezifische Eigenschaften zugeschrieben. Auf der Metaebene wird thematisiert, dass diese Zuschreibungen zu Diskriminierungen führen.
Metaebene
‘Obwohl sich Väter mehr Zeit für die Familie wünschen, ändert sich an der traditionellen Rollenverteilung kaum etwas.’
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
359
- ‘Frauen entscheiden sich häufig selbst dafür, zu Hause zu bleiben.’
- ‘Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt wird sich von selbst regulieren.’
- ‘Die Bezeichnung „Frauenquote“ ist ein Schmähbegriff.’
- ‘Die Frauenquote orientiert sich nicht an Leistung, sondern am Geschlecht.’
- ‘Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz regelt die Gleichberechtigung von Mann und Frau bereits gesetzlich.’
‘Eine Frauenquote in Unternehmen und in der Politik ist nicht notwendig.’
≠
- ‘In anderen europäischen Ländern, bspw. Norwegen, konnten über eine Frauenquote bereits große Erfolge erzielt werden.’
- ‘Die Frauenquote führt zu mehr Gleichberechtigung, da Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt werden und so gegen die gesellschaftlichen Strukturen vorgegangen wird, die dazu führen, dass Frauen benachteiligt sind.’
‘Eine Frauenquote in Unternehmen und in der Politik ist notwendig.’
Die Umsetzung des Antidiskriminierungsgesetzes und die Einforderung der festgeschriebenen Rechte ist schwierig und findet oft nicht statt.’
≠
‘Diskriminierung am Arbeitsplatz ist durch die Gesetzeslage geregelt.
Die Diskursakteure kritisieren die Bezeichnung auf der Metaebene.
Im Korpus werden agonale Positionen vertreten. Die Akteure äußern Argumente für und gegen die Frauenquote: Umstritten ist dabei, ob eine Quote notwendig ist oder nicht, und ob die Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt zwischen Frauen und Männern auf biologische Anlagen zurückzuführen sind oder von gesellschaftlich hervorgebrachten Strukturen abhängen.
Im Korpus wird darauf hingewiesen, dass zwischen der gesetzlichen Regelung auf der theoretischen Ebene und der praktischen Umsetzung unterschieden werden muss.
Metaebene
Ringen um Diskurshoheit
Agonalität
Agonalität
Theorie und Praxis
360 5 Analyse der Korpora
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
361
5.4.3.1.2 Spanisches Konzept ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ (dt. Ungleichheit von Frauen und Männern und Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt) Untersucht man das spanische Korpus unter dem konzeptuellen Zugriff GENDER und DISKRIMINIERUNG fällt besonders die Diskriminierung von Frauen auf. Im Korpus finden sich die Ausdrücke „desigualdad (de mujeres y hombres)“ (dt. Ungleichheit von Frauen und Männern) und „discriminación“ (dt. Diskriminierung), wobei der erstgenannte Ausdruck sehr viel häufiger als der zweite ist. Mit beiden Ausdrücken wird fast ausschließlich auf die Benachteiligung von berufstätigen und nicht berufstätigen Frauen und Müttern hingewiesen. Die Diskriminierung von berufstätigen Männern spielt, wie auch im deutschen Korpus, kaum eine Rolle. Auffällig ist, dass im spanischen Korpus auch die Diskriminierung von berufstätigen Vätern nicht thematisiert wird. Sprachliche Konstituierung Das Konzept ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ bezeichnet Formen der Diskriminierung gegenüber Frauen auf dem spanischen Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen des Lebens, die die soziale Rolle der Frau prägen: So wird in den Medientexten auf die Diskriminierung der Frauen im Privatleben, insbesondere im Haushalt verwiesen, die auch ihre Rolle im Arbeitskontext beeinflusst. In den Verknüpfungen zeigt sich, dass sich die soziale Rolle der Frau in Abhängigkeit von der Rolle des Mannes und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen konstituiert. Die Diskriminierung von Frauen steht im spanischen Korpus im Kontext des Dachkonzeptes der gesellschaftlichen Ungleichheit von Mann und Frau (vgl. Abb. 16, S. 381). Konzeptuelle Verknüpfungen Benachteiligung von Frauen im Arbeitskontext Unter dem Konzept der Ungleichheit und Diskriminierung ist im spanischen Korpus vor allem die Benachteiligung von Frauen zu fassen. Wie im deutschen Korpus wird darauf verwiesen, dass Frauen in Spanien, aber beispielsweise auch in der Europäischen Union, schlechter bezahlt werden als Männer: 325. España está entre los países que presentan una mayor brecha salarial entre hombres y mujeres en la UE, donde las trabajadoras perciben de media un 15% menos que los hombres y necesitan trabajar 53 días más al año para ganar lo mismo (Mundo, 27.02.2011, Cuando la mujer llega y manda)514 515 514
Dt. Spanien ist unter den Ländern, die eine der größten Gehaltslücken zwischen Männern und Frauen in der EU aufweisen, wo weibliche Erwerbstätige im Schnitt 15% weniger verdienen als Männer und im Jahr 53 Tage mehr arbeiten müssen, um dasselbe zu verdienen.
362
5 Analyse der Korpora
Den Medientexten des deutschen und spanischen Korpus ist gemein, dass der Gehaltsunterschied, der zwischen Frauen und Männern besteht, als Diskriminierung beschrieben wird. Im spanischen Korpus fällt jedoch unmittelbar auf, dass die Gehaltsunterschiede unter dem Dachterminus der „desigualdad“ in einen größeren Kontext gestellt werden und mit weiteren Themen wie dem schlechteren Zugang von Frauen zu höheren Posten in Firmen, zu Bildung und zu politischer Macht verknüpft werden. 326. El índice sobre la desigualdad entre mujeres y hombres en 58 países elaborado por el Foro Económico Mundial deja a España en un vergonzoso puesto 27. Y de no ser por los buenos resultados en salud de las mujeres españolas (5 lugar), este país habría quedado aún más bajo en este ranking, pues cae en materia de remuneración laboral (45), o de acceso a puestos de trabajo cualificados (34), o a la educación (35), o en poder político (27). […] Es una brecha que se puede y se debe cerrar cuanto antes en una sociedad que se pretende modernizada. (País, 17.05.2005, La brecha de los sexos)516 517 515
Verschiedene Formen der Diskriminierung werden in einem Kontext genannt (vgl. Benachteiligung von Frauen im Beruf und weitere Formen der Diskriminierung) und diese werden unter dem Ausdruck der „desigualdad“ zusammengefasst. Diese Verknüpfung scheint gesellschaftsspezifisch zu sein und auf ein kulturell etabliertes Denkmuster zu verweisen (vgl. Zwischenfazit zu diesem Kapitel, S. 379). I. Benachteiligung von Frauen im Arbeitskontext und im Privatleben: Die Rolle der Frau im Haushalt, die Veränderung der Rolle und die Flexibilisierung der Arbeitszeit als Lösung In vielen Artikeln, in denen die Benachteiligung von Frauen im Beruf zur Sprache kommt, wird im unmittelbaren Kotext auf die Benachteiligung im Privatleben hingewiesen. Häufiger als im deutschen Korpus wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Integration der Frauen in die Arbeitswelt auch daran scheitert, dass sie an die klassische Rolle der Hausfrau gebunden sind, die die häuslichen Pflichten und die Kinderbetreuung übernimmt: 327. Hay tres factores que obstaculizan la incorporación de la mujer española a un mercado laboral igualitario, y que tienen que ver con rémoras jurídicas, 515
Vgl. auch País, 08.05.2003, „El empleo femenino creció 10 puntos desde 1990, pero el salario es un 31% inferior [en trabajos similares, Anm. MM] al de los hombres“.
516
Dt. Die Studie des Weltwirtschaftsforums zur Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, die in 58 Ländern durchgeführt wurde, lässt Spanien auf einem beschämenden 27. Platz zurück. Und wären da nicht die guten Ergebnisse im Bereich der Gesundheit spanischer Frauen (Platz 5), wäre dieses Land noch weiter unten in dem Ranking gelandet, da es im Bereich der Arbeitslöhne (45), oder des Zugangs zu höheren Arbeitsposten (34), zu Bildung (35) und politischer Macht (27) abstürzt. […] Das ist eine Lücke, die in einer Gesellschaft, die beansprucht, modernisiert zu sein, so schnell wie möglich geschlossen werden kann und muss.
517
Vgl. auch País, 17.04.2003, „Llegar al lugar de trabajo“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
363
históricas, sociales y políticas que ponen en desventaja a ellas en el mercado de trabajo: Por una parte está el factor cultural, que otroga a las féminas un rol predominante y casi exclusivo en el cuidado de los hijos y las responsabilidades domésticas. A esto se suma el factor latente que supone una alta tasa de empleo general que influye en las estadísticas de paro femenino. El tercer factor es de tipo normativo, y se refiere al hecho de que la regulación del trabajo a tiempo parcial en España no ayuda a la flexibilidad ni a compatibilizar horarios. (Mundo, 29.11.2009, El nuevo equilibrio de la conciliación)518 Die kulturellen Gewohnheiten, die die Frau an ihre Rolle im Haushalt binden, werden als erster maßgeblicher Faktor hervorgehoben, der die Integration der Frau in einen egalitären Arbeitsmarkt verhindere. Die mangelnde Förderung der Teilzeitarbeit in Spanien wird als normativ wirkendes Problem ausgemacht; die bessere Förderung der Flexibilisierung der Arbeitszeit wird als Lösung präsentiert (vgl. Konzept 5.2.3.1.2). Im Korpus finden sich weitere Belege, die beschreiben, dass Frauen mehr Zeit auf häusliche Tätigkeiten und die Kinderbetreuung verwenden als Männer.519 Frauen nähmen außerdem vermehrt Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Anspruch: Hierbei sei allerdings Vorsicht geboten, da die Maßnahmen auch die Doppelbelastung der Frau fördern könnten, wenn sie zugleich arbeite und sich um den Haushalt kümmere.520 II. Benachteiligung von Frauen und die Rolle des Mannes im Haushalt Im spanischen Korpus wird vermehrt darauf hingewiesen, dass die Rolle der Frau im Arbeitsleben und im Privatleben auch durch die Rolle des Mannes gestaltet werde. Die Arbeitsmodelle seien auf männliche Arbeitnehmer ausgerichtet, die die Doppelbelastung durch häusliche und berufliche Pflichten weniger stark betreffe,521 da die Rollenverteilung im Privatleben festgelegt sei: 518
Dt. Es sind drei Faktoren, die der Eingliederung der spanischen Frau in einen egalitären Arbeitsmarkt im Wege stehen, und sie haben mit gesetzlichen, geschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Hindernissen zu tun, die die Frauen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligen. Auf der einen Seite ist da der kulturelle Faktor, der den Frauen eine vorherrschende und fast alleinige Rolle in der Kinderbetreuung und der Haushaltsführung zuordnet. Dazu kommt der unterschwellige Faktor der hohen allgemeinen Beschäftigungsrate, der die Statistiken der weiblichen Arbeitslosigkeit beeinflusst. Der dritte Faktor ist normativer Art und bezieht sich auf die Tatsache, dass die Regelung der Teilzeitarbeit in Spanien weder der Flexibilität noch der Vereinbarkeit der Arbeitszeiten zuträglich ist.
519
Vgl. bspw. Mundo, 29.11.2009, „El nuevo equilibrio de la conciliación“, País, 11.02.2007, „Heroínas“ und País, 22.01.2008, „Trabajar el doble en casa“.
520
Vgl. auch País, 09.03.2004, „Solo el 3,5% de los trabajadores que concilian trabajo y familia son hombres“, Mundo, 29.11.2009, „El nuevo equilibrio de la conciliación“ und Mundo, 13.05.2007, „Conciliación – la desigualdad también reina en el teletrabajo“.
521
Vgl. auch País, 17.05.2005, „La brecha de los sexos“.
364
5 Analyse der Korpora
328. Estoy pensando en un caso real, reciente, sucedido en el domicilio de una señora de profesión liberal, que se define a sí misma como feminista, muy vehemente en la expresión de sus ideas. “Cariño”, le decía su marido, que parecía no saber el nombre de pila de su compañera de vida, “trae más pan”. “Trae más vino”. Trae más. La señora obedecía mientras los hombres platicaban la copa y la tapa. Uno se ofreció a levantarse y fue muy amablemente retenido, no por la señora, sino por el marido mandón. ¿No hubiera resultado incómodo que la señora feminista se hubiera opuesto a los decretos maritales, tan apacibles y benéficos, pan y vino para todos en la tarde feliz? (País, 11.02.2007, Heroínas)522 Das zitierte Narrativ beschreibt eine Szene zwischen Mann und Frau im Rahmen eines Abendessens und ist Teil eines Medienartikels, der über eine Konferenz zum Beitrag der Männer zur Gleichberechtigung berichtet. Der Autor spricht sich nach der einführenden starken Kritik an den spanischen Männern, die in der Mehrzahl von sich selbst sagten, dass sie noch niemals gebügelt hätten (vgl. ebd.), dafür aus, dass sich Männer und Frauen gemeinsam mit den veralteten Rollenbildern auseinandersetzen: Frauen dürften dabei nicht in Bequemlichkeiten und schlechten Gewohnheiten verharren, denn die diskriminierende Arbeitspolitik sei nicht allein auf reaktionäre, chauvinistische Männer zurückzuführen und die Gleichberechtigung im Privatleben lasse sich nur unter Zusammenarbeit von Frauen und Männern erreichen. Der folgende Beleg stellt ebenfalls eine enge Verknüpfung zwischen dem Anteil an der erledigten Hausarbeit und der Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Haushalt und im Berufsleben her: 329. Según el informe presentado ayer por el Instituto Catalán de las Mujeres, de media ellas dedican a esta actividad 4,37 horas [durante el día]. Los hombres le destinan la mitad del tiempo: 2,14 horas. […] aboga por una auténtica reforma social que lleve a una redistribución de la carga total del trabajo que permita garantizar la real integración laboral de la mujer. (País, 22.01.2008, Trabajar el doble en casa)523 522
Dt. Ich denke an einen wahren Vorfall, welcher sich vor kurzem im Haus einer Freiberuflerin, die ihre Meinungen vehement vertritt und sich als Feministin definiert, ereignete. „Schatz“, sagt ihr Mann, der den Vornamen seiner Lebenspartnerin nicht zu kennen schien, „bring mehr Brot“. „Bring mehr Wein“. Bring mehr. Die Frau gehorchte, während die Männer über Wein und Häppchen plauderten. Einer bot an, sich zu erheben und wurde sehr freundlich aufgehalten, nicht von der Frau, sondern von dem Mann, der die Anweisungen gab. Wäre es nicht ärgerlich gewesen, wenn die feministische Dame sich den ehelichen Anordnungen widersetzt hätte? So nett und vorteilhaft, Brot und Wein für alle an einem glücklichen Abend.
523
Dt. Nach dem Bericht, der gestern im Instituto Catalán de las Mujeres vorgestellt wurde, widmen sie [die Frauen] dieser Aktivität [der Hausarbeit und Kinderbetreuung] im Durchschnitt 4,37 Stunden [am Tag]. Die Männer verwenden darauf die Hälfte der Zeit: 2,14 Stunden. […] Er setzt sich für eine echte soziale Reform ein, die zu einer Neuverteilung der Gesamtlast der Arbeit führe, die die wirkliche Integration der Frau in den Arbeitsmarkt garantiere.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
365
In den Texten des spanischen Korpus wird betont, dass die Rolle der Frau nicht nur am Arbeitsplatz ausgehandelt werde, sondern auch im Privatleben. Die Rolle der Frau leitet sich dabei ex negativo von der Rolle des Mannes ab: Da kaum ein Mann in Spanien seine Hemden selbst bügle, müssten die spanischen Frauen dies übernehmen (País, 11.02.2007, Heroínas). Die Aufgabe, diese etablierten Strukturen in Frage zu stellen, wird dabei Männern und Frauen gleichermaßen zugesprochen. Während die Diskriminierung von Frauen (und von Männern) im deutschen Medienkorpus vor allem an ökonomischen Faktoren und Hierarchien im Beruf festgemacht wird, steht im spanischen Korpus auch die grundsätzliche Ungleichheit von Mann und Frau im Alltag zur Diskussion. Um die Gleichberechtigung im Beruf zu erreichen, müsse zunächst die Gleichberechtigung im Privatleben etabliert werden. Die Debatte um die Gleichberechtigung von Mann und Frau kreist im spanischen Korpus nicht nur um die Berufswelt (und hier um eine relativ privilegierte Gruppe von Berufstätigen, wie es im deutschen Korpus der Fall ist), sondern um Frage der Emanzipation in allen Lebensbereichen. Die soziale Rolle der Frau, ihre kulturelle Verankerung und ihr Veränderungspotential In der Frage, wie sehr die Rolle der Frau (als Hauptverantwortliche für Kinder und Haushalt unabhängig von der beruflichen Beschäftigung) in der spanischen Gesellschaft verankert ist, widersprechen sich die Textbelege. Auf der einen Seite gibt es Belege, die die Rolle der Frau als Mutter kulturell oder – in einigen Fällen – biologisch begründet sehen und die davon ausgehen, dass die Rolle auf dem Arbeitsmarkt deshalb nur sehr schwer zu verändern sei: 330. Con todo, la razón fundamental de la desigualdad se centra en la capacidad de la mujer para gestar una vida. Se puede materializar o no, pero existe la “amenaza”. Supuesto germen de fragilidad, nido eterno, condicionará su vida. Ese vientre —que se abulta durante nueve meses y que algunas veces, a algunas mujeres, les saca del trabajo— es un obstáculo especialmente para el desarrollo económico. (País, 24.03.2008, Las raíces de la desigualdad)524 525 Auf der anderen Seite argumentiert der folgende Beleg, dass die Schaffung expliziter Richtlinien oder Gesetze nicht notwendig sei, weil es sich bei der Eingliederung der Frau auf dem Arbeitsmarkt um eine Selbstverständlichkeit handele, die keiner Erwähnung mehr bedürfe. 524
Der Artikel führt weiter aus, dass die Fähigkeit Kinder zu gebären, ebenfalls als ökonomischer Faktor zu berücksichtigen sei.
525
Dt. Trotz allem, der fundamentale Grund der Ungleichheit bündelt sich in der Fähigkeit der Frau, Leben hervorzubringen. Dies kann sich verwirklichen oder nicht, aber die „Bedrohung“ besteht. Dieser vermeintliche Schwachpunkt, das ewige Nest, bestimmt ihr Leben. Dieser Bauch – der sich während neun Monaten entwickelt und in manchen Fällen manche Frauen vom Arbeitsmarkt nimmt – ist insbesondere für die ökonomische Entwicklung ein Hindernis.
366
5 Analyse der Korpora
331. […] nadie se imaginaría hoy unas normas especiales para facilitar la incorporación de las féminas a la Universidad, o al acceso al carné de conducir. Dichas incorporaciones en plena igualdad son un hecho. Si existieran medidas especiales para ello sería un síntoma de desfase. (Mundo, 29.11.2009, El nuevo equilibrio de la conciliación)526 Die Argumentation in diesem Beleg ist besonders interessant: Es wird davon ausgegangen, dass gerade die Dinge, die in einer gegebenen Gesellschaft noch Erwähnung finden müssen, nicht als selbstverständlich und etabliert angesehen werden können. Die Diskursakteure argumentieren hier gegen besondere Maßnahmen, Richtlinien oder Gesetze, weil deren Bestehen darauf hinweise, dass die Gleichberechtigung nicht vollzogen sei. Der Argumentation, dass die gleichberechtigte Eingliederung in den Arbeitsmarkt bereits etabliert sei, widersprechen andere Belege. So weist der Professor einer Wirtschaftshochschule in einem Interview zwei Jahre später darauf hin, dass man inzwischen zu dem Denken neige, dass die Mutterrolle nicht mehr die einzige Rolle der Frau sei: 332. “[…] También es un hecho que muchas profesionales con capacidad y habilidades aparcan temporalmente su carrera para ser madres”. Carlos Obeso, profesor de Recursos Humanos de Esade, advierte de que “se tiende a pensar que este no es un rol absoluto de la mujer. El hombre se puede meter ahí, y debe asumir poco a poco estas funciones y obligaciones. Se advierte una tendencia de fondo que consiste en asumir que el rol típico (que aún persiste) se va rompiendo. Llegará un momento en el que el concepto sexo será neutral respecto del trabajo”. (Mundo, 27.02.2011, Cuando la mujer llega y manda)527 Der zitierte Beleg expliziert eine solche Aussage – dass der Frau in der modernen spanischen Gesellschaft nicht mehr nur die Rolle der Hausfrau und Mutter zur Verfügung stehe – und weist damit darauf hin, dass es sich bei diesem Denkmuster noch nicht um eine solche nicht mehr zu explizierende Selbstverständlichkeit handele. Die Argumentationsmuster der Zeitungstexte differieren in ihrer Aussage hinsichtlich 526
Dt. […] niemand würde sich heute besondere Richtlinien vorstellen, um die Eingliederung der Frauen in die Universität oder den Zugang zum Führerschein zu erleichtern. Diese Eingliederungen sind in völliger Gleichberechtigung eine Tatsache. Wenn es besondere Maßnahmen gäbe, wäre das für ihn [Unternehmenschef von Otto Walter] ein Symptom der Verzerrung.
527
Dt. „[…] Es ist außerdem eine Tatsache, dass viele leistungsfähige Berufstätige mit Führungsqualitäten ihre Karriere zeitweise unterbrechen, um Mutter zu sein.“ Carlos Obeso, Professor für Personalwesen der Wirtschaftshochschule Esade, bemerkt, dass „man dazu neigt, anzunehmen, dass dies nicht die einzige Rolle der Frau sei. Der Mann kann sich einbringen und sollte nach und nach diese Aufgaben und Verpflichtungen annehmen. Es macht sich eine grundlegende Tendenz bemerkbar, die in der Annahme besteht, dass die typische Rolle (die nach wie vor besteht) aufbricht. Es wird ein Moment kommen, in dem das Konzept des Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt nebensächlich sein wird.“
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
367
des Veränderungspotentials und des aktuellen Zustands der sozialen Rolle der Frau in der spanischen Gesellschaft. Während einige Belege davon ausgehen, dass die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bereits vollzogen sei, betonen andere, dass man gerade damit beginne, die traditionellen Rollenkonzeptionen anzupassen. Dabei lässt sich vermuten, dass die Aussagen der Zeitungstexte, die grundsätzlich an das Gebot der Neuigkeit der Informationen gebunden sind, als Indikator für Denkhaltungen angenommen werden können, bei denen es sich (noch) nicht um etablierte gesamtgesellschaftliche Haltungen handelt. Die Belege differieren in der Einschätzung der aktuellen Lage und in den geforderten Maßnahmen; sie stimmen darin überein, dass sich die Rolle der Frau nicht auf Haushaltstätigkeiten und die Kinderbetreuung beschränken dürfe, und erkennen zudem an, dass eine Veränderung besonders schwierig sei, weil es sich um verbreitete Muster handele, die nicht nur durch den Diskurs, sondern vor allem durch Rollenvorbilder und die gelebte Realität erhalten werden: 333. El alcalde, informa Efe, se preguntó: “¿De qué sirve un discurso de igualdad practicado por un padre que vive una vida de desigualdad con la mujer con que convive, y de que le sirve al niño oír que no existe discriminación por razón de sexo en nuestro país cuando ve que el reparto de tareas entre sus padres expulsa a la mujer de la posibilidad de tener un trabajo?” (Mundo, 26.11.2004, La clave de educar en igualdad)528 Erst die ausgeglichene Verteilung der Haushaltsaufgaben, die es Frauen erlaube, einem Beruf nachzugehen, führe auch dazu, dass das Konzept der Gleichberechtigung an den Nachwuchs weitergegeben werde – dafür sei allerdings nicht nur die Veränderung der weiblichen, sondern auch die Veränderung der männlichen Rolle vonnöten. Benachteiligung von Frauen im Beruf und weitere Formen der Diskriminierung Die Konzepte ›(des-)igualdad‹ (dt. (Un-)Gleichheit) und ›discriminación‹ (dt. Diskriminierung) beschreiben nicht nur Ungleichheiten und Diskriminierungen am Arbeitsplatz, sondern auch in vielen weiteren Bereichen. Der analytische Fokus des Kapitels liegt auf Ungleichheiten und Diskriminierung am Arbeitsplatz, dennoch soll an dieser Stelle kurz auf die weiteren Formen der Diskriminierung eingegangen werden, die im Kotext benannt werden.
528
Dt. Der Bürgermeister, so informiert die Nachrichtenagentur Efe, fragte sich: „Was nützt ein Diskurs über Gleichberechtigung eines Vaters, der ein Leben der Ungleichheit mit seiner Lebensgefährtin führt? Und was nützt es dem Kind, zu hören, dass es in unserem Land keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gibt, wenn es sieht, dass die Aufgabenteilung zwischen den Eltern der Frau die Möglichkeit nimmt, eine Arbeit zu haben?“
368
5 Analyse der Korpora
334. En España […] casi el 70% no realiza ninguna tarea doméstica. Pero allí también hay violencia machista. […] En los países menos desarrollados, ni se plantean el maltrato como tal. (País, 24.03.2008, Las raíces de la desigualdad)529 Unterschiedliche Formen der Diskriminierung werden im selben Atemzug genannt (bspw. die Diskriminierung im Alltag in Spanien und die Ausübung von Gewalt gegenüber Frauen) und unter der Überschrift „Las raíces de la desigualdad“ (dt. Die Wurzeln der Ungleichheit) zu einem gemeinsamen Konzept der ›Ungleichheit‹ zusammengefügt. 335. Las mujeres […] “siguen experimentando injusticias, violencia y desigualdades en el hogar y en el ámbito laboral” […] Pero no se trata simplemente de un cambio sobre el papel. Para que haya un cambio de actitud, debe velarse por que las leyes se apliquen y garantizar que las mujeres conocen y exigen sus derechos. (País, 06.07.2011, La ONU denuncia la impunidad de la violencia sexual en Europa)530 531 Die gemeinsame Nennung unterschiedlicher Formen der Diskriminierung fällt insbesondere im Vergleich mit dem deutschen Korpus auf, in dem die verschiedenen Facetten der Diskriminierung voneinander isoliert betrachtet werden.532 Die engere Verknüpfung, die zwischen verschiedenen, weit auseinanderliegenden Formen der Diskriminierung von Frauen hergestellt wird, erklärt sich durch das Dachkonzept der ›desigualdad‹ und dessen Begründung. In den Artikeln, die einen gemeinsamen Kontext aufzeigen, wird darauf verwiesen, dass es das tief in der Geisteshaltung verwurzelte Ungleichheitsdenken sei, dass die verschiedenen Formen der Diskriminierung hervorbringe. Diskriminierung von Frauen und Gesetzeslage: „cuota feminina“ und „discriminación positiva“ Die Belege des spanischen Korpus verweisen auf eine ähnliche gesetzliche Sachverhaltslage wie das deutsche Korpus: Die Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt wird nicht bestritten, es herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, ob gesetzliche 529
Dt. In Spanien erledigen fast 70% [der Männer] keine der Aufgaben, die im Haushalt anfallen. Darüber hinaus existiert auch chauvinistische Gewalt. In den weniger entwickelten Ländern wird die Misshandlung nicht einmal als solche angesehen.
