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German Pages 222 Year 2014
Ulrich Richtmeyer, Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt (Hg.) Bild und Geste
Image | Band 63
Ulrich Richtmeyer, Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt (Hg.)
Bild und Geste Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst
Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel (HGK FHNW), der Postdoc-Förderung der Universität Potsdam und des DFG-Graduiertenkollegs 1539 »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung«.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort
Fabian Goppelsröder und Ulrich Richtmeyer | 7
Die Zerzeigung. Über die ›Geste‹ des Bildes und die ›Gabe‹ des Blicks
Dieter Mersch | 15 Die tachistische Geste 1951–1970
Toni Hildebrandt | 45 Die zeichnerische Geste. Soziale Bedingung und individuelle Ausprägung in der Praxis des Zeichnens
Michael Renner | 65 Das Zusätzliche der Tat. Die gestische Konstitution des Neuen in der Performativität zeichnerischer Bildproduktionen
Ulrich Richtmeyer | 85 Die Geste als Figur des Realen bei Walter Benjamin
Hyun Kang Kim | 107 »Nur Menschen äffen nach«. Helmuth Plessners Anthropologie der Geste
Henrike Lerch | 127 Tanz als rein(st)e Geste. Überlegungen zum Konzept des Gestischen im Ausgang von Maurice Merleau-Ponty und Giorgio Agamben
Miriam Fischer | 149
Sport als Gedächtnis archaischer Gesten
Gunter Gebauer | 171 Gesten des Denkens. Vilém Flussers ›Theorie der Gesten‹ als Medienphilosophie
Katerina Krtilova | 183 Zwischen Konzept und Phänomen. Die Geste als Denkfigur
Fabian Goppelsröder | 203
Autorinnen und Autoren | 215
Vorwort F ABIAN G OPPELSRÖDER UND U LRICH R ICHTMEYER
Spätestens als Gottfried Boehm 1994 prominent die Frage ›Was ist ein Bild?‹ stellte und sie in einem Sammelband mit Texten von Maurice Merleau-Ponty bis Max Imdahl auszudifferenzieren suchte,1 war der seit den 1970er Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehende Bildbegriff in der philosophischen und kunstwissenschaftlichen Diskussion angekommen. Der sogenannte ›iconic turn‹ und die gerade in Abgrenzung zur klassischen Kunstgeschichte und anderen Disziplinen entstehenden Bildwissenschaften hatten ein neues Forschungsfeld erschlossen, dessen Integrationsvermögen so stark war, dass Peter Geimer schon 2002 nicht ohne Grund die Frage umdrehen konnte: Was ist eigentlich kein Bild?!2 Eine ähnlich erstaunliche Karriere hat der Begriff der ›Geste‹ in den letzten Jahren erfahren. Das linguistische Interesse für Zeichensprachen entwickelte sich immer mehr zu einer grundlegenden Befragung der gestischen Grundlagen von Sozialität und Kultur. Studien wie »Le Geste et la Parole« des französischen Paläoanthropologen André Leroi-Gourhan oder die aktuellen Untersuchungen von Psycholinguisten und Verhaltensfor-
1
Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994. Vgl. für den englischen Sprachraum W.J.T. Mitchell, What Is an Image?, New Literary History 15:3 (Spring, 1984), 503-537.
2
Peter Geimer, Was ist kein Bild? Zur ›Störung der Verweisung‹, in: Ders. (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 313-341.
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schern wie David McNeill, Adam Kendon oder Michael Tomasello3 lassen menschliche Kommunikation nicht länger als in sich geschlossenes System lautlicher Zeichen, sondern als multimodales, um die Geste gebautes Phänomen erscheinen. Im Rahmen der in interdisziplinären Forschungsverbünden lancierten Performativitätsforschung kommen Wissenschaftler aus den Bereichen Theater und Film, Kunstgeschichte, Philosophie, Soziologie und Pädagogik zusammen, um gemeinsam über Inszenierung, Aufführung und Praxis unter dem Stichwort ›Geste‹ nachzudenken.4 Was lässt sich dieser Parallelität entnehmen? Bild und Geste sind als Paradigmen en vogue. Mit zunehmender Wichtigkeit erscheinen die Begriffe jedoch auf definitorischer Ebene diffuser. Ihre Omnipräsenz macht sie nicht klarer, so dass man fragen muss, worauf sich ihre Attraktivität eigentlich gründet. Die Frage ›Was ist ein Bild?‹ findet heute so wenig eine zufriedenstellende Antwort wie die nach einem einheitlichen Verständnis der Geste. Zugleich verdichtet sich der Eindruck, dass eine solche Suche nach Abgrenzung und scharfer Unterscheidung nicht wirklich weiter bringt. An die Stelle der ›Was ist...?‹-Frage muss diejenige nach Potential und Wirkung der an ›Bild‹ und ›Geste‹ kondensierenden Diskurse treten. Beide machen ein scheinbar simples Phänomen zur Richtschnur einer Kritik der etablierten Vorstellung von Sprache, Kommunikation und Wissen. Die Frage nach dem Bild ist gegen seine Reduktion auf ein Abbild gerichtet; die Betonung der Eigenständigkeit des Gestischen steht in starkem Kontrast zu einer Vorstellung von Kommunikation und Sprache, die allein über Zeichen und Bedeutungsrelationen als vom konkreten Vollzug unabhängiger Code funktioniert. Das Bild ist nicht nur Repräsentation und Illustration, die Geste nicht einfach Wortsprache mit anderen Mitteln. Beide haben das Potential zu genuiner, nicht-propositionaler Sinnstiftung. Die grundlegende Übereinstimmung in diesem Punkt lässt sich allerdings unterschiedlich interpretieren
3
Siehe u.a. David McNeill, Hand and Mind. What Gestures Reveal about Thought, Chicago 1992; Adam Kendon, Gesture. Visible Action as Utterance, Cambridge (Mass.) 2004; Michael Tomasello, Origins of Human Communication, Cambridge (Mass.) 2008.
4
Erika Fischer-Lichte u. Christoph Wulff (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010.
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und ausführen. Schaut man auf die Debatten zu Bild und Geste, so lassen sich mindestens zwei grobe Tendenzen unterscheiden: Die Konturierung einer ›Logik des Bildlichen‹ (Martina Heßler/Dieter Mersch) als einer nicht klassischen Logik, in der Abschattierungen und Übergänge an die Stelle scharfer Oppositionen treten, ist zunächst der Versuch, die Rolle von Bildern in epistemischen Prozessen, beispielsweise im Rahmen naturwissenschaftlicher Experimentalsysteme (Hans-Jörg Rheinberger) besser zu verstehen. Der den Menschen auszeichnende ›Logos‹ darf nicht auf die lineare Exaktheit des Syllogismus beschränkt werden. Es gibt eine komplexe Lateralität, eine mediale Eigendynamik des Bildlichen, die das scheinbar objektiv-abstrakte Wissen mit konstituiert. Diese mitkonstituierende Kraft des Bildes gilt es nicht nur für wissenschaftliche Visualisierungen genauer zu fassen. Ganz ähnlich ist die anthropologisch-soziologische Perspektive auf die Geste zu beschreiben. In der Geste lässt sich die diskursiv nicht mehr einholbare Dimension des Vollzugs, der Tat als auf eigene Weise sinnstiftend beobachten. Hier spiegelt sich ein praktisches, dem Körper eingeschriebenes implizites Wissen (Michael Polanyi), das den Einzelnen Handlungen und Reaktionen situationsabhängig und gelöst von seinem konkreten Willen reproduzieren lässt. Ergeben sich diese nicht-intentionalen Aspekte unseres Tuns aus der Einbindung in ein soziales Ganzes, lassen sie die soziale Bedingtheit menschlicher Verhaltensweisen erkennen, einen sozialen Sinn (Pierre Bourdieu), der sich auch auf das epistemische Handeln in Denkkollektiven (Ludwig Fleck) erstreckt. Dieses eher pragmatische Verständnis bildlicher oder gestischer Sinnstiftung wird durch ein Interesse an der Eigensinnigkeit von Bild und Geste ergänzt, das sie insbesondere als eine den Rahmen gelingender Semiose sprengende Kraft versteht. Seit dem 18. Jh. werden künstlerische Praktiken paradigmatisch als Versuch beschrieben, jenes ›Je ne sais quoi‹ aufkommen zu lassen, das den Betrachter des Kunstwerks in der Perspektive des Schönen mit einem nichtsemiotisierbaren Überschuss konfrontiert (Alexander Gottlieb Baumgartens sekundäre Erkenntnis) und ihn in der Perspektive des Erhabenen auf seine eigene Begrenztheit zurückwirft (von David Hume und Immanuel Kant bis Jean-François Lyotard). Beide Perspektiven, mit denen sich die Ästhetik als Disziplin zu konstituieren begann, konvergieren gleichermaßen im Motiv einer nicht mehr einholbaren Alterität. Diese Konfrontation mit dem sich
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nur zeigenden Unsagbaren, dem nicht zwingbar sich-Gebenden muss spätestens im 20 Jh. als eigentliche philosophische Einsicht in die eigene Bedingtheit, die conditio humana (so z.B. bei Helmut Plessner), wie in die unendlichen Möglichkeiten dieser Beschränkung, ihre Potentialität (wie bei Maurice Merleau-Ponty oder Giorgio Agamben) gelten. So sind Bild und Geste nicht einfach neue Gegenstände konventioneller Wissenschaft, sondern Kondensationskern des Versuchs, Wissen und Denken nicht unter dem Primat der Verfügbarkeit und Kontrolle zu entwerfen, sondern das Moment der Widerfahrnis konstitutiv einzubinden. Mit ihnen erschließt sich die Dimension menschlichen Weltverhältnisses, in welcher sich jener grundlegende, dem analytischen Zugriff aber entziehende Überschuss zeigt, der nicht auf ein Phänomen reduziert oder auf einen Begriff verengt werden kann. Und zugleich ist es gerade dieser Überschuss, der, was sich ästhetische Erfahrung nennt, auszeichnet, was den Entwurf mehr sein lässt, als eine schlichte Zeichnung, und was nicht zuletzt dem Denken überhaupt seine eigentliche Kraft gibt. So werden Bild und Geste zu Figurationen nicht-propositionalen Denkens deren medienspezifische Differenz gerade jenes Spiel der Unterschiede ermöglicht, welches sie als dynamische Wissensformationen epistemisch wertvoll werden lässt. Diese dynamische Verflechtung bildete nicht zuletzt die Grundlage der Diskussionen und Gespräche, welche zum Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes werden sollten. Zwei im März und Oktober 2011 in Basel am Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik ›Eikones‹ abgehaltene Workshops – initiiert und organisiert von Toni Hildebrandt – luden uns ein, die komplexe Struktur des Gestischen, gerade in produktiver Spannung zu der am Ort unserer Diskussionen so starken Bilddebatte, herauszuarbeiten. Anstatt Beschreibungen unterschiedlicher (Körper-) Gesten zu sammeln, galt es nun, die philosophische Fülle des Themas auf Entwurfsprozesse zu beziehen, wie sie vor allem in der Arbeitsgruppe „Bild und Entwurf“ (Eikones und Hochschule für Kunst und Gestaltung Basel) untersucht wurden. So wollten wir die Geste in dezidierter Abkehr von Auffassungen analysieren, die sie als bloßen Körper (materiales Artefakt) oder aber konventionelles Zeichen verstehen. Stattdessen ging es uns darum sie als epistemisches Prinzip (in Philosophie und Wissenschaften) und heuristischen Prozess (in Bildproduktionen) zu konturieren. Nicht zuletzt die Korrelation
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dieser letzten Differenz mit der Differenz von Sprache und Bild beschäftigte uns in den Diskussionen sehr und taucht in einigen der vorliegenden Texte als Problem wieder auf. Und doch ist dieser Anspruch nicht ohne Vorläufer. Man kann die hier versammelten Beiträge an verschiedene Vorgeschichten des Gestischen anknüpfen, die exemplarisch das Feld der Untersuchungen rahmen. Schaut man etwa auf die jüngeren Texte Agambens5 und seinen Einfluss auf eine Neukonzeption des Gestischen zwischen den Künsten, der Politik, dem Medialen und der Philosophie so ist der historische Bezug unübersehbar. Insbesondere mit der Ästhetik Kants lässt sich der Beginn eines vermögenspsychologischen Diskurses zur Verknüpfung der genannten Fäden benennen, der nicht explizit der Geste aber doch dem Ästhetischen und seiner Autonomie gilt, und damit den Status des nichtpropositionalen Urteilens und Wissens aufwertet. Neben den beiden etablierten Domänen der theoretischen und praktischen Philosophie (Erkenntnistheorie und Ethik), gilt es fortan auch noch eine andere geistige Kompetenz des Menschen anzuerkennen, die in den Künsten konkretisiert wird, die die Gattung insgesamt betrifft, die sich in Vorformen des Politischen äußert und die nur in immer neuen paradoxen Bestimmungen analysiert werden kann, weil sie selbst nicht begrifflich fassbar ist aber doch an den Konstitutionsbedingungen des Begrifflichen partizipiert. Sie ist ein Phänomen, das sich an der Sprache reibt, sie verfehlt und doch schon in einem, wenn auch abweichenden Sinne Sprache ist. Kurzum all diese Motive Kants erhalten spätestens durch Agambens Interpretationen das Etikett des Gestischen. Das zwischen den beiden Autoren situierte Begriffsfeld weist gewissermaßen auf die immaterielle, geistige, ideelle Lesart des Gestischen hin. Zugleich ist diese ideelle Lesart untrennbar mit einem körperlichen, physischen Gestenverständnis verbunden, welches sich nicht auf die souveräne Beherrschung einer rhetorisch gebrauchten Zeichensprache reduzieren lässt. Charles Darwins »On the Expression of the Emotions in Man and Animals« kann hier als ebenso beispielhafte wie historische Markierung an den Ausgangspunkt der körperlich orientierten Auffassungen des Gestischen gestellt werden. Von ihm führt ein direkter Weg zu Aby Warburg und Plessner und ein indirekter zu allen Fragen, die auf die Bedingungen
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Giorgio Agamben, Noten zur Geste, in: Ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Berlin/Zürich 2001 (2006), 2. Auflage, S. 47-56
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des körperlichen Ausdrucks und seine Effekte für die menschliche Kultur abzielen (etwa bei Valéry und Merleau-Ponty). Warburgs Pathosformeln sind Gesten jenseits der Ebene einer reinen Abbildlichkeit körperlicher Ausdrucksformen. Sie bewegen sich zwischen den Bildwerken von Antike, Renaissance und Gegenwart und konstituieren neben aller Anschaulichkeit zugleich eine heuristische Perspektive, die Überzeitliches und Überindividuelles ebenso erkennen lässt, wie sie etwas Unverfügbares impliziert, das sich auf der Ebene der Bildproduktion von Warburgs Atlas-Tafeln allererst prozessieren muss. Als Pathosformel strukturiert die Geste das epistemische Interesse Warburgs ebenso wie dieses einen offenen Prozess bildproduktiver Praktiken als den jeweiligen Austragungsort des Gestischen voraussetzt. Diese ideell/physische Doppelfigur des Gestischen, die den psychophysischen Dualismus Descartes bereits unterläuft (wie es besonders Plessner betonte), wurde nun gerade in ihrer die Grenzen von Kommunikation, konventioneller Mitteilung und zeichengebundener Darstellung übersteigenden Kraft in unseren Diskussionen auf das Thema des Bildes bzw. der Bildproduktion bezogen. Das Bildermachen impliziert, ähnlich wie Theater, Tanz und Sport, Regeln und Konventionen, es geht mit artistischen Kompetenzen einher und verwendet ausgesuchte Instrumente und Materialien und doch kommt ihm ein Zug zum Neuen zu, eine heuristische Kraft, die sich nicht im Kontext der genannten Bedingungen erklären lässt. Gestisches durchdringt diese Tätigkeiten zunächst in einem rein körperlichen Sinne. In Tanz, Theater und Sport wird die Bewegung des Körpers stilisiert, im Zeichnen ebenfalls, auch wenn sie hier auf die bildliche Fixierung zielt und in der Fotografie gehört sie zur Suche einer Perspektive, die wesentlich den Aufbau des Bildes bestimmt (wie besonders Vilém Flusser betont hat). Die heuristische Kraft dieser Tätigkeiten geht in der zielsicheren Beherrschung der Bewegungen aber nicht auf. Sie kommt offensichtlich dem Prozess, der jeweiligen Aus- und Aufführung selbst zu. Auch diese Sphäre lässt sich mit dem Titel des Gestischen bestimmen, wobei nun allerdings das Körperliche wiederum schon mit Ideellem durchsetzt ist. Einsichten hierzu kommen aus der Philosophie, aus ihrem Denken der Geste als eines überschießenden Phänomens, das sowohl die Ordnung der Begriffe erschüttert und zu Neuordnungen zwingt, als auch das adäquate Verständnis von Körper und Leib, Mimik, Gestik, Ausdruck und allen hieran anschließenden Begriffen irri-
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tiert. Indem die Philosophie aber das Gestische denkt und auch in der Handlung eines begrifflichen Schreibens zu fixieren versucht, nimmt sie selbst bereits an seiner Aus- und Aufführung teil. So zumindest die These, die von den hier diskutierten Philosophen in unterschiedlicher Weise vertreten wird. Deshalb ist der beschriebene Einfluss nicht einseitig. Auch die körpergebundene Auffassung des Gestischen wirkt auf ihre ideelle Bespiegelung zurück. Die Themen der folgenden Beiträge changieren zwischen den beiden im Titel ausgewiesenen Polen – freilich ohne sich jeweils nur auf eine Seite zu schlagen oder umgekehrt zwanghaft eine gleichberechtigte Verbindung zwischen beiden zu behaupten. Vielmehr ergibt sich die Verzahnung zwischen Bildlichkeit und dem Denken des Gestischen im Zuge der jeweiligen Einzelerörterungen und ihres konkreten Materials. Seien es Handlungen wie Tanz, Sport, künstlerische Bildproduktionen in der jüngeren Kunstgeschichte oder in der Unterrichtspraxis Visueller Kommunikation, seien es Schreibprozesse in der Philosophie oder Denkprozesse – die Gewichtung des Bildlichen und des Gestischen ändert sich unter dem Blickwinkel einer jeden Einzelbetrachtung, niemals aber wird einer der Pole gänzlich aufgegeben. Das gleiche gilt für die untersuchten Werke. Die Liste der hier mit der erforderlichen Intensität behandelten Autoren reicht von Agamben, Benjamin, Flusser und Heidegger über Merleau-Ponty, Plessner und Sartre bis zu Waldenfels, Wittgenstein und Valéry. In dieser Weise begegnen sich in den Beiträgen Praktiken des Bildlichen mit Denkweisen des Gestischen. Beide, Bild und Geste, werden daher weniger als Sujet verstanden, denn als strukturgebendes Moment menschlicher Weltverhältnisse im Zentrum der Genese theoretischer und künstlerischer Hervorbringungen. Nicht der scheinbar definierte Gegenstand, sondern das Vehikel der Reflexion steht im Zentrum des Interesses. Bild und Geste nicht als Phänomen, sondern als Denkfigur.
Die Zerzeigung Über die ›Geste‹ des Bildes und die ›Gabe‹ des Blicks D IETER M ERSCH
1. Bildgeste / Blickgabe Die ›Geste‹ des Bildes beruht darauf, uns etwas zu sehen zu geben. Alle drei Terme erweisen sich dabei als konstitutiv und verweisen aufeinander: ›etwas‹, ›sehen‹, ›Gabe‹. Sie werden zusammengeschlossen kraft jener Strategien der Sichtbarmachung, die sich im Bild gleichermaßen aufbewahren und zurückstellen wie versammeln. Ihre Leistung ist eine Synthesis, die mit derjenigen Synthesis korrespondiert, die man dem Denken zuschreibt, sodass sich die Geste des Bildes zugleich als eine Weise des Denkens zeigt. Sie realisiert sich im Sichtbaren, sodass etwas im Bild in seine Sichtbarkeit gelangt, wenn ein Blick auf es trifft und seiner Gabe antwortet. Nicht der Blick konstituiert das Bild, sondern das Bild den Blick – dann zeichnet sich im Besonderen das, was ein Bild ›gibt‹ und ins Sichtbare bringt, dadurch aus, dass es allererst einen Blick eröffnet. Diese Eröffnung kann als Blick-Gabe beschrieben werden. Sie genügt jener Gabe, wie sie Jacques Lacan dem Bildlichen überhaupt zugeschrieben hat.1 In seinen kurzen thesenhaften Sentenzen zum Bild weist er ihm nicht nur das skopophilitische Begehren zu, sehen zu wollen, sondern ebenso
1
Vgl. Jacques Lacan, Linie und Licht, in: Das Seminar Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim u. Berlin (4. Aufl.) 1996, S. 97-109, hier S. 103f., 107f.
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sehr, gesehen zu werden mit der ganzen Doppeldeutigkeit des Genitivs zwischen subjectivus und objectivus. Sehen-Wollen impliziert danach gleichzeitig die Lust, affiziert oder angesteckt zu werden; nicht nur sucht der Blick voyeuristisch nach einem Objekt seiner Befriedigung, das ihm vom Bild immer verwehrt wird, sondern er ersucht auch um die Präsentation eines Präsents, ebenfalls in der zweifachen Bedeutung von Gegenwärtigkeit und Geschenk, welche, wie Lacan betont, zunächst und zuerst darin besteht, einen Blick zu schenken, was im selben Atemzug beinhaltet, sich zu schenken, sich preiszugeben. Dann beschränkt sich die Gegenwart nicht nur auf die derart ›gegebene‹ Sicht, sondern bezieht sich gleichermaßen auf die Gegenwart des Blickenden. Alle Kunst – wie auch alle Diagrammatik, Graphik oder Zeichnung – gibt darin in gewisser Hinsicht ihren Blick und folglich auch sich selbst preis – und es ist gerade diese Preisgabe, die aus dem Bild im eigentlichen Sinne eine ›Geste‹ macht, wie sie es gleichzeitig an eine Alterität knüpft, die es seinem ›Grund‹ entzieht. In knappen Strichen sei so eine Bildtheorie skizziert, die weder von der Repräsentation noch von der Rezeption oder der souveränen Position des Autors oder Produzenten ausgeht, sondern buchstäblich das ›Dazwischen‹ adressiert, wie es der ›Geste‹ des Gebens entspricht, die hier im selben Moment einen Blick wie eine Sichtbarkeit ›gibt‹. Sie gilt es in ihrer vollen Komplexität auszuloten. Wenn auch der Begriff der Rezeptivität der Wahrnehmung die passio privilegiert, ist es doch nicht die Subjektivität der Erfahrung, die aus dem Bild diese Darstellung macht, sowenig wie es die Darstellung selbst ist, die ins Bild lockt und es auf seine vermeintliche ›Abbildlichkeit‹ verpflichtet – die gesamte Kunst der Moderne demonstriert das Gegenteil. Es kommt deshalb weniger darauf an, was auf einem Bild zu sehen ist, als vielmehr, was sich in ihm zeigt und welche Sicht durch es hervorgerufen wird. Das Bild ist keine Oberfläche, sowenig wie ein Spiegel oder ein Fenster in eine andere Welt, sondern ein Mediales, dessen chiastische Struktur in seiner ganzen Fülle aufgeschlossen werden muss und worin sich, so die These, die charakteristische ›Logik‹ oder Ordnung des Bildlichen als eine Ordnung von Gesten, Blicken und Gaben manifestiert. Wir werden sie als Ereignis eines ›Zeigens‹ zu entziffern suchen.2 In ihm hat zugleich das statt, was wir ›ikonisches Denken‹ nennen wollen.
2
Auf den Zusammenhang zwischen Bildlichkeit und der Geste des Zeigens haben wir verschiedentlich hingewiesen; so in Dieter Mersch, Kunst und Medium.
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2. Dispositive der ›Sichtbarmachung‹ Diese ›Logik‹ oder ›Ordnung des Zeigens‹ wurde gleich zu Anfang mit jenem Ausdruck der »Sichtbarmachung« belegt, wie ihn Paul Klee in seiner Schöpferischen Konfession verwendete: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar«.3 Was bedeutet: ›Sichtbarmachung‹? Das Wort betont – neben dem Machen als ›Gabe‹ – den Prozess der Herstellung oder Hervorbringung einer Sicht, die in doppelter Weise dem griechischen poiƝsis wie poiƝin, der gleichermaßen technischen wie poetischen Praxis, entspricht. Es scheint, dass es damit erneut die Produktionsperspektive privilegiert, doch geht es uns in erster Linie um die Dispositive der Herstellung, um jene Praktiken und Technologien, die aufgewendet werden müssen, um eine Sicht ›aufzurichten‹ und ihr dadurch eine ›Visualität‹ zu verleihen. In diesem Sinne lassen sich auch die verwandten Ausdrücke der Visualisierung und Visualität aufeinander beziehen, und zwar so, dass die erstere der letzteren vorausgeht: Visualisierungen sind an Apparaturen, an Methoden und Verfahrensweisen geknüpft, die den visuellen Eindruck erst erzeugen – und in Ansehung des Blicks lassen sie sich insbesondere als Praktiken verstehen, die den ›Blick‹ dadurch aufschließen, dass sie im selben Maße eine Aufmerksamkeit eröffnen wie sie steuern, abrichten oder auch entkontrollieren und zerstreuen. Es geht also weder um die poiƝsis im engeren Sinne der Hervorbringung, des Machens, noch um die Konstruktivität des Technischen, vielmehr ist, wenn wir von ›Dispositiven der Sichtbarmachung‹ sprechen, an den Doppelsinn von Eröffnung und Verschließung gedacht: Dispositive ermöglichen im gleichen Maße wie sie eingrenzen und engführen. Gleichzeitig sei daran erinnert, dass Aristoteles die technƝ als »höchste Tugend« der poiƝsis auffasste,4 eine Bestimmung, die Martin Heidegger in seiner Rückführung der Technik auf den einstigen Sinn der technƝ wiederum dadurch aufgriff, dass er gleichzeitig die duplizitäre Bedeutung von poiƝsis und poiƝin ins Spiel brachte, um die Rationalität
Zwei Vorlesungen, Gestalt und Diskurs, Schriftenreihe der MuthesiusHochschule, Bd. III, Kiel 2003, S. 169ff.; ders., Wort, Bild, Ton, Zahl. Modalitäten medialen Darstellens, in: Ders. (Hg.), Die Medien der Künste: Beiträge zu einer Theorie des Darstellens, München 2003, S. 9-49. 3
Paul Klee, Schöpferische Konfession, Berlin 1920.
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Aristoteles, Nikomachische Ethik, 6. Buch, Kap. 4, 1140a ff.
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des Technischen durch die Kunst zu überwinden. Der Begriff des Dispositivs soll deshalb keineswegs nur die ›Techno-Logien‹ der Sichtbarmachung aufrufen, sondern sie gleichfalls an eine ›Poetik‹ anschließen, die buchstäblich ›den Blick aufschlagen‹ lässt. Immer ist diese Beziehung wesentlich: Die Ästhetik der Bildlichkeit meint nicht nur die aisthƝsis, die Wahrnehmung in Gestalt des Visuellen, sondern ebenfalls das ›Raffinement‹ der Kunst, ihre spezifische Poesie, die, wie wir noch sehen werden, durch reflexive Praktiken, die im eigentlichen Sinne Differenzpraktiken sind, die Visualisierung unterbrechen, die Aufmerksamkeit umlenken und gerade dadurch den Blick anstacheln. Die ›Geste‹ des Bildes kommt darin gleichsam ›zu sich‹. Man muss allerdings in Rechnung stellen, dass solche Praktiken der Sichtbarmachung immer schon an ein komplexes Geschehen gebunden sind, das es unmöglich macht, sie einsinnig zu interpretieren: Sichtbarmachungen zielen weniger auf das Sichtbare selbst, als vielmehr auf eine Präsenz, die das Sehen ›ver-rückt‹. Wir haben es also zum einen mit jenem ›dispositionären‹ Arsenal von Verfahrensweisen oder Technologien zu tun, die die Ordnungen des Sichtbaren und den durch sie induzierten Blick aufstellen; Verfahren, die das tacit knowledge einer ganzen Geschichte von Visualisierungsstrategien aufrufen, wie sie seit der Antike tradiert werden und zu denen Fertigungsmethoden, Materialwahlen, Farbherstellungen oder die mathematischen Systeme der Perspektivik und der Dekoration, der Illusionsbildung und der Ornamentik und vieles mehr gehören. Man könnte schon diese Praktiken auf der Ebene von Performativa diskutieren, die auf ihre eigene Weise des Gestischen bedürfen. Zum anderen erweist sich bereits die schlichte Tatsache der materiellen Grundierung und Rahmensetzung als entscheidend, der ›Grund‹ und seine Abgründigkeit, aus dem die Erscheinung erst hervorgeht – das, was Heidegger die »Erde« nannte5 –, sowie, darauf bezogen, die Festlegung eines Ausschnitts oder einer Kadrierung, die sowohl die elementare Unterscheidung zwischen Bild und NichtBild, ihren trennenden Saum konstituieren, als sie auch die Fixierung des
5
Vgl. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Ders., Holzwege, Frankfurt am Main 1972, S. 7-68, hier S. 31ff. Vgl. auch unsere Lektüre in Dieter Mersch, Materialität und Formalität. Zur duplizitären Ordnung des Bildlichen, in: Marcel Finke, Mark Halawa (Hg.), Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin 2012, S. 21-49.
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Blicks, seine buchstäbliche ›Aus-Richtung‹ vornehmen. Gottfried Boehm hat sie unter dem Begriff der »ikonischen Differenz« diskutiert und damit darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Bildlichkeit selbst, ihre Geste, einer grundlegenden Differenzpraxis verdankt.6 Sie inkludiert selbst schon ein komplettes Arsenal von daraus abgeleiteten Unterscheidungspraktiken, angefangen bei der Unterscheidung zwischen Material und Form über die Vexierung zwischen Figur und Grund bis zu den Praktiken der Kontrastbildung durch Schattierung und Auflösung in unterschiedliche Grautöne oder durch die Liniengebung, die Differenzierung der Farben, der Konturbildung oder Abzeichnung von Räumlichkeit und Ähnlichem mehr. Zum Dritten – insofern alle diese Verfahrensweisen an Autorschaft gebunden sind oder Produkt einer Überlieferung oder Programmierung darstellen – schließen sie stets schon eine Alterität ein, denn die Geste, die Gabe weist auf einen ›Träger‹, einen ›Geber‹ zurück, der sie als solche instantiiert. Entsprechend arbeitet jede Visualisierung auf einen ›Chiasmus der Blicke‹ zu, sofern sich im Bild, auf seinem Tableau, in der cadrage oder durch seine Rahmung jene Blicke, die es anlockt, mit denjenigen kreuzen, die ihnen vorhergegangen sind und das offerieren, was Lacan als »Blick-Gabe« bezeichnet hat – gleichsam ein durch ein ›anderes‹ Sehen ›geschenktes‹ Auge, denn nicht vergessen werden darf, dass das, was wir zu sehen bekommen, sich des Blicks eines Anderen verdankt, der, je fremder er scheint, uns umso eindringlicher zu fesseln vermag. Schließlich, davon ausgehend, sind wir viertens im gleichen Maße schon mit einer Zurückhaltung, einem wesentlichen Entzug konfrontiert, weil der Blick des Anderen, seine ›Gabe‹ keine präzise Lokalität im Bild besitzt: Weder scheint klar, wo der Blick des Anderen sich ins Sichtbare inskribiert, noch was er ist oder zu ›be-deuten‹ sucht, wie überhaupt jede Geste indifferent bleibt, weil sie sich nur zeigt und nicht anzeigt, worauf sie zeigt oder zu besagen sucht. Alle Bildlichkeit bleibt deshalb von einer prinzipiellen Unbestimmtheit oder besser: Unbestimmbarkeit oder Nichterfüllung heimgesucht – und es ist gerade diese Nichterfüllung, diese Negativität, die ihr spezifisches Mysterium, ihre »Magie« gleichwie
6
Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, sowie: Die Bilderfrage, in: Ders. (Hg): Was ist ein Bild, München (2. Aufl.) 1995, S. 11-38, hier S. 29ff. u. S. 325-343, hier S. 338ff.; ferner ders., Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 2007, S. 199ff.
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ihre »Rätselgestalt«, mit den Worten Theodor W. Adornos gesprochen,7 ausmacht. Die Unausdrückbarkeit des ikonischen Faszinosums, das ebenso sehr den Blick, die Aufmerksamkeit anzieht und in Bann schlägt wie es die Sprache verbannt und seine Übersetzung in Worte verfehlen lässt, besitzt darin seinen maßgeblichen Ort. Dabei wären insbesondere noch die vielfältigen ›ethisch-ästhetischen‹ Konnotationen des Ausdrucks ›Aufmerksamkeit‹ mit einzubeziehen: Etwas lässt aufmerken, zwingt den Blick in eine ›Achtung‹, an dessen ganzer Passivität im selben Maße auch die Dimensionen des ›Achtens auf‹ und der ›Achtung vor‹ hängen.
3. Monstrare, demonstrare, performare Mit ihr – d.h. in allen Bedeutungen der Aufmerksamkeit – korrespondiert zugleich das, was sich als eine Logik oder Ordnung des Zeigens exponieren lässt. Auch dem Verb ›zeigen‹ kommen unterschiedliche Konnotationen zu, wie sie vor allem durch die jeweiligen präpositionalen ›Stellungen‹ angezeigt werden, mit denen es zusammen auftritt: ›etwas zeigen‹ kann etwas ›präsentieren‹, ›verkörpern‹, ›ausstellen‹ oder ›vorführen‹ bedeuten, während auf etwas zeigen im engeren Sinne eine deixis, eine Hinweisung meint, die immer auf ein ›Dieses‹ gerichtet bleibt, oder auf ein ›Anzeigen‹ und ›Vorzeigen‹ auf das Gestische selbst im Sinne einer »Mitteilbarkeit« zielt.8 Nicht eigentlich auf der Ebene eines ›Sagens‹ angesiedelt, gibt es von ihr keine Übersetzung, keinen zweiten Ausdruck, sondern stets wieder nur ein Zeigen. Es kann zudem transitiv oder intransitiv gebraucht werden, sodass die Bedeutung von Zeigen stets zwischen ›etwas zeigen‹ und ›Sichzeigen‹ schwankt. Erscheint ›etwas zeigen‹ oder ›auf etwas zeigen‹ bzw. ›etwas anzeigen‹ und ›vor-stellen‹ intentional präjudiziert, fällt das Sichzeigen mit dem Erscheinenlassen und der Phänomenalität des Phänomens
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Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 182f.; sowie in der Negativen Dialektik: »Was ans Bild sich klammert, bleibt mythisch befangen, Götzendienst. Der Inbegriff der Bilder fügt sich zum Wall vor der Realität.« Ders., Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973, S. 205.
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Vgl. Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg u. Berlin 2001, S. 60.
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im Sinne des ›ur-sprünglichen‹ phainesthai zusammen, das weit mehr als die irreführenden Substantivierungen das Verbum in den Mittelpunkt stellt. Zeigen/Sichzeigen wäre von daher prozesshaft zu verstehen; ihm eignet eine unmittelbar performative Note. In dieser Hinsicht kommt ihm im Gegensatz zum ›Sagen‹ ein genuin aisthetischer Zug zu: Es gibt kein Zeigen ohne aisthƝsis, sei es, indem der Fingerzeig auf etwas Wahrnehmbares hindeutet und so erfahrbar macht, sei es dadurch, dass eine Vorführung – man denke ans Schauspiel – im Sinnlichen spielt und eine ostentative Gegenwärtigkeit herzustellen sucht. An Wahrnehmbarkeit gebunden, zielen sie zugleich auf sie: Notwendig deutet sich darin die irreduzibel duplizitäre Struktur des Zeigens/Sichzeigens an, denn es gibt kein de-monstrare ohne monstrare wie gleichermaßen ohne den innigen Konnex zwischen phainesthai und performare wie auch zwischen dem Gezeigten und dem Körper des Zeigenden, seiner elementaren Präsenz.9 Was immer gezeigt und wo immer auch hingezeigt werden mag oder was wir im Konkreten zu manifestieren suchen – nirgends können wir umhin, uns im Moment des Zeigens mitzuzeigen: Im Zeigevorgang und seiner elementaren Gestik enthüllen wir uns zugleich als Gebärde, als Leib oder als die Singularität einer Handlung, genauso wie ein Bild, das ›etwas‹ zeigt, seine Form des Zeigens, seine Materialität und Medialität stets mit offenbar macht. Insbesondere charakterisieren wir das Mitzeigen oder Mitenthüllen als ein ›Sichzeigen‹: Es zeigt sich, gibt sich selbst preis, manifestiert sich in seiner Unverwechselbarkeit. Was aber bedeutet ›Es‹? Als Subjekt des Satzes markiert es eine Unbestimmtheit, ein Neutrum.10 Darum ist ›Es‹ nichts, was sich adressieren, geschweige denn in seinen Eigenschaften aufzählen ließe, vielmehr fungiert es als grammatisches Subjekt ohne Subjektivität. Es ist der Grund – oder genauer: der ›Ab-Grund‹ – des Zeigens wie auch des Bildlichen, soweit es der Auslöser des Blicks ist: Jene Höhlung, von der aus die Aufmerksamkeit ihren Ausgang nimmt und den Blick in eine Sicht
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Zum Begriff des Zeigens und zum Sichzeigen sowie ihre vielfachen Verwendungen vgl. bereits Dieter Mersch, Körper zeigen, in: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn u. Matthias Warstat (Hg.), Verkörperung. Theatralität, Bd. 2, Tübingen u. Basel 2000, S. 75-91 und ders., Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, bes. S. 236ff.
10 Zur Figur des Neutrums vgl. Roland Barthes, Neutrum, Frankfurt am Main 2005.
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zwingt. Man muss also in Bezug auf eine Bildtheorie die Visualisierung, die Sichtbarmachung vom Sichtbaren, dem Visuellen und seiner Phänomenalität trennen, obgleich sie unabdingbar zusammengehören – sie überdecken sich zwar zuweilen, oder geben vor, sich zu decken, zuweilen verstärken sie sogar einander und arbeiten der Sichtbarkeit zu; doch vermögen sie ebenso sehr auseinander zu treten, zueinander in Widerspruch zu geraten oder sich zu einem unlösbaren Knoten zu verstricken: Anamorphosen sind von dieser Art, genauso trompe l’oeils oder die ganze Kunst der Reflexion, wie die Avantgarden sie in extenso zu entfalten versucht haben. Ihr Widerstreit, ihre Aporie kann dabei eine Irritation hervorrufen, die jedes Interesse am Bild vereitelt und damit gerade keinen Blick oder vielmehr: eine unspezifische Streuung auslöst – oder sie induziert eine Verwirrung, eine produktive Konfusion, die die Organisation der Blicke unentschieden in der Schwebe hält und durch ihren Spalt, ihre Klüftung umso nachhaltiger in ein Sehen ›lockt‹: Alle Kunst hat seit je diese Spannung ausgebeutet. Allerdings ist die dabei entstehende Affektion keine Funktion eines Effekts, sondern einer Differenz, d.h. eines Affekts ohne Grund, ohne Anlass – ein Affekt, wie man sagen könnte, aus einer Negativität: Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat (1915) operiert auf diese Weise, ebenso wie René Magrittes Ceci n'est pas une pipe (1928-29) oder Barnett Newmans Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue (1966-70): Sie alle arbeiten auf unterschiedlichen Wegen mit einer Dissoziation oder Dissonanz des Sichtbaren, die den Blick nicht in Ruhe lassen will.
4. Negativität und Unterscheidung: Zur Frage eines ›zeigenden Denkens‹ Der zentrale Punkt unserer Überlegungen ist nun, dass diese Duplizität von Zeigen und Sichzeigen, von Präsenz und Präsentation oder Markierung und ›Mal‹ – auch hier wäre der ganze Kreis der Assoziationen ins Auge zu fassen – auf der einen sowie die Phänomenalität der Erscheinung, das Ereignis der Sicht auf der anderen Seite den Kern der Bildgeste ausmacht. Sie bietet den Schlüssel zu ihrer Theorie. Die ›Gabe‹ oder Blickgeste besteht also nicht in erster Linie darin, etwas Bestimmtes, ein ›Abbild‹ vorzuführen – die Bildlichkeit des Bildes spielt nicht primär auf der Ebene der Repräsentation, die dem Auge eine Szene oder eine Figur vorzugaukeln trachtet. Es
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ist auch nicht der Blick, der, im Sinne der primären ›Augenlust‹ irgendeine ›Sache‹ zu Gesicht bekommen möchte –, sondern es ist das stets changierende Spiel zwischen Zeigen und Sichzeigen, ihr Chiasmus, der die Passion des Blicks gefangen nimmt. Analysiert man diese primäre Duplizität näher, ergibt sich – übrigens für jede ›Geste‹, nicht nur die bildliche, sondern auch die leibliche –, dass sie mit einer genuinen ›Affirmation‹ zusammenhängt: Sie ist Grundzug des Sichzeigens, des In-Erscheinung-tretens selbst. Bereits der deixis in der vollen Bedeutung des deiknymai, des Zeigens, Darlegens oder Sehenlassens, das etymologisch sowohl mit der Weisung, der Gerechtigkeit (dike) und dem Wissen (daƝnai) als auch mit der Begrüßung und dem Willkommenheißen (dediskomai) verwandt ist, wie gleichermaßen die Ostension, das os-tendere des ›Sichentgegenstreckens‹ und ›Sichoffenbarens‹, wohnt diese affirmative Kraft inne, als sie auf uns zurückweist und von uns entgegengenommen, akzeptiert werden muss. Sie sperren sich ihrer Bestreitung. Der entscheidende Gedanke ist, dass daran von Anfang an ein problematisches Verhältnis zur – logischen – Negation geknüpft ist. Genauer: Bilder dulden – im strengen Sinne – keine Negativität, wenn mit Negation die strikte, d.h. ausschließende Verneinung gemeint ist. Doch muss hier insofern differenziert werden, als einerseits noch zwischen dem Zeigen im engeren Sinne und dem Sichzeigen in der weiten Bedeutung des phainesthai, sowie andererseits zwischen einem konträren Negativen und einem kontradiktorischen unterschieden werden muss. Zeigen ist immer gerichtet, und zwar so, dass das Gezeigte nicht im selben Moment annulliert werden kann; Sichzeigen aber verdankt sich einer ungerichteten Passivität, die nur angenommen oder verweigert werden kann; im letzten Falle wären wir mit einer Verleugnung der Erscheinungen überhaupt konfrontiert. Soweit jedoch das Erscheinen eine ›Ex-sistenz‹ im Wortsinne von ex-sistere, des Herausstehens aufruft, fällt eine solche Verleugnung mit der pathologischen Auslöschung der Existenz selbst zusammen. Der Umstand rührt an die Tatsache, dass wir Bilder sehen, aber nicht im selben Atemzug behaupten können, nichts zu sehen: Selbst wo wir, im Falle von Robert Rauschenbergs White Paintings (1951) lediglich weiße Flächen wahrnehmen, gewahren wir immer noch Weißes, dessen Abweisung Blindheit bedeuten würde. Die Konsequenzen lassen sich u.a. aus Heideggers Überlegungen zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begriff der Negativität ablesen, ohne dass
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sich freilich Heidegger aufs Bildliche bezöge.11 Dennoch bleiben seine Ausführungen insoweit aufschlussreich, als sie der Negation in der Logik und Geschichte der europäischen Rationalität eine Schlüsselrolle zuweisen – wie man überhaupt die Verneinung als ein Rationalitätsparameter schlechthin apostrophieren kann, weil sie – entsprechend des spinozistischen Omnis determinatio est negatio – den Grund des Unterscheidens selbst ausmacht. Nimmt man hinzu, dass Denken – so die klassische Bestimmung des Deutschen Idealismus – nicht zunächst ein ›Sichbeziehen‹ im Sinne der intentio bedeutet, sondern in erster Linie ein ›Urteilen‹, das auf der Fähigkeit beruht, zu trennen oder aufzuspalten – Johann Gottlieb Fichte spricht bezeichnenderweise vom »Urteil« als einer »Ur-Theilung«12 –, avanciert die Negativität bei Hegel, und mit ihm, wie Heidegger hervorhebt, für die gesamte abendländische Metaphysik, zum Ursprung des Denkens selbst. So rückt die Negation nicht nur ins Zentrum einer Frage nach der ›Logik des Bildlichen‹, an der sich zugleich die Frage entzündet, ob es dergleichen wie ein visuelles Denken gibt, sondern ebenfalls in den Mittelpunkt der ›Geste des Denkens‹ im Ganzen. Hat die philosophische Tradition von Platon und Aristoteles bis zu Hegel und darüber hinaus eine solche Geste allein dem Vermögen der Sprache zugeschrieben, liegt die Vermutung nahe, dass ein bestimmtes Verhältnis zur Negation und entsprechend eine bestimmte Vorstellung von Negativität diesen Alleinvertretungsanspruch begründet, der umgekehrt die Geste eines ›bildlichen‹ und mit ihr der Möglichkeit eines ›zeigenden Denkens‹ aus ihrem Hof ausschließt. Denn für Hegel, so Heidegger, heißt Denken negieren, doch wird diese Negativität nicht in erster Linie vom ›Nichts‹ und entsprechend dem ›Ereignis des Erscheinens‹ her verstanden, sondern von der Verneinung des Seienden her, d.h. von ›Etwas‹ im Sinne des Nicht-Seins.13 Dabei bekommen wir es mit einer dreifachen Verneinung zu tun: einmal mit einer abstrakten, die der ›Gleich-Gültigkeit‹ von Sein und Nichts entspringt, zweitens zwischen
11 Vgl. Martin Heidegger, Hegel, Gesamtausgabe Bd. 68, bes. erster Teil: Die Negativität, S. 3ff. 12 Vgl. dazu Violetta Waibel, Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte, in: Wolfgang H. Schrader (Hg.), Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre. Fichtestudien: 200 Jahre Wissenschaftslehre, Bd. 12, Amsterdam 1997, S. 43-70, bes. S. 60ff. 13 Ebd., S. 12ff.
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Einem und Anderem – oder von Andersheit überhaupt –, sowie drittens zwischen einem Bestimmten und einem anderen Bestimmten. Alle drei generieren unterschiedliche Differenzformen, zunächst dazwischen, dass etwas ist und nicht nichts, sodann die Distinktion zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit sowie schließlich die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Entitäten. In allen dreien besteht zudem die Funktion der Negation in der Konstitution des Unterschieds bzw. der Bestimmung von etwas als etwas und damit des ›Als‹. Wenn wir uns also der Frage nach der Möglichkeit eines zeigenden Denkens zuwenden, ist offensichtlich der entscheidende Punkt, wie bzw. ob sich ein ›ikonisches‹ oder überhaupt ein ›gestisches Als‹ denken – bzw. ›anschauen‹ lässt.
5. Kontradiktionen versus Kontraste Geht man einen Schritt weiter, erhellt sich, dass es, um etwas gegen Anderes bzw. ein Bestimmtes gegen ein anderes Bestimmtes abzugrenzen, der Negation in dem Sinne bedarf, dass das Andere nicht dieses ist, dass etwas und etwas anderes nicht dasselbe sein können. Man gelangt folglich zum principium contradictionis als dem spezifischen Modus von Negativität, die zugleich das ›designierte‹ Zentrum der gesamten klassischen Logik ausmacht; ja eigentlich sind sogar alle Prinzipien der Logik einschließlich des Identitätsprinzips und des tertium non datur vorauszusetzen, um über eine Kette von Negationen das ›Als‹ der Bestimmung zu generieren. Die Struktur der fraglichen Unterscheidung ist demnach im Entweder-oder, d.h. dem kontradiktorischen oder exkludierenden Negativen zu finden, die wir wiederum für die ›bildliche Logik‹ und die Affirmation des Gestischen ausgeschlossen haben. Anders gewendet: Denken – und das ist die ganze Pointe Heideggers – bedeutet bei Hegel und damit für die gesamte Geschichte der Philosophie ein Unterscheiden-können auf der Grundlage des kontradiktorischen Negativen. Augenscheinlich gilt dies fürs Bildliche sowenig wie für das ›Gestische‹ und seiner Kraft des Zeigens/Sichzeigens – jedenfalls nicht in gleicher Weise. Dies kann in doppelter Hinsicht sowohl anhand der Materialität der Geste/des Bildlichen als auch für den Wahrnehmungsakt – und hier für alle Wahrnehmung vom Visuellen bis zum Taktilen – deutlich gemacht werden. Wie die Geste der leiblichen Grundierung und des Körpers bedarf, der sich
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überall mitzeigt und dessen Verdrängung sich noch in der Eigenart der Geste, ihrer spezifischen Gehemmtheit ausdrückt, bedarf auch das Bild, um anwesend zu sein und gesehen werden zu können, der Materialität seiner Erscheinung, sei es als Grund, Bild-Schirm oder Projektion, deren Textur durch ihre jeweiligen Oberflächen ›hindurch scheint‹ (dia-phainesthai) – die Präposition durch (dia) markiert nichts anderes als das Wort ›Medium‹.14 Darüber hinaus eröffnet sich dem Wahrnehmungsakt keine Reihe von diskreten Alternativen, die er gleichzeitig zu überschauen und zu unterscheiden vermag: Der Gesichtsraum ist nicht ›zerlegt‹, vielmehr erscheint alles ›auf einmal‹ sichtbar: Die ›syn-opsis‹ ist der Anschauung eingewoben. Darum hatte Immanuel Kant angesichts der Rezeptivität des Sinnlichen von ›diffuser‹ Mannigfaltigkeit gesprochen: Die Wahrnehmung ist nicht ›diskretiert‹, sie zerfällt nicht in eine disjunkte Kette aus wohlunterschiedenen Klassen, sie zeigt sich kontinuierlich undifferenziert.15 Zwar gibt es, wie gleichfalls Gottfried Boehm konstatiert hat, Kontraste in Bildern – doch sind diese im Gegensatz zu Kontradiktionen stets doppelt besetzt und in ihrer Duplizität bereits simultan sichtbar, weil immer beide Seiten des contrastare, des ›Mit-‹ und ›Gegen-stehens‹ anwesend sind. Deswegen gibt es im Bild allenfalls ein konträres Negatives – das Bild folgt keiner Logik der Binarität, sondern der Indifferenz, des Sowohl als auch. Dann wandelt sich die Frage, ob es ein ›zeigendes‹ Denken gibt, zur Frage nach der Möglichkeit einer ›nichtdisjunktiven Logik‹ – wobei sich im näheren noch die Schwierigkeit ergibt, wie sich eine solche nichtdisjunktive Logik zu den sogenannten intuitionistischen oder ›nichtklassischen‹, mithin drei-, vieroder höherwertigen Logiken verhält. Mit Blick darauf, dass solche Logiken ebenfalls nur mit Alternativen operieren, dass sie ein Paradoxes, ein Drittes, Viertes usw. annehmen, ohne das Widerspruchsprinzip zur Gänze aufzugeben, kann eine ebenso vorläufige wie heuristische Antwort lauten: Logiken des Zeigens sind weder klassisch noch nichtklassisch – sie sind von anderer Art. Wenn es, anders gewendet, ›gestisches‹ oder ›visuelles‹ Denken gibt,
14 Vgl. dazu unsere vorläufigen Überlegungen in: Dieter Mersch, Meta / Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Bd. 2, Hamburg 2010, S. 185-208. 15 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, vor allem § 14ff., B 125ff.
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gehorcht es mithin einer ›anderen Logik‹, die zugleich etwas anderes als ›Logik‹ wäre.
6. Nichtnegierbare Negativität Um auf diesem Wege ein weiteres Stück zurückzulegen, sei noch einmal auf Heideggers Hegellektüre zurückgegriffen. Denn bislang hatten wir nur die bestimmte Negation zwischen Etwas und Etwas anderem behandelt, die jeweils zwei distinkte Formen und damit deren Unterschiedenheit schon voraussetzt, nicht jedoch die einfachste und grundlegendste Form der Negativität, nämlich die zwischen Sein und Nichtsein. Die Art ihrer Unterscheidung gehört zu den ältesten Fragen der abendländischen Philosophie, insofern das Nicht sich auf Sein beziehen kann und ihm damit einen Vorrang erteilt, oder ein Nichts meinen kann, das seinerseits dem Sein vorausgeht und aus ihm damit ein Ereignis macht. Gibt es mit Bezug auf das Zeigen eine ähnliche Differenz? Was würde, um die Frage zu konkretisieren, im Gestischen wie im Bildlichen dem Aufweis von Nichtsein gleichkommen? Die Frage entspricht ersichtlich der, ob es negative Fakten, insbesondere negative Wahrnehmungsfakten geben kann. Ludwig Wittgenstein hatte sich im Tractatus logico-philosophicus hinsichtlich der Struktur von »Elementarsätzen« mit einem ähnlichen Problem auseinandergesetzt, wenn er diese als Behauptung des »Bestehen(s) eines Sachverhaltes« fasste: »Der Elementarsatz besteht aus Namen. Er ist ein Zusammenhang, eine Verkettung, von Namen.«16 Die Definition enthält kein Negationszeichen; sie betont vielmehr die unmittelbare Positivität der Behauptung, denn »(d)er Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst«, dessen Negation erst verstanden werden kann, wenn diese verstanden wurde.17 Unabhängig von der Frage der Existenz von Elementarsätzen, die Wittgenstein in seiner späteren Philosophie selbst zurückgewiesen hat, gilt die Nichtnegativität jedenfalls analog für die aisthƝsis, soweit sie es mit einem primären Erscheinen zu tun hat, das nicht verneint werden kann, ohne jeglicher Erfahrung selber den
16 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition. Hg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1989, 4.21, 4.22. 17 Ebd., 5; 5.02
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Boden zu entziehen.18 Denn vom Nichterscheinen gibt es allenfalls nur eine indirekte, wiederum im Erscheinen zu manifestierende Spur, soweit auch die Absenz eines Zeugnisses, einer Gegenwärtigkeit der Nichtgegenwärtigkeit bedarf. Dann verläuft die Differenz hier nicht zwischen Sein und Nichtsein, sondern zwischen Existenz und Nichts, sodass in Bezug auf die Wahrnehmung das Nichts primär zu setzen wäre. Entweder ich zeige etwas – oder ich unterlasse es: Ich zeige dann nicht etwas, sondern nichts: Die Negation bezieht sich auf den Zeigevorgang selbst. Und analog: etwas zeigt sich – oder nichts: Das Zeigen erlaubt keine Übergänge, keinen Spielraum. Tatsächlich zeige ich stets auf dieses, hebe jenes hervor, übergehe etwas explizit, lasse es aus: Der Lapsus besteht hier in einem Entgehen, das nicht von Ignoranz gekennzeichnet ist. Und wiederum analog: Entweder gibt es ein Sehen oder Blindheit; die Wahrnehmung gestattet kein Drittes, auch und gerade weil sie selektiv verfährt. Offenbar gibt es also kein Nichtzeigen – oder genauer: Wir können nicht zeigend etwas nicht zeigen: Die Entscheidung zwischen Zeigen und Nichthandeln geht vielmehr immer aufs Ganze. Das schließt nicht Irrtum, Täuschung oder Vortäuschung aus; im Gegenteil: bewusst kann etwas verborgen, maskiert oder verstellt werden, aber immer so, dass es mit etwas anderem oder durch (dia) anderes verstellt, maskiert oder unterbunden wird, das sich im Prozess der Verhüllung mit enthüllt. Es gibt folglich ein Pseudozeigen, das den Blick ablenkt, die Präsentation einer Illusion als Illusion, die sich durch (dia) ihre Selbstenthüllung von neuem verbirgt, ebenso wie die Auslöschung jeder Spur noch die Spur der Auslöschung einbehält. Der maßgebliche Punkt ist: allen Steigerungsformen, allen Metastufen und ihren Verschränkungen ist gemeinsam, dass sie selbst noch Weisen eines Zeigens sind, dass sie noch zeigend vollzogen werden müssen und sich dabei selbst dekuvrieren. Damit einher geht ebenfalls die Nichtnegativität der Anschauung. Zwar können wir uns darüber täuschen, was wir sehen, nicht aber, dass wir sehen, was wir sehen – bzw. dass das, was wir zu sehen meinen, uns so und nicht anders erscheint. Die Differenz, die sich bereits in der Wahrnehmungstheorie des Aristoteles findet, wird von Wittgenstein anhand einer Kugel erläutert, die zwar als Kugel zweifelhaft sein kann, nicht aber, dass sie dem Betrachter als solche vorkommt: »Der Mechanismus der Hypothese
18 Es geht an dieser Stelle keinesfalls darum, die Wittgensteinsche Elementarsatzlehre wieder aufzunehmen, sondern allein um die Analogie in der Fragestellung.
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würde nicht funktionieren, wenn der Schein auch noch zweifelhaft wäre. (…) Wenn es hier Zweifel gäbe, was könnte den Zweifel heben?«19 Die Notiz aus dem Jahre 1930, die sich umstandslos mit späteren Bemerkungen aus Über Gewißheit verbinden lässt, berührt sich direkt mit der Frage der Negativität des Zeigens bzw. der Negation im Bild. Denn ›Nichtsein‹ kann kein möglicher Abbildungsgegenstand sein, weil die Darstellung immer schon ›etwas‹ sichtbar macht; andernfalls hieße es, das Paradox auszuhalten, gleichzeitig etwas zu sehen und nicht zu sehen, wie abermals Wittgenstein anhand einer Gegenüberstellung von diskursiven und ikonischen Schemata vorgeführt hat. Bereits in den Bemerkungen aus dem Jahre 1929 heißt es, dass »(m)an (…) nicht das contradictorische Negative sondern nur das conträre zeichnen (d.h. positiv darstellen)« kann.20 Immer wieder hat Wittgenstein diesen Punkt umkreist. So lautet eine Passage aus den Philosophischen Untersuchungen: »(E)in gemaltes, oder plastisches Bild, oder ein Film (…) kann (…) jedenfalls nicht hinstellen, was nicht der Fall ist.«21 Und eine Notiz aus den Philosophischen Bemerkungen und dem Big Typescript aus den 1930er Jahren ergänzt: »Ich kann ein Bild davon zeichnen, wie Zwei einander küssen; aber doch nicht davon, wie Zwei einander nicht küssen (d.h. nicht ein Bild, das bloß dies darstellt.)«.22
19 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Studientexte Bd. 3, hg. v. M. Nedo, Wien 1994, S. 19. 20 Ebd., S. 56. 21 Ders., Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1971, § 520, S. 174. Auch ders., The Big Typescript, Wiener Ausgabe Bd. 11, hg. v. M. Nedo, Wien 2000, Nr. 27, S. 76. Vgl. dazu auch unsere Überlegungen in: Dieter Mersch, Bild und Blick. Zur Medialität des Visuellen, in: Ch. Filk, M. Lommel, M. Sandbothe (Hg.), Media Synaesthetics, Köln 2004, S. 95-122; ferner ders., Wittgensteins Bilddenken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2006, Nr. 6, S. 925-942, sowie ders., Ikonizität. Theorien des Bildlichen nach Wittgenstein, in: Ludger Schwarte (Hg.), Bild-Performanz, München 2011, S. 111136. 22 Wittgenstein, Bemerkungen (Anm. 19), S. 56. Ähnlich auch in: The Big Typescript (Anm. 21), S. 83: »Ich kann ein Bild davon zeichnen, wie Zwei miteinander fechten; aber doch nicht davon, wie Zwei miteinander nicht fechten (…).«
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7. Radikale Singularität: Entzug der Bildlichkeit Wir können sogar noch weiter gehen. Denn die Wahrnehmung bezieht sich immer auf ein Singuläres: Sie adressiert ein ›Dieses‹, das nur einmal vorkommt. Zwar erkennen wir unmittelbar Gestalten; aber diese sind Individuen, sie lassen sich nicht schon als Typen verallgemeinern. Singulär ist das, was einzig geschieht: Heidegger spricht in diesem Zusammenhang vom »Ereignis«. So heißt es in Identität und Differenz: »Das Wort Ereignis meint hier nicht mehr das, was wir sonst irgendein Geschehnis, ein Vorkommnis nennen. Das Wort ist jetzt als Singulare tantum gebraucht. Was es nennt, ereignet sich nur in der Einzahl, nein, nicht einmal mehr in einer Zahl, sondern einzig.«23 Allerdings sei hinzugefügt, dass der Ausdruck ›Singularität‹ in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen verschieden verwendet wird; in der Mathematik bezeichnet er eine nichtberechenbare Stelle, in der Geschichtswissenschaft das Inkommensurable schlechthin, das, was sich, wie der Holocaust, keiner Kategorie fügt. Die philosophische Logik wiederum kennt Eigennamen als ›singuläre Terme‹. Sie individuieren wie die Namen der Wittgensteinschen Elementarsätze, wobei ihre Identifikation deiktisch mittels Demonstrativpronomen wie ›Dieses‹ oder ›Jenes‹ oder auch einer Interpellation, eines Ausrufs funktioniert. Sie operieren damit über Aus- und Abgrenzung. Damit wären wir aber wieder beim dritten Sinn des Negativen bei Hegel und verlören auf diese Weise, wollte man die Singularität logisch verstehen, ihre Radikalität im Sinne des Ereignisses. Denn jede Identifikation oder Benennung hat ein ›Etwas‹ schon ›als solches‹ markiert oder ausgezeichnet und folglich mit einem ›Als‹, einer Bestimmung versehen. Genau diese Schwierigkeit war auch die Intuition Jacques Derridas: Nicht das Ereignis, sondern die différance steht am Anfang: »›Einmal‹ ist das Geheimnis dessen, was keinen Sinn, keine Präsenz und keine Lesbarkeit besitzt«, wie es in Schrift und Differenz heißt,24 darum gebe es das ›Einmal‹, das Einzigartige immer nur als nachträgliche Verweisung, als Wiederaufnahme, die es schon von sich getrennt hat. Doch verläuft hier die Trennungslinie zwischen der Ereignung selbst und ihrer Unvorhersehbarkeit, ihrer Plötzlichkeit, und ihrer Adressierung ›als‹ Ereignis, was seine Wiedererkennung bereits voraussetzt. Wir befinden uns dann be-
23 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart (13. Aufl.) 2008, S. 25. 24 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, S. 374.
