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German Pages 308 Year 2014
Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.) Philosophie in Experimenten
Edition Moderne Postmoderne
Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.)
Philosophie in Experimenten Versuche explorativen Denkens
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Z UR EINLEITUNG Eine Reihe schöner Experimente
Gerhard Gamm, Jens Kertscher | 9 Im Zwielicht des Versuchs Experimentieren in Philosophie und Wissenschaften
Gerhard Gamm | 15
E XPERIMENTELLE S ZENEN – P HILOSOPHIE, LITERATUR, S PRACHE Experiment im Gleichnis Platons Versuch, der Höhle zu entkommen
Petra Gehring | 37 Im Labor der Aufklärung Der Menschenversuch als Gedankenexperiment im 18. Jahrhundert
Nicolas Pethes | 51 Experiment Liebe Eine literaturwissenschaftliche Annäherung oder Musil begegnet Schlegel
Matthias Luserke-Jaqui | 69 Gavagai Vom Versuch (Quines) mit einer radikalen Übersetzung
Jens Kertscher | 91
V ERSUCHE UND EXPLORATIONEN – NATUR , W ISSENSCHAFT Subatomare Teilchen: Hergestellt oder entdeckt? Die experimentelle Methode und ihre Erfolge in der Physik
Brigitte Falkenburg | 115 Neue Experimente zu alten Fragen Libet, seine Nachfolger und der freie Wille
Michael Pauen | 137 Experimente am Rande der Stabilität Über die Brüchigkeit des Stabilisierungs-Versuchs im Projekt der Moderne
Jan C. Schmidt | 161 Aufstieg und Fall des Nichts Gewalt, Fremdheit, Verheißung der Experimentalwissenschaft
Alfred Nordmann | 183
G ESELLSCHAFT IN E XPERIMENTEN Besser sehen durch einen Schleier Ein Gedankenexperiment der Gerechtigkeit
Klaus Günther | 203 Vom Widerstand gegen soziale Autorität Die Milgram-Experimente
Gunzelin Schmid Noerr | 235 Experimentelle Selbstverwirklichung Von Marx bis heute
Georg Lohmann | 259 Realexperimente Laboratorien der Gesellschaft
Wolfgang Krohn | 283 Autorinnen und Autoren | 303
Zur Einleitung
Eine Reihe schöner Experimente G ERHARD G AMM , J ENS K ERTSCHER
Und was wollen wir von der Philosophie? Sie soll die Experimente analysieren, indem sie ihrerseits reflexive Experimente macht. Jean-François Lyotard
»Eine Reihenfolge schöner Experimente«, notiert Friedrich Nietzsche im Herbst 1881, »ist einer der höchsten Theatergenüsse«.1 Nietzsche beim Wort nehmend, wird in diesem Buch Philosophie(ren) anhand von Experimenten zum Programm gemacht. Die leitende Idee ist dabei weniger, Philosophie(ren) als Lehre oder Weltanschauung zu präsentieren, sondern als ein Unternehmen, das sich in einer Art work in progress unter die wissenschaftlichen und philosophischen Debatten schaltet, die ihren Ausgang von paradigmatischen Experimenten genommen haben. Philosophie in diesem Sinn versteht sich als eine reflexive Unternehmung, die sich – als eine weitere Stimme – mit ihren epistemologischen, ethischen und ästhetischen Fragen an den je aktuellen Selbst- und Weltbildexplikationen beteiligt. Die ins Programm aufgenommenen Experimente, die zu gleichen Teilen aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften stammen, haben in der Regel eine interessante und kontroverse Interpretationsgeschichte. Aus ihr kann man, weit über den im engeren Sinn wissenschaftlichen Gehalt hinaus, einiges über die implizite Philosophie von Experimenten und ihre methodische Konzeptualisierung der Realität lernen. Neben diesem Anliegen bleibt auch die inhaltliche Leitfrage nach dem, was die jeweilige physikalische, biologische, soziale und literarische Realität zu dem macht, was sie ist, nicht ausgespart: Welche Zugän-
1
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Kritische Studienausgabe (KSA), hg. v. G. Colli, M. Montinari, München 1988, Bd. 9, S. 451.
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ge und Validierungschancen eröffnet das Experiment für das philosophische Verständnis der Realität? Welche Rolle spielt es und in welcher Form? Man kann bei dem Titel Philosophie in Experimenten fünf Bedeutungsmomente unterscheiden, sie kommen mit unterschiedlichem Gewicht in den Einzeldarstellungen zur Sprache. Ein erstes Moment verweist auf die offene oder verdeckte ›Philosophie‹, die jedes Experiment in Form von (philosophischen) Grundbegriffen, Hintergrundüberzeugungen und Extrapolationen mit sich führt. Ein zweites erinnert daran, dass seit jeher die Seins- und Denkweisen der Philosophie dem Versuch und der Frage mindestens so nahe gestanden sind wie dem (endgültigen) Schluss. Das tritt heute – drittens – stärker denn je in den Vordergrund, vor allem an der sozialhistorischen Verschiebung, wenn nicht nachdrücklichen Forderung, der sich die Philosophie so wenig wie die Wissenschaft entziehen kann: sich stärker auf eine interdisziplinäre, an aktuellen Problemlagen ausgerichtete Themen- und Projektbearbeitung umzustellen. Bleibt ein weiteres Moment, das für die Buchkonzeption von vorrangiger Bedeutung gewesen ist, Denk- und andere Experimente zum Anlass zu nehmen, um über die Gültigkeit und Reichweite philosophischer Ideen nachzudenken: sie entweder mit den Ergebnissen neuer Experimente zu konfrontieren bzw. auf die Probe zu stellen oder auch im Rekurs auf Experimente zu versuchen, die Relevanz und Stichhaltigkeit philosophischer Konzepte zu verdeutlichen. Last but not least lässt sich nicht davon absehen, dass die moderne Welt eine besondere Affinität zum Experiment verspürt, fast möchte man sagen, die Modernität des Zeitalters und der Geist des Experimentellen seien ein und dasselbe. In jedem Fall müsste eine Welt, der es immer schwerer fällt, ihre Motivation und Orientierung aus den großen Rahmenerzählungen der Tradition (des Christentums, des Sozialismus, der Aufklärung usf.) zu schöpfen, ein großes Interesse daran haben, in experimenteller Selbst- und Weltbeobachtung herauszufinden, welche Lebensweisen die für sie förderlichsten sind. Schon vor 200 Jahren hat Friedrich Wilhelm Schelling an den durch nationale Eigentümlichkeiten geprägten Denkstilen der Philosophie Anstoß genommen und derart Kritik geübt, dass eine »wahrhaft universelle Philosophie« über die engen Grenzen der einzelnen Völker hinausgehen müsse. Während deutschsprachige Philosophen eher zur Spekulation neigten, d. h. die Philosophie als Vernunftwissenschaft auffassten, sähen sie Franzosen und Angelsachsen in großer Nähe zu den Erfahrungswissenschaften. Für die Deutschen sei der Rationalismus die philosophisch einzig legitime Denkform; Franzosen und Engländer hingegen hielten den Empirismus für das Standardmodell, innerhalb dessen sich philosophische Gedanken zu bewegen hätten.