530
Dt. Frauen „erfahren noch immer Ungerechtigkeiten, Gewalt und Ungleichheit im Privatleben und im Berufsleben“ […] Aber es geht nicht nur um einen Wandel auf dem Papier. Um einen Wandel in der Haltung herbeizuführen, muss überwacht werden, dass die Gesetze umgesetzt werden, und es muss garantiert werden, dass Frauen ihre Rechte kennen und einfordern.
531
Vgl. auch Mundo, 23.10.2004, „Un hombre con antecedentes por malos tratos acuchilla a su ex novia y la quema en un coche“.
532
Eine gemeinsame Nennung erfolgt nur selten, bspw. im Artikel „Die Biografie einer estnischen Frau“ (taz, 31.12.2010), in dem eine historische Darstellung über das Fehlen von Geschichten zur weiblichen Identität erfolgt.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
369
Neuregelungen notwendig sind oder ob die bestehenden Gesetze ausreichen. Es wird auf der einen Seite darauf hingewiesen, dass die Gleichheit von Mann und Frau bereits in der spanischen Verfassung und dem Código Civil (dt. Zivilgesetzbuch) festgeschrieben sei: 336. Unos y otros cometen un delito castigado por el Código Penal, que manda a la cárcel a quienes discriminan por razón de sexo. El Código Civil establece que el marido y la mujer son iguales en derechos y deberes. La desigualdad es ilegal. No creo necesarias leyes de excepción permanentes que, con el pretexto de querer evitarla, confirman como natural y eterna la desigualdad histórica de las mujeres. El cumplimiento estricto del Código Civil y del Código Penal vigentes valen para perseguir abusos. (País, 11.02.2007, Heroínas)533 534 535 Auf der anderen Seite äußern die Texte im Korpus, dass bestimmte Maßnahmen notwendig sind, um die Gleichstellung von Frau und Mann im beruflichen Kotext zu erreichen: In diesem Kontext fällt das Kollokat „discriminación positiva“ (dt. positive Diskriminierung) auf. 337. Define estas acciones positivas, “compatibles con el principio de igualdad”, como “las medidas especiales de carácter temporal dirigidas específicamente a las mujeres, destinadas a prevenir o compensar las desventajas que afecten a estas por razón de su sexo y adoptadas con el fin de acelerar la igualdad real entre mujeres y hombres”. Las medidas de discriminación positiva deberán cancelarse cuando se alcance la igualdad. (País, 08.04.2005, El Gobierno permitirá la discriminación a favor de la mujer en el trabajo)536 533
534
Dt. Der eine oder andere begeht eine Straftat, die nach dem Strafgesetzbuch bestraft wird, das diejenigen ins Gefängnis schickt, die aufgrund des Geschlechts diskriminieren. Das Zivilgesetzbuch legt fest, dass der Ehemann und die Frau gleich in Rechten und Pflichten sind. Die Ungleichheit ist gesetzeswidrig. Ich halte Gesetze, die eine immerwährende Ausnahme festlegen, für nicht notwendig. Diese bestätigen die historische Ungleichheit mit dem Vorwand, etwas vermeiden zu wollen, als natürlich und immerwährend. Die strikte Einhaltung des rechtskräftigen Zivilgesetzbuches und Strafgesetzbuches dient dazu, den Missbrauch zu ahnden. Vgl. auch País, 19.02.2011, „En España es impensable (por ahora)“.
535
Es wird des Weiteren auf die Ley Orgánica para la Igualdad Efectiva entre Hombres y Mujeres hingewiesen, die im Dezember 2006 vom spanischen Kongress verabschiedet wurde (bspw. im Medientext: País, 22.12.2006, „El Congreso apoya la Ley de Igualdad con la única abstención del PP“). Vgl. den Exkurs Gesetze als Indikatoren der Sachverhaltsebene in Kapitel 5.2.3.3.1.
536
Dt. Es definiert diese positiven Handlungen als „mit den Prinzipien der Gleichheit vereinbar“. Wie beispielsweise die „speziellen, zeitweiligen Maßnahmen, die sich insbesondere an Frauen richten: Diese sind dazu bestimmt, den Nachteilen, die sie aufgrund ihres Geschlechtes betreffen, vorzubeugen oder diese auszugleichen. Sie wurden mit dem Ziel umgesetzt, die tatsächliche Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern herzustellen.“ Die Maßnahmen der positiven Diskriminierung müssen dann beendet werden, wenn die Gleichberechtigung erreicht ist. (Titel = Die Regierung wird die Diskriminierung zugunsten der Frau im Arbeitskontext erlauben).
370
5 Analyse der Korpora
Mit der positiven Diskriminierung sind in diesem Kontext Fördermaßnahmen speziell für Frauen gemeint, wie beispielsweise die bevorzugte Einstellung von Bewerbern des unterrepräsentierten Geschlechts – häufig Frauen – bei gleicher Qualifikation. Diese werden als positive Diskriminierung bezeichnet, weil es sich um eine Art der Bevorzugung handelt, die ein bestehendes Ungleichgewicht ausgleichen soll. Der negativen Konnotation des Ausdrucks „Diskriminierung“ wird die explizit positive Wertung des Adjektivs „positiv“ gegenübergestellt. Die Nominalphrase bezieht sich häufig auf die Gruppe der berufstätigen Frauen, deren Anteil in Führungspositionen gestärkt werden soll; sie kann sich jedoch auch auf andere benachteiligte Gruppen, wie ältere Arbeitnehmer oder Ausländer beziehen (vgl. Kapitel 5.4.3.3.2). Das Subkonzept der positiven Diskriminierung ist dabei umstritten und eröffnet die Diskussion, ob die Bevorzugung einer Gruppe – und sei es die einer bisher benachteiligten Gruppe – eine akzeptable Maßnahme sei (vgl. bspw. País, 16.04.2006, Por la autonomía de las mujeres). Das Syntagma „cuota femenina“ (dt. Frauenquote) findet sich im spanischen Korpus in 24 Belegstellen: Während die Frauenquote im deutschen Medienkorpus vieldiskutiert ist und sich agonale Diskurspositionen ausmachen lassen, verweisen die spanischen Texte zumeist in einem neutraleren Ton auf die 2007 etablierte Quote von Frauen in der Politik und der Wirtschaft: 338. España ha sido citada en numerosas ocasiones en la Unión Europea por sus políticas de igualdad y lucha contra la violencia de género. En la cuestión de las cuotas, la Ley de Igualdad de 2007 establece de forma clara la cuota femenina en el ámbito público y político, así como las recomendaciones para conseguir la paridad en los consejos de administración antes del año 2015. (País, 18.09.2012, Cameron frena la cuota femenina)537 Bewertung des Konzeptes Auch im spanischen Korpus ist das Konzept der ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ von einer grundsätzlich negativen Bewertung gekennzeichnet, die die Diskriminierung und die gesellschaftliche Ungleichheit zwischen Frauen und Männern als falsch beurteilt. Dies zeigt sich in zahlreichen Belegen über die Markierung der verschiedenen Formen der Diskriminierung mit konkreten Bewertungspartikeln: 339. El índice sobre la desigualdad entre mujeres y hombres en 58 países elaborado por el Foro Económico Mundial deja a España en un vergonzoso puesto 27. Y de no ser por los buenos resultados en salud de las mujeres españolas (5 lugar), 537
Dt. Spanien wurde bei zahlreichen Gelegenheiten in der Europäischen Union aufgrund seiner Gleichstellungspolitik und seines Kampfes gegen die geschlechtsspezifische Gewalt genannt. Im Hinblick auf die Quoten legt die Ley de Igualdad von 2007 die Frauenquote in der öffentlichen Verwaltung und der Politik klar fest, und gibt Empfehlungen, um die Parität in Verwaltungsräten vor dem Jahr 2015 zu erreichen.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
371
este país habría quedado aún más bajo en este ranking, pues cae en materia de remuneración laboral (45), o de acceso a puestos de trabajo cualificados (34), o a la educación (35), o en poder político (27). […] Es una brecha que se puede y se debe cerrar cuanto antes en una sociedad que se pretende modernizada. (País, 17.05.2005, La brecha de los sexos)538 Erneut ist über die Gesetzeslage bestimmt, dass Diskriminierung gesetzeswidrig ist. Insofern ähneln sich die Bewertungen des deutschen und des spanischen Konzeptes. Es finden sich dennoch agonale Diskurspositionen, in denen Konsens über die grundsätzliche Bewertung besteht, Teilbedeutungen und Maßnahmen zur Umsetzung des gesamtgesellschaftlich etablierten Ziels der Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau aber umstritten sind. Die Unterschiede zwischen deutschem und spanischem Korpus werden im Zwischenfazit nach der Konzept- und Vergleichstabelle zusammengefasst.
538
Dt. Die Studie des Weltwirtschaftsforums zur Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, die in 58 Ländern durchgeführt wurde, lässt Spanien auf einem beschämenden 27. Platz zurück. Und wären da nicht die guten Ergebnisse im Bereich der Gesundheit spanischer Frauen (Platz 5), wäre dieses Land noch weiter unten in dem Ranking gelandet, da es im Bereich der Arbeitslöhne (45), oder des Zugangs zu höheren Arbeitsposten (34), zu Bildung (35) und politischer Macht (27) abstürzt. […] Das ist eine Lücke, die in einer Gesellschaft, die beansprucht, modernisiert zu sein, so schnell wie möglich geschlossen werden kann und muss.
‘Frauen werden am Arbeitsplatz diskriminiert und sind von Ungleichheiten betroffen.’
‘Die Gleichberechtigung von Frau und Mann muss sich im Arbeitskontext und im Privatleben vollziehen. Dabei müssen sich die sozialen Rollen von Frauen und Männern verändern, um die Emanzipation der Frau zu erreichen.’
B. Die Arbeitsmarktbedingungen in Spanien sind nicht auf die Berufstätigkeit von Frauen, sondern auf den klassischen männlichen Arbeitnehmer ausgerichtet: Es werden kaum flexible Arbeitszeiten und Heimarbeit angeboten. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist eine Lösung für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.’
A. Frauen wird noch immer die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter zugeschrieben.
‘Die Eingliederung der Frauen in den spanischen Arbeitsmarkt und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen scheitern an verschiedenen Faktoren:
- ‘Frauen haben weniger Zugang zu höheren Posten auf dem Arbeitsmarkt, zu Bildung, zu politischer Macht und zu weiteren Bereichen der Gesellschaft.’
Es wird auf die bestehenden sozialen Rollen hingewiesen und bemerkt, dass diese angepasst werden müssen. Die Rolle der Frau wird im Vergleich mit der Rolle des Mannes definiert.
Beruf und Privatleben
Emanzipation
kultureller Faktor
Formen der Diskriminierung im beruflichen Kontext werden unter dem Dachkonzept der ›desigualdad‹ mit weiteren Formen der Diskriminierung im Alltag verknüpft.
Befund
Im spanischen Korpus werden vor allem zwei Gründe für die mangelhafte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt angegeben: der Faktor der kulturellen Prägung, der eine gesellschaftliche Denkhaltung fördert, nach der die Frau Hausfrau und Mutter ist, und der Faktor der mangelhaften Förderung von familienfreundlichen Arbeitszeiten. Der erste Faktor ist schwer zu verändern; die Veränderung des Arbeitsmarktes wird als Lösung konzeptualisiert.
kulturspezifische Verknüpfung
Metadiskursive Deutung
›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ (dt. Ungleichheit von Frauen und Männern und Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt)
- ‘Frauen werden schlechter bezahlt als Männer.’
Frauen werden auf dem spanischen Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen des Lebens diskriminiert. Die Diskriminierung ist im allgemeinen Kontext der gesellschaftlichen Ungleichheit von Frauen und Männern in der spanischen Gesellschaft zu situieren. Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 46: Konzept ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado de trabajo‹
372 5 Analyse der Korpora
Die sprachliche Ebene wird in Bezug zur Verhaltens- und Sachverhaltsebene gesetzt. Metaebene: Es wird davon ausgegangen, dass Handlungsformen auf eine übergeordnete Denkhaltung zurückgehen. Die häufigen Verweise auf das Konzept der ›desigualdad‹ und die Nennung verschiedener Formen der Diskriminierung weisen darauf hin, dass es sich um eine prägende Denkhaltung handelt.
‘Die Diskriminierung von Frauen beschränkt sich nicht auf den beruflichen Kontext, sondern findet weltweit auch in anderer Form, bspw. Sexismus und sexueller Gewalt statt. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung gehen auf eine gemeinsame Geisteshaltung der „desigualdad de hombre y mujeres“ zurück, die in bestimmten Gesellschaften verwurzelt und nur schwer zu verändern ist.’
Agonale Diskurspositionen: Die Gleichstellung ist auf der theoretischen Ebene geregelt vs. die Gleichstellung muss mit weiteren Maßnahmen, auch auf theoretischer Ebene, gefördert werden, um in der Praxis umgesetzt zu werden.
Damit verknüpft wird das Konzept der Emanzipation: Diese vollzieht sich nicht nur im Berufsleben, sondern muss sich auch im Privatleben vollziehen.
‘Der Diskurs zur Gleichstellung von Mann und Frau ist nur dann sinnvoll, wenn sich die Verhaltensmuster, über die die Rollenmuster weitergegeben werden, zugleich verändern.’
Die etablierte Frauenquote ist eine Maßnahme der positiven Diskriminierung.’
‘Um die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen, ist die positive Diskriminierung der benachteiligten Gruppe – d. h. zumeist der Frauen – notwendig, bis beide Gruppen gleichberechtigt sind.
≠
Ausnahmeregelungen würden darauf hinweisen, dass die Gleichberechtigung keine Selbstverständlichkeit ist.’
‘Die Gleichheit und Gleichberechtigung von Frau und Mann ist durch die bestehende Gesetzgebung geregelt. Weitere Maßnahmen sind nicht notwendig.
‘Die etablierten Rollen von Frau und Mann müssen von Frauen und Männern gleichermaßen ausgehandelt werden.’
- Viele Frauen halten an ihrer Mutterrolle fest.’
≠
- Frauen verbringen in Spanien deutlich mehr Zeit mit Hausarbeit und Kinderbetreuung als Männer. Männer übernehmen kaum Haushaltstätigkeiten.
‘Die soziale Rolle der Frau ist kulturell geprägt:
kulturspezifische Denkhaltung
Metaebene
Sprachebene und Sachverhaltsebene
Metaebene
Theorie und Praxis
Agonalität
Agonalität
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
373
Konzeptsynthese Frauen werden auf dem spanischen Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen des Lebens diskriminiert. Die Diskriminierung ist im allgemeinen Kontext der gesellschaftlichen Ungleichheit von Frauen und Männern in der spanischen Gesellschaft zu situieren.
Konzeptsynthese
Frauen, Mütter und Väter sind am Arbeitsplatz und im Kontext des Arbeitsmarktes von Diskriminierungen betroffen. Die Diskriminierung wird in verschiedene Narrationen eingebettet und in diesen als mehr oder weniger gravierend bewertet.
- aufgrund des bestehenden Systems (der staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen) diskriminiert.
- aufgrund eines bestehenden Rollenverständnisses diskriminiert.
- Frauen werden
DISKRIMINIERUNG VON FRAUEN UND UNGLEICHHEIT VON FRAUEN UND MÄNNERN - Zwischen Frauen und Männern besteht noch immer eine Ungleichheit in der spanischen Gesellschaft, die auf veralteten Strukturen und
- Frauen haben weniger Zugang zu höheren Posten auf dem Arbeitsmarkt, zu Bildung, zu politischer Macht und zu weiteren Bereichen der Gesellschaft.
- Frauen leisten mehr unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Kinderbetreuung als Männer.
- Frauen werden schlechter bezahlt als Männer.
- Frauen werden seltener in Führungspositionen befördert.
DISKRIMINIERUNG UND FRAUEN - Frauen werden am Arbeitsplatz diskriminiert.
DISKRIMINIERUNG UND FRAUEN - Frauen werden am Arbeitsplatz diskriminiert:
- Frauen werden schlechter bezahlt als Männer.
Sprachliche Verknüpfungen
Sprachliche Verknüpfungen
Im spanischen Korpus steht die Diskriminierung von Frauen (und Müttern) im Vordergrund; über die Diskriminierung von Männern wird kaum berichtet. Die Diskriminierung von Frauen im beruflichen Kontext wird im spanischen Korpus mit Formen der Diskriminierung im Privatleben verknüpft und allgemein in den Kontext der gesellschaftlichen Ungleichheit (›desigualdad‹) zwischen Männern und Frauen gestellt.
›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹
›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹
Tabelle 47: Vergleich GENDER
374 5 Analyse der Korpora
- An der traditionellen Rollenverteilung ändert sich kaum etwas. Insbesondere im Haushalt besteht diese auch dann, wenn beide Elternteile berufstätig sind.
- Berufstätige Väter stoßen mit ihren Forderungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf dieselben Schwierigkeiten wie Mütter.
DISKRIMINIERUNG UND VÄTER - Väter werden am Arbeitsplatz diskriminiert.
- In Deutschland ist das Bild der berufstätigen Mutter weniger etabliert als in anderen Ländern. Sie müssen noch immer fürchten, als „Rabenmutter“ bezeichnet zu werden, insbesondere dann, wenn sie beruflich erfolgreich sind.
- Frauen werden in ihrer Rolle als (potentielle) Mutter wahrgenommen und werden deshalb seltener eingestellt und befördert.
DISKRIMINIERUNG UND MÜTTER - Mütter werden am Arbeitsplatz diskriminiert.
traditionellen Rollenbildern beruht.
DISKRIMINIERUNG UND ROLLE DES MANNES - Die soziale Rolle der Frau ist kulturell geprägt: Frauen verbringen mehr Zeit mit Hausarbeit und Kinderbetreuung als Männer.
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist die Lösung für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
- Die Arbeitsmarktbedingungen in Spanien sind nicht auf die Berufstätigkeit von Frauen ausgerichtet, da kaum flexible Arbeitszeiten angeboten werden.
- Frauen wird noch immer die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter zugeordnet.
BENACHTEILIGUNGEN IM BERUF UND SOZIALE ROLLE DER FRAU IM HAUSHALT - Die Integration der Frauen in den spanischen Arbeitsmarkt scheitert an verschiedenen Faktoren:
- Die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz ist nur eine Facette, in der sich die Ungleichheit äußert. Sie äußert sich darüber hinaus in Formen von Diskriminierung im Privatleben, Sexismus, sexueller Gewalt etc. Die unterschiedlichen Formen der Diskriminierung weisen auf die Ungleichheit hin und resultieren aus ihr. Sie werden unter dem Dachkonzept ›desigualdad‹ zusammengefasst.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
375
SEXISMUS - Frauen können am Arbeitsplatz Opfer von Sexismus und sexueller
- Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind gesellschaftlich konstruiert vs. die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind biologisch bedingt.
- Frauen müssen ihr Verhalten, ihre Kommunikation und ihr Auftreten anpassen, um sich in der Unternehmenswelt durchzusetzen vs. Frauen sollten ihre authentischen Verhaltensweisen nicht anpassen. Diese können in der Unternehmenswelt Stärken darstellen.
ROLLENSPEZIFISCHES VERHALTEN - Frauen und Männer verhalten sich und kommunizieren rollenspezifisch. Die Verhaltens- und Kommunikationsweisen von Männern werden als Führungsqualitäten wahrgenommen.
UNGLEICHHEIT: DISKRIMINIERUNG UND SEXISMUS IN DER GESELLSCHAFT - Die Diskriminierung von Frauen beschränkt sich nicht auf den
- Der Diskurs zur Gleichstellung von Mann und Frau ist nur dann sinnvoll, wenn sich die Verhaltensmuster, über die die Rollenmuster weitergegeben werden, zugleich verändern.
- Die Rolle der Frau verändert sich nicht, weil viele Frauen an ihrer Mutterrolle festhalten wollen.
ROLLENSPEZIFISCHES VERHALTEN - Die Rolle der Frau als Hauptverantwortliche für Kinder und Haushalt unabhängig von der beruflichen Beschäftigung ist kulturell in der spanischen Gesellschaft verankert und lässt sich deshalb nur schwer verändern.
- Die Gleichberechtigung von Mann und Frau muss sowohl im Arbeitskontext als auch im Privatleben hergestellt werden, da beide Bereiche sich wechselseitig beeinflussen.
- Die sozialen Rollen von Frau und Mann sind voneinander abhängig. Die etablierten Rollen von Frau und Mann müssen von Frauen und Männern gleichermaßen ausgehandelt werden.
- Die Rolle des Mannes folgt im Privatleben etalierten Mustern, nach denen der Mann keine Haushaltstätigkeiten übernimmt.
b. Die Maßnahmen können den umgekehrten Effekt haben, wenn sie die Doppelbelastung von Frauen verstärken.
a. Frauen können von Maßnahmen der Vereinbarkeit profitieren.
- Frauen nehmen vermehrt Maßnahmen der Vereinbarkeit in Anspruch (Teilzeitarbeit, Heimarbeit):
376 5 Analyse der Korpora
- Der Código Civil schreibt die Gleichheit von Mann und Frau fest. - Die Ley Orgánica para la Igualdad Efectiva entre Hombres y Mujeres wurde 2006 verabschiedet, um die Gleichstellung von Mann und Frau umzusetzen. Sie sieht eine Frauenquote vor.
- Paragraph 3 des Grundgesetzes verbietet Diskriminierung.
- Das Antidiskriminierungsgesetz verbietet die Diskriminierung aufgrund von Alter, Religion, ethnischer Herkunft, Behinderung, sexueller Identität und Geschlecht im Alltag und am Arbeitsplatz. Die Umsetzung des Antidiskriminierungsgesetzes ist jedoch schwierig.
FRAUENQUOTE - Die Frauenquote in Unternehmen und Aufsichtsräten ist in Deutschland umstritten. Es wird diskutiert, ob a. sie zu mehr Gleichberechtigung führt, da Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt werden und so gegen die gesellschaftlichen Strukturen vorgegangen wird, die dazu führen, dass Frauen benachteiligt sind. b. die Quote diskriminierend ist, weil sie sich nicht an der Leistung, sondern am Geschlecht orientiert und sich die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt von selbst reguliert. - In anderen europäischen Ländern, bspw. Norwegen, konnten über eine Frauenquote bereits große Erfolge erzielt werden.
GESETZE - Die Gleichstellung von Mann und Frau ist durch die Gesetzeslage geregelt. Die Anwendung ist jedoch problematisch.
GESETZE - Die Gleichstellung von Mann und Frau ist durch die Gesetzeslage geregelt. Die Anwendung ist jedoch problematisch.
b. sollte nicht mit speziellen Maßnahmen gefördert werden, da die Festschreibung der selbstverständlichen Gleichstellung einer Zementierung der Ungleichheit entspricht.
a. kann über die positive Diskriminierung der benachteiligten Gruppe der Frauen erfolgen, bis beide Gruppen gleichberechtigt sind.
- Die Gleichstellung von Frauen und Männern im Beruf
- Die verschiedenen Formen der Diskriminierung gehen auf eine gemeinsame Geisteshaltung der „desigualdad“ zurück, die in der Gesellschaft verwurzelt ist und nur schwer zu verändern ist.
beruflichen Kontext, sondern findet auch in Form weiterer Diskriminierungen statt.
- Frauen sollten ihre Kleidung und ihr Auftreten am Arbeitsplatz anpassen, um Sexismus zu vermeiden und um Führungspositionen zu erreichen. Das Aussehen von Frauen spielt eine größere Rolle als das Aussehen von Männern.
Belästigung werden, bspw. in Form von Kommentaren zu Kleidung, Figur und Auftreten oder sexuellen Übergriffen.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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- Diskriminierung wird grundsätzlich negativ bewertet. - Diskriminierung ist durch das Grundgesetz als verfassungswidrig festgeschrieben. - Der Ausdruck „discriminación“ findet sich im Vergleich zum Ausdruck „igualdad“ deutlich seltener; das Konzept ›discriminación‹ erhält im Spanischen eine deutlichere Zuspitzung auf benachteiligende Handlungen. Die Oberbegriffe „igualdad“ und „desigualdad“ verweisen auf eine Geisteshaltung, die Frauen in einer benachteiligten Position gegenüber Männern sieht und noch immer als Denkmuster in großen Teilen der Gesellschaft wirksam ist. - In den spanischen Texten werden verschiedene Formen der Diskriminierung nebeneinandergestellt. Formen der Diskriminierung am Arbeitsplatz werden durch diese Verknüpfung mit einer Geisteshaltung der Ungleichheit noch negativer bewertet.
- Diskriminierung wird grundsätzlich negativ bewertet. - Diskriminierung ist durch das Grundgesetz als verfassungswidrig festgeschrieben. - Im Korpus finden sich verschiedene Argumentationsstränge, die die Bewertung des Konzeptes nivellieren: A. Frauen wählen schlechter bezahlte Berufe selbst und tragen deshalb eine Teilschuld an der Diskriminierung. a. Die Auswahl der Berufe ist gesellschaftlich und strukturell geprägt und muss deshalb auch so verändert werden. b. Frauen sind für bestimmte Berufe und Tätigkeiten besser geeignet. Männer sind für andere Berufe und Tätigkeiten besser geeignet. Wird die ungleiche Behandlung als gesellschaftlich und strukturell bedingt eingeordnet, wird sie als deutlich ungerechter bewertet. In diesem Fall schließen sich häufig Forderungen an, die Situation zu verändern. B. Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit wird über verschiedene Versprachlichungsstrategien vermieden. Damit wird das Konzept auf eine abstraktere Ebene gehoben und die Lösung als solche problematisiert. Die Veränderung einer Situation gestaltet sich sehr viel schwieriger, wenn keine Verantwortlichkeiten zugeschrieben werden können. Selten wird Akteuren im Kontext eines konkreten Diskursereignisses Verantwortung zugeschrieben. Die Bewertung fällt dann deutlich negativer aus. C. Die Diskriminierung von sozialen Gruppen wird durch Gesetze auf der theoretischen Ebene geregelt; die gesetzliche Regelung ist nicht gleichbedeutend mit der Umsetzung der Gesetze. Die Situation wird als komplexer und schwieriger zu bewerten gekennzeichnet.