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reits in der Welt der Zeichen, der Signifikation, der Markierung eines Vorkommnis der Art »x an der Stelle k zum Zeitpunkt t«, mit Bezug auf das sich die empirische Frage danach stellt, was es ist. Ist sein Auftauchen wieder aufrufbar? Ist es mehrmals zu beobachten? Das Ereignis und seine Singularität hat man auf diese Weise schon verloren. Der schwierige Punkt ist hier zu entscheiden, welche Art von Ereignung Wahrnehmungen und mit ihnen Bilder erzeugen: Handelt es sich um Individuen – wie eine gewisse Tradition sagen würde – oder um Singularitäten, die sich keiner zuträglichen Beschreibung fügen und woran alle angebotenen Vokabularien brechen? Hinsichtlich des Bildes müsste die Frage so variiert werden, dass es entweder ›etwas‹ zeigt, dass ›als‹ etwas immer schon ein tendenziell Bekanntes ist – dann büßt man allerdings die Möglichkeit des Neuen, des radikal Unbestimmten oder der Irritation von Wahrnehmungen durch die Wahrnehmung ein –, oder aber das Bild zeigt ohne Bestimmung, d.h. nicht einmal ›etwas‹ oder ›dieses‹, vielmehr ereignet es eine Versammlung – oder ›Mannigfaltigkeit‹ – von Affekten. Die Formulierung beinhaltet: Das Bildliche ereignet sich, aber so, dass es nicht ›etwas‹ ereignet, das bereits eine identifizierbare Entität in Anspruch nimmt, sondern es ereignet im Sichereignen eine Indetermination oder Indifferenz. Farben oder Linien präsentieren sich auf einer planen Fläche, die Orte besetzen oder einer unklaren topologischen Verteilung gehorchen, noch bevor sie sich als etwas zu erkennen geben oder Relationen herstellten, die sich graphisch interpretieren ließen. Singularitäten erweisen sich deshalb im Wortsinne als radikal: Wir geraten an die Wurzeln des Ereignisses selbst und betreten dabei für die Bildtheorie das ebenso strittige wie subtile Feld der Sagbarkeit des Sichtbaren auf der einen und seiner Einzigartigkeit oder Nichtwiederholbarkeit auf der anderen Seite: jenes Pathos einer absoluten Originalität, wie sie die autonom gewordene Kunst von Anfang an für sich reklamierte. Man sieht gleichzeitig, wo die problematische Scheidelinie verläuft: Entweder man akzeptiert die Möglichkeit einer solchen ›ab-soluten‹ Singularität, dann haben wir es jedoch unweigerlich mit einer Negativität zu tun, weil wir auf keine Weise sagen können, worin sie besteht, oder wir erkennen stets schon Individuen und haben es dann mit der Wiederholung, der Wieder-Erkenntnis bzw. einem signifikativen ›Als‹ zu tun, das die Möglichkeit der deixis, des Zeigens auf bereits voraussetzt. Angefügt sei: Die radikale Singularität als Negativität, als etwas, was keine Eigenschaft besitzt oder ›als etwas‹ markierbar ist, von der stets nur
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gesagt werden kann, dass sie nicht ›dieses‹ ist oder dass ihr ›jene‹ Attribute nicht zukommen, deren Charakterisierung schon Verfehlung wäre, mündet unweigerlich in Figuren negativer Theologie. Sie bilden insbesondere den Ausgangspunkt der gesamten jüdischen Philosophie des 20. Jahrhunderts von Franz Rosenzweig über Martin Buber bis zu Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Emmanuel Lévinas. Ihre außerordentliche Provokation besteht darin, dass sie mit wechselnden Begrifflichkeiten mal im Namen eines Nicht-Identischen, mal mit Bezug auf eine absolute Differenz oder mit Hinweis auf eine radikale Alterität die Grundfesten der klassischen Philosophie zu erschüttern suchten. Zu ihr gibt es in der Bildtheorie, aufgrund des überlieferten Verdachts gegen alles Bildliche, vorerst kein Korrelat. Gäbe es eine Entsprechung, worauf die vorliegenden Bemühungen abzielen, beträfe sie eine Enthaltung: Fundierung einer negativen Bild- und Blicktheorie, die die ›Geste der Bildlichkeit‹ im Undarstellbaren beginnen ließe.
8. Kurze Kritik der Bildsemiotik Im Gegenzug dazu haben semiotisch oder symboltheoretisch orientierte Bildtheorien auf die Individuierbarkeit der Wahrnehmung gesetzt, um das ›Ikonische‹ im Zeichenhaften aufgehen zu lassen. Gewöhnlich liegt dem Zeichenbegriff eine mehrstellige Relation zugrunde, deren funktionale Zuordnung x ĺ y, sei sie als Signifikation oder als ›formales Stellensystem‹ aufgefasst, noch die Identifizierbarkeit der Variablen oder ›Stellen‹ voraussetzt.25 Ist ihr Standardmodell im Falle der klassischen Semiotik die Repräsentation, im Falle des Strukturalismus eine symbolische Ordnung, erweist sich ihnen gegenüber die Wahrnehmung als resistent, solange nicht von Gegenständen, einfachen ›Tatsachen‹ oder aufzählbaren Eigenschaften ausgegangen wird. Als Beispiel kann dafür Nelson Goodmans allgemeine Symboltheorie angeführt werden, die neben die Denotation noch die Exemplifikation als Symbolfunktion stellt und damit die Geste ›ostentativ‹ und
25 Zu den verschiedenen Modellen von Semiotik vgl. auch Dieter Mersch, Zeichen über Zeichen. Lesebuch zur Zeichentheorie von Peirce bis Eco, München 1998, Einleitung, S. 9-36.
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das Bildliche aus Begriffen wie »Dichte« und »Analogizität« heraus liest.26 Ohne auf seine in den Sprachen der Kunst niedergelegte Ästhetik en detail einzugehen, seien – zum Zwecke der Kritik seiner ›Bildsemiotik‹ – zwei ihrer Eckpfeiler rekonstruiert. Erstens wird die von Goodman vorgelegte ästhetische Theorie, die zugleich eine dezidierte Bildtheorie enthält, von vornherein mit der Arbeitsweise der Wissenschaften verglichen, sodass sich ein Netz von (binären) Oppositionspaaren ergibt, die das Ikonische dem Diskursiven durch folgende Merkmale gegenüberstellen: Individualität – Wiederholbarkeit, Dichte – Diskretheit, Analogizität – Digitalität, Selbstreferenzialität – Referenzialität.27 Zweitens bieten diese Begriffspaare ein Vokabular, das das in Kunst eingelassene – oder genauer: das spezifische, nur durch die Kunst im Gegensatz zu den Wissenschaften exponierbare – Wissen auszeichnet. Entsprechend bilden die aus der Exemplifikation gewonnenen ›Sprachen‹ der Künste, die auf eine besondere Weise des Zeigens zurückgehen, eine gegenüber propositionalen oder diskursiven Schemata eigene Erkenntnisform, wobei Goodman durchaus an jene Traditionen anknüpft, die Kunst und Wahrheit zueinander in Beziehung gesetzt haben – verwiesen sei vor allem auf Hegel, Heidegger und Adorno. Eben diese Verbindung erlaubt gleichzeitig einen Wink in Richtung der Frage nach der Besonderheit des visuellen Denkens, das wir zuvor als eine nicht durch die Negation gekennzeichnete ›Logik/Alogik‹ ausgewiesen haben. Goodman behandelt die Frage nicht explizit, doch ließe sich ihre Beantwortung aus seiner Theorie der Exemplifikation ableiten, für die sich jeweils die linke Seite der Oppositionstafel als charakteristisch erweist. Wir haben es dann mit einer originären Form von Symbolisation zu tun, die nicht – wie im diskursiven Register der Wissenschaften – diskret, referenziell oder disjunktiv verläuft, sondern selbstreferenziell, dicht und analogisch. Ihr inhäriert die Umkehrung der denotativen Zeichenrelation, insofern sie nicht länger auf ›etwas‹ weist,
26 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, Frankfurt am Main 1995, bes. S. 15ff., 59ff., 154ff. 27 Die von Goodman eingeführten Oppositionen zwischen Exemplifikation/ Denotation, analog/digital, dicht/diskret usw. sind selbst schon ›digital‹ – d.h. sie fußen auf einer Reihe binärer Unterscheidungen. Deren strikte Unterscheidbarkeit bleibt jedoch, wie das Beispiel der Exemplifikation/Denotation zeigt, fraglich.
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sondern etwas anzeigt oder zu verstehen gibt, ähnlich jener Bestimmungen, die wir von Anfang an für die Bildgeste reklamiert haben. Als solche formuliert sie eine Weise des Wissens, die nicht auf die erstere zurückgeführt werden kann, vielmehr ihren eigenen Regeln und Gesetzen gehorcht und die vorgibt, das ›Kontinuum‹ des Wahrnehmungsraums jenseits seiner vorgängigen Zerlegung zu wahren. Tatsächlich scheinen wir zu einer analogen Intuition zu gelangen, von der auch unsere Überlegungen ihren Ausgang genommen haben: Denn wenn es visuelles Denken gibt, kann es nicht auf dem klassisch-logischen Denken beruhen, nicht einmal auf einem nichtklassisch-logischen, sondern auf einem Denken, das überhaupt nicht der Struktur diskursiver Argumentation genügt. Vielmehr sei sie, so Goodman, von einem Richtungswechsel geprägt, deren wesentliche Kennzeichnen in der ›Dichte‹, der ›Analogizität‹ und ›Selbstreferenzialität‹ bestehen, wobei Exemplifikationen insofern ›selbstreferenziell‹ verfahren, als sie im Unterschied zu Denotationen nicht wieder denotiert werden können: Das Zeigen sperrt sich zureichender Erklärung, es fügt sich allein einer weiteren Exemplifikation, sodass es von Exemplifikationen lediglich wieder ›Beispiele‹ oder ›Verdeutlichungen‹, und von diesen erneut nur ›Beispiele‹ und ›Verdeutlichungen‹ geben kann usw. Ferner erscheinen sie insoweit als ›dicht‹, als wir mit einem ebenso kontinuierlichen wie zusammenhängenden Feld konfrontiert sind, das zwischen zwei relevanten Elementen immer noch ein drittes und zwischen diesen wieder ein weiteres enthält usw.28 Insbesondere rührt ebenfalls der Begriff der Analogizität daher, insofern sich dessen Texturen ohne Verluste nicht diskretieren lassen, was einerseits ihre gegenüber diskursiven Registern negative Determination erhellt, während andererseits der Begriff der
28 ›Dichte‹ (density) wird hier der mathematischen Definition für Dichte entnommen; keineswegs erschöpft sie sich auf ›analoge‹ Schemata. Denn ›dicht‹ im Sinne der Mathematik, die auf einer diskreten Ordnung der Zahlen beruht, ist auch schon die Menge der rationalen Zahlen. Dichte bzw. density kann deshalb nicht als hinreichendes Kriterium für die Bestimmung des Ästhetischen angesehen werden. Zu unterscheiden wäre übrigens davon der ebenfalls mit ›dicht‹ übersetzte Begriff der thickness bei Clifford Geertz. Es gehört zu den nicht eben seltenen Fehlschlägen geisteswissenschaftlicher Diskurse, beide Begriffe kurzschlüssig ineinander zu schieben und dadurch den wesentlichen Punkt zu verfehlen.
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Exemplifikation als ein ›Denken in Beispielen‹ – Goodmans Exempel ist bezeichnenderweise das Vorzeigen von Stoffproben als Muster –, das Analoge aus den alten Topoi der ›Vergleichung‹ und ›Vergleichbarkeit‹ herleitet. Zwar folgt daraus, dass sich die Ordnung des Analogen zur Ordnung des Digitalen inkommensurabel verhält – beide schließen sich im selben Schema aus –, doch reformuliert Goodman auf der Basis symboltheoretischer Termini lediglich das gesamte klassische Begriffsrepertoire. Insbesondere geht bei ihm doch die Denotation der Exemplifikation voraus, insofern sie diese strukturiert, denn damit die Exemplifikation gelingt, müssen die zu exemplifizierenden Charaktere bekannt, d.h. zuvor bereits dem principium individuationis unterworfen sein.29 Der Umstand rührt aus der parallelen Definition von Denotation und Exemplifikation, die diese nach dem Modell jener erläutert. Schließt ihre Differenz vorderhand an die wittgensteinsche Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen an, bestimmt er sie gleichwohl aus einer impliziten Inversion: »Wo Pfeile mit zwei Spitzen vorkommen, können wir möglicherweise sagen, in welche Richtungen die Denotation verläuft. Wenn zum Beispiel die Elemente (Knoten des Diagramms) vorab in zwei Kategorien A und B unterschieden werden und jeder einspitzige Pfeil von einem A zu einem B verläuft, dann ist hier Bezugnahme von einem A zu einem B stets Denotation, Bezugnahme von einem B auf ein A Exemplifikation.«30
Referiert also die Denotation auf einen Gegenstand, indem sie ihn benennt oder auf ihn verweist, stellt demgegenüber die Exemplifikation deren Reihe
29 Vgl. dazu ausführlicher unsere Kritik in Dieter Mersch, Die Sprache der Materialität: Etwas zeigen und Sich-Zeigen bei Goodman und Wittgenstein, in: Oliver Scholz, Jakob Steinbrenner (Hg.), Symbole, Systeme, Welten. Überlegungen zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg 2004, S. 141-161. 30 Goodman, Sprachen der Kunst (Anm. 26), S. 64. Allerdings verkompliziert sich die Beschreibung im Falle symbolischer Selbstreferenz: diese denotiert und exemplifiziert sich selbst, ebenso wie sie sowohl von sich denotiert als auch exemplifiziert wird; vgl. ebd., S. 65, bes. Anm. 9. Die Unterscheidung zwischen Denotation und Exemplifikation kann also nicht in jedem Fall ›scharf‹ getroffen werden.
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von Attributen so aus, dass gleichzeitig die einzelnen Merkmale schon bekannt sein müssen. Implizit wird damit eine Hierarchie vorgenommen: Exemplifikationen zehren sekundär von Denotationen. Überall trifft Goodman ein Präjudiz für den Vorrang des Symbolischen und bezieht, entgegen seiner Absicht, die ›Maß-Gabe‹ seiner Begrifflichkeit aus der Analytik der Wissenschaften, statt sich der Praxis der Künste direkt zuzuwenden. Die Verfehlung des Ästhetischen im Allgemeinen gleichwie des Bildlichen und seiner Geste im Besonderen liegt darin beschlossen. Sie reinstantiiert unbewusst das Primat der Negativität, das der Disjunktivität des Diskursiven zugrunde liegt, und tilgt damit tendenziell die von ihm mitbehauptete Eigenständigkeit des Ästhetischen.
9. Chiasmen: Das Mediale und seine Reflexivität Im Gegenzug dazu erweist sich die Beziehung zwischen Sagen und Zeigen bei Wittgenstein als komplexer, weil wir es mit der Figur einer Kreuzung, einem in sich verschränkten Chiasmus zu tun bekommen, worin beide Seiten sich im Modus von Reflexion wechselseitig exkludieren. So heißt es im Tractatus: »Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die Dinge so zueinander verhalten, wie die Elemente des Bildes. (...) Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf.« Die Aufweisung aber ist eine Weise des Zeigens, die sich nur vermittels einer Abbildung zeigt, also medial. Deshalb heißt es weiter: »Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können – die logische Form. [...] Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.«31
Entscheidend ist folglich für Wittgenstein, dass in allem Sagen schon ein Zeigen mitenthalten ist wie umgekehrt jedes Zeigen einem Sagen angehört. Dann bezeichnen beide, im Unterschied zu Goodman, keine alternativen Modi der Symbolisation, sondern dieses ist in jenem wie jenes in diesem
31 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Anm. 16), 2.151 und 2.172.
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immer schon inkludiert. Es gibt auch keine strenge Barriere zwischen dem Ästhetischen und dem Diskursiven, sondern beide – wiewohl sie unterschiedlichen ›Logiken‹ gehorchen – bilden disparate Seiten ein und derselben Operation. Deswegen heißt es auch in den Notes Dictated to G.E. Moore: »Every real proposition shows something, besides what it says (...)«;32 doch gilt für solches Zeigen, dass es nicht im gleichen Satz mit ausgesagt werden kann; es bedarf vielmehr eines anderen Satzes, der sich vom ersteren unterscheidet: »(W)hat is shewn can be said by another proposition.«33 Das bedeutet, dass sich Sagen und Zeigen in ein und derselben Sequenz ausschließen, weil das Zeigen nicht mitzeigt, was es zeigt, d.h. kein eigentliches Sagen ist, vielmehr dem Sagen mitgängig bleibt. Deswegen heißt es auch, scheinbar in Opposition zur vorhergehenden Feststellung: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden«,34 gleichwohl muss bedacht werden, dass Wittgenstein hier vom Sagen und Zeigen innerhalb ein und desselben Satzes spricht. Aufschlussreich ist zudem, dass es sich bei diesen Überlegungen um die wittgensteinsche Version einer Rekonstruktion der russellschen Antinomie handelt.35 Sie zeigt, dass wir es letztlich nicht mit einer Paradoxie, sondern mit einer Vermischung unterschiedlicher Modalitäten zu tun haben, die Funktion und Argument, Struktur und Variable irrtümlich zusammenführt. Hält man sie auseinander, verlaufen beide nicht länger kontradiktorisch zueinander, sondern verhalten sich zueinander konträr. Wir sind also mit Komplementaritäten konfrontiert, deren Muster einer Vexierung gleicht. Ergänzt sei, dass damit die gesamte wittgensteinsche ›Lösung‹ der Russellschen Antinomie auf ihrer Überführung in ein Bild beruht. Wollte man es skizzieren, entspräche es jener Figur-Grund-Paradoxie, die im Spätwerk auf die Frage des »Aspektwechsels« zuläuft.36 Wohin haben wir uns auf unserem Wege verirrt? Es scheint, wir haben ein Labyrinth betreten und mit jedem Schritt unseren Ausgangspunkt ein Stück weiter aus den Augen verloren. Deswegen seien noch einmal die verschiedenen Fäden aufgerollt und zu einem Knoten zusammengeschürzt.
32 Ders., Notes Dictated to G.E. Moore, in: Ders., Tractatus logico-philosophicus (Anm.16), S. 59. 33 Ders., Tagebuchnotat, in: Ebd., S. 153. 34 Ders., Tractatus (Anm. 16), 4.1212. 35 Vgl. ebd., 3.331ff. 36 Ders., Philosophische Untersuchungen (Anm. 21), Teil 2, XI, bes. S. 228ff.
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Begonnen hatten wir mit der Frage nach der Bildgeste als ›Blick-Gabe‹, die wir so weiterverfolgt haben, dass wir sie zur Frage eines ›zeigenden Denkens‹ und im Besonderen des Ikonischen als einer Form ›visuellen Denkens‹ radikalisiert haben. Ihr Kernstück ist die Rolle der Negativität, die wir fürs Bildliche im Sinne einer kontradiktorischen Negation verneint haben, um sie durch das contrastare und seine ›Logik/Alogik‹ des Konträren zu ersetzen. Der Geste des Bildes kommt damit eine genuin affirmative Kraft zu. Darin liegt ihre Unverneinbarkeit, die Unmöglichkeit, sie zurückzuweisen. Bilder besitzen diese Eigenart: Sie drängen uns ihren Blick auf, besetzen dessen Begehren, zwingen uns wider besseren Wissens, ihnen glauben zu schenken. Vor ihnen erliegt die Skepsis analytischer Distanznahme, sodass es sich stets um eine doppelte Geste – die ›Gabe‹ des Blicks wie der nicht zu entkommenden ›Gabe‹ der Gabe, der Forderung ihrer Entgegennahme handelt. Darum sind die Ikonoklasten stets die ›besseren‹ Bildgläubigen gewesen: Sie scheuten die bedrängende Gegenwart der Bilder. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass diese Bedrängung sich in erster Linie auf der Ebene der Erscheinung, des Sichzeigens abzeichnet, und weniger auf der des Inhalts, des jeweils Gezeigten – die Verwechselung beider ist der Irrtum des ›Bilderstreits‹, der Grund für die nicht minder gewaltsame Unterdrückung der Präsenzgewalt der Bilder. Was wir folglich die ›Geste‹ des Bildes genannt haben, die ›Gabe‹ seines Zeigens/Sichzeigens ist eine Funktion des Modus, nicht der Repräsentation oder Abbildung, des Symbolischen der Bildlichkeit und der Mittel seines Ausdrucks, was die Bildsemiotik allein zu bekümmern scheint.37 Demgegenüber wäre der Vorschlag an dieser Stelle, das genannte Modusproblem als Was-Wie-Differenz zu rekonstruieren und dabei das ›Wie‹ der Medialität der Darstellung und das ›Was‹ seiner Repräsentationalität oder Symbolisierung zuzuweisen. Dann bezeichnete das Mediale das, was stets mitgängig bliebe, sich aber im ›Sagen‹ nur zeigen ließe: Wittgenstein hat genau darauf abgehoben. Ihm korrespondierte im Symbolischen dasjenige, was zum Symbolischen quer steht und es austrägt. Weder erscheint es
37 Die Bildsemiotik ist, wie ebenfalls die Semiotik, fassettenreich; beispielhaft sei hier auf Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium, Köln 2003 verwiesen. Auf S. 77 heißt es z.B., Bilder seien »spezielle Zeichen«; »im engeren Sinne« dienten sie zur »Veranschaulichung realer oder fiktiver Sachverhalte«, was sie einseitig auf ihre Darstellungsfunktion festlegt.
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selbst darstellbar noch im deiktischen Sinne anzeigbar, vielmehr haben wir es gegenüber der ›Aussage‹ oder dem ›Symbol‹ und dem von ihnen Bezeichneten oder Abgebildeten mit einem Dritten zu tun, das ›dazwischen kommt‹, ohne zu sein, dass daher auch nicht als ein ›Etwas‹ angesprochen werden kann, sondern sich im ›chiastischen Zwischenraum‹ allererst manifestiert. Es beschreibt sozusagen die Bedingung ihrer Verbindung, die ›Form‹ der Funktion, die ihrerseits nirgends vollkommen transparent oder durchsichtig sein kann, sondern opak und widerständig bleibt, um das Spiel der Relationen, die Bewegung zwischen Sagen und Zeigen gleichermaßen zu ermöglichen wie fortlaufend wieder zu verzerren. Ist demnach mit der Differenz zwischen Sagen und Zeigen/Sichzeigen die Frage nach der Spezifik der Medialität, insbesondere der Medialität des Bildlichen (Ikonizität) berührt, konstituiert diese nicht nur die Darstellung, deren Konstituens im Dargestellten undarstellbar bleibt, sondern wir sind gleichzeitig mit der Möglichkeit einer Reflexivität konfrontiert, die im Bild und seiner Geste eine eigene Note findet. Was nämlich im Logischen einen Abgrund eröffnet, weil die Spiegelungen des Sagens im Zeigen und des Zeigens im Sagen sich bestenfalls ins Unendliche fortsetzen lassen, ohne ans Erscheinen heranzureichen, enthüllt im Ästhetischen gerade seine Produktivität, indem die Simultaneität oder Duplizität des Medialen und Symbolischen erlaubt, beide auf eine Weise so in Spannung zu versetzen, dass sie indirekt zu enthüllen vermögen, was sich der Aussage oder Darstellbarkeit verschließt. Denn wo die Logik nur verneinen und ausschließen kann, vermag die Ästhetik beide Seiten gleichzeitig aufzuweisen und in eine Vexierung zu versetzen, die zuletzt darauf basiert, das ›Eine‹ an seinem ›Anderen‹ ansichtig werden zu lassen.
10. Kunst und Wissenschaft Dann ergibt sich allerdings ein neuer Wink in Richtung der lang anhaltenden Debatte um das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft. Weder bedeuten sie eine Differenz noch eine Indifferenz, vielmehr folgen sie konträren Modi der Reflexion. Tatsächlich verteilen sich Kunst und Wissenschaft nicht auf einer Skala, an deren einem Ende das Ästhetische steht, das mit der Wissenschaft nichts gemein hat und an deren anderem Ende sich die Wissenschaft befindet, die auf die Ästhetisierung ihrer Mittel bewusst
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verzichtet, vielmehr verhalten sie sich zueinander chiastisch – und zwar nicht in Ansehung des Wissens, sondern in Ansehung der Weise ihrer Reflexivität. Denn während die Wissenschaften an Fragen des Wirklichkeitsbezugs, der Modellbildung, der Methodenkritik und Ähnlichem interessiert sind, beziehen sich die Künste auf das Mediale als deren andere, aber notwendige Seite. Sie arbeiten einander zu wie sie sich gleichzeitig wechselseitig durchkreuzen: Man kann darum nicht das wissenschaftliche Wissen durch das künstlerische ersetzen, sowenig wie die Kunst in Wissenschaft überführt werden kann, wovon manche ›exakten Ästhetiker‹ wie Abraham Moles, Max Bense oder Frieder Nake, um nur einige zu nennen, geträumt haben.38 Trotzdem bewohnen beide nicht unterschiedliche Planeten; sie ähneln einander durch ihre Experimentalität und unterscheiden sich voneinander durch ihr Denken, ihre Reflexivität. Dabei zeichnen sich die Künste durch jene Form von Reflexion aus, die vorläufig als ›mediale Reflexivität‹ gekennzeichnet werden kann – das Mediale gefasst als Modus, als ›Wie‹, das die Darstellung ebenso sehr konstituiert wie engführt. Die These ist: Eine solche Reflexivität geschieht zeigend. Man kann sie als ein sich zeigendes Zeigen charakterisieren. Ihre Praxis ist in den Bildkünsten, den Avantgarden zumal, ubiquitär. Was bedeutet ein solches ›sich zeigendes Zeigen‹ genau? Die Frage ist gleichbedeutend mit der nach einer ›Reflexivität im Zeigen‹. Sie entspricht dem, was wir zuvor ein ›zeigendes Denken‹ als die eigentliche ›Geste‹ des Bildes genannt haben. Die Formulierung ›Reflexivität im Zeigen‹ gemahnt an Hegels Wort von der ›Arbeit im Begriff‹. Es kennzeichnete dort den Prozess dialektischer Selbstreflexion im Begrifflichen. Sein Motor, seine ›Energie‹ ist, wie sich Heidegger ausdrückte, die Negativität. Sie bedingt etwas, was sich als eine ›Zerarbeitung‹ bezeichnen ließe. Wenngleich im Modus des Zeigens die Negativität fehlt, gibt es doch – und zwar aufgrund der Möglichkeit der Vexierung, Modi ›Was‹ und ›Wie‹ oder dem Symbolischen und seiner Repräsentation und dem Medialen hin- und her zu springen und zwischen ihnen ein Spiel der Kontraste zu entfachen – Momente einer reflexiven Negation. In diesem Sinne wäre die ›Reflexivität im Zeigen‹, das ›sich zeigende Zeigen‹, eine Zerzeigung.
38 Vgl. etwa Abraham Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, Köln 1971; ders., Kunst und Computer, Köln 1973.
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Der merkwürdige Ausdruck führt zurück zum Begriff des ›Zeigens‹ und seiner Potenziale. Wir hatten angeführt, dass das Zeigen sich nicht in einem einfachen Akt erschöpft, sondern ein Ensemble unterschiedlicher Praktiken umfasst, die sich in Bezug auf die Verschränkungen zwischen Zeigen und Sichzeigen ständig als duplizitär erweisen. Wir hatten dabei das monstrare ebenso genannt wie das demonstrare und performare oder die verschiedenen Weisen des phainesthai, des Erscheinen- und Sehenlassens wie auch der Auf- und Vorführung und des Offenbarens. Ihre Komplexität wird aus einer Reihe von Verben beschreibbar, die wiederum Praktiken anzeigen. Sie lassen sich mit jenen Praktiken reflexiver ›Zerzeigung‹ in Verbindung bringen, die wiederum die ästhetisch-künstlerische Praxis grundieren. Die entscheidende Einsicht war darüber hinaus die Verschränkung zwischen Zeigen und Sichzeigen, ihre chiastische Konstellation, die es nahe legt, beide zu einem Wort, dem Zeigen/Sichzeigen, verschmelzen zu lassen. Sie rührt insbesondere daher, dass jeder Zeige-Vorgang an einen Körper gebunden ist, dass jedes monstrare eines performare bedarf, das seinerseits in einer Materialität wurzelt, die es an Präsenz und Erscheinen bindet. Es ist nicht einfach, diese stets inklusive, latente oder mitgängige Medialität wie Materialität unter Reflexion zu stellen – und doch bestimmen diese Manöver genau die Orte der Künste. Das bedeutet: Sofern Sichzeigen medial verläuft und an Materialitäten partizipiert, wäre genau dort anzusetzen, d.h. das sich Verbergende, aber Mitzeigende an seinem Anderen so hervortreten zu lassen, dass dieses gleichermaßen verdeckt würde, was jedoch bedeutet, beide aneinander, gleichsam im chiastischen Spiel sich wechselseitig verhüllen und erscheinen zu lassen. Damit solches gelingt und zum Vorschein gelangt, bedarf es probeweise gerade einer Auslöschung jener Referenz, die für die wissenschaftliche Praxis wiederum konstitutiv ist. Die Zerzeigung operiert folglich mit einer systematischen Deplatzierung oder ›Ver-Stellung‹ und ›Ver-Störung‹ des Zeigens/Sichzeigens, indem sie gleichsam das monstrare wie auch das demonstrare und performare ›monströs‹ werden lässt. Es bedeutet, dass die anvisierte ›Reflexivität im Zeigen‹, diese fortgesetzte ›Zer-Zeigung‹ einer Fraktur oder Unterbrechung aufsitzt – einer permanenten Kontrastierung, die, gleichsam als reflexive Praxis, Monströses gebiert. Kontraste wiederum bedienen sich des konträren Negativen. Es wird hier im Modus von Selbstreferentialität verwendet. Negative Selbstreferenzen – Ipsoflexivitäten – tendieren im logischen zu Paradoxa, im Sinnlichen zu Vexierungen. Da-
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rum erweist sich die Vexierung und ihre fortwährende Schwebe als angezeigte Praxis der ›Zerzeigung‹. Umgekehrt beruhen paradoxe Interventionen, wie sie besonders Gregory Bateson anhand des double bind untersucht hat,39 auf der Inszenierung und Vervielfältigung solcher negativen Ipsoflexivitäten: Sie reißen das, was sie unter Reflexion stellen, ein, verwerfen oder ›ver-stören‹ es, indem sie es in ihren eigenen Wahnsinn treiben – ein Wahnsinn wiederum, der der ›Maschinenlogik‹ als »Turingsches Halteproblem« bekannt ist. Die künstlerische Arbeit, insbesondere die Bildpraxis, ist von ähnlicher Art, nur, dass sie nicht mechanisch operiert, sondern im Sinnlichen spielt. Und wenn es ihr dabei um die oblique Selbstdemonstration des Medialen im Medialen geht, greift sie bevorzugt zur Konstitution – zur ›Bildung‹, nicht notwendig Konstruktion – sinnlicher Paradoxa, d.h. auf Vexierungen zurück, so jedoch, dass sie ihre ›Entscheidung‹, die Eindeutigkeit ihrer »Aspekte« (Wittgenstein) verweigern. Tatsächlich umfasst der Ausdruck ›Konstitution‹ in diesem Zusammenhang beides: die willkürliche wie unwillkürliche – d.h. passierende – Paradoxierung, ihre Erzeugung wie Ereignung. Die Evokation sinnlicher Paradoxa gehört so zu den privilegierten Reflexionsstrategien im Ästhetischen, und sie bieten gleichzeitig den eigentlichen Ort, die Stätte und den ›Zu-Fall‹ künstlerischer Kreativität.40 Nichts anderes bedeutet ›Zerzeigung‹: Es handelt sich um die Ereignung und Statuierung paradoxer Konstellationen im Ästhetischen, und ihre Beispiele in den Bildkünsten sind Legion: Figur/Hintergrund-Brechungen, Aushöhlung der Figur, Annullierung des Bildes als Bild, die exzessive Herausstellung seiner Materialität, deren Verwüstung und vieles mehr.
11. Paradoxe Gestik des Sprungs Heidegger hatte mit Blick auf die Sprache in seiner Spätphilosophie einen ähnlichen Gedanken verfolgt, soweit sich jede Philosophie der Sprache, die als Philosophie schon Sprache ist, sich der Anstrengung unterziehen müsse,
39 Vgl. Gregory Bateson, Double bind, in: Ders., Ökologie des Geistes, Frankfurt am Main (2. Aufl.) 1983, S. 353-361. 40 Vgl. insb. Dieter Mersch, Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität, in: Günter Abel (Hg.), Kreativität, Hamburg 2006, S. 344-359.
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»die Sprache mit der Sprache zur Sprache zu bringen« – ein notwendig aporetisches Unterfangen, das er mit Ausdrücken wie »Riss« oder »Aufriss« belegte.41 Das Wort ist mehrfach konnotiert: Das in sich Verborgene bedarf einerseits des Aufrisses, um ans Licht gebracht zu werden und sich zu zeigen – der Vorgang verweist insbesondere auf die Heideggersche Auslegung des Wahrheitsbegriffs als Geschehen der alƝtheia. Zum zweiten gemahnt das Wort an den ›Riss‹ im Sinne der Skizze, der Umreißung von etwas oder des Schattenrisses im Sinne einer vorläufigen Zeichnung – ein Ausdruck, der selbst schon die Assoziationskette von ›Zeichnung‹, ›Mal‹ oder ›Makel‹ aufruft. Schließlich präsentiert drittens der Architekt in Gestalt unterschiedlicher ›Aufrisse‹ verschiedene Entwurfsgestalten, welche vom Grundriss, nicht nur wegen seiner anderen Dimension, zu unterscheiden sind: Beide verhalten sich zueinander chiastisch. Funktioniert letzterer wesentlich diagrammatisch, indem er eine Struktursynopsis liefert, die das ›Manipulieren‹, das freie Arbeiten mit der Hand auf Papier erlaubt, definiert oder prägt er gleichzeitig die verschiedenen ›Aufrisse‹, die sich von ihm ableiten, um Zug um Zug andere ›Ansichten‹ preiszugeben. Bietet der Grundriss eine Folie, offenbart kein Aufriss ein Ganzes, sondern bestenfalls eine Multiplizität zersplitterter Perspektiven. »Die Sprache mit der Sprache zur Sprache zu bringen« bedeutet deshalb für Heidegger, eine Vielfalt solcher Perspektiven zu produzieren. Auf analoge Weise ist mediale Reflexivität ihrer Multiplizität geschuldet. Tatsächlich bieten die Künste nichts als Splitter oder unvollständige, gebrochene Perspektiven – und doch sind es gerade diese, die auf immer neue Weise das erzeugen, was wir eine ›Zerzeigung‹ genannt haben. Das unterscheidet gleichzeitig ihren Experimentalismus von den Wissenschaften und macht sie dem philosophischen Denken verwandt. Denn während die Wissenschaften – ob sagend oder aufzeigend (deiktisch), ob diskursiv oder ikonisch oder mit welchen Medien und Methoden auch immer – auf eine Erforschung von Gesetzen, Strukturen oder Mustern gehen, wechseln die Künste buchstäblich die Ansichten, falten sie zu anderen Varianten auf oder proben den anamorphotischen Blick von der Seite, um dem jeweils Gezeigten noch das Abseitige, Entzogene oder Apokryphe zu entringen.
41 Vgl. Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart (5. Aufl.) 1975, S. 241, 251f.
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Die ›Geste‹ des Bildes, so hatten wir gesagt, ist die ›Blick-Gabe‹ – aber nicht in jedem Falle gibt eine solche Gabe eine Reflexivität zu sehen. Nur in Ausnahmefällen gelingt die Changierung der Differenzen, wie sie Prozessen der ›Zerzeigung‹ zugrunde liegen. Dann ereignet sich allerdings Neues, ein nie vorher gesehener ›An-Blick‹, dem man auf eigene Weise eine epistemische Funktion zuschreiben muss. Kunst ist nicht Wissenschaft, aber sie ereignet ein Wissen, das anders nicht zu exponieren wäre. Wenn daher zu Beginn von den Ordnungen des Zeigens im Sinne der ›Auf-Stellung‹ und ›Er-Richtung‹ von Blickordnungen, als den grundlegenden Verfahren der Visualisierung, der Sichtbarmachung in der Bedeutung einer Exposition von etwas ›als‹ etwas die Rede war – mit Betonung auf das ›ikonische‹ im Unterschied zum ›diskursiven‹ oder ›propositionalen Als‹ –, dann bedeutet zum ›Schluss‹ (conclusio) die künstlerische Bildpraxis noch etwas anderes, nämlich die Einräumung von Blick-Differenzen oder Blick-Brechungen zum Zwecke einer Reflexivität im Sichtbaren. Solche ›Blick-Differenzen‹ oder ›Blick-Brechungen‹ wiederum öffnen Spalten, lockern das Gewebe der Zeichen und Strukturen im Visuellen, um aus ihnen ›un-vorher-gesehene‹ Sichten hervorspringen zu lassen. Sie sind weniger das Produkt dezidiert kalkulierter Strategien, als vielmehr sich ereignender Sprünge. Die BildGeste der Kunst wäre dann die ›Blick-Gabe‹ des Sprungs. Es genügt, von ihm als ›Ereignis‹ einer ästhetischen Reflexivität zu sprechen.
Die tachistische Geste 1951–1970 T ONI H ILDEBRANDT
1. Linie, Geste, Vektor La dernière composition, die letzte Komposition (Abb. 1). Nahezu zeitgleich mit dem Abbruch des Werks von Alfred Otto Wolfgang Schulze, genannt Wols, setzte in der europäischen Kunsttheorie ein euphorischer Diskurs ein, der um den Begriff der tachistischen Geste kreiste. Wols hatte in Paris gearbeitet und war dort am 1. September 1951 im Alter von 38 Jahren verstorben. Noch im selben Jahr hatten die französischen Kunstkritiker Pierre Guéguen und Charles Estienne etwa zeitgleich zum ersten Mal von tachisme gesprochen. Der Neologismus sollte, so die kategorisierende Intention, eine Tendenz der europäischen Avantgarde beschreiben, die sich bereits seit den frühen 1940er Jahren abgezeichnet hatte und mit dem Begriff der Geste in unmittelbarer Verbindung stand.1 Spätestens durch Michel Tapiés einflussreiche Schrift Un art autre etablierte sich ein Diskurs um die Denkfigur der tachistischen Geste in der Kunsttheorie der Nach-
1
Zur historischen Chronologie und Konstellation von Tachismus und Informel vgl. Kreutz, Götz, Greis, Schultze (Quadriga 52), Paris 1945-1951, in: Meta, 4 (Februar 1951). Zum Begriff selbst vgl. Klaus Jürgen-Fischer, Was ist Tachismus? (1956), in: Martin Schieder u. Friederike Kitschen (Hg.), Art Vivant. Quellen und Kommentare zu den Deutsch-Französischen Kunstbeziehungen 1945-1960, Berlin 2011, S. 214-225.
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kriegszeit.2 Seine Strategien und Wirksamkeiten sollen in der Folge nachgezeichnet werden und in einen kritischen Dialog mit einigen zeichnerischen Artefakten treten, die seit 1940 in Paris entstanden. Zur Diskussion steht somit, wie der Begriff der Geste auf Kunst und Theorie jener Zeit einwirkte. Das Postulat einer tachistischen Geste in Malerei und Zeichnung ging zunächst von der Grundannahme aus, dass sich in der artefaktischen Spur, die das Bild verkörpert, die Kräfte eines Formierungsprozesses noch als ikonische Gesten offenbaren. Die französische Kunsttheorie der 1960er Jahre reflektierte diese Relation von Geste und Spur weitestgehend aus einer phänomenologischen Perspektive, wobei die Geste als ein sedimentierter Prozess, als eine ›Form in actu‹ beschrieben wurde.3 Nicht nur in der Kunsttheorie jener Zeit, sondern auch im paläontologischen Strukturalismus von André Leroi-Gourhan findet sich die Verbindung des Gestischen mit dem Bild. Leroi-Gourhan sah gleichsam am Ursprung der Bilder, in der gestischen Veräußerung von Hand und Technik, die »Geburt des Graphismus«.4 Verdeutlicht wurde dieses evolutionstheoretische Argument unter Verweis auf jene gestischen Markierungen, die der frühe homo pictor erectus an Höhlenwänden hinterlassen hatte, und die über ihr archäologisches Faktum als Spur hinaus auch als ein Indiz für die ursprüngliche Gestik des Bildermachens selbst gelten. Die Geste wurde zum Schlüsselbegriff bei Leroi-Gourhan und sie fungierte dort innerhalb eines Dispositivs der Zeichnung. In der Triangulation dieses Dispositivs, zwischen Hand, Auge und Geist, wurde die Geste zur Denkfigur, die es er-
2
Michel Tapié, Un art autre, où il s’agit de nouveaux dévidages du réel, Paris 1952.
3
Vgl. Jean Paulhan, L’art informel (éloge), Paris 1962; Henri Maldiney, Forme et art informel (1962), in: Ders., Regard, parole, espace, Lausanne 1973, S. 102116; Hubert Damisch, L’informel (1970), in: Ders., Fenêtre jaune cadmium, ou les dessous de la peinture, Paris 1984, S. 131-141.
4
Leroi-Gourhan, Le geste et la parole, 2 Bde., Paris 1964/65. Vgl. Toni Hildebrandt, Bild, Geste und Hand. Leroi-Gourhans paläontologische Bildtheorie, in: IMAGE, 14 (2011), S. 55-64. Zu Leroi-Gourhans »Geburt des Graphismus« vgl. Gottfried Boehm, Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Friedrich Teja Bach u. Wolfram Pichler (Hg.), Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München 2009, S. 43-62.
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laubte zu erklären, wie in der Höhle von Niaux ein animal disegnans zum homo pictor wurde, und wie aus der gestischen Bewegung der Hand gezeichnete Bilder an der Wand entstehen konnten. Abbildung 1: Wols, La dernière composition, 1951 Darmstadt, Sammlung Ströher.
Quelle: Action Painting, hg. v. der Fondation Beyeler, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 66, Abb. 24.
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Was in Paris seit den frühen 1950er Jahren als tachisme oder art informel bezeichnet wurde, lässt sich von einem vergleichbaren Begriff der Geste, der das bildliche Faktum der Spur übersteigt, nicht losgelöst betrachten. Die Geste, die in der Nachkriegszeit in die Begrifflichkeit von Phänomenologie und Strukturalismus Einzug fand, avancierte nun auch zur Denkfigur einer existenzialistischen Bildtheorie des Informellen oder Formlosen. Diese negative Begrifflichkeit der Form verwies dort auf Artefakte, in denen sich der bildliche Ausdruck einer singulär leiblichen Geste sedimentiert hatte. Im Tachismus war dies die zeichnerische Geste selbst; die Linie, die ihre erscheinende Potentialität im Linienzug als Möglichkeit und Wirklichkeit in sich trägt. Im Fleck, im Klecks oder im Sprenkel (tache) sollte so die reine Medialität der Farbe oder des Graphits phänomenal zur Erscheinung kommen; somit das Medium die eigene Materialität ausstellen. Die beteiligten Motive und Absichten lassen sich in den späteren Begriffen Agambens adäquat reformulieren: Denn diese reine Medialität referierte im Tachismus, in der formalistischen Umdeutung einer Logik des Unbewussten, auf eine Fähigkeit, die sich keiner bewussten und gewollten Intention und Setzung bedienen sollte. Die reine Medialität sollte zuvor auch einer reinen Potentialität entspringen. Erst der technische Gebrauch dieser reinen Potentialität im Sinne eines zeichnerischen Vermögens des Subjekts konnte eine reine Medialität hervorbringen. Die reine Medialität des Informellen durfte damit schließlich als die zeichnerische Signatur eines nicht vorgeformten Subjekts auf die reine Potentialität einer singulären Individuation verweisen. Die zeichnerisch-performative Geste konnte damit eine leibliche Erfahrung und Entfaltung von Kraft, ihre reine Potentialität als Mittel ohne Zweck und Finalität ohne Ende in der Realisierungsoffenheit des Entwurfs verkörpern und in Form dieser Verkörperung gleichsam als Bild bezeugen.5
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Ein Denken der reinen Potentialität (»potenzialità pura«) zu einer Mittelbarkeit ohne Zweck, als eine Finalität ohne Ende (»finalità senza fine«), Normalität ohne Norm (»normalità senza norma«) findet sich seit 1970 in den Schriften von Giorgio Agamben. Vgl. Giorgio Agamben, L’uomo senza contenuto, Macerata 1994, S. 64, 99; ders., Note sul gesto, in: Ders., Mezzi senza fine. Note sulla politica, Turin 1996, S. 46-53. Eine um zwei Kapitel erweiterte Fassung von Agambens »Noten zur Geste« befindet sich in Hemma Schmutz u. Tanja Widmann (Hg.), Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem, Wien
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Wie sollte es jedoch möglich sein, dass sich eine solche Kraft, eine Geste, ein Impuls, eine Tendenz, ein Agens und noch der ephemere Linienzug tatsächlich in der Zeichnung als Spur eben jenes Entwurfspotentials erhalten? War nicht in der bildlichen Nachträglichkeit jede Möglichkeit auf Bewegung und Gestik aufgehoben? Wie konnte die Zeitlichkeit, Gegenwärtigkeit und Körperlichkeit der Geste in der Spur überhaupt überdauern? Wie die Spur von der Geste Zeugnis ablegen? Jean-Paul Sartre hatte bereits 1961 den tachistischen Diskurs auf diese Fragen hin durchschaut und auf eine strategisch notwendige Unterscheidung zwischen Bildlinie und Bildgeste hingewiesen. Im Vorwort der Zweiundzwanzig Zeichnungen zum Thema des Begehrens von André Masson hatte Sartre mittels eines Begriffs der reinen Mathematik eine Differenz von Linie und Vektor eingeführt.6 Ausgehend von dieser Differenz lässt sich eine Kritik der informellen Zeichenpraxis und der zeichnerischen Geste ausformulieren. Von Vektoren sprach man in der Mathematik erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.7 Die klassische Physik interpretierte den Begriff später durch
2004, S. 39-48. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Miriam Fischer und Hyun Kang Kim. Bei Jean-Luc Nancy findet sich die äquivalente Formulierung »finalité sans fin«. Auch wenn beide Formulierungen nicht in der deutschen Rückübersetzung aufgehen, leiten sie sich doch offensichtlich von Kants »Zweckmässigkeit ohne Zweck« ab (Kant, KdU, § 10-15). Besonders Nancy hat diese »Finalität ohne Ende« dezidiert auf die zeichnende Form (forma formans) und die gezeichnete Form (forma formata) projiziert. Vgl. Jean-Luc Nancy, Le Plaisir au dessin, Paris 2009. Vgl. hierzu: David Espinet, Skizze einer Ästhetik des Entwerfens (Rezension von Le Plaisir au dessin), in: Hana Gründler, Toni Hildebrandt, Omar Nasim u. Wolfram Pichler (Hg.), Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik, Ausg. 3, Zur Händigkeit der Zeichnung, Basel 2012, S. 166-173. 6
Jean-Paul Sartre, Introduction, in: André Masson, Vingt-deux dessins sur le thème du désir, Paris 1961. (Dt. Masson, in: Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 39-58.) Die theoretische Grundlegung dieses Essays erfolgte bereits in Sartres L’Imaginaire (1940).
7
Vgl. Hermann Günter Graßmann, Die lineale Ausdehnungslehre, ein neuer Zweig der Mathematik: Dargestellt und durch Anwendungen auf die übrigen Zweige der Mathematik, wie auch auf die Statik, Mechanik, die Lehre vom Ma-
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Gerichtetheit und Orientierung im Raum, deren Ursächlichkeit wiederum notwendigerweise in Geschwindigkeiten, Impulsen, Kräften oder Beschleunigungen beruhen musste. Sartre bediente sich dieses Begriffes folglich mit einer Intention, die weder der physikalischen Darstellung der Welt, noch der Kunst grundsätzlich widersprach. Zunächst galt es Linearität auf eine unbestimmte Gestikulation hin zu differenzieren, die sich durch einen Impuls, eine Beschleunigung oder eine gerichtete Kraft auf gewisse Weise im Bild zu sedimentieren vermag. In der Zeichnung manifestiert sich diese Gestikulation durch das Ziehen einer Linie. »Vektor« bezeichnet dann, so Sartre, die »virtuelle Bewegung der Unbeweglichkeit« im sichtbaren Feld des ruhenden Bildes. Die nicht-vektorielle Linie verfügt hingegen nicht über eine solche gerichtete, virtuelle Bewegtheit. Sartre gibt eine ausführliche Erklärung dieser Differenz: »Gegeben sei eine Linie auf einer schwarzen Tafel: alle ihre Punkte existieren gleichzeitig, was unter anderem bedeutet, daß ich ihre Reihenfolge in beliebiger Richtung durchlaufen kann. Zwar muss ich diese Linie ›ziehen‹, und meine Augen müssen ihr vom einen Ende der Tafel zum andern ›folgen‹; aber während sie sich von rechts nach links oder von unten nach oben bewegen, behalte ich im Geist und sogar bis in die Augenmuskeln hinein das Gefühl gegenwärtig, dass ich sie genauso gut von oben nach unten oder von links nach rechts bewegen könnte; somit erscheint mir die Bewegung, die sie vollbringen, als reine Auswirkung meiner Laune und hat nicht das geringste mit der betrachteten Figur zu tun: die Linie ist träge. Nun kann jedoch in gewissen Fällen und aus gewissen Gründen mein Blick gezwungen werden, die Linie in einer bestimmten Richtung zu durchlaufen: damit wird sie zum Vektor. In diesem Fall gleitet mein Blick von einem Punkt zum andern wie eine Kugel auf einer schiefen Ebene, und seine Bewegung wird von dem Bewußtsein begleitet, dass keine andere Bewegung möglich ist. Weil ich jedoch auf dieser Linie genauso wenig zurückkann wie in der Zeit, verleiht diese Unmöglichkeit dem Raum
gnetismus und die Krystallonomie erläutert, Leipzig 1844. Eine entfernte Einflussnahme ließe sich womöglich sogar über Sartres Husserl-Rezeption nachweisen. Vgl. Mirja Hartimo, Grassmann’s Influence on Husserl, in: HansJoachim Petsche u.a. (Hg.), Hermann Grassmann. From Past to Future: Grassmann’s Work in Context, Basel 2011, S. 149-159.
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auf einem begrenzten Gebiet die Unumkehrbarkeit, die nur der Zeit eignet: während ich die Bewegung meiner Augen ausführe, projiziere ich sie zugleich in die Linie hinein, mir scheint, als entspringe sie ihr selbst, und aus dem leuchtenden Kielwasser mache ich eine ihrer Eigenschaften; sie existiert bereits und zwingt mich doch zugleich, sie zu ziehen.«8
Sartre schließt hier an die Passage der Kritik der reinen Vernunft an, wobei er Kants linearen Schematismus im Sinne einer transzendentalen Ästhetik umdeutet. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant nicht nur den Raum als »Abfolge im Nebeneinander«,9 sondern auch den zeitlichen Nachvollzug der Linie durch die Einbildungskraft beschrieben. »Wir können uns keine Linie denken«, so Kant, »ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben.«10 Die Linie kann jedoch mehr als ein einfaches Raumphänomen sein, wenn sie als tachistische Geste über eine innere gerichtete Kausalität verfügt. Der Begriff des Vektors wird von Sartre durch die Annahme solch einer inneren Kausalität definiert. Wassily Kandinsky hatte in seiner theoretischen Grundlagenschrift Punkt und Linie zu Fläche (1926) dieses Verhältnis von Linie und Vektor ebenfalls schematisch verdeutlicht, wobei sich der »Sinn des Schematismus«, wie Gottfried Boehm in zahlreichen Studien zur ikonischen Figuration gezeigt hat, »in seiner inhärenten Zeitlichkeit identifizieren lässt.«11 Wie jedoch wird diese inhärente Zeitlichkeit und Gerichtetheit sehend vollzogen? Dazu nun wiederum Sartre: »Da jedoch die Linie an sich nur ein einfaches Nebeneinander von Punkten ist, entspringt ihre Forderung nicht aus der physischen Struktur, sondern aus ihrer menschlichen Bedeutung.«12 Diese »menschliche Bedeutung« steht als existenzialistisches Sinnpostulat im Zentrum des informellen Diskurses der tachistischen Geste. Nicht allein ist die Linie im Bild als Vektor bewegt zu denken, sie ist damit auch
8
Sartre, Masson (Anm. 6), S. 45.
9
Zitiert nach ebd., S. 45. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, B 43, A 27.
10 Ebd., B 154. 11 Vgl. Gottfried Boehm, Die ikonische Figuration, in: Ders., Gabriele Brandstetter u. Achatz von Müller (Hg.), Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007, S. 33-52. 12 Sartre, Masson (Anm. 6), S. 46.
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Spiegel des Vermögens von Zeichner und Betrachter. Schon Paul Klee hatte in seinen Linientheorien auf ähnliche Weise vom Standpunkt des Zeichners argumentiert.13 Für ihn war die Linie ein »Agens«,14 analog zum musikalischen Melos durch eine inhärente Spannung (tonos) zu denken oder metaphorisch formuliert ein menschlicher »Spaziergang um seiner selbst Willen«. Die Ursächlichkeit sah Klee hingegen in einer aristotelischen Bewegtheit ohne Beweger die dem »gereizten Punkt« inne wohne.15 Klee wählte zur Erklärung ein einschlägiges Gleichnis: »Hierzu möchte ich das Beispiel eines Samenkorns herbeiziehen. Das Samenkorn ist trotz primitiver Kleinheit ein höchstgeladenes Kräftezentrum. In ihm ist der bestimmte Anstoß eingeschlossen, ganz ausgesprochene verschiedenartige Formergebnisse zu zeitigen.«16
Bei Sartre verschiebt sich nun der Schwerpunkt von der Zeitigung der gestischen Spur auf den Blick eines Betrachters, der diese inhärente Zeitlichkeit als das ihm eigene Vermögen zu lesen beginnt. Denn, so Sartre in aller Deutlichkeit: »[…] eine Linie wird nur dann zu einem Vektor, wenn sie mir mein eigenes Vermögen widerspiegelt, sie mit dem Blick zu durchlaufen; sie scheint in jedem Punkt ihre Vergangenheit festzuhalten, in jedem Punkt sich auf ihre Zukunft hin zu überschrei-
13 Vgl. Oskar Bätschmann, Grammatik der Bewegung. Paul Klees Lehre am Bauhaus, in: Paul Klee. Kunst und Karriere, Beiträge des internationalen Symposiums in Bern, Schriften und Forschungen zu Paul Klee, Bd. 1, Bern 2000, S. 107-124; Régine Bonnefoit, Die Linientheorien von Paul Klee, Petersberg 2009. 14 Paul Klee, Das bildnerische Denken, 5. Aufl., Basel 1990, S. 24; ders., Pädagogisches Skizzenbuch, 4. Aufl., Berlin 1997, S. 6. 15 Klees Konnotation des Punktes im Zeichnen als »gereizt« verweist auf eine interessante Etymologie: Dt. »Reiz«, lat. stimulus, etwas, das eine Reaktion hervorruft; Stimula, seit Ovid »Göttin, die zur Tätigkeit reizt«. Reiz verweist etymologisch zudem entfernt auf das gr. oríno mit der Bedeutung »ich setze in Bewegung«, »errege«, »reize«. 16 Paul Klee, Unendliche Naturgeschichte, 2. Aufl., Basel 2007, S. 25 (Kursivstellung T.H.).
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ten, aber in Wirklichkeit bin ich es, der sich selbst überschreitet, und die Richtung des Vektors ist nur die provisorische Bestimmung meiner unmittelbaren Zukunft.«17
Wenn Sartre den Vektor an anderer Stelle auch als »Geste« und wiederholt mit Kant als »motorisches Schema«18 bezeichnet, so war ihm die Inszenierungsleistung der Kunst doch durchaus bewusst. Gerade deswegen musste das Bild zurückgeführt werden an die je eigene »unmittelbare Zukunft«19. Zwar konnte der Vektor als virtuelle Bewegung im unbeweglichen Bild fungieren, doch dieser Effekt war an ästhetische Wahrnehmung gebunden. Sartre: »Mit einem Wort, Linie oder Fläche setzen sich nur dann als Vektoren durch, wenn es ihnen auf irgendeine Weise gelingt, mir die menschliche Transzendenz widerzuspiegeln. Jeder Vektor ist bereits ein Mythos, weil er sich insgeheim auf den Anthropozentrismus bezieht: er ist ein geweihter Raum.«20
Folgt man nun Georges Didi-Hubermans Studien zur »Zersetzung« und »Lächerlichkeit« des Anthropozentrismus bei Georges Bataille,21 scheint eine kunstkritische Ablehnung der informellen Ideologie – ein »No to the Informel«, wie dies Yve-Alain Bois und Rosalind Krauss formulierten – fast unvermeidlich und schon in der surrealistischen Theoriebildung der 1930er kritisch bedacht.22 Dennoch ließe sich zumindest abwägen, ob nicht auch eine alternative Zugangsweise auf die Kunst des sogenannten Tachismus möglich und vielleicht im Hinblick auf die singulären Werke sinnvol-
17 Sartre, Masson (Anm. 6), S. 46. 18 Ebd., S. 51. 19 Ebd., S. 46. 20 Ebd., S. 47. 21 Vgl. Georges Didi-Huberman, Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München 2010, S. 45-174. 22 Yve-Alain Bois u. Rosalind E. Krauss, Formless. A User’s Guide, New York 1997, S. 138-142. Batailles kurzer Text »Informe« erschien zuerst in Documents, 7 (Dezember 1929), S. 382. Eine deutsche Übersetzung findet sich in: Rainer Maria Kiesow u. Henning Schmidgen (Hg.), Kritisches Wörterbuch. Beiträge von Georges Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u.a., Berlin 2005, S. 44f.
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ler wäre. Ein solcher Zugang würde sich weniger vorschnell an dem Vorwurf des Anthropozentrismus stören, als vielmehr die Produktion auf ihr vorgetragenes Interesse an Prozessualität und Entwurfsästhetik befragen. Bildliche Vektoren und ikonische Gesten mögen in diesem Sinne ihren eigenen Anspruch nach Prozessualität zwar in letzter Konsequenz verfehlen oder gar verschleiern, als Hinweise auf die produktionsästhetische Notwendigkeit ihrer eigenen Hervorbringung bleiben sie dennoch historisch produktiv und wirksam. Zudem sind sie Zeugen einer bestimmten Paradigmatik, deren Denkfigur die Geste ist, wenngleich diese sich in Theorie und Praxis differenziell artikuliert. Die später von Nancy für ein Verständnis der Zeichnung abgeleitete Differenz zwischen forma formans und forma formata hätte demnach in der Nachkriegszeit weniger ihren phänomenalen, als ihren diskursiven Ursprung, indem Fragen des Entwurfs, des Prozesses und der Gestik für die Kunst hier erstmals auf emphatische Weise in den Mittelpunkt des bildästhetischen Interesses verlegt wurden. Dem Sein der Werke konnte so über das Bewusstsein ihres immanenten Werdens eine neue Zeitlichkeit zugeschrieben werden. In diesem Sinne wäre die Differenz von Sein und Werden aber letztlich auch an eine Theoretisierung der menschlichen Existenz im Allgemeinen gebunden. Liest man in diesem Sinne die Vektoren und Halbkreise (Abb. 2), die Martin Heidegger während eines Seminars vom 8. September 1959 an das schwarze Brett des Hörsaals im Zürcher Burghözli skizzierte, als eine serielle Wandzeichnung, wird vielleicht nicht nur die Intention des Philosophen verständlicher, sondern auch die Bildfigur der Tachisten als eine Denkfigur begreifbar, die bei Künstlern wie Hartung im Bildfeld emphatisch, im Textfeld Heideggers hingegen lakonisch zur Sprache kommt: »Diese Zeichnung soll nur deutlich machen, dass menschliches Existieren in seinem Wesensgrunde nie nur ein irgendwo vorhandener Gegenstand ist, schon gar kein in sich abgeschlossener Gegenstand.«23
23 Siehe Quelle: Abbildung 2. Rainer Totzke hat kürzlich in Studien zum schriftbildlichen Nachlass Heideggers nachgewiesen, wie wesentliche Erkenntnisse über ein Denken in graphischen und diagrammatischen Dispositiven hervorgebracht wurden. Vgl. Rainer Totzke, Das Seyn »mappen«. Medienphilosophische Überlegungen zu einem Assoziogramm Martin Heideggers, in: David Espinet u. Toni Hildebrandt (Hg.), Suchen Entwerfen Stiften. Randgänge zum Entwurfsdenken Martin Heideggers, München 2014 (im Druck).
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Abbildung 2: Martin Heidegger, Halbkreise und Vektoren, Zeichnung rekonstruiert von Medard Boss.
Quelle: M. Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt am Main 2006, S. 3. © Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt am Main 1987.