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In unseren Tagen hat Gilles Deleuze diese Vermutung von nationaltypologisch geprägten philosophischen Denkstilen erneuert und der Philosophie rechtsrheinisch den Vorwurf mangelnder Experimentierfreude gemacht. Franzosen, aber vor allem die Engländer betrachten die Welt als »radikales Experimentierund Erfahrungsfeld«, während die Deutschen ihrer alten Liebe zum Absoluten – in Form von Grundlegungsdiskursen – treu blieben. »In der Dreiheit Gründen – Bauen – Wohnen sind es die Franzosen, die bauen, und die Deutschen, die gründen, während die Engländer wohnen. Ein Zelt reicht ihnen«2, ein Zelt, das sie wie die Nomaden an wechselnden Orten ständig auf- und abbauen müssen. Sie ziehen auf der »zerbrochenen, fraktalisierten, über das ganze Universum ausgebreiteten alten griechischen Erde umher«. Sie müssen sich dort, wo sie sich niederlassen, stets die Orte wie Begriffe neu aneignen, d. h. erwerben. Begriffe erwirbt man dadurch, dass man eine Gewohnheit annimmt. Man campiert an einem Ort ohne festen Bezugspunkt. Gewohnheiten wiederum entwickeln sich in der Übernahme dessen, was man betrachtet, womit man sich auseinandersetzt. So wird »die Gewohnheit […] schöpferisch«.3 Damit trifft Deleuze u. E. einen wunden Punkt. Es lässt sich schwerlich übersehen, dass in unseren Breiten der philosophische Sinn für experimentelles Denken unterentwickelt ist. Es ist daher unsere Intention, der Philosophie versuchsweise, wie Nietzsche sagt, etwas mehr Experimentalcharakter einzuflößen, aber so, dass sie durch die Anlehnung an natur- und sozialwissenschaftliche Experimente und deren Diskussionsgeschichte nicht jeder methodischen Orientierung entraten muss. Die Philosophie soll Experimente analysieren, um ihrerseits reflexive Experimente zu machen. Dazu bietet der einführende Aufsatz von Gerhard Gamm eine Art warm up, in dem er Streifzüge durch die unterschiedlichen Gebrauchsweisen und Kontexte des Experimentbegriffs unternimmt. Diese lassen die Auffassung durchblicken, dass der Versuch – in seinen exponierten Gestalten von Experiment und Essay – dem Denk- und Erfahrungsstil der Moderne im Ganzen angemessen ist. Das Leben wird als großes Experimentierfeld betrachtet, weniger als etwas, das durch schicksalshafte Größen bestimmt wird. Schränkt man also den Experimentbegriff nicht auf die naturwissenschaftliche Erkenntnistechnik des Experimentierens ein, bekommt auch die Philosophie, seit es sie gibt, einen experimentellen Zug. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen landet man fast zwingend bei Platon. Petra Gehring begreift
2
Gilles Deleuze, Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt/M. 1996, S. 122; vgl.
3
Ebd., S. 122.
insges. S. 97-135.
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Platons Texte als die Blaupausen für nahezu alle in der Philosophiegeschichte erprobten Denkfiguren, als philosophische Abenteuer, die sich durchaus als Vorläufer des Experiments betrachten lassen. Exemplarisch für solche Überlegungen präsentiert Gehring das Höhlengleichnis als Gedankenexperiment, bei welchem alle: Sokrates, Glaukon, Platon, sogar Platons Leser, zu Beteiligten einer demonstratio ad oculos werden. Nicolas Pethes skizziert eine mit der Aufklärungsanthropologie einsetzende Genealogie des Menschenversuchs. Ausgehend von literarisch-philosophischen Diskursen des 18. Jahrhunderts zeigt Pethes, wie die damaligen Wissenschaften vom Menschen mit protoexperimentellen Situationen, die vor allem in literarischen Werken durchgespielt wurden, die Möglichkeitsbedingungen für eine zukünftige Betrachtung des Menschen als Versuchsobjekt geschaffen haben. Matthias Luserke-Jaqui zeigt im Rahmen einer durchaus als literaturwissenschaftliches Experiment gedachten Konfrontation von Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ mit Friedrich Schlegels ›Lucinde‹, dass gerade das Experiment der sogenannten romantischen Liebe einer sprachlich-textuellen Darbietung bedarf, um als große Liebe erkannt und verbürgt zu werden. Nach Luserke-Jaquis Deutung lässt sich das Romantische in Schlegels Liebesmodell daran erkennen, dass er dem Liebesdiskurs als Text die größtmögliche Authentizität des Gefühls einräumt und dies, entgegen jüngerer literaturwissenschaftlicher Arbeiten, unabhängig von jedweder gattungstypologischen Diskussion. Liebe wird hier als kulturelles Muster verstanden, das die Sprache als Geschlechter- und Liebesordnung ebenso regelt wie es sie in Unordnung zu bringen vermag. Mit einem weiteren philosophischen Gedankenexperiment schließt die erste Abteilung des Bandes: Jens Kertscher nimmt eines der meistdiskutierten Gedankenexperimente der Philosophie des 20. Jahrhunderts – Quines Experiment der radikalen Erstübersetzung – zum Anlass, um einige generelle Überlegungen vorzustellen, die jüngst von Timothy Williamson über die Methode des Gedankenexperiments in der Philosophie vorgelegt wurden, und sie mit den metaphilosophischen Hintergrundannahmen von Quine zu konfrontieren. Seinen ursprünglichen Ort hat das Experiment in den neuzeitlichen Naturwissenschaften. Die zweite Abteilung widmet sich daher dem Thema Experiment im Kontext von Natur und Wissenschaft. Brigitte Falkenburg diskutiert die experimentelle Methode in der neuzeitlichen Physik im Hinblick auf die Frage, wie sich durch Experimente gewonnene Ergebnisse auf die Wirklichkeit beziehen. Am Beispiel der subatomaren Teilchen zeigt Falkenburg, wie die seit Beginn der Neuzeit maßgebliche Realitätsvorstellung durch die Quantenphysik scheitert. Quanten-›Objekte‹ sind keine Objekte im herkömmlichen Sinn. Sie sind eine Wirklichkeit, für die es zwar präzise mathematische Begriffe und phy-