Kulturspezifik Einige Teilbedeutungen der Konzepte überschneiden sich. Das deutsche und das spanische Konzept unterscheiden sich auf inhaltlicher Ebene (wer ist von der Diskriminierung betroffen) und durch die Konzeptverknüpfungen – sind also stark kulturspezifisch. Das spanische Konzept wird mit Konzepten verknüpft, die im spanischen Korpus von größerer Relevanz sind als im deutschen Korpus: Unter dem Dachkonzept ›desigualdad‹ werden verschiedene Formen der Diskriminierung zusammengefasst.
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
378 5 Analyse der Korpora
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Zwischenfazit: Konzeptkontexte als Indikatoren für kulturspezifische Denkhaltungen? Der konzeptuelle Zugriff GENDER UND DISKRIMINIERUNG ermöglicht den Vergleich der Konzepte ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ und ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹ (dt. Ungleichheit von Frauen und Männern und Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt). Die Konzeptualisierungen im deutschen und im spanischen Zeitungskorpus weisen viele Überschneidungen auf, aber auch spezifische Unterschiede. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Korpusanalysen, die vor dem Hintergrund des Kulturvergleichs besonders relevant sind, zunächst zusammengefasst und anschließend interpretiert. Im Vergleich der konzeptuellen Verknüpfungen und der Bewertung der sprachspezifischen Konzepte unter dem konzeptuellen Zugriff GENDER UND DISKRIMINIERUNG fallen die folgenden Aspekte auf: (1) Im deutschen Korpus wird über die Diskriminierung von Frauen, Müttern und Vätern berichtet. Im spanischen Korpus liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Darstellung der Diskriminierung von Frauen, insbesondere in ihrer Rolle als Mutter. Die Diskriminierung von Männern am Arbeitsplatz, auch in ihrer Rolle als Vater, wird nicht thematisiert. (2) Im spanischen Korpus findet sich der Ausdruck „desigualdad (de mujeres y hombres)“ (dt. Ungleichheit (von Männern und Frauen)) deutlich häufiger als der Ausdruck „discriminación“ (dt. Diskriminierung). Die Ausdrücke „desigualdad“ oder auch „igualdad“ (dt. Gleichheit, Gleichberechtigung, Gleichstellung; im Korpus häufig negiert) verweisen auf einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Frauen in einer benachteiligten Position gegenüber Männern sind. Diese Geisteshaltung ist, so der Tenor der spanischen Medientexte, als Denkmuster und Mentalität noch immer in großen Teilen der spanischen Gesellschaft wirksam. Mit dem Ausdruck „discriminación“, der konkrete Formen der Benachteiligung bezeichnet, erfolgt die Zuspitzung des Konzeptes. Das Konzept der ›desigualdad de mujeres y hombres‹ ist als Dachkonzept zu verstehen, unter das das Subkonzept ›discriminación de mujeres‹ fällt. (3) In den spanischen Texten werden verschiedene, zum Teil sehr unterschiedliche Formen der Diskriminierung nebeneinandergestellt (vgl. S. 368). Dies fällt besonders im Vergleich zum deutschen Korpus auf und lässt sich dadurch begründen, dass die verschiedenen Formen der Diskriminierung unter dem Dach der gesamtgesellschaftlich wirksamen Geisteshaltung der Ungleichheit von Männern und Frauen situiert werden.
380
Abb. 15: ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹
5 Analyse der Korpora
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Abb. 16: ›desigualdad de mujeres y hombres y discriminación de mujeres en el mercado laboral‹
Im deutschen und im spanischen Korpus werden ähnliche Formen der Diskriminierung auf der Performanzebene beschrieben. Insbesondere in der Darstellung der Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz zeigen sich Überschneidungen. Die Darstellungsweisen unterscheiden sich jedoch dadurch, dass das Konzept der ›discriminación‹ im spanischen Korpus in den Gesamtkontext der ›desigualdad‹ gestellt wird: Es manifestieren sich, so die Aussage der spanischen Medientexte, bestimmte Formen der Diskriminierung von Frauen im Arbeitskontext, die in einer gesellschaftlich verankerten Denkhaltung der Ungleichheit begründet liegen, die Frauen und Männern verschiedene Rollen zuschreibt. Diese Denkhaltung binde die Frau an ihre traditionelle Rolle, die vor allem die Kinderbetreuung und den Haushalt umfasse. Die Benennung sehr unterschiedlicher Formen der Diskriminierung unter dem Dachkonzept der ›desigualdad‹ weist ebenfalls darauf hin, dass in den Texten ein Zusammenhang zwischen diesen Formen der Diskriminierung angenommen wird, weil sich diese in die zugeschriebe-
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5 Analyse der Korpora
ne Geisteshaltung der Ungleichheit einfügen. Um die Gleichberechtigung von Frau und Mann zu erreichen, müsse sich diese Denkhaltung und Mentalität der spanischen Gesellschaft verändern. Als Erklärungsfolie für die Diskriminierungen, denen Frauen auf dem Arbeitsmarkt begegnen, werden die Denkhaltung, die Mentalität und die Kultur der spanischen Gesellschaft angeführt. Diese Verknüpfung von Zustandsbeschreibung und Erklärung durch den Verweis auf eine bestehende Geisteshaltung findet sich wiederholt im spanischen Zeitungskorpus.539 In den deutschen Zeitungsartikeln wird vereinzelt darauf hingewiesen, dass die veraltete und gesellschaftlich verwurzelte Zuschreibung von Frauen- und Männerrollen zu Diskriminierungen führt. Häufiger wird aber hervorgehoben, dass strukturelle und systemische Gründe der gleichberechtigten Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt im Wege stehen: So seien es die Unternehmensstrukturen und der Arbeitsmarkt an sich, die bedingten, dass noch immer mehr Männer Führungspositionen innehätten. Auch die Gesetzgebung und das Steuersystem bedingten mitunter, dass Frauen sich um Haushalt und Familie kümmerten. Im deutschen Korpus wird hervorgehoben, dass es weniger die Mentalität der Gesellschaft sei, die verändert werden müsse, sondern vielmehr der Arbeitsmarkt an sich sowie die bestehenden Strukturen der Unternehmen und der Gesetzgebung. Die sprachlichen Verknüpfungen, die in einem Korpus im Vergleich zu einem anderen vorgenommen werden, und ihre Betrachtung auf der Metaebene belegen die Erklärungsmuster, die in den verschiedenen Kulturen im Kontext der analysierten Konzepte üblich sind: Während im spanischen Korpus wiederholt auf die Mentalität als Hintergrundfolie und erklärendes Moment hingewiesen wird, werden im deutschen Korpus zumeist strukturelle und systemische Gründe als erklärendes Moment herangezogen. Zum anderen lässt sich feststellen, dass die Diskriminierung des berufstätigen Mannes in beiden Medientextkorpora kein relevantes Diskursthema darstellt; diese Gruppe von Berufstätigen stellt den Normalfall dar. Im deutschen Korpus wird in einigen Belegen auf die Diskriminierung von berufstätigen Vätern hingewiesen, wobei diese stets in Beziehung zu den häufiger beschriebenen Diskriminierungen von berufstätigen Müttern gesetzt werden. Im spanischen Korpus wird die Diskriminierung von Vätern am Arbeitsplatz nicht verhandelt. Zum einen ließe sich vermuten, dass die Diskriminierung von Vätern in den spanischen Medientexten kein Diskursthema ist, weil sie nicht stattfindet. Zum anderen ist denkbar, dass die Diskriminierung von Vätern nicht diskutiert wird, weil die Gleichberechtigung von weiblichen und männlichen Berufstätigen sowie die vollständige Integration der Frauen in den spanischen 539
In den Konzepttabellen ist über die Ordnungskriterien kulturspezifische Verknüpfung, kulturspezifische Bewertung, kulturspezifisches Konzept und Kultur und Mentalität nachzuvollziehen, im Kontext welcher Konzepte auf die Erklärungsmuster der Kulturspezifik und Mentalität verwiesen wird.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Arbeitsmarkt weniger weit vorangeschritten sind: Aufgrund der anhaltenden Relevanz und Frequenz dieser Diskursthemen ist die seltener vorkommende Diskriminierung von berufstätigen Vätern, deren neue Rolle erst langsam etabliert wird, noch kein Diskursthema in der spanischen Medienberichterstattung.540 5.4.3.2 Konzeptueller Zugriff GENERATION Der konzeptuelle Zugriff GENERATION bietet Zugang zu verschiedenen Konzepten, die jüngere und ältere Berufstätige betreffen können. In der vorliegenden Arbeit werden die Konzepte ›Generation Y‹ und ›Generación ni-ni‹ gegenübergestellt, die die jüngeren, auf den Arbeitsmarkt strömenden Generationen in Deutschland und Spanien beschreiben.541 Die beiden Konzepte eignen sich besonders gut für eine Gegenüberstellung, da sie in den jeweiligen Korpora mit einer spezifischen Ausdrucksform bezeichnet werden: Der lexikalische Vergleich kann als Ausgangspunkt genommen werden, um die spezifischen Konzeptualisierungen und Nuancierungen abzugleichen. 5.4.3.2.1 Deutsches Konzept ›Generation Y‹ Der Ausdruck „Generation Y“ findet sich mit 120 Belegen im deutschen Korpus und ist damit die am häufigsten belegte Generationsbezeichnung im Untersuchungszeitraum des Korpus von 2002 bis 2015 (vgl. „Generation X“ 55 Belege und „Generation Z“ 5 Belege).542 Die Generationsbezeichnung ist im Untersuchungszeitraum von großer Relevanz, weil sie die Gruppe von jungen Menschen bezeichnet, die im Untersuchungszeitraum in den Arbeitsmarkt eintreten und deren Erwartungen und Anforderungen diesen damit besonders prägen.
540
Eine diachrone Betrachtung der deutschen Berichterstattung könnte Aufschluss darüber geben, seit wann die Diskriminierung von berufstätigen Vätern in deutschen Medientexten verhandelt wird, und Prognosen erlauben, ob und wann die Diskriminierung von berufstätigen Vätern in Spanien zum Diskursthema werden könnte. Da es sich bei Deutschland und Spanien um Länder handelt, die verschiedene Parameter teilen (Währungs- und Wirtschaftsraum, Europäische Union etc.) könnte von einer vergleichbaren Entwicklung des Arbeitsmarktes ausgegangen werden, die die Diskriminierung von Vätern im Arbeitskontext zu einem Diskursgegenstand in Spanien machen könnte.
541
Kapitel 5.4.3.3 erwähnt die Gruppe der älteren Berufstätigen im Kontext potentieller Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt.
542
Die Generationsbezeichnung „Generation X“ definiert das Wörterbuch Duden als „Altersgruppe der etwa 1965 bis 1975 Geborenen, die durch Orientierungslosigkeit, Desinteresse am Allgemeinwohl u. a. charakterisiert ist“ (Duden 2015, 704). Die Bezeichnung geht auf den gleichnamigen Roman des kanadischen Autors Douglas Coupland von 1991 zurück. Die Ausdrücke „Generation Y“ und „Generation Z“ bezeichnen die nachfolgenden Generationen.
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5 Analyse der Korpora
Sprachliche Konstituierung Bei dem Ausdruck „Generation Y“ handelt es sich um eine Gruppenbezeichnung, die sich auf junge Menschen bezieht, die zwischen 1980 und 1990 geboren sind.543 Neben diesem festen Beschreibungskriterium des Geburtszeitraumes werden weitere Charakteristika zur Bestimmung der Gruppe hinzugefügt: Die Nachfolgegeneration der Generation X zeichne sich dadurch aus, dass sie alles in Frage stelle, worauf auch der Generationsname „Y“, ausgesprochen wie das englische Wort „Why“ (dt. Warum), aufmerksam macht. Unter der Bezeichnung wird fast ausschließlich auf hochqualifizierte, junge Berufstätige hingewiesen, die mit vielen Ansprüchen und Fragestellungen in die Berufswelt eintreten. Die Generation sei durch die digitalen Medien geprägt und dadurch für bestimmte Bereiche des Arbeitsmarktes qualifiziert, weshalb ihre Gruppenmitglieder auch häufig als „Digital Natives“, mit digitalen Technologien aufgewachsene Personen, bezeichnet werden.544 Die Generation Y zeichne sich darüber hinaus durch bestimmte Ansprüche und Erwartungen aus, die an Arbeitgeber gestellt werden und die sich im Medienkorpus über die sprachlichen Verknüpfungen darstellen. So wird das Konzept erstens mit der Sinnhaftigkeit im Beruf, zweitens mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, insbesondere aber auch der Vereinbarkeit von Beruf und einem erfüllten Privatleben über die Familie hinaus, und drittens mit einem überdurchschnittlichen Gehalt verknüpft. Bei der Bezeichnung „Generation Y“ handelt es sich um eine Analysekategorie, die Eingang in die Allgemeinsprache gefunden hat.545 Die Zugehörigkeit zur Gruppe wird über ein festes Beschreibungskriterium, den Geburtszeitraum, festgelegt, und der damit definierten Gruppe wird eine geteilte Haltung im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte des Lebens, insbesondere des Berufslebens, zugesprochen.546
543
Vgl. bspw. Welt, 15.09.2012, „Katalysator für die Karriere“, SZ, 13.04.2013, „Gespräche auf Augenhöhe“ und Welt, 04.06.2014, „Studenten sind Erfolg und Geld eher unwichtig“. Wenige Belege definieren den Zeitraum auch geringfügig anders, bspw. von 1977 bis 1998, vgl. SZ, 18.04.2015, „Männer fördern Männer“.
544
Der Anglizismus „Digital Native“ rückt das Aufwachsen und den dadurch automatisierten Umgang mit den digitalen Technologien in den Vordergrund. Der Ausdruck „Digital Native*“ findet sich 57 Mal im Korpus. Er wird hier ausschließlich im Vergleich zu der Generationsbezeichnung „Generation Y“ berücksichtigt.
545
Die Bezeichnung und ihre Definition werden im Korpus auf Klaus Hurrelmann zurückgeführt (vgl. Spiegel, 10.11.2014, „Kinder der Stille“ und SZ, 29.08.2014, „Ego-Taktiker überschütten sich gerne mal mit Eiswasser“).
546
Noch im Jahr 2007 war die Bezeichnung noch nicht für das beschriebene Konzept gebräuchlich. Das zeigt sich an früheren Belegen, die die Bezeichnung noch in anderen Kontexten verwenden: vgl. taz, 28.07.2007, „Die ‚Generation Y‘ auf dem Schleichweg der Ausdrucksfreiheit. 100 Prozent kubanisch: mijaíl, dayesi, yusimí“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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Konzeptuelle Verknüpfungen Generation Y und „Why“ (dt. Warum) Auf die Nennung der Bezeichnung „Generation Y“ folgt häufig unmittelbar die Erläuterung des Konzeptes: 340. Das „Y“ in „Generation Y“ klingt englisch ausgesprochen wie „why“, warum. „Warum soll ich mich dem ganzen Stress aussetzen? Warum tun, was mich kaputtmacht?“, so ließe sich Generation Y frei übersetzen. Die Generation Y hat den 11. September miterlebt, sie kennt Patchwork-Familien, die Finanzkrise und Fukushima, sie weiß, dass kaum etwas beständig ist in der Welt – und hält gleichzeitig, geprägt vom grenzenlosen World Wide Web, alles für möglich und erreichbar. Sie will selbstbestimmt und flexibel arbeiten, erklärt die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit sowie Kollegialität für unverzichtbar, Status und Prestige hingegen für überbewertet. So heißt es in einer Studie des Berliner Trendence Instituts. (Spiegel, 22.04.2013, Plattgepaukt) Die Bezeichnung der Generation leite sich ab von der Grundeigenschaft der Generation, alles in Frage zu stellen. Die Bezeichnung weist damit auf die Verknüpfung zu der Sinnfrage Warum (arbeiten/Überstunden machen/keine Freizeit haben)? hin: 341. „Why?“ – „Warum?“. Eine Generation auf der Suche nach Sinn. (SZ, 29.08.2014, Ego-Taktiker überschütten sich gerne mal mit Eiswasser) 342. Warum Karriere? Warum Überstunden? Warum ein hohes Gehalt nur im Austausch gegen geringe Freizeit? Y stellt fast alles in Frage. (Welt, 04.06.2014, Studenten sind Erfolg und Geld eher unwichtig) Generation Y und Ansprüche an Unternehmen In vielen Artikeln wird bereits im Titel oder im zusammenfassenden Einleitungssatz auf die hohen Ansprüche und vielen Erwartungen hingewiesen, die den Mitgliedern der Generation Y zugeschrieben werden: 343. Die nach 1980 Geborenen – also die sogenannte Generation Y – hinterfragen Anweisungen von Vorgesetzten und bestehende Vorgaben, sagt Susanne Böhlich, manchmal aber würden auch unrealistische Erwartungen vorherrschen. (SZ, 13.04.2013, „Gespräche auf Augenhöhe“) 344. Es ist ein Geschenk der Jugend, unbeschwert von den Erfahrungen der Älteren zu sein. Das gilt auch für die Mitarbeiter von morgen. Fragt man sie nach ihren Wünschen, präsentieren sie einen Forderungskatalog, der bei der langjährigen Fach- und Führungskraft für Kopfschütteln sorgt und manch wehmütige Erinnerung weckt. […] Genaugenommen wollen sie alles: eine Position, die
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5 Analyse der Korpora
etwas hermacht, ein überdurchschnittliches Gehalt und möglichst kurze Arbeitszeiten. (SZ, 06.04.2010, Führungsspitzen. Die, die alles wollen)547 Da es sich um eine Generation handelt, die den Arbeitsmarkt gerade betritt, oder kurz davor ist, diesen zu betreten, sind deren Ansprüche, Forderungen und Wünsche demgemäß besonders relevant und beziehen sich zugleich vor allem auf zukünftige Entwicklungen. Die Ansprüche werden unter anderem als „neu“ und „unrealistisch“ gekennzeichnet, aber auch als Potential der neuen Generation, den Arbeitsmarkt und die Unternehmensstrukturen zu verändern. 345. Die junge Generation wisse um ihren Wert und stelle Ansprüche. Sie frage nach neuen Aufgaben, Aufstiegsmöglichkeiten und achte auch darauf, dass das Verhältnis Arbeit und Freizeit nicht aus der Balance gerät. Menges findet das in Ordnung. „Wir wollen ja engagierte und selbstbewusste Mitarbeiter.“ (SZ, 30.07.2013, Ab zur Nachhilfe) Die Bewertung der Ansprüche und Forderungen der Generation differiert von unrealistisch bis hin zu gerechtfertigt und vielversprechend. Die häufige Nennung der Ansprüche, Forderungen und Wünsche sowie deren Bewertung unterscheidet das Sprechen im deutschen und im spanischen Korpus über die Generationen, die im Untersuchungszeitraum auf den Arbeitsmarkt strömen, maßgeblich voneinander. Während in den Texten des spanischen Korpus die Sorge vorherrscht, ob die jungen Menschen überhaupt einen Job finden werden, wird im Kontext der Generation Y über einen jungen, gut ausgebildeten Teil der Gesellschaft gesprochen, der Ansprüche an die Arbeitgeber stellen kann (s. Verknüpfung Generation Y und Bildung). I. Ansprüche der Generation Y: Work-Life-Balance und Flexibilität Die Konzepte ›Generation Y‹ und ›Work-Life-Balance‹ sind eng verknüpft. 346. „Generation Y“ nennt man die jungen Männer und Frauen, die gerade ins Berufsleben starten. Sie haben sich, wie es Sozialforscher konstatieren, dem Ideal eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Arbeit und Privatleben verschrieben, und sie meinen es ernst (Spiegel, 22.04.2013, Plattgepaukt)548 Die Generation strebe ein ausgeglichenes Verhältnis von Beruf und Privatleben an, um Familie und Beruf zu vereinbaren.549 Diese hohe Priorität des Wertes ‚Familie‘ im Kontext von Beruf und Alltag stimmt mit den weiteren Konzeptanalysen überein
547
Vgl. auch Welt, 05.11.2011, „Heute frei, morgen Boss“.
548
Vgl. auch SZ, 13.04.2013, „Gespräche auf Augenhöhe“.
549
Vgl. „Vor allem ein hohes Gehalt? Das war einmal. Für deutsche Hochschüler hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oberste Priorität“ (Welt, 04.06.2014, Studenten sind Erfolg und Geld eher unwichtig).
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(vgl. bspw. 5.2.3.1.1 und 5.2.3.2.2).550 Die Generation Y räume daneben aber weiteren Aspekten des Privatlebens einen hohen Stellenwert ein: Freizeit, Sport, Reisen und Freunde seien der Generation besonders wichtig. 347. Wenn abends im Projekt lange gearbeitet werden muss, sie aber Karten für ein Basketballspiel haben, dann argumentieren sie: Warum soll ich abends im Büro sein? Ich kann das doch am Wochenende nacharbeiten. (SZ, 13.04.2013, „Gespräche auf Augenhöhe“) 348. Das Wichtigste jedoch werden Work-Life-Balance-Programme sein. In Zukunft dürften die Firmen mehr dafür tun müssen, als ihren Mitarbeitern die Jahreskarte fürs Fitnessstudio zu zahlen. Flexible Arbeitszeiten müssen her, und das nicht nur für Eltern. Die jüngeren Mitarbeiter bräuchten die Zeit eben zum Reisen und für ihre Freunde, erklärt Twenge. (SZ, 06.04.2010, Führungsspitzen. Die, die alles wollen) Die Verknüpfungen zu diesen Aspekten, die der Generation Y besonders wichtig sind, machen auf zwei weitere Teilbedeutungen aufmerksam: - ‘Es handelt sich um eine Gruppe von Berufstätigen, die hochqualifiziert ist und als Elite bezeichnet werden kann. Diese Gruppe kann es sich leisten, Ansprüche an ausgewählte Unternehmen zu stellen.’ - ‘Die Unternehmen profitieren davon, den Ansprüchen der Generation gerecht zu werden, weil sie so qualifizierte Arbeitskräfte anwerben und sich die Investition in die Arbeitnehmer auf Unternehmensebene positiv auswirkt.’ Diese zwei Teilbedeutungen können an folgendem Medientext nachvollzogen werden: 349. Was sich Unternehmen alles einfallen lassen, damit junge Mitarbeiter Spaß an ihrem Job haben. Und damit sie gut funktionieren […] Noch fünfzehn Sekunden müssen sie durchhalten. Nur auf den linken Unterarm gestützt stemmen sich acht junge Frauen in neonfarbenen Tops und schwarzen Trainingshosen von ihren Yogamatten. Totale Körperspannung. Ächzer und Seufzer erfüllen den Fitnessraum auf dem Adidas-Campus in Herzogenaurach. Das Sportgelände für Mitarbeiter ist so groß wie 55 Fußballfelder und bietet neben dem Fitnessstudio Beachvolleyballfelder, Tennis- und Basketballplätze. Noch fünfzehn Sekunden im Seitstütz, dann ist das mittägliche Krafttraining vorbei, dann geht es zum Duschen ins Mitarbeiter-Stadion. Normalität in Herzogenaurach, Standard beim Arbeitgeber Adidas. Beruf plus Sport plus Freizeit. Damit ist der Sportartikelhersteller ein typischer Arbeitgeber für eine 550
In vereinzelten Artikeln wird darauf hingewiesen, dass die Generation Y bei fehlender Vereinbarkeit von Beruf und Familie eher auf die Familie als auf den Beruf verzichte: „Wenn das mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht so klappt, wie sie sich das vorstellen, dann verzichten sie lieber. In dem Fall aber nicht auf den Job. Sondern auf Kinder.“ (taz, 14.10.2015, Pragmatisch bis traurig).
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5 Analyse der Korpora
Generation, die das alles auf einmal will. […] „Unternehmen müssen sich um junge Mitarbeiter bemühen, nicht umgekehrt.“ Also bieten sie Sabbaticals und Flexitime. Und Sportangebote. Tennis in der Mittagspause, Yoga nach Feierabend oder ein Kletterkurs zwischendurch. (SZ, 23.11.2013, Schwitzen für die Firma) Der Sportartikelhersteller wird als prototypischer Arbeitgeber für die Generation Y beschrieben, der sich zum einen um die besten Arbeitskräfte bemühen müsse und der zum anderen davon profitiere, in die Gesundheit seiner Mitarbeiter zu investieren: 350. Mit fitten Mitarbeitern machen Unternehmen mehr Profit. Eine Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability an der Hochschule Ludwigshafen beweist: Wer einen Euro in Gesundheitsprogramme steckt, spart 2,30 Euro bei den Krankheitskosten. (ebd.) Sowohl bei der genannten Firma, einem der größten Sportartikelhersteller weltweit, als auch bei den beschriebenen Mitarbeitern handelt es sich um ein privilegiertes, umsatzstarkes Unternehmen und privilegierte Arbeitnehmer, die in Führungspositionen oder höheren Angestelltenverhältnissen in Deutschland arbeiten.551 Im folgenden Beleg wird explizit gemacht, dass führende Unternehmen vor allem an der Förderung vielversprechender Arbeitskräfte interessiert sind, die Führungspositionen übernehmen sollen: 351. „Um heute im Wettbewerb um die Talente mithalten zu können, müssen Unternehmen sich auf eine geänderte Ansprache der Generation Y einstellen“, sagt Gero Hesse, Leiter des Careerloft und Mitglied der Geschäftsleitung der Medienfabrik, eine Tochterfirma der zum Bertelsmann-Konzern gehörenden Arvato AG. (Welt, 15.09.2012 Katalysator für die Karriere. Das Careerloft bringt junge Talente mit Top-Unternehmen zusammen) II. Ansprüche der Generation Y: Geld? Die Ansprüche der Generation Y werden im Korpus mitunter als sehr divers beschrieben: So fordern die Berufseinsteiger flexible und kurze Arbeitszeiten, ein überdurchschnittliches Gehalt, Sportangebote des Unternehmens, Sinnhaftigkeit im Beruf und vieles mehr. Dass die Anforderungen dabei auch widersprüchlich anmuten können, beschreibt der folgende Beleg: 352. Jedes Unternehmen, das glaubt, dass die neue Generation, wenn sie Abwechslung verlangt, keinen Wert mehr auf einen sicheren Arbeitsplatz, legt, liegt völlig falsch. Das ist ein Ammenmärchen. Jede Generation, auch die junge, will einen unbefristeten Arbeitsvertrag, will Planungssicherheit. Auch 551
Vgl. die Analysen des folgenden Konzeptes 5.4.4.3.1 zu weniger privilegierten Arbeitnehmern.