2. Informell, Formlos, Formverhaftet Im Ausgang von Georges Bataille und der impliziten Bildtheorie der Documents haben Yve-Alain Bois, Rosalind Krauss und Georges DidiHuberman aufgezeigt, dass die Formlosigkeit des Informellen nicht als Absenz oder Negation von Form verstanden werden kann, sondern vielmehr als eine Zersetzung (décomposition) von Form. Formlosigkeit entsteht kraft ihrer eigenen materiellen und ikonischen Substanz, und ist daher selbstverständlich gebunden an eine Hervorbringung (Formierung). Dennoch resultiert diese Formung nicht in einem Artefakt, das sich im klassischen Sinne als eine Gestalt oder Form (eidos) fassen ließe. Das Informelle, Formlose oder Tachistische wäre demnach im strengen Sinne dialektisch zu bestimmen. Es bezeichnet keine »form-losen« Dinge, Objekte, Bilder oder Artefakte, sondern, wie Didi-Huberman betont, stets Relationen und Spannun-
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gen: »Das Formlose (informe) ist weder schlicht und einfach eine Negation der Form, noch schlicht und einfach die Abwesenheit von Form.«24 Nicht als einfache Abwesenheit (apousia), sondern als Privation (steresis) verweisen die informellen Zeichnungen und Malereien so noch auf eine Modalform, die ihnen aber in Konkretion sichtbar mangelt. Es scheint sinnvoll und geradezu notwendig diese Latenz den Bildern nicht nur zuzuschreiben, sondern sie an Bildern allererst nachzuweisen. In Hans Hartungs großformatiger Ölkreidezeichnung (Abb. 3) ist evidentermaßen nicht eine ikonische Form Referenz der Privation, sondern das Körperschema, die Geste, die Chiralität und die leibliche Disposition des einhändigen Zeichners selbst. In Hartungs Zeichnung ist die zeichnerische Geste als Spur sichtbar, weil bereits in actu, in der prozessualen Hervorbringung auf die Geste reduziert wurde. Hartungs Gesten sind damit in erster Linie emphatisch. Mit Freud könnte man sein »verblindetes« Vorgehen sogar cum grano salis als hysterisch charakterisieren.25 Während Freud die hysterische Sehweise auf eine Dissonanz gründet, findet sich in Hartungs Arbeitsweise eine Konvergenz von Entwurfsstrategie und Werkcharakter. In dieser Konvergenz verkörpert sich je, in forma formans und forma formata, der Bildsinn des Gestischen. So wählte Hartung zunächst ein Format, das sowohl der Reichweite seiner eigenen leiblichen Disposition wie dem Dispositiv der Zeichnung angemessen war. Von der Bildkante, die am Körper anschließt, bis zum virtuellen Horizont des Bildes, den die obere Bildkante darstellt, war die gesamte Fläche des weißen Kartons überschaubar, erreichbar und somit als Feld eines potentiellen Zeichnungstableaus der gestischen Zugänglichkeit erschlossen.
24 Didi-Huberman, Formlose Ähnlichkeit (Anm. 19), S. 146. 25 »Sinnreiche Versuche haben gezeigt, dass die hysterisch Blinden doch in gewissem Sinne sehen, wenn auch nicht im vollen Sinne. […] Die hysterisch Blinden sind also nur fürs Bewußtsein blind, im Unterbewußten sind sie sehend. […] Die Hysterischen sind nicht infolge der autosuggestiven Vorstellung, dass sie nicht sehen, blind, sondern infolge der Dissoziation zwischen unbewussten und bewussten Prozessen im Sehakt; ihre Vorstellung, nicht zu sehen, ist der berechtigte Ausdruck des psychischen Sachverhalts und nicht die Ursache desselben.« Sigmund Freud, Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung (1910), in: Ders., Essays I, Auswahl 1890-1914, Berlin 1989, S. 274-281, hier S. 275.
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Abbildung 3: Hans Hartung, Ohne Titel, 1960, Ölkreide, 63,7 x 49,1 cm.
Quelle: Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. 1980.414; Fotografische Vorlage: Martin P. Bühler, Kunstmuseum Basel.
Hartung wählte einen speziellen, glanzbeschichteten Karton der Marke Baryt HS Paris, den er mit einer bereits gestischen Grundierung vorrhythmi-
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sierte.26 Auf diesem latent pulsierenden Grund zeichnete Hartung später eine Serie von gestischen Strichen – Ausdrücke der reinsten zeichnerischen Liniengeste, als zeichnerische Mittel, deren Zweck zumindest affirmativ in der Kunst des Informel aufgehoben war. Trotz der Verdichtung der Linienbündel achtete Hartung auf Transparenz. Wir sehen keine willkürlich arrangierten Liniencluster, sondern eine lineare Polyphonie verschiedener farbiger Tonalitäten. So lassen sich leicht drei gelbe und neun hellrote Liniengesten differenzieren. Die geballten schwarzen Linienbündel zur linken Bildhälfte und die türkis-blauen der mittleren und rechten Bildzone erschweren hingegen die quantitative Bestimmung, sind jedoch dennoch in ihren Grundgesten, Impulsen und Ansatzpunkten nachvollziehbar. Alle Linien setzen am oberen Bildrand an und erschöpfen sich in ihrem gestischen Elan erst am unteren Bildrand in spitzen Ausläufen. Im Bild verkörpert sich somit eine Schwere und Gravität, die nicht zwangsläufig im Zeichenprozess von Bedeutung gewesen sein musste. Alternativ zum sich nähernden Zug des waagerecht aufliegenden Blattes vom Horizont zum Körper, oder des gravitierenden Eindrucks in der musealen Wandhängung, von dem Oben im Bild zum Unten im Bild, wären auch andere Bewegungsrichtungen, etwa seitlich zum Bildträger denkbar, ja aus praktischen Gründen sogar eher plausibel. Konterkariert wird die vertikale Dimension nicht zuletzt durch Hartungs elegante Signatur, die im Gegensatz zur Widmung (pour Joppi et Charles 31/12/60) fast in einer horizontalen Linie aufgeht und so unter dem alten Jahr buchstäblich einen Strich setzt.27 Konterkariert wird die vertikale Gestik aber auch durch die Ausfallspuren der grundierenden hellbraunen Ölkreide, die – ganz im Gegensatz zu den farbigen Linienspitzen – je in horizontalen Spuren abstoppen. Dadurch wird nicht zuletzt deutlich, dass Hartung die hellgraue Fläche mit der Breitkante der Kreide grundierte. Eine Technik, wie sie Hartung auch in zahlreichen anderen Ölkreidezeichnungen verwendete. In einer Zeichnung aus dem Jahre 1947 (Abb. 4) erzeugt diese
26 Zum Thema einer gestischen Erschließung des Zeichnungstableaus vgl. Wolfram Pichler u. Ralph Ubl, Vor dem ersten Strich. Moderne und vormoderne Zeichnungsdispositive, in: Werner Busch, Oliver Jehle u. Carolin Meister (Hg.), Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 231-255. 27 Vgl. zum Erscheinungsbild der Signatur die bei Fernand Hazan herausgegebene Edition von Pastellzeichnungen: Jean Tardieu, Hans Hartung, Paris 1962.
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Stiftführung eine ihr eigene Linienräumlichkeit, die wie in einem Möbiusband besonders auf ihre Wendepunkte aufmerksam macht, daneben aber durch den Duktus auch auf Geschwindigkeiten, Druckintensitäten und Ansatzpunkte verweist. In diesem Sinne – und Sartre, der Hartungs Werk aus eigener Erfahrung sehr gut kannte, wäre hier ganz beizustimmen – handelt es sich bei den zeichnerischen Gesten Hartungs nicht mehr nur um Linien, deren »Punkte« sich im »Nebeneinander des Raumes« befinden, sondern um Vektoren. Nur sind diese gerichteten Kräfte aufgehoben in der Zeigekraft des Bildes. Jeder Vektor ist genau in diesem Sinne bereits ein anthropozentrischer Mythos. Abbildung 4: Hans Hartung, Ohne Titel, 1947, Kohle, Ölkreide und Bleistift, 44,3 x 57,5 cm.
Quelle: Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. 1980.461; Fotografische Vorlage: Martin P. Bühler, Kunstmuseum Basel.
Hartungs Gesten vollziehen sich, wie Sartre schreibt, immer schon im geweihten Raum der tachistischen Kunst. Dieser Raum ist der Ort der Kunst, der Ort an dem Gesten zu Bildern werden, zu Bildern, die uns dann nur noch Vektoren zeigen. Hartungs Vektor ist ein Tensor erster Stufe. Ein
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Vektor als Zeige (deixis) einer Kraft. Der informelle Vektor ist die Zeige der tachistischen Geste.
3. »Vers un art informel«? In der Folge von Bonnefoy hat Henri Maldiney darauf verwiesen, dass in der monotonen Wiederholung der tachistischen Gestikulation die größte Gefahr für die informelle Kunst lag.28 Wenn nun jedoch die tachistische Geste selbst mehr Repetition und Ideologie war, worin besteht dann ihr ästhetischer Gewinn und womöglich sogar ihr bleibender Anspruch als Kunst? Als Adorno im Herbst 1961 seine Formvorstellung einer »musique informelle« präsentierte, versuchte er eine ähnliche Frage für die Musikgeschichte nach 1945 aufzuklären, die sich nicht mehr, wie noch die Schönberg-Schule, der kompositorischen Grundlagen in Formenlehre und Kontrapunkt verpflichtet fühlte.29 Adornos Auseinandersetzung mit den aleatorischen Techniken John Cages und den klanglichen Atmosphären György Ligetis gipfelten daher in einem Urteil, das in seiner Ambivalenz dem Sartres (aus dem gleichen Jahr) in vielerlei Hinsicht ähnelt. Meine Relektüre Adornos erfolgt hier bewusst als Engführung mit Blick auf die Zeichnungen Hartungs und die zuvor eingeführte Differenz von Linie und Vektor: »Um meine Vorstellung von informeller Musik zu verdeutlichen, kann ich weder mit einem Programm des Athematischen noch mit dem Wahrscheinlichkeitsgesetz der Punkte auf dem Schreibpapier noch mit irgend Derartigem aufwarten. Immerhin möchte ich wenigstens den Horizont jenes Begriffs abstecken. Gemeint ist eine Musik, die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei vom heteronom Auferlegten und ihr Fremden, doch
28 »Le plus grand danger qui, de l'intérieur, menace l'art informel, dit Bonnefoy, c'est sa répétition monotone.« Maldiney, Forme et art informel (Anm. 3), S. 103. 29 Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle, in: Ders., Musikalische Schriften I-III, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt am Main 1997, S. 493540.
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objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert.«30
Adornos Vorstellung des Informellen kann also nur dialektisch bestimmt werden, als eine Reaktion auf den Formbegriff der klassischen Tradition, auf den Materialstand der gegenwärtigen Künste und die Objektivation der neuen Kompositionen selbst. Adorno definiert den Begriff des Informellen daher auch streng historisch. In diesem Sinne ist die informelle Musik als eine Restitution zu verstehen, deren Ideal als »approximative Einlösung in Schönbergs drittem Klavierstück aus op. 11« von 1909 zu suchen wäre.31 Adornos Theoretisierung einer »musique informelle« ähnelt in diesem Sinne frappierend jenen Thesen Sartres zur informellen Kunst um 1961, in denen die traditionellen Grundlagen des Komponierens ebenfalls fragwürdig erscheinen. Auch ein anderer Theoretiker des Informel, Jean Paulhan, hat ähnlich wie Adorno, die Achsenzeit der informellen Restitution auf das Jahr 1910 zu datieren beabsichtigt. 1962 schreibt Paulhan in seiner Lobrede auf die informelle Kunst gleich im ersten Satz auf die für ihn typisch naive,
30 Ebd., S. 496. 31 Die Restitution einer seinsollenden »musique informelle« hat Martin Zenck präzise rekonstruiert und einer überzeugenden Kritik unterworfen: »Das Ideal der ›musique informelle‹ rührt von der approximativen Einlösung in Schönbergs drittem Klavierstück aus op. 11 und dem Monodram Erwartung her. Das Jahr 1909 ist gleichsam der neue Achsenpunkt, durch den sich das Gewicht des Formproblems um das Ganze verschiebt. Es stellt die Zäsur dar, die die ›musique informelle‹ von einem traditionellen Formbegriff trennt. Das Vorher dieser Entwicklung von Beethoven über Wagner zu Mahler steht unter dem Gesetz der Bestätigung des normativen Charakters traditioneller Formen und deren Aushöhlung durch zunehmende Abweichung von Formmodellen. Die Komposition zwischen Schönbergs George-Liedern und dem Pierrot Lunaire versuchen sich von der Last vorgegebener Formen zu befreien, indem sie den äußeren Zwang zu einer Konsequenz, die aus der Logik der musikalischen Einzelimpulse ›von unten‹ zu einer Form führt, verinnerlichen. Das Nachher der Zäsur ist von der Preisgabe der Freiheit einer ›musique informelle‹ bestimmt.« Martin Zenck, Auswirkungen einer »musique informelle« auf die Neue Musik. Zu Theodor W. Adornos Formvorstellung, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music, 10, 2 (1979), S. 137-165, hier S. 137f.
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aber durchaus pointierte Weise: »La peinture informelle apparait certain jour de l’année 1910: c’est lorsque Braque et Picasso se mettent à composer des portraits, où pas un homme de bon sens ne saurait distinguer des yeux, un nez ni une tête.«32 Für Adorno und Paulhan war es also auf eine erst noch zu bestimmende Weise evident, dass sich durch Schönberg und Webern, Picasso und Braque um 1910 die Ästhetik einer »informellen Kunst« vorzeichnete. Die Konsequenzen dieses Bruches mit der Tradition wurden indes, so Adorno, erst um 1960 zum Formproblem. In der Restitution, die die klassische Moderne durch die Nachkriegsavantgarde erfährt, schwingt zudem eine Erwartung mit, dass die informellen Tendenzen der Zeit um 1910 nicht nur beliebig, sondern äußerst explizit, etwa im Stil von Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen realisiert werden mögen. Die Erwartung an Schönbergs Erwartung, jenes Monodram aus dem Jahre 1909, sollte sich schließlich auch auf eine würdige Weise, von der Adorno glaubte, ein genaues Bild zeichnen zu können, erfüllen. Im Falle der tachistischen Malerei und Zeichnung war das Formproblem fraglos anders gelagert. Der Diskurs der tachistischen Geste fokussierte schließlich zunehmend auf den ›Esprit der Geste‹ und somit auf ein repetitives Moment, das sich in den Bildern jedoch nicht in der benannten Geste erschöpfte, sondern in einer mannigfaltigen ›Verfransung‹ und Verformung, eben der Vielfältigkeit der Bildproduktion, in Serie und Detail, darbot. Mit Rückgriff auf die Bilder und Werke der informellen Malerei und Zeichnung wäre somit eine weit differenziertere Kunstgeschichte zu erarbeiten, als sie sich von dem Begriff der tachistischen Geste von 1951 bis 1970 über eine apologetische Kunsttheorie des Informellen (Estienne, Guéguen, Paulhan, Tapié bis Haftmann und Verspohl) her erschließen lässt. Das Werk von Wols, das von 1955 bis 1964 posthum auf der documenta I, documenta II und documenta III in Kassel ausgestellt wurde, dürfte hier immer noch einen wichtigen Ausgangspunkt bieten, gerade auch weil es frühzeitig in Verwandtschaft zu Klee in einen differenzierten Verlauf der Moderne eingeordnet wurde.33
32 Jean Paulhan, L’art informel (Anm. 3), S. 7. 33 Vgl. Franz-Joachim Verspohl, Die konkreten Dinge stehen im zweiten Rang, Wols und Sartre, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 6 (1987), S. 109137.
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Währenddessen Bonnefoy, Maldiney und Sartre also bereits frühzeitig die strukturelle Repetition des Informel erkannten, hielten die Apologeten des Tachismus bis in die 1960er Jahre am ›Esprit der Gesten‹ fest. Ein Kunstkritiker wie Paulhan wollte in der »École américaine de la peinture par le geste« dann auch nur eine konsequente Fortsetzung des tachistischen Informel sehen, wohingegen Clement Greenberg bereits frühzeitig die amerikanische von der europäischen Kunst polemisch abgrenzte. In einer kurzen Kritik, die 1953 in Art Digest erschien und den bezeichnenden Titel Is the French Avant-Garde Overrated? trägt, beschreibt Greenberg die Vorzüge der amerikanischen Malerei gegenüber der tachistischen Tradition in Paris. Greenberg findet in den Arbeiten von Hofmann, Kline, de Kooning, Motherwell und Pollock den Eindruck einer »plenitude of presence«34 vor, den er bei Dubuffet, Fautrier und Hartung kläglich vermisst. Ursache sei ein direkterer, spontanerer und offenerer Umgang der Amerikaner mit Rahmung und Grund des Bildes: »The canvas is treated less as a given receptacle than as an open field whose unity must be permitted to emerge without being forced or imposed in prescribed terms. All this, of course, makes the American article harder to take. Standard taste is offended by what looks like an undue looseness and, as usual, mistakes a new spontaneity and directness for disorder or, at best, solipsistic decoration.«35
Nur wenige Jahre später sollte Leo Steinberg aus Anlass einer Ausstellung neuer amerikanischer Zeichnungen im New Yorker Museum of Modern Art diese Kritik relativieren. Für Steinberg geht es nicht mehr darum, eine qualitative Differenz zwischen französischem Tachismus und amerikanischem Expressionismus zu behaupten. Vielmehr verdeutlichen die Werke beider Tendenzen einen grundlegenden Bruch mit dem klassischen Verständnis einer konturierten Form. Dies zeigt sich nach Steinberg jedoch eher in der Zeichnung als in der Malerei und bezeichnenderweise wählt auch er als Pendant zur Form den Begriff des Vektors:
34 Clement Greenberg, Symposium: Is the French Avant-Garde Overrated?, in: Ders., The Collected Essays and Criticism, Bd. 3: Affirmations and Refusals 1950-56, hrsg. von John O’Brian, Chicago und London 1995, S. 155-157, hier S. 157. 35 Ebd., S. 156.
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»In many more recent works the line of the draughtsman withdraws altogether from the surface of forms (which alone can yield contours). Now it identifies itself with the nerve of a thing, then with its inner construction, or with the strain of an action. The drawn line becomes vector. And then a form does not stop where its spurs are, but where its effectiveness is – far out into space. And that space must be shaped, being unique to each action.«36
Die Geste der informellen Kunst zeigt sich im Bild insofern die gezeichnete Linie zum Vektor wird. In der Form des Vektors schreibt sich der ›Esprit der Gesten‹ in das Bild ein. Seine Wirksamkeit konnte so auch dann noch bestehen bleiben, als die Geste ihren eigenen ›Esprit‹ längst verloren hatte. In der minimalistischen Konzeptkunst der späten 1960er Jahre trat an ihre Stelle eine neue negative Geste, oder ein anderer Gestus der Negativität, der jegliche Spuren des gestikulierenden Körpers aus dem Bildfeld des geweihten Raumes ausblenden wollte. Künstler wie William Anastasi, Eva Hesse, Robert Morris, Dieter Roth oder Cy Twombly, die in ihren frühesten zeichnerischen Arbeiten durchaus an Wols oder Hartung erinnern, werden dem Vektor der tachistischen Geste dann mit der linkischen Hand oder gar mit beiden Händen, in Schnell- und »Schnellstzeichnungen«, als Blind- und Wandzeichnungen einen neuen Schwung verleihen.
36 Leo Steinberg, Recent Drawings, USA (1956), in: Ders., Other Criteria. Confrontations with Twentieth-Century Art, New York 1972, S. 251-257, hier S. 257.
Die zeichnerische Geste Soziale Bedingung und individuelle Ausprägung in der Praxis des Zeichnens M ICHAEL R ENNER
Die Vergleichbarkeit der zeichnerischen und der sprachlichen Geste ist Ausgangspunkt des folgenden Beitrags. Als Grundlage der Analyse werden anthropologische, sprachtheoretische und rhetorische Theorien zur Geste herangezogen, um einzelne Aspekte der ausgeführten Ansätze den praktischen Prozessen der zeichnerischen Bildgenese gegenüber zu stellen. Im zweiten Teil des Beitrags werden ausgewählte Beispiele solcher Prozesse vorgestellt. Dabei werden die entwurfsleitenden Einflüsse thematisiert und ihre soziale Bedingtheit respektive individuelle Abweichung verhandelt. Es ergeben sich daraus Schlüsse für die Rolle der zeichnerischen Geste in der gestalterisch-künstlerischen Ausbildung.
1. Ikonische und zeichnerische Gesten Anthropologische Studien, wie jene von Michael Tomasello, setzen die phylogenetische Entwicklung der sprachlichen Kommunikation ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Gestützt auf Beobachtungen von Primaten und der menschlichen Ontogenese, geht Tomasello davon aus, dass vor der Entwicklung der sprachlichen Kommunikation ein auf differenzierten Gesten beruhendes Kommunikationssystem vorhanden war. Die Geste des Zeigens (deictic gesture) wird als Ursprung der Entwicklung der menschlichen
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Kommunikation beschrieben.1 Aussagen für die Entwicklung bildlicher, respektive visueller Kommunikation in Form von Zeichnungen, werden im genannten Forschungsfeld nicht thematisiert. Als Voraussetzung für die Entwicklung des menschlichen Kommunikationssystems wird von Tomasello primär das Verständnis für eine gemeinsame Absicht (shared intentionality) in der Gruppe genannt, welche sich darauf abstützt, dass wir uns bewusst sind, was der andere weiß (recursive mind reading).2 Das gestische Zeigen auf ein Objekt kann dabei Bedeutung generieren, wenn die Kommunikation sich auf eine gemeinsame Erfahrung mit dem anvisierten Gegenstand beziehen kann. Bereits diese Urform des kommunikativen Austauschs basiert auf der Annahme, dass eine vergleichbare bildliche Wahrnehmung vorausgesetzt wird, welche in konstanter Beziehung zur Umgebung steht.3 Das Zeigen auf die Tür zum Beispiel bedingt, dass wir eine solche geöffnet, durchschritten, geschlossen, abgeschlossen und zugeschlagen haben und wissen, dass der Kommunikationspartner sich an vergleichbare Erfahrungen erinnert. Bedeutung entsteht im Bewusstsein der gemeinsam erlebten Ereignisse, in deren Kontext das Deuten auf die Tür unterschiedliche, von der Art der Geste abhängige, aber eindeutige Aussagen hervorbringen kann. Da die Geste des Zeigens darauf angewiesen ist, dass die Objekte oder Ereignisse zum Zeitpunkt des kommunikativen Akts in den Blick genommen werden können, ist ihre Möglichkeit, räumlich und zeitlich entfernte Ereignisse zu benennen, begrenzt. Tomasello leitet aus dem Bedürfnis nach Narration eine zweite Kategorie, jene der pantomimischen Geste ab und nennt diese auch Iconic Gesture.4 Diese ermöglicht es, Objekte und Ereignisse in die Kommunikation einzubeziehen, welche nicht im Umfeld der Kommunikation gegenwärtig sind und lenkt damit nicht nur die Aufmerksamkeit sondern auch die Imagination der Dialogpartner. Durch die Referenz, welche durch die Nachahmung einer Eigenschaft eines Objektes her-
1
Michael Tomasello, Origins of Human Communication, Cambridge (MA) 2008,
2
Ebd., S. 321.
S. 62. 3
Antonio Damasio, The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, Orlando 1999, S. 320.
4
Tomasello, Origins (Anm. 1), S. 66.
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gestellt wird, kann dieses in den kommunikativen Austausch einer Gruppe einbezogen werden. Von der Beschreibung der ikonischen Geste bei Tomasello ausgehend lässt sich nun eine direkte Verbindung zur Zeichnung und zum Bild herleiten. Die Handzeichnung hat vergleichbare sensomotorische Eigenschaften wie die pantomimische Geste, in dem sie eine Referenz zu einem zeitlich oder räumlich entfernten Ereignis mit visuellen Mitteln herstellen kann. Die Zeichnung als Artefakt mit stabiler Materialität ist gegenüber der pantomimischen Geste aber personenunabhängig und ermöglicht dadurch eine andere Form des sozialen Austauschs. Eine Parallele zwischen der ikonischen Geste und der Zeichnung kann in der kommunikativen Funktion gezogen werden. Sowohl die Geste als auch die Zeichnung ermöglichen es Ereignisse und Objekte in einen kommunikativen Austausch einzubeziehen, auch wenn sie vergangen oder vom Ort der Kommunikation entfernt sind. Andererseits lässt sich die zeichnerische Geste nicht annähernd aus einer funktionsorientierten Perspektive der Kommunikation erschliessen, welche vom Modell des Austauschs von Zeichen ausgeht.5
2. Die Geste als bildliche Dimension sprachlichen Denkens Entgegen der soeben auf die Zeichnung übertragenen paläoanthropologischen Position, beschreibt der Gestenforscher David McNeill Wort und Bild auch entwicklungsgeschichtlich als untrennbare Elemente im Prozess des sprachlichen Denkens. Es stellt damit die These einer ausgeprägten gestischen Kommunikation vor der Sprachentwicklung in Frage und weist auf die gegenseitige Abhängigkeit von Wort und Bild hin. Der von McNeill beschriebene Growth Point »[...] is proposed as a minimal unit of an imagery-language dialectic. A growth point is a package that has both linguistic categorial and imagistic components, and it has these components irreducebly.«6
5
James Elkins, Marks, Traces, »Traits«, Contours, »Orli« and »Splendores«: Nonsemiotic Elements in Pictures, in: Critical Inquiry, Vol. 21, No. 4, Chicago 1995, S. 822-860.
6
David McNeill, Gesture and Thought, Chicago 2007, S. 105.
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McNeill definiert die Geste als eine bildliche Dimension, welche für die Formulierung einer sprachlichen Äusserung unerlässlich ist und führt dazu weiter aus: »An implication of the GP hypothesis is that gestures as part of the process of speaking, are generated as an integral component. Without imagery there could not be speech: gestures embody these images.«7 In Bezug auf Merleau-Ponty und als Resultat seiner zahlreichen empirischen Studien beschreibt McNeill das Wesen der Geste im Kontext der Sprache als Ausdruck des kognitiven Wesens des Sprechenden: »Thus, a deeper answer to the query – when we see a gesture, what are we seeing? – is that we see part of the speaker’s cognitive being, her very mental existence, at the moment it occurs.«8 Mit dieser Aussage wird hervorgehoben, dass die Geste eine unverzügliche physische Reaktion des Körpers des Sprechenden auf den kontinuierlichen Fluss von Ereignissen im Prozess der Wahrnehmung darstellt, welche gleichzeitig mit kognitiven Prozessen ablaufen, die in gesprochener Sprache in Erscheinung treten. Entgegen einer hierarchischen Abstufung von Geste und Sprache, welche man aus dem Zitat ableiten könnte, wird die Gleichwertigkeit der beiden Ebenen und deren gegenseitige Abhängigkeit betont: »Neither language nor gesture is primary in this dialectic, nor is one more basic than the other. Both are necessary; gesture is not input to speech, nor is speech input to gesture; they occur together.«9 McNeill verweist des weiteren auf die soziale Dimension der Geste und begründet deren Potential Sinn zu stiften durch das implizite Hervorrufen einer Reaktion im gestikulierenden Individuum, welche sich mit der beabsichtigten Reaktion der adressierten Dialoggruppe deckt. »In other words, meaningfulness depends on simulating a social response – the social response of another in yourself, a kind of autosocialization.«10 Wir mögen den hier verwendeten Begriff der »Selbstsozialisation« kritisch hinterfragen, stossen aber auch bei viel älteren Analysen der Geste im Kontext der Rhetorik auf vergleichbare Beobachtungen zur Beurteilung der Wirkung der Geste, welche dem Redner die Fähigkeit zugestehen, die Wirkung seiner Gesten auf die Zuschauer zu beurteilen.
7
Ebd., S. 233.
8
Ebd., S. 92.
9
Ebd., S. 93.
10 Ebd., S. 250.
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Für eine Annäherung an die zeichnerische Geste, stellt sich auf Grund der beschriebenen gegenseitigen Bedingung von sprachlichem und gestischem Ausdruck die Frage nach deren Relation im Prozess des Zeichnens. Gibt es im Akt des Zeichnens eine sprachliche Dimension, wie sie im Akt des sprachlichen Denkens von McNeill ausgeführt wird oder ist der Akt des Zeichnens eher mit der kognitionswissenschaftlichen These zu vergleichen, welche Denken als eine Aneinanderreihung von Bildern beschreibt?11
3. Zur sozialen Verankerung und individuellen Ausprägung der rhetorischen Geste Die bereits genannte soziale Bedingtheit und die individuelle Ausformulierung der Geste wird auch in frühen Quellen zur Rhetorik manifest. Dabei stellt sich die Frage: Ist die rhetorische Geste als ein visuell wahrnehmbares Zeichensystem, welches erlernt werden kann, wie das sprachliche Vokabular zu verstehen? Auf den ersten Blick scheint diese Auffassung Quintilians (35–96 n. Chr.) Ausbildung des Redners zu Grunde zu liegen. Es werden einzelne Körperbewegungen im Detail beschrieben und deren Wirkung ausführlich im Kontext der Verteidigungsrede vor Gericht evaluiert. Quintilian macht seine Leser darauf aufmerksam, dass niemand überzeugend eine Rede halten kann, wenn neben der Zweckmässigkeit der Rede, diese von den Zuhörern nicht als geziemend, schicklich und passend eingestuft wird.12 Der Erfolg der Verteidigungsrede vor Gericht wird hiermit in direkte Abhängigkeit zu einer gesellschaftlich geprägten Vorstellung gesetzt. Neben der Notwendigkeit, eine soziale Norm zu respektieren, werden in Quintilians Ausbildung des Redners weitere Einflüsse genannt, welche berücksichtigt werden müssen, um eine erfolgreiche Rhetorik zu erzielen. So wird beschrieben wie die Gestik von der richtigen Einschätzung des Kontexts abhängt und zum Beispiel die Größe der Gruppe von Personen, welche angesprochen werden eine wichtige Rahmung für die Rede darstellt. Des Weiteren beschreibt er am Beispiel der Verteidigungsrede von Sokra-
11 Antonio Damasio, Self Comes to Mind, New York 2010, S. 70. 12 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, 5. Auflage, hg. v. Helmut Rahn, Darmstadt 2011, Buch XI 1, 1-3, S. 544f. und Buch XI 1, 7, S. 546f.
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tes, die Abhängigkeit einer erfolgreichen Rede von der individuellen Interpretation des Sprechenden im Sinne einer autobiographischen Abstimmung.13 Diese auch als Authentizität benennbare Qualität der Rede kann durch keine festgelegte Methode erreicht werden. Durch diesen Hinweis auf die Abhängigkeit der erfolgreichen Rhetorik von einer individuellen Prägung, relativiert Quintilian alle von ihm beschriebenen Regeln und Anweisungen. Er verweist darauf, dass die rhetorische Geste nicht als standardisiertes System von Zeichen verstanden werden kann. Vielmehr wird die erfolgreiche rhetorische Geste damit als Externalisierung eines inneren emotionalen Zustands des Sprechenden verstanden. Dieser Zustand wird für den Zuhörer direkt visuell erfahrbar, ohne auf ein etabliertes System von Zeichen angewiesen zu sein. Andererseits ist die rhetorische Geste auch kein willkürliches Produkt, welches unbewusst und zufällig aus dem Moment heraus entsteht. Vielmehr beruht sie auf Erfahrungen, auf welche der Sprecher und seine Zuschauer gleichermassen zurückgreifen können, die der Sprecher aber mit seinem individuellen Erfahrungsschatz interpretiert. Die implizite Referenz zum Common Ground14 macht es möglich, dass eine Geste vom Sprecher in Bezug zu ihrer Wirkung gezielt eingesetzt und von ihm selbst beurteilt werden kann. Dass diese Kontrolle der Wirkung der Gesten auf die Zuhörer vom Redner selbst vorgenommen werden kann, beschreibt Quintilian in einer Passage des genannten Werkes. Er führt aus, dass die Schicklichkeit einer Rede auch durch Geste und Bewegung hervorgerufen werde und ergänzt dazu: »Und deshalb pflegte Demosthenes sich seinen Vortrag zurechtzulegen, indem er dabei in einen großen Spiegel schaute. So sehr schenkte er, obwohl der Schimmer ihm die Bilder seitenverkehrt zeigte, nur erst den eigenen Augen Vertrauen darüber, wie das Gebärdenspiel wirkte.«15
Auch aus Quintilians Ausführungen lassen sich in Bezug zur zeichnerischen Geste Fragen ableiten, welche wir an die praktischen Beispiele im Folgenden richten können. Inwiefern ist die Geste der Zeichnung erlernbar und wie weit bedingt der gesellschaftliche Kontext deren Verlauf? In wie
13 Ebd., Buch XI 1, 8-11, S. 549 f. 14 Tomasello, Origins (Anm. 1), S. 78. 15 Quintilianus, Der Redner (Anm. 12), Buch XI 3, 68, S. 635.
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fern ist die individuelle Ausprägung in der Zeichnung möglich und wie steht diese im Verhältnis zur sozialen Prägung?
4. Praktisches Experiment zum Verhältnis von sprachlicher und bildlicher Dimension in der zeichnerischen Geste Die folgenden zeichnerisch praktischen Experimente werden ausführlich beschrieben, um den Vergleich zwischen den genannten Positionen zur sprachlichen Geste weiter zu entwickeln. Dabei ist offensichtlich, dass sich die sprachliche und die zeichnerische Geste darin unterscheiden, dass das Ziel der zeichnerischen Geste nicht die Geste an sich ist. Vielmehr ist es deren Spur auf einem Träger, welche die Zeichnerin, sowie den späteren Betrachter affiziert. Obwohl Quintilian von der sprachlichen Geste im Kontext der Rhetorik ausgeht, schlägt er eine Brücke vom Bild, und damit auch der Zeichnung, zur rhetorischen Geste durch deren Visualität: »Kein Wunder, daß diese Gebärden, die ja doch auf einer Art von Bewegung beruhen, so stark auf den Geist wirken, da ja ein Gemälde, ein Werk, das schweigt und immer die gleiche Haltung zeigt, so tief in unsere innersten Gefühle eindringen kann, daß es ist, als überträfe es selbst die Macht des gesprochenen Wortes.«16
Die Geste wird hier implizit als bildliche Dimension der Sprache verstanden, auch wenn die gegenseitige Abhängigkeit nicht ausgeführt wird. Wie verhält sich aber das Zusammenspiel von Sprache, verstanden als konzeptionelles Denken in einem abstrakten Symbolsystem, im Vergleich zu einem bildlichen Denken, welches sich als Folge von aktivierten Erinnerungsbilden beschreiben lässt, im Prozess der Zeichnung? Die zur Argumentation herangezogene Sammlung von Zeichnungen stammt aus einer Versuchsanordnung, bei der 20 Personen, alle in einer gestalterisch-künstlerischen Ausbildung, gefragt wurden, auf einer vorgegebenen Sequenz von neun, meist texturartigen Bildern (Abb. 1) jene imaginierten Vorstellungen einzuzeichnen, welche durch die Betrachtung der Vorlage hervorgerufen wurden.
16 Ebd., Buch XI 3, 67, S. 635.
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Abbildung 1: Indre Grumbinaite, neun Bildvorlagen für die Befragung von 20 Probanden, je 29 x 29 cm.
Quelle: Die Studie mit dem Titel »Drawing as Cognitive Act« wurde von Indre Grumbinaite als Masterthesis 2011 im Institut für Visuelle Kommunikation der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel (HGK FHNW) durchgeführt.
Aus der Sammlung und im vergleichenden Blick auf die von den Probanden eingetragenen Zeichnungen lassen sich allgemeine Aussagen zur Imagination auf Grund eines vorgegebenen Bildstimulus ableiten. Die fotografische Textur, welche eine Ansammlung von Steinen abbildet, hat zum Beispiel, im Gegensatz zu den zeichnerischen Texturen, den Probanden mehr Mühe bereitet, ein Bild zu entwickeln. Die klar umrissene Form, welche sich in ihrer Ambiguität nicht als Zeichen entschlüsseln lässt, hat nicht weniger imaginierte Situationen hervorgerufen als die texturartigen Bild-
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vorlagen. Die Imagination von gesichts- und figurartigen Bildinhalten tritt häufiger auf als andere Bildinhalte. In der vergleichenden Analyse der Zeichnungen können also unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Entwicklung der Bildimagination und deren Materialisierung differenziert werden. Eine erste Gruppierung von Zeichnungen ist durch schraffurartige Ansammlungen von Linien gekennzeichnet. Sie verweisen auf einen Prozess, bei dem das imaginierte Bild sich erst im Verlauf der Bildgenese als Resultat des zeichnerischen Prozesses eingestellt hat. Diese Vorgehensweise lässt sich besonders oft bei den Vorlagen mit einer dichten texturartigen Qualität nachweisen (Abb. 2, obere Reihe). Die Gruppierung der Sammlung kann mit einer zweiten Kategorie erweitert werden, welche sich im Vergleich der Zeichnungen ergibt. In einer relativ kleinen Anzahl von Resultaten wurde die Vorlage durch einen zeichnerischen Zusatz erklärt. Die Komposition aus freien runden Linien wird zum Beispiel durch das Hinzufügen einer gezeichneten Nadel zu einem eindeutig erkennbaren Bild sich überlagernder Fäden. Die Genese dieser Bildimagination beruht nicht auf einem Herausarbeiten einer bestimmten Form aus einer Verdichtung vorhandener Bildelemente durch die Gesten des Zeichnens, sondern auf der Ausführung eines festgelegten Konzeptes. Die Herstellung der Zeichnung stellt bei diesem Vorgehen die Materialisierung eines auch verbal beschreibbaren Bildinhalts dar. Diese Methode der Bilderzeugung kann eher mit einem konzeptionellen Vorgehen in Begriffen verglichen werden. Die Entscheidungen der zeichnerischen Handlung folgen einer zuvor festgelegten Bildinterpretation und sind weniger dem Bereich der unbewussten Wahrnehmung (Cognitive Unconscious)17 zuzuordnen als die Zeichnungen der ersten Gruppe (Abb. 2, mittlere Reihe). In einer dritten Gruppe können Zeichnungen zusammengefasst werden, bei denen eine einzelne Linie in die Vorlage eingetragen wurde. Diese Linien integrieren die vorhandenen Elemente als Teil von Grund oder Figur, erweitern, ergänzen oder fassen diese zusammen. Diese Zeichnungen finden sich vor allem in den Bildstimuli mit fleckenartiger Komposition. Sie können zwischen der ersten Gruppe der Form und Sinn generierenden zeichnerischen Geste und der zweiten Gruppe der konzeptorientierten Ima-
17 Mark Johnson u. George Lakoff, Philosophy in the Flesh, New York 1999, S. 11 u. Mark Johnson, The Meaning of the Body, Chicago 2007, S. 139.
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gination, situiert werden. Die dritte Gruppe entwickelt Form in einem flexiblen Setzen der Linie, das zwischen Vorsatz und Evaluation des bereits vollzogenen Linienverlaufs hin und her pendelt (Abb. 2, untere Reihe). Abbildung 2: Ergebnisse der Befragung. Die Zeichnungen in der oberen Reihe lassen eine gestische Formsuche erkennen, die in der mittleren einen konzeptorientierten Bildgeneseprozess und die in der unteren können zwischen Konzeptorientierung und Geste eingeordnet werden.
Quelle: Wie Abbildung 1.
Mit der Abstufung der drei Kategorien werden unterschiedliche Rollen der gestischen Bewegung im zeichnerischen Prozess erkennbar. In der ersten Gruppe wird die Geste dazu eingesetzt etwas Unbekanntes und noch nicht Benennbares aus der vorhandenen Schraffur zu entwickeln. Diese zeichne-
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rische Geste ist vergleichbar mit der Beschreibung der Geste im natürlichen Sprachgebrauch als Ausdruck der körperlichen Reaktion im Fluss des Wahrnehmungsprozesses. Diese Geste der Zeichnung beinhaltet ein kontinuierliches Reagieren auf den vorhergehenden Strich, seine Evaluation und Überarbeitung auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung und körperlichen Reaktion. Ihre Lenkung entzieht sich weitgehend dem Bewusstsein des Zeichners. Im Gegensatz dazu steht die zweite Gruppe von Resultaten, bei der die Geste von einer verbal formulierbaren Rahmung ausgeht und im Prozess zu einem absehbaren Resultat führt. Diese Geste der Zeichnung ist vergleichbar mit einer rhetorisch geschulten Geste und deren strategischem Einsatz. Die dritte Gruppe stellt schliesslich einen Zwischenbereich im Bezug zum Verhältnis von bildlicher und konzeptioneller Dimension dar. Damit stützt sie die Hypothese, dass auch im Prozess der Zeichnung von einer Dialektik von Sprache und Bild ausgegangen werden kann, in der beide Dimensionen mit unterschiedlicher Gewichtung eingesetzt werden können. Die gestische, körperliche und bildliche Dimension steht der konzeptionellen, sprachlichen und abstrakten Dimension in allen drei beschriebenen Methoden der Zeichnung gegenüber. Die genauere Betrachtung der stark auf die gestische Dimension gestützten zeichnerischen Methode macht deutlich, dass auch ohne eine konzeptionelle Rahmung der zeichnerische Prozess nicht erfolgreich durchgeführt werden kann. Auch wenn die Haupthandlung der gestischen Formfindung nicht von bewussten Entscheidungen gelenkt wird, und im Ziehen der Linie konzeptionelle Analysen ausgeschlossen werden, orientiert sich in der Phase des Unterbruchs und des Zurücktretens die Beurteilung der Zeichnung an einer konzeptionellen Rahmung.18 Die Festlegung der Zielsetzung ist im besprochenen Experiment bereits in der Anlage des Experimentes gefasst. In einem alltäglichen Kontext in dem Zeichnungen hergestellt werden, geht dem Ziehen der Linie eine konzeptionelle Phase voraus, in der die Zielsetzung und die Kriterien der Zielerreichung festgelegt werden. Dieser Rahmung kann im Prozess der Zeichnung mehr oder weniger Gewicht bei-
18 Zu den unterschiedlichen Phasen im Prozess des Zeichnens siehe: Michael Renner, Die stumme Bildkritik des Entwurfs, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik, Ausg. 1, Basel 2011, S. 92-116, hier S. 95 ff., www.rheinsprung11. unibas.ch.
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gemessen werden. Ein Blick auf die künstlerische Zeichnung des 20. Jahrhunderts lässt deren Geschichte auch als Erschliessung des Möglichkeitsfeldes zwischen einem konzeptionsgelenkten und einem gestischen Akt des Zeichnens verstehen.
5. Praktisches Experiment zur Evaluation von Konvention und individueller Abweichung im Prozess der Zeichnung Nachdem wir eine Parallele zwischen sprachlicher und zeichnerischer Geste im Verhältnis von konzeptionellem und bildlichem Denken beschrieben haben, wird im Folgenden auf Grund von weiteren praktischen Beispielen die soziale Bedingtheit und die individuelle Ableitung der zeichnerischen Geste evaluiert. Die Bildreihen, welche nun als Ausgangspunkt der weiteren Reflektion zum zeichnerischen Entwurf dienen, sind in einer Gruppe von zehn Masterstudenten der Visuellen Kommunikation entstanden. Sie wurden angehalten, als Einstieg in eine Reihe von zeichnerischen Übungen, quasi als Lockerungsübung, mit Tusche und Pinsel eine interessante, nach ihrem Empfinden ansprechende Komposition mit horizontalen und vertikalen Linien anzufertigen. Unter diesen Voraussetzungen entstand, im Zeitraum von dreissig Minuten, eine Serie von Versuchen auf separaten Blättern. Danach wählten die Probanden die zwei »besten« Kompositionen aus und markierten diese. Bereits die vergleichende Betrachtung der zwei individuellen Kompositionen in der Gruppe hat das beschriebene Spektrum zwischen formsuchender Geste und dem stärker konzeptgelenkten Akt der Zeichnung erneut bestätigt. Darüber hinaus wurden in der Reihe der ausgewählten Kompositionen weitere Prägungen sichtbar. Sie können durch Begrifflichkeiten wie Anordnung, Strichführung, Grad der Entschiedenheit, Verwendungsweise des Werkzeugs nur ansatzweise gefasst werden. Ihre umfassende Differenzierung entfaltet sich im vergleichenden Blick der individuellen Kompositionen. Nach der Diskussion von einzelnen, abstrakten Kompositionen wurden die Probanden in der Fortsetzung des Experiments angehalten, vorbereitete Objekte (Kürbis oder Lilie) mit Pinsel und Tusche darzustellen. Diese Aufgabenstellung wurde als Hauptaufgabe bezeichnet, welche auf die separate Anfangsübung folgt. Obwohl kein Hinweis gemacht wurde, dass die Darstellung des Stilllebens mit der abstrakten Komposition ähnlich sein
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sollte, zeigen die individuellen Bildserien eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen beiden auf. Die einzelnen Serien, welche die ersten Kompositionen und die Stillleben umfassen zeigen noch deutlicher auf, welche unterschiedlichen Präferenzen von den Zeichnerinnen und Zeichnern im Prozess implizit eingesetzt werden. Eine Serie geht ganz von der rhythmischen Setzung von Linienelementen aus und verwendet Tusche und Pinsel in der Tradition der asiatischen Tuschezeichnung. Die Linien wurden fliessend und klar umrissen oder ausgefranst mit trockenem Pinsel gesetzt (Abb. 3, obere Reihe). Eine andere Sequenz nutzt die flüssige Konsistenz der Tusche aus und arbeitet mit unterschiedlichen Graustufen, welche aus der Mischung von Wasser und Pigment entstehen. Das Fliessen der Pigmente ist nur bedingt kontrollierbar, die resultierenden Spuren ergeben sich zufällig ausserhalb der Einflussnahme einer individuellen Präferenz (Abb. 3, mittlere Reihe). Eine weitere Serie bevorzugt die technische Linie und versucht mit dem Pinsel möglichst eine Federzeichnung nachzuahmen (Abb. 3, untere Reihe). Entgegen dem Anliegen der linearen Präzision zeigt eine andere Bildreihe ein suchendes Vorgehen, welches sich an eine definierte Form herantastet und diese aus einer Ansammlung von einzelnen Linien entwickelt (Abb. 4, obere Reihe). Auch die verschachtelte Anordnung von Linien in labyrinthartigen Konstellationen kann als individuelle Ausprägung sichtbar werden (Abb. 4, mittlere Reihe). Die bereits im vergangenen Experiment beschriebene konzeptionelle Vorgehensweise tritt in einem Beispiel hervor, welches innerhalb der gestellten Aufgabe der abstrakten Komposition die Einschränkung gewählt hat, in horizontaler Anordnung einzelne vertikale Striche in gleichmässigem Abstand aneinander zu reihen. Aus der Darstellung eines Kürbis entsteht unter einer konzeptgesteuerten Ausrichtung zum Beispiel die Erklärung des räumlichen Prinzips des Objektes (Abb. 4, untere Reihe). Die in der Beschreibung der Beispiele als »unterschiedliche Präferenzen« bezeichneten Herangehensweisen, können mit kulturellen Bedingungen in Verbindung gebracht werden. Diese zeigen sich zum Beispiel im Werkzeug und der Vorstellung von dessen richtiger Verwendung. Sie werden in der Zeichnung durch die Ästhetik oder vielmehr in dem, was vom Zeichner als interessant erachtet wird manifest.
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Abbildung 3: Drei Serien von Tuschezeichnungen, je 50 x 70 cm.
Quelle: Drei im Unterricht des Autors von Studentinnen angefertigte Serien zur Evaluation individueller Präferenzen.
Im Vergleich der Abbildungen 3 und 4 kann ein asiatisch und ein mitteleuropäisch geprägter Umgang mit den Mitteln als handlungsleitender Einfluss geltend gemacht werden.19 Ohne auf die Aussagekraft dieser plakativen Bezüge zu beharren, können wir dennoch feststellen, dass die kulturelle Prägung der besprochenen Zeichnung, und damit der zeichnerischen Geste
19 Z. B. wurde eine ornamentale Zeichnung von einer Studentin aus Ägypten hergestellt, die aus einer ornamental ausgerichteten visuellen Kultur stammt. Das konzeptionsgeleitete Beispiel (Abb. 4, untere Reihe) wurde von einem Studenten aus der deutschsprachigen Schweiz gezeichnet und kann mit einer starken Konzeptorientierung der deutschen Sprache in Verbindung gebracht werden. Damit läuft die Analyse der Beispiele aber Gefahr, vorhandene Klischees zu bedienen.
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vergleichbar mit dem geziemenden Aspekt der sprachlichen Geste ist. Die Serien von Zeichnungen, welche als Grundlage unserer Betrachtung dienen, weisen darauf hin, dass sowohl die rhetorische Geste, die Geste im Kontext der natürlichen Sprache, als auch die zeichnerische Geste unter direktem Einfluss soziokultureller Bedingungen stehen. Andererseits erschöpft sich das Spektrum der zeichnerischen Präferenzen nicht in der reinen Spiegelung von gesellschaftlich geprägten Vorgaben. Die Geschichte der Zeichnung zeugt davon, dass gerade die partielle Abweichung vom jeweils epochal Bekannten als sinnstiftend erachtet werden kann. Das erfolgreiche Resultat der zeichnerischen Geste kann deshalb als ebenso abhängig von der individuellen Interpretation erachtet werden. So wie die rhetorische Geste, welche authentisch und überzeugend wirken soll, nicht nur auf das befolgen einer Regel begrenzt werden kann, ist auch die Geste der Zeichnung auf den Bruch mit dem Vorhersehbaren angewiesen. Der alleinige Abgleich im Entwurfsprozess, mit der von der Gruppe vorgegebenen Ästhetik würde ohne weitere Einflüsse zur endlosen Wiederholung vorhandener Vorstellungen führen, wie sie zum Beispiel in jener Bildserie besonders deutlich wird, welche auf das Schema des goldenen Schnitts referiert (Abb. 4, obere Reihe). Aus der Betrachtung der genannten praktischen Experimente, lässt sich individuelle Prägung und soziokultureller Einfluss auf die Geste des Zeichnens nicht unterscheiden. Ein Blick auf neurowissenschaftliche Modelle bestätigt die Verflechtung von sozialer Prägung und individueller Abweichung aus einem anderen Blickwinkel. Im Forschungskontext der klinischen Neuropsychologie werden zwei Bereiche der kognitiven Prozesse, der Bildraum (Image Space) und der Dispositionsraum (Dispositional Space), beschrieben, welche über den Konvergenzbereich (Convergence Zone) miteinander im Austausch stehen.
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Abbildung 4: Drei Serien von Tuschezeichnungen (Auswahl).
Quelle: Im Unterricht des Autors von zwei Studenten (obere und untere Reihe) und einer Studentin (mittlere Reihe) angefertigte Serien.
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»The image space is that in which images of all sensory types occur explicitly. […] The dispositional space is that in which dispositions contain the knowledge base and the mechanisms with which images can be constructed from recall, with which movements can be generated, and with which the processing of images can be facilitated.«20
Der Bildbegriff bezeichnet hier ein mentales Muster, welches durch alle sinnlichen Komponenten strukturiert und in anderen Zusammenhängen auch als Bildschema21 bezeichnet wird. Die Bilder des Bildraums sind im Bewusstsein vorhanden und können explizit gemacht werden, während die Bilder des Dispositionsraums nicht bewusst gemacht werden können und implizit bleiben. Doch gerade diese »schlafenden Bilder«22 beschreibt Antonio Damasio als ausschlaggebend für die Lenkung jener Prozesse, welche zu Emotionen, Reaktionen und Handlungen, zu visuellen Erinnerungen und zur Konstruktion von Bildern führt. Hinsichtlich der soziokulturellen Bedingtheit und individuellen Prägung der zeichnerischen Geste ist von Interesse, wie das ausgeführte Modell die Konstitution des Dispositionsraums beschreibt. Damasio führt dazu aus: »When we talk of the molding of a person by education and culture, we are referring to the combined contributions (1) of genetically transmitted »traits« and »dispositions« (2) of »dispositions« acquired early in development under the dual influences of genes and environment, and (3) of unique personal episodes, lived under the shadow of the former (2), sedimented and continously reclassified in autobiographical memory. We can imagine the neural counterpart to this complicated process as consisting of the creation of dispositional records on the basis of which the brain can evoke, given the appropriate stimulus, a collection of fairly simultaneous responses ranging from emotions to intellectual facts. Using the convergence-zone framework, we can imagine that these responses are controlled by records in particular brain sites which direct the playing out of the responses in a variety of structures – early sensory cortices for the depiction of sensory images of varied nature; motor and lim-
20 Damasio, Feeling (Anm. 3), S. 331 u. ders., Self (Anm. 11), S. 141. 21 Zum Begriff »Bildschema« siehe: Johnson, Body (Anm. 17), S. 136 und Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA, Bd. 3, Frankfurt am Main 2010, S. 97-108. 22 Damasio, Feeling (Anm. 3), S. 332.
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bic cortices and subcortical nucley for the execution of a large range of actions including those that constitute emotions.«23
Obwohl die anatomische Verortung der Prozesse nicht unser hauptsächliches Anliegen, jenes der Differenzierung der zeichnerischen Geste, voranbringt, lassen sich aus Damasios Beschreibung der Entwicklung des Dispositionsraums dennoch für die Geste des Zeichnens wichtige Schlüsse ziehen. Die beschriebenen Bildserien sind auf Grund der Entwicklung des Dispositionsraums nicht als reine Spiegelungen eines sozialen respektive kulturellen Kontexts zu verstehen. Vielmehr sind sie Resultat einer komplexen Überlagerung von genetischer Anlage, kulturell und sozial geprägten Erlebnissen der frühen Kindheit und individuellen Erlebnissen, die durch bereits erworbene Grundlagen gelenkt und durch aktuelle Ereignisse fortlaufend erweitert und transformiert werden. So entstehen Handlungsmuster, welche über das hinaus führen, was im Common Ground bereits vorhanden ist. Diese resultieren in zeichnerischen Bildern, die eine Abweichung vom bereits Gesehenen erlebbar machen und durch die Akzeptanz in der Gruppe auch als Neuerung verstanden werden können.
6. Folgerungen für die Lehre der zeichnerischen Geste Der Akt des Zeichnens ist offensichtlich nicht durch eine verbale Beschreibung und deren Lektüre vermittelbar, sondern ist eine jener Tätigkeiten, welche sich nur durch ihre Ausübung erlernen lassen. Durch unterschiedliche Übungen können einzelne Aspekte der zeichnerischen Geste erfahrbar gemacht und vertieft werden. Mit Bezug auf den beschriebenen Dispositionsraum lassen sich zwei Folgerungen für die Lehre der Zeichnung im Kontext einer gestalterischkünstlerischen Ausbildung ziehen. Erstens wirkt sich jede selber hergestellte Zeichnung, so wie jedes intensive sinnliche Erlebnis, auf den Dispositionsraum als Erweiterung und Transformation des autobiographischen Gedächtnisses aus. Die zeichneri-
23 Damasio, Feeling (Anm. 3), S. 222f.
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sche Geste ist dann durch Übung erlernbar, wenn sie als unmittelbare Arbeit am Dispositionsraum verstanden wird.24 Diese Auffassung widerspricht nicht einer kritischen Beurteilung von Zeichnungen, welche als Resultat von einzelnen Übungen entstehen. Sie wendet sich aber gegen eine vertiefte Analyse einer einzelnen Zeichnung und zieht ihr die Betrachtung von solchen Zeichnungsserien vor, an denen sich eine individuelle Herangehensweise feststellen lässt. In der Übung der zeichnerischen Geste geht es zweitens darum, Einhaltung und Abweichung der bildlichen Konventionen zu erkunden. Die materialisierte Spur der Geste in einer Zeichnung ist immer nur ein Zwischenstadium, welches sich der Konvention annähern oder von ihr entfernen kann. Die Abweichung ist dabei als Resultat der individuellen Konstitution des Dispositionsraumes des Zeichners zu verstehen. Aus diesem lässt sich eine individuelle zeichnerische Methode entwickeln, sofern der Geste der Zeichnung und ihrer Entwicklung Bedeutung zugemessen wird. Beim Erkennen der eigenen Disposition in der Zeichnung ist nicht die Analyse der eigenen psychischen Verfassung von Bedeutung. Vielmehr geht es darum die individuelle ästhetische Präferenz auf Grund der Zeichnungen zu erkennen um diese zu fördern oder zu überwinden. Eine Reihe von Übungen, welche ermöglichen eine individuelle Präferenz sichtbar zu machen, zielt darauf ab, vorhandene Klischees25 erfahrbar zu machen, indem die zeichnerische Methode von der Übungsanlage vorgeschrieben wird. Vorgaben wie ausschliesslich linear zu arbeiten, mit Grauwerten Licht und Schatten zu erfassen, den beobachtenden Blick auf das Modell zu richten ohne auf das Blatt der Zeichnung zu schauen, das Modell aus der Erinnerung zu zeichnen und damit den Blick nur auf das Blatt zu richten, die Spannung des Modells zu erfassen, blind zu zeichnen oder mit
24 Wie sich die zeichnerische Erfahrung in der gestischen Bewegung niederschlägt lässt sich in Übungssequenzen nachweisen, bei der die erste Zeichnung innerhalb von 10 Sekunden, eine zweite Zeichnung innerhalb einer Minute, eine dritte Zeichnung innerhalb von 10 Minuten, eine vierte Zeichnung innerhalb von 30 Minuten und eine fünfte Zeichnung erneut innerhalb von 10 Sekunden angefertigt wird. Siehe: Renner, Die stumme Bildkritik des Entwurfs (Anm. 18). 25 Gilles Deleuze u. Francis Bacon, The Logic of Sensation, New York (1981) 2003, S. 86. ff.
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der linken Hand zu zeichnen, dienen als Anstoss Bekanntes zu überwinden, es zu erkennen oder eigene Präferenzen weiter zu vertiefen. Mit dieser Ausrichtung verfolgt die Übung der zeichnerischen Geste eine bildkritische Methode, die sich vom Ziel der zeichnerischen Virtuosität unterscheidet, wie sie in einem akademischen Zeichenunterricht verfolgt wurde. Vielmehr geht es darum mit kreativen Prozessen vertraut zu werden, welche sich direkt aus dem »kognitiven Wesen« der Entwerferin ableiten und in den Prozessen der Kollage oder im Kontext der technischen Bildgenese – Fotografie oder Computer – eine eher untergeordnete Rolle spielen. In dieser Funktion ist die zeichnerische Geste nicht mehr ausschliesslich ein Mittel der Gemeinschaft um zeitlich und räumlich entfernte Kommunikationsinhalte auszutauschen. Vielmehr ermöglicht sie einen Diskurs über kognitive Erfahrungen auf einer sinnlichen Ebene und lädt die Beteiligten damit ein, in der Dimension bildlicher Praktiken als kognitive Wesen zu agieren.
Das Zusätzliche der Tat Die gestische Konstitution des Neuen in der Performativität zeichnerischer Bildproduktionen U LRICH R ICHTMEYER »Wer philosophiert, macht oft zu einem Wortausdruck die falsche, unpassende, Geste.« LUDWIG WITTGENSTEIN
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den heuristischen Qualitäten des Zeichnens. Er geht grundsätzlich davon aus, dass das, was in der Anfertigung von Bildern entsteht, nicht bloß den Darstellungsabsichten, einer souveränen Verfügung über die Darstellungsmittel, den individuellen Dispositionen und Kompetenzen Zeichnender oder dem Einfluss historischer Dispositive zugeschrieben werden kann, sondern vielmehr immer auch aus der Geste des Zeichnens selbst hervorgeht, aus dem, was in der Ingebrauchnahme des Mediums, seiner Performativität möglich wird. Verbunden wird hier also das Thema des Zeichnens mit dem der »gestischen Heuristik«, das trotz der gegenwärtigen Konjunktur, die der Begriff und das Motiv der Geste in verschiedenen Disziplinen erfahren haben, bislang eigentlich kaum untersucht wurde. Erst 2004 hatte James Griesemer explizit die Wichtigkeit »gestischer Heuristik« für die Erkenntnisziele einer Wissenschaftsphilosophie betont, die den Modellgebrauch in den Wissen-
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schaften beschreibt.1 Die Frage, was man sich unter den programmatisch eingeforderten »gestural heuristics« vorzustellen habe, was also das Gestische an ihnen sei, ist, trotz einer Benennbarkeit einzelner Praktiken und der wichtigen These, sie seien für Hervorbringung und Gebrauch gleichermaßen wichtig, dabei letztlich aber unbeantwortet geblieben.2 Griesemers Auffassung von »gestischer Heuristik« macht vor allem deutlich, dass der Begriff des Gestischen in ihr wichtig aber auch ungeklärt ist, denn die Beteiligung taktiler, muskularer und kinaesthetischer Komponenten an dreidimensionalen Prozessen der Wissensbildung hätte auch mit dem Ausdruck der »körperlichen Heuristik« benannt werden können. Das Gestische impliziert aber weit mehr als den bloßen Gebrauch des menschlichen Körpers in verschiedenen räumlichen Situationen. Was mit ihm für die heuristische Perspektive gewonnen wird, ist letztlich wohl eine spezifische Unschärfe, die der bloßen Faktizität körperlicher Bewegungen fehlt, da sie erst auffällig wird, wenn sich solche Bewegungen mit Wissen, Erfahrungen oder Konventionen durchdringen. Für diese Annahme ist das historische Beispiel Quintilians besonders instruktiv. Seine ausführliche Darstellung der rhetorischen Konventionen des Gestischen, ausgeführt im 11. Buch der »Ausbildung des Redners«, bricht am Beispiel der Schauspieler Demetrius und Stratokles plötzlich ab und stellt die Geltung eines rein konventionellen Verständnisses von Ges-
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Wobei eine »gestische Heuristik« grundsätzlich auch den nur zweidimensionalen Bildern zugestanden wurde: »The tactile, muscular, kinaesthetic experience of working with a model brings experience to mind in more and different ways than the merely visual. In other words, the gestural heuristics for using 3-D models may differ from those for representations in 2-D, and philosophy should take account of these differences.« James Griesemer, Three-Dimensional Models in Philosophical Perspective, in: Soraya de Chadarevian and Nick Hopwood, Models. The third dimension of science, Stanford 2004, S. 433-442, hier S. 440.
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»Gestural heuristics that govern swinging hammers, gluing plastics, cutting waxes, and writing software are needed, not only to build 3-D models but also to use them. These have not been targets of heuristic accounts in philosophy of science. No doubt gestural heuristics are required for making and using models of any dimensionality, but the demand for tactility and multiple perspectives in making and using 3-D models pushes this need to prominence.« Ebd., S. 439.