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sikalische Messverfahren gibt, die sich jedoch mit den tradierten philosophischen Begriffen nicht erfassen lassen. Der Streit zwischen Determination und Willensfreiheit ist ein klassisches philosophisches Thema. Welche theoretischen Optionen bleiben der Philosophie, wenn von naturwissenschaftlicher Seite der Anspruch erhoben wird, metaphysische Probleme empirisch lösen zu können? Das bekannteste Experiment zum Problem der Willensfreiheit ist Anfang der 1980er Jahre von Benjamin Libet durchgeführt worden. Michael Pauen unterzieht dieses Experiment einer philosophischen Analyse, die sowohl den aktuellen Stand der Debatte zur Willensfreiheit berücksichtigt als auch Fragen zum Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaften reflektiert. Stabilitätsannahmen gehören scheinbar zu den Voraussetzungen des Experimentierens in den exakten Naturwissenschaften. Jan C. Schmidt zufolge ließe sich die Geschichte der Physik als Geschichte einer impliziten Stabilitätsannahme erzählen. Vor dem Hintergrund neuerer Entwicklungen in Chaos-, Katastrophen-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorien erweist sich dieser moderne Stabilisierungsversuch als brüchig und spannungsreich. Experimentalität und Instabilität problematisieren sich wechselseitig. Schmidts Fazit aus seiner Analyse einiger methodologischer Probleme der klassisch-modernen Physik lautet daher, dass die Zukunft weniger experimentell als instabil und nicht-reproduzierbar zu sein scheint – ein Tanz auf des Messers Schneide. Die außergewöhnliche Geschichte eines außergewöhnlichen Experiments, das in geläufigen Rekonstruktionen als Nachweis des Vakuums gilt, präsentiert Alfred Nordmann. Er fragt, wie das vacuum-invacuo-Experiment wahrgenommen wurde, wie es gewirkt hat, und bettet seine Geschichte in Reflexionen über das sich wandelnde Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ein. Nach mehr als dreihundert Jahren erscheint die Vakuumpumpe im Lichte der neueren Technowissenschaften als Sinn- und Vorbild einer mit sich selbst experimentierenden Wissensgesellschaft. Mit diesem Ausblick auf aktuelle Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft leitet Nordmanns Beitrag zu einer dritten Abteilung. Unter dem Titel ›Gesellschaft in Experimenten‹ wird die Thematik des Buches in einen im weitesten Sinne sozialphilosophischen Kontext gestellt. John Rawls hat mit seiner Gerechtigkeitstheorie die politische Philosophie nach einer langen Phase des Stillstandes nachhaltig wiederbelebt und erneuert. Gerecht wäre nach Rawls diejenige Grundordnung, auf die sich Mitglieder einer Gesellschaft unter fairen Bedingungen in einer fiktiven Vertragssituation geeinigt hätten. Rawls erneuert damit die neuzeitliche Tradition der Vertragstheorie in der politischen Philosophie. In seinem Beitrag analysiert Klaus Günther Rawls’ Konstruktion und zeigt ihre bleibende Aktualität für die normative Selbstvergewisserung moderner Gesell-
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schaften. Die Bedeutung guter sozialer Verhältnisse unterstreicht auch Gunzelin Schmid Noerr in seinem Beitrag über die Experimente zur Gehorsambereitschaft des amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram. Diese vielleicht berühmtesten, aber wohl auch ethisch umstrittensten Experimente der Sozialpsychologie sollten ursprünglich einen Beitrag zur Erklärung des Sozialverhaltens in autoritären Systemen leisten. Schmid Noerr unterstreicht ihre Aktualität, indem er diese Versuche gleichsam gegen den Strich interpretiert und aus ihnen Bedingungen des Widerstands gegen soziale Autorität abliest. Mit dem Beitrag von Georg Lohmann rückt demgegenüber die Perspektive des Individuums und seiner Lebensdeutungen in den Blick. Neuere Debatten in der praktischen Philosophie zum Thema ›Glück‹ und ›gutes Leben‹ haben die Aufmerksamkeit auf die nicht zuletzt auch in vielen gegenwärtigen Zeitdiagnosen prominente Kategorie der ›Selbstverwirklichung‹ gelenkt. Lohmann untersucht dieses Lebensdeutungsmodell, indem er verschiedene, paradigmatische Konzeptionen von Selbstverwirklichung von Marx bis Habermas und Taylor diskutiert. Ihm geht es dabei um die Vertiefung des Problembewusstseins: Auf die Freiheit und Kreativität experimenteller Selbstverwirklichung können wir nicht verzichten, gleichwohl sollten wir dem experimentellen Umgang mit uns selbst soziale und ethische Grenzen setzen. Ein eigenes, bereits von Jan Schmidt und Alfred Nordmann angesprochenes Problemfeld eröffnen Realexperimente, wie sie beispielsweise in der medizinischen und ökologischen Forschung, oder auch im Rahmen von Sozialexperimenten, die an gesellschaftliche Reformvorhaben geknüpft sind, durchgeführt werden. Ihre gesellschaftspolitischen wie auch wissenschaftstheoretischen Implikationen diskutiert im abschließenden Beitrag Wolfgang Krohn. Im Gegensatz zu Laborexperimenten handelt es sich um Versuche, die – meistens verbunden mit der Hoffnung auf eine bessere Koordination von Forschungs- und Innovationsprozessen – in gesellschaftlichen und natürlichen Wirklichkeiten stattfinden. Daran knüpfen sich nicht nur besondere Legitimationsprobleme, sondern auch wissenschaftstheoretische Fragen, die mit den Komplexitätsbedingungen solcher Experimente zusammenhängen. Nach Krohn setzen sich Realexperimente gesellschaftlich umso stärker durch, je demokratischer die Modernisierungsprozesse werden, je mehr also Betroffene des Wandels zu Beteiligten an dessen Design werden. Die Herausgeber danken Anja-Maria Foshag und insbesondere Felix Trautmann für ihre umsichtige redaktionelle Arbeit bei der Erstellung des Manuskripts. Darmstadt, im März 2011
Im Zwielicht des Versuchs Experimentieren in Philosophie und Wissenschaften G ERHARD G AMM
Wer experimentiert, der zeigt, dass es etwas gibt, was er nicht weiß, aber wissen möchte, dass ihm etwas nicht ohne Weiteres zur Verfügung steht, aber doch in Reichweite seines Wissens und Handelns liegen könnte. Wenn man experimentiert, beweist man einen Sinn für Offenheit und die Möglichkeit, etwas zu verändern. Man rechnet damit, im Verlauf des Experiments auf etwas zu stoßen, das einem weiterhelfen könnte. Ein Experiment unterbricht den gewöhnlichen Gang der Dinge, es macht eine Zäsur, es abstrahiert, gruppiert und serialisiert die Eigenschaften und Ereignisse eines bestimmten Ausschnitts der Welt. Es macht die Dinge mehr oder weniger methodisch zurecht und bringt uns dadurch in eine gewisse Distanz zu dem, was wir mittels seines Designs beabsichtigen, herauszufinden. In einem weiten Sinne kann man mit Dingen wie Gedanken, mit Personen wie Zuständen experimentieren. Ein herausragendes Feld für Experimente sind die Wissenschaften. Sie nutzen Experimente als Methode der Erkenntnisgewinnung. Ein Experiment – so lautet die Standarddefinition – sei die planmäßige Herstellung von Umständen zur Durchführung einer wissenschaftlichen Beobachtung. Die Durchführung hängt wesentlich davon ab, dass die Bedingungen, unter denen etwas beobachtet wird, weitgehend kontrolliert werden können. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn sie sich – wie im Labor des Chemikers oder Physikers – künstlich herstellen lassen. Neben seiner Willkürlichkeit werden daher Reproduzierbarkeit (Wiederholbarkeit) und Variierbarkeit der Versuchsbedingungen als Kriterien angeführt, um die Allgemeingültigkeit der Aussagen, die das Experiment überprüft, abzusichern. Ein Experiment dient dem Zweck, allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzufinden, d. h. kausale Beziehungen zwischen unterschiedlichen Größen zu ermitteln. Diese werden üblicherweise in Form von Korrelationen dargestellt.