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wenn sie wissen, dass es die für sie so nicht mehr gibt – sie wollen sie trotzdem. Das ist doch ganz klar. Man will doch auch sein Privatleben planen. Man will doch nicht immer mit der Angst leben, dass man im nächsten Jahr keinen Arbeitsplatz mehr hat. [= Interviewantwort der Arbeitswissenschaftlerin Prof. Jutta Rump, Anm. MM] Die Lösung für das Problem wäre also mehr Flexibilität plus Sicherheit? [= Interviewfrage Welt, Anm. MM] Ja genau. Im Prinzip ist das so ein bisschen die Quadratur des Kreises. Sicherheit zu bieten und gleichzeitig flexibel zu sein. Sicherheit im Rahmen des Unternehmens durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag, aber auch Flexibilität in den Strukturen und Prozessen. Nur so und nicht anders wird man die Fach- und Führungskräfte halten können. [= Interviewantwort Jutta Rump, Anm. MM] (Welt, 05.11.2011, Heute frei, morgen Boss) Die Vielfalt der Anforderungen, die gestellt werden, manifestiert sich auch darin, dass in unterschiedlichen Medientexten unterschiedliche Aussagen getroffen werden. So beispielsweise wenn es darum geht, ob der jungen Generation ein hohes Einkommen wichtig ist oder nicht: 353. Das Unternehmen Johnson Controls hat in einer weltweiten Studie 18- bis 25-Jährige befragt, die auch als Generation Y bezeichnet werden, welches Arbeitsumfeld sie sich wünschen. Die Antworten der deutschen Teilnehmer sind unmissverständlich: Sie denken vorrangig ans Geld. „Was ist denn da passiert?“, wird sich jeder Personalverantwortliche fragen. (SZ, 06.04.2010, Führungsspitzen. Die, die alles wollen) 354. SZ: Ichbezogen, ständig online – das charakterisiert die sogenannte Generation Y, also die Menschen, die zwischen 1979 und 1999 geboren sind. Was erwarten diese Leute vom Arbeitsleben? Hennige: Vor allem ein hohes Gehalt. Geld ist für sie die größte Motivation, einen Job anzunehmen oder zu behalten. Interessant ist, dass gute Verdienstmöglichkeiten dabei nicht zwangsläufig mit einer verantwortungsvollen Position einhergehen müssen: Beförderung und Status werden bei den Ypsilonern nur als zweitwichtigstes Ziel formuliert. (SZ, 25.02.2012, Die Zukunft wird bunt) 355. Studenten sind Erfolg und Geld eher unwichtig. Vor allem ein hohes Gehalt? Das war einmal. Für deutsche Hochschüler hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oberste Priorität (Welt, 04.06.2014, = Titel) Insgesamt finden sich Belege, die die Generation Y mit dem Anspruch eines hohen Gehaltes verknüpfen, deutlich seltener als die Belege, die formulieren, dass ihnen vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Alltag sowie die Sinnhaftigkeit im Beruf wichtig sind.
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5 Analyse der Korpora
Generation Y und Bildung Das Konzept ›Generation Y‹ ist auf zweierlei Art und Weise mit dem Konzept ›Bildung‹ verknüpft. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den Berufseinsteigern der Generation Y um eine Gruppe hochqualifizierter junger Menschen, die mit diversen Ansprüchen auf den Berufsmarkt strömen. Dass es sich um qualifizierte Arbeitskräfte handelt, die in (global agierenden) Großunternehmen arbeiten und dort häufig Führungspositionen anstreben, zeigt sich in den bislang zitierten Belegen, in denen international agierende Großunternehmen wie Adidas als Arbeitgeber genannt werden (Beleg 349), aber auch durch den allgemeinen Kontext, der durch den Forderungskatalog aufgerufen wird (Beleg 347, 348). Das Konzept ›Bildung‹ wird zum einen verknüpft, indem geschildert wird, dass der Generation Bildung besonders wichtig sei und dass sie selbst über hohe Bildungsabschlüsse verfüge: 356. Trotz der hohen Individualität und der unterschiedlichen familiären Hintergründe gibt es historische Ereignisse, die Generationen prägen. Die Generation Y glaubt, dass sie im Gegensatz zur Generation X viel mehr investieren muss, auch in Bildung, um nicht auf der Strecke zu bleiben. […] Junge Menschen stellen die korrekte Diagnose, dass man in dieser Gesellschaft nur durch eine hohe persönliche Bildung weiterkommt. Dabei geht es sogar nur um hohe Bildungsabschlüsse, um Zertifikate. Was ich inhaltlich lerne, steht nicht mehr im Vordergrund. Hier tritt die starke Kosten-Nutzen-Orientierung der Ego-Taktiker hervor. [= Interviewantworten des Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann, Anm. MM] (SZ, 29.08.2014, Ego-Taktiker überschütten sich gerne mal mit Eiswasser)552 Zum anderen wird im selben Artikel beschrieben, dass die Beschreibung der Generation Y, wie sie zuvor im Artikel vorgenommen wurde (und in der vorliegenden Arbeit über die Darstellung der Verknüpfungen geleistet wurde), nicht auf alle Personen zutrifft, die zwischen 1980 und 1990 geboren sind: 357. Nein, die Beschreibung der Generation Y trifft nicht auf die ganze Breite zu. Etwa ein Fünftel sind sozial abgehängt. Ein Symptom dafür, dass einige junge Leute nicht mit dem Tempo mithalten können, das heute gelebt wird. Diese Gruppe vor allem junger Männer sieht jetzt schon keine Chancen für sich und hat viele der für die Generation Y typischen Grundmentalitäten nicht entwickelt. [Interviewantwort des Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann, Anm. MM] Sind diese Abgehängten typisch für die Generation Y? [= Interviewfrage SZ, Anm. MM] Nein, die gab es schon immer. Neu ist, dass ihr relativ geringer Bildungsgrad ihnen heute nicht mehr gestattet, eine gesellschaftliche Posi552
Im zitierten Beleg wird kritisch angemerkt, dass es sich um Bildungsabschlüsse handelt, mit denen nicht zwangsläufig eine inhaltliche Qualifikation einhergeht.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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tion zu erreichen. Die Distanz zum Rest der Generation ist groß geworden. Sie sind anfällig für extreme, vor allem rechtsradikale Positionen. Ihr Protestpotenzial übersetzt sich aber nicht in einen nach außen sichtbaren Protest. [= Interviewantwort Klaus Hurrelmann, Anm. MM] (ebd.) Im Korpus wird diese relativ kleine Gruppe der sogenannten „Abgehängten“ nur am Rand erwähnt; die Darstellung der typischen Gruppenmitglieder der Generation Y nimmt sehr viel mehr Raum ein. Bewertung des Konzeptes Die Bewertung des Generationenkonzeptes ist insbesondere im Vergleich zum spanischen Korpus interessant. Es fällt auf, dass sich die Bewertungen rund um das Konzept ›Generation Y‹ weniger eindeutig und weniger despektierlich gestalten als im Falle des spanischen Konzeptes ›generación ni-ni‹, das sehr negativ bewertet wird. Das deutsche Konzept und die deutsche Bezeichnung werden weniger stark kritisiert. Mitunter wird die Generationsbezeichnung im deutschen Korpus als Selbstbezeichnung von einzelnen Gruppenmitgliedern übernommen. Der Generation werden hohe Ansprüche an (zukünftige) Arbeitgeber zugesprochen. Diese werden in einigen Medientexten als „unrealistisch“ und „widersprüchlich“ gekennzeichnet. In anderen Belegen wird darauf verwiesen, dass eine junge Generation es sich leisten könne, unrealistische Ansprüche zu vertreten (Beleg 344), und dass sich Flexibilität und Sicherheit nicht widersprechen müssten (Beleg 352). Die unterschiedliche Bewertung der beiden Generationen im deutschen und im spanischen Korpus wird im Folgekapitel zur spanischen „generación ni-ni“ genauer beschrieben. An dieser Stelle sei bereits darauf hingewiesen, dass sich die weniger einstimmigen Bewertungen der deutschen „Generation Y“ darauf zurückführen lassen, dass das Konzept und die Generationsbezeichnung keine so starke Wertung an sich bindet wie die spanische Bezeichnung.
Bei dem Ausdruck „Generation Y“ handelt es sich um eine Analysekategorie und eine Gruppenbezeichnung: Mit der Bezeichnung wird zugleich ein distinktives Merkmal der Gruppe benannt, nämlich, dass sie alles in Frage stellt.
‘Die Generation Y (ausgesprochen Why, dt. Warum) stellt alles in Frage: Die Generation sucht nach Sinn im Privatleben und im Beruf und stellt die Bedingungen der bestehenden Arbeitswelt in Frage.’
‘Die Generation Y stellt neue Ansprüche an Unternehmen.’
Metadiskursive Deutung
Befund
Der Generation werden viele Ansprüche, Forderungen und Wünsche zugeschrieben, die sich auf die zukünftigen Arbeitsverhältnisse der Generation beziehen (es handelt sich um junge Menschen, die den Arbeitsmarkt demnächst oder aktuell betreten oder ihn gerade betreten haben). Die Generation wird besonders über ihre
Bei den meisten Gruppenmerkmalen handelt es sich um Ansprüche und Forderungen, die den Gruppenmitgliedern zugeschrieben werden. Das einzig feste Merkmal ist der Geburtszeitraum, der die Generation von vorausgegangenen (Generation X) und nachfolgenden (Generation Z) Generationen abgrenzt.
Generation junger Menschen, die zwischen 1980 und 1990 geboren wurden. Die Generation steht kurz vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt und stellt neue Ansprüche an Unternehmen, die die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und das Gehalt betreffen. Die Mitglieder der Generation sind zumeist gut ausgebildet und mit digitalen Technologien aufgewachsen.
›Generation Y‹
Zukunft
Zuschreibungsebene
(kultur-)spezifische Bezeichnung
Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 48: Konzept ›Generation Y‹
392 5 Analyse der Korpora
- ‘Eine kleine Gruppe der zwischen 1980 und 1990 Geborenen ist sozial abgehängt, da sie nicht über die Ausbildung und die Bildungsabschlüsse der Generation Y verfügen.’
- Dabei sind Abschlüsse und Zertifikate häufig wichtiger als die tatsächliche fachliche Qualifikation.
- ‘Die Generation ist von Unsicherheiten geprägt und weiß, dass sie in Bildung investieren muss.
‘Die Generation Y ist jung und hochqualifiziert.’
‘Die Generation legt viel Wert auf ein hohes Gehalt.’
≠
Die Generationsbezeichnung ist widersprüchlich, da sie zum einen auf alle Personen zu verweisen versucht, die in einem bestimmten Zeitraum geboren sind, und zum anderen explizite Ansprüche und Beschreibungen vornimmt, die nicht auf alle Personen zutreffen.
Die Mehrheit der Generation verfügt über eine überdurchschnittliche Ausbildung und ein Studium. Auf eine kleine Gruppe von „Abgehängten“ wird am Rande hingewiesen.
Die Anforderungen widersprechen sich teilweise (geringe Wichtigkeit des Gehalts vs. große Wichtigkeit des Gehalts).
‘Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit ist der Generation Y wichtiger als ein hohes Gehalt.’
- da Unternehmen davon profitieren, in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter, insbesondere von Führungskräften und qualifizierten Angestellten, zu investieren.’
- da Unternehmen um die besten Nachwuchsarbeitskräfte bemüht sind.
Hochqualifizierte, junge Berufstätige, die aufgrund ihrer Ausbildung dazu privilegiert sind, stellen Anforderungen an Unternehmen. Einige Unternehmen schaffen Angebote, um vielversprechende Nachwuchskräfte anzuwerben und weil sie von der Investition profitieren. Dabei handelt es sich vor allem um international agierende Großunternehmen.
Der Generation werden neue Werte zugeschrieben. Das Hochwertkonzept ›Familie‹ wird erneut betont, daneben werden andere Werte als wichtig gekennzeichnet.
‘Unternehmen wie adidas, SAP etc. bieten Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben an,
- ‘Die Generation will Beruf und Freizeit (Sport, Reisen, Freunde) vereinbaren.’
- ‘Die Generation will Beruf und Familie vereinbaren.’
‘Die Generation Y fordert von potentiellen Arbeitgebern Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben.’
Ansprüche definiert, die Narration bezieht sich auf die unmittelbare Zukunft.
Agonalität in Generationsbezeichnung
Agonalität
Verknüpfung mit Hochwertkonzept
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
393
394
5 Analyse der Korpora
5.4.3.2.2 Spanisches Konzept ›Generación ni-ni‹ (dt. Generation weder-noch) Der Ausdruck „generación ni-ni“ (gelegentlich auch „generación nini“) findet sich 35 Mal im spanischen Korpus. Im Folgenden wird die Darstellung der Konzepte ›generación ni-ni‹ im spanischen und ›Generation Y‹ im deutschen Korpus verglichen, da sie sich aufgrund des ähnlichen Alters der beschriebenen Gruppenmitglieder und der pointierten Generationsbezeichnung besonders für die Gegenüberstellung eignen.553 Sprachliche Konstituierung Die Gruppenbezeichnung „generación ni-ni“ beschreibt eine Generation von jungen Menschen in Spanien, die weder studieren (ni estudian) noch arbeiten (ni trabajan). Das feste Beschreibungskriterium ist also, dass die Gruppenmitglieder keinem Studium und keiner Arbeit nachgehen. Die Altersangabe variiert im Korpus zwischen jüngstens 15 und ältestens 35 Jahren; mitunter wird die Gruppe auch auf die 20- bis 24-Jährigen beschränkt. Es handelt sich um die jungen Menschen, die im Jahr 2009 und den darauffolgenden Jahren ein Alter erreichen, in dem sie einen Beruf, eine Ausbildung oder ein Studium ergreifen könnten. Die weiteren Charakteristika der Generation ni-ni sind im spanischen Korpus umstritten: Als Ursache der Tätigkeitslosigkeit der Generation wird auf der einen Seite auf die Haltung der Generation verwiesen, die nicht arbeiten und nicht studieren möchte, und auf der anderen Seite auf das Bildungsund Wirtschaftssystem Spaniens, das die zukünftigen Arbeitnehmer nicht richtig qualifiziere und ihnen keine Arbeitsstellen biete. Konzeptuelle Verknüpfungen Generación ni-ni und aktuelle wirtschaftliche Situation in Spanien: (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Krise und das spanische Wirtschaftssystem Die Verknüpfung der Konzepte ›generación ni-ni‹ und ›(Jugend-)Arbeitslosigkeit in Spanien‹, die sich angesichts der schlechten Wirtschaftssituation und der ›Krise‹ in den Jahren 2009, 2010 und 2011 verschärft hat, ist im Korpus als häufige Kollokation auszumachen. Die Situation der jungen Generation wird häufig in diesem Kontext situiert: 358. La publicación del informe Panorama de la Educación 2012 nos permite ahondar todavía más en las razones de una crisis tan profunda y en las dificultades que España va a encontrar para salir de ella. A pesar de que líderes mundiales como Mandela afirman que la educación es el arma más poderosa para cambiar el mun553
Die spanische Generationsbezeichnung ist von der Gruppenbezeichnung „generación perdida“ (dt. verlorene Generation) abzugrenzen, die sich weniger gut für den Vergleich eignet, da sie kein für Spanien spezifisches Konzept bezeichnet. Im Korpus wird des Weiteren auf ältere Arbeitnehmer verwiesen, die von dem Eintritt der jüngeren Generation beeinflusst werden (Mundo, 12.09.2010, Se agota la generación de reemplazo).
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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do, preferimos priorizar cuestiones de rédito cortoplacista, que poco aportan al verdadero fortalecimiento económico y social de un país. […] Y no es de extrañar que, tras el derrumbe de nuestra economía, nuestro país duplique la tasa media de la OCDE en cuanto a población que ni estudia ni trabaja, la generación ni-ni. (Mundo, 09.10.2012, El panorama de nuestro sistema educativo)554 Die Zahl der jungen Menschen, die weder arbeiten noch studieren, sei doppelt so hoch wie der Durchschnitt der übrigen OECD-Staaten. Dies überrasche angesichts des Wirtschaftseinsturzes in Spanien nicht; man setze statt auf Bildung lieber auf kurzfristige Maßnahmen, die die Wirtschaft nicht nachhaltig stärkten. 359. El Gobierno que salga elegido en las elecciones de hoy tendrá que tomar muchas decisiones para hacer frente a los problemas del desempleo, del mercado inmobiliario, del sistema financiero, de la crisis del euro, etcétera. Cuando tome estas decisiones, debe ser consciente en todo momento de que la acción de gobierno necesita orientarse hacia el segmento más azotado por la crisis: los jóvenes. (País, 20.11.2011, Prioridad: los jóvenes)555 Die Angehörigen der jungen Generation werden als Hauptbetroffene der Probleme des spanischen Wirtschaftssystems konzeptualisiert. Sie gehören damit zu der Gruppe von Bürgern, für die die neu gewählte Regierung 2011 dringend eine Handlungsstrategie ausarbeiten müsse. Von der hohen Arbeitslosigkeit, der schwierigen Situation des Immobilienmarktes und des Finanzsystems sowie von der Eurokrise sehe sich eine große Gruppe junger Menschen betroffen, von denen die Hälfte weder arbeite noch studiere: 360. Es decir, estamos hablando de un problema que afecta a cerca de un millón de jóvenes, de los que la mitad ni estudian ni trabajan, la llamada generación ni-ni. (ebd.)556 554
Dt. Die Veröffentlichung des Berichts Bildungspanorama 2012 erlaubt uns, die Gründe einer tiefliegenden Krise und die Schwierigkeiten, denen Spanien begegnen wird, um sie zu überwinden, weiter zu ergründen. Obwohl globale Führungspersönlichkeiten wie Mandela bekräftigen, dass Bildung die wirkungsvollste Waffe ist, um die Welt zu verändern, bevorzugen wir kurzfristige Erträge, die wenig zu der wirklichen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stärkung eines Landes beitragen. […] Und es verwundert nicht, dass die Zahl der Menschen, die nicht studieren und nicht arbeiten, die Generation ni-ni, nach dem Sturz unserer Wirtschaft in unserem Land doppelt so hoch ist wie der Durchschnitt der OECD.
555
Dt. Die Regierung, die aus den heutigen Wahlen hervorgehen wird, wird viele Entscheidungen treffen müssen, um den Problemen der Arbeitslosigkeit, des Immobilienmarktes, des Finanzsystems, der Eurokrise usw. die Stirn zu bieten. Wenn sie diese Entscheidungen trifft, muss ihr immer bewusst sein, dass sich das Handeln der Regierung auf den am meisten von der Krise betroffenen Teil der Gesellschaft ausrichten muss: die Jungen.
556
Dt. Das heißt, wir sprechen über ein Problem, das fast eine Million junger Menschen betrifft, von denen die Hälfte nicht studiert und nicht arbeitet, die sogenannte Generation ni-ni.
396
5 Analyse der Korpora
In dieser Beschreibung wird eine große Gruppe junger Menschen als Generation ni-ni aufgefasst; in anderen Belegen finden sich zugespitztere Gruppenkonstituierungen, die die Gruppe durch weitere Beschreibungskriterien verkleinern. Generación ni-ni und das spanische Bildungssystem Das spanische Wirtschaftssystem wird als allgemeiner, problematischer Kontext der Generation ni-ni und deren Arbeitslosigkeit angeführt. Das spanische Bildungssystem wird ebenfalls verknüpft und die Problematik dabei als zweifache dargestellt: Zum einen setzten viele junge Menschen ihre Ausbildung nach der obligatorischen educación obligatoria (dt. Schulpflicht), die bis zum 16. Lebensjahr dauert, nicht fort oder brechen diese bereits zuvor ab.557 Zum anderen führe die mangelhafte Bildung einer nachfolgenden Generation zu einem Fachkräftemangel in den Berufsfeldern der Zukunft, die die wirtschaftliche Situation in Spanien verbessern könnten: 361. Los datos hablan de graves problemas económicos y de competitividad para el futuro; de un claro desequilibrio entre la realidad educativa y las necesidades del nuevo mercado laboral; […] y de la triste evidencia de que la escasa generación de reemplazo es cada vez más insuficiente y está menos cualificada. (Mundo, 12.09.2010, Se agota la generación de reemplazo)558 Die junge Generation, die ihre Ausbildung nach dem Schulabschluss nicht fortgesetzt habe, werde Schwierigkeiten haben, sich in die Wissensgesellschaft einzufügen und technische Berufe zu ergreifen, in denen die Zukunft liege, so die Medientexte. Es sei eine Sache der Unmöglichkeit, aus dem „Loch“ der Wirtschaftskrise zu kommen, wenn die Bildung von großen Teilen einer Generation mangelhaft sei. Zugleich verhindere die geringe Bildung, dass die Berufe der Zukunft Spanien aus der Wirtschaftskrise verhelfen können. Im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern hätten sich die Zahlen der Jugendlichen ohne Ausbildung oder ganz außerhalb des Bildungssystems in den letzten 15 Jahren nicht verbessert.559 Die Begründung dieser unterschiedlichen Entwicklungen ist unklar: So wird als Grund die hohe Einwanderungszahl in Spanien angeführt und unmittelbar wieder verworfen, da sich ausgerechnet in dieser Gruppe die Bildungsabschlüsse erhöht hätten. Stattdessen wird darauf aufmerksam gemacht, dass das spanische Bildungssystem zum Schul- und Ausbildungsabbruch führe. Als Lösung 557
Vgl. Mundo, 09.10.2012, „El panorama de nuestro sistema educativo“.
558
Dt. Die Daten verweisen auf große zukünftige Probleme in der Wirtschaft und der Wettbewerbsfähigkeit; auf ein deutliches Ungleichgewicht zwischen der (Aus-)Bildungslandschaft und den Anforderungen eines neuen Arbeitsmarktes; […] auf die traurige Tatsache, dass die zu spärliche Nachfolgegeneration nicht ausreichend und weniger qualifiziert ist.
559
Vgl. País, 20.11.2011, „Prioridad: los jóvenes“ und Mundo, 09.10.2012, „El panorama de nuestro sistema educativo“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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wird im zitierten Medientext auf die dualen Ausbildungsformate in Deutschland,560 Österreich und der Schweiz hingewiesen: 362. ¿Cuál es la solución? Varios países centroeuropeos (Alemania, Austria, Suiza) han adoptado un modelo de formación dual, basado en la idea del aprendizaje, en el que se alternan la educación en la escuela y el aprendizaje remunerado en la empresa. Estos países, caracterizados por tener las menores tasas de paro juvenil, hace ya tiempo que apostaron por un modelo que capacita a los jóvenes para su entrada en el mercado de trabajo, cubriendo a la vez las necesidades de las empresas y garantizando que existan suficientes especialistas y cuadros en el futuro. (País, 20.11.2011, Prioridad: los jóvenes)561 Die Belege prognostizieren insbesondere den Fachkräftemangel auf dem Sektor der neuen Technologien und fordern hier qualifizierte Arbeitskräfte. Darüber hinaus wird aber auch auf die Notwendigkeit kultureller Kompetenzen hingewiesen: 363. Las nuevas generaciones necesitarán una alta capacidad relacional a todos los niveles; una apertura de miras y cultural desde el principio; una faceta internacional relevante, que les lleve a ser eficaces en diferentes culturas, y también a innovar, convirtiendo las dificultades en posibilidades o retos. (Mundo, 12.09.2010, Se agota la generación de reemplazo)562 Nur so könne sich aus der sogenannten „generación ni-ni“ eine „generación sí-sí“ entwickeln, die sowohl studiere als auch arbeite.563 In beiden bislang dargestellten Verknüpfungen der Generation ni-ni und der wirtschaftlichen Situation Spaniens sowie des spanischen Bildungssystems wird die Arbeitslosigkeit der jungen Generation auf das bestehende Wirtschafts- und Bildungssystem in Spanien zurückgeführt: Die Schuld an der prekären Lage einer Generation wird auf eine abstrakte Einheit – das „System“ – verlagert. 560
Vgl. País, 23.10.2012, „España pierde 15.700 millones por los jóvenes que ni estudian ni trabajan“.
561
Dt. Was ist die Lösung? Verschiedene zentraleuropäische Länder (Deutschland, Österreich, Schweiz) haben ein duales Ausbildungsmodell eingeführt, das auf einem Lernkonzept beruht, in dem sich die Bildung in der Schule und die vergütete Lehre im Unternehmen abwechseln. Diese Länder, die sich durch die niedrigsten Jugendarbeitslosigkeitszahlen auszeichnen, setzen bereits seit einiger Zeit auf ein Modell, dass junge Menschen für den Eintritt in den Arbeitsmarkt schult und dabei die Bedürfnisse der Unternehmen abdeckt und garantiert, dass es in der Zukunft ausreichend Spezialisten und Personalkräfte gibt.
562
Dt. Die neuen Generationen werden eine hohe Kompetenz für soziale Beziehungen auf allen Ebenen benötigen; eine offenere Haltung und Kultur von Beginn an; eine maßgebliche internationale Facette, die sie dazu bringt, in verschiedenen Kulturen leistungsfähig zu sein und auch Neuerungen einzuführen, mit denen die Schwierigkeiten in Möglichkeiten und Herausforderungen umgewandelt werden.
563
Vgl. „Nuestro objetivo es dar paso a la generación sí-sí, jóvenes que trabajan y estudian y que representan el motor de nuestro progreso.“ (Dt. Unser Ziel ist es, der Generation sí-sí [ja-ja] Zugang zu verschaffen, junge Menschen, die arbeiten und studieren und die den Motor unserer Entwicklung darstellen. Mundo, 09.10.2012, El panorama de nuestro sistema educativo).