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ten damit vollends in Frage.3 Wenn Gesten auch ohne rhetorischen Wirkungsverlust, geradezu entgegengesetzt zu allen idealisierenden Anleitungen gelingender Rhetorik überzeugen, so sind die Bedingungen hierfür wohl vor allem in der Performanz einer situationsspezifischen Darbietung zu suchen, die die Individualität des aufführenden Körpers inkludiert, ohne sich auf diesen einzuschränken. Gestisch wird so bei Quintilian etwas, das man als das Produktive in Vorgängen der Reproduktion verstehen kann, womit natürlich immer auch schon die Fundamente der Reproduktion selbst tangiert werden.4 So entwickelt dieser klassische Text zur Geste eigentlich zwei systematisch verschiedene Auffassungen des Begriffs, indem er eine konventionelle5 oder triviale von einer exklusiven oder konstitutionellen Geste unter-
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Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt ³1995. Auf den letzten Seiten des 11. Buches findet sich folgende ›Kehre‹: »Ein Hinweis sei hier noch anzufügen, [...] dass nämlich das, was sich schickt, oft für jeden etwas anderes ist. Es gibt nämlich hierbei eine Art verborgener und unerklärlicher Gesetzmäßigkeit [...]. Bei manchen Menschen wirken die nach den Regeln vorzüglichen Leistungen nicht angenehm, bei manchen gefallen sogar die Fehler. Dass die bedeutendsten Schauspieler in der Komödie, Demetrius und Stratokles durch ganz verschiedene Vorzüge Beifall fanden, haben wir selbst erlebt. [...] Bemerkenswerter waren bei ihnen die Eigenarten, die sich nicht übertragen ließen: [...] Gebärden zu machen, was sich für sonst keinen schickte, für Demetrius schickte es sich [...]. Für den anderen schickte sich sein Laufen, seine Beweglichkeit und sein Lachen, das er, selbst wenn es nicht ganz zu seiner Rolle passte, wohlüberlegt dem Volk zum Besten gab [...]. Hätte von alledem der andere der beiden etwas gemacht, so hätte es ganz häßlich ausgesehen: Deshalb möge jeder sich kennen lernen und nicht nur aus den allgemeinen Regeln, sondern auch aus seiner natürlichen Eigenart die Überlegung gewinnen, wie er seinen Vortrag zu gestalten hat.« Ebd., S. 677f.
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Entsprechend stellt Quintilian fest, das »Schickliche lasse sich weder ohne Kunstlehre noch ganz durch Kunstlehre vermitteln« (Ebd.). Die »unerklärliche Gesetzmäßigkeit« gestischer Wirkung zeigt sich offenbar in der jeweiligen Ausführung immer wieder aufs Neue.
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Die Eigenschaft der Konventionalität meint hier, dass die Geste als Teil eines Konventionssystems gedacht wird, aus dem sie ihre Bedeutung bezieht: »Gesten
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scheidet und die letztere als mögliche philosophische Grundlegung der ersteren denkbar macht. Während die konventionelle und triviale Auffassung der Geste ihrem gewöhnlichen Verständnis entspricht: »Gesten sind Handlungen ohne Worte«,6 hakt die zweite Auffassung hier nach und fragt, wie und unter welchen Bedingungen sich solche Phänomene überhaupt konstituieren. Die exklusive Geste gilt dann nicht nur als ein legitimes Element innerhalb eines möglichen Spektrums konventioneller Gesten, das sich trotz offenkundiger Abweichungen als gleichwohl körperbasierte und wortlose Ausdrucksform diesen noch zugehörig fühlen darf. Vielmehr macht Quintilians Beispiel noch eine zweite und weitaus grundsätzlichere Lesart möglich, wonach man das Produktive einer je singulären Performativität als immer wieder neu geschaffene Basis alles Gestischen verstehen kann,7 als das konstitutionelle Ursprungsgeschehen in dem »Handlungen ohne Worte« überhaupt erst zu Gesten werden, in dem an bloßen Körperbewegungen also das hervortritt, was in den Ratschlägen für den überzeugenden Rhetor dann zur Konvention gerinnt. Genau diese zweite Lesart liefert einen Zugang zum Thema der gestischen Heuristik, das nun sowohl das Hervorbringen von als auch mit Gesten umfasst. In den nun folgenden Absätzen versuche ich diese Perspektive in einem systematischen Vergleich dreier disziplinär verschiedener Positionen für die zeichnerische Bildproduktion zu entwickeln. Erstens soll an die kunsthistorischen Überlegungen Norman Brysons angeknüpft werden, weil er der Prozessualität der Linie eine die Bildproduktion steuernde Funktion zusprach. Zweitens soll im Anschluss an Hans-Jörg Rheinbergers wissenschaftstheoretische Überlegungen das Zeichnen als ein Experimentalsystem angesprochen werden, da hier die Souveränität der Bildproduktion kritisiert
gewinnen ihre Bedeutung durch den Bezug auf ihr jeweiliges kulturelles Referenzsystem.« Christoph Wulf u. Erika Fischer-Lichte (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, S. 10. 6
Ich zitiere diese Auffassung vom Buchrücken: Wulf u. Fischer-Lichte, Gesten (Anm. 5).
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»Gesten ›transportieren‹ nichts, sondern erzeugen je etwas Neues [...]. Zweifellos besitzen sie eine kreative Kraft, insofern sie im Handeln ständig Neues erschaffen – keine Realisierung einer Geste gleicht einer anderen.« Gunter Gebauer, Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich, in: Wulf u. FischerLichte, Gesten (Anm. 5), S. 317-326, hier S. 318.
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und die Hervorbringung des Neuen ihr selbst zugesprochen wird und drittens gilt es Wittgensteins bildtheoretische Überlegungen aufzugreifen, die am Beispiel des geometrischen Beweisbildes die Begriffe der Übersehbarkeit und Überzeugungskraft konzipiert haben, mit denen sich wiederum systematische Leerstellen der ersten beiden Positionen kompensieren lassen. Mit dem Titel des »Zusätzlichen der Tat« wird zunächst eine Überlegung von Roland Barthes aufgegriffen und als Leitmotiv der Untersuchung eingesetzt, da sie mit Quintilians systematischer Doppeldeutigkeit des Begriffs der Geste spielt und ihre zweite, anspruchsvollere Lesart auf die künstlerische Zeichnung überträgt.
1. Die Geste als das Zusätzliche der zeichnerischen Tat Am Beispiel der Zeichnungen Twomblys hatte Roland Barthes für das in der Ausführung einer Zeichnung Entstehende einen adäquaten Titel gefunden, indem er vom Zusätzlichen der Tat sprach, dessen Herkunft in der Handlung der Bildproduktion lag, wobei hier zunächst offen bleiben soll, ob diese immer auch als künstlerische qualifiziert sein muss. Die Formulierung vom Zusätzlichen der Tat erfolgt als Antwort auf die Frage: Was ist eine Geste?, sodass man sie synonym zur ihr verwenden kann und damit offenbar ihre konstitutive und heuristische Qualität im Kontext des Zeichnens benennt: »Was ist eine Geste? Etwas wie das Zusätzliche an einer Tat. Die Tat ist transitiv, sie will nur ein Objekt, ein Resultat herbeiführen; die Geste ist die unbestimmte und unerschöpfliche Summe der Gründe, der Triebe und der Trägheiten, die die Tat mit einer Atmosphäre (im astronomischen Sinn des Wortes) umgeben. Unterschieden wird also die Botschaft, die eine Information hervorbringen will, das Zeichen, das eine Erkenntnis hervorbringen will, und die Geste, die alles übrige (das ›Zusätzliche‹) hervorbringt, ohne unbedingt etwas hervorbringen zu wollen.«8
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Roland Barthes, Cy Twombly oder non multa sed multum, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 165-183, hier S. 168.
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Als Zusätzliches der Tat sind die heuristischen Effekte des Bildes unverfügbar, sie lassen sich nicht vorsätzlich oder zielstrebig generieren, weil sie in der bildproduktiven Handlung immer als eine Möglichkeit auftreten, die genauso gut auch unerfüllt bleiben kann. Das Zusätzliche der Tat markiert damit die nie gänzlich verfügbare Komplexität der zeichnerischen Handlung, die nicht einfach nur als das Produkt bestimmter Darstellungsintentionen, als Reflex künstlerischer Absichten, als Effekt technischer Virtuosität oder beliebiger anderer Elemente aus der langen Ursachenkette des Zeichnens verstanden werden kann. Es grenzt sich auch ab von allen Auffassungen des unmittelbaren Ausdrucks im Zeichnen,9 weil es den Prozess selbst in die Verantwortung nimmt, dem unter dem Begriff der Geste Autonomie zugestanden wird. Während die Tat bei Barthes eine Handlung beschreibt, die als transitiv gilt, und damit das Zeichnen und mit ihm das bildliche Sichtbarmachen einem reinen, man kann auch sagen linearen, Vermittlungsvorgang unterstellt, der mit einer rhetorisch oder kommunikationstheoretisch reduzierten Auffassung der Geste korreliert, meint ihr Zusätzliches noch all das, was unerwartet, unkalkulierbar und doch wirkungsvoll in einer zeichnerischen Bildproduktion selbst hervortritt, ohne als deren Mittel jemals verfügbar gewesen zu sein. Fokussiert wird vielmehr die verdrängte Seite des Disegno, das als Praxis des zeichnerischen Entwerfens immer auch eine genuine Unbestimmtheit aufweist, insofern sich das, was in ihr entsteht, nicht vorhersehen oder vorwegnehmen, geschweige denn beherrschen oder kalkulieren lässt, sondern der jeweiligen Singularität einer jeden Ausführung selbst verdankt. Insofern dieser Prozess des Zeichnens als Geste angesprochen wird, meint er schon das Unverfügbare der Bewegungen, das gleichwohl überzeugen und Neues hervorbringen kann. Mit der Trennung des Gestischen von der Tat und seiner Bestimmung als ihr Zusätzliches, trifft Barthes eine terminologische Entscheidung, die mit Quintilians exklusiver Gestenauffassung korreliert. Denn Barthes These besteht ja darin, die Handlung des Zeichnens aus einer transitiven Erklä-
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»Unabhängig von jeder künstlerischen Begabung verkörpert die Zeichnung als erste Spur des Körpers auf dem Papier das Denken in seiner höchstmöglichen Unmittelbarkeit.« Horst Bredekamp, Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: A. Lammert, C. Meister, J.-Ph. Frühsorge, A. Schalhorn (Hg.), Räume der Zeichnung, Nürnberg 2007, S. 12-24, hier S. 24.
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rung im Sinne einer künstlerischen Kommunikations- oder Repräsentationstheorie zu lösen und das, was in ihr möglich wird, vielmehr in den nun erst gestisch genannten Prozess ihrer Ausführung zu verlegen. Die Relevanz dieses Ansatzes für eine Theorie der zeichnerischen Geste, muss jedoch jenseits der Formulierung vom Zusätzlichen der Tat allererst noch untersucht werden. Welche Möglichkeiten gibt es, dieses Zusätzliche präziser zu bestimmen und damit den Bereich jener gestischen Heuristik auszuloten, die für das zeichnerische Handeln und hier ja nicht nur für das künstlerische angenommen werden kann?
2. Die Geste zwischen zeichnerischer Intentionalität und ungewollten Effekten der Bildproduktion Der Künstler will nach Barthes als »Gestenmacher [...] einen Effekt erzeugen, und will es gleichzeitig nicht; die Effekte, die er erzeugt, hat er nicht unbedingt gewollt,“ vielmehr handele es sich um „zurückgewandte, umgestülpte, entwichene Effekte, die auf ihn zurückfallen und somit Modifikationen, Abweichungen und Druckverringerungen der Spur auslösen.«10 Diese Auffassung des halb souveränen und halb getriebenen künstlerischen Gestenmachers korrespondiert mit Brysons kunsthistorischen Überlegungen, die den Prozess des Zeichnens vor dem Hintergrund der Geschichte des Disegno als eine entsprechende Verflechtung bzw. ein Wechselspiel beschrieben hatten. Bekanntlich hatte bereits Wolfgang Kemp in den historischen Konzeptionen des Disegno einen Statusverlust der zeichnerischen Ausführung nachgewiesen,11 der mittlerweile übrigens auch für die Geschichte des technischen Zeichnens beschrieben wurde.12 Die praktische
10 Barthes, Twombly (Anm. 8), S. 168. 11 Vgl.: Wolfgang Kemp, Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 19. Bd. (1974), S. 219-240. Ausführlicher zu den dort verglichenen Positionen vgl.: Bernhard Siegert, Weiße Flecken, Finstre Herzen. Von der symbolischen Weltordnung zur Weltentwurfsordnung, in: Daniel Gethmann u. Susanne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen, Bielefeld 2009, S. 19-47. 12 Für die Steinschneidekunst und das technische Zeichnen hat Robin Evans eine parallele Bewegung ausgemacht: »Es war, als ob die Technik den Praktikern aus
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Ausführung einer Zeichnung folgt demnach der vorausgehenden imaginativen Leistung des Zeichners, die als ebenso geniale wie souveräne Schöpfung einer Künstlerpersönlichkeit angesehen wird.13 Norman Bryson knüpft in seinem Essay »A Walk for a Walks Sake«14 kritisch an jene Positionen in der Theoriegeschichte des Disegno an, die den Prozess des Zeichnens zu rehabilitieren versucht haben. An zentraler Stelle wird betont, dass das: »Zeichnen von äußeren Anstößen und nicht von inneren Vorgängen veranlasst wird. Der die Zeichnung Ausführende gesteht ein, dass der Prozess die Richtung weist und der Geist folgt: zuerst der materielle Signifikant, Spuren am Papier; dann, danach, das Signifikat, die dargestellte Szene, der nominelle Referent.«15
Mich interessiert nun, auf welche Weise der Prozess des Zeichnens diesem oder vielmehr sich selbst eine Richtung weisen kann, wenn man seine heuristischen Qualitäten im Sinne Barthes als ein gestisch bewirktes Zusätzliches der zeichnerischen Tat versteht. Die Beantwortung dieser Frage hängt natürlich davon ab, was man unter diesem Prozess des Zeichnens alles versteht. Bryson erklärt ihn als eine »Verflechtung von außen und innen, eine ständige Kreuzung von innen (das Denken, die Sinneseindrücke, die Sensibilität des Künstlers) und außen (Papier, Pigment, Stift).«16 Diese aus der Geschichte des Disegno bekannten, antagonistischen Positionen befinden sich Bryson zufolge in einer Zickzackbewegung oder dynamischen Wech-
den Händen genommen und den Intellektuellen überantwortet würde.« Robin Evans, Gezeichneter Stein, in: Arch+. 137 (1997), S. 56-75, hier S. 56; vgl. Wolfgang Pircher, Kraftvolle Zeichnungen, Der Raum als Gefangener von Punkt und Fläche, in: Lammert u.a., Räume der Zeichnung (Anm. 9), S. 268283, hier S. 274. 13 Bernhard Siegert spricht von »Autonomiedelirien und Selbstherrlichkeitsphantasien des Künstlersubjekts«, ders., Weiße Flecken (Anm. 11), S. 19. 14 Zitiert nach: Norman Bryson, Ein Spaziergang um seiner selbst willen, in: Friedrich Teja Bach u. Wolfram Pichler (Hg.), Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München 2009, S. 27-42. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 35.
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selwirkung17 in der beide Teile »einander gegenseitig bestimmen«, sodass scheinbar erst die Differenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit die Bildproduktion antreibt und steuert. Was im Bild sichtbar wird, wäre dann nur der Effekt dieses zugrundeliegenden Konfliktes. Brysons Position ist allerdings radikaler, weil sie die unterstellte Kausalität eigentlich mit einer performativen These untermauert. Denn der Prozess des Zeichnens wird dadurch stärker gewichtet, dass die besagte Wechselwirkung zunächst von gezogenen Linien ausgeht, sich also allererst durch das sichtbare Ziehen der Linien initiiert. In aller Schärfe heißt es: »Die gezogene Linie bedingt oder formt die im Beobachtungsfeld ausgewählten Punkte; sie lenkt die Beobachtung in eine bestimmte Richtung oder auf einen bestimmten Weg.«18 Damit wäre eine Theorie des Zeichnens formulierbar, die erstens auf den Prozess der Ausführung selbst eingeht, statt auf künstlerische Innerlichkeit oder materielle Äußerlichkeit. Und die zweitens im Prozess des Zeichnens visuelle Wirkungen konstatiert, mit denen das entstehende Bild auf sich selbst einwirkt, sodass Sichtbarmachung letztlich aus Sichtbarkeit hervorgeht und nicht umgekehrt. Zwar beschreibt Bryson eine in der zeichnerischen Praxis selbst auftretende Wirkung, wenn er schreibt: »Die äußere Markierung am Papier wirkt steuernd auf den weiteren Verlauf des Schaffensprozesses zurück, in dem sie zunächst selbst hervorgebracht wurde. Insofern sie die Entscheidung des Künstlers über die nächste zu ziehende Linie leitet, bildet die Markierung eine Rückkopplungsschleife vom Papier nach innen [...].«19
Die Sichtbarkeit des entstehenden Bildes hätte damit bereits ein poietisches Format. Aber diese Art der Anerkennung zeichnerischer Performativität ist,
17 »Stellen sie sich vor, [sagt Bryson] wie ein Künstler eine Porträtskizze anfertigt. Das Ziehen der Linie erfordert ein ständiges Hin und Her zwischen den Zügen des Modells und der entsprechenden Markierung auf der Oberfläche, in einer Art Zickzackbewegung vom Punkt an der Spitze des Zeichenwerkzeugs zum Beobachtungspunkt und zurück. Zwischen diesen beiden Punkten entsteht eine dynamische Wechselwirkung, in der beide Teile einander gegenseitig bestimmen.« Ebd., S. 35f. 18 Ebd., S. 35. 19 Ebd.
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wie ich meine, indifferent und systematisch widersprüchlich. Denn Entscheidungen oder Orientierungen die tatsächlich durch eine steuernde Qualität der Linien evoziert würden, müssten auch Differenzen in ihrer Wirkung zulassen, also entweder von Linien ausgehen können, die im Fortgang der Zeichnung unbedeutend erscheinen und einfach hingenommen werden – und dass hieße letztlich: auch einmal ohne Einfluss bleiben können – oder andererseits von Linien, die auf besonders überzeugende Weise und mit hohem Nachdruck das Ziehen weiterer Linien einfordern oder auch das ganze Arrangement einer Grafik synoptisch zum Abschluss bringen. Obwohl die materialistische Grundthese, wonach der Prozess des Zeichnens etwas sichtbar werden lässt, an dem er sich selbst orientiert, eine adäquate Erklärung für das Heuristische im Zusätzlichen der Tat abgeben könnte, bleiben jedoch auch systematische Einwände gegenüber Brysons Position bestehen. Sie lassen sich so ausdrücken: Eine steuernde Funktion kann den gezogenen Linien in einer Zeichnung nicht pauschal zugesprochen werden, vielmehr fehlen Kriterien zur Differenzierung ihrer Sichtbarkeit. Denn haben die gezeichneten Linien immer die gleiche Wirkung, ist die Rückkopplungsschleife entweder wie ein technischer Automatismus zu verstehen, oder es muss auf die subjektiven Entscheidungen eines Zeichners rekurriert werden, der einzelne Linien auswählt und bewertet. Hiermit gelangt man jedoch wieder in die Monopolisierung jenes Erklärungsschemas vom Außen und Innen, das eine dem Prozess des Zeichnens selbst entstammende Differenzierung grafischer Qualitäten verhindert. Es fehlt für Brysons Position ein Kriterium, mit dem sich der steuernde Einfluss von Linien oder anderen grafischen Markierungen auch qualitativ differenzieren lässt. Dieses Kriterium kann offenbar nicht mehr materialistisch begründet werden, es muss vielmehr die Selbstbeteiligung zeichnerisch Handelnder berücksichtigen, ohne diese als Innerlichkeit, subjektives Geschehen oder willensgeleitete Verfügung über das Bild aufzufassen. Solche genuin performativen Unterscheidungskriterien formuliert, vorausgreifend gesprochen, eigentlich erst Wittgenstein, bei dem das »Ziehen der Linien«20 immer erst dann steuernde Funktionen erhält, wenn sie bereits als überzeugende wahrgenommen werden. Erst solche Linien, die sich im Ziehen ein-
20 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Frankfurt am Main 1984, Werkausgabe, Bd. 6, S. 48 u. 53.
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prägen, »geben unserem Glauben eine bestimmte Richtung« und werden damit für das weitere Handeln paradigmatisch. Und eine weitere Differenzierung demontiert die Wirksamkeit der Linien. Denn dass eine im Zeichnen sichtbar werdende Linie, »die Entscheidung des Künstlers über die nächste zu ziehende Linie leitet«, besagt ja nicht, dass ein dabei entstehendes grafisches Gebilde tatsächlich seinem Anlass ›gefolgt‹ ist.21 Die Frage, ob eine gezogene Linie einer vorherigen gefolgt ist, lässt sich erst in einem retrospektiven Vergleich beantworten und dass eine erste Linie eine zweite veranlasst, sagt eigentlich noch nichts über deren je mögliche Verlaufsrichtung aus. Eine auf die Performativität des Zeichnens konzentrierte Lektüre muss also auch anerkennen, dass ein angeleitetes oder sich selbst anleitendes Zeichnen, in diversen Abweichungen resultieren kann, weil der jeweils grafisch gegebene Impuls zum Ziehen weiterer Linien nichts darüber aussagt, auf welche Weise ihm dabei gefolgt wird. Vielmehr tritt auch hier noch ein Zusätzliches in jenen von gezogenen Linien evozierten Taten auf, sodass Thesen zu seiner Herkunft immer uneindeutig bleiben.
3. Das Zusätzliche als eine serendipe Sichtbarmachung Gilt die Zeichnung in Kunst und Wissenschaft als das klassische Medium der Erzeugung von Neuem,22 dann genau deshalb, weil sie »alles übrige
21 Wittgenstein hat die Beziehung zwischen anleitendem Vor- und abweichendem Nachzeichnen explizit unter dem Ausdruck des Regelfolgens diskutiert, siehe hierzu meinen Artikel: Ist Nachzeichnen ein Regelfolgen, in: Hana Gründler, Toni Hildebrandt, Omar Nasim u. Wolfram Pichler (Hg.), Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik, Ausg. 3, Zur Händigkeit der Zeichnung, Basel 2012, S. 110-126. 22 Z. B. Dieter Mersch: »[...] und wenn es, in dieser Hinsicht, ein visuelles Denken als Teil der menschlichen Kognition gibt, das der Sprache gleichberechtigt gegenübersteht, dann wäre [es] hier, im Disegno, der Verbindung zwischen Linie, Gedanke, Entwurf und Concetto zu suchen.« Ders., Das Medium der Zeichnung. Über Denken in Bildern, in: Lorenz Engell, Jiri Bystricky, Katerina Krtilova (Hg.), Medien denken. Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern. Bielefeld 2010, S. 83-109, hier S. 89.
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(das ›Zusätzliche‹) hervorbringt, ohne unbedingt etwas hervorbringen zu wollen.«23 Dass die Zeichnung sichtbar machen kann, was nicht nur unsichtbar sondern auch unbekannt war, verleiht ihr einen heuristischen und mitunter epistemischen Status.24 Nicht zufällig entspricht Barthes mit dieser Feststellung, dass das ›Zusätzliche nicht unbedingt hervorgebracht‹ werden sollte, genau Rheinbergers Auffassung der epistemischen Produktivität wissenschaftlicher Experimentalsysteme, die dieser selbst durchaus mit der »Arbeit des Künstlers« analogisiert hat,25 wenn er fragt, »was es für einen Forscher heißt, in epistemische Praktiken, ja Machenschaften verwickelt zu sein, deren Ausgang er nicht kennt [...]«.26 Rheinbergers Überlegungen sind nicht bildtheoretisch interessiert und auch der Status wissenschaftlicher Visualisierungen innerhalb der Experimentalsysteme beschäftigt ihn nicht.27 Allerdings nähert er sich diesen Fragen in einem kleinen Text mit dem Titel »Augenmerk« an, zu dem es heißt: »Augenmerk wendet sich dem Thema der Aufmerksamkeit in der Forschungstätigkeit zu«. Damit wird zwar die Theorie der Experimentalsysteme nicht bildtheoretisch, es ist aber zumindest von einer über den Sehsinn vermittelten Aufmerksamkeitsbildung die Rede. Für ein intentions- und subjektloses Erfinden »unvorwegnehmbarer Ereignisse« steht bei Rheinberger besonders der Begriff der Serendipität. Er kann zweierlei bedeuten:
23 S. Anm. 8. 24 Das Zusätzliche der Tat inkludiert auch die »epistemischen Potentiale des Bildes«, insofern sie als die »spezifischen Möglichkeiten, Wissen hervorzubringen« (Lammert u.a., Räume der Zeichnung (Anm. 9), S. 11) verstanden werden. 25 Hans-Jörg Rheinberger, Augenmerk, in: Ders., Iterationen, Berlin 2005, S. 5173, hier S. 57, vgl. 65, 69. Der Prozess der Forschung bleibt so grundsätzlich anderen Praktiken verbunden: »Ich gehe allerdings davon aus, dass diese Beobachtungen auch auf andere praktische Betätigungen zutreffen und vermute, dass die Wissenschaften sich in dieser Hinsicht keineswegs grundlegend von anderen Formen produktiven Tuns unterscheiden.« Ebd. S. 51. 26 Ebd., S. 56. 27 Allerdings thematisiert er im Kontext der Experimentalsysteme auch »Räume der Darstellung«, vgl.: Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001, bes. Kap. 6, S. 109-121.
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»[D]ie zufällige Entdeckung von Wegen zu einem Ziel, das man anstrebt, im Gegensatz zu (wahrer) serendipity, das heißt der zufälligen Entdeckung von Dingen, nach denen man gar nicht gesucht hat.‹ Unvorwegnehmbare Ereignisse meinen eben dieses Auftreten von Dingen, nach denen man nicht gesucht hat. Sie kommen überraschend, aber trotzdem passieren sie nicht einfach so. Sie werden aus der inneren Mechanik der experimentellen Zukunftsmaschine herausprozessiert.«28
Zwischen Barthes und Rheinberger, zwischen künstlerischer Zeichnung und wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion lässt sich das Zusätzliche der Tat somit in den Prozessen seiner Hervorbringung situieren und als das von ihnen Nicht-Intendierte angeben. Rheinbergers Theorie der Experimentalsysteme bietet damit die Möglichkeit, die zeichnerische Entstehung von Neuem auf die situativen und materialen Konstellationen der Experimentieranordnung zu gründen.29 In dieser Hinsicht stimmt sie auch mit Brysons Plädoyer für die koordinierende Kraft der Linie im Prozess des Zeichnens überein. Das Zeichnen wird in diesem Sinne als ein Experimentalsystem zugleich von seinem impliziten Positivismus befreit, es wird sozusagen entmystifiziert, was dadurch geschieht, dass die Annahme einer souveränen und zielstrebigen Verfügung über das zu Entdeckende aufgegeben wird: »Ich ziehe den Begriff des ›unvorwegnehmbaren Ereignisses‹ dem in diesem Zusammenhang oft benutzten Begriff der ›Entdeckung‹ vor. Letzterer ist Teil eines positivistischen Vokabulars, das ich in diesem Buch durchgehend zu vermeiden versucht habe.«30 Die zeichnerische Sichtbarmachung in Entwurfsprozessen meint nach diesem Verständnis einen nicht wirklich beherrschbaren Prozess mit offenem Ausgang, wie ihn Barthes mit dem Zusätzlichen der Tat titulierte, das ja ebenfalls als ein Korrektiv gegen den Positivismus der transitiven Tat gerichtet war. Gleichwohl tendiert eine Auslegung im Sinne Rheinbergers aber auch Brysons dazu, seine Analyse mit der Kausalität von Herkunftsangaben zu beschließen, denn denkt man sich, dass das Zusätzliche der Tat »aus der in-
28 Ebd., S. 144f. 29 Z. B. Bernhard Siegert, Wasserlinien. Der gekerbte und der glatte Raum als Agenten der Konstruktion, in: Jutta Voorhoeve (Hg.), Welten schaffen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Konstruktion, Zürich u. Berlin 2011, S. 1737. 30 Rheinberger, Experimentalsysteme (Anm. 28), S. 144f.
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neren Mechanik der experimentellen Zukunftsmaschine herausprozessiert« wird, so ist damit nur erläutert, wo es herkommt, aber nicht was es ist oder wie es sich in den Prozessen der Bildproduktion und mit den Mitteln der Sichtbarkeit Geltung verschafft. Wie macht das Zusätzliche der zeichnerischen Tat visuell wahrnehmbar auf sich aufmerksam? Wie tritt im Prozess des Zeichnens das Zusätzliche aus der Tat heraus? Wie erweist es sich hier als das Gestische?
4. Das Zusätzliche als Überzeugungskraft des Bildes Obwohl Rheinbergers Begriff der Serendipität für das wissenschaftliche Experimentalsystem konzipiert war, beschreibt er exakt das Bedingungsgefüge, in dem sich auch das Neue in einer Entwurfszeichnung oder Bildproduktion zu zeigen beginnt. Das im bildlichen Entwerfen möglicherweise entstehende Neue ist demnach entweder selbst eines jener »unvorwegnehmbaren Ereignisse«, in denen »Dinge« auftreten, »nach denen man nicht gesucht hat«, oder es ist eben das, was in ihnen auftritt. Trotz aller Übereinstimmung, zeigt diese kleine Unterscheidungsschwierigkeit aber schon ein Problem an. Denn fragt man nach dem Modus dieses Auftretens von Neuem, nach der Art seines Auffällig-werdens, die ja auch deshalb unterschieden können werden muss, weil nicht alles, was entsteht, die heuristische Qualität solch eines unvorwegnehmbaren Ereignisses hat (analog dem Unterscheidungsproblem der gezogenen Linien bei Bryson), so kommt man mit dem Begriff der Serendipität nicht weiter. Wittgenstein hatte am Beispiel der geometrischen Beweiszeichnung eine Konzeption der Bildevidenz entwickelt, die genau der serendipen und performativen Fundierung des zeichnerisch Neuen gerecht wird und gleichfalls die Grundannahmen von Bryson und Rheinberger bestätigt. Seine Überlegungen in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik thematisieren die Überzeugungsbedingungen solcher Zeichnungen, die in einer vollständig reglementierten Bildproduktion entstehen, wie sie der Gebrauchsweise der euklidischen Geometrie entspricht, wobei er deren Beweise allerdings schon als »Beweisbilder« versteht und nach den Bedingungen des genuin bildlichen Überzeugens befragt. Obwohl das Gebot der Reproduzierbarkeit des Beweisbildes ein ikonoklastisches Prinzip mar-
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kiert,31 steht seine Bildlichkeit damit nicht generell in Frage, weil für die genuine »Überzeugungskraft« des Beweisbildes eine visuelle Demonstration konstitutiv ist. Diese Überzeugungskraft des Bildes, man kann auch von einer epistemischen Bildevidenz sprechen, gleicht Barthes Zusätzlichem der Tat, da sie in gleicher Weise handlungsbasiert aber unkalkulierbar ist. Mit der erforderlichen systematischen Schärfe wird diese Bedingung von Wittgenstein in folgenden Sätzen formuliert: »Das ist der Beweis, was uns überzeugt: Das Bild, was uns nicht überzeugt, ist der Beweis auch dann nicht, wenn von ihm gezeigt werden kann, dass es den bewiesenen Satz exemplifiziert.«32 Beweiskräftig wird das Beweisbild also erst, wenn es in seiner konkreten bildlichen Demonstration überzeugt. Wittgenstein diskutiert damit die Zeichnung innerhalb ihres Entstehungsprozesses als ein wahrnehmbares Ereignis: »Der Beweis muss ein anschaulicher Vorgang sein. Oder auch: der Beweis ist der anschauliche Vorgang.«33 Die Überzeugungsleistung des Bildes konstituiert sich demnach erst in der Anschaulichkeit des zeichnerischen Handelns, und so ist auch die Bemerkung zu verstehen, dass: »Nicht etwas hinter dem Beweise, sondern der Beweis beweist.«34 Sie ist also ein Zusätzliches der Tat, etwas, das auf die singuläre Bildproduktion angewiesen ist und hier zwar erhofft, aber letztlich nicht erzwungen werden kann, denn die Beweiszeichnung kann zwar ›nach allen Regeln der Kunst‹ angefertigt werden, sie muss dabei aber noch längst nicht überzeugen. Das, was auf der Grundlage der Ausführung und doch unabhängig von ihren verbindlichen Regeln und Methoden wahrnehmbar wird, hat also eine spezifische, man könnte sagen bildproduktive Evidenz, die als Übersehbarkeit nicht mit der bloßen Sichtbarkeit des Bildes zu verwechseln ist, weil sich in ihr bereits ein bestimmtes grafisches Arrangement im Prozess des
31 »Zur Reproduktion eines Beweises soll nichts gehören, was von der Art einer genauen Reproduktion eines Farbtons oder einer Handschrift ist.« Wittgenstein, BGM (Anm. 20), S. 143. 32 Ebd., S. 171. Oder auch: »Alles was ich sage, kommt eigentlich darauf hinaus, dass man einen Beweis genau kennen und ihm Schritt für Schritt folgen kann, und dabei doch, was bewiesen wurde, nicht versteht.« Ebd., S. 282. 33 Ebd., S. 173. 34 Ebd.
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Zeichnens als wirkungsvoll zeigt, indem es sich für weitere Anwendungen prädestiniert: »Zum Beweis gehört Übersichtlichkeit. Wäre der Prozess, durch den ich das Resultat erhalte, unübersehbar, so könnte ich zwar das Ergebnis, dass diese Zahl herauskommt, vermerken – welche Tatsache aber soll es mir bestätigen? Ich weiß nicht: ›was herauskommen soll‹.«35 Mit Wittgensteins Begriff der Übersehbar- / oder auch Übersichtlichkeit kann also auch das bei Bryson für die steuernde Funktion der Linien fehlende Differenzkriterium angegeben werden, insofern demnach nicht jede gezogene Linie auf das Ziehen weiterer einwirkt, sondern eben nur jene, die übersehbar sind, weil sie von etwas überzeugen. »›Der Beweis muss übersehbar sein‹ – heißt: wir müssen bereit sein, ihn als Richtschnur unseres Urteilens zu gebrauchen.«,36 heißt es. Oder auch »Das Bild zeigt mir [...], dass was immer geschieht sich so wird anschauen lassen.«37 Es »gibt unserem Glauben eine bestimmte Richtung.«38 »Ohne dieses Bild hätte ich nicht sagen können, wie es werden wird, aber wenn ich es sehe, so ergreife ich es zur Vorhersage.«39 Diese paradigmatisch anleitenden Konsequenzen der Übersichtlichkeit entsprechen durchaus Brysons Annahme einer selbstregulativen Sichtbarkeit im entstehenden Bild, die ja immer eine spezifische Fortführung aber auch einen wirkungsvollen Abschluss bewirken kann. Aber auch Rheinbergers Serendipität taucht als Komponente der Übersehbarkeit auf, denn Wittgenstein geht es bei diesen unkalkulierbaren Effekten der Beweiszeichnung tatsächlich auch um die Bedingungen der Konstitution von Neuem: »Die neue Lage ist wie aus dem Nichts entstanden. Dort, wo früher nichts war, dort ist jetzt auf einmal etwas.«,40 heißt es. »›Ich meine, ich habe an diese Art der Zusammensetzung gar nicht gedacht.‹«41 Vielmehr entsteht sie als ein Zusätzliches jener Tat, die als ein anschaulicher Vorgang gilt. Obwohl die zeichnerische Sichtbarmachung bei Wittgenstein damit ein ähnlich serendipes Profil erhält, wie Rheinbergers Experimentalsyste-
35 Ebd., S. 95. 36 Ebd., S. 159. 37 Ebd., S. 307. 38 Ebd., S. 305. 39 Ebd., S. 242. 40 Ebd., S. 56. 41 Ebd., S. 55.
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me, wird sie jedoch explizit vom Begriff des Experiments unterschieden, das als zu schwach erscheint, weil es immer auch ein Erproben impliziert. Sobald der anschauliche Vorgang des Beweises aber überzeugt, hat er laut Wittgenstein diesen optionalen Charakter bereits abgestreift. Eine Zeichnung, die überraschend mit Neuem konfrontiert, forciert vielmehr schon ein ganz bestimmtes Verständnis: »›Der Beweis muss übersehbar sein‹ heißt eigentlich nichts anderes als: der Beweis ist kein Experiment. Was sich im Beweis ergibt, nehmen wir nicht deshalb an, weil es sich einmal ergibt, oder weil es sich oft ergibt. Sondern wir sehen im Beweis den Grund dafür zu sagen, dass es sich so ergeben muss.«42
Zwar gründet sich die Wahrnehmung von Überzeugendem und Neuem im Bild auf den Prozess der Zeichnung, aber indem diese als wirkungsvoll erscheint, ist die experimentelle Genese abgeschlossen. So besteht Wittgenstein auf einer qualitativen Differenz bzw. eigentlich einem Bruch zwischen Bild und Experiment. »Der Beweis, könnte man sagen, muss ursprünglich eine Art Experiment sein – wird aber dann einfach als Bild genommen.«,43 heißt es. Diesem Bruch entspricht ein Wechsel der Perspektiven. Nicht mehr geht es um das Prinzip der Verursachung des Serendipen oder Zusätzlichen, sondern um eine adäquaten Ausdruck für die ihm angemessene Evidenz. Deshalb heißt es: »Das Experimenthafte verschwindet, indem man den Vorgang bloß als einprägsames Bild ansieht.«44 Wird das experimentell prozessierte Bild überzeugend, indem es Neues erkennen lässt, ist es selbst nicht mehr ein beliebiger Bestandteil des Experimentalsystems, wie es bei Rheinberger noch für den Status von »Darstellungen und Repräsentationen« gilt. Was Wittgenstein Übersehbarkeit nennt, stellt dann auch anders als Rheinbergers Augenmerk ein nicht triviales, exklusives Wahrnehmungsereignis dar, in dem sich das serendipe Neue erstmalig zeigt, in dem es auffällt und Aufmerksamkeit auf sich zieht, und sich damit von der Vielfalt der Repräsentationen des Experimentalsystems abhebt. Wichtig ist aber, dass es sich hierbei nicht um eine ontologische Bestimmung des Neuen handelt, vielmehr um die Erfahrung der Neuheit, wie sie sich innerhalb einer zeich-
42 Ebd., S. 170. 43 Ebd., S. 160. 44 Ebd., S. 68.
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nerischen Praxis zusätzlich zu allen Erwartungen, Absichten, Ambitionen, (geometrischen) Darstellungsregeln, Auftragslagen, sozialen, technischen oder apparativen Kontexten einstellen kann.
5. Heuristische und ungebärdige zeichnerische Gesten Auch Barthes war an künstlerischen Bildwirkungen interessiert, die im bildproduktiven Prozess unvorhersehbar entstehen, gleichwohl ihre Entstehungsbedingungen, wie im Falle der geometrischen Zeichnung bei Wittgenstein oder der wissenschaftlichen Erkenntnis bei Rheinberger bekannt sind. Barthes hatte genau in dieser Beziehung zwischen einem reproduktiven Kontext und einem produktiven Resultat das Zusätzliche der Tat situiert, über das es als künstlerische Geste heißt: »Dieses bißchen Farbe führt keinen Effekt vor [...] sondern eine Geste, die Lust an einer Geste: An der Spitze seines Fingers, seines Auges, etwas entstehen sehen, das zugleich erwartet ist (von dem Stift, den ich halte, weiß ich, dass er blau ist) und unerwartet (da ich auch nicht weiß, welches Blau herauskommen wird und wüßte ich es, so wäre ich immer noch überrascht, da die Farbe, wie das Ereignis, jedesmal schlagartig neu ist: Eben diese Schlagartigkeit macht die Farbe aus, wie sie auch den Genuß ausmacht.)«45
Wichtig ist jedoch in Hinblick auf Wittgensteins Überlegungen zur Entstehung des Neuen im Bild, dass alles an der zeichnerischen Geste Erwartete für eine Begründung des Unerwarteten nicht hinreichend ist. Das Unerwartete, Ereignishafte und Zusätzliche, das Barthes bisweilen bereits als das allein Gestische am Bildermachen angesprochen hatte, während das rein instrumentale Handeln einem Kommunikationsparadigma unterstand, ist »jedesmal schlagartig neu«. Dieser Aspekt einer performativ konstituierten Neuheit findet sich auch in Wittgensteins Überlegungen zur epistemischen Bildevidenz und wird dort als Eigenschaft des geometrischen Beweisbildes diskutiert:
45 Barthes, Twombly (Anm. 8), S. 173 f.
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»Man möchte sagen: der Beweis ändert die Grammatik unserer Sprache, ändert unsere Begriffe. Er macht neue Zusammenhänge, und er schafft den Begriff dieser Zusammenhänge. (Er stellt nicht fest, dass sie da sind, sondern sie sind nicht da, ehe er sie nicht macht.)«46
Für die Hervorbringung von epistemisch Neuem durch evidente Bilder ist es demnach irrelevant, welcher Verfahrenstechnik sich die Zeichnung bediente, ob sie zielstrebig verlief, technisch präzise47 oder künstlerisch frei agierte. Entscheidend ist vielmehr für diesen Ansatz, dass er die Ausführung und die wahrnehmende Selbstbeteiligung jeweils Zeichnender als Grundlage der Entstehung von Neuem ansieht. Welche Linien aus welchen Gründen, mit welchen Motiven erzeugt werden, spielt für das Ereignis eines in ihnen möglicherweise evident werdenden Neuen keine Rolle. Der entscheidende Fokus, den Wittgenstein hervorzuheben versucht, besteht vielmehr in der Einsicht, dass sich das Neue prinzipiell überall ereignen kann und dass es zweitens eine wahrnehmende Selbstbeteiligung an einem singulären Geschehen zur Voraussetzung hat. Das Thema vom Zusätzlichen der Tat behauptet damit eine qualitative Differenz zwischen der Produktion und der Reproduktion einer Zeichnung, analog jener, die sich bei Quintilian zwischen einer konventionellen und einer konstitutiven Geste finden lässt. Man kann diesen Aspekt mit Bernhard Waldenfels als die Differenz zwischen dem Geregelten und dem Ungebärdigen beschreiben, wobei das Ungebärdige gerade dem Gestischen bei Barthes entspricht, insofern es das an Gebärde und Geste bezeichnet, was sich der reinen, handlungstheoretischen Auffassung von Reproduktion als einem Regelfolgen entzieht und ihm gegenüber eine »radikale Offen-
46 Wittgenstein, BGM (Anm. 20), S. 166. 47 Das Zusätzliche der Tat entstammt bei Barthes und auch bei Wittgenstein einer anderen Mehrdeutigkeit der Zeichnung als sie etwa an der Differenz zwischen technischen und künstlerischen Linien hervorgehoben werden kann: »Die definitiv ›richtige‹ Zeichnung etabliert möglichst eindeutige Verhältnisse, indem sie die Ambivalenz der Linie tilgt. Sie stattdessen auf eine Vorlage, einen Riss oder Bauplan festlegt, der sich daran messen lassen will, der Hervorbringung eines Artefakts zu dienen oder dessen Gebrauchsanweisung.« Gottfried Boehm, Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Bach u. Pichler, Öffnungen (Anm.14), S. 43-59, hier S. 51.
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heit« ermöglicht, die mit Barthes gesprochen, immer auf das Zusätzliche einer Tat verweist: »Diese Fragen werden um so dringlicher, wenn wir nun zusätzlich eine radikale Offenheit von Regelsystemen in Betracht ziehen. Diese gesteigerte Form der Offenheit zeigt sich darin, dass uns nicht nur Neues begegnen kann, sondern auch Neuartiges, das unsere Intentionen durchkreuzt und unsere normalen und typischen Vorstellungen, Praktiken und Techniken sprengt.«48
Diese radikale Offenheit des Ungebärdigen tritt demnach in einem reproduktiven Handeln auf, das durchaus mit Wittgensteins Überlegungen zum Neuen im Kontext eines regelhaften, weil geometrisch konventionellen Zeichnens vergleichbar ist, allerdings zeigt sich nun Wittgensteins Begriff des Neuen als einer, der eigentlich auf das Neuartige abzielt. Zumal Waldenfels die zugehörige Differenz zwischen dem Neuen, das als die jeweils aktuelle Reproduktion gilt und dem Neuartigen, das den Regelbruch innerhalb eines reproduktiven Geschehens meint, durchaus auch bildspezifisch interpretiert hat.49 Deshalb ist das Zusätzliche eines der Tat, weil es sich von dieser wiederum als ihr Nichtzugehöriges, Ungebärdiges abheben kann. Die bloße Abhebung würde allerdings nur Neuigkeit nicht Neuartigkeit ermöglichen. Für letztere ist eine wahrnehmende Selbstbeteiligung erforderlich, in der Handelnden etwas als wirksam begegnen kann, das weite-
48 Bernhard Waldenfels, Das Geregelte und das Ungebärdige. Funktionen und Grenzen institutioneller Regelungen, in: Ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 2005 (1. Ausg. 1985), S. 79-93, hier S. 89. 49 Waldenfels hat sich z. B. auf Max Imdahls Unterscheidung eines re- und eines produktiven Sehens bezogen: »Fragen wir uns, was über den Sonderfall der Malerei hinaus ein sehendes Sehen bedeutet, das nicht bloß wiedererkennt, so müssen wir einen Unterschied machen zwischen der Möglichkeit, Neues zu sehen, und der Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen. Im erstgenannten Falle ist das Neue ein Was [...]. Im zweiten Falle handelt es sich um ein neuartiges Wie, um eine neue Struktur, Gestalt oder Regel, die es erlaubt, das Bekannte mit anderen Augen zu sehen und in einem neuen Licht zu betrachten.« Ders., Ordnungen des Sichtbaren. Zum Gedenken an Max Imdahl, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 233-252, hier S. 237.
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re Handlungen allererst zu initiieren scheint – und dem entspricht die konstitutive Kraft heuristischer Gesten. Trotz aller offensichtlichen Korrelationen zwischen einer gestischen Heuristik und dem Zusätzlichen der zeichnerischen Tat versetzt der Waldenfels-Hinweis die untersuchte Beziehung in eine allgemeinere, handlungsphilosophische Dimension und lässt damit die für ein Resümee der Untersuchung entscheidende Frage auftreten, was durch Barthes Gleichsetzung und den hier unternommenen Versuch, sie in einem interdisziplinären Vergleich systematisch zu befragen, eigentlich gewonnen werden kann? Ergeben sich hieraus Einsichten in eine handlungstheoretische Auffassung des Gestischen, in die Performativität des Zeichnens, in die gestische Heuristik oder in eine speziellere Gestentheorie? Oder radikaler gefragt, ist es noch zulässig das Thema der gestischen Heuristik im Kontext des Zeichnens zu diskutieren, wenn erwiesen werden kann, dass es einer allgemein handlungstheoretischen Diskussion angehört und in der Dimension von Vor- und Nachahmung, Regelgeben und Regelfolgen, Pro- und Reproduktion beschrieben werden kann? Geht dadurch nicht die Spezifik des Themas verloren? Ich denke nicht, denn bereits Grisemers medienspezifische Überlegungen zur gestischen Heuristik hatten darauf aufmerksam gemacht, dass man ihre Spezifik in verschiedenen Kontexten jeweils separat berücksichtigen sollte. Was sie im Bereich der Zweidimensionalität der Bilder wäre, sollte im vorliegenden Artikel eruiert werden. Welchen Beitrag liefert also der Begriff der Geste für das Verständnis zeichnerischer Heuristik? Er umschreibt zunächst eine andere Auffassung der nicht verfügbaren Produktivität des zeichnerischen Handelns, indem er das Produktive im Reproduktiven betont. Die »verborgene und unerklärliche Gesetzmäßigkeit« gestischen Wirkens lässt sich, wie es Quintilian ausdrückte, »weder ohne Kunstlehre noch ganz durch Kunstlehre vermitteln«, womit auch die Grenzen einer zeichnerischen Entwurfsforschung aufgezeigt wären. Lehrbar ist die Herkunft des Neuen nicht, wie sich ganz im Einklang mit Rheinberger und Wittgenstein sagen lässt, weshalb hier auch keine gestische Heuristik im Sinne einer Wissenschaftsdisziplin mit methodisch gesicherten Grundsätzen vorliegt. Und doch wird sichtbar und im Kontext der Gestenthematik auch beschreibbar, dass es eine Heuristik des Gestischen gibt, die immer schon die Prozesse des Bildermachens durchzieht. Denn mit der Konfrontation des Gestischen mit dem Zeichnen geht es ja nicht nur Barthes darum, die zeichnerische Tat als Ort eines Zusätzlichen
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auszuweisen, das ihr auf spezifische Weise zukommt. Und zweitens ermöglicht der speziellere Kontext einer gestischen Heuristik, dieses Potential der Performativität in der spezifischen Indeterminanz des Handelns zu lokalisieren, dort, wo das Ungebärdige als Souveränitätsverlust auftritt, Einfluss auf die Entstehung oder Fertigstellung einer Grafik ausübt (Bryson), in diesem Sinne eine serendipe Struktur aufweist (Rheinberger), die zugleich im Modus des Überzeugens und der Übersehbarkeit (Wittgenstein) auftritt und damit als Neuartiges weitere Optionen aufzeigt und andere Handlungen möglich macht.
Die Geste als Figur des Realen bei Walter Benjamin H YUN K ANG K IM
Die vorliegende Studie betrachtet die Geste bei Walter Benjamin als Figur des Realen. Sie ist bei Benjamin eine Denkfigur der Bild-Performanz. Sie ist eine »gestaltende Gestalt«, keine »gestaltete Gestalt«.1 Dennoch bedeutet sie für Benjamin nicht einfach die setzende Kraft, sondern auch die Kraft der »Entstaltung« (GS VI 115).2 Sie hat den doppelten Charakter als Erscheinung und Akt, (Re-)Präsentation und Ereignis. Sie oszilliert daher stets zwischen Repräsentation und Nicht-Repräsentierbarem.3 Der Vorrang des Gestischen gegenüber der Handlung kennzeichnet für Benjamin das barocke Trauerspiel, das epische Theater und Kafkas Werk. Die Geste erscheint in ihnen als Fragment der unvollendeten, unabgeschlossenen Wirklichkeit. Sie ist dabei gekoppelt mit einer Erkenntnis-
1 2
Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, München 2000, S. 148. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, 7 Bände, Frankfurt am Main 1974-89. Die Gesammelten Schriften Benjamins werden im Text mit der Sigle GS unter Angabe des jeweiligen Bandes und der Seitenzahl zitiert.
3
Ulrich Hortian zufolge lässt sich Benjamins Bildbegriff wie folgt darstellen: »Nicht Re-Präsentation einer Präsenz, sondern Re-Präsentation von etwas jenseits der Präsenz«. Ulrich Hortian, Metaphorae Memoriae. Zur Metaphorik des Gedächtnisses bei Walter Benjamin, in: Klaus Garber u. Ludger Rehm (Hg.), Global Benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, München 1999, S. 1526-1543, hier S. 1534.
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form, die sich durch Performanz realisiert. Das epische Theater als Erkenntnisform der Performanz hat laut Benjamin »nicht so sehr Handlungen zu entwickeln, als Zustände darzustellen« (GS II 521), wobei die Methode der Entdeckung der Zustände die von der Montage inspirierte »Unterbrechung« ist. Die Unterbrechung lässt die Zustände als das Reale erscheinen, das durch den »Chock« und das Staunen erlebbar wird und eine Irritation des »gewohnten« Blicks auslöst. In der Geste ist der Mensch kein Subjekt seiner eigenen Handlung, sondern dem Geschehen ausgesetzt. Er wird daher gezeigt als Teil dieses Geschehens. Die Geste ist der Modus des Außer-Sich-Seins schlechthin. Sie soll dabei nicht nur gezeigt, sondern auch zitierbar gemacht werden. Die Zitierbarkeit der Gesten gründet dabei auf ihrer Unabgeschlossenheit. Denn aufgrund ihrer Unabgeschlossenheit ist die Geste nie mit sich selbst identisch. Sie ist die Nicht-Identität mit sich selbst: Sie ist »aus sich herausgestellt«4 und steht somit stets in Verbindung mit ihrem Außen.
1. Trauerspiel als gestisches Theater Für Benjamin ist das Trauerspiel im Gegensatz zur Tragödie »pantomimisch« (GS I 297). Es ist daher ein »gestisches« Theater. Der Inhalt des Stückes tritt dabei zurück zugunsten gestischer Ausdrücke, in denen der Spielcharakter deutlich zum Vorschein tritt. Daher sagt Benjamin, die Trauerspiele seien »nicht so sehr das Spiel, das traurig macht, als jenes, über dem die Trauer ihr Genügen findet: Spiel vor Traurigen« (GS I 298). Die Trauer betrifft hier nicht den Inhalt des Stückes, sondern das Stück fungiert als Medium, in dem das Gefühl der Trauer erst erzeugt wird. Es ist nicht die Vermittlung des traurigen Inhalts, sondern ein Medium des Geschehens, in welchem die dargestellte Trauer unmittelbar auf das Publikum übertragen wird. Sein Publikum ist dabei kein »Zuschauer«, sondern ein »Beschauer«, welcher sich von jenem durch seine kontemplative Eigenschaft unterscheidet: Während die Tragödie ihren »Zuschauer« hat, so Benjamin, hat das Trauerspiel seinen kontemplativen »Beschauer« (GS I 298f.).
4
Samuel Weber, Theater als Exponierung: Walter Benjamin, in: Bettine Menke u. Christoph Menke (Hg.), Tragödie, Trauerspiel, Spektakel, Berlin 2007, S. 258278, hier S. 265.
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Der Beschauer »erfährt, wie auf der Bühne, einem zum Kosmos ganz beziehungslosen Innenraume des Gefühls, Situationen ihm eindringlich vorgestellt werden« (GS I 299). Die Bühne erscheint für ihn als die fensterlose Monade, die in sich geschlossen dennoch das ganze Universum widerspiegelt. Sie ist das dialektische Bild, das die Kontaktzone zwischen Außen und »Innenraum« bildet. Sie eröffnet einen Bildraum, der gleichzeitig ein »Leibraum« des Beschauers ist (GS II 310). In diesem einzigartigen Bildund Leibraum verschwindet die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Beschauer und Beschautem. Die »Situationen« dringen daher in den Beschauer ein, der in seiner kontemplativen Haltung längst den Abstand zu ihnen verloren hat. Die Trauer wird dabei ohne Vermittlung des Inhalts, unmittelbar durch die Übertragung der Energie der Schaubühne selbst erzeugt. Benjamin formuliert folglich eine These der Intensität der Affekte: »Wenn für das Trauerspiel im Herzen der Trauer die Gesetze, entfaltet teils, teils unentfaltet, sich finden, so ist es weder der Gefühlszustand des Dichters noch des Publikums, dem ihre Darstellung sich widmet, vielmehr ein vom empirischen Subjekt gelöstes und innig an die Fülle eines Gegenstands gebundenes Fühlen.« (GS I 318)
Benjamin thematisiert hier ein vom Subjekt losgelöstes Gefühl und antizipiert somit die von Deleuze und Guattari konzipierte Theorie der Affekte und Perzepte jenseits des Subjekts: ein objektives Fühlen, ein »Empfindungsblock, das heißt eine Verbindung, eine Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten«.5 Darum schreibt Benjamin über Herodes: »nicht aus Eifersucht tötet Herodes die Gattin sondern durch Eifersucht kommt sie um« (GS I 312). Die Figuren im Trauerspiel sind nicht die Träger ihres Gefühls, sondern lediglich dessen Medien, in welche die Gefühle hinein wandern und sie gnadenlos in Besitz nehmen. Mit anderen Worten: Sie sind nicht als Personen, sondern als Ausdrucksfläche für Emotionen aufzufassen. Sind die Empfindungen und die Gefühle die elementaren Grundstufen der Identitätsbildung des Subjekts, so macht das vom Subjekt gelöste und an einen Gegenstand gebundene Fühlen die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt hinfällig. Wo die Empfindungen und die Gefühle als inten-
5
Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 1996, S. 191.
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sive Blöcke, d. h. als selbstständige Entitäten in Erscheinung treten, ist eine Welt vor der Welt, die »Vorwelt« im Sinne der prä-individuellen Stufe vor der dualistischen Weltgenerierung. Die Vorwelt ist der Zustand der Intensität vor der Differenzierung. Bezeichnenderweise entdeckt Benjamin in Kafkas Werk überall die Spuren der Vorwelt und leitet daraus eine Theorie der Vorwelt ab. Die Vorwelt ist dabei der Ort des Vergessens, welcher nicht einfach individuell-psychologisch aufzufassen ist, sondern den »geschichtsphilosophischen Index« trägt.6 »Das Vergessene […] ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwelt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt.« (GS II 430)
Die Bewohner der Vorwelt bzw. »Zwischenwelt« sind die Vergessenen und die Entstellten, die niemals individuell sind, sondern stets in Verbindung mit den anderen als Teil des unerschöpflichen Ganzen auftauchen. Die Pointe liegt hier in ihren variablen, ruhelosen und unerschöpflichen Verbindungsmöglichkeiten, welche weder das Einzelne noch das Ganze in einer festen Identität erscheinen lassen, sondern alles einzig in einem offenen Prozess der Beziehungsherstellung. Der wohl bekannteste Bewohner der Vorwelt ist Odradek, von dem Benjamin schreibt: »Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt« (GS II 431). Die Entstellung steht vor allem für die Unmöglichkeit der Identifizierung. Neben Odradek sind das Ungeziefer in der Verwandlung, das große Tier, das halb Lamm halb Kätzchen ist, etc. solche Figuren der Entstellung und Entidentifizierung. Diese Figuren sind dabei für Benjamin nicht durch eine bestimmte Eigenschaft, sondern einzig durch eine spezielle Geste gekennzeichnet, und zwar die eines Buckligen, der »den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt« (Ebd.). Der Kopf verliert beim Buckligen durch die gebeugte Haltung seine Markanz, wodurch die Unterscheidungsmerkmale des Gesichts in den Hintergrund rücken. Das Gesicht, das auf die Identität der Person verweist und ferner den Ort der symbolischen Funktion
6
Walter Benjamin, Briefe, 2 Bände, hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main 1978, Bd. 2, S. 618.
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schlechthin ausmacht – durch den Bezug zum Verstand (Gehirn) einerseits und zur Sprache (Mund) andererseits –, verschwindet in der mehrdimensionalen Geste, die mehr als nur einen Ausdruck verbirgt. Der Kopf der Person wird hier restlos durch die unpersönliche Geste absorbiert, in welcher die Person lediglich als Beschautes erscheint. Indem Benjamin solche Figuren thematisiert, welche keineswegs substantiell, sondern lediglich phänomenal auf der Ebene der Geste zu erfassen sind, treibt er die Destruktion der Personen auf die Spitze. Die Wirkung des Trauerspiels entsteht durch Übertragung der Empfindungen und Körperzustände, die nicht so sehr person- und inhaltsgebunden sind, sondern im »transitionellen Raum« der Energie frei schwingen. Der englische Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott hat den Begriff des »transitionellen Raums« bzw. des »Passagen-Raums« geprägt.7 Dieser sei ein Raum, in welchem »wir niemals die Frage stellen würden, ob Du selbst etwas gedacht hast oder ob es von außen an Dich heran getragen wird. Es ist wichtig, dass man an diesem Punkt keine Entscheidung trifft. Das muss eine Frage bleiben.«8 Dieser durchlässige »Bezugsraum« gehöre ebenso der inneren Welt wie der Außenwelt an.9 Unsere Beziehung zu den Bildern ist gerade eine Erfahrung dieses transitionellen Raums. Denn bei den Bildern treffen wir nicht die Entscheidung, ob die Art und Weise, wie wir sie betrachten, von uns kommt oder ob sie von ihnen kommt. Einerseits sind es wir, welche sie hervorbringen, so Winnicott, »denn ohne die lebendige Beziehung, die wir zu ihnen haben, wären sie nur leere Hüllen«. Andererseits können wir uns dennoch nicht von der Idee trennen, »dass sie schon dort waren, bevor unsere Beziehung mit ihnen begann.«10 Serge Tisseron hebt ebenfalls das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Bild und uns hervor, indem er schreibt: »Wir treten in die Bilder ein und fühlen uns von ihnen eingeschlossen. Und doch treten wir zur gleichen Zeit mit ihnen in eine Art inneren Dialog ein. In dessen Verlauf verändern wir die Bilder, die
7
Donald Woods Winnicott, Playing and Reality, London 1971.
8
Zitiert nach Serge Tisseron, Unser Umgang mit Bildern. Ein psychoanalytischer Zugang, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 307-315, hier S. 313.
9
Ebd.