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W IEDERERWACHTES I NTERESSE Das Experiment gilt als die wichtigste Methode der Erfahrungswissenschaften. Aufgrund seiner Bindung an künstlich herbeigeführte Beobachtungssituationen ergeben sich für die verschiedenen Wissenschaften spezifische Einschränkungen, z. B. für die Geschichte, die Archäologie, die Astronomie, die Psychologie, die Soziologie usf. Und selbst in der Chemie und der Physik, der Biologie und den Ingenieurwissenschaften, deren Erkenntnisse hauptsächlich auf Erfahrungswissen beruhen, ist die Erfahrung keineswegs allein die Quelle allen Wissens. Im vorliegenden Buch geht es nicht primär darum, zu klären, was ein Experiment ist, wie es funktioniert, welchen weitläufigen epistemologischen Gebrauch die Human- und die Natur-, die Sozial- und Ingenieurwissenschaften von ihm machen: ob sie dabei eher induktiv verfahren, wie es der britische Lordkanzler Francis Bacon im 17. Jahrhundert vorgeschlagen hat, um ausgehend von empirischen Gegebenheiten (Erscheinungen) auf die Theorie zu schließen oder, wie es später in Mode kam, um einer höheren Rationalität Willen einen Primat der Theorie zu postulieren und Experimente nachträglich als Testläufe der jeweiligen theoretischen Hypothesen aufzufassen. Im Kontext dieser langwierigen Debatten wurde man indes auch der Schwierigkeit gewahr, die im Anspruch, strikte experimentelle Beweise für die Gültigkeit wissenschaftlicher Theorien zu liefern, steckte. Man fragte sich, ob es strikte experimentelle Beweise zum Beleg einer wissenschaftlichen Theorie überhaupt geben kann. Die Zweifel an der Vorstellung eines (strittige Fälle endgültig entscheidenden) Experimentum crucis sind in den letzten Jahrzehnten nicht kleiner geworden. Eher sind sie gewachsen. Im Rahmen sozialkonstruktivistischer Wissenschaftsforschung wird dem Experiment die Fähigkeit, wissenschaftliche Kontroversen zu entscheiden, abgesprochen. Seit den 1980er Jahren hat die wissenschaftstheoretische Diskussion das Experiment wieder stärker ins Blickfeld gerückt. Infolge der pragmatischen Wende der Wissenschaftstheorie (Th. S. Kuhn, P. Feyerabend, I. Lakatos usf.) galt das Interesse zunehmend dem, was Wissenschaftler tatsächlich tun, wenn sie forschen, d. h. experimentieren, und der Frage, wie Wissenschaft als soziale Institution verfährt, um die sachgerechte Fabrikation von Wissen zu gewährleisten – von Laborstudien über Analysen der Publikationspraxis bis hin zu den Fragen der Forschungsfinanzierung. In diesem Zusammenhang gerieten auch die konkreten Verfahrensweisen der wissenschaftlichen Praxis – die Experimentalsysteme, wie sie heute häufig genannt werden – genauer in den Blick. Auf der anderen Seite sind heute ›Gedankenexperimente‹ in der Philosophie und in den Wissenschaften ein Thema, das Hochkonjunktur hat. Von Hilary
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Putnams Gedankenexperiment ›Gehirne im Tank‹ über John Searles ›Chinesisches Zimmer‹ bis zu der Überlegung, ›was es für die Identität eines Menschen bedeutet, wenn wir sie in Sekundenbruchteilen von einem Ort zum anderen beamen könnten …?‹ reichen die Diskussionen, die den Status des Gedankenexperiments – seine heuristische Funktion, seine explanatorische Kraft und seine wissenschaftsinterne Validität – zu klären und abzuschätzen versuchen. Blickt man auf das wiedererwachte Interesse am Experiment, fällt zunächst auf, dass sich das wissenschaftstheoretische Interesse nicht mehr wie noch in den Hochzeiten des logischen Positivismus darauf richtet, an ihm – mit der Physik als Modell – eine ideale Norm erfahrungswissenschaftlich fundierter Forschung explizieren zu können, sondern darauf, den vielfältigen Gebrauch zu analysieren, den die unterschiedlichen Wissenschaften zur Stabilisierung ihres Wissens von ihm machen. Es scheint, dass – je nach Zweck und Interesse – die Wissenschaften das Experiment ihren spezifischen Erfordernissen anpassen. Ob man sich in der Elementarteilchenphysik mit den kleinsten Partikeln beschäftigt oder in der Neurobiologie mit den Folgen des Schlafentzugs bei Menschen, Affen und Kaninchen, zieht mehr oder weniger große Konsequenzen für den Versuchsaufbau nach sich und kann nur in Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen, rechtlichen, ethischen, politischen, finanziellen, technischen usf. Rahmenbedingungen geklärt werden, die heute auf die experimentelle Forschung Einfluss nehmen. Das hat unter anderem dazu geführt, die strenge wissenschaftliche Definition (Variierbarkeit, Reproduzierbarkeit, usf.) zu lockern. Wenn Karl Popper schreibt: »Der Experimentator wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen […]. Der Theoretiker […] ist es, der dem Experimentator den Weg weist«1, dann folgt er der klassischen Vorstellung des Experiments als wohldefiniertem Testverfahren zur empirischen Hypothesenüberprüfung. Das Experiment soll Schiedsrichter im Blick auf wissenschaftlich umstrittene Fragen sein. Kant hatte auf vergleichbare Weise die wissenschaftlich-experimentelle Einstellung der Neuzeit zum Vorbild der Philosophie, d. h. der Metaphysik, erhoben. Sie sollte mit den Prinzipien der Vernunft auf der einen, und dem Experiment auf der anderen Seite, an die Natur (des Wissens) gehen – nicht in der Qualität eines Schülers, der sich vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern in der Art eines »bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.«2
1
Karl R. Popper: Logik der Forschung [1935], Tübingen 1976, S. 72.
2
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe hg. v. R. Schmidt, Hamburg 1976, B XIII.
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Die Werkstattanalysen der neueren Wissenschaftsforschung zeigen ein anderes Bild, das eher dem gleicht, was Ludwik Fleck in seinem Buch über die ›Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache‹ schon in den 30er Jahren gezeichnet hat. Wissenschaftler machen im Normalfall weniger einzelne Experimente, die sie im Rahmen vorab definierter Theorien ausführen; die Regel sind ganze Serien von Experimenten und Kontrollen. Sie bedürfen überdies betreffs ihrer Durchführung einer ständigen Übung, die selbst eine Art ›Handschrift‹, von Fleck ›Stil‹ genannt, hinterlässt. Die Experimentalanordnungen sind so entworfen, dass sie es dem Forscher gestatten, ein Wissen zu produzieren, das er noch nicht besitzt. Wahrscheinlich noch entscheidender ist, dass die experimentell organisierte Forschung mit Versuchsanordnungen arbeitet, die weit weniger scharf definiert sind als die positivistische und kritisch-rationalistische Wissenschaftstheorie es unterstellt hat. Was auch bedeutet, dass die Ergebnisse, die ein Experiment erbringt, Interpretationsspielräume offenlegen und d. h. keineswegs klare und eindeutige Antworten liefern. Fleck stellt diesen Befund überaus pointiert heraus: »Wäre ein Forschungsexperiment klar, es wäre überhaupt unnötig: Denn um ein Experiment klar zu gestalten muß man sein Ergebnis von vorneherein wissen, sonst kann man es nicht begrenzen und zielbewusst suchen.«3 Man kann aufs Ganze gesehen vielleicht davon ausgehen, dass das Experiment in den Wissenschaften, insbesondere seine Rolle bzw. Funktion im Rahmen der Forschung, von Seiten der Wissenschaftshistoriker und -philosophen eine Neubewertung erfahren hat. Würde man mit Blick auf eine Skala, die durch definitiv, klar, hart usf. an dem einen Ende und durch explorativ, unscharf, weich usf. an dem anderen begrenzt wird, nach der Einordnung des experimentellen Forschungshandelns heute fragen, lautete das Urteil sicher, dass seine explorativen Möglichkeiten weit höher stünden und weit höher eingeschätzt würden als seine definitorischen, die dem Experiment die Aufgabe zuweisen, als Testverfahren zur Thesenüberprüfung zu dienen; dass die Offenheit experimenteller Forschung eine größere Herausforderung an die Wissenschaftshistoriker und -soziologen darstellt als die, die das Experiment einzig als ein in allen Teilen kontrolliertes Beweisverfahren betrachten; dass wir es bei einer experimentellen Forschung, die sich nur schwer nach Grundlagen- und Anwendungsforschung unterscheiden lässt, ständig mit einer Durchmischung beider Gesichtspunkte zu tun haben.4
3
Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935],
4
In der einen oder anderen Form reflektieren alle Beiträge dieses Bandes auf diese
Frankfurt/M. 1980, S. 114. Durchdringung.