398
5 Analyse der Korpora
Generación ni-ni und Haltung der Generation Im Kontrast zu den bisher genannten Bestimmungen der Generation Y finden sich auch Belege, die die Generation über eine Haltung der Mutlosigkeit und Unmotiviertheit definieren: 364. Tan preparados y satisfechos con sus vidas, y tan vulnerables y perdidos, nuestros jóvenes se sienten presa fácil de la devastación laboral, pero no aciertan a vislumbrar una salida airosa, ni a combatir este estado de cosas. El dato asomaba hace poco, sin estrépito, entre los resultados de la última encuesta de Metroscopia: el 54% de los españoles situados entre los 18 y los 34 años dice no tener proyecto alguno por el que sentirse especialmente interesado o ilusionado. ¿Ha surgido una generación apática, desvitalizada, indolente, mecida en el confort familiar? Los sociólogos detectan la aparición de un modelo de actitud adolescente y juvenil: la de los ni-ni, caracterizada por el simultáneo rechazo a estudiar y a trabajar. “Ese comportamiento emergente es sintomático, ya que hasta ahora se sobrentendía que si no querías estudiar te ponías a trabajar. Me pregunto qué proyecto de futuro puede haber detrás de esta postura”, señala Elena Rodríguez, socióloga del Instituto de la Juventud (INJUVE). (País, 22.06.2009, Generación ‘ni-ni’: ni estudia ni trabaja)564 565 In dem Beleg wird deutlicher hervorgehoben, dass die Generation es ablehne zu studieren und dass sie auch über das fehlende Studium hinaus über keine Projekte verfüge, für die sie sich interessiere. All dies wird im zitierten Beleg als jugendliche Haltung von Halbwüchsigen beschrieben, die sich damit zur einfachen Beute einer verheerenden Situation erklärten. Dies sei unter anderem deshalb so, weil Hingabe, Verbindlichkeit, Studium und Abschluss nicht mehr zur entsprechenden sozialen und beruflichen Anerkennung führten.566 Die „generación ni-ni“ verfalle deshalb beispiels weise in die
564
Dt. So bereit für das Leben und zufrieden, und so verletzlich und verloren. Unsere Jungen fühlen sich als leichte Beute der verheerenden Arbeitssituation und sie schaffen es nicht, einen Weg zu sehen, glimpflich davonzukommen oder den Zustand der Dinge zu bekämpfen. Diese Angabe erschien vor kurzem ohne großes Aufsehen in den Ergebnissen der letzten Umfrage von Metroscopia: 54% der Spanier zwischen 18 und 34 Jahren sagen, dass sie kein Projekt haben, für das sie sich besonders interessieren oder über das sie sich freuen. Handelt es sich um eine gleichgültige, leblose und träge Generation, aufgehoben in der Komfortzone der Familie? Die Soziologen entdecken das aufkommende Modell einer pubertären und jugendlichen Haltung: Die der Generation ni-ni, die sich durch die gleichzeitige Verweigerung der Arbeit und des Studiums charakterisieren. „Dieses neu aufkommende Verhalten ist symptomatisch, denn bisher war es selbstverständlich, dass man zu arbeiten begann, wenn man nicht studieren wollte. Ich frage mich, welches Zukunftsprojekt hinter dieser Haltung stecken kann“, bemerkt Elena Rodríguez, Soziologin des Instituts für Jugendforschung (INJUVE).
565
Vgl. auch Mundo, 12.09.2010, „Se agota la generación de reemplazo“.
566
Vgl. auch País, 22.06.2009, „Generación ‚ni-ni‘: ni estudia ni trabaja“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
399
Haltung des presentismo, 567 der hier als verstärkte Neigung, im Moment zu leben, beschrieben wird: 365. A eso, hay que sumar un acusado pragmatismo —nuestros chicos son poco idealistas—, y lo que los expertos llaman el “presentismo”, la reforzada predisposición a aprovechar el momento, “aquí y ahora”, en cualquier ámbito de la vida cotidiana. De acuerdo con los estudiosos, esa actitud responde tanto a la sensación subjetiva de falta de perspectivas, como al hecho de que el alargamiento de la etapa juvenil invita a no desperdiciar “los mejores años de la vida” (ebd.)568 Die junge Generation verschiebe es auf später, Verantwortung zu übernehmen. In einigen wenigen Belegen wird das Freizeitverhalten und der Alkoholkonsum des botellón – des Trinkens auf der Straße oder öffentlichen Plätzen – mit der Verweigerung zu arbeiten und zu studieren verknüpft.569 In einzelnen Fällen wird der Blick auf junge Generationen in weiteren Ländern gerichtet, denen eine andere Haltung im Umgang mit ähnlich prekären Situationen unterstellt wird. So wird US-amerikanischen jungen Berufseinsteigern eine „actitud emprendedora“ (dt. Haltung des Unternehmergeistes) zugeschrieben.570 Generación ni-ni und ihre Eltern Die Eltern der Generation ni-ni werden in einigen Medientexten des spanischen Korpus angesprochen: Die junge Generation emanzipiere sich spät von ihren Eltern; zum einen, weil dies aufgrund der wirtschaftlichen Lage schwierig sei, zum anderen, weil sie es mitunter ablehne, Verantwortung zu übernehmen. Oft wohnen junge Menschen lange bei ihren Eltern.
567
Dem Ausdruck wird hier eine andere Bedeutung zugeordnet als in den zuvor analysierten Belegen des spanischen Medienkorpus (vgl. Kapitel 5.2.3.2.1). In diesen wurde mit dem Ausdruck die überflüssig lange Anwesenheit spanischer Berufstätiger am Arbeitsplatz bezeichnet.
568
Dt. Dazu kommt noch der Pragmatismus hinzu – unsere Kinder sind wenig idealistisch – und das, was die Experten „presentismo“ nennen, die verstärkte Neigung, den Moment zu genießen, „hier und jetzt“, in jedem Bereich des täglichen Lebens. In Übereinstimmung mit den Studienergebnissen ist diese Haltung die Antwort auf das subjektive Gefühl des Fehlens der Perspektiven wie auch auf die Tatsache, dass die Verlängerung der Zeit der Jugend dazu auffordert, „die besten Jahre des Lebens“ nicht zu vergeuden.
569
Es handelt sich bei dieser Verknüpfung einer Studie jedoch um ein Einzelbeispiel, vgl. País, 24.04.2003, „Un informe revela la situación de precariedad e inestabilidad laboral de los jóvenes de Alicante“.
570
Vgl. Mundo, 12.09.2010, „Se agota la generación de reemplazo“.
400
5 Analyse der Korpora
366. Esta precariedad laboral dificulta a los jóvenes emanciparse de sus padres y comprarse su primera vivienda. (País, 22.06.2004, El trabajador menor de 35 años sufre el doble de accidentes y cobra hasta un 37% menos de sueldo)571 572 367. […] todos tienen en común una característica: carecen de sentimiento de culpa. De hecho, suelen atribuir a sus padres la situación que padecen: “Que no me hubiesen tenido”, es la respuesta. El informe señala que la mayoría del colectivo ni-ni tiene entre 20 y 24 años. Son jóvenes que se encuentran en una especie de “infancia tardía” que acaban superando. El director del Injuve, Gabriel Alconchel, lanza un mensaje a los padres: “Quien no trabaja no come”. (Mundo, 25.03.2011, La crisis acaba con los ‘ni-ni’)573 Die Generation sei in einem Umfeld aufgewachsen, in dem sich der Lebensstandard der Eltern beständig verbessert habe. Allerdings weisen Mitglieder der jungen Generation auch darauf hin, dass die Eltern zwar sehr viel gearbeitet hätten, dass sie dabei aber nicht unbedingt glücklich gewesen seien und dass man diese Haltung nicht übernehmen wolle. 368. „Miramos con descrédito la vida que nos ofrece la sociedad. Nuestros padres trabajaron mucho y se hipotecaron de por vida, pero tampoco les hemos visto muy felices. No es eso lo que queremos. La gente tiene pocas prisas para hacerse mayor”, explica Letizia Tierra, voluntaria de una ONG. (País, 22.06.2009, Generación ‘ni-ni’: ni estudia ni trabaja)574 Generación ni-ni und Proteste Einige wenige Belege des spanischen Korpus verknüpfen die junge Generation ni-ni mit den Protesten des 15. März 2011.
571
Dt. Diese prekären Arbeitsverhältnisse erschweren es den jungen Menschen sich zu emanzipieren und die erste eigene Wohnung zu kaufen.
572
In Spanien, wie auch in anderen südlichen Ländern, scheint es üblicher zu sein, Immobilien zu kaufen als zu mieten. Dies wird auch durch weitere Artikel bestätigt, die auf Schwierigkeiten bei der Finanzierung eines eigenen Hauses verweisen, vgl. País, 22.06.2009, „Generación ‘ni-ni’: ni estudia ni trabaja“.
573
Dt. […] alle weisen eine Gemeinsamkeit auf: Es fehlt ihnen das Gefühl der Schuld. Tatsächlich ist es üblich, dass sie die Situation, unter der sie leiden, ihren Eltern zuschreiben: „Hätten sie mich doch nicht gehabt“, ist die Antwort. Der Bericht zeigt, dass die Mehrheit des Kollektivs ni-ni zwischen 20 und 24 Jahren alt ist. Es handelt sich um junge Menschen, die sich in einer Art „verspäteter Kindheit“ befinden und diese gerade überwinden. Der Direktor der Studie (Injuve), Gabriel Alconchel, formuliert eine Botschaft an die Eltern: „Wer nicht arbeitet, isst nicht“.
574
Dt. Wir sehen das Leben, das uns die Gesellschaft bietet, als wertlos an. Unsere Eltern haben viel gearbeitet und sich mit Hypotheken für das ganze Leben belastet. Und wir haben sie auch nicht besonders glücklich gesehen. Die Leute haben es nicht eilig, erwachsen zu werden“, erklärt Letizia Tierra, Freiwillige in einer NGO.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
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369. En cambio, ha sido la generación inmediatamente posterior —esa que algunos llaman generación ni-ni y otros, generación perdida— la que, cuando la nueva crisis mostró sus fauces y nosotros volvimos a perder una vez más nuestros trabajos, se echó a la calle y dio forma al único gesto con algo de sentido en todos estos años: el 15-M. (País, 05.01.2013, Responsabilidad generacional)575 Einige Belege verweisen auf die Proteste in anderen Ländern, die sich gegen die Wirtschaftskrise und die Regierungen richten.576 Von der spanischen jungen Generation werden Proteste befürchtet, seltener wird jedoch darüber berichtet, dass diese Proteste tatsächlich eintreten.577 Bewertung des Konzeptes Die analysierten Verknüpfungen des Konzeptes ›Generación ni-ni‹ weisen zwei unterschiedliche Bewertungsfacetten auf. Erstens: Die Gruppenmitglieder – die jungen Unbeschäftigten oder Nichtstudierenden also – werden in den Belegen des spanischen Medienkorpus als Opfer dargestellt, denen durch ein schlechtes Wirtschaftssystem und ein schlechtes Bildungssystem die Chance auf eine gute Arbeit und eine gute Zukunft verwehrt bleibt. Zweitens: Zur Generation ni-ni werden junge Menschen gezählt, die keiner Arbeit und keinem Studium nachgehen, weil sie sich unter anderem aufgrund der prekären Lage des Arbeitsmarktes dafür entscheiden. Der maßgebliche Unterschied in der Konzeptualisierung der Gruppe ist, ob den Gruppenmitgliedern unterstellt wird, dass sie sich selbst für ihre Untätigkeit entschieden haben oder nicht. Wenn die Entscheidung der Generation ni-ni zur Untätigkeit in den Zeitungstexten in den Vordergrund gestellt wird, folgt stets eine negative Bewertung der Gruppe, wie sie in der Verknüpfung Generación ni-ni und Haltung der Generation nachvollzogen werden kann. Die jungen Menschen werden als unmotiviert dargestellt und als Teil einer Generation, die keine Verantwortung in den „besten Jahren des Lebens“ übernehmen möchte (Beleg 365). Das Konzept weist darüber hinaus eine Besonderheit auf: Mit der Benennung der Gruppe als „generación ni-ni“ wird über die doppelte Negationspartikel „ni“ („ni-ni“, dt. weder…noch) ein Negativaspekt eingebracht, der die Bewertung der Generation vorwegnimmt: Es handelt sich um eine Generation, die weder arbeitet noch studiert, die dies vielleicht auch gar nicht möchte, und die sich nicht in die Gesellschaft eingliedert. Der Generation wird damit eine eindeutiger definierte und folgenschwerere 575
Dt. Auf der anderen Seite war es die unmittelbar nachfolgende Generation – die einige Generation ni-ni und andere verlorene Generation nennen –, die, als die neue Krise ihren Schlund zeigte und wir erneut unsere Arbeitsplätze verloren, auf die Straße ging und ihrem Gefühl der ganzen Jahre mit einer einzigen, gemeinsamen Geste Form verlieh: dem 15-M [Bewegung des 15.03.2011].
576
Vgl. bspw. den Artikel „A las barricadas para no pagar el pato de la crisis“ (Mundo, 18.12.2010), der auf Proteste zur europäischen Wirtschaftskrise in London, Rom, Griechenland und Paris verweist.
577
Vgl. País, 13.04.2011, „Nuestros hijos son rentables“.
402
5 Analyse der Korpora
Handlungsweise und Haltung unterstellt als der „Generation Y“, deren Name auf ihre charakteristische Haltung des Hinterfragens hindeutet. Diese Benennung der Generation in Spanien führt dazu, dass die Bezeichnung häufig als unzutreffend und ungerechtfertigt kritisiert wird: 370. Rodríguez considera exagerado el término ‘generación ni-ni’. “La OCDE sitúa en un 13% los jóvenes españoles que no estudian ni trabajan, pero eso no significa que no estén dispuestos a hacerlo […]”. (Mundo, 18.12.2010, A las barricadas para no pagar el pato de la crisis)578 Besonders oft finden sich Stimmen aus der Generation selbst, wie in den folgenden Belegen: 371. Como estudiante de 17 años a punto de entrar en la universidad, el apelativo insultante de generación ni-ni que tanto se ha extendido me desagrada enormemente. No sólo porque puede sugerir que la dejadez en los estudios o el trabajo es común entre los jóvenes y adolescentes, sino porque la sociedad ve en este sector una cabeza de turco culpando a los jóvenes de la situación actual. (Mundo, 14.04.2011, Cartas al director)579 372. #Pertenecemos a la ‘Generación Ni-In’ Sr. Director: Tengo 16 años y estudio bachillerato, trabajo, me esfuerzo... No estoy de acuerdo en lo que actualmente se proyecta como Generación Ni-Ni, jóvenes que rechazan estudiar y trabajar. El saco donde zambullen a los jóvenes hoy en día, da una imagen de frustración, sin esfuerzos, sin ilusiones, personas mal educadas que les gusta beber, y en realidad no todos son así. La esperanza es la juventud, sí, gente que dedica su tiempo a crear, a luchar por seguir adelante y por tener los mínimos errores. Tenemos metas y ganas de llegar a donde nos proponemos […]. En conclusión, no nos disfracéis de Ni-Ni. Queremos ser la generación Ni-In ya que tenemos nivel y tenemos interés. Si nos véis negativos haréis creer que lo somos. (Mundo, 29.03.2010, Cartas al director)580 578
Dt. Rodríguez hält den Terminus „Generation ni-ni“ für übertrieben. „Die OECD stellt fest, dass es 13% der jungen Spanier sind, die nicht studieren und nicht arbeiten, aber das heißt nicht, dass sie nicht bereit dazu wären, es zu tun […]“.
579
Dt. Als 17-jähriger Student, der gerade mit der Universität beginnt, gefällt mir der beleidigende Name Generation ni-ni, der sich verbreitet hat, überhaupt nicht. Nicht nur, weil er suggeriert, dass die Trägheit im Studium und der Arbeit unter den Jungen und den Jugendlichen verbreitet ist, sondern weil unsere Gesellschaft in diesem Bereich einen Sündenbock sieht und die Jungen für die gegenwärtige Situation verantwortlich macht.
580
Dt. #Wir gehören zur “Generation Ni-In”. Lieber Direktor: Ich bin 16 Jahre alt und mache mein Abitur, ich arbeite, ich strenge mich an… Ich bin nicht einverstanden mit dem, was aktuell als Generation ni-ni konzipiert wird, junge Menschen, die ablehnen zu studieren und zu arbeiten. Er [der Ausdruck, Anm. MM] nutzt aus, womit heute die [Probleme der] jungen Menschen versteckt werden, er gibt ein Bild der Frustration, ohne Hoffnungen, ungebildete Menschen, die gerne Alkohol trinken. Und in Wahrheit sind
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
403
Bei beiden Belegen handelt es sich um Leserbriefe, in denen sich junge Menschen gegen die Bezeichnung der Generation ni-ni äußern: Sie sehen sich selbst nicht als Teil der Gruppe, die nicht arbeiten möchte, sondern betonen ihr Engagement und das Engagement anderer junger Menschen. Mit der Bezeichnung würden die jungen Menschen für die aktuelle Situation verantwortlich gemacht und es werde ihnen ein Etikett gegeben, das nicht zutreffe. Stattdessen führe diese sprachliche Kennzeichnung dazu, dass die Generation die negativen Beschreibungen irgendwann selbst glaube. Diese letzte Bewertung sticht auch deshalb hervor, weil sie annimmt, dass eine bestimmte sprachliche Bezeichnung und deren Konnotationen – auch wenn es sich um eine Fremdbezeichnung handele – das Selbstbild der Generation beeinflusst. Der Sprache wird hier eine maßgebliche Rolle zugesprochen. In einigen Belegen, die die Bezeichnung ebenfalls kritisieren, werden alternative Bezeichnungen oder Konzeptualisierungen vorgeschlagen. 373. Los verdaderos Ni-ni que nos conducen a la pobreza son grupos corporativistas que no tienen ni escrúpulos ni vergüenza. Al frente de ellos se sitúa una casta política que ni sabe lo que es trabajar en pos del bien común ni ganas que tiene de saberlo. Criaturas malditas sin corazón ni conocimiento que ni pueden ni quieren mejorar la vida de los demás. (País, 09.02.2010, Generación ‘Ni-ni’)581 Mit alternativen Benennungen würden die tatsächlichen Verantwortlichen der prekären Lage der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes bezeichnet werden: In den zitierten Belegen werden vor allem die Politiker, die weder zuhörten noch Lösungen offerierten („ni-ni“),582 und die Unternehmensgruppen beschuldigt. Diese wären, so die Aussage der Zeitungstexte, mit der Bezeichnung der „ni-ni“ trefflicher bezeichnet.
nicht alle so. Die Jugend ist die Hoffnung, ja, Menschen, die ihre Zeit dazu nutzen, etwas zu schaffen, dafür kämpfen, weiter voran zu gehen, und dafür, möglichst wenig Fehler zu machen. Wir haben Ziele und Lust zu erreichen, was wir uns vornehmen […]. Kurz und gut, verschleiert uns nicht mit der Bezeichnung ni-ni. Wir wollen die Generation Ni-In sein, weil wir Niveau haben und Interesse. Wenn ihr uns negativ seht, verbreitet ihr den Glauben, dass wir es sind. 581
Dt. Die wahren Ni-Ni, die uns in die Armut treiben, sind die Unternehmensgruppen, die weder Skrupel noch Scham kennen. An ihrer Spitze steht eine politische Kaste, die weder weiß, was Arbeit für das Gemeinwohl ist, noch Lust dazu hat, es zu wissen. Verfluchte Kreaturen ohne Herz und ohne Wissen, die das Leben der Übrigen weder besser machen können noch wollen.
582
Vgl. „los políticos actuales sí podrían serlo porque ni escuchan ni solucionan“ (dt. die Politiker können das sein, weil sie weder zuhören noch Probleme lösen“, País, 29.02.2015, „Una generación en el abismo“).
Die Tätigkeitslosigkeit der Generation wird als Folge des Wirtschaftssystems und der Wirtschaftskrise konzeptualisiert. Die Verantwortung wird auf das (Wirtschafts-)System und der Handlungsbedarf auf die Regierung verschoben.
Befund
‘Die schlechte wirtschaftliche Situation Spaniens und die hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit führen dazu, dass sehr viele junge Menschen weder arbeiten noch studieren.’
‘Um konkurrenzfähige Arbeitskräfte in Spanien auszubilden, muss auf eine gute Ausbildung gesetzt werden. Die interkulturelle Kompetenz ist dabei nicht zu unterschätzen.’
‘Die Wirtschaftskrise kann so nicht überwunden werden. Durch die andauernde Wirtschaftskrise wird auch die Arbeitslosigkeit weiterbestehen.’ Kulturelle Bildung wird als ein Faktor unter weiteren benannt.
Die Schuld an der prekären Lage einer Generation wird auf eine abstrakte Einheit – das System – verlagert.
‘Junge Menschen in Spanien sind nicht für den Arbeitsmarkt der Zukunft (Wissensgesellschaft und Technologisierung) qualifiziert. Dem Fachkräftemangel kann nicht begegnet werden.’
‘Die duale Ausbildung bspw. in Deutschland führt zu qualifizierten Arbeitskräften, die den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechen.’
‘Viele junge Menschen setzen ihre Ausbildung nach der „Educación Obligatoria“, die mit 16 Jahren endet, nicht mit dem Abitur, einer Ausbildung oder einem Studium fort.’
Die Tätigkeitslosigkeit der Generation wird als Folge des spanischen Bildungssystems konzeptualisiert. Es wird auf die Defizite des Systems hingewiesen, ohne die genauen Gründe jedoch zu benennen. Stattdessen wird auf andere Vorbildländer wie Deutschland, Österreich und die Schweiz verwiesen.
‘Das spanische Bildungssystem ist im Vergleich zu Bildungssystemen anderer Länder mangelhaft.’
‘Die spanische Regierung muss handeln und die (Arbeits-)Bedingungen für die Generation ni-ni verbessern.’
‘Die junge Generation ist besonders von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise betroffen.’
Systemkritik
Metadiskursive Deutung
›generación ni-ni‹ (dt. Generation weder-noch)
Bildung
zirkuläre Struktur
systemische Gründe
Kulturvergleich
Verantwortlichkeit: Bildungssystem und Regierung
Systemkritik
Verantwortlichkeit: Wirtschaftssystem, Wirtschaftskrise und Regierung
Generation junger Menschen in Spanien, die nicht studieren und nicht arbeiten Ordnungskriterium
Konzeptsynthese
Konzept
Tabelle 49: Konzept ›generación ni-ni‹
404 5 Analyse der Korpora
‘Die wahren Verantwortlichen, Politiker und Unternehmenschefs, sollten als „generación ni-ni“ bezeichnet werden.’
- weil die Bezeichnung dazu führt, dass die Generation selbst an ihre Unmotiviertheit und Untätigkeit glaubt.’
Es handelt sich um eine Fremdbezeichnung, die nicht von der Generation selbst gewählt wurde und die von vielen Gruppenmitgliedern als nicht zutreffend angesehen wird. In den Texten wird darauf verwiesen, dass die sprachliche Konzeptualisierung die Wahrnehmung beeinflusst.
Metaebene:
‘Die Bezeichnung der jungen Menschen als „generación ni-ni“ ist unangemessen,
- weil die junge Generation arbeiten möchte, es ihr aber aufgrund von systemischen Gründen nicht möglich ist.
Auf der Sachverhaltsebene zeigen sich Indikatoren für die Unzufriedenheit der Generation, die über die sprachliche Ebene hinausgehen.
Der Hochwert Familie kann sich auch negativ auswirken. Es wird betont, dass die engen familiären Bindungen in Spanien ein Hindernis für die Emazipation der Arbeitnehmer sein können.
In einigen Belegen wird die Generation ni-ni enger definiert als Generation, die nicht arbeiten und studieren will. An diese Hervorhebung der Entscheidung seitens der jungen Menschen schließt sich die negative Bewertung der Generation an.
‘Der Protest der jungen Generation zeigte sich in den Demonstrationen des 15. März 2011. In anderen Ländern finden häufiger Demonstrationen statt.’
‘Die Generation hat gesehen, dass ihre Eltern viel arbeiten, aber nicht glücklich sind, und möchte dies verändern.’
‘Die Generation macht ihre Eltern für die schlechte Lage verantwortlich.’
‘Die Generation ni-ni emanzipiert sich spät und wohnt häufig noch lange bei ihren Eltern.’
c. sie keine Verantwortung übernehmen will, sondern lieber den Moment genießt.’
b. die persönliche Investition in Ausbildung, Studium und Abschlüsse nicht mehr zur entsprechenden sozialen und beruflichen Entlohnung führt.
a. sie durch die wirtschaftliche Situation Spaniens und den prekären Arbeitsmarkt keine Aussichten auf eine Arbeitsstelle hat.
‘Die junge Generation lehnt es ab zu arbeiten oder zu studieren, weil
‘Die Generation ni-ni will nicht arbeiten und nicht studieren. Die junge Generation ist unmotiviert, antriebs- und mutlos und will keine Verantwortung übernehmen.’
Sprachebene und Wahrnehmungsebene
Metaebene: Kritik an Bezeichnung
Kulturvergleich
Sachverhaltsebene
Verknüpfung mit Hochwert als Problem
negative Bewertung
Verantwortlichkeit: Generation ni-ni
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
405
Konzeptsynthese Generation junger Menschen in Spanien, die nicht studieren und nicht arbeiten.
Konzeptsynthese
Generation junger Menschen, die zwischen 1980 und 1990 geboren wurden. Die Generation steht kurz vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt und stellt neue Ansprüche an Unternehmen, die die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und das Gehalt betreffen. Die Mitglieder der Generation sind zumeist gut ausgebildet und mit digitalen Technologien aufgewachsen.
- Es handelt sich um eine Gruppe von Arbeitnehmern, die aufgrund ihrer guten Qualifikation Ansprüche stellen kann, die von Unternehmen zum Teil erfüllt werden.
c. gute Bezahlung.
b. Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (Familie, Freizeit)
a. Sinnhaftigkeit des Berufs und der Tätigkeit
ANSPRÜCHE - Die Generation stellt vielfältige Ansprüche an Unternehmen und an ihre (zukünftige) Arbeitsstelle:
- Die Generation sucht Sinn in ihrem Beruf.
Y-WHY-WARUM - Die Generation hinterfragt die bestehende Situation des Arbeitsmarktes. Die Gruppenbenennung entspringt dieser Zuschreibung.
Sprachliche Verknüpfungen
Sprachliche Verknüpfungen
Die Generationenkonzepte unterscheiden sich stark voneinander: Die spanische Bezeichnung beschreibt eine genauer definierte Gruppe und legt mit der Konzeptbezeichnung bereits die negativen Teilbedeutungen fest. Die deutsche Bezeichnung beschreibt eine Gruppe, die weniger eindeutig bestimmt ist und die sich in erster Linie durch die geteilten Ansprüche an die Unternehmenswelt definiert, die den Gruppenmitgliedern zugeschrieben werden. Das Definitionskriterium ist ein in der Zukunft liegender Aspekt, der keinen Zustand, sondern Anforderungen und Wünsche benennt. Es handelt sich also um zwei verschiedene Konzepte, die eine jeweils kulturspezifisch ausgemachte junge Generation beschreiben, die im Untersuchungszeitraum dabei ist, den deutschen und den spanischen Arbeitsmarkt zu betreten. Die Konzepte sind damit spezifisch für das deutsche bzw. das spanische Untersuchungskorpus.
›generación ni-ni‹
›Generation Y‹
Tabelle 50: Vergleich GENERATION
406 5 Analyse der Korpora
- Die Generation Y hat damit einen Teil der Gleichaltrigen abgehängt, die nicht hochqualifiziert sind und keine (höheren) Bildungsabschlüsse haben.
≠
BILDUNG - Die Generation Y ist hochqualifiziert und legt sehr viel Wert auf Bildung (in Form von Zertifikaten, Abschlüssen).
- Bestimmte (Groß-)Unternehmen bieten Maßnahmen an, die den Ansprüchen der Generation Y entsprechen (bspw. Programme zur work-life-balance). Die Unternehmen profitieren davon, weil sie die besten Nachwuchskräfte anwerben und in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter investieren.