10 Ebd., S. 314.
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wir uns davon gemacht haben, in gleichem Maße, wie wir uns selbst von ihnen verändern lassen.«11
2. Die Geste als Fragment und das epische Theater Benjamin arbeitet die Konzeption der Geste in seinem Aufsatz über das epische Theater Brechts (Was ist das epische Theater? 1931) am deutlichsten heraus. Dort spricht er »[g]egenüber den durchaus trügerischen Äußerungen und Behauptungen der Leute auf der einen Seite, gegenüber der Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Aktionen auf der anderen Seite« der Geste zwei Vorzüge zu: »Erstens ist sie nur in gewissem Grade verfälschbar, und zwar je unauffälliger und gewohnheitsmäßiger sie ist, desto weniger. Zweitens hat sie im Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leute einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende. Diese streng rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, die doch als ganze in lebendigem Fluß sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphänomene der Geste. Es ergibt sich daraus ein wichtiger Schluß: Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde.« (GS II 521)
Hier markiert Benjamin zunächst den exakten Platz der Geste zwischen »Äußerungen« und »Aktionen«, d. h. zwischen Sprechen und Handeln. Die Geste ist ferner »je unauffälliger und gewohnheitsmäßiger sie ist, desto weniger« verfälschbar. Während die bewusst ausgeführte Geste prinzipiell verfälscht bzw. verfälschbar ist, drückt die unbewusste Geste den ungefilterten, unverfälschten Zustand aus. Die Geste ist somit an der Schnittstelle zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten angesiedelt.12
11 Ebd. 12 Christoph Wulf weist diesbezüglich auf den Unterschied zwischen Mimik und Gestik hin. Während sich in der Mimik ein unmittelbarer Ausdruck artikuliert, ist nur ein Teil der Gestik unmittelbar. Vgl. ders., Der mimetische und performative Charakter von Gesten. Perspektiven für eine kultur- und sozialwis-
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Auf der anderen Seite hebt sich die Geste gegenüber den Aktionen durch ihre »streng rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung« deutlich ab. Während die Aktionen im Fluss des Lebens wieder versinken und schwer durchschaubar und sinnvoll erfassbar sind, bricht die Geste das Kontinuum des Geschehens und zerteilt das Ganze in Bruchstücke, die zwar zusammen kein bedeutungsvolles Ganzes bilden, aber als Material für eine neue Interpretation und Zusammensetzung benutzt werden können. Die Gesten sind daher Bruchstücke, Fragmente der unvollendeten, unabgeschlossenen Wirklichkeit. Benjamin legt in der oben zitierten Passage den Vergleich zwischen dem epischen Theater und dem Film nahe. Wie sehr sich die Gesten des epischen Theaters der Theorie der Montage Eisensteins bedienen, zeigt sich in der Auffassung der Geste als »Element« einerseits und als »lebendiger Fluss« andererseits. Ähnlich wie der Film aus verschiedenen fest umrahmten Szenen (Bildern) einen lebendigen Fluss des ganzen Geschehens (Bewegungsbilder) herstellt, stellt das epische Theater aus umrahmten und somit abgeschlossenen Segmenten der Gesten ein episodisches Ganzes her. Das epische Theater verkörpert darüber hinaus ähnlich wie der Film die Form des Schocks in exemplarischer Weise: »Das epische Theater rückt, den Bildern des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Chocks, mit dem die einzelnen, wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen [...]. So entstehen überall Intervalle, die die Illusion des Publikums eher beeinträchtigen. Diese Intervalle sind seiner kritischen Stellungnahme, seinem Nachdenken reserviert.« (GS II 537f.)
Mediengeschichtlich betrachtet reagiert das Theater auf die Entstehung des Films mit der intensiven Auseinandersetzung mit neuen technischen Dispositiven, die für den Film entwickelt wurden. Das epische Theater entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit dem Film und dessen technischen Mitteln. Wenn das epische Theater »gestisch« ist, so bedeutet dies »nichts als eine Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem technischen Geschehen in ein menschliches«
senschaftliche Gestenforschung, in: Ders. u. Erika Fischer-Lichte (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, S. 283-297, hier S. 289.
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(GS II 775). Benjamin stellt fest, dass »das Prinzip des epischen Theaters genau wie jenes der Montage auf der Unterbrechung beruht« (Ebd.). Die Grundhaltung des epischen Theaters ist bezeichnenderweise die Bejahung der Kontingenz des Wirklichen: »Es kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kommen« (GS II 528). Diese Bejahung des Anderssein-Könnens bildet die Basis dafür, die Wirklichkeit als Elemente des Experiments zu behandeln. So versteht sich das epische Theater als »ein Theater, das Erkenntnisse nicht allein vermittelt sondern erzeugt« (Ebd.). Die Erkenntnisse sind demnach nicht vor der Aufführung als zu vermittelnde Inhalte bereits vorhanden, sondern werden vielmehr erst im Laufe der Aufführung erzeugt. Es handelt sich hier um eine Erkenntnis, die mit der Performanz einhergeht: Die Performanz erzeugt erst die Erkenntnis. Im epischen Theater besteht dabei weder ein Zweck-Mittel-Verhältnis noch ein Inhalt-Form-Dualismus. Das epische Theater ist die Erkenntnisform, die sich von ihrem Inhalt nicht unterscheiden lässt. Das epische Theater ist jedoch keine einfache Bühnenvorführung, die gezeigt wird, sondern das Zeigen des Zeigens selbst. Denn in ihm kommt die »Auseinandersetzung zwischen dem Bühnenvorgang, der gezeigt wird und dem Bühnenverhalten, das zeigt« (GS II 529) deutlich zum Vorschein. Das oberste Gebot dieses Theaters sei, dass »der Zeigende« (der Schauspieler) »gezeigt werde« (Ebd.). Brecht formuliert dies im Programmheft von Mann ist Mann folgendermaßen: »Der Schauspieler muß eine Sache zeigen, und er muß sich zeigen« (Ebd.). Der Unterschied zwischen den beiden Aufgaben soll klar erkennbar sein. Das epische Theater macht somit die Lücke zwischen dem bühnenimmanenten Vorgang und dessen Außen ersichtlich. Die sichtbar gewordene Lücke soll den Raum für eine Verfremdung eröffnen und somit den reflektorischen Prozess in Gang setzen, der dazu führen soll, die wahrgenommene Realität in Frage zu stellen. Das epische Theater darf, so führt Benjamin fort, dennoch nicht mit dem Medium der Reflexion im Sinne der Romantik verwechselt werden (Ebd.). Denn im Gegensatz zur Romantik trage es »dem dialektischen Urverhältnis, dem Verhältnis von Theorie und Praxis« Rechnung (Ebd.). Denn das epische Theater ist die Erkenntnisform, die von der Praxis erzeugt wird. Es ist die Form der Performanz, die den Dualismus von Theorie und Praxis aufhebt. Im epischen Theater verwandelt sich nicht nur der Schauspieler in einen reflektorisch Handelnden, der durch seine Praxis die Erkenntnis der Lücke erzeugt, sondern auch der Zuschauer, der von der Er-
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kenntnis der Lücke heraus selbst zum Handeln animiert wird. Im epischen Theater verschiebt sich folglich das »Werk« auf den »Werkprozess« und die »Gesten in der Kunst« verwandeln sich in eine »Kunst als Geste«.13
3. Der »Zustand« als das Reale Das epische Theater hat dabei »nicht so sehr Handlungen zu entwickeln, als Zustände darzustellen« (GS II 521). Das heißt mit anderen Worten: Das epische Theater will das Kontinuum der Handlungen brechen und die Szenen der »Dialektik im Stillstand« (GS V 578) zum Vorschein bringen. Der Bruch mit dem Kontinuum, der Tradition ist geradezu das Programm des epischen Theaters. Denn dieses ist der radikale Bruch mit dem klassischen Theater, das den Aristotelischen Anforderungen der Einheit des Raums, der Zeit und der Handlung untersteht. Der Bruch des epischen Theaters mit dem klassischen lässt sich wie folgt darstellen. Erstens: Die Bühne des epischen Theaters hebt sich nicht mehr vom Zuschauerraum durch ihre Abgeschlossenheit ab, sondern ist vielmehr in diesem eingebettet. Der Abstand zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwindet und somit wird die Illusion einer abgeschlossenen, anderen Welt unmöglich. Folglich ist auf der Bühne des epischen Theaters die Unterscheidung zwischen Innen und Außen ebenfalls hinfällig. Die Bühne bildet vielmehr einen Raum, in dem Innen und Außen ununterscheidbar miteinander verwoben sind. Zweitens: Die Zeit des epischen Theaters bildet keine Einheit, kein Kontinuum, sondern wird von Unterbrechungen gekennzeichnet. Die Zeit der Unterbrechung ist der Moment, in dem das Kontinuum des Geschehens in Frage gestellt wird, in dem man zu denken und zu fragen beginnt, ob wirklich alles so sein soll, wie es ist. Es ist der Moment, in dem die Lücke zwischen Sein und Sollen sichtbar wird und jener Versuch beginnt, sie erneut zu schließen, indem man die Welt nicht als geschlossenen Innenraum,
13 Hans Ulrich Reck, Zeigen in Bildern, mit Bildern, als Bilder. Von Gesten in Bildern zur Kunst als Geste. Eine Skizze, in: Wulf u. Fischer-Lichte, Gesten (Anm. 12), S. 125-131, hier S. 129.
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als »Bannraum« (GS II 520) annimmt, indem man nichts für selbstständig hält, sondern alles als Stoff für neues Denken und Handeln auffasst.14 Drittens: Die Einheit der Handlung ist nicht die Aufgabe des epischen Theaters. Es geht diesem vielmehr darum, »Zustände darzustellen« (GS II 521). Was ist mit »Zuständen« gemeint? Das epische Theater ermögliche es, so Benjamin, »die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln und am Ende, nicht am Anfang dieses Versuchs stehen die Zustände. Sie werden also dem Zuschauer nicht nahegebracht sondern von ihm entfernt. Er erkennt sie als die wirklichen Zustände, nicht, wie auf dem Theater des Naturalismus, mit Süffisance sondern mit Staunen« (GS II 522). Indem das epische Theater den Platz der Lücke einnimmt, entlarvt es das Wirkliche als das immer schon Konstruierte. Es verwandelt somit die Elemente des Wirklichen in Gegenstände eines Experiments, einer »Versuchsanordnung«. Die Zustände lassen sich erst am Ende des Versuchs als »wirkliche Zustände« erkennen.15 Sie sind als konstruierte wirklich: Sie sind konstruiert und wirklich zugleich, da sie mit »Staunen« entdeckt werden. In dieser Konstruktion tritt das Bewusstsein zurück. Stattdessen lässt das Staunen in der Wirklichkeit das »Ungedachte«16 und das »Bedenkliche«17 entdecken. Dieses Ungedachte ist aber dennoch nicht einfach der Gegenstand einer neuen Erkenntnis, sondern vielmehr der einer neuen Praxis. Denn ohne Praxis gäbe es auch keine Entdeckung der Zustände. Wie Benjamin feststellt, sind die Zustände Gegenstände der Entdeckung und nicht der Wiedergabe: »Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen« (GS II 522). Die Methode der Entdeckung
14 Vgl. Maria Teresa Costa, Für ein Ethos des destruktiven Charakters im Ausgang von Walter Benjamin, in: Daniel Weidner u. Sigrid Weigel (Hg.), BenjaminStudien 2, München 2011, S. 179-194, hier S. 188f. 15 Der Zustand soll im Sinne Kierkegaards verstanden werden, der gesagt hat: »[D]er Übergang ist ein Zustand und ist wirklich«. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Hamburg 1991, S. 76. 16 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1995, S. 394. 17 Vgl. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Bd. II., Pfullingen 1967, S. 4.
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der Zustände ist die »Unterbrechung«. Die Zäsur in einer Szene lässt den Zuschauer »auf den Zustand« stoßen (Ebd.). Die Zustände sind das Reale, das durch den Schock und das Staunen erlebbar wird. »Der Zustand, den das epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand. Denn […] im epischen Theater [ist] die Mutter der Dialektik […] die Geste selbst« (GS II 530). Der Zustand ist demzufolge das dialektische Bild selbst. Er ist nicht Gegenstand der Darstellung im Sinne der Wiedergabe und Mimesis, da er kein Original voraussetzt, sondern sich erst am Ende des Experiments, in dem der Gedanke mit der Praxis untrennbar verbunden ist, erkennen lässt. Der Zustand ist daher ein Paradigma der Performanz. Samuel Weber fasst die Geste als einen Zustand auf und negiert ein notwendiges Verhältnis zwischen Geste und Subjekt, wenn er schreibt: »In der Geste also stockt der Handelnde und exponiert sich einem Geschehen, das auf kein Subjekt zurückzuführen ist, sondern höchstens auf Zustände. Denn auch die Geste ist ein geronnener Zustand, der immer auf dem Sprunge steht«.18 In der Geste ist der Mensch kein Subjekt seiner Handlung, sondern etwas, das ganz und gar dem Geschehen ausgesetzt ist. Die Geste zeigt im Rückschluss, dass er immer schon in einem Sehfeld eingebettet ist und stets von anderen beobachtet wird. Die Geste ist der Modus des Außer-Sich-Seins schlechthin. Sie ist eine Ununterscheidbarkeitszone zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Bewegung und Stillstand.19 Gunter Gebauer sagt daher treffend: »Wenn wir gestikulieren, sind wir bei
18 Weber, Exponierung (Anm. 4), S. 268. 19 Gunter Gebauer wendet sich gegen die herkömmliche Vorstellung, eine Geste komme von innen und sei der äußerliche Ausdruck des inneren Antriebs, und argumentiert zutreffend: »Gesten haben keine Inneres« und »transportieren« daher nichts, sondern »erzeugen je etwas Neues«. Sie seien daher »weder Transportmedium noch Vermittler«. Gunter Gebauer, Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich, in: Wulf u. Fischer-Lichte, Gesten (Anm. 12), S. 317326, hier S. 318. Das äußerliche Bewegungsbild der Geste und das Innere unterscheiden sich demnach nicht grundlegend voneinander: Ebd., S. 319. Mit diesem Argument bezieht er sich auf einen Gedanken Merleau-Pontys, vor allem auf dessen Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare.
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uns und mit unserem öffentlichen Verhalten zugleich außer uns. Wir sind sowohl empfindendes Ich als auch ein Bewegungsbild für andere.«20 Die Geste demonstriert Brecht zufolge den Menschen als Gegenstand einer »lustvollen Erkenntnis«, da »er nicht ganz, noch endgültig zu erkennen ist, sondern ein nicht so leicht Erschöpfliches, viele Möglichkeiten in sich Bergendes und Verbergendes ist« (GS II 531). Die Geste verwandelt den Menschen in ein Bild, das nie eindeutig zu erkennen ist, sondern viele Deutungsmöglichkeiten in sich birgt. »In Gesten erfährt der Mensch sich und die Welt gleichzeitig. […] In Gesten gestaltet der Mensch die Welt und wird gleichzeitig durch sie gestaltet.«21 Die Geste stellt den Menschen aus als Gegenstand einer »lustvollen Erkenntnis« und einer »Versuchsanordnung« für eine bevorstehende Gesellschaft. Benjamin sagt daher: »Die Geste demonstriert die soziale Bedeutung und Anwendbarkeit der Dialektik. Sie macht die Probe auf die Zustände am Menschen« (GS II 530).
4. Gesten zitierbar machen Werden Gesten als fest umrahmte Geschlossenheit behandelt, ist es auch möglich, sie vom ursprünglichen Kontext zu trennen und »zitierbar zu machen« (GS II 529). Benjamin sagt: »›Gesten zitierbar zu machen‹ ist die wichtigste Leistung des Schauspielers; seine Gebärden muß er sperren können wie ein Setzer die Worte« (Ebd.). Das Zitierbar-Machen der Gesten ist das entscheidende Stilmittel des epischen Theaters, da erst dadurch die Elemente der Wirklichkeit handhabbar, behandelbar und somit veränderbar werden.22 Weber verbindet in diesem Zusammenhang die Zitierbarkeit der Geste mit der Virtualität: »Wichtig dabei ist, dass die Gesten nicht einfach zitiert, sondern zitierbar gemacht werden: d. h. ihr Vorkommen im Verlaufe des Spiels – ihre Anwesenheit – ist nie definitiv, sondern verweist, zumindest virtuell, durch ihre Zitierbarkeit auf die Möglichkeit, dass sie in Zukunft anderswohin zitiert werden könnten. Ihre Anwesenheit
20 Ebd., S. 321. 21 Wulf, Charakter von Gesten (Anm. 12), S. 294. 22 Vgl. Costa, Für ein Ethos (Anm. 14), S. 184f.
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wird durch diese, ihre wesentliche Zitierbarkeit, ex-poniert: aus sich herausgestellt, zumindest virtuell. Auf diese Virtualität insistiert Benjamin.«
23
Durch das Zitieren verwandelt sich die Geste zu einem virtuellen Bild, das sich in einem neuen Kontext in actu zeigt. Das Zitieren stellt somit die Beziehung zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen her. Die Voraussetzung für das Zitieren ist die »Zitierbarkeit« der Gesten, die nichts anderes bedeutet als ihre Unabgeschlossenheit. Durch diese Unabgeschlossenheit ist die Geste nie mit sich selbst identisch. Sie ist die Nicht-Identität mit sich selbst:24 Sie ist »aus sich herausgestellt« und steht somit stets in Verbindung mit ihrem Außen. Zu beachten ist an dieser Stelle, dass das Zitieren Benjamins ein messianisches Verfahren ist. Dem Zitat liegt wie dem epischen Theater die Unterbrechung des Kontinuums zugrunde. Denn: »Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen« (GS II 536). Dabei ist »das Unterbrechen eines der fundamentalen Verfahren aller Formgebung« (Ebd.). Nichts kann ohne das Unterbrechen des lebendigen Flusses des Geschehens eine Form, einen Sinn erhalten. Das Zitieren ist ein gewaltsamer Akt der Unterbrechung, der eine Textstelle von ihrem ursprünglichen Zusammenhang trennt und an einer anderen Stelle neu ansetzt. Es ist daher immer schon ein Akt des Neubeginns und der neuen Anwendungen, die nicht von Regeln vorbestimmt sind. Benjamin reißt die ursprünglichen Texte »zerstörend aus dem Zusammenhang« und versammelt sie »klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes« (GS II 363). Dem Zitieren kommt dabei eine doppelte Aufgabe zu: die instrumentelle Semantik der Worte »zerstören« und ihre magische Semantik »aufstören« (Ebd.). Es soll gegenüber der »offenkundigen profanen Bedeutung« der Worte »ihre mehr oder weniger verborgene symbolische Seite« in den Vordergrund rücken (GS I 216).25 Dieses Ver-
23 Weber, Exponierung (Anm. 4), S. 265. 24 Gertrud Koch setzt in diesem Sinne die Geste einem »ethischen Appell an die Anerkennung des Nicht-Identischen« gleich. Gertrud Koch, Die Gesten des Films, die filmische Geste ņ Gibt es einen Gestus des Films?, in: Wulf u. Fischer-Lichte, Gesten (Anm. 12), S. 145-153, hier S. 153. 25 Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt am Main 1995, S. 89.
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fahren steht zum einen der Kabbala nahe: »Solch zerstörendes Aufgreifen und Neubestimmen ist der kabbalistischen Permutation und permanenten Neu-Kombination der Buchstaben des Gottesnamens vergleichbar«.26 Zum anderen ist es mit der Montage verwandt: »Diese Arbeit muß die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe entwickeln. Ihre Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen« (GS V 572). Beim Zitieren gibt es keinen Unterschied zwischen Gesten und Texten. Gesten sind wie Texte zitierbar, indem sie in Einzelelemente zerlegt werden. Die Geste erscheint im Akt der Unterbrechung zu einem einzigen Bildelement eingefroren. Die Spannung zwischen Bewegung und Stillstand, Mannigfaltigkeit und Singularität bleibt dabei beibehalten. Die Geste kristallisiert sich beim Zitieren zu einem einzigartigen dialektischen Bild. Nicht nur Worte, sondern auch Bilder werden durch das dialektische Verfahren zitierbar gemacht und bilden somit Grundsteine für die Neubildung der Bedeutung: Sind beide zitierbare Elemente geworden, »so ist kein Unterschied zwischen einem Menschenleben und einem Wort« (GS II 531).
5. Kafkas Werk als Kodex von Gesten Benjamin greift in seinem Essay über Franz Kafka (1934) das Thema der Geste nochmals auf. Dort stellt er die These auf, dass »Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt« (GS II 418). Zum einen ist dort von der »Auflösung des Geschehens in das Gestische« (Ebd.) die Rede. Die Geste ist durch die Unterbrechung des lebendigen Flusses des Geschehens festzuhalten. Sie erscheint dann als »Dialektik im Stillstand«. Sie ist der elementare Bestandteil des Geschehens, der minimale Unterschied zwischen Ereignis und Form. Sie ist das Kristallbild einer Bewegung, die plötzlich zum Stillstand kommt. Zum anderen ist die Geste die Grenze der Erkenntnis, welche gleichzeitig als Potentialität der »Dichtung« gelten kann: »Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor« (GS II 427). Die Geste ist zwar als solche »faßbar«, d. h. wahrnehmbar, aber nicht verstehbar. Gerade dieses Geheimnisvolle des Gestus, das doch
26 Ebd., S. 94.
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vollständig offen da liegt, regt den Autor zum Schreiben an. Nicht das, was verborgen ist, ist dabei geheimnisvoll, sondern das, was offen da liegt und dennoch unerschöpflich in seiner Bedeutung zu sein scheint. Warum aber ist die Geste dunkel bzw. wolkig, obwohl sie nichts versteckt? Weil sie das Unbewusste und Vergessene in sich trägt. Benjamin sagt, dass »die vergessenste Fremde unser Körper« sei (GS II 431). Er setzt somit die Geste in ein Verhältnis mit dem Unbewussten.27 In Kafkas Welt spielen nicht nur menschliche Gesten wichtige Rollen, sondern auch tierische. Tiere haben auch Gesten und gerade im Gestischen hebt sich die Grenze zwischen Mensch und Tier auf.28 Denn sowohl Menschen als auch Tiere sind in der szenischen Auffassung gemeinsam Teil des Bildes. Die Geste ist somit das Moment, in dem die Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier, dem Bewusstsein und dem Unbewussten, dem Psychischen und dem Physischen in Erscheinung tritt. Agamben schreibt in Noten zur Geste, dass in der Geste »Potenz und Akt, Natürlichkeit und Manier, Kontingenz und Notwendigkeit ununterscheidbar werden«.29 Die Geste ist Potenz, insofern sie noch keine festgelegte symbolische Bedeutung hat. Sie ist aber auch Akt, da sie sich als Akt manifestiert. Sie ist Natürlichkeit, die sowohl bei Menschen als auch bei Tieren vorkommt. Sie ist aber auch Manier, die bis zu einem gewissen Grad verfälschbar, verstellbar ist. Sie ist Kontingenz, da sie sich wie jedes andere Geschehen ereignet – unbewusst und unkontrollierbar. Sie ist aber auch Notwendigkeit, die einmal geschehen, ihren eigenen Lauf nimmt und somit unwiderrufbar wird. Denn sie ist notwendig, wie Hegel argumentiert, da sie Wirklichkeit geworden ist. Das Verhältnis zwischen Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit lässt sich im Hinblick auf die Geste wie folgt darstellen: Die Möglichkeit ist nicht die Idee der Wirklichkeit, die unabhängig von dieser existiert,
27 Hortian setzt das »Optisch-Unbewußte« (GS I 500) mit der Geste in einen Zusammenhang, indem er schreibt: »Der Ort des Optisch-Unbewußten am Subjekt ist sein Leib, genauer der Gestus des Leibes. Der Gestus meines Leibes, der sich meiner Intention entzieht und von mir nicht gesehen werden kann, ist dem Blick des anderen preisgegeben«. Hortian, Metaphorae (Anm. 3), S. 1536. 28 Siehe auch Plessners anderslautende Thesen im Beitrag von Henrike Lerch. 29 Giorgio Agamben, Noten zur Geste, in: Ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich/Berlin 2006, S. 47-56, hier S. 50.
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sondern wird erst nach der Realisierung einer Wirklichkeit als solche festlegbar. Sie ist daher immer schon die Möglichkeit der Wirklichkeit, die nur retrospektiv erkennbar und feststellbar ist. Dieser Begriff der Möglichkeit schließt die Kluft zwischen Logik und Ontologie: Die Möglichkeit gehört nicht allein der Sphäre der Logik und der Epistemologie an, sondern auch der Ontologie. Die Wirklichkeit avanciert dabei zum dialektischen Begriff, der sich anhand einer Performanz, eines Akts erst manifestiert. Durch den Akt konstituiert sie sich nicht nur als Wirklichkeit, sondern auch als Notwendigkeit. Denn die Kontingenz eines beliebigen Ereignisses wird durch die Entschlossenheit eines Aktes abgeschlossen und wird zur Notwendigkeit. Gerade in diesem Augenblick spielt das Subjekt eine eminente Rolle, da es gerade die Instanz verkörpert, welche die Kontingenz in die Entscheidung und die Notwendigkeit transformiert.
6. Im-Bild-Sein oder Im-Glück-Sein Die Geste symbolisiert Tisseron zufolge die Vorstufe der sprachlichen Kommunikation.30 Seine Studie zur Funktion der Gebärden liefert aufschlussreiche Erläuterungen über das Verhältnis zwischen Geste und Sprache. Er macht im Rahmen seiner Untersuchung der Bildaneignung beim Kleinkind die Beobachtung, dass das Kind erst vom 18. Monat an beginnt, seine Gebärden mit dem Blick zu kontrollieren. Er stellt des Weiteren fest, dass Bilder mit einer doppelten Erfahrung verbunden sind: nämlich »in ihrem Innern zu sein« und »außen vor zu bleiben«:31 »Im Bild zu sein« oder »vor dem Bild zu sein«. Das Bild ist daher als Form der »Urbeziehung« aufzufassen.32 Das Kleinkind sei eher »von Bildern besetzt«, als es sie beherrschen würde. Seine Beziehung zu den Bildern ähnele daher der »Vorstellung eines Träumenden, der sich als Teil des Traumes wahrnimmt, den er doch selbst träumt«.33
30 Die ähnliche These Tomasellos diskutiert Michael Renner im vorliegenden Band. 31 Tisseron, Umgang (Anm. 8), S. 314. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 307. Genau diese Erfahrung des Träumenden ist es, welche die Surrealisten zu ihrem Thema machen, und die Benjamin im Modus des »Erwachens«
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Im Umgang mit den Bildern ist das Kleinkind zunächst im Bild, da seine inneren Bilder sich mit materiellen Bildern in seiner Umgebung vermischen. Erst später erwirbt es die Möglichkeit, zwischen den inneren und den äußeren Bildern zu unterscheiden. Zu diesem Zeitpunkt tritt die symbolische Darstellung an die Stelle der gestischen Dynamik. Die »symbolische Funktion der Gebärden« verschwindet ab dem dritten Lebensjahr hinter ihrer repräsentativen Funktion.34 Ein Aspekt des Bildes, den Tisseron hervorhebt, ist die »Einhüllung« (enveloppement) bzw. »Umschließung«.35 Mit jedem Bild sei die Erwartung verbunden, dass »die Bilder uns selbst ›einschließen‹«. Bilder üben dadurch Macht aus, dass sie »uns den Glauben an eine Realität im Bild suggerieren« und somit zum »Träger der Illusion« werden, »eine Realität in sich ›einzuschließen‹«.36 Die »Einhüllung« schließt aber nicht nur die illusorische Beziehung zwischen Bildern und ihrem Betrachter ein, sondern auch die zwischen allen Betrachtern des Bildes, da das Sehen suggeriert, dass auch die Anderen das Bild auf die gleiche Weise sehen. So knüpfte das Bild »ein Band zwischen all jenen, die es so betrachten, als ob sie es gemeinsam betrachten würden«.37 Das Bild gibt uns somit, wenn auch illusorisch, das Gefühl der Einheit zurück. Diese Form des Glücks steht dem entgegen, was Benjamin »die Idee des Glücks« (GS II 203) nennt. Es liegt Benjamin zufolge vielmehr zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen dem Profanen und dem Messianischen. Es ist nichts anderes als der Einschnitt der profanen Ordnung in das Messianische. Es ist eine wahre Einheitserfahrung: Die Einheit von Profanem und Messianischem, Innen und Außen, Immanenz und Transzendenz wird in ihm vollzogen. An die Stelle der trügerischen Verschmelzung
kritisch zu überwinden und gleichzeitig auch zu retten versucht. Für Benjamin besteht die Differenz zwischen archaischen bzw. Traumbildern und dialektischen Bildern im Moment des Erwachens. Das dialektische Bild markiert gerade die »Einbruchsstelle des Erwachens« aus dem Traum: Benjamin, Briefe (Anm. 6), S. 688. 34 Hans Belting, Die Herausforderung der Bilder. Ein Plädoyer und eine Einführung, in: Ders., Bilderfragen (Anm. 8), S. 11-23, hier S. 19. 35 Tisseron, Umgang (Anm. 8), S. 308. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 309.
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mit den Bildern tritt nun der Untergang der bestehenden, unglücklichen Verhältnisse, die durch die Wirkung der Bilder aufrechterhalten werden. Dieses wahre Glück hat mit dem Gefühl an sich gar nichts zu tun. Auf der Gefühlsebene korreliert es vielmehr mit dem »Unglück« bzw. dem »Leiden«. Die »unmittelbare messianische Intensität des Herzens, des inneren einzelnen Menschen« gehe, so Benjamin, »durch Unglück, im Sinne des Leidens hindurch« (GS II 204). Das Glück ist das leise Nahen des messianischen Reichs, das für die Ordnung des Profanen nichts anderes als ihren Untergang bedeutet. Es ist der Konvergenzpunkt zwischen Kontingenz und Schicksal. Es ist die Macht der Kontingenz, die das Schicksal, d. h. den »Schuldzusammenhang« (GS II 175) des Lebendigen mit einem Schlag zerbricht. Dieses Im-Glück-Sein ist eine Einhüllung und Umschließung wie Im-Bild-Sein, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass es mit der Illusion bricht. Während das Im-Bild-Sein in der Rückkehr zum Imaginären besteht, bricht das Im-Glück-Sein mit der Verschlingung von Imaginärem und Symbolischem und erscheint unmittelbar als das Reale. Das Im-Bild-Sein vermittelt uns darüber hinaus »das Glück, uns in Gemeinschaft zu fühlen«.38 Wie trügerisch es auch sein mag, so kann es umgekehrt zur Bildung einer wirklichen Gemeinschaft beitragen. Weil den Bildern eine mythische Gewalt innewohnt, liegt das Glück als deren Gegenteil im Untergang und Verlöschen aller weltlichen Gestalten. Diesen Vorgang nennt Benjamin an anderer Stelle die »Entstaltung« (GS VI 115). Dabei hat er eine radikale Bilderpolitik im Sinne, die die Beendigung aller Bilder und Gestalten zum Ziel hat. Benjamins Politik der Entstaltung verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits will sie mit dem Imaginären, der Sphäre der Bilder brechen und andererseits mit dem Symbolischen, der Sphäre der sprachlichen Kommunikation. Wo aber blitzt das Reale auf, wenn es weder im Imaginär-Bildlichen noch im Symbolisch-Sprachlichen zu finden ist? Der genuine Ort des Realen ist der Körper. Dies ist wohl der Grund, warum bei Benjamin die Geste zunehmend eine wichtigere Rolle einnimmt. Denn die Geste ist neben der bildlichen und verbalen Kommunikation die dritte Art der Kommunikation, die auf der Ebene des Körperlichen stattfindet. Die genannten Motive verbinden sich in Benjamins Kunstwerkaufsatz, wo der utopische Gedanke einer politisch relevanten Kinorezeption vorge-
38 Ebd., S. 310.
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stellt wird, in der die Gruppe der »zerstreuten Examinatoren« auf der Basis ihrer simultan vollzogenen und doch unterschiedlichen körperlichen Reaktionen auf die Schocks der Kinobilder eine nicht mehr kultische Form von Gemeinschaft konstituieren. Das Profane und das Messianische sind hier vereint. Diese Gesten des Realen verdanken sich nicht mehr einer rituellen Versenkung in die auratischen Dimensionen kontemplativer Bilder, sondern prüfen die montierten Bewegungen der Kinobilder affektiv und analog einer Darbietung im epischen Theater, die mit unterbrochenen und zitierbaren Gesten konfrontiert ist. Die Gesten des Bildes und die Gesten vor dem Bild setzen in ihrer beidseitigen Performativität ein semantisches Potential frei, das sich jenseits bildlich-repräsentativer oder sprachlich-kommunikativer Ordnungen situativ ergibt: als Geste des Realen und Realität des Gestischen gleichermaßen.
»Nur Menschen äffen nach« Helmuth Plessners Anthropologie der Geste H ENRIKE L ERCH
Gesten gehören in das vielfältige Repertoire an Ausdrucksphänomenen, die in den letzten Jahren vermehrt in den Blick verschiedener Wissenschaften gerückt sind, weil sie allgemeiner und universeller als Sprache sind. Sie schließen körpergebundene Ausdrucksphänomene wie Mimik, Gestik, Tanz Lachen, Weinen und Lächeln ebenso ein, wie an andere Medien gebundene Phänomene wie Musik und bildende Kunst, aber auch die Sprache in all ihren Differenzierungen von gesprochener Sprache bis Literatur und Poesie.1 Die Geste sticht in dieser unvollständigen Auflistung nicht unmittelbar hervor und stellt doch ein Phänomen dar, welches durch seine – zumindest in einem einfachen, nicht metaphorischen Sprachgebrauch – körperliche Gebundenheit Besonderheiten des menschlichen Verhaltens auf einer nichtsprachlichen Ebene dokumentiert. Die Relevanz, die die Geste dadurch bekommen kann, kann aktuell und prominent bei Michael Tomasello verdeutlicht werden, der in der frühkindlichen Zeigegeste eine vorsprachliche Kommunikation findet, die in dieser Form bei Primaten nicht zu finden ist. Für Tomasello formiert die Zeigegeste vor allem jene Sphäre der WirIntentionalität, welche für den Prozess des kulturellen Lernens relevant wird. Die Besonderheiten der Zeigegeste führt er vor allem phänomenal, durch Beschreibung des Verhaltens der Kinder und Affen in den Experi-
1
Vgl. z. B.: Norbert Meuter, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, S. 25.
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menten ein und untermauert sie durch verschiedene theoretische Ansätze vor allem aus der Psychologie.2 Die Zeigegeste erhält innerhalb seiner eigenen Theorie eine erklärende Funktion, sie wird aber selbst nicht als erklärungsbedürftige Voraussetzung thematisiert.3 Nimmt man die Geste im Allgemeinen (also nicht nur die Zeigegeste) als ein menschliches Monopol und bezieht sie auf die Philosophische Anthropologie,4 erhält man ein in doppelter Hinsicht interessantes Phänomen: zunächst lässt sich an der Geste in exzeptioneller Weise das besondere Verhältnis belegen, welches der Mensch zu seinem Körper hat und welches mit dem Begriff der exzentrischen Positionalität den Kern der Plessnerschen Anthropologie ausmacht. Zum anderen findet sich mit der Philosophischen Anthropologie ein Erklärungsansatz, der es erlaubt, die Geste als
2
Vgl. Michael Tomasello und Hannes Rakoczy, Was macht menschliche Erkenntnis einzigartig? Von individueller über geteilte zu kollektiver Intentionalität, in: Hans Bernhard Schmid u. David P. Schweikard (Hg.), Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, S. 697-733 u. Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt 2011, S. 68-119.
3
Vgl. Hans-Peter Krüger, Kollektive Intentionalität und Mentalität als explanans und als explanandum: Das komparative Forschungsprogramm von Michael Tomasello et alii und der Philosophischen Anthropologie, in: Ders. u. Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie, Bd. 7, Berlin 2010, S. 127-166.
4
Philosophische Anthropologie wird hier absichtlich mit einer Majuskel geschrieben, um sie als eigenen Denkansatz zu kennzeichnen und von philosophischer Anthropologie und anthropologischer Philosophie zu unterscheiden. Vgl. Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in: Jürgen Friedrich u.a. (Hg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, Frankfurt am Main 1995, S. 249-280, hier S. 250; ders., Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung im 20. Jahrhundert, München 2008, S. 14f. sowie Hans-Peter Krüger, Zwischen Lachen und Weinen. Bd. 1. Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin 1999, S. 24-28; ders., Anthropologische Kritik der Philosophie und Philosophische Kritik der Anthropologie. Zur systematischen Problemlage moderner Philosophien, in: Ders., Philosophische Anthropologie als Lebenspolitik. Deutsch-jüdische und pragmatische Moderne-Kritik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 23, Berlin 2009, S. 106-109.
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menschliches Monopol zu begreifen, ohne dafür auf eine ausgefeilte Theorie der Sprache, der Rationalität oder des Geistes zurückgreifen zu müssen, weil sie den Anspruch besitzt, unterhalb dieser Leistungen anzusetzen. Zirkulär ist diese Strategie nicht, weil sie zum einen die Geste nur als ein Phänomen von mehreren betrachtet, die das besondere Körper-Leib-Verhältnis veranschaulichen. Zum anderen bleibt die Phänomenbeschreibung zunächst losgelöst von der erklärenden Theorie. Letztlich verschränkt die Philosophische Anthropologie mehrere methodische Ansätze, von denen die phänomenale Deskription nur einen Baustein bildet.5 Für eine Anthropologie der Geste an die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners anzuschließen, bietet sich an, weil seine Anthropologie im Kern eine Theorie der Expressivität ist. Sie strebt eine »Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks«6 an und geht davon aus, dass es für ein »Verständnis des menschlichen Wesens« notwendig sei: »1. vom Ausdruck in der Fülle seiner verschiedenen Möglichkeiten aus[zu]gehen, 2. das Ineinandergreifen der Ausdruckskomponenten, verständlich« zu machen.7 Die Geste gehört als eine Form der menschlichen Expressivität in das weite Feld der Ausdrucksleistungen. Den Ausdrucksbegriff koppelt Plessner aber nicht an den Menschen, sondern an den Begriff der Positionalität, mit welchem tierische und damit auch menschliche Lebensformen bezeichnet werden. Geste ist eine Ausdrucksleistung, die nur dem Menschen zukommt (sie ist ein menschliches Monopol), womit sie sich beispielsweise von Mimik unterscheidet, obwohl sie ebenso wie Mimik den Körper als Ausdrucksfläche gebraucht. Gesten funktionieren aber ähnlich wie Sprache als Zeichen und nicht als Signal, wodurch die Geste etwas konventionell
5
Vgl. zur Methodenverschränkung: Krüger, Lachen und Weinen (Anm. 4), S. 2830; ders., Ausdrucksphänomen und Diskurs. Plessners quasitranszendentales Verfahren Phänomenologie und Hermeneutik quasidialektisch zu verschränken, in: Hans-Peter Krüger u. Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie, Bd. 1, Berlin 2006, S. 187-214.
6
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt am Main 1981 ff., S. 60.
7
Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: Ders., GS VII (Anm. 6), S. 201-387, hier S. 214f.
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und insofern kulturell und sozial geprägtes ist. Sie zu verstehen setzt ein Deuten voraus, weil sie in ihrem Meinen nicht eindeutig ist. Dass der Mensch in der Geste seinen Körper in besonderer Weise instrumentalisieren kann, hängt an seinem Verhältnis zum Körper, der ihm im Gegensatz zum Tier auch als Körper, im Sinne eines Dings unter Dingen gegeben ist und nicht nur als Leib erfahren wird. Diese Körper-Leib-Differenz, die das Ergebnis der Durchbuchstabierung der Positionalitätsformen ist, bildet Plessners anthropologische Grundlage. Diese Grundlage gilt es zunächst einzuholen, weil durch sie das Verhältnis von Anthropologie und Expressivität geklärt und mit der Positionalitätstheorie eine Grundlage für die verschiedenen Ausdrucksformen gewonnen werden kann (1.). Plessners primäres Interesse liegt allerdings weniger in der Geste, als vielmehr im mimischen Ausdruck und seinem antidualistischen Potential. Mimik und Gestik werden von Plessner in diesem Zusammenhang terminologisch gebraucht, ihre Unterscheidung bildet eine wichtige Grundlage in der Explikation der Besonderheit der Geste (2.). Als körperliches Ausdrucksphänomen schließt die Geste an andere körperliche Ausdrucksbewegungen, wie sie im Rollenspiel und in der Nachahmung zu finden sind, an. Die Geste kann damit ferner als eine alltägliche Verkörperungsleistung angesehen werden, die etwas bedeutet (3.). Schließlich findet sich im Lächeln ein Phänomen, welches als »Geste des Lachens« verstanden werden kann, genau im Zwischenbereich von mimischem Ausdruck und Geste liegt und, indem im Lächeln Abstand zum Ausdruck gewahrt wird, sich die exzentrische Positionalität in der Ausdrucksbewegung wiederfindet (5.)
1. Anthropologie und Expressivität Plessner formuliert in den Stufen des Organischen und der Mensch keinen geringeren Anspruch als den einer »Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrungen der Kulturwissenschaft und Weltgeschichte«.8 Darin spiegelt sich die Konsequenz, die er aus Diltheys Projekt einer Kritik der historischen Vernunft zieht: Selbstauffassung und Selbstdeutung befinden sich in einem ewigen, wechselnden Prozess, der sich im Medium der Geschichte spiegelt. Der Philosophie fällt die
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Plessner, Stufen (Anm. 6), S. 68.
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Aufgabe zu »diesen Prozeß des Verstehens selbst wieder zu begreifen und damit das Selbstbewußtsein des Lebens objektiv zu machen.«9 Hermeneutik als »die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte«10 will Plessner dabei aber nicht auf geistige Objektivationen oder die Sprache allein beschränken, sondern als »Wissenschaft des Ausdrucks, des Ausdrucksverstehens und der Verständnismöglichkeiten«11 auffassen.12 Eine philosophische Anthropologie, an dieser Stelle als »Lehre von Menschen und den Aufbaugesetzen seiner Lebensexistenz« bestimmt, gehört für Plessner genau in das Problemfeld einer »Wissenschaft vom Ausdruck«, denn zur philosophischen Anthropologie gehören: »Fragen der Wesensstruktur der Persönlichkeit und Ausdrucksgrenzen, der Bedeutung des Leibes für Art und Reichweite des Ausdrucks, die Fragen der Wesensformen der Koexistenz von Personen in sozialen Bindungen und der Koexistenz von Person und ›Welt‹, also die bedeutungsvolle Frage des menschlichen Lebenshorizontes und seiner Variierungsfähigkeit, die Frage der möglichen Weltbilder«.13
Der Mensch ist bei Plessner ein »sinnlich-sittliches Wesen«, es ist die »Existenz einer Erfahrungsstellung, welche ›Natur‹ und ›Geist‹ umspannt«.14 Das Ausdrucksphänomen stellt nun zugleich jenes Phänomen dar, in welchem sich »Natur« und »Geist« verschränkt als körperliche Bewegung einer seelischen Regung vorfinden. Der mimische Ausdruck wird für Plessner dabei zum Grundphänomen, in welchem sich die Verschränkung von Körper und Geist zeigt. Ausdruck bezieht sich somit nicht nur auf kulturelle Ausdrucksformen (Objektivationen des Geistes), sondern wird als eine Eigenschaft lebendiger Dinge begriffen. Der Mensch stellt einen
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Ebd., S. 59.
10 Ebd., S. 60. 11 Ebd. 12 Plessner formuliert diesen Anspruch zugleich als eine Erweiterung des erkenntniskritischen Projekts Kants um den Aspekt der Deutbarkeit. Vgl. Plessner, Stufen (Anm. 6), S. 60. 13 Ebd., S. 61. 14 Ebd., S. 62.
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besonderen Fall der lebendigen Dinge dar, seine Ausdrucksleistungen haben einen eigenen Charakter. Die expressive Leistung lebendiger Dinge ergibt sich für Plessner aus der Realisierung der Grenze. Dabei unterscheidet er zunächst die Grenze von Kontur. Kontur bezeichnet den Rand oder das Ende eines Dinges und kommt allem Gegenständlichen zu. Grenze hingegen reserviert er für Lebendiges. Hierbei handelt es sich nicht allein um etwas räumlich Abgrenzbares, sondern auch um eine Brücke um Äußeres ins Innere aufzunehmen als auch Inneres nach außen zu bringen, wobei es sich hierbei sowohl um Materielles als auch um Ideelles wie Bilder oder Ausdrücke handeln kann. Durch die Grenze steht der Organismus in einer Umwelt und kann sich zu dieser verhalten. Denn durch die Wechselbeziehung des Organismus mit seiner Umwelt ist die Raumgrenze nicht einfach das Ende des lebendigen Körpers, sondern dieser greift über sich hinaus, indem er seine Umwelt einbezieht und umgekehrt grenzt er sich selbst gegen diese Umwelt ab und ist in sich geschlossen. Durch diese Dynamik gewinnt der Organismus an Einheit und Individuation. Diese Abgrenzung und Setzung bezeichnet Plessner mit Positionalität.15 Die Grenze bildet dabei die Ausdrucksfläche des Organismus, sie ist neutral gegen den Innen-Außen-Aspekt und psychophysisch indifferent. Der Organismus kann drei mögliche Relationen zu seiner Grenze haben, was den drei Organisationsweisen von Pflanze, Tier und Mensch entspricht. In jeder höheren Stufe wird dabei das vorhergehende Prinzip realisiert: Die Pflanze hat zwar eine Grenze, aber sie verhält sich nicht zu ihr. Phänomenal zeigt sie sich in einer offenen Struktur: Bei allen Charakteristika des Lebendigen – Geburt, Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Tod – ist sie von der Umwelt abhängig. Anders sieht es beim Tier aus, seine Organisationsform ist geschlossen. Das Tier lebt selbständig gegen die Umwelt und in die Umwelt eingepasst, es kann sich in seiner Umwelt positionieren. Tiere haben einen selbständigen Leib, der die repräsentierte Einheit des eigenen Körpers bezeichnet. Als Körper ist das Tier ein Ding unter Dingen, der Leib dagegen ist das um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossene, lebendige Organisationssystem.16 Diese Mitte ist ein wesenhaftes Innen. Es handelt sich um eine Doppelung, die aber keine physische
15 Vgl. ebd., S. 151 u. 186. 16 Vgl. ebd., S. 367.
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Doppelung ist. Plessner bezeichnet dieses Phänomen von Körper haben und Leib sein als Doppelaspektivität. Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus und in diese hinein. Das Tier ist zentrisch organisiert, es hat die Form zentrischer Positionalität. Es fehlt ihm aber eine volle Reflexivität, es fehlt ihm ein Wissen um seinen Körper. Eine solche Reflexivität kommt dem Menschen zu. Er lebt in seiner Grenze und über sie hinaus, wie das Tier, er erlebt diese Überschretung aber auch. Er hat nicht nur die Grenze als Distanz zur Umwelt, als Differenz von Innen und Außen, sondern er weiß um seine Grenze. Der Mensch erfährt sich nicht nur als Leib, sondern sieht sich auch als Körper unter Körpern. Er ist sowohl Körper als auch im Körper als repräsentative Einheit seines Körpers, als Leib, bzw. als Innenleben oder Seele. Hinzu kommt ein Blickpunkt von außerhalb auf beides, auf Körper und Leib, welches die Reflexion dieses Verhältnisses ausmacht. Dieser Blick von außen, die Distanz, die eingenommen werden kann, betrifft sowohl das Innere als auch das Äußere. Der Mensch ist nicht mehr seine Mitte, sondern steht außerhalb von ihr, weil er durch den Blick von außen aus seiner Mitte heraustritt. Die zentrische Form bleibt erhalten, doch durch den Standpunkt außerhalb wird sie gesteigert zu einer exzentrischen Positionalität. Die Reflexion ermöglicht ein Wissen, dass die Dinge mehr sind als ihre Erscheinungen, mehr als das, was unter einem bestimmten Aspekt wahrgenommen wird. Folge der Exzentrierung der Positionalität ist, dass den Dingen und dem eigenen Leben Gestalt gegeben werden muss, der Mensch, so Plessners Folgerung, ist »Wahrhaft auf nichts gestellt«.17 Er schafft sich eine Kultur, die ihm Halt geben soll. Das Verstehen des eigenen Selbst und der Welt erfolgt aus der Geschichte, sie soll erklären, was an Unmittelbarkeit verloren gegangen ist. Der Mensch reagiert in diesen Gestaltungsweisen auf das Problem, dass durch den äußeren Blick, die Beziehung zur Welt nicht mehr auf ein Zentrum gegeben ist, sondern in dieser Beziehung auch das Zentrum selbst gefasst werden soll. Mit dem Wechsel von zentrischer zu exzentrischer Positionalität ändert sich auch das Ausdrucksverhalten: zeichenvermittelter Ausdruck durch Sprache und Gestik tritt an die Stelle der unmittelbaren Signalsprache und Reaktion, in der Geste wird der eigene Körper instrumentalisiert, er wird zum Spielfeld und kann dies nur werden, weil der Mensch seinen Körper hat und nicht allein
17 Ebd., S. 365.
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Leib ist. Dass dieses Ausdrucksverhalten sich nicht nur evolutionär aus tierischem Gebaren entwickelt, sondern auch logisch mit ihm in Relation steht, zeigt sich in einer Analyse des mimischen Ausdrucks.18
2. Mimik und Gestik Plessner unterscheidet begrifflich zwischen Mimik und Geste. Wobei Mimik im wesentlichen synonym zu mimischer oder physiognomischer Ausdruck gebraucht wird. Bezieht sich Mimik auf den ganzen Körper, verwendet er auch den Begriff Ausdrucksgebärde. Geste wird davon unterschieden und als Gebärdensprache bezeichnet, vor allem um die Nähe der Gebärde zur Sprache deutlich zu machen. Als weitere körperliche Ausdrucksleistungen beschreibt er noch Handlungen, sowie Lachen und Weinen als Grenzreaktionen, die weder als Geste noch als Mimik zu verstehen sind. Weiterhin stellt die Sprache eine wichtige menschliche Ausdrucksleistung dar, die aber nicht körpergebunden ist, auch wenn sie sich als gesprochene Sprache der Stimme bedient. Der mimische Ausdruck nimmt eine Sonderstellung ein, weil er in bestimmten Formen bei Tieren und Menschen zu finden ist. Alle anderen aufgeführten Ausdrucksleistungen sind Monopole des Menschen.19
18 »In Gebärden und Haltung wird ›Inneres‹ sichtbar, tritt nach außen. Diese Äußerung vollzieht sich auf tierischem Niveau als direkte Ausstrahlung aus der Erregungsmitte an die Peripherie der Leibesoberflächen. Insoweit auch der Mensch auf tierischem Niveau lebt – und die exzentrische Position schließt die zentrische Position der Tiere in sich, indem sie diese überformt –, gebärdet er sich ausdruckshaft grundsätzlich nicht anders als die Tiere.« Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 249. 19 Dass Plessner dieser Terminologie selbst nicht immer treu ist, dass gerade der Begriff der Geste sich nicht eindeutig auf eine »Sprache des Körpers« reduzieren lassen kann, zeigt sich beispielsweise daran, dass er an ganz anderer Stelle schreibt: »Andererseits ist der Schimpanse reich an Gesten und neigt zur Imitation beobachteter Bewegungen.« Helmuth Plessner, Zur Anthropologie der Sprache (1975), in: Ders., GS VIII (Anm. 6), S. 400-408, hier S. 401. An dieser Stelle geht es Plessner aber um die Sprache, dort wo er Mimik oder das Phänomen der Nachahmung klären will, ist er begrifflich genauer.
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Die Ausdrucksgebärde bzw. den mimischen Ausdruck sieht Plessner als etwas Natürliches, im Sinne von nicht sozial und kulturell geprägt und charakterisiert sie als »unmittelbar, unwillkürlich und an kein Zusammensein mit anderen gebunden, d.h. ohne meinenden Charakter, auch wenn die Anwesenheit anderer zur Auslösung der Expression notwendig ist.«20 Sie kann aber als eine Vorform von Gesten gesehen werden, weil sich diese durch Sitte, Zeremoniell und Haltung aus ihr entwickeln können. Deshalb werde der Übergang oft als gleitend gesehen, doch Plessner betont, dass zwischen Ausdrucksgebärde und Geste ein Wesensunterschied besteht: »Wenn die Geste etwas ausdrückt, indem der Mensch mit ihr etwas meint, so hat der mimische Ausdruck (gleich dem physiognomischen) eine Bedeutung, indem sich in ihm eine Erregung (ein Zustand oder eine Aufwallung des Innern) spiegelnd äußert.«21
Freude, Zorn, Furcht, Schrecken, Angst und andere Gefühle drücken sich in einem unmittelbaren, ausdrucksvollen Bild aus, welches Elemente wie eine gefurchte Stirn oder eine blitzendes Auge enthalten kann. Der mimische Ausdruck ist im Wortsinne ausdrucksstark, weil er unvermittelt anzeigt, dass es sich um einen Ausdruck handelt, dem ein Affekt zugrunde liegt. Unberührt von Eindeutigkeit sind die Deutungsmöglichkeiten des Ausdrucks – jedes Ausdrucksbild lässt divergierende Deutungen zu, vor allem, wenn das Ausdrucksbild aus der Situation gelöst betrachtet wird.22 »Man kann sich im Sinne des mimischen Ausdrucks irren, doch nicht darin, dass er mimischer Ausdruck ist.«23 Diese unmittelbare Eindeutigkeit resultiert aus »der Unvertretbarkeit und Unablösbarkeit der Ausdrucksbewegung gegenüber dem Ausdrucksgehalt«.24 Nur wenn Ausdrucksbewegungen als
20 Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 258. 21 Ebd., S. 259. 22 Vgl. ebd., S. 259f.; ders., Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), in: Ders., GS VII (Anm. 6), S. 67-129, hier S. 126. 23 Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 260; vgl.: »Der Zuschauer hat vielmehr ein sicheres Gefühl für das, was Geste und was unmittelbare Expression ist.« Ebd., S. 263. 24 Ebd., S. 260.
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Gesten gebraucht werden, kann die Ausdrucksbewegung von ihrer Intention gelöst werden und durch einen anderen Ausdruck ersetzt werden.25 Grund ist die besondere Verbindung zwischen Ausdruck und Sinn, die nicht äquivalent zu Zeichen und Bezeichnetem steht. Bei echtem Ausdruck und Sinn handelt es sich um eine qualitativ andere Beziehung, weil der Sinn im Ausdruck erscheint, während er in der Sprache symbolisch vermittelt wird. Im mimischen Ausdruck findet sich eine untrennbare Einheit von erscheinender Leibgestalt und Sinngehalt.26 Plessner führt dies argumentativ zurück auf drei Indifferenzen die in der Ausdruckswahrnehmung vorliegen: Ausdrucksbewegungen sind psycho-physisch, subjekt-objekt und bildhaft-sinnhaft indifferent, weil sich der Ausdruck in einer Zwischensphäre abspielt, die nicht eindeutig einem Aspekt zugeordnet werden kann. Sie erscheinen unanalysierbar, weil die Sphären vielfältig miteinander verwoben sind. Der Leib als Ausdrucksfläche bildet eine solch »dritte Sphäre«, in der die gegensätzlichen Bedürfnisse von Körper und Seele sichtbar werden, weil in ihm Psychisches und Physisches ursprünglich verschränkt sind.27 Deshalb ist der Leib als Ausdrucksfläche auch nicht als passive Hülle zu denken, »sondern eine erlebte Grenzfläche gegen die Umwelt. Obwohl außen, gehört sie von vornherein mit zum Inneren.«28 Die Subjekt-Objekt-Indifferenz ergibt sich aus der Frage der Sinnzuschreibung. Sinn bestimmt Plessner allgemein als Gerichtetsein und konkreter als »Nicht-Gegenständliches«, »Unanschauliches«, was uns mit den anschaulichen Daten mitgegeben ist.29 Weil das nicht-gegenständliche Unanschauliche weder dem Subjekt noch dem Objekt zugeordnet werden kann, bleibt es beiden gegenüber neutral und indifferent. Für die
25 Ebd., S. 260ff. 26 Vgl. Plessner, Deutung (Anm. 22), S. 94. 27 Vgl. ebd., S. 103f. An anderer Stelle spricht er auch von einer »Indifferenz zwischen Inhalt und Form« (Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 260f.), womit er das Verhältnis zwischen psychischem Gehalt und physischer Form bezeichnet. 28 Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 249. 29 Plessner, Deutung (Anm. 22), S. 86.
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bildhaft-sinnhafte Indifferenz30 stützt sich Plessner auf die Gestalttheorie. Ausgang nimmt diese Überlegung in der These, dass wir Lebendiges als sich Verhaltendes betrachten und damit Bewegungen als Ganzheiten und nicht als zergliederte Phasen sehen. Außerdem wird der Organismus in seine Umwelt eingebettet und auf sie bezogen, es gehört zur Einheitsgestalt des Leibes auf seine Umwelt bezogen zu sein. Die These ist also, dass es eine ursprünglichere Art der Wahrnehmung ist, eine Katze als fliehend aufzufassen, statt objektiv zu urteilen, dass sie davonläuft, genauso wie die freudige Begrüßung eines Hundes uns unmittelbar gegeben ist und nicht eine nachträgliche Deutung des Hochspringens und Schwanzwedelns ist. Konsequente Folge dieser Darstellung ist die These, dass Bewegungen, die als Verhalten betrachtet werden, »eine ursprüngliche Identität von Anschaulichkeit und Verständlichkeit auf Grund des Formcharakters der Bewegungsgestalten«31 besitzen.32 »Naiv betrachtet, liegt der Fall so, daß ich die körperlichen Bewegungen des anderen Menschen, einerlei ob ich sie nun faktisch verstehe oder nicht verstehe, von vornherein als deutbar, als sinnhaft wahrnehme. Mir steht nicht ein bloßer Körper gegenüber, an dem ich bestimmte Bewegungen ablese, sondern ein lebendiger Leib. Es erwächst mir infolgedessen auch gar nicht die Aufgabe, aus den Veränderungen eines Körpers auf bestimmte psychische Ursachen zu schließen, sondern in den Bewegungen des Leibes, deren Deutung in dem oder jenem Sinne an bestimmte Kriterien gebunden ist. Der Träger des Leibes wird dabei weder als Körper noch als Seele, sondern als gegen diesen gedanklichen Unterschied indifferent erfasst.«33
Plessner differenziert das Verhalten des Menschen in Ausdruck und Handlung.34 Das gleiche Bewegungsbild, beispielsweise das Verzerren des Gesichts beim Zerbeißen von etwas Hartem, kann dabei sowohl als Handlung
30 Der bildhaft-sinnhaften Indifferenz entspricht in etwa die an anderer Stelle getroffene »Unablösbarkeit der Ausdrucksbewegung gegenüber dem Ausdrucksgehalt«. Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 260. 31 Plessner, Deutung (Anm. 22), S. 83. 32 Vgl. ebd., S. 77-85. 33 Plessner, Stufen (Anm. 6), S. 64. 34 »[I]mmer ist der Sinn im Verhalten erst dann bestimmt gegeben, wenn er als Ausdruck oder als Handlung erscheint.« Plessner, Deutung (Anm. 22), S. 90.
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als auch als Ausdruck verstanden werden. Ihr Unterschied zeigt sich in der Zielrichtung: Eine Handlung erhält schreitet auf das Ziel hin, hat also eine Richtung. Der Ausdruck hat seinen Sinn in sich selbst, Ausdruck ist also kein Mittel zu einem Zweck, sondern ein für sich stehendes Bild. Ein Ausdruck kann sich zwar auch zeitlich entfalten, aber die einzelnen Momentaufnahmen sind keine Durchgangsstadien, sondern enthalten im Unterschied zur Handlung den ganzen Sinn des Ausdrucks. Kurz: »Der Ausdruck dauert, während die Handlung abläuft.«35 Die Dauer des Ausdrucks im Gegensatz zur Wandlung und Veränderung der Handlung erlaubt es nun die Sinnhaftigkeit des Verhaltens zu einer bestimmten Sinngestalt zusammen zu fassen. »Die in der Schicht des Verhaltens selbst mitgegebene Sinnhaftigkeit wird hier, so wie sie da ist, konkretisiert und festgehalten und in der Erscheinung als ihrer plastischen Ausprägung objektiviert.«36 Wobei Plessner betont, dass dies kein aktiver von außen herangetragener Wahrnehmungsprozess ist, sondern die Sinngestalt in der Ausdruckserfassung vorgefunden wird. Ausdruckswahrnehmung ist also Sinnwahrnehmung und kann nicht aus der Handlung abgeleitet werden, sie unterliegt nicht den Kategorien der Zweckmäßigkeit.37 Der Mensch weiß im Gegensatz zum Tier um seinen Leib als Ausdrucksfläche, dadurch bekommt das Ausdruckserleben eine »eigene Helligkeit« und Distanz. Der Leib (und auch die Stimme) werden zum Material, zu Organen, durch die etwas ausgedrückt wird, wodurch sich zum einen der Ausdruck verselbständigt, zum anderen der Leib als Körper instrumentalisiert wird. Der menschliche Leib fügt sich in Sprache, Handlung, Gestaltung und Gebärde den Intentionen und geistigen Antrieben. Er verkörpert und ist Darstellungsmittel.38 »Die Expressivität emanzipiert sich zu einer dem einzelnen mehr oder weniger zu Gebote stehenden Macht, die ihn u.U. in den Stand setzt, eine künstliche Maske und Haltung anzunehmen, wie es der Schauspieler zeigt.«39 Und so kann an die Stelle des natürlichen Ausdrucks die meinende, darstellende, bedeutende, verkörpernde Geste rücken.
35 Ebd., S. 91. 36 Ebd., S. 91f. 37 Ebd., S. 94. 38 Vgl. Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 234; ders., Das Lächeln (1950), in: Ders., GS VII (Anm. 6), S. 419-434, hier S. 428. 39 Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 250.