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E XPERIMENTAL -P HILOSOPHIE In der Philosophie beschäftigen sich vor allem die Wissenschaftstheorie, vermehrt aber auch die Geisteswissenschaften mit der Rolle des Experiments in den Natur- und Sozialwissenschaften, besonders in ihrer Suche danach, welchen Gebrauch die nach Gattungen unterschiedenen literarischen Texte von der Semantik des Experiments machen. Auf zwei andere Stränge einer ›scientia experimentalis‹ in der Geschichte der Philosophie möchte ich hinweisen. Von Experimentalphilosophie (›experientia‹, ›scientia experimentalis‹) zu sprechen, bekommt im 17. Jahrhundert eine veränderte Bedeutung. Experimentalphilosophie wird zum Inbegriff einer neuen, methodologischen Orientierung der Philosophie als Erfahrungswissenschaft. Theorie und Begründung werden in ein neues erkenntnistheoretisches Verhältnis gesetzt. Anders als die Scholastik bildet die Methodendiskussion um Galileo Galilei und Francis Bacon einen induktiven und einen konstruktiven Begriff der Erfahrung aus. Das neue Methodenideal orientiert sich im Prinzip an der Beobachtung – als Basis induktiver Argumente – und an einer Theorie des Experiments – als einer Erfahrung, die sich instrumentell bzw. konstruktiv erzwingen lässt. Im neuzeitlichen Selbstverständnis der Philosophie gilt Francis Bacon als Begründer der sogenannten Experimentalphilosophie. Voltaire nennt ihn daher »le père de la philosophie expérimentale«. Gut 300 Jahre später hat der Geist des Experiments alle Wissenszweige erreicht, er marschiert durch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wie kurze Zeit zuvor die Armeen Napoleons durch Europa. Erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang, dass bedeutende Protagonisten der Französischen Revolution Naturwissenschaftler waren. Auch die Gesellschaft wird im 19. Jahrhundert als Experimentierfeld betrachtet. Nietzsche nennt seine Art und Weise zu philosophieren – das heißt seine AntiPhilosophie – ›Experimental-Philosophie‹. Wie meist ein wenig großspurig und pathetisch heißt es bei ihm, »ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören.«5 Oder: »So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unser eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«
6
5
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe (KSA),
6
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, in: KSA, Bd. 3, S. 274.
hg. v. G. Colli, M. Montinari, München 1988, Bd. 3, S. 416.
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Nietzsches Experimentalphilosophie orientiert sich weniger am konstruktiven Geist der Wissenschaften, sein Leitfaden ist die Kunst. Auch geht es bei ihm zuletzt nicht um experimentell zu erzwingende Wahrheit (um die Vorstellung eines Experiments als eines ›bestallten Richters‹, wie Kant sagt), sondern um Fragen des unterschiedlichen Gebrauchs von Perspektiven: um Bedeutsamkeit, und experimentelle Sinnorientierung. Um etwas über das Leben zu erfahren, muss man erstens die Moral auf Distanz halten und zweitens experimentieren. Man muss die Objektivität der Erkenntnis erhöhen, aber nicht so, dass man die Affekte und Willenskräfte ausschaltet, um der Fiktion eines (neutralen) Beobachters nachzujagen, der als reiner Spiegel der Welt diese erfasst, wie sie ist, sondern so, dass »man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu machen weiß […]. Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsere ›Objektivität‹ sein.«7
Was verleiht nach der ›Ermordung‹ Gottes eigentlich dem individuellen Leben Wert und Bedeutung? Nietzsche charakterisiert die Experimentalphilosophie in seinem Sinn wie folgt: »Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, […] bei einem Willen zum Nein stehenbliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten.«8
Es ist allenthalben der Geist des Experiments, der gegen Mitte des 19. Jahrhunderts (und fortschreitend) die Gemüter erregt. Nicht allein die Naturforscher stehen im Bann der Techniken des Ausprobierens, auch die Analytiker der Kultur und des Geistes erproben diese Methode. Sie experimentieren mit Standpunkten und Begriffen wie die Physiker mit Pendel und Feder. Nicht nur durch die Schriften Nietzsches und Marxens weht der Wind des Experiments, auch Baudelaire und Peirce, die Maler und Romanschriftsteller (Strindberg, Zola, Roman
7
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: KSA, Bd. 5, S. 365.
8
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, in: KSA, Bd. 13, S. 492.
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experimental), erproben die Belastbarkeit von Begriffen und Vorstellungen, versuchen sich in wechselnden Diskursrollen und Perspektiven, basteln an Hypothesen. Baudelaire schreibt: »Um die Seele eines Dichters zu durchschauen, muß man in seinem Werk diejenigen Worte aufsuchen, die am häufigsten vorkommen.«9 Charles Sanders Peirce, ein Stammvater des Pragmatismus, legt, anders als Nietzsche, den Akzent auf die Seite von Wissenschaft und Logik. Charakteristisch für das pragmatische Denken, schreibt Peirce, sei der ›laboratory habit of mind‹. Pragmatisch verfährt, wer im experimentellen Erproben von Begriffsbedeutungen das, was wahr ist, zu ermitteln sucht. Nicht um selbstgenügsame Analyse oder Introspektion ist es ihm zu tun; erst mit Blick auf die künftigen Konsequenzen kann der Bedeutungsgehalt eines Begriffs geklärt werden. Kurz, die Bedeutung eines Begriffs wird vom Gedanken eines – weit gefassten – experimentierenden Erprobens (oder Erkundens) her gedeutet. Sinn und Bedeutung eines Gedankens werden durch die experimentelle Vergegenwärtigung derjenigen Handlungen definiert, die er hervorruft. In Philosophie, Wissenschaft und Geschichte hat man auf recht unterschiedliche Weise vom Experiment Gebrauch gemacht. Drei Perspektiven sollen im Folgenden näher charakterisiert werden. Dabei geht es nicht um eine Systematik des Experimentellen in der Philosophie, sondern – um es sportlich zu nehmen – um ein warm up der Gedanken zur Einstimmung auf die kommenden Beiträge.
E INE T ECHNOLOGIE DER S ICHTBARKEIT – S EHEN UND G ESEHENWERDEN Die Semantik des Experiments, seine explorative und interpretative Sprache, hat sich Michel Foucault in seiner Darstellung des panoptikons – des berühmtberüchtigten Gefängnisbaus des Sozialreformers (und Initiators des Utilitarismus) Jeremy Bentham – zunutze gemacht. Das Panoptikum ist für Foucault das »kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage«10. In dieser Anlage wird der Gefangene gesehen, ohne selber die sehen zu können, die ihn bewachen. Nach seinem Plan eines perfekten Gefängnisses sollte es so konstruiert sein, dass in jedem Augenblick jeder Gefangene dem Kontrollblick der Wärter ausgesetzt ist: »Er [der Gefangene, G. G.] wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist ein Objekt
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Zitiert nach: Horst J. Frank: Wie interpretiere ich ein Gedicht, 4. Aufl., Tübingen 1998, S. 41.
10 Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1974, S. 253.
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der Information, niemals Subjekt der Kommunikation«.11 Ständig den (unsichtbaren) Blicken der Wärter ausgesetzt, soll der Insasse die disziplinierende Instanz nach und nach verinnerlichen. Der fehlende soziale Kontrollblick soll im Innern des Gefangenen aufgerichtet werden. Das Panoptikum sei, wegen der weitgehenden Verhaltenskontrolle des Versuchsobjekts, wie Foucault schreibt, »Naturforschung«, »ein bevorzugter Ort für Experimente«.12 Die Wirksamkeit dieser politischen wie pädagogischen Technologie beruhe darauf, »eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden [zu sein]: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.«13 Wenn überhaupt, dann trifft auf diese ›Maschine‹ eine Formel der sozialwissenschaftlichen Technikforschung zu: »artifacts makes politics«. Die Gefängnisarchitektur verkörpert eine politische und pädagogische Technologie zur Abrichtung von Menschen auf sozial erwünschte Verhaltensweisen. Sie gleicht dem, was die Soziologen der 1960er Jahre eine »totale Institution« genannt haben (Psychiatrie, Gefängnis usf.). Man sollte aber auch nicht vergessen, dass Benthams Vorstellung weder als Gefängnis- noch als Geschäftsbau in die Tat umgesetzt wurde, obwohl sie damals, d. h. in der nachrevolutionären Zeit der Wende zum 19. Jahrhundert, auf große Zustimmung stieß. Das Experiment ist in diesem Sinn ein Kontrollmechanismus, der herausbringen soll, was die Natur, aber auch die Körper und die Psyche der Menschen, die sozialen Gruppen und die Gesellschaft nicht preisgeben wollen. Der ganzen Anlage nach zielt das Experiment darauf, dem, was beobachtet wird, Wissen abzupressen; mittels List und Tücke oder zur wissenschaftlichen Methode geadelten Verfahren zu Leibe zu rücken: die hohe Kunst der Konstruktion einer Erfahrung unter der Oberfläche der Erscheinungen – entweder, um Gesetzmäßigkeiten zu entdecken oder um solche zu überprüfen. Alles Interesse an der Erfahrung ist Interesse an den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Erfahrung, also nicht an Erfahrung im landläufigen Sinn, sondern an dem, was die Erfahrung zur Erfahrung macht; und das ist das gesetzmäßige Verständnis des Zusammenhangs. Eine Tatsache sei nichts ohne die Kenntnis dessen, woraus sie erwachsen ist, ohne ihre ›Motivierung‹, wie Nietzsche lapidar bemerkt hat. Experimente helfen, etwas sichtbar zu machen oder zu verdeutlichen, sie sollen das zur Sichtbarkeit bringen, was an der Oberfläche der Erscheinungen unsichtbar bleibt. Was unsichtbar ist, soll in Erscheinung treten. Dazu wird in