ELTERN - Die Generation emanzipiert sich spät und wohnt häufig noch lange bei ihren Eltern.
c. weil sie keine Verantwortung übernehmen will.
b. weil Investitionen in Ausbildung und Studium nicht zu sozialer und beruflicher Anerkennung führen.
a. weil sie auf dem schlechten Arbeitsmarkt keine Chancen für sich sieht.
- Die junge Generation will nicht arbeiten und nicht studieren,
HALTUNG DER GENERATION
- Die jungen Menschen sind nicht für den Arbeitsmarkt der Zukunft qualifiziert. Die Wirtschaftskrise in Spanien kann so nicht überwunden werden.
- Viele junge Menschen setzen ihre Ausbildung nach der obligatorischen Schulbildung nicht mit dem Abitur, einer Ausbildung oder einem Studium fort.
BILDUNG UND BILDUNGSSYSTEM - Die Ausbildung der jungen Generation ist mangelhaft, weil das spanische Bildungs- und Ausbildungssystem mangelhaft ist. Das spanische Bildungssystem lädt zum Abbruch ein. Die Ursachen dafür sind ungeklärt, es wird auf Vorbilder in anderen Ländern verwiesen.
- Es handelt sich um eine Gruppe von potentiellen Arbeitnehmern, die darum bangen muss, überhaupt eine Arbeitsstelle zu finden.
- Die Verantwortung und der Handlungsbedarf liegen bei der spanischen Regierung.
WIRTSCHAFTSSYSTEM UND ARBEITSLOSIGKEIT - Die schlechte wirtschaftliche Situation in Spanien und die hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit führen dazu, dass ein großer Teil der jungen Generation keine Arbeit findet. Es werden systemische Gründe für die prekäre Lage benannt.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
407
Die Konzepte unterscheiden sich stark voneinander und sind durch kulturspezifische Konzeptverknüpfungen und -bewertungen charakterisiert. Das Konzept ›generación ni-ni‹ ist spezifisch für die spanischen Korpora und kann als Kulturem gelten. Die deutsche Bezeichnung „Generation Y“, die auf den gleichnamigen Roman des kanadischen Autors Douglas Coupland von 1991 zurückgeht, zeigt, dass die Konzeptbezeichnung nicht ausschließlich in der deutschen Sprachkultur verbreitet ist; das Konzept des Deutschen könnte dennoch ein kulturspezifisches sein. Ein Kulturvergleich über die zwei Sprachkulturen des Deutschen und Spanischen hinaus kann in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden.
Kulturspezifik
- Die Auswirkungen der sprachlichen Benennung auf die (Fremd- und Eigen-) Wahrnehmung werden reflektiert.
- Es äußern sich insbesondere junge Menschen, die sich selbst nicht als Teil der beschriebenen Generation verstehen und die Bezeichnung ablehnen, weil sie ein falsches Bild der Generation vermittelt und die Generation damit selbst negativ beeinflusst.
- Das Konzept wird auf einer Metaebene sowohl von Gruppenmitgliedern als auch von Außenstehenden kritisiert und als unzutreffend benannt.
b. Angehörige der Generation ni-ni als Entscheidungsträger genannt und kritisiert.
a. Politiker und Wirtschaftsvertreter als Hauptverantwortliche der schlechten Lage der jungen Menschen genannt und kritisiert.
- Im Kontext des Konzeptes findet sich vielfältige Kritik an den Verantwortlichen. Je nach Konzeptualisierung werden
- Die Bewertung der Generation ist weniger eindeutig: Mitunter wird die Gruppenbezeichnung auch von Gruppenmitgliedern als Selbstbeschreibung akzeptiert.
- Die Ansprüche der Generation werden unterschiedlich bewertet: einerseits als unrealistisch und widersprüchlich, andererseits als ambitioniert und einer jungen Generation entsprechend.
Sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen
DEMONSTRATIONEN - Die Generation demonstriert teilweise. In anderen Ländern finden sich mehr Proteste.
408 5 Analyse der Korpora
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
409
5.4.3.3 Konzeptueller Zugriff HIERARCHIE Im folgenden Kapitel werden ausgewählte Hierarchien des Arbeitsmarktes verglichen, die im deutschen und im spanischen Korpus beschrieben sind. In den gesammelten Medientexten werden weitere Verhältnisse zwischen verschiedenen Gruppen benannt, die von Hierarchien geprägt sind: So ließen sich die sozialen Gruppen der weiblichen und männlichen Arbeitnehmer oder der jüngeren und älteren Arbeitnehmer ebenfalls im Hinblick darauf analysieren, welche sozialen Gruppen in den Zeitungstexten auf der niedrigeren und auf der höheren hierarchischen Ebene angesiedelt werden. Auch die Kategorie des Ortes ließe sich im Hinblick auf Hierarchien – Arbeitnehmer in der Stadt versus auf dem Land, in verschiedenen Regionen Deutschlands und Spaniens etc. – betrachten. Da diese analytischen Schritte jedoch bereits in Kapitel 5.4.3.1 GENDER UND DISKRIMINIERUNG (weibliche und männliche Berufstätige), Kapitel 5.4.3.2 GENERATION (junge Generationen, die auf den Arbeitsmarkt drängen) und dem Großkapitel 5.3 RAUM berücksichtigt wurden, werde ich mich im folgenden Kapitel auf die klassische Hierarchie – zwischen Chef und Angestellten – und auf eine im Korpus besonders hervorgetretene Hierarchie – zwischen privilegierten Gruppen von Berufstätigen und nicht privilegierten Gruppen von Berufstätigen – konzentrieren. Diese zwei Hierarchieformen werden getrennt voneinander dargestellt. Der Kapitelaufbau richtet sich ebenfalls nach dieser Darstellungsweise; die angeschlossenen Tabellen stellen die verschiedenen Gruppen des Arbeitsmarktes gegenüber. 5.4.3.3.1 Deutsches Konzept ›Hierarchien auf dem Arbeitsmarkt‹ Sprachliche Konstituierung Die Rolle des Chefs ist im deutschen Korpus an das Konzept der ›Hierarchie‹ gebunden. Dieses wird generell kritisch gesehen; insbesondere steile Hierarchien am Arbeitsplatz werden in den Medientexten negativ gekennzeichnet. Die Bewertung des Chefs ergibt sich häufig aus der Bewertung der Hierarchie: Eine flache Hierarchie mit einem Chef, der ansprechbar ist, wird positiv bewertet. Eine steile Hierarchie, die auf einem autoritären Chef beruht, wird negativ bewertet.
410
5 Analyse der Korpora
Konzeptuelle Verknüpfungen und Bewertungen 1. Hierarchien in Unternehmen und soziale Rolle des Chefs583 In den Medientexten wird die soziale Rolle des Chefs eng mit der Unternehmenshierarchie verknüpft: In dieser steht der Chef an der Spitze und hat Angestellte unter sich.584 In den Belegen wird darauf hingewiesen, dass sich in Gruppen von einer bestimmten Größe zwangsläufig Hierarchien bilden; zum einen, weil in großen Gruppen nicht alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden können, und zum anderen, weil es häufig eine Person geben muss, die die Verantwortung trägt.585 Die Belege weisen damit auf das zwangsläufige Entstehen von Hierarchien hin, die nicht immer negativ sein müssen: 374. Ganz anders ein laufendes Unternehmen, das Leute als Angestellte beschäftigt. Hier existiert zwangsläufig eine vorgegebene Hierarchie inklusive Chefetage. Das kann je nach fachlicher Kompetenz und Führungsstil auch entspannt sein für die Mitarbeiter. Es wäre schön, wenn Macht über machen definiert werden würde und nicht mit auf Außenwirkung und Selbstprofilierung bedachtem Hierarchie-Verständnis. (taz, 19.04.2010, Brauchen wir überhaupt Chefs?) Steile Hierarchien werden in den Textbelegen mehrheitlich negativ bewertet: 375. Übermächtige Professoren, steile Hierarchien, fatale Abhängigkeiten. Die Strukturen in vielen deutschen Universitätskliniken haben schlimme Nebenwirkungen – für die Mitarbeiter, die Forschung, vor allem für die Patienten. (Spiegel, 23.06.2014, Im Gottesdienst) 586 Flache Hierarchien werden hingegen positiver bewertet: 376. Der Mittelstand hat einiges zu bieten: Der Chef ist dank flacher Hierarchien stets greifbar, er ist präsent und nicht wie in Großkonzernen eine anonyme Instanz. Das heißt auch, dass die Entscheidungswege kürzer und die Prozesse transparenter sind. Ein großes Plus: Die Arbeitsfelder sind breiter angelegt, der Berufsanfänger ist in einem größeren und interessanteren Gebiet tätig und bekommt schneller Verantwortung übertragen. (SZ, 27.09.2008, „Familienunternehmen in Gefahr”) 583
Um das Verhältnis zwischen Chef und Angestellten zu beleuchten, wurden verschiedene Suchanfragen an das Korpus gestellt: Es wurden Belege betrachtet, die im Kotext des Ausdrucks „Hierarchie“ auf die Person des „Chefs“ aufmerksam machen (15l/15r), sowie Belege, in denen die soziale Rolle des „Chefs“ von anderen Rollen („Angestellte“, „Arbeitnehmer“ etc.) abgegrenzt wird.
584
Nur in Ausnahmefällen gibt es einen Chef in einem Unternehmen, aber keine Angestellten (vgl. bspw. taz, 26.09.2012, „(Über)Leben in Berlin. Der Spätkauf-Besitzer“).
585
Vgl. taz, 04.07.2012, „Dieses ewige Messen am Erfolg macht uns alle wahnsinnig“.
586
Vgl. auch Welt, 27.11.2003, „Euphorie im Herzen des Ausstands“. Einige Berufsgruppen werden besonders häufig genannt, wie bspw. die Gruppe der Ärzte. Vgl. Spiegel, 16.12.2002, „Auch Ärzte sind fehlbar“, SZ, 24.03.2006, „Anzug statt Arztkittel“ und Spiegel, 23.06.2014, „Im Gottesdienst“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
411
In Beleg 376 wird darauf hingewiesen, dass sich die soziale Rolle ‚Chef‘ von Unternehmen zu Unternehmen unterscheidet: In kleineren Unternehmen und Familienunternehmen ist der Chef mitunter verfügbarer als in Großunternehmen. Die vordergründige Abwesenheit von Hierarchien kann jedoch auch das gegenteilige Ergebnis haben und dazu führen, dass verdeckte oder informelle Hierarchien entstehen: 377. Verdeckte Hierarchien sind die gefährlichsten. Gegen sie kann man sich kaum wehren, und sie verschleißen enorme Energien. (taz, 19.04.2010, Brauchen wir überhaupt Chefs?) Die Bewertung der Hierarchie zwischen Chef und Angestellten variiert im Korpus. Dabei werden sowohl sehr steile wie auch sehr flache Hierarchien negativ bewertet. 2. Hierarchien zwischen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt: Privilegierte Gruppen vs. nicht privilegierte und benachteiligte Gruppen In den deutschen Medientexten werden verschiedene Berufe und Anstellungsverhältnisse genannt. Diese lassen sich anhand der Gruppenspezifika, die in den Medientexten genannt werden (bspw. Gehalt, Privilegien im Arbeitskontext, gesellschaftliche Anerkennung), in vier Gruppen einteilen. Erstens die Gruppe der privilegierten Berufstätigen. Zweitens der Mittelstand. Drittens nicht privilegierte Berufstätige. Viertens die Gruppe der unterprivilegierten Berufstätigen und Nichtberufstätigen. Die vier Gruppen werden im Korpus unterschiedlich verknüpft – die Verknüpfungen deuten auf die Charakteristika der Gruppen hin: So wird die Gruppe der privilegierten Berufstätigen (bspw. der Ärzte, Wissenschaftler, Topmanager und Führungskräfte) mit dem Wunsch nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verknüpft: 378. „Die Arbeitgeber sind gefordert“. Mit Astrid Bühren, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes e.V., sprach Eli Hamacher über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Welt, 01.09.2007, = Titel) Die Verknüpfung mit dem Konzept der ›Vereinbarkeit‹ deutet darauf hin, dass die Berufsgruppe der ÄrztInnen potentiell besonders von der Belastung durch berufliche Tätigkeit und Familie betroffen ist; zum anderen deutet die Verknüpfung aber auch darauf hin, dass es sich um eine Gruppe handelt, die sich im Gespräch um Maßnahmen der Vereinbarkeit befindet. Auch weitere Maßnahmen von Unternehmen, wie flexible Arbeitszeiten oder Homeoffice, werden im Hinblick auf bestimmte Berufsgruppen diskutiert. Dabei handelt es sich zum einen um privilegierte Berufsgruppen in hohen Positionen mit überdurchschnittlichem Gehalt und zum anderen um die breite Schicht des deutschen Mittelstandes. 379. Familie und Arbeit lassen sich nicht vereinbaren. Das ist die neue Ernüchterung der Mittelschicht. Ein Mann und eine Frau aus Berlin versuchen es doch. Sie schließen einen Vertrag (taz, 27.09.2014, Kann Verhandeln die Liebe retten?)
412
5 Analyse der Korpora
380. Natalie Lotzmann verantwortet den Bereich „Health & Diversity“, also „Gesundheit und Vielfalt“, darunter ist auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eingeordnet. (SZ, 02.01.2012, Büro mit Kuschelecke. Das Softwareunternehmen SAP gilt in Deutschland als Vorbild für familienfreundliche Arbeitsbedingungen) In vielen Belegen wird darauf hingewiesen, dass die Vereinbarkeit in diesen Gruppen nicht möglich ist. Zugleich kann jedoch festgehalten werden, dass die Diskussion um die Vereinbarkeit bereits an sich ein Indiz dafür ist, dass es sich um privilegierte Gruppen handelt, bei denen die Vereinbarkeit überhaupt ein Thema darstellt. In weiteren Gruppen ist die Arbeitszeit fest geregelt, sodass kaum Spielraum für die Flexibilisierung der Arbeitszeit besteht: 381. Fabrikarbeiter zum Beispiel. Menschen, die bei BMW, Daimler oder VW am Band stehen und Autos zusammenschrauben, haben Feierabend, wenn ihre acht Stunden im Werk rum sind, weil sie ja schlecht ein halbes Auto mit nach Hause nehmen können, um daheim weiterzuschrauben. (SZ, 01.03.2014, Tschüss, bis gleich!)587 382. Personalreferenten großer Unternehmen stellen fest, dass Absolventen, Frauen wie Männer, heute ganz gezielt Arbeitszeitmodelle nachfragen, die auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zielen: Gleitzeit, Homeoffice, Betriebskindergärten. Es verändert sich etwas, zumindest in den gut ausgebildeten mittelständischen Milieus. (Die Welt, 13.12.2012, Fairer scheiden) Bei der Diskussion um bestimmte Privilegien der Berufstätigen handelt es sich um eine Diskussion der deutschen Mittelschicht oder in höhergestellten Berufsgruppen, die in weniger privilegierten Gruppen keine Rolle spielt, da eine Umsetzung aufgrund der beruflichen Umstände nicht denkbar ist. Zu dieser Gruppe der nicht privilegierten Arbeitnehmer sind beispielsweise die bereits genannten Fließbandarbeiter (Beleg 381) zu zählen, aber auch Verkäuferinnen oder Krankenschwestern: 383. Wo in der Hierarchie im Unternehmen stehen Sie? [= Interviewfrage taz, Anm. MM] Ganz unten. Oder nicht ganz: die Hauspfleger ohne Ausbildung, die sind noch weiter unten. [= Interviewantwort der Krankenschwester aus Berlin, Anm. MM] (taz, 18.07.2012, (Über)Leben in Berlin. Teil 3: Die Krankenschwester)588 587
Vgl. auch taz, 12.09.2012, „‚Arbeit gehört zu meinem Leben‘. Über(leben) in Berlin. Teil 11: Stefan P. arbeitet als Industriemechaniker bei Daimler. Er mag das Handwerkliche an seinem Beruf, Spät- und Nachtschichten machen ihm nichts aus. Als Vertrauensmann der IG Metall engagiert er sich für die Interessen seiner Kollegen. Seine Selbsteinschätzung: zufriedene Mittelschicht“.
588
Vgl. auch SZ, 02.06.2012, „Insolvente Drogeriekette wird nach 40 Jahren abgewickelt. Schlecker am Ende – 13 000 Frauen arbeitslos“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
413
In den Belegen wird beschrieben, dass es sich um nichtprivilegierte Gruppen des Arbeitsmarktes handelt, die sich selbst in der Unternehmenshierarchie unten einordnen und als erste von wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Unternehmen (bspw. Kündigungen) betroffen sind. Von dieser Gruppe der nichtprivilegierten Berufstätigen ist zuletzt die Gruppe der unterprivilegierten Berufstätigen und Nichtberufstätigen zu unterscheiden. Bei diesen Gruppen handelt es sich um Berufsgruppen oder Gruppen nichtbeschäftigter Menschen, die über keine Privilegien auf dem Arbeitsmarkt verfügen oder von Benachteiligungen betroffen sind. Am häufigsten werden im deutschen Korpus die folgenden Gruppen als benachteiligt oder diskriminiert beschrieben: -
Ältere Arbeitnehmer Ausländische Arbeitnehmer Weibliche Arbeitnehmer Menschen mit Behinderung Arbeitslose589
Die Belege, die die Diskriminierung der genannten Gruppen beschreiben, beziehen sich oft nicht allein auf die Situation in Deutschland, sondern beschreiben die Situation weltweit. Die genannten Gruppen sollten in Deutschland durch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz geschützt werden, allerdings wird im Korpus wiederholt darauf hingewiesen, dass das Gesetz nicht oft Anwendung finde (vgl. Beleg 319) und vielen EU-Bürgern nicht bekannt sei: 384. Auf dem Arbeitsmarkt ist der Weg zur Chancengleichheit nach Einschätzung der Bevölkerung noch weit. Behinderung und Alter sind die beiden Faktoren, von denen die Europäer meinen, dass sie den größten Nachteil für die Betroffenen darstellen. […] Die Umfrage zeigt zudem, dass das Gros der EUBürger gar nicht weiß, dass es Antidiskriminierungsgesetze gibt und beispielsweise die Diskriminierung bei der Stellenbesetzung verboten ist. (Welt, 31.01.2007, Familienministerin will neues Bild des Alters entwickeln) Im deutschen Korpus wird der Blick zudem auf Arbeitnehmergruppen im Ausland gerichtet, die in ihrer Berufstätigkeit ausgebeutet werden oder gesundheitlichen Risiken ausgeliefert sind; auf diese Gruppen, die über keinerlei Privilegien verfügen, wird insbesondere dann verwiesen, wenn die produzierten Güter auf dem deutschen oder europäischen Markt verkauft werden.590 589
Vgl. bspw. Welt, 16.05.2011, „Mehr Diskriminierungen im Job während der Krise. Weltweite UN-Studie: Ältere Arbeitnehmer, Berufseinsteiger und Migranten besonders betroffen. In Industrieländern werden Raucher und Übergewichtige zunehmend diskriminiert. Frauen weiter benachteiligt“.
590
Im deutschen Korpus wird seltener auf einzelne Berufsstände verwiesen, die Diskriminierungen ausgeliefert sind. Belege wie der folgende stellen die Ausnahme dar: „Warum arbeiten die Frauen nicht auf St. Pauli, wo Prostitution zu bestimmten Nachtzeiten erlaubt ist? Ein Arbeitsplatz in einem Bordell kostet
414
5 Analyse der Korpora
385. Die junge Frau aus der zentralchinesischen Provinz arbeitete zwölf Stunden am Tag und hatte nahezu keinen Urlaub, aber sie betrachtete den neuen Job als Glück, konnten doch ihre Eltern als Reisbauern die Familie nicht ernähren. Heute ist sie 34 Jahre alt und leidet unter Husten, Kopf- und Magenschmerzen. Sie fühlt sich wie ein Wrack und fragt sich immer wieder, wie lange sie wohl noch leben wird. […] Denn sie und einige hundert andere Frauen wurden an ihrem früheren Arbeitsplatz vergiftet. Durch Cadmium, ein hochgiftiges Schwermetall, das ihr damaliger Arbeitgeber bei der Herstellung von Batterien verwendet. Und diese Batterien werden auch in Europa verkauft. (SZ, 22.03.2007, Das Gift und die Gier)
Geld. Die Frauen aber verbrauchen den größten Teil ihres Verdienstes [für Drogen, Thema: Drogenprostitution, Anm. MM]. Und für einen Zuhälter sind sie nicht wirtschaftlich, weil für ihn nichts übrig bleibt.“ (taz, 11.01.2012, „Leben in Grenzverletzung“).
Berufsgruppen mit mittlerem Einkommen oder in mittleren Positionen in Unternehmen
Berufsgruppen mit niedrigem Gehalt, auf unteren Posten in Unternehmen
Berufstätige in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, von Ausbeutung bedroht oder ohne Anstellungsverhältnis
Mittelschicht
Nichtprivilegierte Berufstätige
Unterprivilegierte Berufstätige und Nichtberufstätige
Unterprivilegierte Gruppen im Ausland
Berufstätige, die in ihren Berufen ausgebeutet werden oder die gesundheitlichen Risiken ausgeliefert sind
Berufsgruppen mit hohem Gehalt, hohem gesellschaftlichem Ansehen oder hoher Verantwortung, Führungskräfte und Unternehmenschefs
Privilegierte Berufstätige
Im Ausland
Beschreibung
Grad der Priviligiertheit
FabrikarbeiterInnen
Prostituierte
Verkäuferinnen, Fließbandarbeiter
Angestellte
Manager, Ärzte, Wissenschaftler, Führungskräfte
Beispielberufe und -positionen
Die junge Frau aus der zentralchinesischen Provinz arbeitete zwölf Stunden am Tag und hatte nahezu keinen Urlaub. […] sie und einige hundert andere Frauen wurden an ihrem früheren Arbeitsplatz vergiftet. (SZ, 22.03.2007, Das Gift und die Gier)
Warum arbeiten die Frauen nicht auf St. Pauli, wo Prostitution zu bestimmten Nachtzeiten erlaubt ist? Ein Arbeitsplatz in einem Bordell kostet Geld. Die Frauen aber verbrauchen den größten Teil ihres Verdienstes [für Drogen, Thema: Drogenprostitution, Anm. MM]. Und für einen Zuhälter sind sie nicht wirtschaftlich, weil für ihn nichts übrig bleibt.“ (taz, 11.01.2012, „Leben in Grenzverletzung“)
Wo in der Hierarchie im Unternehmen stehen Sie? [= Interviewfrage taz, Anm. MM] Ganz unten. Oder nicht ganz: die Hauspfleger ohne Ausbildung, die sind noch weiter unten. [= Interviewantwort der Krankenschwester aus Berlin, Anm. MM] (taz, 18.07.2012, (Über)Leben in Berlin. Teil 3: Die Krankenschwester)
„Ich werde zwischen der Arbeit und der Familie zerrieben“. (ÜBER)LEBEN IN BERLIN (6) Lukas R. entwickelt Computerspiele für soziale Netzwerke. Er arbeitet gern und verdient gut. Zufrieden ist er trotzdem nicht immer: Die Balance zwischen Kindern und Job zu finden fällt ihm schwer. Manchmal stellt er auch den Sinn seiner Arbeit infrage. Seine Selbsteinschätzung: obere Mittelschicht (taz, 08.08.2012, = Titel und Lead)
Anzug statt Arztkittel. Manche gehen in die Industrie, andere arbeiten im Ausland: Viele Ärzte wollen sich mit den Bedingungen in Deutschland nicht abfinden (SZ, 24.03.2006, = Titel)
Beleg
Bestimmte Berufe werden im Medienkorpus als mit mehr oder weniger Privilegien ausgestattet beschrieben. In der Tabelle werden die Gruppen nach diesem Kriterium aufgelistet, beschrieben und mit Beispielen belegt.
Tabelle 51: Privilegierte Gruppen vs. nicht- und unterprivilegierte Gruppen
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
415
416
5 Analyse der Korpora
5.4.3.3.2 Spanisches Konzept ›jerarquías en el mercado laboral‹ (dt. Hierarchien auf dem Arbeitsmarkt) Sprachliche Konstituierung Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit zwei Formen von Hierarchie: mit der Hierarchie zwischen Chef und Angestellten im Unternehmen und mit implizit konstituierten Hierarchien zwischen privilegierten und nichtprivilegierten Berufsgruppen. Im ersten Teil liegt der Fokus auf der sozialen Rolle ‚Chef‘. Auf die Relevanz der Figur des Chefs deuteten insbesondere Belege des Leserkommentarkorpus hin. In diesen wird das Rollenverhalten des Chefs in spanischen Unternehmen besonders kritisch bewertet: 386. Basar la eficacia y eficiencia de un empleado en el tiempo que pase calentando la silla demuestra una total desconfianza hacia el empleado y una total inseguridad del jefe en cuanto a su liderazgo, y esto es más común desgraciadamente. En definitiva, mucho jefe y poco líder. (Guille González, 29.07.2015 16:02 Uhr)591 592 Das Verhalten der spanischen Chefs wird stark kritisiert: Sie übernähmen keine Verantwortung, sondern setzten auf die Autorität des Chefs und die Kontrolle der Angestellten, obwohl die Rolle des Chefs durch Führungsvermögen gekennzeichnet sein sollte. Im folgenden Kapitel wird die Konstituierung der Rolle des Chefs anhand der Textbelege des Medienkorpus nachvollzogen. Im zweiten Teil werden die Hierarchien zwischen Berufsgruppen und weiteren Gruppen betrachtet. Die Gruppen werden nicht explizit beschrieben, sondern konstituieren sich stattdessen über die konzeptuellen Verknüpfungen. Konzeptuelle Verknüpfungen und Bewertungen 1. Soziale Rolle des Chefs und Kontrolle der Mitarbeiter Im spanischen Korpus wird die Rolle des Chefs im Unternehmen – und der Wandel der früheren Rolle des Chefs – thematisiert und in vielen Fällen kritisiert. Während im deutschen Korpus häufig die hierarchischen Unternehmensstrukturen als solche kritisiert werden und die sich wandelnde Rolle des Chefs in der Unternehmenshierarchie beleuchtet wird, steht im spanischen Korpus die Person des Chefs in direkterer Kritik. Darauf machen die Leserkommentare aufmerksam, wie auch der folgende Beleg des Zeitungskorpus: 591
Dt. Die Leistung und die Leistungsfähigkeit eines Angestellten an die Zeit zu binden, die er damit verbringt, den Stuhl zu wärmen, zeigt ein absolutes Misstrauen gegenüber dem Angestellten und eine vollkommene Unsicherheit des Chefs im Hinblick auf seine Führungsqualität, und das ist leider sehr verbreitet. Letztendlich, viel Chef und wenig Leitung.