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Weil der Mensch durch die Geste seinen Körper als Ausdrucksfläche bedienen kann, kann er sein Inneres, seine Absichten, Wünsche und Empfindungen verbergen. Zu diesem Verbergen oder Spielen mit den Ausdrucksmöglichkeiten gehört aber auch umgekehrt die Kraft und Plastizität, die in der unmittelbaren und unwillkürlichen Expression des mimischen Ausdrucks liegen.40 Plessner erklärt ausdrücklich, dass die Geste kein Zwischenglied zwischen menschlicher und tierischer Sprache oder zwischen Ausdrucksbewegung und Rede ist. »Das Wedeln mit dem Schwanz ist eine Ausdrucksbewegung des Hundes und keine Geste wie etwa das Hochziehen der Schultern oder das Schütteln des Kopfes beim Menschen.«41 Gesten gehören auf die Seite der Sprache, Plessner bezeichnet sie deshalb auch als Gebärdensprache, weil der Mensch mit Gesten etwas zu verstehen gibt. Er benutzt sie als Zeichen für Sätze, mit ihnen kann ein Sinn auch ohne Worte ausgedrückt werden. Voraussetzung ist aber Sinn als Sinn zu erfassen, also den Sinn von der Ausdruckssphäre lösen zu können. Die im Ausdruck ausgemachte Indifferenz von Bild und Sinn wird aufgelöst, weil der Sinn vom Ausdrucksbild gelöst werden kann. »Wo aber, wie beim Tier, die Möglichkeit überhaupt verschlossen ist, Sinn als Sinn, d.h. auf Grund von Sachverhalten, zu meinen und aufzufassen, kann es auch keine Gesten geben, die in allegorisch-metaphorischer Funktion viel, ja alles sagend Worte ersetzen.«42 Ähnlich verhält es sich mit dem Verhältnis von Sprache und Mimik. Die Geste stellt auch hier keine Übergangsform von der (natürlich unmittelbaren) Mimik zur Sprache dar, auch wenn die Konventionen der Geste auf stilisierte Ausdrucksbewegungen zurück gehen mögen. Denn die Geste hat »eine Bedeutung, die sie als solche durch Zeichen vermittelt, und ist dadurch Sprache, nicht Mimik«.43 Durch die Ablösung des Sinns vom Ausdrucksbild kann das Ausdrucksbild auch kulturell variieren, so entspricht »der Geste des Kusses bei manchen Völkern die Geste des Nasereibens«.44 Doch die Geste löst sich nicht vollständig von der körperlichen Ausdrucksbewegung, sie behält mimische und emotional-expressive Elemente
40 Vgl. ebd., S. 262. 41 Ebd., S. 255. 42 Ebd., S. 256. 43 Ebd., S. 257. 44 Ebd.
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und die prägnante Sinnbildung. Indem sie diese Elemente stilisiert, wird sie Sprache. Die körperlichen Ausdrucksweisen ersetzen in einfachen Gesten des Zeigens, Bejahens, Verneinens etc. oft die Wortsprache oder unterstützen die Wortsprache. Gesten fungieren hierbei als Zeichen, die Bedeutung haben und sind insofern ein »wortloses Sagen«.45 Durch die Ablösbarkeit des Sinns vom Ausdrucksbild, durch die Zeichenfunktion, die die Geste übernimmt, kann diese auch von anderen Zeichen eingenommen werden. Eine Geste kann also vertreten werden, was beim Ausdruck nicht der Fall ist. Diese Vertretbarkeit führt auch zur Auflösung der psycho-physischen Indifferenz, weil die Intention als psychischer Gehalt eindeutig einer Sphäre zugeordnet werden kann.46
3. Verkörperungen: Schauspieler und Nachahmung Der Geste haftet die Instrumentalisierung des Leibes an, der eigene Körper wird genutzt und beherrscht, um etwas auszudrücken.47 Anschaulich macht er dies vor allem an den Phänomenen des Schauspielers, bzw. des Rollenspiels und der Nachahmung. Verkörperungen sind durch das Zusammenspiel von »Körper sein« und »Körper haben« möglich. Unter Verkörperungen fasst Plessner im weiteren Sinne körpergebundene Ausdrucksphäno-
45 Vgl. ebd., S. 257f. 46 Vgl. ebd., S. 260. 47 Vgl.: »In dieser vom Menschen stets neu zu vollziehenden Einheit des Verhältnisses zu seiner gegenständlich und zuständlich gegebenen physischen Existenz entdeckt sich ihm sein Körper (Leib) als Mittel, d.h. als etwas, das er gebrauchen kann: zum Gehen, Tragen, Sitzen, Liegen, Greifen, Stoßen usw. Die Fügsamkeit in eins mit der eigenständigen, gegenständigen Dinglichkeit macht den Leib zum Instrument.« Ebd., S. 246. »Sprechen, Handeln, variables Gestalten schließen die Beherrschung des eigenen Körpers ein, die erlernt werden mußte und ständige Kontrolle verlangt.« Helmuth Plessner, Die Frage nach der Conditio humana (1961), in: Ders., GS VIII (Anm. 6), S. 136-217, hier S. 190.
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mene, namentlich Rolle und Darstellung, sowie Lachen, Weinen und Lächeln.48 Als paradigmatisch kann der Schauspieler angesehen werden, der, weil er eine Figur mit dem eigenen Leibe verkörpert,49 die Darstellungsfähigkeit der menschlichen Natur in gesteigerter Form zeigt. »In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Menschen zu sich und zu einander, die ihr tägliches Leben durchdringen«.50 Es bedarf beim Rollenspielen nicht wie bei Dichtung oder Malerei des Umwegs über Wort, Farbe und Form. Umgekehrt ist es gerade das Verkörpern in Rolle und Figur, das »im Material der eigenen Existenz eine Abständigkeit des Menschen zu sich«51 verrät. Die Distanz zu sich ist der entscheidende Zug, der das gesamte menschliche Verhalten durchzieht und das Rollen-Spielen nicht nur ermöglicht, sondern dazu nötigt. »Dieser Abstand in mir und zu mir gibt mir erst die Möglichkeit, ihn zu überwinden. Er bedeutet keine Zerklüftung und Zerspaltung meines im Grunde ungeteilten Selbst, sondern geradezu die Voraussetzung, selbständig zu sein.«52 Beim Schauspieler können Spieler und Zuschauer klar zwischen Rolle und Person unterscheiden, der Schauspieler steht in einem eindeutigen Verhältnis zur Rolle. Die Abständigkeit zeigt sich dem Schauspieler und beim Schauspieler, weil er sich selbst als Mittel einsetzt und indem er dies tut, konzentriert er sich darauf und beherrscht seinen Leib. Als Mittel spaltet sich der Schauspieler aber auch von sich ab. »Er selbst ist sein eigenes Mittel, d. h. er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der Hysteriker oder der
48 Das sind zumindest die von Plessner in der Frage nach der Conditio humana unter Verkörperung I und Verkörperung II genannten Phänomene. Vgl. Plessner, Conditio humana (Anm. 47), S. 195 und 205. 49 Vgl. ders., Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: Ders., GS VII (Anm. 6), S. 399-418, hier S. 403 und 407. 50 Ebd., S. 411. 51 Ebd., S. 407. 52 Plessner, Conditio humana (Anm. 47), S. 190.
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Schizophrene, sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren. Nur in solchem Abstand spielt er.«53
Damit wird beim Schauspieler etwas durchsichtig, was das tägliche Leben bereit hält, nämlich die Exzentrizität der Positionalität als »Abständigkeit des Menschen zu sich und zu einander«.54 Zugleich macht das Rollenspiel den unaufhebbaren, nicht auflösbaren Bruch des Doppelaspekts lebbar.55 Hier finden sich Situationen, die ein körperliches Geschick erfordern und so zum »Umschlag von leibhaftem Körpersein in Körperhaben«56 führen. In gewohnten Situationen, beim Sprechen etwa, wird der instrumentelle Charakter übersprungen, die Beherrschung des Körpers ist schon in den Leib eingeschrieben. Beim Schauspieler bleibt die Distanz aber gewahrt, was Plessner hervorhebt, indem er betont, dass es nicht echte beziehungsweise nachempfundene Gefühle sind, die das Ausdrucksbild des Schauspielers prägen, sondern »[gut] ist der Darsteller […] weil er durch seine Gesten, seine Mimik, seine Stimme imstande ist, für sich und andere jene Illusion der Tiefe zu erzeugen, welcher die Handlungen entsprechen«.57 Plessner vergleicht die gespielte Geste des Schauspielers mit dem Bildentwurf eines Malers. Der Bildentwurf konzentriere sich auf das Wesentliche, was nur durch die Gesamtkomposition des Bildes erreichbar sei. Mehr oder weniger feste Bildentwürfe hält auch die tägliche Lebensführung bereit. Die Rolle eines Amtsträgers oder die beruflichen oder gesellschaftlichen Erwartungen geben dem Menschen Verhaltensmuster vor, die er durch seien Lebensführung füllt und gestaltet.58 Hierbei sind die
53 Plessner, Schauspieler (Anm. 49), S. 407f. 54 Plessner, Schauspieler (Anm. 49), S. 411. Hans-Peter Krüger buchstabiert die im Alltag basierte Rollenspielerei des Schauspielers aus. Vgl. Krüger, Lachen und Weinen (Anm. 4), S. 137. 55 Vgl. Krüger, Lachen und Weinen (Anm. 4), S. 129. 56 Plessner, Conditio humana (Anm. 47), S. 191. 57 Plessner, Schauspieler (Anm. 49), S. 408. 58 In der Frage nach der Conditio humana unterscheidet Plessner zwischen der sozialen und der theatralischen Rolle und führt als drittes Element noch »Rolle« als gesellschaftlichen Funktionsbegriff ein, um bestimmte Züge der modernen Gesellschaft (Doppelgängertum, privat-öffentlich) hervorzuheben. Vgl. Plessner, Condition humana (Anm. 47), S. 198-202.
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Möglichkeiten abhängig von gesellschaftlichen Strukturen und offen für individuelle Ausbuchstabierungen, ebenso wie »der Schauspieler als Darsteller und schöpferische Persönlichkeit verantwortlich«59 ist für die Überzeugungskraft seines Spiels. Die Vorgabe durch die Rolle, durch das Stück oder die soziale Struktur ist somit nie eine endgültige, sondern wird durch die Übernahme der Rolle mit Leben gefüllt und ausgefüllt. Der Rollenträger spielt »nicht nur in [...], sondern auch von sich aus mit dieser Maske […], so daß er das Spiel individuell zu variieren vermag«.60 Somit bezieht er sich in einer freien Übernahme auf seine Rolle. Das heißt, der Mensch als Rollenträger steht nicht im völlig leeren Raum, aus dem heraus er sich entwirft, sondern in einem Kontext, in einer strukturierten Welt, die ihm Möglichkeiten eröffnet, beziehungsweise das »Material«61 des Spiels liefert. Umgekehrt geht er aber auch nie völlig in der Rolle auf, er ist mehr als seine Rolle, »das, was einer durch Geburt und Umstände im sozialen Felde ist, und das, was er aus sich macht, ermöglicht das Reservat eines individuum ineffabile, einer sozialen Unberührtheit, einer Zone der Privatheit, der Intimität, der persönlichen Freiheit«.62 Eng verwandt mit dem Rollen-spielen ist das Nachahmen. Plessner will auch hier das Nachahmen von Mienen und Gesten von anderen imitatorischen Akten unterschieden wissen. Nachahmung sei keine »affektive Miterregung, sondern [...] bewußte Handlung zum Zweck der Nachbildung«.63 Imitation dagegen ist »ein weiter, zu weiter Begriff, der vom Nachahmen bis zur Nachfolge reicht«.64 Nachbildung gelingt aber nur in einer reziproken Situation, in der der Nachahmende an der Stelle des Anderen stehen könnte. Nur die Möglichkeit dieser Reziprozität lässt den Menschen mit seinem Leib agieren und mit seinem Leib die Haltung, Mimik
59 Plessner, Schauspieler (Anm. 49), S. 416. 60 Krüger, Lachen und Weinen (Anm. 4), S. 127. 61 Plessner, Stufen (Anm. 6), S. 398. 62 Plessner, Conditio humana (Anm. 47), S. 201. Plessner sieht, dass es sich hierbei um einen modernen Rollenbegriff handelt, der in dieser Weite nicht zwingend in allen Gesellschaftsformen sichtbar wird. 63 Ders., Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), in: Ders., GS VII (Anm. 6), S. 389-398, hier S. 394. 64 Ders., Der imitatorische Akt (1961), in: Ders., GS VII (Anm. 6), S. 446-457, hier S. 450.
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und/oder Gestik des Anderen einnehmen, also nachahmen.65 Nachahmen ist somit kein Mitmachen. Es geht beim Nachmachen auch nicht um das Nachmachen einer Handlung oder eines Tuns, sondern darum jemanden nachzumachen, im Sinne von jemanden nachzuspielen. Auch hier steht der Abstand oder die Distanz zu sich im Zentrum. Diesen Abstand begründet Plessner mit dem »Blick, der dem Blick des Anderen begegnet«,66 und dadurch die Vertauschbarkeit der Positionen herbeiführt. »Der Andere sieht nicht nur aus, sondern – mich an und steht damit in der Position des Vis-àvis als derjenige, mit dem ich den Platz tauschen kann.«67 Damit wird durch den Blick des Anderen eine konkrete Außenperspektive auf den eigenen Körper gewonnen, ein Abstand zum eigenen Leib, der es ermöglicht, dem eigenen Leib den Ausdruck des anderen zu geben und ihn in die Mitwelt einzubetten. Für Plessner fungiert die im Spiel gelingende, das heißt überzeugende, richtig platzierte Geste als Beispiel eines guten Schauspielers.68 Die Geste wird damit zu einer absichtlich eingenommenen Körperhaltung, mit der etwas ausgedrückt wird. Sie ist zugleich Ausdruck von etwas als auch Zeichen für etwas. Sie steht nicht unabhängig von einem Kontext im Raum und gewinnt ihre Kraft nur in der Verdichtung der ganzen Szene, die wiederum ohne die Geste keine Aussage besäße. Die Geste im Alltag oder in einer Rede stellt auch einen verdichteten Sinngehalt und eine gespielte Ausdrucksform dar. Sie will etwas sagen, unterstreichen, darstellen und bedient sich dafür des eigenen Körpers als Medium.
5. Das Lächeln – Mimik des Geistes und Geste des Lachens In einem kleinen Aufsatz widmet sich Plessner dem Lächeln, das er als ein vielschichtiges Phänomen bestimmt.
65 Ders., Nachahmung (Anm. 63), S. 396 u. Conditio humana (Anm. 47), S. 175. 66 Ders., Nachahmung (Anm. 63), S. 394. Plessner verweist hierbei auf die berühmten Passagen des Blick-Kapitels in Sartre, L'etre et le n´eant. 67 Ebd., S. 394. 68 Vgl. Plessner, Schauspieler (Anm. 49), S. 408f. u. 416.
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»Lächeln ist eine Ausdrucksweise sui generis: 1. Keimform und Übergangsform für Lachen und Weinen, also mimischer Ausdruck im Umkreis nichtmimischer Expressionen; 2. mimischer Ausdruck ›von‹ und Geste ›für‹ eine unübersehbare Fülle von Gefühlen, Gesinnungen, Haltungen, Umgangsweisen und Zuständen wie Höflichkeit und Unbeholfenheit, Überlegenheit und Verlegenheit, Mitleid, Verständnis, Nachsicht, Dummheit und Gescheitheit, Mildheit und Ironie, Unergründlichkeit und Offenheit, Abwehr und Lockerung, Staunen und Wiedererkennen; 3. Geste der Maske (keep smiling von Ostasien bis Amerika), die alles und nichts sagt, die repräsentative Gebärde schlechthin, insofern ein Spiegel der Exzentrizität als der uneinholbaren Abständigkeit des Menschen zu sich selbst«.69
Lächeln bewegt sich auf der Grenze von Mimik und Gestik, es kann »stilisierte Geste oder unwillkürlicher Ausdruck«70 sein, aber »›An sich‹ ist das Lächeln keine künstliche Geste, sondern eine natürliche Gebärde, zu bestimmten Regungen passend«.71 Letztlich ist »im Ausdruck [des Lächelns] die Grenze zwischen natürlicher Gebärde und andeutender Geste fließend. Natur wird – Kunst. Die spontane Symbolik des Leibes Allegorie«.72 Es sei unmöglich »scharf die Grenzen anzugeben, in der seine natürliche Gebärde in andeutende Geste, die verhüllende Maske übergeht«.73 Damit gewinnt das Lächeln einen Grenz- oder Übergangscharakter, Plessner nennt es deshalb auch »Mimik des Geistes«,74 weil es beide Funktionen erfüllt: Auf der einen Seite enthält es die Unmittelbarkeit spontaner Äußerungen des Begehrens, der Freude, Seeligkeit etc., auf der anderen Seite verhüllt und verschleiert es diese und ist durch geistige Inhalte gebrochen. Das Lächeln gewinnt seine Ausnahmestellung im Bereich der Ausdrucksbewegungen, weil es alle anderen mimischen Ausdrucksbewegungen in seiner Vieldeutigkeit überragt. Gelächelt werde in verschiedensten Situationen und Stimmungen, die nichts miteinander zu tun haben, das Lächeln selbst sei eine vieldeutige Gebärde, rätselhaft und leicht. In der »gemäßigten Zone zwischenmenschlicher Temperatur« liegend, halte die »[v]erbindlich-
69 Plessner, Lachen und Weinen (Anm. 7), S. 206. 70 Plessner, Das Lächeln (Anm. 38), S. 423. 71 Ebd., S. 426. 72 Ebd., S. 427. 73 Ebd., S. 426. 74 Ebd., S. 430.
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unverbindlich[e]« Gebärde des Lächelns »höflichen Abstand zur eigenen Regung und zum Anderen, durch den sie geweckt ist und an den sie sich wendet«.75 Plessner spricht sich dagegen aus, Lächeln als Verkleinerungsform des Lachens zu begreifen. Zwar könne Lächeln an die Stelle des Lachens treten, umgekehrt sei dies aber nicht möglich, da in Situationen wie Mitleid, oder Verzweifeln aber auch Ironie ein Lachen deplatziert wirkt, ein Lächeln aber angemessen ist. Zumindest mit dem echten, ungespielten Lachen hat das Lächeln nichts zu tun. Wird das Lachen jedoch zur Geste, kann es das Lächeln ersetzen. Lachen ist dann aber keine unmittelbare Grenzreaktion mehr, sondern eine gespielte Geste. Durch diese Ersetzbarkeit gewinnt das Lächeln seine einzigartige Vieldeutigkeit, Distanziertheit, Verschwiegenheit und Verhaltenheit, es wandelt sich von einer ursprünglich »natürlichen Gebärde« zu einer künstlichen Geste und »wahrt Abstand im Ausdruck zum Ausdruck«.76 Die Wahrung des Abstandes im Ausdruck zum Ausdruck ist dabei der charakteristische Zug des Lächelns. Rein physiologisch handelt es sich beim Lächeln um eine leichte Ausdrucksform, um eine kontrollierte Bewegung, die nichts mit dem expressiven Charakter von Lachen und Weinen oder anderen starken mimischen Bildern gemein hat. Das heißt aber noch nicht, dass dem Lächeln nur schwache Gefühlsregungen zu Grunde liegen müssen.77 Dass sich auch starke Gefühle in einem gedämpften Lächeln äußern, verweist vielmehr auf die Beherrschung der Gesichtsmuskulatur. Die körperliche Regung wird somit kontrolliert, vom Leib wird als Körper Gebrauch gemacht. Doch wird der Körper nicht einfach zum Ausdrucksmedium, es wird vielmehr mit dem Körper gespielt, in einer Weise in der dem Lächelnden selbst der Abstand zum Körper und die Bedeutungs- und Verschleierungsmöglichkeit, die mit dem körperlichen Ausdruck gegeben sind, bewusst sind. Dies muss nicht als bewusste Leistung vollbracht werden, das Lächeln muss nicht als Geste eingesetzt werden. Aber der Lächelnde geht nicht, wie bei Lachen oder Weinen, völlig im Ausdruck auf, sondern erlebt sein eigenes Lächeln, er
75 Ebd., S. 422. 76 Ebd., S. 426. Eine Formulierung, die Plessner mehrfach verwendet. 77 Plessner verweist hier auf Klages Unterscheidung zwischen Antriebsform und der Intensität eines Ausdrucks: Das Gefühl bzw. die seelische Bewegung kann stark und lebendig sein, den Menschen ganz erfüllen und sich doch in einem zarten Lächeln äußern. Vgl. Plessner, Das Lächeln (Anm. 38), S. 426-428.
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steht in einem Verhältnis zu seinem Ausdruck. »Lächeln entfaltet somit ein symbolisches Mienenspiel, das mit seinem Ausdruck spielt.«78 Und gerade durch diese doppelte Struktur, bei dem sich dem Lächelnden der Ausdruck als Ausdruck und somit sein Körper als Spielfeld des Ausdrucks zu verstehen gibt, ist das Lächeln verhüllende Maske, es bleibt in der Verfügungsgewalt des Einzelnen. Er kann im Lächeln seine Regungen malen, ihr Ausdruck geben, es malt sich nicht, wie bei mimischen Ausdrücken die Erregung ab.79 Und so gilt für das Lächeln wie für jede andere Geste: »Sein allegorischer Charakter, d.h. seine bewußte Symbolik und Fähigkeit, die natürliche Gebärde zur Gebärdensprache und Geste spielend zu verwenden, gibt dem Lächeln die Funktion beredten Schweigens. Es hat damit den gleichen Hintergrund wie die Sprache, es gibt zu verstehen, besagt und bedeutet, wiewohl in verhaltener, verhüllter, unausgesprochener Form.«80
78 Ebd., S. 427. 79 Vgl. ebd. 80 Ebd., S. 429.
Tanz als rein(st)e Geste Überlegungen zum Konzept des Gestischen im Ausgang von Maurice Merleau-Ponty und Giorgio Agamben M IRIAM F ISCHER
Der Aufsatz möchte sich mit Merleau-Pontys und Agambens Konzepten des Gestischen befassen. Beide Positionen thematisieren das Gestische im Zusammenhang von theoretischer und künstlerischer Produktion. Betont Merleau-Ponty im Gestischen vor allem das schöpferische Moment und die leibliche Fundierung, so stellt Agamben im Rekurs auf Benjamin und Mallarmé die vermittelnde Funktion ins Zentrum seiner Überlegungen. Die Geste ist bei beiden Denkern durch Performativität und Prozesshaftigkeit gekennzeichnet. Sie fungiert jeweils als Motiv, um die Genese von Sinn zu denken: Merleau-Ponty versucht in einem sehr weiten Konzept des Gestischen, jegliches wahrhafte Sprechen als Geste zu fassen. Nur in diesem ursprünglichen Sprechen ist für ihn Sinn in statu nascendi erkennbar. Agamben versteht die Geste als »die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbarmachen eines Mittels als solchem«. Die Geste reflektiert gewissermassen die Vermitteltheit eines jeden Sinns. Im Folgenden sollen Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den beiden Ansätzen herausgestellt werden. Interessant ist, dass Merleau-Ponty und Agamben sich bei der Herleitung ihres Denkens der Geste beide auf die Kunstauffassung der Avantgarde berufen. Dabei fällt auf, dass in Mallarmés und Valérys Konzeption einer reinen Kunst (poésie pure, danse pure) der Tanz als performative und flüchtige Kunst einen privilegierten Status innehat. Inwiefern ist die Kunstart des Tanzes, der von Mallarmé und Valé-
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ry als Arabeske und pure Bewegungsenergie beschrieben wird, in diesem Sinne also die reinste Geste? Immerhin stellt der Tanz die einzige Kunst dar, in der die Geste des Künstlers zugleich das Kunstwerk als Geste ist.
1. Merleau-Pontys Konzept der Geste Bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt MerleauPonty sein Konzept des Gestischen, an das er immer wieder anknüpfen wird und das bis ins Spätwerk bedeutend ist. Insbesondere im Kapitel Der Leib als Ausdruck und die Sprache legt Merleau-Ponty dar, warum für ihn die Geste so bedeutsam ist und inwiefern er die Sprache als Geste versteht. Der Begriff der Geste bezieht sich hier nicht nur auf die leibliche Anbindung des Sprechens, sondern wird schließlich zum Motiv für jede wie auch immer geartete Sinngenese. Merleau-Ponty kritisiert in besagtem Kapitel sowohl die intellektualistische als auch die empiristische Sprachtheorie, insofern sie die Sprache weiterhin innerhalb eines Subjekt-Objekt-Denkens bzw. dualistisch auffassen würden. Die Sprache sei weder auf ein Medium zum Ausdruck fertiger Gedanken noch auf die Motorik zu reduzieren. Dagegen betont MerleauPonty, »dass das Wort [selbst] einen Sinn hat«.1 Diese Aussage ist auf dem Hintergrund des Ausdrucksdenkens zu verstehen, das Merleau-Ponty auf den folgenden Seiten entwickelt. Die zentrale These ist hier, dass der Ausdruck »nicht lediglich eine Übersetzung, sondern die Realisierung und Verwirklichung der Bedeutung selbst ist«.2 Das Wort hat also einen Sinn, insofern es sich als Ausdruck realisiert und verwirklicht. Dabei gilt es zu präzisieren, dass sich der Sinn des Wortes nicht (nur) »als begriffliche Aussage, sondern als Stil, als affektiven Wert, als existenzielle Gebärde mitteilt.«3 Merleau-Ponty unterscheidet eine begriffliche und eine gestische Bedeutungsschicht, wobei er letztgenannte als »existentiell« und grundlegend erachtet. »Die Bindung des Wortes an seinen lebendigen Sinn ist kein äußerlicher Assoziationsverband, der Sinn wohnt dem Wort selbst inne
1
Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.
2
Ebd., S. 217.
3
Ebd., S. 216 (Hervorhebung M.F.).
210.
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[…]. So sieht man sich genötigt, der Sprache eine gestische, eine existenzielle Bedeutung zuzuerkennen.«4 Der Sinn der Worte werde nur durch die Worte selbst hervorgebracht, wobei sich die begriffliche Bedeutung aber erst »auf Grund und aus ihrer gestischen Bedeutung« bilde.5 Indem Merleau-Ponty die Sprache gerade von dieser »existenziellen« gestischen Bedeutung her betrachtet, gelingt es ihm, den Dualismus von Bedeutung und Ausdruck hinter sich zu lassen (»Denken ist Ausdruck«).6 Er betont dabei nicht nur die Leiblichkeit der Sprache, sondern auch die Leiblichkeit des Denkens: Wie die Idee einer Musik ohne Töne befremdlich sei, so sei die Idee eines reinen Denkens absurd. Die Sprache vollbringe das Denken erst:»Gedanke und Ausdruck konstituieren sich […] ineins. […] In Wahrheit ist das Wort Gebärde, und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren.«7 Merleau-Ponty thematisiert die Sprache nicht als theoretisches System, sondern stets als lebendiges Sprechen, das sich – analog zur Musik, die sich erst im Erklingen der Töne verwirklicht – im Vollzug (in actu) realisiert. Dieser letzte Aspekt ist für Merleau-Ponty besonders wichtig. Denn wahrhaftes Sprechen ist für ihn ein schöpferisches und ursprüngliches Sprechen, das in Entstehung begriffen ist. Dieses ursprüngliche Sprechen charakterisiert er in Gegenüberstellung zur bereits konstituierten und sedimentierten empirischen Sprache folgendermaßen: Die Sprachen, als bereits konstituierte syntaktische und Vokabular-Systeme und als empirisch vorhandene ›Ausdrucksmittel‹, sind Niederschlag und Sedimentation des Sprechens, in dem der noch unformulierte Sinn nicht nur ein Mittel äußerer Bekundung findet, sondern überhaupt erst ein Dasein für sich selbst gewinnt, als Sinn erst eigentlich geschaffen wird. Oder man könnte zwischen spre-
4
Ebd., S. 228 (Hervorhebung M.F.).
5
Vgl. ebd., S. 212.
6
Auch der philosophische Gedanke ist nicht von seinem Ausdruck zu trennen. In der Konsequenz postuliert Merleau-Ponty auch für die Philosophie eine Sprache, die das Denken ›vollbringt‹. Die Philosophie ist Ausdruck im Sinne der Sprache als Geste (langage en acte), weil nur so ›die lebendige Existenz des Geistes‹ bzw. die wahrhafte Realisierung von Sinn gewährleistet ist.
7
Ebd., S. 217.
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chender Sprache und gesprochener Sprache unterscheiden. In der sprechenden Sprache begegnet uns die Bedeutungsintention in statu nascendi.8 Wahrhafter Sinn ist für Merleau-Ponty immer lebendiger Sinn, genauer Sinngenese, Geburt von Sinn. Allein die sprechende Sprache vermag Sinn in statu nascendi zum Ausdruck zu bringen. Als Beispiele für ursprüngliches Sprechen nennt Merleau-Ponty »das des Kindes, das sein erstes Wort spricht, das des Verliebten, der zuerst sein Gefühl entdeckt, das des ›ersten Menschen, der gesprochen hat‹, oder das des Schriftstellers oder Philosophen, der, die Überlieferungen durchstoßend, eine ursprüngliche Erfahrung zu neuem Leben erweckt.«9 In der sprechenden Sprache verleiht jemand einer Erfahrung zum ersten Mal und auf ganz eigene Weise Ausdruck. Dabei geht es in erster Linie nicht um das inhaltlich Neue (die Bedeutung, die Aussage), sondern vielmehr um das Wunder der Geste, die fähig ist, das Schweigen zu brechen und einer noch stummen Erfahrung zum Ausdruck ihres Sinns zu verhelfen.10 Entscheidend ist das schöpferische Vermögen der Geste, Sinn hervorzubringen, weniger der Inhalt des gestischen Ausdrucks.11 Die Sprache als Geste bleibt gewissermaßen im Vorsprachlichen geborgen. Sie ist eine ›Sprache vor der Sprache‹, d.h. eine Sprache, die ihren eigenen Wortschatz erst erfindet: Das erste Wort des Kindes und das Wort des »ersten Menschen, der gesprochen hat«, sind Ausdrucksversuche, Anfänge von Sprache, erste Worte, die noch keinem Vokabular, keinem Sprachsystem, keiner konstituierten Sprache angehören. Die sprechende Sprache hat auch nicht das Ziel, eine gesprochene Sprache zu erzeugen; im
8
Ebd., S. 232. Vgl. auch: »Allerdings ist wohl zu unterscheiden: das echte, einen Sachverhalt erstmals formulierende Wort, und der bloß sekundäre Ausdruck, das Reden bloß über schon Gesagtes, das im empirischen Sprechen vorherrscht.« Ebd., S. 211.
9
Ebd., S. 212.
10 Merleau-Ponty knüpft damit an eine Formulierung Husserls aus den Cartesianischen Meditationen an. Dort erwähnt Husserl die »reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist«. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Krisis, Hamburg 1992, S. 40. 11 »Die sprachliche Geste bringt, wie jede andere Gebärde, ihren Sinn erst hervor.« Merleau-Ponty, Phänomenologie (Anm. 1), S. 220.
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Gegenteil, im Übergang des sprechenden Sprechens in die gesprochene Sprache sieht Merleau-Ponty vielmehr das Risiko liegen, dass der lebendige Sinn in festen Bedeutungen erstarrt. Es gelte deshalb, immer wieder an die Anfänge der Sprache zurückzukehren und »das Schweigen zu ahnen«, aus dem in einer ursprünglichen Geste erneut lebendiger Sinn entstehen kann. Denn hier sieht Merleau-Ponty den »entscheidenden Schritt des Ausdrucks« gegeben. Gleichwohl ist klar, dass die unser alltägliches Leben beherrschende konstituierte Sprache den entscheidenden Schritt des Ausdrucks als schon vollzogen voraussetzt. Unser Begriff vom Menschen bleibt oberflächlich, solange wir nicht auf diesen Ursprung zurückgehen, diesseits des Lärms der Worte das ursprüngliche Schweigen ahnen und die Geste zu fassen vermögen, die dieses Schweigen bricht. Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung die Welt.12 Die Lebendigkeit des Sinns ist garantiert, wenn der Sinn dem Leib entspringt. Denn der Leib ist es, der die Fähigkeit zu wahrhafter Sinngenese besitzt. Er allein vermag es, das Denken auszudrücken, d.h. zu vollbringen. Merleau-Ponty weist darauf hin, dass immer wieder bemerkt wurde, »[d]ass Gebärde und Sprache den Leib gleichsam über sich hinausheben […]. Man sah nicht, dass letzten Endes der Leib selbst das Denken, die Intention werden muss, die er uns je bedeutet, soll er sie ausdrücken können. Er ist es, der zeigt, er ist es, der spricht«.13 Im Ausdruck, in der Geste, besitzt der Leib die Fähigkeit zur Transzendenz. Diese »Enthüllung eines dem lebendigen Leib innewohnenden oder entspringenden Sinnes«14 veranschaulicht Merleau-Ponty in seinen Essays der 50er- und 60er-Jahre ausführlich am Beispiel der Malerei. Die Geste des Malers wird zum Modell dafür, wie sich die Umsetzung einer Erfahrung (expérience) in einen Ausdruck (expression) realisiert. Zentral ist dabei der Gedanke, dass der Leib des Malers den Übergang von einer Wahrnehmung in einen Ausdruck bewerkstelligt und so den Kontakt mit dem Sein herstellt. Das Malen versteht Merleau-Ponty als eine unmittelbare Kommunikation des Leibes mit der Welt: »Indem der Maler der Welt sei-
12 Ebd., S. 218. 13 Ebd., S. 233. 14 Ebd., S. 233.
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nen Leib leiht, verwandelt er die Welt in Malerei.«15 Diesen Kontakt des Malers mit der Welt beschreibt Merleau-Ponty genauer als ein responsives Verhältnis, d.h. als ein Anspruch- und Antwortgeschehen, in dem sich der Maler weder aktiv noch passiv bzw. sowohl aktiv als auch passiv verhält: »Die Wörter, die Striche, die Farben, die mich ausdrücken, gehen von mir aus wie meine Gesten, sie werden mir entlockt durch das, was ich sagen will, wie meine Gesten durch das, was ich tun will. Insofern liegt in jedem Ausdruck eine Spontaneität, die keine Anweisungen duldet, nicht einmal die, die ich mir selbst geben wollte.«16
Die Geste des Malers kann schließlich als grundlegendes Motiv der gesamten Philosophie Merleau-Pontys verstanden werden. In ihr werden neben dem Dualismus von Ausdruck und Bedeutung (Materialität und Idealität) auch der Dualismus von Mensch und Natur sowie der Dualismus von Aktivität und Passivität überwunden. Die Wahrnehmung des Malers geht direkt und spontan in den leiblichen Ausdruck über, ohne dass sich ein intellektuelles Denken dazwischen setzt. Merleau-Ponty schreibt: »Die Philosophie, die noch zu schaffen ist, beseelt den Maler – nicht, wenn er Ansichten über die Welt äußert, sondern in dem Augenblick, in dem sein Sehen zur Geste wird, wenn er, wie Cézanne sagt, ›im Malen denkt‹«.17 Das Malen als ›Denken‹ nimmt keine Distanz zu den Dingen ein, sondern steht im unmittelbaren Kontakt mit der Welt, aus dem es seinen Sinn schöpft. Die Geste interessiert wiederum nicht im Hinblick auf das Endprodukt (etwa das zu schaffende Bild), sondern aufgrund der besonderen Sinngenese, die sich im Malen ereignet und die nichts mit einer bewusstseinsmäßigen Konstitution von Sinn gemein hat. Vielmehr haben wir es in der Geste
15 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 278. 16 Ebd., S. 162. Vgl. auch: »Auf dem unvordenklichen Grund des Sichtbaren hat sich etwas bewegt, hat sich etwas entzündet, das nun seinen Leib überkommt, und alles, was er [Cézanne] malt, ist eine Antwort auf diese Anregung. Seine Hand ist ›nur das Instrument eines fernen Willens‹. […] In diesem Kreislauf gibt es keinen Bruch, es ist unmöglich zu sagen, dass an einer bestimmten Stelle die Natur ende und der Mensch oder der Ausdruck beginne.« Ebd., S. 314. 17 Ebd., S. 301.
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des Malers mit einer »Geburt«18 von Sinn zu tun, die sich im Sinnlichen vollzieht. Damit wird in der Geste des Malers auch noch ein vierter Dualismus überwunden, und zwar der von Sinn und Sinnlichkeit. Der fungierende Leib ist es, der auf nichts anderes zurückgreift als auf sich selbst, wenn er in einer schöpferischen Geste Sinn in statu nascendi zum Ausdruck bringt. Der Sinn der Ausdrucksgeste ist entsprechend nichts, was begrifflich zu fixieren wäre, sondern »prinzipiell ein Sinn im Entstehen. Sein Auftreten ist eine Verheißung von Ereignissen.«19 Der native und genetische Charakter des Sinns ist entscheidend: Was den Sinn als Sinn auszeichnet, ist nicht seine Bestimmbarkeit, sondern im Gegenteil, seine eigene Geburt und Entstehungsbewegung. Im Fokus steht: »[N]icht jene abgeleitete Arbeit, die das zum Ausdruck Gebrachte durch Zeichen ersetzt, deren Sinn und Anwendungsregeln anderswoher kommen, sondern die ursprüngliche Operation, die erst die Zeichen zu Zeichen macht, die durch die Eloquenz ihres Anordnens und Zusammenstellens das Ausdrückliche in ihnen leben lässt, die einen Sinn einpflanzt, wo zuvor noch keiner war«.20
Die Geste entpuppt sich bei Merleau-Ponty folglich als die Übersetzung der Wahrnehmung der Welt in den Ausdruck des Menschen. Die Geste ist zu verstehen als Geste des Leibes, der in dieser ›Übersetzungsleistung‹ Zeugnis ablegt von seinen sinnstiftenden Vermögen. Sie ist durch Vollzug und Bewegung gekennzeichnet. Die Geste ist jedoch nicht die Geste eines Subjekts, sondern sie entsteht in der Kommunikation des Menschen mit der Welt. Dabei werden die gegensätzlichen Attribute von Subjekt und Objekt, von Aktivität und Passivität, Idealität und Materialität beiden Seiten zugeschrieben. Die Geste fungiert als Motiv für jede Art von wahrhafter Sinngenese. Sie wird schließlich auch zum Modell für die Philosophie. Der Sinn der Geste ist ein Sinn in statu nascendi. Mit anderen Worten: Die Geste teilt nicht einen bestimmten Sinn mit, sondern sie eröffnet Sinn(möglichkeiten). Sie bewirkt und zeigt an, dass Sinn am Entstehen ist.
18 Ebd., S. 287. 19 Ebd., S. 154. 20 Ebd., S. 151.
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2. Agambens Konzept der Geste In seinen Noten zur Geste versucht Agamben, neben Aristoteles’ Unterscheidung von praxis und poiesis einen dritten Bereich der Geste zu differenzieren. Anders als Aristoteles, der annimmt, dass jede Tätigkeit auf ein Ziel gerichtet sei (und liege das Ziel auch im Tun selbst), geht Agamben davon aus, dass es im Anschluss an das, was Kant mit »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« betitelt, eine Sphäre der »reinen Mittelbarkeit« gäbe: »So lebt in der Geste nicht die Sphäre eines Zwecks in sich, sondern die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck, die sich den Menschen mitteilt.«21 Diese Sphäre vergleicht Agamben mit dem, was Mallarmé »milieu pur« nennt, rekurriert aber auch auf Benjamins Idee der reinen Mittelbarkeit.22 Die Geste sei die Mitteilung der Mitte(i)lbarkeit;23 sie vermittle das In-der-Sprache-Sein bzw. das In-einem-Medium-Sein des Menschen. Oder anders gesagt: Die Geste sei das, was in jedem Ausdruck übrigbleibe, wenn man das Ausgedrückte davon abziehe.24 Reine Medialität: Mitteilung der Vermitteltheit einer jeden Mitteilung. Agamben betont, dass die Geste gerade kein Mittel zum Zweck (etwa kein Ausdrucksmittel für eine Idee) ist. Dagegen verweist Agamben auf »jene Potenz der Geste in einem Mittel, die es in seinem eigenen MittelSein unterbricht und allein so darbietet, aus einer res eine res gesta macht.«25 Die Geste als Mitteilung der Mittelbarkeit unterbricht sich gleichsam selbst: Sie teilt mit, aber keine Aussage, keinen Sinn, keine Idee, sondern allein sich selbst, d.h. ihre eigene Medialität. Sie »hat nicht eigent-
21 Giorgio Agamben, Noten zur Geste, in: Ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Berlin/Zürich 2001 (2006), 2. Auflage, S. 47-56, hier S. 55. 22 Vgl. Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 2005, S. 30-49, hier S. 32, 36 und 48. 23 Die Schreibweise ›Mitte(i)lbarkeit‹ trägt der Tatsache Rechnung, dass Agamben bei der Charakterisierung der Geste die beiden italienischen Begriffe »communicabilità« und »medialità« verwendet. 24 »Ce qui, dans chaque expression, reste sans expression, est geste.« Giorgio Agamben, Le geste et la danse, in: & la danse. Revue d’esthéthique 22/92, Paris 1992, S. 9-12, hier S. 11. 25 Agamben, Noten zur Geste (Anm. 21), S. 55.
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lich etwas zu sagen, denn was sie zeigt, ist das In-der-Sprache-Sein des Menschen als reine Mittelbarkeit. Da aber das In-der-Sprache-Sein nichts ist, was in Aussagesätze gefasst werden könnte, ist die Geste in ihrem Wesen immer Geste des Sich-nicht-Zurechtfindens in der Sprache«.26 So lässt sich die Sphäre der Geste auch mit Agamben im Vorsprachlichen bzw. Nicht-Sprachlichen verorten. Die Geste teilt jedoch dennoch etwas mit: ihre eigene Medialität. Die Geste ermöglicht in Agambens Denken nicht nur das Ethische und Politische, sondern fungiert auch als zentrales Motiv für die theoretische und künstlerische Produktion. Selbst die Philosophie sei Geste, insofern sie »die Sprache selbst vorführe«. Die philosophische Idee sei »keineswegs, wie gemeinhin angenommen, ein unbeweglicher Archetyp, sondern vielmehr eine Konstellation, in der die Phänomene zu einer Geste sich zusammenstellen.«27 Die Philosophie als Geste exponiere das In-derSprache-Sein des Menschen und sein Ringen um Sprache. Agamben betont in Bezug auf die Exposition des Im-Medium-Seins des Menschen wiederum die Unterbrechung (bzw. die »Lücke«, den »Fehler«), die die Philosophie als Geste ausstelle: »Philosophie […], die Ausstellung des In-der-Sprache-Seins des Menschen: reine Gestik. […] Jeder große philosophische Text ist der gag, der die Sprache selbst vorführt, das In-der-Sprache-Sein als riesige Gedächtnislücke, als unheilbaren SprachFehler.«28
Bei der Herleitung des Gestenbegriffs kommt Agamben mehrmals auf den Tanz zu sprechen – zunächst im Rekurs auf den Veitstanz (Chorea Huntington),29 dann in seinen Verweisen auf Ausdruckstänzerinnen wie Isidora Duncan oder Loïe Fuller, und schließlich ganz konkret, wenn er den Tanz zur Geste erklärt. Allerdings sei der Tanz als Geste nicht zu verstehen als eine ästhetische Bewegung, die – anders als etwa das zweckgerichtete Gehen (Mittel zum Zweck) – ihren Zweck in sich selbst hat, sondern als reine Mittelbarkeit: »Wenn der Tanz Geste ist, dann indes nur, weil er nichts an-
26 Ebd. 27 Ebd., S. 52-53. 28 Ebd., S. 56. 29 Freilich kann man in Frage stellen, ob der Veitstanz als Krankheit und Symptom noch ein ›Tanz‹ ist.
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deres ist als die Austragung und die Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbarmachen eines Mittels als solchem.«30 Das bedeutet, dass es dem Tanz als Geste nicht darum geht, etwas Konkretes auszudrücken oder mitzuteilen; vielmehr werden die körperlichen Mitteilungsmöglichkeiten und -fähigkeiten selbst mitgeteilt. Der Tanz zeigt gewissermassen das (Sich-)Zeigen des Körpers. Im Fokus steht nicht das, was mitgeteilt werden soll (Intention o.ä.), sondern das Mitteilen als solches. Diese Sphäre der reinen (zweck- und zielfreien) Mittelbarkeit werde im Tanz auch nicht verlassen: »Dans le mouvement de ceux qui dansent, l’absence de but se fait chemin, le manque de fin devient moyen, pure possibilité de se mouvoir, politique intégrale.«31 Die Geste charakterisiert Agamben also als das, was die Kraft besitzt, ein Mittel in seinem Mittel-Sein zu unterbrechen und dadurch eine Sphäre der reinen Mittelbarkeit zu eröffnen. Die Geste ist gleichzeitig die Mitteilung dieser reinen Mittelbarkeit. Die Sphäre der Mittelbarkeit ist rein, d.h. zweckfrei und thematisch nicht besetzt. Die Geste teilt keinen bestimmten Sinn mit, verkörpert keine Idee und verfolgt keine Intention, sondern sie eröffnet und zeigt Mitteilungsmöglichkeiten. Indem sie die Möglichkeiten des Mitteilens selbst zeigt, ›reflektiert‹ sie gewissermaßen die Vermitteltheit einer jeden Mitteilung. Die reine Geste ist folglich nicht nichtssagend, sondern im Gegenteil, etwa als Störung des gewöhnlichen zweckgerichteten Mitteilungsvorgangs, Reflexion und Exposition des Im-Medium-Seins des Menschen.
3. Mallarmés poésie pure und Valérys danse pure Merleau-Ponty und Agamben berufen sich bei der Herleitung ihrer Konzepte des Gestischen beide auf Mallarmés und Valérys Konzept der reinen Kunst.32 Im Folgenden soll dieser gemeinsame Bezugspunkt kurz dargestellt werden.
30 Ebd., S. 54. 31 Agamben, Le geste et la danse (Anm. 24), S. 12. 32 Vgl. z.B. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist (Anm. 15), S. 83-87 und S. 118-119; vgl. Agamben, Noten zur Geste (Anm. 21), S. 55.
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Mallarmé und Valéry formulieren ihre Ästhetik vor allem in Kritiken und Vorträgen, die sich auch auf das Pariser Tanzgeschehen zwischen 1870 und 1936 beziehen. Sie entwickeln darin ihr Konzept einer reinen Kunst: Mallarmé vertritt eine ästhetische Theorie der idée incorporée; Valéry entwirft in ähnlicher Weise eine »physiologie esthétique«.33 Mallarmé und Valéry führen dabei einen neuen Sinn- und Zeichenbegriff ein, der die dichotomische Konzeption von Bezeichnetem und Bezeichnendem hinter sich lässt, sowie Physiologisches mit Intellektuellem verbindet. Mallarmés idée incorporée ist nicht nur die reinste und nackteste Idee, sondern auch die abstrakteste und philosophischste. Der Tanz ist in Mallarmés und vor allem in Valérys Betrachtungen die ›Urkunst‹, der Prototyp aller Künste und Tätigkeiten, die nicht zweckgerichtet sind. Valéry erklärt dies folgendermaßen: »Knüpft doch jede Handlung [action], die nicht nach dem Nützlichen strebt und andererseits der Ausbildung, der Perfektionierung, der Entwicklung fähig ist, an diesen vereinfachten Typus des Tanzes an. Und somit können alle Künste als Sonderfälle dieser allgemeinen Idee aufgefasst werden, enthalten doch alle Künste qua Definition ein Moment von Handlung, jene Handlung, die das Werk hervorbringt oder auch offenkundig werden lässt. […] Ein Gedicht zum Beispiel ist Handlung, denn 34
ein Gedicht besteht nur im Moment seines Vortrags: es ist also in actu [en acte].«
Als reine Bewegungsenergie existiere der Tanz, so Valéry, nur im Vollzug (in actu), und treffe den Menschen ›in seinem ganzen Sein‹, d.h. physiologisch und intellektuell. Der Tanz sei Arabeske bzw. métaphore absolue: eine Metapher, die auf nichts außer ihre eigene ›Metaphernhaftigkeit‹ verweist. (In Anlehnung an Agamben könnte man mit Mallarmé und Valéry sagen: Der Tanz vermittelt nichts als seine eigene Kraft der Vermittlung.) Er teile so etwas wie ›energetischen Sinn‹ mit, der bei den Zuschauern eine Resonanz bewirke, sie anstecke und begeistere. Diese danse pure wird in der Ästhetik Mallarmés und Valérys jeweils zum Vorbild für die poésie pu-
33 Siehe hierzu ausführlicher das IV. Kapitel in: Miriam Fischer, DENKEN in KÖRPERn. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes, Freiburg 2010, S. 287315. Der Begriff »physiologieesthétique« in Bezug auf Valérys Werk ist Julia Kristeva entlehnt: Dies., Disparition – constellation, in: Mallarmé. POESIE 85/ 1998, S. 3-5, hier S. 3. 34 Paul Valéry, Werke, Band 6, Frankfurt am Main 1995, S. 253-254.
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re, die schließlich als »danse verbale«35 bzw. »danse spirituelle« verstanden wird. Was ist eine Metapher, wenn nicht eine Pirouette der Vorstellung, der man verschiedene Bilder oder Bezeichnungen näherbringt? Und was sind alle diese Figuren, die wir verwenden, alle diese Mittel wie Reime, Inversionen, Antithesen, wenn nicht Gebrauchsformen aller Möglichkeiten der Sprache, die uns von der praktischen Welt lösen und auch uns unser eigenes Universum, den bevorzugten Ort des geistigen Tanzes [danse spirituelle], schaffen?36 Im Gegensatz zur Pantomime, die mimisch darstellt, was zum Ausdruck kommen soll, befreit sich der reine Tanz von jeder konkreten Bedeutung und von jeder Intention. Doch nicht jede Tanzweise entspricht für Mallarmé dem reinen Tanz: In Ballets kritisiert Mallarmé das barock und pompös inszenierte Ballett Les pigeons aufgrund seiner narrativen Darstellungsweise. Dagegen lobt Mallarmé in Autre étude de danse die Performance der Ausdruckstänzerin Loïe Fuller, deren Körper im Tücherwirbel verschwindet und die gerade nichts darstellt als die durch den Tücherwirbel eindrücklich sichtbar gemachte Bewegungsenergie des sich bewegenden Körpers. Mallarmé betont dabei zum einen die Anonymität der Person, die tanzt: Der Tanz »vernichte«37 geradezu die Person der Tänzerin. Zum anderen spricht er dem Tanz selbst ab, ein ›Tanz‹ zu sein. Damit reinigt er die Performance nicht nur von jeglicher Bedeutungsschwere, sondern auch von jeder Intention: Der Tanz zielt nicht einmal mehr darauf ab, Tanz zu sein; es handelt sich um das Paradox eines »tanzlose[n] Tanz[es]«.38 Folgendes Zitat gibt diese beiden zentralen Aspekte wieder: »Dass nämlich die Tänzerin keine Frau ist, die tanzt, und zwar aus gleichgestellten Gründen, dass sie keine Frau ist, sondern eine Metapher, in der sich ein Grundaspekt
35 »Wer Verse zu zitieren beginnt, lässt sich in/auf? einen Tanz der Worte [danse verbale] ein.« Ebd., S. 254. 36 Ebd., S. 256f. 37 Vgl. Gabriele Brandstetter, Loïe Fuller – Tanz. Licht-Spiel. Art nouveau, Freiburg 1989, S. 143. 38 Alain Badiou, Der Tanz als Metapher für das Denken, in: Ders., Kleines Handbuch zur In-Ästhetik, Wien 2001, S. 79-96, hier S. 97. Auf die Formel des »tanzlosen Tanzes« werde ich am Ende noch einmal zurückkommen.
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unserer Formerfahrung verdichtet: als Schwert, Kelch, Blume usw., und dass sie nicht tanzt, sondern im Wunder von Raffungen und Schwüngen durch Körperschrift [écriture corporelle] vermittelt, was, schriftlich niedergelegt, ganzer Absätze von Prosa […] bedürfte: ein von jeglichem Zutun des Schreibers losgelöstes Gedicht [un poème dégagé de tout appareil du scribe].«39
Valéry knüpft in seiner ästhetischen Theorie an Mallarmé an. Die Reinheit des Tanzes ist auch für ihn grundlegend. In Die Seele und der Tanz legt er Sokrates, der mit Phaidros und Eryximachos einer Tänzerin beim Tanzen zusieht, folgende Worte in den Mund: »Ob [die Tänzerin] etwas darstellt? […] Nichts, teurer Phaidros. Aber alles Eryxichamos. Ebensogut die Liebe wie das Meer, und das Leben selber und die Gedanken… Fühlt Ihr denn nicht, dass sie der reine Vorgang ist der Verwandlungen [l’acte pur des métamorphoses]?«40
Der Tanz lässt sich nicht in den herkömmlichen Bedeutungszuschreibungen erklären; er zeichnet sich durch seinen Bewegungsfluss und seine Flüchtigkeit aus. Dennoch ist er nicht ›nichts‹. Wie Valéry in seinem Vortrag Philosophie des Tanzes anlässlich der Aufführung der Tänzerin Mde Argentina ausführt, schaffe die Tänzerin im Tanz einen Zustand, der: „[G]anz aus gegenwärtiger Energie besteht, aus nichts Dauerhaftem […]. Sie ist das Unbeständige, verschwendet das Unbeständige, führt durch das Unmögliche, beansprucht das Unwahrscheinliche; indem sie kraft ihrer Anstrengung den gewöhnlichen Zustand der Dinge verneint, erweckt sie in den Köpfen die Vorstellung von einem anderen, außergewöhnlichen Zustand, der nichts als Handlung [action] wäre, einer Dauerhaftigkeit, die durch eine unaufhörliche Hervorbringung von Arbeit entstehen und bestehen würde.41
39 Stéphane Mallarmé, Ballets, in: Brandstetter, Loïe Fuller (Anm. 37), S. 203213, hier S. 205. 40 Valéry, Werke (Anm. 34), Band 2, S. 104. 41 Ebd., S. 249.
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Mallarmé und Valéry entwickeln in ihrem Konzept einer reinen Kunst42 einen neuen Sinn- bzw. Zeichenbegriff, der sich einerseits durch die Verbindung des Physiologischen mit dem Intellektuellen auszeichnet, zum anderen durch seine Performativität: Tanz und Gedicht existieren nur im Vollzug (in actu), oder sie sind nicht. Die sinnliche Wirkung sowie die Flüchtigkeit des Tanzes und analog des Gedichts werden dabei besonders hervorgehoben. Tanz und Gedicht sollen gereinigt von jeder (Bedeutungs-) In-Tention sein; entscheidend ist vielmehr die Energie, die in der Arabeske oder in der Metapher als »Pirouette der Vorstellung« übermittelt wird. Auch kommt es im Tanz zur »Vernichtung« der Person, die tanzt, bzw. analog im Gedicht zur »Vernichtung« des Autors. Hervor trete dann die Nacktheit der Idee (die »nudité des concepts«, die »notion pure«, die »métaphoreabsolue«) bzw. ein von jeder Bedeutung gereinigter Sinn- und Zeichenbegriff.43
4. Die reine Geste nach Merleau-Ponty und Agamben Die Verbindung von Merleau-Pontys phänomenologischem Ansatz und Agambens Theorie zur Geste über den gemeinsamen Bezugspunkt, der sich im Denken von Mallarmé und Valéry festmachen lässt, führt m.E. zu einem besonders fruchtbaren Konzept des Gestischen. Zunächst sollen die Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Gestenbegriffe dargestellt werden, um dann den Vorteil der Verbindung beider Konzepte aufzuzeigen. Beide Philosophen reflektieren die Geste im Kontext künstlerischer und theoretischer Produktion. In beiden Ansätzen markiert die Geste einen Bereich des Unentschiedenen, einen Zwischenraum des ›Noch-nicht‹.44 Die
42 Auf die Verschiedenheit der beiden Ansätze, die trotz der Verwandtschaft zweifellos besteht, kann ich hier nicht eingehen. 43 Sinn und Zeichen werden hier zusammen genannt, da im Denken der beiden Dichter zum einen Sinn und Sinnlichkeit miteinander verschmelzen. Zum anderen wird das Zeichen zum reinen Zeichen; es weist in sich keine Differenz zwischen Bezeichnendem (Zeichen) und Bezeichnetem (Bedeutung) auf. 44 Timo Skrandies versteht die Geste entsprechend als »Intervall«. Vgl. ders., Das Intervall der Geste oder Wann beginnt der Tanz?, in: Görling/Skrandies/Trinkaus (Hg.), Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz, Bielefeld 2009, S. 117-
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Sphäre der Geste entpuppt sich als ein Bereich vor bzw. jenseits der Sprache: Es geht um den Ausdruck ohne Ausgedrücktes, um die Mitteilung ohne Mitteilung, um den Sinn ohne Bedeutung. Gleichwohl muss die Geste jeweils als Bewegung verstanden werden: Bei Merleau-Ponty beschreibt sie die Übersetzungsbewegung einer Wahrnehmung in einen Ausdruck, die Umsetzung einer Erfahrung in die Sprache; bei Agamben bewirkt die Geste die Unterbrechung des Mittels in seinem Mittel-Sein und eröffnet dadurch – gerade im Tanz – unendliche Möglichkeit(en) des Sich-Zeigens und SichBewegens. Die Geste wird jeweils als Figur für die Entstehung von Sinn eingesetzt. Beide Denker stellen mit ihrem Konzept des Gestischen ein Modell vor, mit dem sie der herkömmlichen Sinnvermittlung (bzw. dem, was sie darunter verstehen: Merleau-Ponty der empirischen Sprache, Agamben der Mitteilung im kausalen Mittel-Zweck-Schema) entgegentreten wollen. Der Bereich des Gestischen zeichnet sich in beiden Ansätzen insbesondere dadurch aus, dass hier Sinn (noch) nicht begrifflich bestimmbar ist, sondern höchstens im Zustand seiner Entstehung sichtbar wird. Es geht also weniger um Sinn als Bedeutung, sondern, viel fundamentaler, um die Ermöglichung und Eröffnung von Sinn. Dennoch sind Differenzen zwischen den beiden Theorien zur Geste erkennbar: Merleau-Ponty knüpft zwar ebenfalls an Mallarmé an, dann jedoch vor allem an Valéry, mit dem er die Verbindung des Materiellen mit dem Intellektuellen hervorhebt und die These stark macht, dass das geistige Werk, sei es theoretischer oder künstlerischer Natur, nur im Vollzug (in actu) existiert. Anders als Agamben betont Merleau-Ponty den leiblichen Ursprung der Geste; damit einhergehend steht für ihn der Aspekt des Genetischen und Schöpferischen, des Lebendigen und Energetischen im Vordergrund. Wichtig ist für Merleau-Ponty der Begriff des Sinns in statu nascen-
146, hier S. 141. Er erklärt diese Bestimmung auch unter Berufung auf Derridas Texte über Blanchots Verwendung der Sprache: Z.B. spielt Blanchot mit der doppelten Bedeutung des französischen Wortes »pas« – als ›Schritt‹ und Verneinungspartikel. Die Geste bezeichnet genau diesen Bereich des Schritts: wie er sich (schon) auf der Schwelle und (noch) in der Schwebe befindet. Vgl. Jacques Derrida, Demeure Maurice Blanchot, Paris 1998; vgl. Ders., Parages, Paris 1986; vgl. auch meine Betrachtungen hierzu in: Miriam Fischer, Das Undenkbare denken. Zum Verhältnis von Sprache und Tod in der Philosophie Maurice Blanchots, Freiburg 2006, S. 74-82.
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di, der nur durch eine ursprüngliche Geste geschöpft werden kann. Agamben dagegen knüpft vor allem an Mallarmé an und bezieht sich dort auf den Begriff des »milieu pur«, den er als eine gleichsam anonyme und neutrale Sphäre der reinen Mittelbarkeit interpretiert. In enger Anlehnung an Mallarmé hält er am radikalen Konzept der Nacktheit und Reinheit fest: Während Merleau-Ponty in der Geste doch immerhin die Genese von Sinn thematisiert, will Agamben die Geste frei von jeder Intention und jedem Telos des Sinns verstanden wissen. Die Geste als Mitteilung der Mitte(i)lbarkeit schafft hier eine Ebene der Reflexion über das Mitteilen.45 In dieser Reflexivität und Abstraktheit, d.h. losgelöst von gewöhnlichen, lebensweltlichen Bedeutungsmustern und Sinnzusammenhängen (u.a. Autor, Intention, Darstellung), ist sie rein. Der ›Gewinn‹ dieser Reinheit46 (im oben genannten Sinne von Reflexivität und Abstraktheit) geht allerdings mit einer Gefahr einher: Die Geste wird als Sphäre der reinen Mittelbarkeit so anonym und neutral gedacht, dass sie nicht nur im Inhaltslosen, sondern auch im Leblosen und Unproduktiven leerzulaufen droht. Denn die Bestimmung der Geste geht in Agambens Konzeption kaum noch auf ihren leiblichen Ursprung zurück, sondern wird in erster Linie einem Mittel-Zweck-Rationalismus entlehnt, der zwar gerade unterbrochen werden soll, aber keine Anbindung an einen lebendigen Sinn mehr findet. Das Energetische der reinen Sphäre, das bei Mallarmé und Valéry zentral ist und gerade der Verbindung des Geistigen mit dem Materiellen (u.a. in der idée incorporée) entspringt, geht dadurch verloren. – An dieser Stelle kommt die Verbindung mit Merleau-Pontys
45 Auch für Merleau-Ponty ist die Geste Reflexion, allerdings in einem etwas anderen Sinne. In Anlehnung an Schelling, von dem er die Idee der natura naturans übernimmt, versteht Merleau-Ponty das Verhältnis von Mensch und Natur als einen Kreislauf. Die Malerei entspricht darin dem Zu-sich-kommen-derWelt. Mit anderen Worten: Die Welt reflektiert sich im Maler; der Maler wird im Akt des Malens zum »Bewusstsein der Welt«. Vgl. Merleau-Ponty, Auge und Geist (Anm. 15), S. 15. 46 Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass Agamben den Begriff der Reinheit nicht nur den Avantgardisten, sondern auch Walter Benjamin entlehnt, der die Idee einer »reinen Sprache« entwickelt. Vgl.: Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: Ders., Sprache und Geschichte, Stuttgart 2005, S. 50-64, hier S. 62.
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Konzept des Gestischen zum Tragen, das genau an diese anderen wichtigen Gedanken der beiden Dichter anschließt. Die Zusammenführung des Gestenbegriffs von Agamben mit dem phänomenologischen Merleau-Pontys ermöglicht es meines Erachtens dann, den Begriff der reinen Geste ›voll‹ zu denken: einerseits mit der von Agamben hervorgehobenen Reinheit und Reflexivität, die die Geste als Motiv künstlerischer und theoretischer Produktion stark macht; andererseits in Anbindung an den lebendigen Leib, durch den der energetische und schöpferische Aspekt der Geste betont wird. Dass diese Zusammenführung nicht so weit hergeholt ist, belegen die Vorgaben von Mallarmé und Valéry, die in ihrer Konzeption der reinen Kunst beide Aspekte – sowohl Reinheit (Reflexivität) als auch leiblich-geistige Performativität (in actu) – hochhalten, und die beiden Autoren als Referenz dienen.