11 Ebd., S. 257. 12 Ebd., S. 262. 13 Ebd., S. 259.
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der Regel ein Macht- und Wissensgefälle in die Versuchsanordnung eingebaut – zwischen denen, die als Versuchsleiter die Wirklichkeit in einer bestimmten Versuchsanordnung nach-stellen und denen, die, mehr oder weniger über den eigentlichen Zweck des Experiments informiert, als Objekte – als Versuchsobjekte, Versuchspersonen usf. – fungieren oder mitmachen (müssen). Versuchspersonen vorab über die Ziele des Experiments zu informieren, könnte ihre Einstellung und Verhaltensweisen verändern. Stets hat das Experiment etwas von polizeilicher Ermittlung, es beruht gerade in human- und sozialwissenschaftlichen Kontexten nicht selten auf der Ausbeutung der Asymmetrie von Sehen und Gesehenwerden. Von allergrößter Bedeutung ist die Entkopplung von Sehen und Gesehenwerden in den sozial- und humanwissenschaftlichen Experimenten. Nahezu alle Streits und Einsprüche, alle Kritik und ethischen Bedenklichkeiten beziehen sich auf dieses Macht- und Wissensgefälle, auf diesen sozialen Symmetriebruch, der in den verschiedenen Experimenten ganz unterschiedlich konstruiert sein kann. Für den Autor – aufgewachsen im Geist des behaviouristisch geprägten psychologischen Experimentalismus der frühen 70er Jahre – war es ein Schock, zu lesen, was Kant dazu schreibt: dass er sich gar nicht vorstellen könne, dass es überhaupt Menschen gäbe, die sich freiwillig solchen Zwangsveranstaltungen wie wissenschaftlichen Experimenten unterwerfen. Nicht nur der mangelnden Operationalisierbarkeit und Mathematisierbarkeit ihrer Gegenstände wegen könnten seiner Auffassung nach Psychologie und Humanwissenschaften niemals strenge Wissenschaft sein. Kant schreibt, es sei für ihn undenkbar, dass »ein anderes denkendes Subjekt sich unseren Versuchen der [wissenschaftlichen, G. G.] Absicht angemessen von uns unterwerfen läßt«. Er ist überdies der Auffassung, dass »die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alteriert und verstellt«.14 Interessanterweise verbindet sich mit dem Begriff des Experiments aber auch eine jeder Kontrollabsicht entgegengesetzte Bedeutung, die Freuds dunkle Bemerkung über den »Gegensinn der Urworte« in Erinnerung ruft: Experimentieren kann auch den Charakter des Spielerischen tragen. Man kann das Ausprobieren, das Vorfühlen, den spielerischen Sinn im Gespanntsein auf das, was dabei herauskommt, in der experimentellen Einstellung nicht verleugnen. Hebt man seinen spielerischen Charakter hervor, wiederholt sich freilich, was das Experiment insgesamt in seiner definitiven und explorativen Funktion charakterisiert.
14 Immanuel Kant: »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften«, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. IV, S. 471.
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Wenn heute in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften von Spiel die Rede ist, denkt man nur noch selten an Friedrich Schiller und die »Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts«, d. h. an sein Diktum, dass der Mensch »nur da ganz Mensch [ist], wo er spielt« oder überhaupt an die romantische Idee eines funktionslosen, kreativen und freien Spiels, wie es die Kinder kennen. Vielmehr denkt man an die Spieltheorie, an jene Logik- und Argumentationskalküle von – vor allem wirtschaftswissenschaftlichen – Experimenten: an Strategiespiele zur Optimierung ökonomischen Nutzens und zur Minimierung der Kosten. Es geht um Überlegungen wie die, die dem ›Gefangenendilemma‹ oder dem ›Nash-Gleichgewicht‹ zugrunde liegen, also darum, dass es sogar für Egoisten manchmal von Nutzen sein kann, bereitwillig etwas abzugeben oder anderen den Vortritt zu lassen; oder, trotz gewisser Risiken, einen Vertrauenskredit einzuräumen. Kurz, es geht darum, dass altruistische Verhaltensweisen, umsichtig gehandhabt, regelmäßiger zu einer Verbesserung der eigenen Lage führen als solche, die sich bloß auf den eigenen Vorteil versteifen. Spielen heißt da Rechnen mit Erwartungswahrscheinlichkeiten – und zwar auf höchstem Niveau, dessen Komplexität dadurch definiert wird, dass man die Dynamik, d. h. den zeitlichen Verlauf, die Unberechenbarkeit des Gegenspielers sowie die Irreversibilität der Entscheidung mit in die Gleichung, d. h. ins Kalkül der Entscheidung, einbeziehen muss.
E SSAY
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Wenn es in der Schule heißt, ›heute machen wir einen Versuch‹, sprechen wir von einem Experiment. Versuchsanordnung ist ein anderes Wort für Experiment. Auffälligerweise berühren sich just im Begriff des Versuchs zwei Weisen der Welterschließung, die auf der Landkarte unseres Wissens eher weit entfernt voneinander zu liegen scheinen. ›Versuch‹ heißt nicht nur Experiment, auch die Literaturgattung Essay trägt diesen Namen. ›Essay‹ wird regelmäßig mit ›Versuch‹ übersetzt. Wenn Sie den Buchtitel ›Versuch über die Schwierigkeit, nein zu sagen‹ lesen, dann signalisiert der Titel, den der Religionsphilosoph Klaus Heinrich für sein Buch über Protest, Kritik und Widerstand gewählt hat, sogleich eine bedenkliche Provokation gegenüber der Philosophie. Diese schreibt in aller Regel zur Darstellung ihrer Gedanken die logischphilosophische Abhandlung akademisch vor. ›Philosophische Untersuchungen‹ – ›über das Wesen der menschlichen Freiheit‹ (Schelling) oder ›den menschlichen Verstand‹ (Hume) – bilden ein interessantes Mittelstück zwischen Essay und Traktat. Dabei nähert sich der Essay der Kunst an, wahrscheinlich, weil
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seine rhetorischen Elemente überwiegen, während im Traktat oder der Abhandlung die Logik, die deduktiv geordnete Ableitung der Gedanken, die Führung übernehmen soll. Das außerordentliche Unbehagen, das Philosophen angesichts des Essays empfinden, hat der dadaistische Schriftsteller und Romancier Carl Einstein auf den schönen Begriff der »neueröffneten Animierkneipe Essay« gebracht.15 Max Bense – Mitte des letzten Jahrhunderts Philosoph in Stuttgart, mit großem Interesse an den exakten Wissenschaften und der Technik, aber auch an Informationsästhetik – schreibt: »›Essay‹ heißt auf deutsch: Versuch. […] Wir sind davon überzeugt, dass der Essay Ausdruck einer experimentierenden Methode ist; es handelt sich bei ihm um experimentelles Schreiben, und man hat davon im selben Sinn zu sprechen, wie man von experimenteller Physik spricht, die sich mit ziemlicher Sauberkeit von der theoretischen Physik abgrenzen lässt. In der experimentellen Physik, um bei unserem Vergleich zu bleiben, stellt man eine Frage an die Natur, erwartet die Antwort, prüft sie und misst; die theoretische Physik beschreibt die Natur, indem sie ihre Gesetzmäßigkeiten aus mathematischen Notwendigkeiten analytisch, axiomatisch, deduktiv demonstriert. So unterscheidet sich also ein Essay von einer Abhandlung. Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und herwälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht und verwortet, was der Gegenstand unter den im 16
Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen lässt.«
Bense fährt fort: »[D]er Essay entspringt dem kritischen Wesen unseres Geistes, dessen Lust am Experimentieren einfach eine Notwendigkeit seiner Seinsart, seiner Methode ist. […] der Essay ist die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der muss mit Notwendigkeit experimentieren, er muß Bedingungen schaffen, unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird,«
kurz, er muss die Methode der mehr oder weniger großen Variation beherrschen, möglichst nah an der Sache bleiben, aber doch so, dass in der Variation ein bedeutsamer Unterschied: der kritische Gesichtspunkt auftauchen kann. Der Essay, so schreibt Bense weiter,
15 Carl Einstein: Bebuquin [1907/09], Stuttgart 1995, S. 22. 16 Max Bense: »Über den Essay und seine Prosa«, in: Merkur, 1. Heft 1. Jg. 1947, S. 417f.