592
Vgl. auch El Cantinero de la Barca, 29.07.2015 01:26 Uhr. Bei beiden Belegen handelt es sich um Kommentare zum Medientext „Calentar la silla hasta que se marche el jefe“ (País, 29.07.2015).
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
417
387. La rigidez, la intolerancia y las broncas ya no sirven para gestionar a las personas. Es hora de evolucionar hacia un liderazgo más humano […]. Si es usted jefe, por favor, lea las líneas que siguen. […] Según los expertos en comportamiento organizacional, este estilo de liderazgo [de los jefes autoritarios, Anm. MM] tiene los días contados. (País, 21.09.2008, Adiós a los jefes autoritarios)593 Der Artikel proklamiert, dass die Zeit des bisher üblichen Führungsstils der Kontrolle und Autorität des Chefs vorüber sei und dass sich die neue Generation der Chefs umstellen müsse. Statt auf Autorität müsse man auf einen neuen Führungsstil des Vertrauens setzen: Die zwei Hauptprobleme dabei sind, so die Aussage der Medientexte, der aggressive und autoritäre Führungsstil der Chefs und die festgefahrene Kontrolle der Anwesenheit der Mitarbeiter durch den Chef (vgl. Kapitel 5.2.3.2.1 ›presentismo‹). 388. El jefe supremo de la empresa es un tipo “un poco chapado a la antigua” y los trabajadores saben que en el fondo lo que él valora es que cuantas más horas del día pasen en la oficina, mejor. “A la gente le da miedo que el jefe de repente pregunte por ellos y alguien diga que se han marchado ya a casa” (País, 28.07.2015, Una vida partida por la jornada)594 Eine wichtige Facette der sozialen Rolle des Chefs zeigt sich im spanischen Korpus in der Verknüpfung zum Konzept des ›presentismo‹: Der spanische Führungsstil sei maßgeblich durch die traditionell etablierte Kontrolle der Anwesenheit geprägt. In den Medientexten wiederholt sich als wichtigstes Gegenargument der Kultur des presentismo, dass sich die lange Anwesenheit nicht in einer hohen Produktivität der Mitarbeiter und der Firmen niederschlage. Im Korpus wird der negativen Bewertung der spanischen Chefs häufig ein Lob der Verhältnisse im Ausland gegenübergestellt. In einigen Belegen wird dabei lobend auf die flachen Hierarchien zwischen Mitarbeitern und Chefs hingewiesen, die sich beispielsweise in den räumlichen Strukturen zeigen: 389. Hombre inteligente e inquieto [creador de Idealista.com], de formas exquisitas, recibe, durante una transparente mañana de invierno, en las oficinas de Idealista. com, donde no existen jerarquías espaciales: el jefe comparte mesa con los trabajadores y todos ellos van rotando, lo que facilita la comunicación
593
Dt. Strenge, Intoleranz und Zurechtweisungen nützen nicht mehr dazu, Menschen anzuleiten. Es ist an der Zeit, eine humanere Führungsweise zu entwickeln. […]. Wenn Sie Chef sind, bitte lesen Sie die folgenden Zeilen. […] Den Experten zufolge sind die Tage dieses unternehmerischen Verhaltens, dieses Führungsstils [der autoritären Chefs], gezählt. (Titel = Auf Wiedersehen zu den autoritären Chefs).
594
Dt. Der oberste Chef der Firma ist ein Typ „der alten Schule“ und die Angestellten wissen, dass er es im Grunde am meisten wertschätzt, wenn sie so viele Stunden des Tages wie möglich im Büro verbringen. „Den Leuten macht es Angst, wenn der Chef plötzlich nach ihnen fragt und jemand sagt, dass sie nach Hause gegangen sind“.
418
5 Analyse der Korpora
o la toma de decisiones rápidas. (Mundo, 21.12.2008, Castellanos y leoneses por derecho)595 Es wird hervorgehoben, dass der Chef nicht in einem separaten Büro arbeitet, sondern seinen Arbeitsplatz mit den Mitarbeitern teilt. Dadurch werde die Kommunikation und die Entscheidungsfindung beschleunigt. In weiteren Belegen wird darauf hingewiesen, dass moderne ausländische Unternehmen nicht nur dadurch gekennzeichnet seien, dass sie Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bieten, sondern auch dadurch, dass die Anwesenheit des Chefs nicht die Voraussetzung für gute Arbeitsergebnisse sei: 390. Los clásicos sistemas de jerarquía […] están empezando a quedar desfasados. […] De hecho, “cada vez son más comunes los equipos en los que los jefes no están presentes” afirma Montse Ventosa, presidenta de la fundación Truthmark. En este tipo de organizaciones cada persona es responsable de su área de trabajo y de rendir cuentas sobre los objetivos marcados (lo que los ingleses llaman accountability). (Mundo, 19.07.2014, Cuando el equipo funciona mejor sin el jefe)596 Im spanischen Korpus wird also erneut auf die Verhältnisse und die Rolle des Chefs im Ausland hingewiesen und signalisiert, dass diese auch für den spanischen Arbeitsmarkt vorteilhaft sein könnten. 2. Hierarchien zwischen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt: Privilegierte Gruppen vs. benachteiligte Gruppen Im spanischen Korpus finden sich vereinzelt Belege, die auf privilegierte Berufstätige auf dem Arbeitsmarkt hindeuten: 391. En esta línea se desenvuelve Enric Casi, director general desde 1996 de la multinacional española Mango, que cuenta ya con 6.500 empleados en todo el mundo y cuya facturación superó en 2006 los 1.250 millones de euros. Este directivo goza de un horario flexible y dedica 10 horas al día a su profesión. “Lo que más me gusta de mi trabajo es la oportunidad de crear y de influir en mi entorno positivamente”. (País, 08.07.2008, Charles Abani. Miembro de Acción Global contra la Pobreza)597 598 595
Dt. Ein intelligenter und rastloser Mann mit hervorragenden Manieren empfängt an einem klaren Wintermorgen in den Büros von Idealista.com, wo es keine räumlichen Hierarchien gibt: Der Chef teilt den Tisch mit den Angestellten und alle wechseln durch, was die Kommunikation und die schnelle Entscheidungsfindung vereinfacht.
596
Dt. Die klassischen hierarchischen Systeme fangen an, verdrängt zu werden. […] In der Tat „sind die Arbeitsgruppen, in denen der Chef nicht anwesend ist, immer üblicher“, bestätigt Montse Ventosa, Präsidentin der Stiftung Truthmark. In dieser Art Unternehmen ist jede Person für ihren Arbeitsbereich verantwortlich und dafür, über die erreichten Ziele Bericht zu erstatten.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
419
In den Belegen werden die individuellen Privilegien von Einzelpersonen, wie eine flexible Gestaltung der Arbeitszeiten, beschrieben. Im Unterschied zum deutschen Korpus, in dem beispielsweise die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von Ärzten diskutiert wird, handelt es sich bei den spanischen Medientexten um Narrative, die stark auf eine einzelne Person, wie zum Beispiel den damaligen Chef der Modekette Mango, fokussiert sind. Dieser wird im zitierten Beleg weniger als Vertreter der Gruppe der Modemagnaten dargestellt, sondern als einflussreiche Einzelperson porträtiert. Im folgenden Beleg wird die Verknüpfung zwischen einigen ausgewählten Gruppen von Berufstätigen und den Privilegien des Arbeitsmarktes, über die sie mitunter verfügen (oder über deren Verfügbarkeit diskutiert wird), auf der Metaebene thematisiert: 392. Y es que, si para un médico o un abogado, el mudarse a una ciudad más pequeña y desplazarse todos los días a su lugar de trabajo puede ser un alivio, para una señora ecuatoriana con pocos recursos puede ocurrir todo lo contrario. Porque para una persona que, por ejemplo, no puede permitirse pagar un abono de autobús, esta supuesta calidad de vida se convierte así en un problema cotidiano más (País, 29.01.2008, La nueva utopía es vivir lejos y mejor)599 Es wird verdeutlicht, dass das Privileg, in der Stadt zu arbeiten und auf dem Land zu leben, nur für einige Gruppen von Berufstätigen – die aufgrund ihres Jobs und ihres Gehalts privilegiert sind – verfügbar ist. Für einige Berufsgruppen und in einigen Firmenpositionen ist dies möglich, in anderen nicht. Gegenüber der Gruppe der extrem privilegierten Arbeitenden finden sich im spanischen Korpus viele Belege, die verschiedene Gruppen beschreiben, die sich als nichtprivilegierte bzw. unterprivilegierte Mitglieder des Arbeitsmarktes zusammenfassen lassen: - Ausländische Arbeitnehmer, Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund - Weibliche Arbeitnehmer - Ältere Arbeitnehmer - Berufstätige Menschen mit Behinderung - Arbeitslose 597
Dt. In dieser Linie steht Enric Casi, seit 1996 Direktor des spanischen Weltunternehmens Mango, das 6.500 Angestellte weltweit zählt und dessen Umsatz 2006 1.250 Millionen Euro überschritt. Dieser Direktor genießt flexible Arbeitszeiten und widmet seinem Beruf zehn Stunden täglich. „An meiner Arbeit gefällt mir besonders die Möglichkeit, kreativ zu schaffen und mein Umfeld positiv zu beeinflussen.“
598
Vgl. auch Mundo, 09.04.2006, „Luis Hernández De Cabanyes/Presidente de renta corporación. Un filántropo irrumpe en la bolsa española“.
599
Dt. Und ja, für einen Arzt oder einen Anwalt kann es eine Erleichterung sein, in eine kleinere Stadt zu ziehen und jeden Tag zum Arbeitsplatz zu pendeln. Für eine Frau aus Ecuador mit wenig finanziellen Ressourcen kann es das genaue Gegenteil sein. Denn für eine Person, die sich beispielsweise die Monatskarte für den Bus nicht leisten kann, verwandelt sich die mutmaßliche Lebensqualität in ein weiteres tägliches Problem.
420
5 Analyse der Korpora
Der folgende Beleg beschreibt, dass bestimmte Gruppen nicht nur über keinerlei Privilegien verfügten und zahlreichen Benachteiligungen ausgeliefert seien, sondern dass die schlechtere Situation zudem von einer Mehrheit der spanischen Bevölkerung auf das Verhalten der Gruppe selbst zurückgeführt werde: 393. La sociedad española actual sigue siendo racista, aunque lo manifiesta de forma más sutil que hace unos años. Según un estudio realizado por la Universidad de Granada, la mayor parte de los encuestados considera que los inmigrantes y los gitanos son los culpables de su propia exclusión social y de su falta de integración laboral. (País, 08.01.2003, La sociedad considera a los inmigrantes y los gitanos culpables de su exclusión laboral, según un estudio)600 Die mangelhafte Integration auf dem Arbeitsmarkt sei, so das Ergebnis der zitierten Umfrage, auf „diferencias culturales, de religión y de valores“ (dt. kulturelle und religiöse Unterschiede sowie unterschiedliche Werte) zurückzuführen. Besonders deutliche Unterschiede sehen die Umfrageteilnehmer im Wertesystem der Sinti und Roma und der Einwanderer (vgl. ebd.). Die Belege verweisen darauf, dass die Diskriminierungen sich heute weniger deutlich äußerten, dass sie aber immer noch in der Gesellschaft vorhanden seien. Besonders schwerwiegende Benachteiligung finde sich insbesondere dann, wenn eine Person zwei oder mehr der benannten Charakteristika aufweise: 394. El estudio llama la atención sobre la desigualdad añadida que vive la mujer cuando es inmigrante. “Es una triple discriminación, de clase, sexo y etnia”, asegura. (País, 22.01.2008, Trabajar el doble en casa)601 Besonders interessant ist auch, dass argumentiert wird, dass die Emanzipation der Frauen zugleich fordere, dass eine andere, weniger emanzipierte Frau die Aufgaben im Haushalt übernehme. Die Gleichstellung von Mann und Frau sei in diesem Sinne eine Illusion, die nur zu einer Verschiebung der Ungleichheit führe.602 Wie im deutschen Korpus wird auch im spanischen auf die prekären Produktionsbedingungen in weniger entwickelten Ländern verwiesen, in denen häufig für europäische Länder produziert wird. 395. El pasado mes de marzo, trabajadoras de las maquilas hondureñas explicaron a los niños y jóvenes que participaron en toda España en la propuesta pedagógica de 600
Dt. Die spanische Gesellschaft von heute ist immer noch rassistisch, auch wenn sich dies auf subtilere Art und Weise zeigt als vor einigen Jahren. Einer Studie zufolge, die von der Universität Granada durchgeführt wurde, nimmt die Mehrheit der Befragten an, dass die Einwanderer und die Sinti und Roma selbst an ihrem gesellschaftlichen Ausschluss und ihrer fehlenden Integration in den Arbeitsmarkt schuld sind.
601
Dt. Die Studie lenkt die Aufmerksamkeit auf die zusätzliche Ungleichheit, die eine Frau erfährt, wenn sie Immigrantin ist. „Das ist eine dreifache Diskriminierung, nach Klasse, Geschlecht und Herkunft“, versichert sie.
602
Vgl. País, 08.03.2005, „Con ‘plus’ de discriminación“.
5.4 Analyse des dritten Subthemas Rollen/Gruppen in den deutschen und spanischen Zeitungskorpora
421
Intermon Oxfam Conectando Mundos las condiciones de vida de las trabajadoras del textil en los países pobres. El modelo de negocio en este sector (“más rápido, más flexible, más barato”) traslada los costes de producción a las mujeres que están al final de la cadena, y las coloca en una situación de precariedad laboral que les impide romper el círculo de la pobreza. Esta precariedad se traduce en jornadas laborales de hasta 16 horas, contratos temporales, sueldos insuficientes, horas extra obligatorias y no remuneradas, prohibición de los sindicatos y malas condiciones higiénicas y sanitarias. En muchos casos, las mujeres resisten porque tener trabajo, aunque sea mal pagado, es mejor que no tenerlo. Algunas empresas han establecido códigos de conducta pero sus prácticas de compra, que presionan a los proveedores para obtener cada vez precios más bajos y entregas más rápidas, impiden que estos códigos se cumplan. (País, 19.06.2004, ¿Qué se esconde detrás de tu ropa?)603 604 Der Sektor der Textilindustrie hat für Spanien eine besonders große Bedeutung, da in Spanien viele Textilien verarbeitet werden und der Sektor besonders ausgebaut ist.605
603
Dt. Im letzten März erklärten Textilarbeiterinnen aus Honduras den Kindern und Jugendlichen im Rahmen des pädagogischen Angebots von Intermon Oxfam Conectando Mundos die Arbeitsbedingungen der Textilarbeiterinnen in armen Ländern. Das Geschäftsmodell in diesem Sektor („schneller, flexibler, billiger“) verlagert die Produktionskosten auf die Frauen, die am Ende der Kette stehen, und bringt sie in die berufliche Unsicherheit, die verhindert, dass der Armutszirkel überwunden wird. Diese Ungewissheit schlägt sich in Arbeitstagen von bis zu 16 Stunden, Zeitverträgen, nicht ausreichenden Löhnen, pflichtmäßigen und nicht bezahlten Überstunden, Verbot von Gewerkschaften und schlechten hygienischen und sanitären Bedingungen nieder. In vielen Fällen halten die Frauen aus, weil es besser ist, Arbeit zu haben – und sei diese auch schlecht bezahlt – als keine Arbeit zu haben. Einige Firmen haben Verhaltensnormen eingeführt, aber das Einkaufsverhalten, das die Lieferanten unter Druck setzt, immer niedrigere Preise und schnellere Lieferungen zu haben, verhindert, dass die Normen eingehalten werden.
604
Vgl. auch País, 21.06.2004, „Las ONG exigen que las marcas de ropa respeten los derechos laborales en los países pobres“.
605
So haben die internationalen Modemarken Mango und Zara, die immer wieder aufgrund ihrer prekären Produktionsbedingungen Schlagzeilen machen, ihren Sitz in Spanien.
Dt. Übersetzung siehe Fußnote 601.
Berufstätige, die in ihren Berufen ausgebeutet werden oder die gesundheitlichen Risiken ausgeliefert sind
Unterprivilegierte vGruppen im Ausland
Dt. Übersetzung siehe Fußnote 597.
Berufsgruppen mit niedrigem Gehalt, auf unteren Posten in Unternehmen, die häufig Opfer von Diskriminierung sind
Nichtprivilegierte Berufstätige, Unterprivilegierte Berufstätige und Nichtberufstätige
607
Berufsgruppen mit hohem Gehalt, hohem gesellschaftlichem Ansehen oder hoher Verantwortung, Führungskräfte und Unternehmenschefs
Privilegierte Berufstätige
606
Beschreibung
Grad der Privilegiertheit
FabrikarbeiterInnen, TextilarbeiterInnen
Ausländische Arbeitnehmer, weibliche Arbeitnehmer, ältere Arbeitnehmer, Menschen mit Behinderung, Arbeitslose
Unternehmenschefs, Ärzte, Anwälte, Führungskräfte
Beispielberufe und -positionen
El modelo de negocio en este sector (“más rápido, más flexible, más barato”) traslada los costes de producción a las mujeres que están al final de la cadena, y las coloca en una situación de precariedad laboral que les impide romper el círculo de la pobreza. Esta precariedad se traduce en jornadas laborales de hasta 16 horas, contratos temporales, sueldos insuficientes, horas extra obligatorias y no remuneradas, prohibición de los sindicatos y malas condiciones higiénicas y sanitarias. (País, 19.06.2004, ¿Qué se esconde detrás de tu ropa?)607
“Sufro doble discriminación, por ser mujer y por inmigrante”, dice. (dt. Ich werde doppelt diskriminiert, weil ich eine Frau und Immigrantin bin, País, 08.03.2005, Con ‘plus’ de discriminación)
En esta línea se desenvuelve Enric Casi, director general desde 1996 de la multinacional española Mango, que cuenta ya con 6.500 empleados en todo el mundo y cuya facturación superó en 2006 los 1.250 millones de euros. Este directivo goza de un horario flexible y dedica 10 horas al día a su profesión. “Lo que más me gusta de mi trabajo es la oportunidad de crear y de influir en mi entorno positivamente”. (País, 08.07.2008, Charles Abani. Miembro de Acción Global contra la Pobreza “Salvar bancos no puede ser más importante que salvar vidas”)606
Beleg
Bestimmte Berufe werden im Medienkorpus als mit mehr oder weniger Privilegien ausgestattet beschrieben. In der Tabelle werden die Gruppen nach diesem Kriterium aufgelistet, beschrieben und mit Beispielen belegt.
Tabelle 52: Privilegierte Gruppen vs. nicht- und unterprivilegierte Gruppen
422 5 Analyse der Korpora
5.5 Zusammenführung und Schlussfolgerungen des empirischen Teils
423
5.5 Zusammenführung und Schlussfolgerungen des empirischen Teils Die Konzeptkonstituierung der vorliegenden Arbeit lässt sich über die herausdestillierten Ordnungskriterien nachvollziehen. Diese weisen auf die inhaltliche Konstituierung der Konzepte und ihre strukturelle Einbettung im Diskurs hin und lassen es zu, die in den Vergleichstabellen zusammengefassten kulturspezifischen Unterschiede im Deutschen und Spanischen im Detail nachzuvollziehen. Sicherlich konnten in der vorliegenden sprachvergleichenden Diskursanalyse nicht alle Aspekte, die sich in der Datenanalyse andeuteten, gebührend berücksichtigt werden. Der analytische Schwerpunkt der Arbeit lag auf der Erarbeitung relevanter Konzepte in den einzelsprachlichen Korpora und ihrem intersprachlichen Vergleich. Die Konzepte wurden in den deutschen und spanischen Untersuchungskorpora zunächst ausführlich über die drei Gesichtspunkte (I) sprachliche Konstituierung, (II) konzeptuelle Verknüpfungen und (III) Bewertung des Konzeptes erschlossen. Die Vergleichbarkeit der Konzepte wurde über den übergeordneten konzeptuellen Zugriff hergestellt, der bestimmte Konzeptcharakteristika, die die verschiedensprachigen Konzepte auf einer abstrakten, analytischen Ebene teilen, bezeichnet. Der Vergleich der Konzepte hat ergeben, dass die Konzepte in den beiden Sprachen Ähnlichkeiten und Unterschiede auf der inhaltlichen Ebene aufweisen; darüber hinaus lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede auf struktureller Ebene feststellen: Im Sprachgebrauch der Untersuchungskorpora zeigt sich, wie die Konzepte verknüpft werden, welche Argumentationsstrategien verwendet werden, welche Diskursakteure auftreten etc. Die inhaltliche und die strukturelle Ebene beeinflussen sich wechselseitig. Die folgenden zwei Schaubilder stellen die beiden Ebenen analytisch isoliert dar.
Abb. 17: Konzepte und Teilbedeutungen – inhaltliche Ebene
424
5 Analyse der Korpora
Abb. 18: Konzepte und Teilbedeutungen – strukturelle Verknüpfungen
Ein Konzept wird sowohl über die inhaltliche Ebene – Was wird gesagt? Welche Teilbedeutungen werden benannt? Welche weiteren Konzepte werden verknüpft? – als auch über die strukturelle Ebene – Wie sind die Verknüpfungen gestaltet? Wie ist die diskursive Einbettung und Verwendung der Konzepte? Welche Strukturen wiederholen sich im Diskurs? – bestimmt. Die inhaltlichen Eigenschaften und die diskursive Einbettung des Konzeptes sind dynamisch wie der Diskurs selbst. Die Analyse eines ausgewählten Korpus stellt eine Momentaufnahme dar, die die Konzeptkonstituierung für dieses bestimmte Korpus im Hinblick auf eine konkrete Untersuchungsfrage nachweisen kann.
6 Fazit Die vorliegende Studie hat, ausgehend von den Erkenntnissen der Kulturemanalyse, die Grundzüge einer sprach- und kulturvergleichenden Diskursanalyse erarbeitet. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand der Vergleich der Konzepte, die in den verschiedensprachigen Korpora erarbeitet wurden. Die folgenden Thesen fassen die wichtigsten Ergebnisse zusammen. Es folgen einige Überlegungen zur Anwendung und zum Nutzen der Kulturemtheorie in der sprachvergleichenden Diskursanalyse und zu alternativen methodischen Angeboten, die die vorliegende Arbeit macht. Abschließend möchte ich die Frage beantworten, welche Rolle die linguistische Diskursanalyse als Kulturanalyse in der Gesellschaft übernehmen kann. 6.1 Acht Thesen zur kulturvergleichenden Korpusanalyse 1) Wortwahl und Kulturspezifik: Lexikalische Lücken verdeutlichen ex negativo die Spezifik von Konzepten für eine Sprache. Die spezifischen Ausdrücke, die in einer Sprache verwendet werden, nicht aber in die andere Sprache übersetzt werden können, deuten auf die Verbreitung eines spezifischen Konzeptes in der einen Sprache, nicht aber in der anderen Sprache hin. So lässt sich das deutsche Konzept ›Rabenmutter‹ im Spanischen mit einem oder mehreren Sätzen erklären, ebenso wie sich das spanische Konzept ›presentismo‹ im Deutschen beschreiben lässt; eine ausdrückliche Übersetzung ist jedoch nicht möglich.608 Lexikalische Lücken in einer Sprache deuten darauf hin, dass keine unmittelbare sprachökonomische Notwendigkeit dafür besteht, das Konzept in einer spezifischen Ausdrucksform zu pointieren. Die Verbreitung spezifischer Ausdrücke in einer Sprache, die nicht in die andere übersetzt werden können, deutet also nicht darauf hin, dass das Konzept in der anderen Kultur nicht verstanden werden kann, wohl aber darauf, dass es in der anderen Kultur von geringerer Relevanz ist.609 Die Kulturspezifika, die sich unter anderem anhand der lexikalischen Lücken zeigten, werden in den folgenden Thesen dargestellt.
608
Vgl. „Rabenmutter“ S. 346, „presentismo“ Kapitel 5.2.3.2.1.
609
Weitere Beispiele sind die Ausdrücke „doble jornada feminina“ (vgl. Kap. 5.2.3.3.1 sowie die Konzepttabelle des Kapitels) und „Work-Life-Balance“ für das Deutsche (vgl. deutsches Subkonzept ›Work-LifeBalance‹, S. 161).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6_6
426
6 Fazit
2a) Konzept der Diskriminierung: Die Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Alltag betrifft im Spanischen nur die Frau. Das Konzept ›Diskriminierung, die an geschlechterspezifische Rollen gebunden wird‹, betrifft im spanischen Korpus nur die Frau. Während im deutschen Korpus neben der Diskriminierung von Frauen in ihren Rollen als Arbeitnehmerin oder Mutter auch die Diskriminierung von Männern am Arbeitsplatz – vor allem, wenn diese in ihrer Rolle als Vater diskriminiert werden – ihre Darstellung findet, wird die Diskriminierung von Männern und von Vätern im spanischen Korpus nicht thematisiert. Die wenigen Kollokationen von „discriminación“ und „hombre“ verweisen darauf, dass die Frau im Gegensatz zum Mann benachteiligt wird. Die Konzepte des Zugriffs GENDER UND DISKRIMINIERUNG unterscheiden sich im Deutschen und Spanischen weiterhin dadurch, dass im spanischen Zeitungskorpus eine die Diskriminierung festschreibende Denkhaltung der ›desigualdad‹ angenommen wird, die von der Ungleichheit von Frau und Mann ausgeht und die sich auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche auswirkt. Die Emanzipation der Frau auf dem Arbeitsmarkt wird in den spanischen Medientexten als Ziel mit verschiedenen Konzepten verknüpft,610 zugleich wird von einer Geisteshaltung der Ungleichheit ausgegangen, die als Dachkonzept die Konzepte der ›discriminación‹ und ›emancipación‹ prägt.611 2b) Konzept der Diskriminierung: In Deutschland ist die Diskriminierung von Männern und Vätern ein Diskursthema, weil die Gleichberechtigung weiter vorangeschritten ist und Männer nun ebenfalls zu einer zu berücksichtigenden Problemgruppe werden. In den deutschen Zeitungsartikeln wird beschrieben, dass Männer am Arbeitsplatz diskriminiert werden können. Formen der Diskriminierung gegenüber berufstätigen Männern, die nicht zugleich Väter sind, finden sich dahingegen selten, da der männliche, berufstätige Arbeitnehmer – ohne Kinder oder ohne die primäre Aufgabe, sich um diese zu kümmern – die Standardrolle des Berufstätigen darstellt (Default-Vorstellung). Beschreibungen und Kritik der Diskriminierung von Vätern im Arbeitskontext finden sich hingegen häufiger. Die Teilbedeutung ‘Väter sind am Arbeitsplatz von Formen der Diskriminierung betroffen’ etabliert sich im Kontext des Konzeptes ›Diskriminierung am Arbeitsplatz‹ im deutschen Korpus als Diskursthema. Diese Entwicklung wird in den analysierten Texten auf der Metaebene als neu beschrieben.612
610
Vgl. die Verknüpfung mit den Konzepten 5.2.3.1.2 ›flexibilizar los horarios‹, 5.2.3.3.1 ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ und 5.3.3.1.2 ›teletrabajo‹ sowie die Übersicht in den Vergleichstabellen.