5. Tanz als die reinste Geste Wie oben bereits ersichtlich wurde, hat der (Ausdrucks-)Tanz in Mallarmés und Valérys Denken eine prominente Stellung inne, ja er steht gleichsam Modell für das Konzept der reinen Kunst. Es liegt also nahe zu fragen, ob und inwiefern der Tanz auf dem Hintergrund des aus Merleau-Pontys und Agambens Ansätzen heraus erarbeiteten Konzepts des Gestischen als der Prototyp der reinen Geste aufgefasst werden kann?47 Lässt sich die These aufstellen, dass der Tanz sogar als die reinste Geste bzw. – in Anlehnung an Valéry, der den Tanz als ›Urkunst‹ betrachtet – als ›Urgeste‹ betrachtet werden kann? Es ist nicht leicht, eine Bestimmung der flüchtigen und in sich sehr verschiedenartigen Kunstart des Tanzes zu geben. Das mag gerade daran liegen, dass der Tanz als performative Kunst nur im Vollzug (in actu) ist – oder er ist nicht. Das bis heute praktisch ungelöste Problem der Notation und Archivierung von Tanz hängt damit zusammen. Tanz wird mimetisch
47 Angesichts von Merleau-Pontys Hervorhebung des sinnstiftenden leiblichen Vermögens verwundert es, dass unter den Künsten die Malerei in seinem Werk die Hauptrolle spielt, und der Tanz nur an wenigen Stellen thematisiert wird.
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weiter gegeben: Es handelt sich um ein »dynamisches Wissen«,48 dass in die Körper der Tänzer eingeschrieben ist und von diesen an andere Körper weitergegeben wird. Auch besitzt der Tanz kein oder zumindest nur wenig festgelegtes ›Vokabular‹. Der Tanz ließe sich also ganz im Sinne MerleauPontys als eine ursprüngliche »sprechende Sprache« bestimmen, die ihre eigene ›Sprache‹ stets erst erfindet. Jeder Choreograph/Tänzer entwirft seine Tanz-Schrift (Choreo-graphie), sein Bewegungsvokabular und seine Grammatik der Schritte, neu, und prägt einen eigenen Tanzstil. Die Choreographie wird meistens aus Improvisationsarbeiten heraus entwickelt, d.h. Tanz entsteht aus den sich bewegenden und (sich) erfindenden Körpern. Es geht dann weniger um die Fixierung der Bewegungen, sondern um deren motorische Erfassung und ›Archivierung‹ in den Körpern. Der ›Sinn‹ des Tanzes ist immer ein Sinn in Bewegung, der sich der Festlegung (etwa in Schrift oder Bild) gerade entzieht.49 Die Arbeit des Tänzers besteht darin, die eigenen Bewegungsmuster zu erkennen, diese zu durchbrechen und dadurch (unendlich) neue Bewegungsmöglichkeiten zu entdecken. Tanz ist also – ganz im Sinne von Agambens Definition der Geste – nicht nur Reflexion, sondern auch Eröffnung von neuen Bewegungs- und damit Ausdrucks- bzw. ›Sinn‹Möglichkeiten. Freilich ist die Reflexivität des Tanzes im abstrakten Tanz der Moderne am deutlichsten. Entscheidend ist hier der reine (zweckfreie) ›Sinn‹, der sich mitteilt, ohne etwas Konkretes mitzuteilen – dies entspräche Agambens Bestimmung der Geste als »Mitteilung der Mittelbarkeit«. Doch man könnte zeigen, dass es auch im darstellenden Ballett und im Tanztheater nicht primär darum geht, begrifflich fassbare Sinnzusammenhänge mitzuteilen, sondern dass die Art und Weise des Mitteilens, die Medialität, im Zentrum steht. Ein gutes Tanzstück zeichnet sich dadurch aus, dass es beim Zuschauer, wie Valéry sagen würde, eine Resonanz im Sinnlichen mit geistigem Effekt bewirkt; es geht nicht darum, Tanz in Aussage-
48 Vgl. Gabriele Brandstetter, Tanz als Szeno-Graphie des Wissens, in: Dies./Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München 2007, S. 84-99, hier S. 87. 49 Jean-Luc Nancy spricht von einer »échappée du sens«, vom ›entwischenden Sinn‹ des Tanzes. Vgl. Mathilde Monnier/Jean-Luc Nancy, Allitérations. Conversations sur la danse, Paris 2005, S. 78.
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sätze zu übersetzen. Viel wichtiger als eine bestimmte Bedeutung ist die Energie, die der Tanz als Geste vermittelt.50 Was den Tanz jedoch von allen anderen Künsten am deutlichsten unterscheidet, ist die Tatsache, dass das ›Kunstwerk‹ und die künstlerische Produktion in eins fallen: Hier ist die Geste des Künstlers gleichzeitig das Kunstwerk als Geste. Denn anders als etwa in der Malerei, in der sich drei Formen von ›Geste‹ – die Geste des Malers, die gemalte Geste im Bild (z.B. eine abgebildete Hand) und das Bild selbst als Geste – differenzieren lassen, lässt sich der tanzende Körper nicht vom Tanz als Geste unterscheiden. Der Tanz ist die einzige Kunst, in der der schaffende Körper des Künstlers mit dem geschaffenen Werk zusammenfällt. Im Unterschied zu anderen performativen Künsten – wie der Musik oder dem Theater – tritt im Tanz auch kein anderes Medium zwischen das Kunstwerk und den Künstler: Das Medium des Tanzes ist der Körper des Künstlers selbst.51 Diese Tatsache, dass in der Performance der tanzende Körper gleichzeitig die Kunst als Tanz ist, bedeutet aber, dass der Tanz die reinste Mitteilung der Mitte(i)lbarkeit ist: Die Mitteilung der tänzerischen Geste ist unmittelbar im Sinne von »im-médiat«52 sie wird durch kein anderes Medium und dessen Bedeutungsgeschichte verfälscht bzw. ›verunreinigt‹.53 Der tanzende Körper teilt die Mitte(i)lbarkeit in ihrer reinsten Form mit: als Medium, das Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in sich vereint, und nichts bedeutet.54 Der kreative Körper zeigt sich hier in actu. In Anlehnung an Merleau-Ponty
50 Im Gespräch mit der Choreographin und Tänzerin Mathilde Monnier erklärt Nancy: »Or, transmettre un geste, […] c’est faire passer son énergie propre.« Ebd., S. 52-53. 51 Vgl. ebd., S. 29-30. 52 Vgl. ebd., S. 30. 53 Nancy verweist auf diese Besonderheit des Tanzes: »[L]e propre de cet art est de produire son sens en retrait de tout médium et par là d’effacer le plus possible l’effet de signification que produit un médium.« Ebd., S. 29. 54 Dies verdeutlicht Nancy in folgenden Ausführungen: »[A]vec la danse, l’enjeu de la ›non-signifiance‹, pour le dire ainsi, est plus sensible, plus impérieux aussi: tout de suite, le corps est là, c’est là que ça se passe, c’est-à-dire que l’on est […] simultanément dans l’ordre d’un médium, d’une médiation, et dans celui d’une… ›immédiation‹, pour essayer de ne pas dire ›immédiateté‹.« Ebd., S. 34.
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gesagt: Im Tanz als der Körperkunst werden die sinnstiftenden Vermögen des lebendigen Leibes spontan sichtbar. Der Tanz ist die reinste Geste.55 Im Unterschied zu den anderen Künsten sei der Tanz deshalb, so JeanLuc Nancy, nicht nur eine Weise der Darstellung im Sinne einer Präsentation, sondern immer auch eine Weise der Präsenz.56 Während Nancy die Kunst allgemein als »présentation de la présentation«57 bestimmt, so erweist sich der Tanz für ihn zusätzlich als die Präsenz dieser Präsentation/dieses Präsentierens. Tanz wird entlarvt als ein ›natives‹ Phänomen, das – anders als die anderen Künste – gleichzeitig immer seine eigene Geburt und Entstehungsbewegung zeigt. Genaugenommen sei der Tanz deshalb als »avant-geste«58 zu bestimmen, als die Geste, die nicht nur dem Sinn im Sinne von Bedeutung vorausgeht, sondern die sich selbst als Geste (als ›Tanz‹) noch nicht bestimmt hat.59 Dieser Gedanke findet sich auch in Alain Badious Text Der Tanz als Metapher für das Denken, in dem Badiou ebenfalls an die Dichter der Avantgarde anknüpft. Badiou teilt mit Mallarmé nicht nur die Ansicht in Bezug auf die Anonymität der Person, die tanzt (»die Tänzerin ist keine Frau«), sondern rekurriert auch auf die These vom »tanzlosen Tanz« (»die Tänzerin tanzt nicht«). Der Tanz sei eine Art (Körper-)Denken60 und stelle weder eine Person noch einen Tanz dar. Tanz sei dagegen viel fundamentaler als das Zeichen der Fähigkeit des Körpers zur Kunst zu verstehen: »Der Tanz ist keine Kunst, da er als Zeichen für die Möglichkeit der Kunst steht,
55 Auch wenn ich hier den Begriff der (reinen) Geste vor allem im Kontext der Künste verwende, möchte ich doch daran erinnern, dass sowohl Merleau-Ponty als auch Agamben die Geste genauso als Motiv für die theoretische Produktion (Politik, Philosophie usw.) verwenden. Es bliebe zu zeigen, ob und inwieweit der Tanz als reinste Geste auch Modell steht für jede andere Form von kultureller Sinnproduktion. 56 Vgl. ebd., S. 110. 57 Jean-Luc Nancy, Les muses, Paris 1994, S. 62. 58 Monnier/Nancy, Allitérations (Anm. 49), S. 79. 59 Vgl. ebd., S. 79. 60 Auch Nancy versteht den Tanz als ein »Denken«. Vgl. hierzu: Miriam Fischer, Jean-Luc Nancy: La danse comme pensée, in: Paule Giofreddi (Hg.), A l(a) (r) encontre de la danse contemporaine. Porosités et résistances, Paris 2009, S. 155175.
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wie sie in den Körper eingeschrieben ist.«61 Der Tanz erweist sich also auch hier als die Sphäre des Unbestimmten und Unentschiedenen,62 aus der sogar der Tanz selbst als Kunst und »natives Denken« erst hervorgeht. Die These vom Tanz als der reinsten Geste lässt sich also auch bzw. gerade mit Nancy und Badiou untermauern: Als »avant-geste« (Nancy) und »Zeichen für die Möglichkeit von Kunst« (Badiou) fungiert der Tanz hier ähnlich wie bei Agamben und Merleau-Ponty als Motiv für die Genese von Sinn; und dies in einem fundamentalen Sinne: Einerseits wird (mit Mallarmé) wiederum die Reinheit des Tanzes betont, der nichts bedeutet und nichts intendiert; vielmehr zeigt der Tanz überhaupt erst die Möglichkeit von Kunst, Tanz und Geste auf. (Dieser Gedanke steht Agambens Definition der Geste als Mitteilung der reinen Mittelbarkeit nahe.) Andererseits ist es der (tanzende) Körper, dem das Vermögen zugesprochen wird, »das native Denken aufzuzeigen«.63 Nancys und Badious Überlegungen lassen sich hier mit Merleau-Pontys These vom Leib als dem lebendigen Ursprung aller Gesten in Verbindung bringen: Er ist es, »der zeigt, er ist es, der spricht«;64 ihm entspringen die Gesten unmittelbar und spontan: »immédiat«. Der Tanz als (Ur-)Geste zeigt die Entstehung der Geste selbst, wie sie sich aus dem kreativen Leib herauslöst.65 Im Tanz wird die Ex-Position und Prä-Sentation der Geste in actu bzw. in statu nascendi sichtbar.
61 Alain Badiou, Der Tanz als Metapher für das Denken, S. 94; vgl. ebd., S. 96. 62 »Der Tanz zeigt das Denken als Ereignis an, aber bevor ihm ein Namen gegeben wird, knapp vor seinem wahren Vergehen, im Entschwinden seiner selbst, ohne vom Namen beschützt zu werden. Der Tanz ahmt das noch unentschiedene Denken nach. Ja, im Tanz findet sich die Metapher des Unfixierten.« Ebd., S. 84. 63 Ebd., S. 95. 64 Merleau-Ponty, Phänomenologie (Anm. 1), S. 233. 65 Vgl. zur Entstehung des Tanzes als Geste aus dem Leib: Jean-Luc Nancy, Alliterationen, in: Ders., Ausdehnung der Seele, Berlin/Zürich 2010, S. 31-42. Der französische Text »Allitérations« findet sich in: Monnier/Nancy, Allitérations (Anm. 49), S. 137-150.
Sport als Gedächtnis archaischer Gesten G UNTER G EBAUER
Am Sport kann man eine Fülle von künstlerischen Merkmalen erkennen, die einige Autoren dazu veranlasst, ihn selbst als eine Kunst anzusehen.1 Wenn man diese Perspektive übernähme, wäre er allerdings als eine art mineur, eine mindere Kunst einzuschätzen: Ihm fehlt ein wesentliches Merkmal, das alle anerkannten Künste besitzen: Der Sport hat nie eine eigene Sprache entwickelt, die fähig wäre, eigene Gehalte zu formulieren und diese von seiner jeweiligen Realisierung abzulösen. Auch wenn er zu Gestaltungen fähig ist, Geschmack prägt und Stile entwickelt, besitzt er nicht wie der Tanz ein System formaler Gesten, die Träger festgelegter Bedeutungen sind. Mit dieser negativen Abgrenzung von der Kunst ist aber nicht gesagt, dass der Sport nicht wie diese eine Welt eigener Konstitution erzeugt. Tatsächlich bringt er eine mimetische Welt aus Gesten hervor – allerdings verfährt er dabei auf eine eigene Weise: Seine Welterzeugung unterscheidet sich von jener der Künste. Wenn wir aufhören, den Sport unter dem Blickwinkel der Kunst zu betrachten und mit deren Elle zu messen, können wir eben jenes Merkmal, das seinen Mangel auszumachen scheint, als ein positives Merkmal darstellen: Der Sport bleibt unablösbar an eine bestimmte Handlungspraxis in Raum und Zeit gebunden; er spielt sich in einzigartigen Momenten der Le-
1
Siehe z.B. Pierre Frayssinet, Le sport parmi les beaux-arts, Brüssel 1968; Hans Lenk, Die achte Kunst, Osnabrück, Zürich 1985; Ommo Grupe, Sport als Kultur, Osnabrück/Zürich 1987.
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benszeit von Individuen an besonderen Orten ab. Er drückt nichts aus, sondern lebt in einem momenthaften Tun; seine Faszination liegt in der Einzigartigkeit einer athletischen Tat: Der Sprung von Bob Beamon bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico, mit dem er den Weltrekord um einen halben Meter übertraf, ist unwiederholbar; seine Perfektion ist absolut rätselhaft; das einzige, was von ihm in praxi reproduzierbar ist, ist sein im metrischen System ausgedrücktes Resultat: 8,90 Meter. Eine sportliche Handlung ist ein konkretes praktisches Handeln in Form eines künstlichen, von Menschen erdachten Gebildes: eine kulturelle Form. Mit dieser Eigenschaft besitzt sie trotz aller Gegenständlichkeit, trotz des Ausgeliefertseins an Situation und Umstände, das Merkmal der Kreativität – sie modelliert eine gegebene Praxis. Nach Marcel Mauss ist sie eine je schon sozial geformte Praxis, die er als »technique du corps«,2 als Körpertechnik bezeichnet, die den Körper als Instrument behandelt. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Aus der Körpertechnik des Springens, die zu den gewöhnlichen Bewegungsweisen menschlicher Praxis gehört, bildet der Sport eine Handlungsform, die sich bestimmten, selbst gesetzten Regeln unterwirft. Sie ist nun, als sportliche Handlung, eine künstlich umgebildete Körpertechnik. Zu dieser gehören konstitutiv Anlauf, Absprung vom Balken und Landung in der Sprunggrube.3 Was die Körpertechniken des Sports von zweckgerichteten Handlungen (alltäglichen Körpertechniken) unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie zwar Teil einer (sportlichen) Praxis, zugleich aber auch die Darstellung einer (ursprünglich alltäglichen) Körpertechnik ist. Ihre präsentative Eigenschaft ist der Grund für die Ähnlichkeit des Sports mit der Kunst.4 Mit den folgenden Ausführungen soll der Prozess umrissen werden, in dem der Sport zu einem autonomen Handlungsfeld ausgebildet wurde. Er ist dadurch entstanden, dass eine Reihe von Körpertechniken der sozialen Alltagspraxis zu einem System kodifizierter athletischer Gesten umgeformt
2
Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt/Berlin/Wien 1978, S. 19-220.
3
Vgl. meine Argumentation im Lexikonartikel »Sport« in: Thomas A. Sebeok (Hg.), Encyclopedic Dictionary of Semiotics, Bd. 1, Berlin/New York 1986, S. 305-308.
4
Zum Begriff der Mimesis vgl. Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft, Reinbek 1992.
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worden ist. Die Gesten des Sports sind so etwas wie Bewegungsbilder;5 man kann sie wiedererkennen wie Zeichen. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen Gesten und konventionellen Zeichen der Sprache: In der Sprache gibt es Zeichen mit Standardgebräuchen schon, bevor ich ein Wort verwende. Ich wähle aus dem zur Verfügung stehenden Repertoire ein für meine kommunikative Absicht passendes Zeichen aus. Bei sportlichen Gesten verhält es sich etwas anders: Sie werden spontan unter wesentlicher Beteiligung des Körpers ausgeführt. Zwar spricht man von einem »Gestenrepertoire«, aber diese Sprechweise entsteht eben daraus, dass man von vornherein Gesten analog zu sprachlichen Zeichen interpretiert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass das Gestensystem des Sports anders funktioniert als ein sprachliches Zeichensystem. Die Produktion von sportlichen Gesten ist an den Körper des Athleten gebunden. Ihre Gestaltung, ihr Tempo und ihre Intensität werden nicht zuletzt von dessen spezifischer Motorik bestimmt. Sie sind schöpferisch der jeweiligen Situation angepasst; zugleich sind sie wiedererkennbar. Ihre Spontaneität und Produktivität folgt, innerhalb einer bestimmten Bandbreite, kulturell vorgeprägten Mustern; allerdings gleicht keine Realisierung einer Geste einer anderen. Die unterschiedliche Genese von Sport und Kunst lässt uns erkennen, was beide voneinander trennt und welches die Spezifik beider Bereiche ist. Statt eine systematische Gegenüberstellung vorzunehmen, werde ich das Prinzip, d.h. den Grund und Ursprung, ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit zu erfassen versuchen: Was macht die Besonderheit des Sports im Vergleich zur Kunst aus? In welcher Hinsicht entwickelt sich der Sport anders als die Kunst? Um diese Fragen zu beantworten, gehe ich auf den historischen Moment zurück, in dem die Ästhetik und der Sport als relativ eigene Bereiche aus einer ursprünglichen Einheit heraustreten. In der griechischen Antike verliert der Sport sein ursprüngliches Ansehen und seine überragende Stellung genau zu jener Zeit, in der der Bereich der Ästhetik im Sinne eines abgetrennten Sonderbereichs der Künste entsteht. Dieser Bedeutungsverlust ist eng mit der Entwicklung der Katego-
5
Vgl. Gunter Gebauer, Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009, S. 77-81.
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rie der Person verknüpft.6 Im Verlaufe der 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderte wird der Personenbegriff grundlegend umgebaut: Während in den älteren Jahrhunderten der Person noch nicht eine innere Dimension der individuellen Verantwortung und des Gewissens zugeschrieben wurde, kommt es während dieses Zeitraums unter dem Eindruck neuer religiöser Bewegungen, insbesondere von Mysterienkulten und Sekten, zur Bildung von Erfahrungsweisen, die sich unmittelbar an ein Inneres der Person richten, und zur Entstehung der Vorstellung eines im Menschen stattfindenden Seelenlebens. Es gab zwar schon vorher die Auffassung von einer Seele, aber diese wurde noch nicht als eine Art selbständige Entität angesehen. In dieser Zeit nun konstituiert die psyché einen »ersten Rahmen, der es der inneren Welt ermöglicht, sich zu objektivieren und Gestalt zu gewinnen«:7 Sie wird zu einem autonomen Bestandteil der Person, der progressiv die Strukturen des Selbst aufbaut. Der Prozess, in dem die Seele ›entsteht‹, ist ein Vorgang einer leibseelischen Diversifizierung der Person in Richtung auf einen dualistischen Aufbau. Für den Körper hat er zur Folge, dass auch er als autonom, zugleich aber auch als unerheblich für den Begriff der Person angesehen wird. Sein Autonom-Werden ist nicht ausschließlich als ein nachteiliger Vorgang zu bewerten: Der Körper wird nicht einfach als schlechter Personenteil vernachlässigt – er wird von nun an als die Oberfläche des Menschen angesehen, unter der sich das befindet, auf das es wesentlich ankommt: die geistigen und psychischen Prozesse, das Denken, Fühlen, der religiöse Glaube – eine solche Oberfläche allerdings, die diese ›inneren‹ Vorgänge abbildet. Diese erste Formulierung des leibseelischen Dualismus ist der Endpunkt eines langen Prozesses, in dem die körperliche Gestalt des Menschen ursprünglich als Bild aufgefasst wurde, zuerst als Bild der Götter, später als Bild des Menschen.8 Werfen wir einen Blick zurück auf diese Entwicklung.
6
Meine Darstellung folgt insbesondere Jean-Pierre Vernant, Mythe et pensée chez les Grecs, Paris 1965. Eine weitere wichtige Abhandlung ist: Jean-Pierre Vernant, Religions, histoires, raisons, Paris 1979; darin insbesondere das Kapitel: Naissance d'images.
7 8
Vernant, Mythe et pensée chez les Grecs (Anm. 6), S. 369. Vernant spricht von einer »fortschreitenden Eroberung der Form« des menschlichen Körpers, ebd. S. 347. Der Begriff »Eroberung« bezieht sich auf die zunehmend realistische Wiedergabe der phänomenalen Wirklichkeit des Körpers.
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Nach der älteren Auffassung, vor der Entstehung des Konzepts der psyché, wurde das Göttliche körperlich, als vollkommene Menschengestalt vorgestellt. Umgekehrt galt die körperliche Vollkommenheit menschlicher Personen als ein Zug des Göttlichen. Da die Vorstellungen der (als unsichtbar gedachten) Götter nach dem Bild der menschlichen Erscheinung geformt wurden, ist es nicht verwunderlich, dass für die sinnliche Ausgestaltung der olympischen Religion die besonders hoch bewerteten körperlichen Merkmale von Olympiasiegern zum Vorbild genommen wurden. Das Bild der Götter wurde nach dem Bild der Besten im Sport entworfen. Die Religion erhielt so die Züge des Athletischen; umgekehrt nahmen die Athleten Züge des Göttlichen an. Die Ästhetik der Sportler, ihre Jugend, Kraft, Schnelligkeit, Gewandtheit, Schönheit, gestaltete die Religion und wurde im Gegenzug selbst mit religiösen Zügen ausgestattet. Die athletischen Leistungen und Siege wurden als eine Art Fortsetzung der von Göttern vollbrachten Handlungen angesehen. Den herausragenden Athleten wurde Teilhabe am Göttlichen zugesprochen; sie erhielten den Status von Heroen mit einer Zwischenstellung zwischen Göttern und Menschen. Der ästhetische Charakter des olympischen Sports lag in dieser früheren Zeit darin, dass die Athleten als schön angesehen wurden. Der Leib des Siegers als Bild aufgefasst, erhielt seinen Wert dadurch, dass er das Göttliche repräsentierte. Als Bild einer anderen, einer unsterblichen Welt hatte der Athlet Zugang zur Ästhetik – nicht aus sich heraus, sondern aufgrund seiner Qualität als Abbildung des Religiösen. Diese Bilder wurden im Laufe der Entwicklung Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit; ihnen wandten sich die Künstler, die Bildhauer zu und ›eroberten‹ sich die Form des menschlichen Leibes in der Darstellung und Wahrnehmung. Die technische Entwicklung der Bildhauerei richtete sich zunehmend darauf, eine neue künstlerische Sprache der Plastik zu finden, die der Körperdarstellung immer mehr Wert an sich selbst gab und spezifische Merkmale der plastischen Kunst hervorbrachte. Ohne Bezug auf die Götter verlor der reale Athletenkörper seinen religiösen Wert; aber nicht nur er, auch seine Bühne, der sportliche Agon, wurde immer weniger mit der überirdischen Welt der Götter verknüpft; er wurde hingegen verstärkt als Selbst-Repräsentation der jeweiligen Polis des Siegers wahrgenommen.9
9
Die Feststellung des Verlusts der religiösen Ausdrucksdimension enthält nicht die implizite Behauptung, der Sport sei ursprünglich allein religiös gewesen
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Nach der Lockerung der Verbindung mit dem Religiösen blieben dem Sport zwar noch Symbole erhalten, aber er verlor seine besondere rituelle Bedeutung. Die Möglichkeit, die Abbildungsqualität des Körpers zu nutzen und ein eigenes Ausdruckssystem zu entwickeln, nahm hingegen die plastische Kunst wahr. Mit der Entstehung des Konzepts der psyché und des leibseelischen Dualismus’ in den 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderten – der Ausgangspunkt unserer Betrachtung – begann der olympische Sport auch sein Prestige einzubüßen. Gegenüber der Verinnerlichung des religiösen Glaubens und der menschlichen Werte wurden seine Gesten und sein repräsentativer Gehalt zunehmend bedeutungslos. Die Kultur der Mythen und Epen, die früher behauptete Ähnlichkeit der athletischen Sieger mit Heroen und Göttern, die körperliche Schönheit und athletische Tüchtigkeit – alles dies verlor die ursprüngliche Bedeutung. Die Platonische Philosophie ist das erste große Zeugnis dieses Kulturwandels. Die Bilder des Sports stehen nicht in Beziehung zu den als wesentlich angesehenen Seelenteilen; die Erzählungen der großen Taten der Athleten und ihrer Schönheit haben in der verinnerlichten und schriftlich gewordenen Kultur ihren zentralen Platz verloren. Der Sport verliert seinen Rang als wichtiges Kulturphänomen; er professionalisiert sich, verliert die Gunst der Philosophen, Ärzte und Staatsmänner. Gerade die frühere Verschränkung mit der Götterreligion macht, nachdem diese an Boden verloren hat, die Stellung des griechischen Sports problematisch. Was er vorher dargestellt hat, gehört nicht mehr zu den wirksamen Kräften der Kultur – andere Darstellungsgegenstände hat er sich nicht erobern können. Eine Modellierung von Alltagspraxis im Feld des Sports ist in der griechischen Gesellschaft, die von der Arbeit der Sklaven lebt, nicht denkbar. Sport wird in der außerordentlich reduzierten Form der Gymnastik empfohlen. So kann man sagen, dass der Gewinn der körperlichen Autonomie für den Sport auch einen Verlust, und zwar der ursprünglich religiös geprägten Ausdrucksdimension bedeutet, während dieselbe Entwicklung der Kunst ermöglicht, eine spezifische Ästhetik des Körpers zu entfalten. Bisher habe ich die Entwicklung des Sports zu einem autonomen Bereich als Verlustgeschichte beschrieben. Aber die Autonomie ist gewiss auch ein Gewinn. Dies lässt sich zeigen, indem man das Handlungssystem
oder sei kultischen Ursprungs. Es wird damit ausgedrückt, dass er im Kontext des religiösen Kults eine Repräsentationsfunktion besaß.
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des Sports mit seinen selbst-repräsentativen Symbolen unabhängig von religiösen Bedeutungen beschreibt. Sportliche Handlungen sind körperliche Gesten eines rituellen Gebrauchs des Körpers, der älter ist als die Kunst. Insofern als sie auf Andere gerichtet sind und diese auf sie reagieren, als Mitspieler, Gegner oder Zuschauer, konstituieren sie ein reziprokes, kommunikatives Verhältnis zwischen den am Sport beteiligten Personen. In diesem Dialog zwischen den Spielpartnern werden keine gesprochenen Botschaften ausgetauscht; der Körper teilt sich mit seinen Bewegungen unmittelbar mit. Als Merkmal gestischer Kommunikation ist insbesondere der Rhythmus zu nennen, wobei dieser ganz konkret als Strukturierung des Handlungsraums und der Handlungszeit durch körperliche Bewegungen verstanden wird. Der ganze Körper wird zu einem Instrument, ähnlich wie ein Musikinstrument, das in Schwingungen gebracht wird und Resonanzen erzeugt.10 Was dabei geschieht, kann man mit einem Vergleich zwischen dem Sport und der oralen Poesie schriftloser Kulturen darstellen.11 Dichtung dieser Art existiert nicht anders als in Aufführungen und im Gedächtnis der Erzähler und Sänger. Die einzelne Darbietung erzeugt jedes Mal von neuem ein Original, das anderen Vorführungen zumeist sehr ähnlich, mit diesen aber nicht identisch ist. Sie ist eine Wiedererzeugung, eine erneute Verwirklichung früherer Ereignisse mit je eigenem Charakter. Die meist außerordentlich umfangreiche und detaillierte Poesie wird mit Hilfe eines kollektiven Gedächtnisses, das über Körperprozesse funktioniert, behalten und tradiert. Die orale Poesie ist einverleibt; eine wesentliche Komponente des Erlernens, Behaltens und Reproduzierens ist der Körperrhythmus. Der ganze Körper des Vortragenden ist in rhythmischer Bewegung; diese gliedert den Fluss der gesprochenen Worte.12 Der Sprechrhythmus wird strukturiert, oft in Abhängigkeit von der Bewegung bestimmter Körperteile. Neben der Artikulation des Mundes sind dies vor allem die Gestikulation der
10 Vgl. Marcel Jousse, L' anthropologie du geste, Paris 1974. 11 Ich beziehe mich insbesondere auf folgende Arbeiten: Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987; Eric A. Havelock, The Literate Revolution in Greece and its Cultural Concequences, Princeton 1982; Jack Goody, The Logic of Writing and the Organization of Society, Cambridge 1986; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 12 Vgl. Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge/Mass. 1963.
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Arme und die fortschreitende rhythmische Bewegung der Füße, das Stampfen, Schreiten, Springen, Drehen. Diese performative Seite der menschlichen Kooperation und Kommunikation wird im Sport aufbewahrt – als ein Gedächtnis archaischer Gesten ohne Worte. Gesten im Sport sind kodifizierte Körpertätigkeit, die etwas zeigt und als einen wichtigen, nicht-verbalisierten Beitrag des Körpers vorführt. Die Schrift kodifiziert und konserviert in ihren Buchstaben die Lautproduktion der Stimme; der Sport bewahrt in seinen Gesten die Bewegung des Körpers mit ihren Rhythmen auf. Der Sport ist, wie die orale Poesie, eine »preserved communication« (Havelock), eine aufbewahrte Kommunikation. Er stellt einen anderen Weg der Aufbewahrung kultureller Elemente dar als die Poesie, einen alternativen Modus des Behaltens. An eine Reihe von Bewegungen könnte man sich nicht mehr erinnern, wenn sie nicht im Sport aufgeführt würden; sie würden verschwunden sein und mit ihnen alles, was sie in uns hervorrufen. Die Aufführung sportlicher Gesten holt etwas in die Gegenwart zurück, was schon einmal da war und nie vollständig verschwunden ist, weil es in den Köpern der Subjekte lebendig bleibt. Es sind sprachlose Vorstellungen, Körpergefühle und ein vorbewusstes Wissen des Körpers, die, ohne jemals formuliert zu werden, über lange Zeiträume, auch über viele Generationen hinweg, in inkorporierter Weise existieren. Durch leibliche Bewegungen können so intensive Gefühle wachgerufen werden, dass mit ihnen schlagartig auch andere Erinnerungen wieder auftauchen (wie in der Erfahrung des wackelnden Pflastersteins von San Marco, die Marcel Proust in der ›Wiedergefundenen Zeit‹ beschreibt). Das willkürliche Hervorrufen von lustvollen Emotionen, das Vergegenwärtigen und Intensivieren von Gefühlen ist eine der ergiebigsten Quellen des Vergnügens am Sport. In den Bewegungen des Sports werden die Erinnerungen an archaische Gesten nie direkt, sondern in kulturell geformten Bewegungsweisen transportiert. Die Organisation dieser Gesten ist sozial; sie ist von Gesellschaft zu Gesellschaft, von einer sozialen Schicht zur anderen, bei Männern und bei Frauen unterschiedlich. Sie verändert sich historisch; es haben sich bestimmte Typen von Gesten im Laufe der Geschichte herausgebildet. Eine Reihe von ihnen haben dauerhaften Erfolg, andere veralten und werden durch neue abgelöst. Eine historische Anthropologie der Gesten des Sports kann ihre sozialen Bedeutungen freilegen und ihre Herkunftskontexte aufzeigen.
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Auf den ersten Blick scheint es so etwas wie den Wettlauf, beispielsweise über die 100m-Strecke, in jeder Kultur zu geben. Aber wenn man den sportlichen Lauf, den unsere Kultur von den Griechen übernommen hat, genauer betrachtet, entsteht ein anderes Bild. Er hat mit einer Verfolgungsjagd nach einer abfahrenden Straßenbahn oder einem davonlaufenden Dieb keine Verwandtschaft, sondern er ist eine kulturelle Form, die von einer sehr genau bestimmten Wettkampfordnung eingefasst ist. Charakteristisch für diese sind der Start der Läufer auf ein Kommando von einer Linie und deren Eintreffen auf einer zweiten Linie, dem Ziel. Der Lauf ist eine Konkurrenz zwischen Wettkämpfern: Wer als erster im Ziel eintrifft, ist der Erste von allen; er ist der Auserwählte, der Höchste im Stadion. Im antiken Olympia entzündete der Sieger des Stadionlaufs das Feuer des Zeusaltars;13 er war der nächste zum Gott; er machte den Gott sichtbar: Dies ist seine symbolische Bedeutung, sie gab ihm Größe und sicherte ihm ein ewiges Gedächtnis.14 Der Mythos des Ersten im Stadionlauf wurde in der Moderne wiederbelebt durch die für die industrielle Zivilisation typischen Erzählweisen – er tritt hier als ›schnellster Mann der Welt‹ auf. Man kann sich lustig machen über die Zufälle, die dabei eine Rolle spielen (warum 100 Meter und nicht 100 Yards oder 200 Meter?). Auf die Umstände des Sieges kommt es jedoch nicht im Geringsten an, sondern nur auf die bildliche Geste, die den Ersten als Heroen, als Repräsentanten des Göttlichen zeigt. Von der Kraft des kulturellen Gedächtnisses zeugt die Tatsache, dass die Mythologie der athletischen Bewegungen in den Jahrhunderten nach Beendigung der Olympischen Spiele (im Jahre 382 n. Chr.) nie verlorengegangen ist und nach mehr als 1500 Jahren wiederbelebt werden konnte. In diesem ganzen langen Zwischenraum lebte sie ausschließlich in bildlichen Darstellungen und anschaulichen Erzählungen weiter. In den modernen Olympischen Spielen finden sie keinen kultischen Rahmen wie in der Antike vor; nach dem Willen ihres Wiederbegründers Pierre de Coubertin erhielten die Spiele aber eine quasi-sakrale Bedeutung als Feier einer religio
13 Vgl. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1972. 14 Die Sieger bei den Olympischen Spielen wurden in Listen eingetragen. Der Erste im Stadionlauf ist seit Beginn der Spiele (oder der Eintragungen) im Jahre 776 v. Chr. bekannt.
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athletae. Mit diesem Kult, der kein Götterglauben mehr ist, wird erneut ein Grund für die Mythologisierung des Ersten, des Olympiasiegers geschaffen. Neben dem Präsentmachen des Göttlichen hat auch ein zweites antikes Element ein Nachleben in den modernen Spielen. In der Antike hatten athletische Bewegungen einen aristokratischen Charakter.15 Auch diesen fordert der Baron de Coubertin für die Moderne; der Adel sollte nicht durch Geburt, sondern durch die Auswahl der Teilnehmer und die Qualität der Bewegungen gewährleistet werden: keine Professionellen, keine Frauen, keine Kollektivsportarten. Aristokratische Bewegungen waren in der Antike ein Merkmal des Kriegeradels – sie drücken sich in Gesten der Macht aus; sie verlangen eine hohe Qualität der Ausführung, Grazie und das Treffen des günstigen Moments, kairós. In der Moderne gibt es ebenso wie in der Antike eine untergründige Verwandtschaft der Athletik mit kriegerischen Bewegungen; sie rufen eine Erinnerung an Grausamkeit und symbolisches Töten hervor. Dies lässt sich an dem neben dem Zieleinlauf zweiten wichtigen Moment des Laufens erkennen, dem Verfolgen und Einholen, der die Dramatik des Langstreckenlaufs kennzeichnet. Dabei handelt es sich nicht um Szenen der Verfolgung wie bei einer Jagd – ein Jäger lauert dem Wild auf und erlegt es aus seinem Versteck. Es muss eine andere Art der Erinnerung sein, die in dieser sportlichen Geste weiterlebt. Das Verfolgen im Lauf geschieht ohne Waffe, der Verfolger selbst ist die Waffe; sie ist gegen den anderen Menschen gerichtet, der vorwegläuft. Der Verfolger läuft in seinem Rücken, fliegt an ihn heran wie ein Geschoss; der Führende verlangsamt seine Schritte, er tritt auf der Stelle. Die Zuschauer haben eine sehr lebendige Vorstellung von der Grausamkeit dieses Geschehens; sie weiden sich am Entsetzen des Unterlegenen, der keine Chance der Gegenwehr mehr hat, wenn er ›überlaufen‹ worden ist. Typische Gesten der ›heroischen‹ Athletik, die in der Moderne weiterleben, sind das Schleudern (Diskus, Hammer), Stoßen, Überspringen von Hindernissen, der Niederwurf im Ringen. Schleudern ist die Geste des göttlichen Zorns; Stoßen hat herakleischen Charakter; es ist das Wegdrücken
15 Vgl. zu den aristokratischen Spielen der Antike Leslie Kurke, Coins, Bodies, Games, and Gold. The Politics of Meaning in Archaic Greece, Princeton 1999, insbesondere der Abschnitt »Aristocratic Games: Embodiment, Chance, and Ordeal«, S. 275-295.
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eines Gewichts, einer übermenschlichen Aufgabe; Springen ist die Tat von gewitzten, listigen Kriegern, die durch Geschmeidigkeit bestechen. Dem Niederwurf geht das Hochheben des Gegners vorher, der den festen Stand, die Berührung mit der Erde und damit seine Macht verliert. Bei allen athletischen Gesten geht es um Kraft, Geschmeidigkeit und die Feinheit der Bewegungsausführung; sie erscheinen als bildliche Gesten mit kriegerischem Charakter, aber sie sind eben nicht Krieg, sondern Bilder. Die antike Athletik spielt nicht einfach die Schrecken des Machtverlusts und die Grausamkeit der Kriege nach, sondern sie macht diese, insofern sie diese im Modus des Spiels darstellt und »apollinisch« formt (Nietzsche), anschaubar und erträglich. Sie bannt den Horror und wendet diesen um in den Lobpreis der Kämpfer und ihrer aristokratischen Tugenden. Bewegungen des Sports organisieren ein »deep play«, aber in einem etwas anderen Sinn als in dem von dem Erfinder dieses Worts Clifford Geertz gemeinten.16 Nach Aby Warburgs Vermutung zeigen sie, dass der Sport als eine Form der Sublimierung, als eine »Katharsis jener von ihm aufgespürten Impulse betrachtet werden« kann.17 In diesem Aufsatz sind einige Vermutungen vorgebracht worden, dass es eine Verknüpfung des Sports »mit dem dunklen Urgrund kultureller Vergangenheit« gibt. Warburg hat das Projekt einer »historischen Anthropologie der Gesten« skizziert; ihre Aufgabe soll die Untersuchung »der technischen und symbolischen Beschaffenheit der körperlichen Gesten in einer gegebenen Kultur« sein. Die im kulturellen Gedächtnis aufbewahrten Gesten des Sports transportieren »ein physisches und affektives Bewegtsein (atteinte) des menschlichen Körpers«.18 Meine Bemerkungen laufen darauf hinaus, die historische Anthropologie mit Warburgs Mnemosyne-Projekt zu verbinden: Man kann in den Bewegungen des Sports das Nachleben von Bildern erkennen; von ihnen werden Emotionen und Mythologien wachgerufen, die eine in der europäischen Kultur lebendige Wirkung haben.
16 Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, bes. S. 202 ff. 17 Vgl. Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1981, S. 399. 18 Georges Didi-Huberman, L’image survivante. Histoire de l’art et temps des phantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 255 (eigene Übersetzung).
Gesten des Denkens Vilém Flussers ›Theorie der Gesten‹ als Medienphilosophie K ATERINA K RTILOVA »Strenggenommen kann man nicht denken, ehe man Gesten macht.« VILÉM FLUSSER
1. Die Geste des Suchens Vilém Flussers Medientheorie – programmatisch in seiner Kommunikologie entwickelt – und seine Theorie der Gesten scheinen auf den ersten Blick ganz andere Ausgangspunkte zu haben. Die Kommunikologie fügt sich in den Kontext von Kommunikations-, Medien- bzw. Informationstheorien der 60er und 70er Jahre und kann als ein Versuch gelesen werden, das aktuelle Thema der ›Kommunikationsrevolution‹ theoretisch zu erfassen, also Kommunikationsprozesse und -strukturen zu beschreiben und zu klassifizieren, verbunden mit Flussers Engagement an der »Fakultät für Kommunikation und Humanities«1 in São Paulo. Gleichzeitig zeichnet sich seine Herangehensweise durch eine Distanzierung vom akademischen Diskurs aus: In seiner Autobiografie gesteht Flusser einen »instinktiven Widerwil-
1 Vilém Flusser, Kommunikologie, Frankfurt am Main 1998, S. 238.
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len« gegen die akademische Philosophie, die er auch als »technische[s] Philosophieren« bezeichnet.2 Die »Theorie der Gesten« wird zwar im einleitenden Kapitel und Anhang der Gesten3 programmatisch zusammengefasst, ansonsten besteht das Buch aber aus teilweise bereits veröffentlichten, lose verbundenen Essays, die ähnlich wie die »phänomenologischen Skizzen« zu Dingen und »Undingen«4 konzipiert sind – also weit entfernt von einer ›Theorie‹. Die »Theorie der Gesten« ist eher ein Zusatz zu den Beschreibungen verschiedener Gesten, die bereits einen wichtigen Bestandteil der Texte zur Schrift (Die Schrift, Lob der Oberflächlichkeit) und der Fotografie (Für eine Philosophie der Fotografie) bilden und es scheint eher befremdlich, wenn die Theorie der Gesten ebenso wie die Kommunikologie neue Grundlagen der Kulturwissenschaften (bzw. der Humanities) schaffen sollen: Das immer wieder neu angesetzte Beschreiben der Gesten ist kaum mit einer systematischen, kybernetisch inspirierten Theorie der Kommunikation vereinbar. Und doch scheinen sich beide Ansätze in ihrer Unvereinbarkeit zu ergänzen – jenseits sowohl einer traditionell verstandenen Medientheorie, als auch einer (phänomenologisch orientierten) Philosophie. Als Theorie können Flussers Gesten kaum Verwendung finden – ebensowenig aber seine Medien- bzw. Kommunikationstheorie. Nicht nur weil die Bestimmungen der Geste in den Beschreibungen unterschiedlicher Gesten nicht einheitlich sind, sondern vor allem weil die philosophische Frage der Geste im Mittelpunkt steht: die Frage eines Denkens der Gesten, das weder als eine ›Methode‹, noch durch einen ›Gegenstandsbereich‹ festgelegt werden kann. 2 Vilém Flusser, Bodenlos, Düsseldorf 1992, S. 49. Formal drückt sich dieser Widerwille in der Missachtung von Zitierkonventionen zugunsten einer philosophisch-essayistischen Schreibweise aus. Bezeichnend ist auch die Bemerkung zu seiner Lehrtätigkeit: es sei »ziemlich gleichgültig [gewesen], worüber ich vortrug«, »Wichtiger war, dass der Vortrag die Wirkung einer Subversion des Denkens haben sollte.« Ebd., S. 222. 3
Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt am Main 1997.
4
Vilém Flusser, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München u. Wien 1993.
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Diese Frage setzt bei der »Geste des Suchens« an, »[...] bei der man vorher nicht weiß, was man sucht, diese tastende Geste, die ›wissenschaftliche Methode‹ genannt wird, [ist] das Paradigma aller unserer Gesten.«5 Das heißt, wenn sich unsere Gesten ändern, dann deshalb »[...] weil die Geste des Suchens im Begriff steht, sich zu verändern.«6 Diese Frage der Veränderung der ›wissenschaftlichen Methode‹ verbindet die Gesten und die Kommunikologie (und auch weitere medientheoretisch orientierte Texte Flussers zur Schrift und technischen Bildern) als Krise des wissenschaftlichen Denkens, das Flusser als ›schriftliches‹, ›lineares‹ oder auch ›geschichtliches‹ untersucht.7 Die Gesten lassen allerdings erst den Bezug zu Edmund Husserls Phänomenologie und ihrer Umwandlung bei Martin Heidegger herstellen. Damit gelingt die Verbindung der medien- und kulturtheoretischen (bzw. auch medien- und kulturhistorischen) Fragestellung nach der Entwicklung und Verwendung der Schrift und verschiedener Arten von Bildern mit der philosophischen Frage nach einer »[...] völlig neuen Methode, die sie [die Philosophie] von jeder ›natürlichen‹ Wissenschaft prinzipiell unterscheidet [...]«8 bei Husserl sowie der Trennung von Denken und Wissenschaft bei Heidegger.9 5
Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 200.
6
Ebd., S. 199.
7
Zur keineswegs ›nur‹ rhetorisch hergestellten Verbindung des ›schriftlichen‹ und ›geschichtlichen‹ Denkens s. Christoph Ernst, Revolutionssemantik und die Theorie der Medien – Zur rhetorischen Figuration der ›digitalen Revolution‹ bei Niklas Luhmann und Vilém Flusser, in: Sven Grampp u.a. (Hg.), Revolutionsmedien/Medienrevolutionen, Konstanz 2008; ders., Essayistische Medienreflexion. Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien, Bielefeld 2005.
8
Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Hamburg 1986, S. 24. Im Encyclopaedia Britannica-Artikel heißt es dann programmatisch: »[...] neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.« Ders., Der Encyclopaedia Britannica-Artikel, in: Ders., Phänomenologische Psychologie, Husserliana Band IX, Den Haag 1962, S. 237-301, hier S. 277.
9
Martin Heidegger, Was heißt Denken? (1952), in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe Bd.7, Frankfurt am Main 2000, S. 129-143.
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Diese Verbindung ist jedoch nicht ohne den Bruch oder Sprung zwischen dem wissenschaftlich-schriftlichen Denken einerseits und einer »Philosophie der neuen Zeit«10 andererseits herzustellen: es geht nicht nur darum, Anderes zu denken (›Kommunikation‹ oder ›Medien‹), sondern anders zu denken. Während Flusser in seinen medientheoretisch ausgerichteten Texten immer wieder den »Umbruch in der Struktur des Denkens«11 durch rhetorische Kurzschlüsse – z.B. durch Erklärungen oder besser Erzählungen historischer Umbrüche – verdeckt, widersetzen sich die Gesten dem Programm oder gar der ›Programmierung‹ einer neuen Philosophie oder Theorie. Wie Flusser selbst bemerkt: diese Philosophie »[...] entsteht von selbst. Nicht nur, weil sich die Themen ändern, sondern weil sich die Methode des Denkens verändert.«12 Diese ›Methode‹ ergibt sich aus den Verschiebungen in der Geste des Suchens, die untrennbar mit bestimmten (Kultur-) Techniken, Praktiken, ›Codes‹ verknüpft ist. Es geht also nicht um eine neue wissenschaftliche Philosophie, die ein selbstbewusstes Subjekt und ein Objekt ›da draußen‹ voraussetzt, sondern ein Denken, das dem Setzen sozusagen zuvorkommt. Eine solche Philosophie/Theorie ist natürlich schwer zu greifen. Die Widersprüche und Ungereimtheiten in und zwischen Flussers Texten sind aber gerade deshalb kein Hindernis, sondern der Ausgangspunkt einer medienphilosophischen Interpretation. Gerade die Brüche mit den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses, das Verschmelzen von Begriff und Metapher, die Gesten des Schreibens ermöglichen überhaupt erst, die Theorie der Gesten medienphilosophisch zu verstehen. Medienphilosophie erlaubt eine solche Vorgehensweise, insofern sie sich von einer ›setzenden‹ Medientheorie unterscheidet: ausgehend vom ›ersten medientheoretischen Axiom‹ »[...] dass es keine Medien gibt [...]«13 über die Unmöglichkeit der Medienwissenschaft als Disziplin oder gar als
10Vilém Flusser, Gespräch mit Florian Rötzer, in: Nils Röller und Silvia Wagnermaier (Hg.), absolute Flusser, Freiburg 2003, S. 7-21, hier S. 7. 11 Vilém Flusser, Zwiegespräche. Interviews 1967 - 1991, Berlin 1996, S. 86. 12 Ebd. 13 Lorenz Engell u. Joseph Vogl, Vorwort, in: Claus Pias u.a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999, S. 8-11, hier S. 10.
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Wissenschaft14 bis zur »negativen Medientheorie«.15 Medienphilosophie lässt sich mit Flusser in diesem Sinne als philosophischer und wissenschaftlicher und zuweilen auch künstlerischer oder dichterischer Grenzgang fassen, der durchaus Husserls Frage einer Neuorientierung der Wissenschaft – vom Geiste, vom Menschen oder der Kultur – durch eine neue Methode der philosophischen Reflexion aufgreift – sie aber ›negativ‹ stellt, ›dazwischen‹, quer zu den traditionellen Begriffen und Dichotomien. Flussers Medienphilosophie könnte als ›schurkische Meinung‹ im Sinne von Judith Butler wirksam werden, als »Wiederkehren des Infragestellens der Grenzen, die dem Fragbaren auferlegt sind.«16 In diesem Sinne kann seine Medienphilosophie kaum etwas zur aktuellen Medientheorie beisteuern und ebenso wenig zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit philosophischen Begriffen und Autoren wie Husserl oder Heidegger, und doch könnte sein Ansatz – mit allen Brechungen – zu einer nicht gegenstandsorientierten Medientheorie/Medienphilosophie beitragen, die trotzdem die Welt wieder ›scheinen‹ oder »[...] im Glanz der konkreten Phänomene [...]« leuchten lässt.17
2. Die Geste des Schreibens »Niemand kann die Letternfolge einer Schreibmaschinentastatur denken oder interpretieren.«18 Medienwissenschaft könnte sich in Kittlers Zugang kaum weiter von der Phänomenologie Husserls entfernen: es geht nicht nur darum, dass der Schreibende sich der Letternfolge der Schreibmaschine nicht bewusst ist – obwohl er durchaus seine Aufmerksamkeit darauf len 14 Claus Pias, Was waren Medien-Wissenschaften?, in: Ders. (Hg.), Was waren Medien?, Zürich 2011, S. 16. Vgl. Marcus S. Kleiner, Medien-Heterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie, Bielefeld 2006. 15 Dieter Mersch, Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ›negative‹ Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 75-96; ders., Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006. 16 Judith Butler, Kritik, Dissens, Disziplinarität, Zürich 2011, S. 38. 17 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 99. 18 Friedrich Kittler, Vorwort zu Aufschreibesysteme 1800/1900, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6 (1/2012), S. 117-126, hier S. 120.
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ken kann, wenn z.B. die Tastatur nicht funktioniert –, sondern ein NichtDenkbares, das auch das Denken (und sogar philosophisches Denken) mitbestimmt oder gar bestimmt. Den Bereich des Denkbaren, den die Phänomenologie methodisch klar abgrenzt (aber natürlich nicht als ein ›bloßes‹ Denken gegenüber einer ›Wirklichkeit‹), unterlaufen Kittlers Lettern, Schaltungen, Signale etc. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist gerade nicht der »[...] Ausschluss des Transzendenten überhaupt als einer hinzunehmenden Existenz [...]«, das Feld des »Apriori innerhalb der absoluten Selbstgegebenheit«,19 also die »Gegebenheit der cogitatio«.20 Phänomenologie und Medienwissenschaft können in dieser Hinsicht gegeneinander ausgespielt werden: »Magie und Technik kommen darin überein, dass das Anschreiben selber, auch ohne das Akterlebnis und Sinnbeseelung, schon das Tun ist.« Und die neuzeitliche Mathematik ist »seit 1936 dahin gelangt, das, was ist, erscheinen zu machen. Dafür hat sie das Opfer gebracht, keine ›im Leisten vergemeinschaftete Intersubjektivität zu sein‹,21 sondern Halbleiterarchitektur.«22 Flussers phänomenologisch orientierte Beschreibung der »Geste des Schreibens«, die als »wichtigste Geste allen Fädelns«23 den wissenschaftlichen Diskurs (mit)bestimmt, wird ebenfalls durch das Schreiben auf der Schreibmaschine unterbrochen: »Der erste Typ [Tasten der Schreibmaschinenklaviatur], zum Beispiel » oder ?, ist bislang bewusst nicht angesprochen worden. Es handelt sich um Symbole, welche
19 Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Anm. 8), S. 9. 20 Ebd., S. 10. »[D]as schauende Bewusstsein, das sind – abgesehen von der Aufmerksamkeit – so und so geformte Denkakte, und die Sachen, die nicht Denkakte sind, sind doch in ihnen konstituiert, kommen in ihnen zur Gegebenheit; und wesentlich nur so konstituiert zeigen sie sich als das, was sie sind.« (Ebd., S. 72). 21 Eingeschlossenes Zitat: Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Den Haag 1976, S. 170. 22 Friedrich Kittler, Phänomenologie versus Medienwissenschaft, http://hydra. humanities.uci.edu/kittler/istambul.html (22. 8. 2013). 23 Vilém Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Mannheim 1995, S. 24.
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die Geste des Schreibens selbst bedeuten. ... Im menschlichen Gedächtnis ist der erste Typ von Schriftzeichen wahrscheinlich ungeordnet. Jedenfalls ist nicht einzusehen, wie dort etwa die Zeichen ... oder * lagern.«24
Die phänomenologische Methode trifft hier zwar nicht auf die ›Halbleiterarchitektur‹ – es geht schließlich um eine Schreibmaschine –, aber trotzdem an ihre Grenzen, genauer auf Anführungszeichen, die sich dagegen sperren in ›Anführungszeichen‹ im Sinne Husserls gesetzt zu werden (also bloß metaphorische Anführungszeichen). Husserl denkt »Anführungszeichen« natürlich nicht im Sinne dieser Anführungszeichen »»««, ihr ›Sinn‹ bzw. Nicht-Sinn entzieht sich der phänomenologischen ›Deskription‹, die keine Geste des Schreibens ist.25 Flusser kommt zu diesem Punkt aber gerade indem er Husserls ›Einklammerung‹ der natürlichen und der wissenschaftlichen Einstellung folgt, also dem Vorhaben »[...] die abstrahierenden Vorurteile aus der Beobachtung der konkreten Welt auszuklammern.«26 Denn diese »abstrahierenden Vorurteile» verstellen den Blick auf die Welt, verstellen den Zugang zu einer »Wirklichkeit, die wir sind und in der wir sind«.27 Gegenüber dieser Wirklichkeit wird die objektive durch eine bestimmte Einstellung des Subjekts gegenüber der Welt gesetzt und vorausgesetzt. Durch die ›Einklammerung‹ werden alle diese transzendenten Setzungen außer Kraft gesetzt und geben den Blick frei auf die Sphäre der bereits erwähnten »absoluten Selbstgegebenheit« (Anm. 19) – Flusser sieht aber zunächst nur Anführungszeichen.
24 Ebd., S. 28. 25 Mit Husserls ›Deskription‹ setzt sich die Monografie von Julia Jonas, Der phänomenologische Text. Eine Studie, Würzburg 2004, auseinander – d.h. nicht nur mit der programmatischen Thematisierung der deskriptiven Methode bei Husserl, sondern sozusagen des phänomenologischen Schreibens selbst. Anders als bei ihr steht im vorliegenden Text aber die Verschiebung oder Verwandlung der phänomenologischen Methode im Vordergrund, aus der sich erst die Perspektive des ›phänomenologischen Textes‹ erschließt. 26 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 96. 27 Ebd., S. 204.
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Anführungszeichen als ›operative‹ Schriftzeichen,28 die durch eine ›Einklammerung‹ höchstens in ›Emoticons‹ :) umgewandelt werden können. ») ...* werden im Rahmen eines bestimmten Zeichensystems, und aus Sicht des Schreibens im Rahmen einer Kulturtechnik gesetzt – und das ›ist schon das Tun‹, wie es auch schon Jacques Derrida in der Veränderung der Rechtschreibung von différence gezeigt hat.29 (Im zitierten Satz will Kittler aber mit der Letternfolge zeigen, dass Derrida noch zu sehr dem logozentrischen, ›schriftlichen‹ Denken verhaftet bleibt und die Schreibmaschine nicht bedenkt bzw. als nicht denkbar ausschließt). Wenn ein beliebiger Teil dieser Sätze in Anführungszeichen oder Klammern gesetzt wird, verändert sich unwillkürlich der Sinn (gravierende Folgen hätte auch das Weglassen von Anführungszeichen). Die Geste des Schreibens nimmt für Flusser insofern »[...] eine Sonderstellung unter allen Denkgesten ein [...]«, als es »das ›offizielle Denken‹ des Abendlandes [ist], das sich in dieser Geste äußert. Die Geschichte beginnt strenggenommen mit dem Auftauchen der Geste des Schreibens, und das Abendland ist die Gesellschaft geworden, die durch Geschriebenes denkt. All das ist im Begriff, sich zu verändern.«30 Doch die entscheidende Veränderung ist nicht – wie Flussers ›informationstheoretischer‹ Ansatz nahelegt – dass neue ›Codes‹ (vor allem technische Bilder) ins Denken hereinbrechen oder gar Menschen das Denken immer mehr den Apparaten überlassen.31 Die wissenschaftliche Geste des Suchens verändert sich in und durch Gesten: das Denkbare wird einerseits durch ein Außen verändert, durch etwas, das nicht absolut gegeben ist (hier die Schrift), andererseits wird aber Anderes denkbar, weil sich das Denken verändert: Kittlers Letternfolge kann Denken verändern, wenn sie als nicht denkbare gedacht wird, nicht weil sie einfach da ist. Für einen Techniker oder einen transzendentalen 28 Vgl. Sybille Krämer, ›Operationsraum Schrift‹: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift, in: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 23-60. 29 Jacques Derrida, Die différance, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 31-56. 30 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 39. 31 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Berlin 1983, S. 30.
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Phänomenologen ändert eine Schreibmaschine gar nichts. Flussers Frage richtet sich daher nicht an die Schreibmaschine, sondern das Denken: was heißt dann ›denken‹? Den Hinweis gibt nicht zufällig die Geste des Schreibens: »Es ist falsch zu sagen, dass die Schrift das Denken fixiert. Schreiben ist eine Weise des Denkens. Es gibt kein Denken, das nicht durch eine Geste artikuliert würde. [...] Strenggenommen kann man nicht denken, ehe man Gesten macht. [...] Ungeschriebene Gedanken zu haben heißt eigentlich, nichts zu haben. [...] In der Geste des Schreibens ist das sogenannte stilistische Problem kein Zusatz, es ist das Problem schlechthin. Mein Stil ist die Art, wie ich schreibe, das heißt, er ist meine Geste des Schreibens.«32
Wenn sich die Geste des Suchens ändert, dann nicht (allein) durch die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Methode im Rahmen des wissenschaftlichen-schriftlichen Diskurses, sondern weil dieser Rahmen in und durch Gesten des Schreibens gesprengt wird – genau dann werden auch Gesten sichtbar. In seinem Buch Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? behandelt Flusser gleich im ersten Kapitel (»Überschrift«) die Schwierigkeit, »über die Schrift zu schreiben.«33 Denn dabei trifft das Nachdenken in Schrift auf das Nachdenken über Schrift. Ob man sich bemüht, hinter die Gedanken zu kommen, »[...] um diese zu ordnen [...]«, oder in »[...] Gegenrichtung des bereits Gedachten laufen zu lassen, um ihnen auf die Spur zu kommen [...]«34– man trifft immer auf die Schrift, die bereits Ordnung und Spur ist, man könnte auch sagen eine Ordnung vor-gibt und Spuren hinter-lässt. Wenn Flusser das Schriftzeichen als »Anführungszeichen aus dem mythischen in ein linear ausgerichtetes Denken« beschreibt, changieren die Anführungszeichen zwischen einer metaphorischen und wörtlichen bzw. schriftlichen Verwendung. »[...] Schriftzeichen sind Anführungszeichen zu logischem Denken. Das erkennt, wer Anführungszeichen im engeren Sinne betrachtet, nämlich Gänsefüßchen.«35 Im ›linearen‹ und logischen Diskurs 32 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 39. 33 Vilém Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 2002, S. 9. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 10.
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kann über Gedanken nachgedacht werden im Sinne eines ›Ordnens‹ (in der Logik oder der analytischen Philosophie), ebenso wie eines ›auf die Spur Kommens‹, das Husserl mit seinen ›Anführungszeichen‹ bis zum Äußersten treibt – einem ›Über-Denken‹ (der transzendentalen Reduktion). Das Bedenken dieses Denkens liegt jenseits der Präpositionen ›nach‹, ›hinter‹, ›vor‹ und ›über‹ – eher quer zum wissenschaftlichen Diskurs. Das Nachdenken über Schrift ist ein Nachdenken durch Schrift. Dies ist der Einsatz der Gesten des Denkens.