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»müßte es aussprechen, daß es in jeder guten Kritik ein Gesetz der Erhaltung minimaler Variation des Gegenstandes gibt […], jedenfalls […] ist das Gesetz der minimalen Veränderung (Verrückung) auch das Gesetz, unter dem der kritische Essayist arbeitet, es ist die Methode seines Experiments. In diesem Sinn enthält sie alles, was kategorial unter den kritischen Geist fällt: Satire, Ironie, Zynik, Skepsis, räsonieren, nivellieren, karikieren usw. So wird aber gerade durch seine Bevorzugung des Essays offenbar, daß der Kritiker im Konfinium zwischen dem schöpferischen und ästhetischen Stadium einerseits und dem 17
ethischen Stadium der Tendenz andererseits beheimatet ist.«
Denken, Wahrnehmen und Beschreiben werden für die experimentelle Einstellung eine Sache der Haltung und des Blicks. Nichts erscheint in dieser Perspektive befremdlicher als der Anspruch, ein Problem lösen zu wollen oder zu einer mustergültigen Entscheidung über seine Ein- und Ausgänge zu gelangen. Von Interesse ist weit mehr, was es noch zu entdecken gibt, wie man die Dinge einerseits umfassender, globaler und andererseits genauer sehen kann. In diesem Sinn ist der Essay eine Schule des Sehenlernens. Er muss experimentell Bedingungen schaffen, unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird. Dass man durch neue Versuchsanordnungen lernt, den Gegenstand neu oder vor allem anders zu sehen, wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Schulen, Richtungen und Traditionen hinweg zum Programm und zur Methode der Philosophie. Nietzsche schreibt: »Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen, das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urtheil hinauszuschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit, auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht ›wollen‹, die 18
Entscheidung aussetzen können.«
Die experimentelle Denk- und Schreibform im Blick auf philosophische Fragen entwickelt sich – von Georg Simmel und Walter Benjamin bis Theodor W.
17 Ebd., S. 420. Man könnte Heisenbergs Aufsätze über ›Die Entwicklung der Quantenmechanik‹ und ›Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaften‹ mustergültige Essays wissenschaftlicher Prosa in deutscher Sprache nennen. 18 Friedrich Nietzsche: Ecce Homo, in: KSA, Bd. 6, S. 108.
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Adorno, von Paul Valéry bis Max Bense, von Ludwig Wittgenstein bis zu den Poststrukturalisten – auch unter dem Eindruck der modernen Kunst und einer verschärften philosophischen Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer sprachlichen Repräsentation, der es gelingen könnte, die gegebene Welt, wie sie (an sich) ist, abzubilden. Adorno, einer der führenden Köpfe der Kritischen Theorie, hat seine ›Methode‹ ein »Denken in Konstellationen« – ein Denken in Versuchsanordnungen – genannt. Essay und Experiment sind nicht nur literarische und wissenschaftliche Verfahren, sie prägen den Lebensstil der Moderne im Ganzen. Die Idee, die bei den meisten Denkern dahinter steht, ist die, Wahrheit als nichts Fertiges zu betrachten. Die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt liegen nicht schon fertig da, bereit für jeden, der offen ist, sie aufzunehmen. Sie wird erst geschaffen oder unter großem konstruktiv-experimentellem Aufwand sichtbar gemacht, sie muss sich auf die eine oder andere Weise bewähren – unter höchst verschiedenen Prozeduren und mit mehr oder weniger methodischem und/oder sprachlichem Geschick. Sie nur auf Sätze, über die mit einem logischen Schlüssel nach ›richtig‹ oder ›falsch‹ oder ›weiß nicht‹ entschieden werden soll, zu reduzieren, könnte eher akademische Engstirnigkeit als weltoffene Wahrheitssuche bezeugen. Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, kann ein Vergleich mit der modernen Kunst hilfreich sein. Man könnte sagen, dass uns die Geschichte der modernen Malerei das Bild durchvariierter Möglichkeiten bietet, vergleichbar den Experimentalserien der Chemiker. Ihr ausgeprägter Wille gilt dem Versuch, die Dinge neu oder anders zu sehen, die Rahmen zu verschieben, Konturen zu verwischen, Formate aufzulösen, die Abstraktionen soweit zu treiben, bis selbst das Bild noch seinen Bildstatus verliert, im Abstrakten eine neue Bild- und Zeichensprache zu erfinden, die Anklänge und Anmutungen der konkret anschaulichen Welt wiederaufnimmt. Das Experimentelle dieser Vorgehensweise wird bei Picasso deutlich: bei den endlosen Bilderreihen desselben sujets. Bei ihnen kommt man nicht auf den Gedanken, als verfolgten sie verschiedene Wege zu einem Ziel, als bestünde die Absicht, zu einer letztgültig richtigen Darstellung des Gegenstandes zu gelangen. Im Gegenteil: Es geht darum, in immer neuen Variationen dasselbe sujet darzustellen. Man ist gespannt darauf, zu sehen, was dabei herauskommt. Perspektiven und Standpunkte werden durchgespielt, verschiedene Techniken und Materialien erprobt, aber nicht um ein endgültiges oder abschließendes Werk zu schaffen, in dem die Vorstudien kumulieren; vielmehr werden Verfahrenspläne durchprobiert, um zu erfahren, was dabei an jeweils Neuem zum Vorschein tritt. Die Entwürfe tragen Sinn und Zweck in sich selbst. Es handelt sich um eine Methode, die solange gehandhabt wird, bis man den Eindruck gewinnt, alle
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Möglichkeiten der Variation in Farben und Formen, Rahmen und Perspektiven, Licht- und Schattenspielen, in Im- und Expressionen usf. durchgespielt zu haben. Danach können sie als ausprobiert und abgebucht gelten. Es scheint als habe sich das sujet erschöpft. Es kommt aber auch vor, dass einem Künstler – wie Josef Albers – das Schicksal auferlegt scheint, in Huldigung desselben Motivs, in seinem Fall des Quadrats, über Jahre fortzufahren. Die Quadrate im Bild wiederholen selbstbezüglich die Form der Leinwand und eröffnen in ihren Farbkombinationen nahezu unendliche Variationen. Um einen guten Künstler handelt es sich womöglich dann, wenn er sich auch intellektuell diesem Verfahren gewachsen zeigt.19 Der Künstler praktiziert, was Francis Bacon einst vom Wissenschaftler gefordert hat: zu mikroskopieren, zu prüfen, zu färben, Sichtweisen und Standpunkte zu wechseln, um alle denk- und praktizierbaren Möglichkeiten auszuschöpfen. Unter den neueren Denkern ist es vor allem der französische Philosoph Gilles Deleuze, dessen Denken nicht nur um den Begriff der Variation kreist, sondern der, in enger Anlehnung an die Künste, die Variation selbst als eine Möglichkeit philosophischen Denkens entdeckt.