611
Vgl. insbesondere das Zwischenfazit S. 379.
612
Vgl. Beleg 310, Spiegel, 30.12.2013, „Die Karriereväter“.
6.1 Acht Thesen zur kulturvergleichenden Korpusanalyse
427
Unter Berücksichtigung dieser Diskursentwicklung lässt sich berechtigterweise die Frage stellen, ob sich in Spanien eine ähnliche Entwicklung abzeichnet beziehungsweise in den kommenden Jahren abzeichnen wird. Dies könnten weitere sprachvergleichende Korpusstudien für die Zeit nach 2015 beantworten. Da es sich bei Spanien und Deutschland um Länder handelt, die Merkmale teilen, die die Sinnbezirke BERUF und ALLTAG maßgeblich prägen (Mitglieder der EU, des europäischen Wirtschaftsund Währungssystems etc.), lässt sich eine sukzessive Verbreitung vergleichbarer Diskursthemen vermuten. Bisher scheinen in der spanischen Medienberichterstattung die eingeforderte Gleichberechtigung der Frau und die darunter subsummierte Emanzipation der Frau in allen Lebensbereichen (vgl. These 2a) einen so großen Raum einzunehmen, dass die Diskriminierung von Vätern am Arbeitsplatz als weniger dringliches Problem (noch) nicht in den Medientexten aufgegriffen wird. 3) Erklärungsmuster: Im Spanischen werden Mentalität und Kultur als Ursachen benannt, im Deutschen wird das ‚System‘ verantwortlich gemacht. Im Kontext verschiedener Konzepte lassen sich auf sprachstruktureller Ebene Muster zur Erklärung von Gegebenheiten feststellen. So wird im spanischen Korpus wiederholt auf Mentalität und Kultur als Gründe für verschiedene Gegebenheiten und Probleme hingewiesen: für den presentismo am Arbeitsplatz und den Tagesablauf in Spanien, für die Diskriminierung der Frau im Arbeitskontext und in der spanischen Gesellschaft sowie für die mangelnde Mobilität der Arbeitnehmer. Im deutschen Korpus werden demgegenüber deutlich häufiger systemische Gründe als erklärendes Moment benannt: Die Diskriminierung aufgrund von Gender-Spezifika613 wird als Form der Diskriminierung charakterisiert, die vor allem durch bestehende staatliche, politische und gesellschaftliche Strukturen bedingt ist; eine diskriminierende, kulturell verankerte Haltung wird kaum angenommen bzw. deren Annahme wird in wenigen Belegen ausgesprochen kritisch bewertet. Mit dem Verweis auf systemische Gründe und der Erklärung durch strukturelle Bedingungen werden die Akteure in den Hintergrund gerückt und die Lösungsstrategien auf eine abstrakte Ebene verlagert. So wird im spanischen Korpus die Lösungsstrategie, die Mentalität der Menschen und somit des einzelnen Individuums zu ändern, nahegelegt, wenn auch als schwierig bewertet. Im deutschen Korpus wird hingegen die Frage gestellt, welcher Ansatzpunkt gewählt werden kann, um ein System zu verändern. Dies äußert sich in der Debatte um die gesellschaftliche Bedingtheit der Unterschiede zwischen Mann und Frau, in der biologische Erklärungen abgewehrt werden, in der jedoch auch ein Kreislauf von Ursache (System) und Wirkung (Diskriminierung) angenommen wird. Aus diesem Kreislauf auszubrechen, wird als schwierig bewertet, weil er das Denkmuster bestimmt.
613
Vgl. Kapitel 5.4.3.1.1.
428
6 Fazit
Während sich also auf der inhaltlichen Ebene vergleichbare Formen der Diskriminierung von Frauen im Arbeitskontext finden, ergeben sich in der Erklärung der Diskriminierung (= sprachstrukturelle Ebene) kulturspezifische Unterschiede. 4) Zuschreibung von Verantwortung: Der Depersonifikation des deutschen Korpus steht die Selbstkritik der Mentalität in den spanischen Texten gegenüber. Im spanischen Korpus fällt bei einigen Konzepten die explizite Zuschreibung von Verantwortlichkeiten auf, so beispielsweise bei den Konzepten ›Generación ni-ni‹ und ›jerarquías en el mercado laboral‹ (dt. Hierarchien auf dem Arbeitsmarkt). Im Kontext des zweiten Konzeptes wird die Verantwortung der Unternehmenschefs für die Entwicklung des Unternehmens stark hervorgehoben; in vergleichbaren Kontexten des deutschen Korpus wird die Verantwortung der Chefs neben derjenigen der Mitarbeiter gleichermaßen angesprochen. Bei der Analyse des deutschen Konzeptes ›Diskriminierung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz‹ fallen verschiedene Versprachlichungsstrategien auf, die die Zuschreibung von Verantwortung vermeiden.614 Im deutschen Korpus werden demnach vermehrt systemische Gründe als Erklärung der Gegebenheiten angeführt (These 3), darüber hinaus wird die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten häufig vermieden. Beiden sprachlichen Strategien ist gemein, dass sie den Fokus weg von den Akteuren, den beteiligten Menschen, lenken und durch diese Depersonalisierung beziehungsweise Objektivierung suggerieren, dass eine Veränderung der Gegebenheiten nicht durch die Menschen zu erreichen sei. Die deutschen Texte unterscheiden sich hier stark von den spanischen Texten, die als Hauptgrund für verschiedene Probleme die Haltung der Menschen – die Mentalität und Kultur – benennen. 5) Emotionalisierung: Die spanischen Zeitungstexte und Leserkommentare emotionalisieren über Personalisierung, starke Selbstkritik und eine etablierte Diskussionskultur. Die untersuchten Leserkommentare des Deutschen und des Spanischen unterscheiden sich in der Konzeptkonstituierung auf inhaltlicher Ebene kaum von den Zeitungstexten. Auf sprachstruktureller Ebene fällt jedoch die emotionale und persönliche Kritik in den Leserkommentaren des Spanischen auf: Die Kommentatoren kritisieren den Autor des Ausgangstexts sowie die weiteren Kommentatoren stark und greifen sie persönlich an, ohne dass ein redaktioneller Eingriff auf der Website von El País (www. elpais.com) stattfindet. Die emotionalisierte Diskussionskultur unterscheidet sich damit deutlich von dem Kommentarforum der Online-Ausgabe der Zeit (www.zeit. de), in dem unsachliche Kommentare von der Redaktion gelöscht werden.615 614
Vgl. S. 351.
615
Vgl. Kapitel 5.2.4 Strukturelle Besonderheiten der Leserkommentarkorpora.
6.1 Acht Thesen zur kulturvergleichenden Korpusanalyse
429
Der Vergleich der deutschen und der spanischen Zeitungstexte zeigt ebenfalls, dass die spanischen Zeitungstexte insofern emotionaler sind, als sie die vertretenen agonalen Positionen häufiger mit Kritik an Einzelpersonen – beispielsweise dem Chef eines Unternehmens – verbinden. Auch die ausgesprochen negative Bewertung der eigenen Haltung, die als kulturspezifisch bezeichnet wird, emotionalisiert die Debatte im Vergleich zur Systemkritik der deutschen Texte. Das Kulturspezifikum der stärkeren Emotionalität der spanischen Texte lässt sich also auf drei Ebenen nachweisen: auf inhaltlicher Ebene der Zeitungstexte und Leserkommentare, auf sprachstruktureller Ebene der Zeitungstexte und Leserkommentare, auf der wiederholt Selbstkritik an der eigenen Mentalität und Kultur geübt wird, sowie in der Debattenkultur der Leserkommentare, die emotionale Auseinandersetzungen zwischen den Nutzern abbilden, ohne diese redaktionell – und damit institutionell – zu reglementieren. 6) Metaphorisierung komplexer Konzepte: In den Zeitungstexten des Deutschen und des Spanischen zeigen sich sprachübergreifende Gemeinsamkeiten. Metaphern können dann als Indikatoren von Denkgewohnheiten dienen, wenn sie in einer Sprachkultur auffallen und zugleich auf eine lexikalische Lücke in einer anderen Sprachkultur hinweisen (These 1). Dies ist der Fall beim Beispiel der Metapher „Rabenmutter“, die auf ein spezifisches Konzept des deutschen Korpus aufmerksam macht und dieses stark interpretativ abbildet. Im Kontext anderer Konzepte, die sich in beiden Sprachkulturen nachweisen lassen, fällt auf, dass vergleichbare Metaphern im Deutschen und Spanischen verwendet werden: etwa bei der Konzeptualisierung von ›Produktivität‹ bzw. ›productividad‹, in der Metaphern der Referenzbereiche WACHSTUM, RÜCKGANG und STAGNATION dazu dienen, die immanente Komplexität des Wirtschaftskonzeptes zu reduzieren. So verwenden die Zeitungstexte beider Sprachen Metaphern aus alltäglichen Domänen, um ein abstraktes Konzept in vermittlungssprachigen Texten zu beschreiben, beispielsweise das Modell LEBEWESEN (vgl. die Wirtschaft schrumpft, Produktivität als talón de Aquiles, dt. Achillesferse, S. 221). Diese sprachlichen Strategien der Komplexitätsreduktion durch Metaphern finden sich sowohl in den deutschen als auch in den spanischen Texten. Die konzeptuellen Verknüpfungen und Bewertungen divergieren dennoch: Der neutralen Bewertung der Wirtschaft im deutschen Korpus steht die negative Bewertung des spanischen Konzeptes gegenüber. Im Kontext des spanischen Konzeptes wird die Produktivität des eigenen Landes in Abhängigkeit vom Faktor Wirtschaftskrise (konzeptuelle Verknüpfung) sehr kritisch beurteilt (Bewertung des Konzeptes); die Verantwortlichkeit wird häufig der spanischen Gesellschaft selbst (konzeptuelle Verknüpfung) zugeschrieben.
430
6 Fazit
7) Wirtschaftskrise und wirtschaftliche Effizienz: In den spanischen Texten manifestiert sich ein deutlicher Veränderungswunsch. Im deutschen und im spanischen Korpus lassen sich Verknüpfungen zwischen den erarbeiteten Konzepten und den Faktoren WIRTSCHAFT, WIRTSCHAFTSKRISE und WIRTSCHAFTLICHE EFFIZIENZ nachweisen. Der Vergleich zeigt zum einen, dass die Faktoren im spanischen Korpus sehr viel häufiger benannt, und zum anderen, dass sie in auffällige Argumentationsmuster eingebettet werden. In den spanischen Zeitungstexten wird die wirtschaftliche Krise angeführt, um einen Veränderungswunsch in der eigenen Mentalität zu untermauern: Vor dem Hintergrund der Krise müsse man unter anderem die zu niedrige Produktivität in Spanien steigern, dem presentismo entgegenwirken und die Mobilität der Berufstätigen erhöhen.616 Die letztgenannten Verhaltensweisen – der presentismo und die mangelnde Mobilität der Arbeitnehmer – werden in den Texten nicht als durch die Krise bedingt konzeptualisiert, sondern der spanischen Kultur und Mentalität zugeordnet. Die wirtschaftliche Effizienz anderer Länder und die ihren Arbeitskräften unterstellte Produktivität werden in diesem Kontext als Vorbild für Spanien angeführt. Das Streben nach einer Veränderung der eigenen Situation artikuliert sich in den spanischen Texten deutlich und geht über die sprachliche Ebene hinaus, wenn sich beispielsweise die Initiative Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles y su Normalización con los de los demás países de la Unión Europea gründet und die Umstellung der Uhrzeit zur Rationalisierung der spanischen Arbeitszeiten fordert.617 8) Metasprachliche Reflexion von Kulturspezifika: Ein Zusammenhang zwischen Sprache und Denken? In beiden Sprachen nehmen die Diskursakteure in unterschiedlichen Kontexten eine Metaperspektive auf die Konzepte ein. In den Konzepttabellen ist dies mit dem Ordnungskriterium „Metaebene“ gekennzeichnet. In den deutschen Zeitungstexten wird die Metaperspektive häufig eingenommen, um einen Ausdruck, ein Konzept oder einen Sacherhalt genauer zu betrachten. Diskursakteure nutzen dies, um sich Diskurshoheit zu verschaffen und um Hochwertkonzepte für sich zu beanspruchen.618 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist die metasprachliche Thematisierung von Kulturspezifika von besonderer Relevanz. Sowohl im deutschen als auch im spanischen Korpus kennzeichnet die Texte häufig eine Metaperspektive auf die eigene Kultur – auf das, was als typisch deutsch oder typisch spanisch betrachtet wird. Die 616
Vgl. Verknüpfungen mit den Konzepten 5.2.3.5.2 ›productividad en España y factores determinantes‹, 5.2.3.2.1 Spanisches Konzept ›presentismo‹ und 5.3.3.3.2 ›movilidad laboral‹.
617
Vgl. Subkonzept ›Racionalización de los Horarios Españoles‹, S. 104.
618
Vgl. bspw. das Ringen um den Hochwert ›Familie‹ unter metasprachlicher Bezugnahme auf die abschätzige Bezeichnung „Gedöns“ des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, S. 159.
6.2 Kultureme als diskurslinguistische Analysekategorie?
431
deutschsprachigen Zeitungstexte äußern sich dabei deutlich neutraler als die spanischen Zeitungtexte, in denen auffällig oft Kritik an der eigenen Kultur und Mentalität – sowie an den damit einhergehenden Gewohnheiten und Verhaltensweisen – geäußert wird. Diese Kritik dient als Erklärungsfolie für Sachverhalte und Gegebenheiten (These 3). Besonders interessant sind dabei jene Belegstellen, in denen ein Zusammenhang zwischen Sprache und Denken angenommen wird. Im spanischen Korpus fällt dies an zwei Stellen auf: Zum einen wird die Fremdbezeichnung „generación ni-ni“ von Akteuren, die zu der Generation gezählt werden könnten, die sich aber von der Benennung nicht erfasst fühlen, kritisiert. Sie zeichne ein falsches Bild der Generation und beeinflusse ihre Fremd- und Eigenwahrnehmung negativ, bis man selbst glaube, was man über sich höre.619 Zum anderen wird im Kontext des spanischen Konzeptes ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ (dt. Berufs- und Privatleben – insbesondere Familienleben – vereinbaren) Kritik an den Ausdrücken „conciliar“ (dt. vereinbaren) und „conciliación“ (dt. Vereinbarkeit) geübt, da diese eine Trennung zwischen den Polen (PRIVAT-)LEBEN und BERUF suggerierten. Andere Bezeichnungen, beispielweise „enriquecimiento“ (dt. Bereicherung) oder „integración“ (dt. Integration), seien zu bevorzugen, da sie vermitteln, dass das Leben die Summe aus Arbeit, Freizeit und Familie sei.620 Im Korpus wird an diesen Stellen explizit geäußert, dass das Denken durch die Sprache geändert werden kann. 6.2 Kultureme als diskurslinguistische Analysekategorie? Zum Abschluss der Arbeit bleibt die Frage zu beantworten, welchen Mehrwert die Analysekategorie des Kulturems in der sprach- und kulturvergleichenden Korpusanalyse bietet. Die dem empirischen Teil der Arbeit vorangestellte Kulturemdefinition, die anhand der Forschungsliteratur und unter Berücksichtigung der Untersuchungsfragen erarbeitet wurde, lautete folgendermaßen: Kultureme sind sprachlich fassbare Einheiten, die kulturrelevante Bedeutung in sich haben, als gesellschaftliche Phänomene in der kommunikativen Praxis einer Sprachgemeinschaft in Korpora analysierbar sind und im Vergleich mit einem anderssprachigen Korpus herausgearbeitet werden können. Die vorliegende Untersuchung erarbeitete Konzepte zu den Themen BERUF und ALL-
TAG in vier Untersuchungskorpora in zwei Untersuchungssprachen mittels der Analyse
der sprachlichen Oberfläche, insbesondere durch die Analyse der lexematischen Ein619
Vgl. Konzept 5.4.3.2.2. S. 402.
620
Vgl. Kapitel 5.2.3.3.1, Exkurs: Metasprache und Bewertungen.
432
6 Fazit
heiten. Über den Sprachvergleich stellte die Arbeit Unterschiede in den Konzeptualisierungen der zwei Sprachgemeinschaften fest. Diese Unterschiede sind anhand der Vergleichstabellen nachzuvollziehen. Die Vergleichstabellen stellen Teilergebnisse dar, die der genannten Arbeitsdefinition entsprechen. Allerdings haben die Korpusanalyse, die Einordnung der Ergebnisse und ihre adäquate Darstellung in den Konzept- und Vergleichstabellen darüber hinaus ergeben, dass eine detailliertere Betrachtungsweise auf mehreren Ebenen sinnvoll und lohnenswert ist. Anhand der Reflexion der in Kapitel 3.3 vorangestellten Charakteristika von Kulturemen621 möchte ich darstellen, welche Aspekte in der Korpusanalyse eine Rolle spielten und wo die Korpusanalyse Ergebnisse zutage förderte, die über die angenommenen Charakteristika hinausweisen. Die ersten drei Charakteristika (I) Kultureme manifestieren sich in Sprache, existieren auf Konzeptebene und können sich auf verschiedene Art und Weise verbalisieren, (II) Kultureme sind Einheiten, die kulturspezifisch Bedeutung tragen, und (III) Kultureme können von den Mitgliedern einer Kultur wahrgenommen und auf der Metaebene reflektiert werden können zu großen Teilen in der Korpusanalyse bestätigt werden. Es ergibt sich jedoch auch ein entscheidender Unterschied: Nach der Analyse liegt es nicht ohne Weiteres nahe, dass Kulturspezifika problemlos zu Einheiten zusammengefasst werden können, die Konzepten entsprechen. Anders formuliert: In den analysierten Korpora finden sich nur wenige, sehr spezifisch definierte Konzepte, die zugleich als Kultureme gelten können. Diese Konzepte zeichnen sich durch eine extrem ausgeprägte Kulturspezifik aus und sind durch Teilbedeutungen definiert, die sich nicht in der anderen Sprachkultur nachweisen lassen. Prototypische Beispiele sind Konzepte, die in einer Ausdrucksform verbalisiert sind, die sich nicht in die andere Sprachkultur übersetzen lässt, so beispielsweise im Falle der Konzepte ›presentismo‹ für das Spanische und ›Rabenmutter‹ für das Deutsche. Die lexikalische Lücke in der jeweils anderen Sprachkultur macht auf diese Spezifik aufmerksam (vgl. These 1). Sehr viel häufiger kommt es allerdings vor, dass Konzepte mehr oder weniger kulturspezifisch – und hier könnte man wiederum sagen: mehr oder weniger kulturemhaft – sind (vgl. Abbildung 19). Auf einer ersten Ebene machen die Vergleichstabellen der Korpusanalyse darauf aufmerksam, dass die sprachliche Konstituierung der zwei verglichenen Konzepte identisch, ähnlich oder verschieden sein kann.622 Auf einer weiteren Ebene wird dann betrachtet, wie das Konzept verknüpft wird: Auch hier können die Verknüpfungen ähnlich, in seltenen Fällen fast 621
Vgl. 3.3.1. Neben den Charakteristika bestätigen sich auch die angenommenen Funktionen (vgl. 3.3.2) von Kulturemen in der Korpusanalyse. Sie werden an dieser Stelle nicht nochmals aufgegriffen, da sie in der Korpusanalyse bestätigt werden und insofern nicht dazu dienen, die Kulturembetrachtung zu differenzieren.
622
Absolute Übereinstimmung ist hier ebenso wie absolute Verschiedenartigkeit äußerst unwahrscheinlich und dient als Annahme der analytischen Darstellung.
6.2 Kultureme als diskurslinguistische Analysekategorie?
433
identisch oder aber verschieden sein.623 Auf einer dritten Ebene gilt es schließlich, die Bewertung des Konzeptes zu betrachten; auch hier können die Bewertungen ähnlich, nahezu identisch oder aber verschieden ausfallen.624 Mit jeder hinzukommenden Ebene steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Unterschiede in der Konzeptualisierung der zwei Sprachkulturen finden. Ein Konzept, das als Prototyp eines Kulturems gelten könnte, wäre durch Divergenz auf allen analytischen Ebenen bestimmt. Die folgende Abbildung zeigt eine Matrix zur Mehrebenenanalyse von kulturspezifischen Konzepten.
Abb. 19: Matrix der Kulturspezifik – das Kulturem als diskurslinguistische Analysekategorie 623
Verschiedene Verknüpfungen von Konzepten, die ähnlich konstituiert sind, zeigen sich bspw. in der Gegenüberstellung des deutschen Konzeptes ›Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere Familie‹ und des spanischen Konzeptes ›conciliar entre vida laboral y personal – especialmente familiar‹ (vgl. Vergleichstabelle VEREINBARKEIT, S. 168).
624
Verschiedene Konzeptbewertungen bei ähnlichen Konzeptverknüpfungen zeigen sich bspw. bei dem konzeptuellen Zugriff Produktivität (vgl. Vergleichstabelle PRODUKTIVITÄT, S. 232) sowie bei dem konzeptuellen Zugriff ESSEN (vgl. Vergleichstabelle ESSEN, S. 193).
434
6 Fazit
Die Annahme eines Kulturems, das auf allen Ebenen Divergenzen zu den Konzepten der verglichenen Sprachkultur aufweist (in der Abbildung grau hinterlegt), ist auf analytischer Ebene sinnvoll, seine Existenz kann in der Empirie der vorliegenden Korpusstudie jedoch nicht nachgewiesen werden. Potentielle Kultureme, wie ›Rabenmutter‹ und ›Work-Life-Balance‹ für das Deutsche und ›presentismo‹ für das Spanische, zeichnen sich trotz entscheidender kulturspezifischer Aspekte auch durch Gemeinsamkeiten aus. Dennoch ist die Betrachtung kulturspezifischer Unterschiede über die vorgeschlagene Systematisierung der Konzepttabellen, Vergleichstabellen und der Matrix der Kulturspezifik sinnvoll und kann dazu genutzt werden, die Kulturspezifik bzw. Kulturemhaftigkeit von Konzepten zu bestimmen. Zusammenfassend lässt sich sagen: In der sprachvergleichenden Analyse wurden Kulturspezifika bestimmt. Bei diesen Kulturspezifika kann es sich um a. kulturspezifische Konzepte handeln, die für eine Sprachgemeinschaft spezifisch sind und auf die das Bestehen einer lexikalischen Lücke in der verglichenen Sprachkultur hinweist. b. kulturspezifische Teilbedeutungen, Verknüpfungen oder Bewertungen handeln. c. kulturspezifische Muster auf sprachstruktureller Ebene handeln, die bei mehreren Konzepten in verschiedenen Kontexten auffallen. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine inhaltliche Kulturspezifik, sondern eine Kulturspezifik auf struktureller Ebene. Über die Analyse sprachlich fassbarer Einheiten haben sich bestimmte sprachliche Muster und diskursive Praktiken als spezifisch für ein Korpus im Vergleich zu einem anderssprachigen Korpus herausgestellt – so unter anderem die auffallend starke Selbstkritik an der eigenen Kultur und Mentalität im spanischen Korpus. Diese diskursiven Praktiken werden zum Teil von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft wiederum als Kulturspezifika wahrgenommen und benannt. Es ist anzunehmen, dass die kulturspezifische sprachliche Praxis auf gesellschaftliche Phänomene verweist, die über die Sprachebene hinaus wirksam sind. 6.3 Linguistische Kulturanalyse als Momentaufnahme Die für die vorliegende sprachvergleichende Korpusanalyse gewählten Themen – BERUF und ALLTAG – eigneten sich als anthropologische Konstanten für die vergleichende Analyse von Konzepten in zwei Sprachkulturen. Die Spezifik der Konzepte, ihre inhaltliche Bestimmung und ihre sprachstrukturelle Einbettung im Diskurs verdeutlichen, welcher sprachliche Zugriff auf Welt, Wirklichkeit und Wissen in der analysierten Sprachkultur, abgebildet über Korpora, dominant ist. Die Texte, die sich aufgrund bestimmter Charakteristika für die Analyse eigneten,
6.3 Linguistische Kulturanalyse als Momentaufnahme
435
lassen exemplarisch Kulturspezifika für das Deutsche und das Spanische hervortreten. Zwar beansprucht die Untersuchung dieser Texte nicht, eine repräsentative Aussage über das Denken, Fühlen und Wollen einer gesamten Sprachgemeinschaft zu tätigen; es wird jedoch deutlich, dass Zeitungstexte einen privilegierten Zugang zu den in einer Sprachgemeinschaft diskutierten Konzepten darstellen und dass sie einen gesamtgesellschaftlich wirksamen Diskurs abbilden. Durch die Analyse der Leserkommentare wird dieser um eine individuelle Sichtweise ergänzt. Über die induktive Korpusanalyse habe ich für die vorliegende Studie eine Methode der sprachvergleichenden Korpus- und Kulturanalyse entwickelt und reflektiert. Die Analyse ergab, dass sowohl die Annahme völliger Übereinstimmung als auch die Annahme absoluter Verschiedenheit theoretische Konstrukte sind. Diese haben ihren heuristischen und – wenn empirisch nachweisbar – analytischen Wert, entsprechen jedoch nicht der Realität der Korpora. Vielmehr sind Kulturspezifika bzw. mehr oder weniger kulturemhafte Konzepte Konstrukte, die dynamisch und kontextsensitiv sind. Sie fügen sich in die Vorstellung eines wechselvollen Kreislaufs von Sprache und Kultur, von dem ein gegebenes Korpus und seine Analyse eine Momentaufnahme, ähnlich einer Fotografie, erstellen.
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Anhang 1: Wortliste des deutschen Zeitungskorpus
Anhang
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mast, Kultureme als Spiegel des Denkens, Linguistik in Empirie und Theorie/Empirical and Theoretical Linguistics, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61947-6
Anhang 2: Wortliste des spanischen Zeitungskorpus
464 Anhang
Anhang 3.1: Word Sketch „Arbeitszeit“
Anhang
465
Anhang 3.2: Word Sketch „Arbeitszeit“
466 Anhang
Anhang 3.3: Word Sketch „Arbeitszeit“
Anhang
467
Anhang 3.4: Word Sketch „Arbeitszeit“
468 Anhang
Anhang
Anhang 4: Gegenüberstellung der Maßnahmen des „Plan Co
469
Anhang 5: Word Sketch „Vereinbarkeit“
470 Anhang
Anhang 6.1: Word Sketch „Mittagessen“
Anhang
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Anhang 6.2: Word Sketch „Mittagessen“
472 Anhang