3. Die Geste des Fotografierens Die Geste »›objektiver‹ Beobachtung«36 verändert sich. Um diese ›objektive Beobachtung‹ beobachten zu können, setzt Flusser nicht nur Anführungszeichen, sondern nimmt auch einen ›Einstellungswechsel‹ vor. Der Ausgangspunkt der phänomenologischen oder zumindest phänomenologisch inspirierten Reflexion ist ein Einstellungswechsel (»Ausschluss aller transzendenten Setzungen«)37 bei der Betrachtung des Fotografierens: »Was wir vor uns haben, ist eine schlecht definierte Situation.«38 – im Salon sitzt ein Mann und raucht Pfeife, um ihn herum bewegt sich ein Fotograf mit Fotoapparat. Flusser betrachtet diese Situation von verschiedenen Standpunkten aus – der Fotografie, des Fotografen, des Mannes, eines unbeteiligten Beobachters der Szene – und zieht dabei explizit Parallelen mit dem Philosophieren, der phänomenologischen Reflexion, also ausgehend von der Epoché, der eidetischen Variation und transzendentalen Reduktion. »[...] Der Akt des Fotografierens gleiche strukturell dem Akt des Philosophierens [...]«,39 fasst Lambert Wiesing Flussers These zusammen. Dieser Vergleich funktioniert jedoch nur als metaphorischer, also indem zwei ge 36 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 54. 37 Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Anm. 8), S. 5. 38 Vilém Flusser, Kleine Philosophie der fotografischen Geste, in: Ders., Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim 1995, S. 99-114, hier S. 100. 39 Lambert Wiesing, Edmund Husserl in der Medienphilosophie, in: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.), Philosophie in der Medientheorie, München 2008, S. 145-158, hier S. 148.
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trennte Bereiche durch eine Metapher verbunden werden, die Philosophie einerseits, die Fotografie andererseits. Flusser überschreitet allerdings diese Trennung: »Seitdem die Fotografie erfunden wurde, ist es möglich geworden, nicht bloß im Medium der Wörter, sondern auch der Fotografien zu philosophieren.«40 Das Philosophieren in Fotografien ist keine Metapher – und lässt sich als solches natürlich auch nicht mit Husserls Phänomenologie vereinbaren. Die Philosophie der fotografischen Geste behandelt die Verbindung von Philosophie und Fotografie, die nicht metaphorisch ist. »Zuerst erfinden wir die Fotografie als Werkzeug eines ›objektiven‹ Sehens und danach versuchen wir die Fotografie selbst durch das fotografische Sehen hindurch zu betrachten. Die beklemmende Herrschaft, die das Werkzeug auf unser Denken ausübt, findet auf vielen Ebenen statt, und einige darunter sind weniger offensichtlich als andere.«41
Die Geste des Fotografierens ist eine Geste objektiver Beobachtung. Die Beobachtung dieser objektiven Beobachtung führt zurück zum Problem der ›Überschrift‹: sie zeigt sich als unmöglich – von einem übergeordneten (transzendentalen) Standpunkt aus betrachtet, »[...] von irgendeinem metaphysischen Kran über den Salon gehievt [...]«.42 Denn die ›objektive‹ Beschreibung wird stets durch die Geste des Fotografierens gebrochen – und erst in den Brüchen oder Wendungen sichtbar-denkbar. Die Fotografie bestimmt das ›objektive Sehen‹ mit,43 ebenso wie die Fotografie durch das Denken der Objektivität oder der ›objektiven Einstellung‹ mitbestimmt wird. Es scheint, so leitet Flusser seine Kleine Philosophie der fotografischen Geste ein, als würden wir versuchen, die Gesten »[...] – wenngleich im metaphorischen Sinn – zu ›fotografieren‹.«44 40 Flusser, Kleine Philosophie (Anm. 38), S. 103. 41 Ebd., S. 99. 42 Ebd., S. 106. 43 Flusser beschränkt sich dabei aber auf eine systematische Untersuchung und lässt die historische Dimension beiseite, obwohl er sie in Bezug auf das Malen anspricht (Ders., Gesten (Anm. 3), S. 92f.). 44 Flusser, Kleine Philosophie (Anm. 38), S. 99.
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Wenn wir die skizzierte Szene objektiv-fotografisch betrachten, stellt sie sich als fotografierte Szene dar, bzw. fotografierbare; auf eine bestimmte Weise sichtbar – in den »Kategorien des Fotoapparates«. Aus dieser Sicht ist der rauchende Mann das Motiv oder auch das fotografierte Objekt und scheint das Rauchen zu spielen. In der Kleinen Philosophie der fotografischen Geste wird diese objektive Beobachtung der objektiven fotografischen Beobachtung selbst thematisiert – was aber nur durch eine Verschiebung (anstelle einer ›Einklammerung‹) der ›objektiven Beobachtung‹ möglich wird. Diese Verschiebung der objektiven Beobachtung oder Einstellung zeigt die Verschiebung zwischen Flussers Beschreibung der Geste des Fotografierens in der Kleinen Philosophie der fotografischen Geste und in Für eine Philosophie der Fotografie.45 In letzterer beschreibt Flusser die ›Einstellungen‹ des Fotoapparates mit dem expliziten Hinweis auf Kant als »Kategorien des Fotoapparates«. Sie umfassen »[...] eine Raumregion für hautnahe, eine für nahe, [...] eine für sehr weite Sicht [...], eine Raumregion für Vogel-, eine für Frosch-, eine für Kleinkindperspektive; [...] eine Zeitregion (Verschlusszeit) für blitzschnelles Sehen, [...].«46 Diese Kategorien »[...] setzen sich auf die Kulturbedingung und filtrieren sie [...], überall wird alles durch die gleichen Kategorien hindurch aufgenommen.«47 Die Kategorien des Apparates verstellen den Blick auf die ›Kulturbedingung‹, der Fotograf ist nicht frei, sondern handelt »in Funktion des Programms des Apparats«,48 oder auch der technischen Bilder: »Statt die Welt vorzustellen, verstellen sie sie, bis der Mensch schließlich in Funktion der von ihm geschaffenen Bilder zu leben beginnt.«49 Diese Beschreibung ist eine Kritik der naiven Betrachtung der Fotografie und der ›objektiven Einstellung‹: des Vorurteils, das fotografische Bild würde objektiv die Wirklichkeit wiedergeben – »Ein solcher Betrachter nimmt stillschweigend an, 45 Die Datierungen der Texte, die nicht weit auseinander liegen, spielen insofern keine große Rolle, als Flusser die Geste in der ›Kleinen Philosophie‹ und dem Band Gesten überarbeitet hat – auch diese Überarbeitungen tragen zu den Brüchen in seinen Texten bei. 46 Flusser, Philosophie der Fotografie (Anm. 31), S. 32. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 33. 49 Ebd., S. 9.
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dass er durch die Fotos hindurch die Welt dort draußen sieht, und dass daher das Universum der Fotografie sich mit der Welt dort draußen deckt (was immerhin einer rudimentären Fotophilosophie gleichkommt.)«.50 Flusser löst sich aber selbst nicht von diesem Vorurteil: wir können es nicht, aber wir sollten durch die Fotografie hindurch die Kulturbedingung sehen können – also zwar nicht die Welt, wie sie wirklich ist (an sich), aber die Kategorien, die die Welt auf eine bestimmte Weise sehen lassen. Diese Kategorien sind nicht transzendent (wie die objektive Welt), aber können als vom Apparat eingestellte auch nicht transzendental sein – denn sie können ja die transzendentalen Kategorien (die natürlich nicht beliebig, je nach Motiv etc. eingestellt werden können) ›verstellen‹. Das Ziel einer Philosophie der Fotografie wäre aber ein Denken oder eine Kritik der Fotografie, die transzendentale Kategorien einsehen und nicht nur eine in Fotografien abgebildete Welt beobachten kann. Flussers Untersuchungen der Fotografien als »Bild[er] von Begriffen«51 deuten darauf hin, dass er nicht nur mit der Phänomenologie, sondern vor allem mit Heideggers Kritik des wissenschaftlichen Weltbildes die Kategorien in ›Anführungszeichen‹ setzt – als ein bestimmtes, ›objektives‹ Weltbild – dieses jedoch zunächst auf die Fotografie projiziert. Die Fotografie ist eine Metapher des wissenschaftlichen Weltbildes. »Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, dass es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.«52
Flussers Beschreibungen der Gesten des Suchens, Machens, Herstellens und Erzeugens als Gesten der wissenschaftlichen Methode, machen diese Verbindung zu Heideggers »vorstellend-herstellenden Menschen« – der im
50 Ebd., S. 38. 51 Ebd., S. 34. 52 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Ders., Holzwege, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S. 75-96, hier S. 89.
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Voraus einstellt, was wirklich ist und was wie erkannt werden kann53 – deutlich. Anders als im Falle der Gesten übernimmt aber die Philosophie der Fotografie dieses Weltbild, bzw. überträgt es in die Fotografie: Der Apparat ist durch wissenschaftliche Begriffe programmiert.54 Beobachten wir (wissenschaftlich objektiv) den Apparat, stoßen wir auf den Bestand wissenschaftlicher Begriffe, z.B. den Begriff ›grün‹, »[...] wie er in der Theorie der Chemie vorkommt [...]«.55 Doch wie sollen wir die wissenschaftlichen Begriffe bzw. Kategorien des Apparats durchschauen? Flussers Antwort ist zwiespältig: In der Philosophie der Fotografie schlägt er das Spiel gegen den Apparat vor – mit dem Ziel sich der »Manipulation« durch den Apparat zu widersetzen. Dieses Spiel ist aber ein anderes als das »Kombinationsspiel mit [herv. KK] den Kategorien des Apparates« in der Beschreibung der fotografischen Geste im gleichen Buch: »[...] und es ist die Struktur dieses Spiels – und nicht unmittelbar die Struktur der Kulturbedingung selbst –, die wir aus der Fotografie herauslesen können.«56 Die Kulturbedingung lässt sich nur ›negativ‹ erfassen - »In der These erscheinen demnach die Kulturbedingungen gewissermaßen ›negativ‹ in der Fotografie, als umgangene Widerstände.«57 Dieses ›negativ‹ ist ein anderes als das kritische Negativ der Fotografie als wissenschaftliches Weltbild: es ist eine Absage an das herstellende Vor-Stellen, seine Unterbrechung oder Brechung. Für ein reflexives Verhältnis von fotografischem Bild und Geste ist daher folgendes entscheidend: Die Kulturbedingung wird gerade erst und nur durch die Geste des Fotografierens sichtbar, nicht als fixe Matrize, die die Sicht auf die Welt vor-einstellt, sondern in Einstellungen, die gewechselt werden können oder besser dem ständig neuen (oder auch wiederholten) Einstellen. Der Fotograf ist nicht frei wenn er gegen den Apparat spielt, sondern mit ihm, es handelt sich »[...] um eine Bewegung der Freiheit, denn die Geste ist eine Serie von Entscheidungen, die nicht trotz, son 53 »Wissenschaft trifft immer nur auf das, was ihre Art des Vorstellens im Vorhinein als den für sie möglichen Gegenstand zugelassen hat.« Martin Heidegger, Das Ding, in: Ders., Vorträge und Aufsätze (Anm. 9), S. 167-187, hier S. 171. 54 Flusser, Philosophie der Fotografie (Anm. 31), S. 40ff. 55 Ebd., S. 40. 56 Ebd., S. 32. 57 Ebd., S. 31.
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dern wegen der bestimmenden Kräfte [herv. KK] getroffen werden, die dabei im Spiel sind.«58 Freiheit wird nicht gegenüber der ›Manipulation‹ bestimmt, sondern: »Suche und Manipulation sind zwei Aspekte ein und derselben Geste.«59 Im Rahmen seiner Theorie der Gesten schreibt Flusser dann den Bruch in der Philosophie der Fotografie/der fotografischen Geste fort, und kann so seine eigene ›objektive‹ Beobachtung durch die fotografische Beobachtung beobachten, beide nun als Gesten. Die fotografische Geste interveniert in die ›objektive‹ Beobachtung, weil sie eben nicht objektiv ist – dass die Beobachtung das beobachtete Phänomen und die Beobachtung verändert, lässt sich an der Geste des Fotografen ›konkret sehen‹, betont Flusser, jede Situation ist manipuliert, Porträtfotos ebenso wie Landschaftsbilder – die Fotografien einer Landschaft bei Sonnenuntergang und in der Mittagssonne können ganz andere Formen zeigen, die Landschaft gilt aber nicht als ›manipuliert‹.60 Die verschiedenen Einstellungen ermöglichen erst den jeweiligen Einstellungswechsel, der erst verschiedene ›Raum- und Zeitstrukturen‹ ins Spiel bringt. (Die Sprünge werden dank der »zeitlichen Determination«61 möglich usw.) Die Beschreibung von einem ›transzendentalen‹ Standpunkt aus scheitert – die Metapher der Fotografie ist unauflöslich mit der fotografischen Geste verwoben: »Aber das Wort ›eingestellt‹ ist natürlich ein fotografischer Begriff, der beweist, wie schwierig es ist, das fotografische Modell während der Beobachtung beiseite zu lassen.«62
4. Die Geste des Malens ›Anführungszeichen‹, ›Einklammern‹, ›Deskription‹ – den Angelpunkt von Flussers Überlegungen bilden die Gesten des Schreibens. Er versteht sich selbst auch als Vertreter einer Kultur der Schrift und der Tradition des Philosophierens in Schrift. Seine Version der ›phänomenologischen Methode‹ 58 Flusser, Kleine Philosophie (Anm. 38), S. 109. 59 Ebd., S. 112. 60 Ebd., S. 112. 61 Ebd., S. 106f. 62 Flusser, Kleine Philosophie (Anm. 38), S. 100.
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verbindet er mit dem ›Talmudisieren‹, der schriftlichen Praktik der Talmudkommentare, die nicht um ein ›Wesen‹ kreisen, sondern als ›dezentrierte‹ Bewegung (ganz im Sinne von Derrida) im Kommentieren und den verschiedenen Standpunkten aufgeht. »Die den Seitenkern umzingelnden Kommentare sind nicht nur auf diesen Kern, sondern ebenso gegeneinander gerichtet. [...] Beim Pilpul geht es nicht darum, die Sache, auf die man immer wieder zurückkommt, zu bejahen oder zu verneinen, sondern sie von so vielen Standpunkten wie möglich anzugehen und letztere dabei in gegenseitigen Konflikt zu bringen. So als ob Pilpul aus der ›Wahr-Falsch-Logik‹ in eine mehrwurzelige Logik hinübergewechselt wäre.«63
Gerade solche Gesten des Schreibens ermöglichen aber nicht nur das geordnete Nachdenken im linear-logischen, wissenschaftlichen Diskurs, sondern brechen ihn gleichzeitig auf und verwandeln ihn – und zwar keinesfalls als eine rein schriftliche oder textuelle (oder auch ›nur‹ rhetorische) Operation. Eine ›gegenständliche‹ Auffassung des Mediums Schrift würde zu kurz greifen und die Geste aus dem Blick verlieren. Die Geste unterläuft die ›mediendeterministische‹ oder ›mediengenerativistische‹64 Position, die Flusser selbst an vielen Stellen einzunehmen scheint: nicht allein die Digitalisierung von (und durch) Schrift ändert Kultur und Gesellschaft, es ist immer auch eine Denkbewegung, die Kultur und Gesellschaft65 zugleich verändert und sich ereignet. Es ist bezeichnend, dass Flusser eine ›alte‹ Technik oder besser Praktik wie die Talmud-Auslegung mit seiner ›Methode‹ – verbindet (und sie dabei nicht als ›prä-digital‹ versteht): als Beispiel der Einbindung des Denkens in Praktiken, die auch ein anderes als das wissenschaftlich-technische (logische, lineare,...) ›Begreifen‹ erlauben. Diese Einbindung setzt nicht erst durch die ›neuen‹ oder digitalen Technologien ein – sie stellen die Frage nur in spezifischer Weise. 63 Vilém Flusser, Jude sein, Berlin u. Wien 2000, S. 149f. 64 Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main 2008, S. 20ff. 65 Natürlich auch was als ›Kultur‹ und ›Gesellschaft‹ verstanden und verhandelt wird.
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Die Negativität der Beschreibung der Denkbewegungen lässt sich mit Flusser an eine positive oder besser performative Wendung knüpfen, die tatsächlich als Beitrag der Phänomenologie – allerdings in ihren Wendungen und Wandlungen insbesondere bei Heidegger und schließlich auch bei Derrida – als Medientheorie/Medienphilosophie gelten könnte.66 Parallel zur paradoxen »Überschrift« entwickelt Flusser das »Begreifen« als ein in ästhetische Praktiken des ›(Be)Deutens‹ und ›Verstehens‹ eingebundenes Denken: »[...] ›nehmen‹, ›greifen‹, ›begreifen‹, ›fassen‹, ›handeln‹, ›hervorbringen‹, ›erzeugen‹ – sind zu abstrakten Begriffen geworden, und wir vergessen oft, dass die Bedeutung dieser Begriffe von der konkreten Bewegung unserer Hände abstrahiert wurde.«67 Flusser ist aber kein disziplinierter Phänomenologe, die Bewegung der Hände ist nicht der ›lebensweltliche‹ Ausgangspunkt allen Begreifens, denn sie wird gleichzeitig metaphorisch verwendet. Flusser bestimmt Gesten in diesem Sinne als »Bewegungen des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs«,68 nennt aber zugleich als Beispiel auch Revolutionen (revolutionäre ›Bewegungen‹). »Denn weder begreifen wir die Welt als Objekt der Manipulation noch den Menschen als manipulierendes Subjekt. Wir beginnen, die Welt als unsere Umwelt zu begreifen, in der und mit der wir umgehen und die mit uns umgeht, und wir beginnen, den Menschen einschließlich seiner Manipulation der Objekte als Gebärdenspiel dieser Umwelt selbst zu begreifen. Wir glauben nicht mehr, dass wir Gesten machen, sondern dass wir Gesten sind.«69
Damit ist die ›Theorie der Gesten‹ nicht eingeschlossen in den Nicht-Raum eines cogito, sondern immer schon bei der Welt. Es ist gerade kein vom »Denken des Denkens«70 aus gedachtes Denken, sondern als Geste eine ästhetische reflexive Praktik. 66 Wie im zitierten Band: Philosophie in der Medientheorie (vgl. Anm. 39). 67 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 50. Bei Heidegger heißt es: »[...] zu tun haben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas, verwenden von etwas, aufgeben ... von etwas, ... erkunden, befragen, besprechen, bestimmen [...].« Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 56f. 68 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 8. 69 Ebd., S. 210. 70 Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 46ff.
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Zugleich lassen sich die Gesten des Denkens als mediale Praktiken verstehen. Die Geste des Fotografierens »als eine Geste des Schauens, der theoria«71 weist klar darauf hin: diese Geste des Schauens ist nicht die einer »inneren Wahrnehmung«,72 sondern ein Philosophieren im ›Medium der Fotografien‹, d.h. in fotografischen Gesten. Bei Flusser steht allerdings nicht die Sichtbarkeit von Bildern (ob nun ›traditionellen‹ oder ›technischen‹) im Vordergrund, sondern ihre Denkbarkeit, die dennoch das Denken der Gesten als ästhetisches ausweist.73 Das Philosophieren im Medium der Fotografien lässt sich nicht als eine Bildtheorie begreifen, dem Bild kommt aber trotzdem eine zentrale Rolle zu. Auch wenn Flusser an vielen Stellen die ›technischen Bilder‹ ganz ›gegenständlich‹ und ›mediendeterministisch‹ zu denken scheint – z.B. als Computerbilder, die das Denken übernehmen – lässt sich in diesen Bildern auch stets die Geste der neuen »Einbildungskraft«74 erkennen: als eine ›bildliche‹, ›imaginative‹ Verschiebung des Denkens, anstelle einer durch technische Bilder bedingten, hervorgerufenen oder ›programmierten‹ Veränderung. »All that has been said concerning the third position [structural position] has been composed into written lines, and is therefore a product of conceptual thinking. But if the argument is even partly correct, the third position cannot be conceptualized; it must be imagined with the kind of imagination that is now being formed.«75
Diese dritte Position ist die einer ›neuen Methode des Denkens‹, die aber nicht in Computerbildern stattfindet, sondern eine Position jenseits des 71 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 118. 72 Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Anm. 8), S. 63. 73 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 14. 74 Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, Berlin 1989, S. 16. Vgl. Siegfried Zielinski, Die ›neue Einbildungskraft‹. Eine ›Haltung maschinischer Komposition‹?«, in: David Espinet u. Toni Hildebrandt (Hg.), Suchen Entwerfen Stiften. Randgänge zum Entwurfsdenken Martin Heideggers, München 2014 (im Druck). 75 Vilém Flusser, Line and Surface, in: Andreas Ströhl (Hg.), Writings, Minneapolis/London 2005, S. 21-34, hier S. 34.
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schriftlich-wissenschaftlichen Diskurses markiert. Ein Denken in ... ein ›ästhetisches‹ Denken. So lässt sich als notwendige (gegenläufige) Ergänzung zum ›gegenständlichen‹ Medium des technischen Bildes die Geste des Malens begreifen: »Daher ist die Analyse der Geste des Malens nicht selbst eine von außen kommende Geste, die sich auf die des Malens richtet. Vielmehr ist sie selbst ein Element der zu analysierenden Geste. Die Geste des Malens ist eine auto-analysierende Bewegung. [...] Man braucht keine metaphysischen Begriffe wie den ›Geist des Malers‹, welcher irgendwie über der Geste schwebt, um diese Phasen zu erklären (wiewohl solche Begriffe tief in unseren Denkgewohnheiten wurzeln und unsere Beobachtungen verzerren). Sie sind aus der konkreten Gestalt der Geste selbst ersichtlich.«76
Das Begreifen in verschiedenen Gesten im Sinne eines »performativen Begriff[s] der Reflexion«77 lässt nicht nur den ›Widerstand der Worte‹ zu, Eingriffe in die Rechtschreibung oder das Schreiben über und mit dem word processor (Flussers Beispiele aus der Geste des Schreibens). Vilém Flussers ›Theorie‹ der Gesten gibt nur Hinweise auf die konkrete Gestalt der Geste – im Hintergrund scheint immer wieder der ›metaphysische Kran‹ die Theorie der Gesten zu ordnen – und dennoch lassen sich zumindest Umrisse einer Medienphilosophie der Gesten erkennen. Die Frage ist dabei nicht, was Gesten sind. Nichtsdestoweniger könnte in pragmatischer Hinsicht die theoretische Antwort bei dem ›reflexiven, selbstbewussten‹ Charakter der Geste78 ansetzen: die Theorie der Gesten bezieht sich auf nichts, was ›da draußen‹ zu finden wäre, sie kann keine Wissenschaft von etwas sein, sondern nur eine Philosophie, die überhaupt nach dem ›etwas‹ und ›da draußen‹ bzw. dem Bezug fragt, hermeneutisch betrachtet der Sphäre des ›als‹, des Bedeutens und Verstehens.79 Damit wä 76 Flusser, Gesten (Anm. 3), S. 92. 77 Dieter Mersch, Meta/ Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (2/2010), Hamburg 2010, S. 185208, hier S. 206. 78 Flusser, Kleine Philosophie (Anm. 38), S. 103. 79 Vgl. Dieter Mersch, Philosophie des Medialen. Eine vorläufige Verortung, Audio-Aufnahme des Vortrags beim Workshop Die Frage der Medien am
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re kein Gegenstandsbereich abgegrenzt, aber Gegenstandsbereiche und Methoden entgrenzt.80 Die Frage der Gesten ist auch nicht wie sie sind – im Sinne der Phänomenologie –, denn sie sollen radikal nicht-gegenständlich (»nicht substanziell«)81 gedacht werden: Sie werden vollzogen und jede Beschreibung ist selbst eine Geste. Das bedeutet auch: ob und wie sich wissenschaftliches, schriftliches, diskursives Denken durch ein ›bildliches‹ verändert, kann sich nur zeigen.
17.7.2013, http://www.ikkm-weimar.de/forschung/dt-cz_medienphil/uebersicht _dt/prm/490/cs__11/index.html (15.9.2013). 80 Also ganz im Sinne der Diagnose der Medienwissenschaft von Claus Pias, vgl. Anm. 14. 81 Engell u. Vogl, Vorwort (Anm. 13), S. 10.
Zwischen Konzept und Phänomen Die Geste als Denkfigur F ABIAN G OPPELSRÖDER
1. Merleau-Ponty und die Geste Cézannes »Or, cette philosophie qui est à faire, c´est elle qui anime le peintre, non quand pas il exprime des opinions sur le monde, mais à l´instant où sa vision se fait geste, quand, dira Cézanne, il ›pense en peinture‹.«1
Maurice Merleau-Pontys Bemerkung am Ende des dritten Abschnitts von L´Oeil et l´esprit ist eine pointierte Verbindung seiner Kritik am intellektualistischen Weltbild mit der sein Denken von Beginn an tragenden Forderung nach einer neuen Philosophie. Schon 1933 betont er, dass es den alten Dualismus, wonach sich Wahrnehmung aus rohen Empfindungen einerseits und unbewussten, formgebenden Verstandesoperationen andererseits zusammensetze, zu verwerfen gelte. Insbesondere die Gestaltpsychologie (Berliner Schule) habe gezeigt, dass diese Trennung in lose Materie und ihr nachträglich aufgeprägter Form eine unlautere Verkürzung darstellt. Eine Verlegenheitslösung, entstanden aus der Erfahrung, dass sich die Welt nicht bruchlos ins Intelligible auflösen lässt. Oder, wie es in der Philosophie der Wahrnehmung später heißt: »Zum Begriff der Empfindung gelangen wir erst, wenn wir, auf unser Wahrnehmen reflektierend, zum Ausdruck zu
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Maurice Merleau-Ponty, L´Oeil et l´esprit, Paris 1964, S. 60.
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bringen suchen, dass es niemals ausschließlich unser eigenes Werk ist.«2 Über den Begriff der Empfindung soll jener Moment der Wahrnehmung in ihre reflexive Analyse eingebunden werden, der sich selbst aller Wahrnehmung konstitutiv entzieht: der ihr eben nicht vorgängige, sondern immanent entspringende Sinn. In ihm ist der Grund zu finden, dass Perzeption nicht auf Intellektion zurückzuführen ist, das »lebendige Dickicht der Wahrnehmung«3 reflexiv zwar durchbrochen, niemals aber aufgehoben werden kann. Merleau-Pontys Beispiel ist das der Müller-Lyerschen Linien. Zwei gleich lange, einmal von nach innen geöffneten, einmal von nach außen geöffneten spitzen Winkeln eingefasste Parallelen machen den Unterschied von objektiv messbarer und Wahrnehmungswelt deutlich: Obwohl die Geraden selbst ›objektiv‹ gleich lang sind, erscheint die erste auch nach durchgeführter Messung noch kürzer als die zweite. Merleau-Ponty sieht hierin nicht einfach eine Sinnestäuschung, sondern den Beweis für die unüberbrückbare Differenz beider Welten. In der Wahrnehmung hat man es mit zwei grundlegend verschiedenen Linien zu tun, aus denen im Prozess objektivierender Reduktion die beiden mathematisch nachweisbar gleichlangen Geraden erst konstruiert werden. In diesem Sinne ist Wahrnehmung ursprüngliches, weder intellektualistisch noch empiristisch aufzulösendes Erkennen. Die Aufgabe der Philosophie muss es nun sein, diesem immanent entspringenden Sinn im Erfahrungsfeld seines Ursprungs nachzuspüren. In dem 1946 gehaltenen Vortrag Das Primat der Wahrnehmung werden diese Überlegungen noch einmal pointiert. Die Wahrnehmungssynthese ist keine Verstandes- sondern eine praktische Synthese. Da die reflexive Analyse sich selbst als Tätigkeit übergeht, ihre eigene Endlichkeit ignoriert, entgeht ihr das Besondere, eben der immanent entspringende Sinn der Wahrnehmung.4 Das Paradox von Transzendenz und Immanenz, das sich darin zeigt, dass mir ein Gegenstand der Wahrnehmung nie völlig gegeben ist, darf nicht geflohen, sondern muss gesucht werden. Man muss in die
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Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt und ein-
3
Ebd., S. 61.
4
Vgl. zur Frage der Vorstellung des immanent entspringenden Sinns bei Merle-
geführt durch Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 59.
au-Ponty den Beitrag von Miriam Fischer in diesem Band.
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zeitgebundenen Wahrnehmungserscheinungen, in die Endlichkeit hineinfinden, um mit jenem Moment vertraut zu werden, in dem sich die Dinge für uns konstituieren, uns der logos in statu nascendi vor Augen tritt. Ein logisch kohärentes Denken des Seins ist nicht möglich. Primat der Wahrnehmung heißt, sich dem fruchtbaren Widerspruch anzuvertrauen. Was das bedeutet, entwickelt Merleau-Ponty insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit der Malerei Cézannes. Cézanne liefert sich durch die Preisgabe der Zeichnung keineswegs dem Chaos der Empfindungen aus. Aber er weigert sich, dem Druck der traditionellen, scheinbar einzigen Alternativen Sinne/Verstand bzw. sehender/denkender Maler nachzugeben. »Cézanne glaubte nicht, dass er zwischen der Empfindung und dem Denken wählen müsste wie zwischen dem Chaos und der Ordnung.«5 Er will die Materie malen, wie sie im Begriff ist, sich eine Form zu geben. Weil er genau diesen Moment verfehlt, überspringt, intellektualistisch auflöst, verfehlt der denkend auf den Ausdruck zusteuernde Maler das Geheimnis des Erscheinens. Cézanne hingegen will die Landschaft nicht denken. Die Landschaft denkt sich vielmehr in ihm. Gerade hierin, so Merleau-Ponty, bewohnt Cézanne die Dinge, anstatt sie wissenschaftlich zu manipulieren.6 Vor diesem Hintergrund ist der eingangs zitierte Gedanke zu verstehen, dass die kommende Philosophie eine gestische sein muss. Eine Philosophie, die in ihrer Praxis mehr dem im Malen denkenden Künstler gleicht als dem Theoretiker. Ein Denken, das die Dinge bewohnt, die Vision nicht in eine Theorie oder ein Theorem transformiert, sondern Wahrnehmung durch Wahrnehmbares verlängert, den fruchtbaren Widerspruch fortspinnt, anstatt ihn reduktionistisch aufzulösen. Cézanne erscheint als der ›bessere Philosoph‹, weil er das Rätsel der Sichtbarkeit zelebriert anstatt es reflektierend analysierend aus dem Blickfeld zu schaffen, weil er sich tatsächlich in jenem lebendigen Dickicht der Wahrnehmung bewegt, das ursprüngliches Erkennen erlaubt. In dieser Hinsicht darf auch die Philosophie eben keine Theorie mehr sein. Sie muss Geste werden.
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Maurice Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 39-59, S. 44.
6
»La science manipule les choses et renonce à les habiter«, schreibt MerleauPonty, L´Oeil et l´esprit (Anm. 1), S. 9. Und es ist gerade dieses Manipulieren der Dinge, wogegen sich sein Essay von der ersten Seite an richtet.
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2. Geste denken Man kann sich fragen, was das genau heißt. Es liegt nahe, Merleau-Pontys Rede als metaphorische abzutun. Philosophie kann nie in gleicher Weise gestisch werden, wie es der Malerei als Spur der Körper-, der Handbewegung des Malers möglich zu sein scheint.7 Während man im jeweiligen Pinselstrich, im Duktus eines Bildes dessen gestischen Grund tatsächlich auf der Leinwand zu erkennen meint, ist Gleiches durch die vielfache intellektuelle Brechung hindurch, welche Denken zum philosophischen Gedanken verfestigt, nicht möglich. Eine Entsprechung ließe sich vielleicht im Denkstil erkennen, dem, was man nicht zufällig auch den Gestus einer bestimmten Philosophie nennt.8 Hier ist nicht der Inhalt, nicht das als Argument rekonstruierbar Gesagte, sondern die Art und Weise dieses Sagens entscheidend. Die Form, die Formulierung, die Präsentation, kurz: was man als die philosophische Praxis bezeichnen könnte, wird von einer Äußerlichkeit, der mehr oder weniger eleganten Verpackung eines letztlich auf Propositionen und intelligible Gehalte reduzierbaren Denkens zu dessen Ermöglichungsgrund. Der Denkprozess wird durch sein Resultat nicht obsolet. Der Gestus wäre die aus dem Vollzug, der Performanz emergierende und als solche konstitutive Gestalt eines bestimmten Denkens. Die schein-
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Vgl. insbesondere den Beitrag von Toni Hildebrandt zur tachistischen Geste in diesem Band.
8
Ludwig Fleck hat in seinem 1935 erschienenen Buch »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« den Begriff des Denkstils geprägt, um auf die kollektive Konstruktion scheinbar objektiver Erkenntnis hinzuweisen. Ein wissenschaftstheoretisch grundlegender Beitrag, der durch die Arbeiten von u.a. Thomas S. Kuhn oder Pierre Bourdieu seine wirkmächtige Fortführung erfahren hat. Ohne dieser wichtigen Tradition der Wissenschaftstheorie und -soziologie zu widersprechen, pointiere ich den Begriff des ›Denkstils‹ hier anders. Es geht weniger um die Bedingtheit bestimmter Inhalte durch das sie hervorbringende Denkkollektiv, als vielmehr um ein anderes Verständnis von Denken überhaupt. Irreduzibel performativ ist Denken nicht nur in der Auswahl und Wertung der Inhalte abhängig von einem ihm immer noch äußeren Denkstil, sondern selbst wesentlich Stil, zwischen individuellen Anlagen und den Rahmenbedingungen der Kollektivinstitutionen (Genre, Diskurs, Tradition etc.) ausbalancierte Bewegungsgestalt.
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bar nur zweitrangige Frage des Auftretens und der Darstellung zeigt sich somit als transzendental. Ein Essai heißt anders Denken als ein Syllogismus, dreizeilige Aphorismen führen zu einer anderen Philosophie als seitenlange Traktate. Wie der Körper eines Redners die physischen Voraussetzungen, an denen seine Rede hängt, immer mit präsentiert, so könnte man im Gestus die durch die Tradition bestimmter Genres und Schulen gebundenen formalen und materiellen Voraussetzungen einer Philosophie erkennen. Merleau-Pontys Kritik an der ›attitude intellectuelle‹ ist nicht zuletzt der Vorwurf an die philosophische Tradition, genau diese ihre Praxisdimension zu vergessen, ignoriert zu haben. Und doch geht sein Plädoyer für eine gestische Philosophie weiter. Die sich im Gestus manifestierende Bedingtheit unseres Denkens darf nicht nur hingenommen, sie muss positiv gewendet werden. Merleau-Ponty will nicht dabei stehen bleiben zu zeigen, dass jede abstrakte Aussage unablösbar auf einer konkreten, performativen Grundlage aufsitzt. Es geht ihm nicht primär darum, dass alles Denken nur scheinbar objektiv und universal, tatsächlich aber den kontingenten Regelmäßigkeiten eines spezifischen Stils verpflichtet ist. Er will die Dualismen, welche die Kontingenzvergessenheit der abendländischen Philosophie erst ermöglichten, nicht fortschreiben, sondern aufheben. Obwohl er von der Analyse der Wahrnehmung ausgeht und somit augenscheinlich eine Körperphilosophie der intellektualistischen Tradition gegenüber stellt, spielt er nicht einfach Körper gegen Geist aus. Er imaginiert die neue Philosophie vielmehr als eine, die dieser Opposition überhaupt zu entkommen sucht.9 Die Geste ist ihm nicht einfach die Bewegung des Körpers, die er dem Intellekt entgegenstellt. Sie wird Merleau-Ponty zum Paradigma eines nicht-objektivierenden Denkens. Sie verwischt die Grenze zwischen Zeichen und Bezeichnetem, sie bleibt im uneindeutigen, der Trennung von Intellekt und Sinnlichkeit vorgängigen, ›lebendigen Dickicht der Wahrnehmung‹ und hält den mit ihr Umgehenden darin fest. So setzt sich seine Verwendung des Wortes entscheidend vom landläufigen Verständnis der Geste ab. Ohne exakte Definition und ohne end-
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Vgl. zur Frage der Überwindung des psycho-physischen Dualismus auch den Beitrag von Henrike Lerch und ihre Diskussion von Helmuth Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität.
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gültige Bestimmung wird sie zu einer Art Katalysator, ja zur Bedingung der Möglichkeit die neue Philosophie, wie sie Merleau-Ponty anstrebt, zu denken. Die Geste ist für ihn nicht einfach Phänomen. Und zugleich ist sie nicht schlicht Metapher. Sie markiert die zu machende Philosophie als eine, in welcher sich die vorbegriffliche Einbindung des Menschen in die Welt ausdrückt. Gerade hierin aber schließt Merleau-Ponty auch an eine Tradition an, in der die Geste immer schon mehr war als ein willkürlich einsetzbares Mittel zum Zweck. Seine Wahl des Begriffs ist kein Zufall. Schon die scheinbar nur auf effektvolle Untermalung des Gesagten zielende Gestenschule der antiken Rhetorik ist tatsächlich weniger an einer allgemeinen Redetechnik denn an der umfassenden Bildung des Individuums interessiert. Erst im Rahmen dieses philosophisch-edukatorischen Projekts wird der Körper als ergänzende Ausdrucksebene des Redners wichtig. Im Unterschied zu manch einer schematisierte Gesten sinnlos reproduzierenden neoliberalen Redetechnik ist die Kunst, seinen Körper rhetorisch einzusetzen, bei Cicero und Quintilian an den Ethos des Redners gebunden. Nur wenn dieser die Bewegungen, die Haltung, den Einsatz seines Körpers aus der ihm eigenen Natur heraus entwickelt, kann sich rhetorisch Wirkung entfalten.10 Es geht somit nicht um die lehrbuchmäßige Anwendung eines universellen Gestenvokabulars, sondern um individuelle Einübung. Die Geste wirkt nicht als Untermalung des Arguments. Mit ihr stimmt sich der Redner als Teil in einen größeren Zusammenhang und nur im Einklang mit diesem kann seine Rede wirklich überzeugen. Philosophisch wird die Geste somit zur Szene, in welcher sich diese irreduzible Einbindung als conditio humana zeigt. Damit ist sie immer schon mehr als nur die Bewegung beispielsweise der Hand. Hier deutet sich an, was die Geste für Merleau-Pontys Philosophie so wichtig werden lässt: Sie ist weder einfach Zeichen, dessen Bedeutung ihre Performanz auslöscht, noch schlicht physikalisch-physiologisches Ereignis. Sie ist, was man eine Denkfigur nennen könnte. Keine Gedankenfigur, keine figura sententiarum im technischen Sinne. Es geht nicht um ein Mittel zur perfekten Präsentation von Ideen; es geht um das Sich-Entwickeln, das Sich-Ausfalten des Denkens selbst, das nicht mehr als abstrakter, aus den Sinnen gelöster Prozess, sondern als durchgängig und genuin sinnlich ver-
10 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 2011, S. 679.
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standen werden muss. Jean-François Lyotard entwirft den Begriff der figure de la pensée, um die Schicht nicht-repräsentativer Bewegung innerhalb der Diskurse als eine temporärer, vor-begrifflicher Figurationen zu fassen.11 Er berührt so eine aisthetische Dimension, die nicht einfach auf Empfindungen abstellt, die dem Intellekt entgegengesetzt wären, sondern als die noch nicht begrifflich durchgeformte Einstellung zur Welt verstanden werden muss. In ihrer Stellung zwischen Natur und Kultur, zwischen unmittelbarer Präsenz und mittelbarer Kodifiziertheit, zwischen freier Individualität und Determiniertheit des Habitus erlaubt die Geste zu denken, was weder einfach verstanden noch schlicht beschrieben werden kann. Als Denkfigur ist sie nicht die Handbewegung und nicht die Spur einer solchen. Sie ist ein Zusammentreffen, eine Verdichtung und Intensivierung, die sich zugleich niemals dem Regime eindeutiger Rationalität einfügt, sondern ihre Kraft gerade aus ihrer unaufgelösten Komplexität zieht. Vielschichtigkeit wird ihr philosophisch zur Stärke. So erlaubt sie, miteinander verbundene, aber nicht strikt auseinander abzuleitende Aspekte eines noch ungefassten, amorphen Gedankens gemeinsam zu prozessieren. Ohne die Eindeutigkeit des Begriffs wird sie so zum Kondensationskern des Diskurses, zum Motor eines Denkens, dessen Dynamik als ungerichtete Bewegung eben die nicht-lineare Ent-faltung an die Stelle des logischen Schlussmusters setzt.12
3. Gestisch denken Die Geste als Denkfigur ist nicht länger auf den Status des Gegenstands von Reflexion zu reduzieren. Sie wird vielmehr Vehikel zu denken, was innerhalb der klassischen Logik, einer Logik des ausgeschlossenen Dritten, unmöglich zu denken ist. Sie ist die nicht weiter analysierbare Einheit, welche erlaubt, jenseits exakter Eindeutigkeit Denkräume zu erschließen. Ihre
11 Vgl. Jean-François Lyotard, Discours, Figure, Paris 1971, S. 62. 12 Für eine ausführlichere und grundlegendere Diskussion der ›Denkfigur‹ siehe André Reichert, Diagrammatik des Denkens. Descartes und Deleuze, Bielefeld 2013. Zwar wird die Denkfigur hier letztlich dem Denkdiagramm als dynamische Systematisierung des Denkens untergeordnet, sie bleibt aber auch nach Reichert die erste Formung, die erste Gestalt des Denkens.
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Geschlossenheit ist nicht die einer vorgegebenen, situationsindifferenten Form. Sie bildet sich vielmehr in der permanenten Einschreibung bei gleichzeitiger Absetzung von dem sie mitkonstituierenden Kontext. Sie organisiert, könnte man sagen, Denken von innen heraus. Damit verändert sich auch das Verständnis intellektueller Kultur überhaupt. Anstatt sich ausschließlich auf Argumentrekonstruktionen oder Schilderungen scheinbar natürlicher bzw. schlicht gegebener Phänomene zu konzentrieren, wird die Geste als Denkfigur zu einer neuen und eigenständigen Beschreibungsmöglichkeit und eröffnet so eine nicht-lineare Archäologie unseres Denkens und der mit ihm entstehenden Artefakte (Bilder, Texte, Objekte, Praktiken).13 Wenn Karl Heinz Bohrer die Begründung des Heldischen im Western mit und durch die Geste des Gehens entwickelt, so könnte das Projekt schon an der Frage scheitern, ob das Gehen überhaupt zu dem zählt, was man gemeinhin Geste nennt. Doch so sehr solches Definierenwollen daneben greift, so sicher entfaltet sich durch »Fondas Schreiten«, »John Waynes Vorwärtsstürzen« und »das laszive Gehen Mitchums« die »Ästhetik« und »imaginative Evidenz« des Helden, welche dessen »historisch-politische Legitimierung« nicht willkürlich ersetzt, sie vielmehr als unzureichend markiert und durch die eigene grundlegendere und überzeugendere Kraft verdrängt.14 Der Held ist nicht einfach Held, weil er tut, was er tut. Das ›Wie‹ ist entscheidend. Im Zusammenspiel der singulären Person des Helden und der etablierten Vorgaben des Genres und des jeweiligen Rituals (des Duells, der provokativen Konfrontation, der Rettung) formt sich das Gehen zur ›Denkfigur Geste‹, welche das Heldische jenseits des abgrenzbaren Phänomens und diesseits eindeutiger Begrifflichkeit ästhetisch markiert. Es gibt somit kein per se heldisches Gehen. Bohrer entwickelt es vielmehr als Effekt einer besonderen Stimmigkeit, die in anderer Weise auch Vilèm Flusser in seinen Überlegungen zum Thema als grundlegend reflektiert. Seine essayistische Phänomenologie unterschiedlicher Alltagshandlungen reicht vom Sich-rasieren bis zur Geste der Liebe. Was sie in den zunächst heterogenen Stücken aber verbindet ist ihre Pointierung zu-
13 Damit unterscheidet sich der hier gewählte Ansatz von einer Analyse bzw. einer Konzeption ikonischer Gesten. 14 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Ritus und Geste. Die Begründung des Heldischen im Western, in: Ders., Selbstdenker und Systemdenker, München 2011, S. 173-191.
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Gesten, in welchen Flusser den Aufweis des In-der-Welt-Seins des Menschen findet. Das Pfeiferauchen wird so zur mutwilligen, künstlichen, nutzlosen und kostspieligen Handlung, die sich gerade nicht als wiedererkennbare Form bestimmt, sondern aufgrund individueller ästhetischer Vorlieben ganz unterschiedliche Gestalten annimmt. In ihrer aller utilitaristischen Erklärung widerstehender Sinnlosigkeit aber zeigt sie sich als aus sich selbst heraus legitimierte Handlung, welche nicht nur nicht erklärt werden kann, sondern auch keiner Erklärung bedarf. Ihre Stimmigkeit baut sie als eine Art selbsttragende Konstruktion, die auf keinem vorgängigen Fundament mehr aufliegt. In diesem Sinn ist sie Geste des Pfeiferauchens; ein Paradox, das sowohl Basis der objektiven Welt ist, als auch in die dieser zugrundeliegenden Absurdität führt.15 Hier liegt seine ästhetisch-epistemische Attraktivität. Wir rauchen Pfeife, weil wir uns gegen den Alltag wenden ohne die Courage – und vielleicht ohne überhaupt die Möglichkeit – zu besitzen, uns endgültig ins Absurde zu verabschieden. Das Pfeiferauchen gibt uns die Möglichkeit, zumindest auf Zeit in die Welt der Aisthesis, der Wahrnehmung jenseits bzw. unterhalb der rational kasuierenden Wirklichkeitsorganisation einzutauchen. Richtiger müsste man vielleicht sagen: Die Geste des Pfeiferauchens erlaubt es, diese Möglichkeit überhaupt beschreibend zu denken. Insofern gelingt es Flussers essayistischer Phänomenologie der Geste, die Grundbedingungen des Menschseins dort auszuleuchten, wo eine dem tertium-non-datur-Grundsatz folgende Reflektion nicht hinreicht. Eine Rückführung auf bestimmte, praktische Funktionen, eine Erklärung der Geste ist somit per se nicht möglich. Was sie auszeichnet, ist keine explizite, sondern die implizit-ästhetische Bedeutung, welche das »stimmungshafte Gebärdenspiel […] der Welt und dem Leben« verleiht.16 Eine solche Bedeutung ist nicht mehr einfach wahr oder falsch. Ihre Beurteilung bewegt sich eher auf der Ebene von echt oder unecht, authentisch oder künstlich bzw. im Bereich der Wahrhaftigkeit und rückt damit ganz in die Nähe der frühen rhetorischen Überlegungen zum Ethos des Redners. Die Rede von der Geste des Gehens, des Pfeiferauchens oder Sichrasierens hat in den Texten von Bohrer und Flusser mithin immer zwei Seiten: Der Eine beschreibt typische Bewegungen im Kontext eines bestimm-
15 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt am Main 1994, S. 56. 16 Ebd., S. 17f.
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ten filmischen Genres, des Western, der Andere auf den ersten Blick unverdächtige Alltagshandlungen als Gesten. Beide aber tun dies um ihre Texte in und durch diese nicht exakte, nicht definierte Einheit von innen her zu organisieren.17 Anstatt analytisch auf den sicheren Grund unbestreitbarer kleinster Teile zurückzugehen, zielt die Beschreibung der erst in dieser Beschreibung sich formenden Geste auf das fließende Hin und Her zwischen erkennbarer und sich auflösender Gestalt, zwischen einhegender Rahmung und die Kontextualisierung störender Absetzung. Ihr Charakter ist damit einer der sich ständig verschiebenden Setzungen und mithin selbst gestisch. Die Denkfigur der Geste zieht den Denkenden aus der Welt vorgegebener Binarismen und macht ihn zwangsläufig selbst zum gestischen Denker. Was das bedeutet, lässt sich beispielhaft am Denken Ludwig Wittgensteins zeigen. Selbst wenn man die expliziten Äußerungen zum Thema einmal unberücksichtigt lässt,18 zeigt sich die Geste als grundlegende Denkfigur seiner philosophischen Entwicklung hin zum Spätwerk. Wittgensteins Spielvorstellung von Sprache stellt den materialen Akt der Kommunikation, die raum-zeitlich konkrete Performanz, kurz: das Sprechen als gestische Interaktion ins Zentrum. Eine Geste des italienischen Ökonomen Piero Sraffa gibt, wie er selbst sagt, den Anstoß zu den »folgereichsten der Ideen«19 seiner Spätphilosophie und tatsächlich hängen alle entscheidenden Verschiebungen vom Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen mit der Grundausrichtung letzterer am Gestischen zusammen: die Hinwendung zur ›ordinary language‹, die Aufgabe des Projekts eines geschlossenen Systems der Sprache und damit die philosophische Rehabilitierung des Vagen, die Substitution der Definition durch das Konzept der Familienähnlichkeit. Wortsprachliche Äußerungen werden nicht mehr re-präsentierend, sondern als Bewegung, als Zug in einem Sprachspiel bedeutend. Innerhalb einer solchen konkreten Lebensform produzieren spezifische Kulturtechni-
17 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Katerina Krtilova in diesem Band. 18 Vgl. Fabian Goppelsröder, Sraffas Geste. Zur späten Philosophie Wittgensteins, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 697, S. 405-413. 19 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I, in: Ders., Werkausgabe in acht Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984, S. 225-485, hier S. 232.
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ken jenes explizite Wissen, das sie zugleich als objektiv und universal erscheinen lassen. Das sich hieraus ergebende methodische Problem betrifft Wittgenstein unmittelbar: Wie ist es in einer nicht-repräsentierenden Sprache überhaupt noch möglich, über Sprache zu philosophieren? Wittgensteins »Feldzug gegen die Theorie« (Ray Monk) seit den 1930er Jahren hängt mit diesem Problem zusammen. Philosophie, so ist Wittgenstein überzeugt, kann nie Theorie sein, weil sie sich auf die Voraussetzungen von Theorie bezieht, ein funktionierendes Sprachspiel nicht einfach ausführt, sondern hinterfragt. Sie muss das Sprachspiel, in dem sich der Philosoph immer schon befindet, von innen her aufbrechen, um dessen Bedingtheit sich selbst zeigen zu lassen. Nichts anderes ist, was Wittgenstein in seiner Spätphilosophie tut. Von den 784 Fragen der Philosophischen Untersuchungen beantwortet er 110, 70 davon absichtlich falsch.20 Er ist weniger an wasserdichter Argumentation denn an der Irritation des Lesers interessiert. Sein Ziel ist die Erschütterung der sich als unbestreitbar wahres Wissen präsentierenden alltäglichen Gewissheiten. Während die Geste zunächst als Ursprung und Anker des funktionierenden Sprachspiels in den Blick kam, zeigt sie sich nun als das gerade Gegenteil: sie wird zur Möglichkeit, eingespielte Diskurse aufzubrechen, zu irritieren. Tatsächlich hängen beide Aspekte zusammen: die gestisch fundierte Sprache kann sich nur gestisch selbst irritieren. Hierin liegt die Lösung des oben formulierten methodischen Problems. Die philosophische Praxis der Irritation ist keine Eigenart eines eigenartigen Mannes, sondern die konsequente Fortführung einer um die Denkfigur – und eben nicht um das Phänomen oder das Konzept – Geste gebauten Philosophie: Die gegen den sie einbettenden Kontext gerichtete Denkbewegung erzwingt jene Störung, in welcher allein sich philosophische Ein-sicht realisiert.
4. Schluss Die Geste als Denkfigur zu verstehen heißt damit vor allem, zwei nicht auf den ersten Blick zusammengehörende Aspekte der philosophischen Diskussion über die Geste als sich auseinander ergebend zu verstehen. Zum einen
20 Vgl. Anthony Kenny zitiert in Kuang T. Fann, Wittgenstein’s conception of Philosophy, Berkeley 1971, S. 109.
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impliziert es eine methodologische Umorientierung. Bestimmte Philosophien, Diskurse, Texte etc. anhand der sie von innen heraus organisierenden Denkfigur Geste zu lesen, führt zu einem neuen Verständnis von scheinbar Altbekanntem. Zum anderen heißt, Denkprozesse gestisch, als kinetische Handlungen zu verstehen, nicht zuletzt, Denken und Wissen überhaupt anders vorzustellen. Beides basiert nun weniger auf Repräsentation als dass es sich als eine für andere erkenn- und anschließbare, temporäre Gestalt formiert. Es schließt damit an die Diskussion über das visuelle Denken an und meint doch nicht einfach die für das Auge wahrnehmbar machende Konkretisierung zuvor schon gegebener, abstrakter Daten. Visualität wird weniger medial gebunden als paradigmatisch verstanden. Es geht nicht darum, das einem bestimmten Sinn, dem Auge, vorbehaltene Wissen zu untersuchen. Vielmehr wird die im physiologisch engen Sinne verstandene Sichtbarkeit das Paradigma an welchem entlang Denken und Wissen überhaupt anders verstanden werden. Wie das visuelle Feld Schattierungen aufweist, die einem distinkten Farbschema entgehen, so sind Denken und Wissen ein mit der Logik des tertium non datur noch nicht erschöpftes, grundlegend sinnlich verankertes Geschehen. Sie realisieren sich in einem von vornherein quer durch die nur analytisch trennbaren Ebenen von Intelligibilität und Sinnlichkeit gehenden Akt der Setzung. Dieser Akt der Setzung ist die Geste. »Diese Philosophie, die noch zu schaffen ist, beseelt den Maler – nicht, wenn er Ansichten über die Welt äußert, sondern in dem Augenblick, in dem sein Sehen zur Geste wird, wenn er, wie Cézanne sagt, ›im Malen denkt‹.«21
21 Maurice Merleau Ponty, Das Auge und der Geist, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 275-317, hier S. 301.
Autorinnen und Autoren
Miriam Fischer: Studierte Philosophie und Romanistik in Freiburg i. Br., Strasbourg und Barcelona. Sie ist seit 2009 Oberassistentin am Philosophischen Seminar der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Phänomenologie und neueren französischen Philosophie. Derzeit habilitiert sie sich mit einer Arbeit zum Thema »Ethik der Sprache. Das Verhältnis von Sprache und Gewalt im moralischen und aussermoralischen Sinne«. Wichtigste Publikationen (Auswahl): Miriam Fischer, »Denken in Körpern. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes«, Freiburg 2010 (Dissertation); Miriam Fischer, »Undenkbares Denken. Zum Verhältnis von Sprache und Tod in der Philosophie von Maurice Blanchot«, Freiburg 2006; Emmanuel Alloa, Miriam Fischer (Hrsg.), »Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen«, Weilerswist 2013.
Gunter Gebauer: Ist Professor emeritus für Philosophie der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der historischen Anthropologie, der Sprach- und Sozialphilosophie und der Theorie des Sports. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören der 1981 erschienene Band »Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen. Untersuchungen zum Symbolischen Wissen«, die beiden mit Christoph Wulf zusammen verfassten, 1993 bzw. 1998 erschienenen Studien »Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft« und »Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt«, die »Poetik des Fußballs« von 2006 sowie »Wittgensteins anthropologisches Denken« von 2009.
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Fabian Goppelsröder: Studierte Philosophie und Geschichte in Berlin und Paris, promovierte in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Stanford University in Kalifornien und ist derzeit Postdoc am Graduiertenkolleg »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens« in Potsdam. Aktuell arbeitet er über die Geste als Denkfigur. Fabian Goppelsröder ist Herausgeber des 2006 bei diaphanes erschienenen Bandes »WittgensteinKunst. Annäherungen an eine Philosophie und ihr Unsagbares« und Autor der 2007 bei transcript publizierten Monographie »Zwischen Sagen und Zeigen. Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie«. Zuletzt erschien u.a. der Essay »Eloquente Stille. Kleists literarische Geste«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 769, S. 506-515.
Toni Hildebrandt: Geb. 1984, 2003-2009 Studium der Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Philosophie und Romanistik in Jena, Weimar und Rom sowie als Stipendiat am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Neapel. September 2009 bis März 2010 Promotionsstipendiat am Trinationalen Graduiertenkolleg »Gründungsmythen Europas in Literatur, Kunst und Musik«, Universität Bonn, Universität Paris IV Sorbonne, Universität Florenz. März 2010 bis September 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am NFS Bildkritik eikones an der Universität Basel. 2013/14 Resident Fellow am Istituto Svizzero in Rom.
Hyun Kang Kim: Studium der Germanistik und Philosophie an der Yonsei-Universität in Seoul, der Universität Düsseldorf und der Universität Bonn. Promotion in Germanistik in Bonn (2004), die Habilitationsschrift in Philosophie wurde dort 2013 eingereicht. Seit 2006 Lehrtätigkeit am Institut für Philosophie der Universität Bonn. Monografien: »Ästhetik der Paradoxie. Kafka im Kontext der Philosophie der Moderne«, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2004; »Slavoj Žižek. Eine Einführung«, Seoul (Irum Verlag) 2008; »Slavoj Žižek«, Paderborn (Wilhelm Fink Verlag) 2009; »Bild«, Seoul (Yonsei University Press) (noch nicht erschienen); »Bild, Gewalt, Subjekt. Walter Benjamin und die Politik des Realen in der Gegenwartsphilosophie« (noch nicht erschienen).
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Katerina Krtilova: Studium der Medienwissenschaft, Philosophie und Humanities in Prag und Regensburg. Seit 2010 Doktorandin an der Bauhaus-Universität Weimar mit einem Promotionsprojekt zu Vilém Flusser. 2013/2014 Antragstellerin und Koordinatorin des DFG geförderten Projektes »Positionen und Perspektiven der deutschen und tschechischen Medienphilosophie« am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) Weimar. Zusammen mit Lorenz Engell und Jiri Bystricky Mitherausgeberin von: »Medien denken. Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern«, Bielefeld 2010.
Henrike Lerch: Studium der Philosophie, neuere und neueste Geschichte sowie Politikwissenschaften in Darmstadt, Paris und Berlin und schloss 2005 mit einer Magisterarbeit über David Humes Begründung der Moral ab. 2006-2008 war sie Doktorandin und wissenschaftliche Hilfskraft an der Bergischen Universität Wuppertal, 2008-2012 Doktorandin im SNF Projekt »Menschliches Leben« an der Universität Basel und 2012/13 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz Landau (Campus Landau). Sie promoviert zum Philosophieverständnis von Ernst Cassirer und Helmuth Plessner.
Dieter Mersch: 2004-2012 Professor für Medientheorie und Medienwissenschaften an der Universität Potsdam, seit 2013 Leiter des Instituts für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste. Zahlreiche Gastprofessuren u.a. in Chicago, Budapest, Wien sowie Fellow am IKKM Weimar, zudem Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens« an der Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte sind Medienphilosophie, Philosophische Ästhetik und Bildtheorie, Kunstphilosophie und Philosophie des 20. Jahrhunderts. Publikationen u.a.: »Umberto Eco zur Einführung«, Hamburg 1992; »Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis«, München 2002; »Ereignis und Aura. Untersuchungen zur einer Ästhetik des Performativen«, Frankfurt/M 2002; »Medientheorien zur Einführung«, Hamburg 2006; (Hg. zus. mit Michaela Ott): »Kunst und Wissenschaft«, München 2007; (Hg. zus. mit Martina
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Heßler): »Logik des Bildlichen«, Bielefeld 2009; »Posthermeneutik«, Berlin 2010; »Ordo ab Chao / Order from Noise«, Berlin/Zürich 2013.
Michael Renner: (*1961) ist Professor für Visuelle Kommunikation und Leiter des Instituts Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK FHNW) in Basel. Nach einer altsprachlichen Matura hat er die Ausbildung zum Grafik-Designer an der Schule für Gestaltung in Basel abgeschlossen. Die digitale Revolution hat er 1986 – 1990 in Kalifornien bei Apple Computer Inc. und bei Richard Saul Wurmans ‹The Understanding Business› aus erster Hand erfahren. Aus der Praxis der Herstellung von visuellen Botschaften und aus dem Anliegen, das oft als implizit bezeichnete Wissen in der Lehre des Entwurfs zu vermitteln, leitet sich Renners Interesse für die Entwurfsforschung ab. Die Analyse der Bildgeneseprozesse durch ihre experimentelle Ausführung wird dabei als Grundlage für ein der Bildforschung zugewandtes, praxisorientiertes Forschungsfeld aufgefasst, das die Bedeutung von Bildern aus deren Entstehungsprozess erschliesst. Seit 2005 ist Renner Mitglied von eikones, NFS Bildkritik und seit 2012 beteiligt am Dänischen Forschungsnetzwerk ‹What Images Do›.
Ulrich Richtmeyer: Studierte Freie Kunst (Diplom) an der Bauhaus Universität Weimar und Philosophie in Berlin. Promotion 2006 an der Humboldt Universität zu Berlin über »Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie« (Bielefeld 2009). War von 2007-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam (Lehrstuhl Dieter Mersch) und 2010 am NFS Bildkritik eikones in Basel (Modul Entwurf) sowie von 2011-2012 Research Fellow am IKKM Weimar (Gruppe »Werkzeuge des Entwerfens«). Er vertritt gegenwärtig die Professur für Visuelles Denken und Wahrnehmen an der Universität Potsdam. Forschungsprojekte zu Philosophie, Medienwissenschaften, Bildtheorie und Ästhetik. Eine Monographie zu Wittgensteins Bilddenken (Habilitationsschrift) ist in Vorbereitung.
Image Burcu Dogramaci (Hg.) Migration und künstlerische Produktion Aktuelle Perspektiven 2013, 388 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2365-9
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur März 2014, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
Kai-Uwe Hemken (Hg.) Kritische Szenografie Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert Mai 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2569-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge 2013, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1
Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur April 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Wolfgang Wildgen Visuelle Semiotik Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild bis zur modernen Stadt 2013, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2440-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Anne Becker 9/11 als Bildereignis Zur visuellen Bewältigung des Anschlags 2013, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2443-4
Elize Bisanz, Marlene Heidel (Hg.) Bildgespenster Künstlerische Archive aus der DDR und ihre Rolle heute April 2014, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2461-8
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen April 2014, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
Silke Feldhoff Partizipative Kunst Genese, Typologie und Kritik einer Kunstform zwischen Spiel und Politik November 2014, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2301-7
Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 2013, 502 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
Franziska Koch Die »chinesische Avantgarde« und das Dispositiv der Ausstellung Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung August 2014, ca. 600 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2617-9
Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1
Alexia Pooth Kunst, Raum, Autorschaft Der Nachlass des US-amerikanischen Malers C.H. Phillips (1889-1975) aus autorgeografischer Perspektive März 2014, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2465-6
Rahel Puffert Die Kunst und ihre Folgen Zur Genealogie der Kunstvermittlung 2013, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2337-6
Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt, Johanne Mohs (Hg.) Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten Theorien – Praktiken – Perspektiven 2013, 286 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2264-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 14 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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