ÄSTHETISCHER E XPERIMENTALISMUS – EINE ART P ROBEMENSCH ›Erproben‹, ›versuchen‹, ›testen‹, ›ausprobieren‹, ›explorieren‹, ›durchspielen‹, ›simulieren‹, ›modellieren‹ usf. – die Betrachtung der Realität im Verständnisrahmen von Experiment und Versuch lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine letzte Frage: Wie weit lässt sich das Leben im Ganzen aus einem experimentellen Geist heraus leben und begreifen? Ein Leben, das man in keinem Moment überblickt? Kann es ein Leben auf Hypothesen hin, wie es Nietzsche zeitweilig vorschwebte, überhaupt geben? Oder ist es nach dem Ende der ontotheologischen Metaphysik womöglich unser unausweichliches Schicksal, mit uns und unserem Leben einen versuchsweisen Umgang zu pflegen? Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller, hat schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts alle Register der Reflexion gezogen, um die Fragen, die uns aus einem experimentellen Selbst- und Weltverhältnis erwachsen, zu diskutieren. In seinen ›Stadien auf dem Lebensweg‹ lässt er Quidam, sein Pseudonym, Folgendes sagen:
19 Vgl. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme des industriellen Zeitalters, Hamburg 1957, S. 28ff.
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»Ich sehe klar, daß ich als Mensch nichts weniger als paradigmatisch bin. Ich bin eher eine Art Probemensch. Ich gebe mit einiger Präzision die Temperatur von jeder Stimmung und Leidenschaft an; und indem ich meine eigene Innerlichkeit produziere, verstehe ich das Wort: homo sum, nil humani a me alienum puto, aber im humanen Sinn kann sich niemand nach mir bilden. Noch weniger bin ich im historischen Sinn prototypisch für irgendeinen Menschen. Ich bin eher ein Mensch, wie er in einer Krise notwendig werden könnte: eine Art Probemensch, welche das Dasein braucht, um sich vorzufühlen.«
20
Für Kierkegaard ist die Philosophie weniger ein an der Wissenschaft orientiertes Nachdenken über sich selbst, als Ausdruck einer sehr persönlichen Sicht, seiner ganz persönlichen Erfahrung, die – welche Ironie – für uns wichtig wird, weil sie eine überhistorische, exemplarische Bedeutung gewinnt. Kierkegaard konzentriert sich auf die die Einzelschicksale bewegenden Skripte, nach denen der Einzelne sein konkretes Leben entwerfen, beschreiben und verstehen kann. In seinem brillanten Erstlingswerk mit dem Titel ›Entweder/Oder‹ entwickelt er in weitläufigen Studien und Denkexperimenten Modelle des Lebens oder Paradigmen, unter die man die Ausgestaltung moderner Selbstund Weltverhältnisse stellen kann. Sein Thema sind paradigmatische Existenzmöglichkeiten des Einzelnen in Bezug auf sein konkretes Dasein. Seine Frage lautet nicht: Was ist der Mensch? – diese Frage gehört spätestens seit Fichte der Vergangenheit an –, sondern, was bedeutet es, ein Mensch zu sein, was heißt es, als Einzelner in der Welt zu sein, d. h. zu existieren. Um dieser Frage nachzugehen, schreibt er kleine Drehbücher über mögliche Lebensformen, die den Einzelnen in die Lage versetzen, selbst die Fragen und Antworten zu finden, die er braucht, um die ständigen Widersprüche, in die ein weit- und weltläufiges Leben seine Akteure verstrickt, auszubalancieren. So ein Leben auf Probebasis kennzeichnet den Ästhetiker; aufschlussreich ist die Spannung oder der innere Widerstreit der experimentellen mit der ethischen Einstellung zum Leben. Das ›auf Probe‹ kennzeichnet den experimentellen Sinn des Ästhetikers. So kann man vielleicht – wie vor einiger Zeit von einer prominenten CSU-Politikerin provokativ vorgeschlagen – eine ›Ehe auf Probe‹ führen; das könnte gehen, wenn auch – unter der für unser Leben bestimmenden (wenn auch schwächelnden) Idee der romantischen Liebe – nur leidlich. Sich moralisch ›auf Probe‹ zu verhalten, das geht nicht. Kierkegaards Denken kreist Zeit seines Lebens um genau diesen Punkt: Was bedeutet das ästhetische und ethische Leben für den Einzelnen und das Interesse, das er an sich und seinem Glück nimmt.
20 Zitiert nach: Hermann Diem: »Sokrates in Dänemark«, in: ders.: Kierkegaard, Frankfurt/M. 1956, S. 14.
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Das ›auf Probe‹, wie es Kierkegaard in Umschreibung der experimentellen Einstellung zum Leben auffasst, ist entweder wissenschaftlich – es bezeichnet dann die kognitiv-instrumentelle Einstellung; oder es ist ästhetisch und richtet sich auf den ›künstlerischen‹ Umgang mit sich und seinem Leben. Ein großes Problem besteht darin, dass beide in einem entscheidenden Zug auf dasselbe hinauslaufen, nicht nur, weil bei beiden der Möglichkeitssinn vor dem Wirklichkeitssinn rangiert; ihr Fluchtpunkt, und das sieht Kierkegaard sehr scharf, ist das Medium der ›Indifferenz‹ (mit seinen im Blick auf das Leben zur Verzweiflung, Melancholie und Depression neigenden Lasten). Der ästhetischexperimentelle Umgang mit sich unterscheidet sich interessanterweise nicht mehr vom wissenschaftlich-technischen, er muss die gleichen Stadien der Selbstentäußerung, der Entfremdung und Selbstverdinglichung durchlaufen. Das ironisch-reflexive Selbstverhältnis des Lebenskünstlers und das wissenschaftlich-experimentelle des neugierigen Forschers reichen sich in dieser Erfahrung die Hand – in genau dem Sinn, in dem mein Leben ästhetisch wird oder das reine, versuchsweise Spiel mit ihm überwiegt, verliert es seine Bedeutung (für mich). Ich muss die innere Entfernung zu ihm bis zum Äußersten ausreizen. Auch die anderen dürfen nur interessante Spielzüge in meiner Inszenierung sein. Der Ästhetiker hält zu sich und zur sozialen Umwelt, in der er lebt, wie überhaupt zu jeder Art von Engagement, Distanz. Existenziell schwergewichtige Wahlen wie deren lebensgeschichtliche Konsequenzen sind ihm relativ gleichgültig und suspekt. Einem Leben im Horizont des Möglichkeitssinns mangelt es an Leidenschaft (inter-esse) fürs Existieren aus dem Ethos der engagierten Selbstübernahme für das, was man getan und erlitten, verschuldet oder eingebüßt hat. Dass zuletzt alles ein Spiel ist, beherrscht die Szene dessen, der auf der Jagd ist nach immer neuen und interessanten Szenen des Lebens, die er entweder aufsucht oder, sofern möglich, selbst zu arrangieren sucht. Der Ästhetiker ist der, der zwischen den verschiedenen Rollen und Lebensmöglichkeiten hin- und herschwebt. Die ästhetische Lebensform erscheint dieserart als experimentelle Denk- und Lebensweise, in der das Ethische suspendiert ist. Folge und/oder Voraussetzung: Nichts ist dem Ästhetiker wichtig genug, sich für dieses oder jenes zu entscheiden, wenig hat soviel Bedeutung oder Gewicht, dass es, wie Kierkegaard treffend schreibt, »in das Gewählte hinabsinken könnte«.21 Angesichts eines ästhetischen Experimentalismus stellt sich die Welt, wie es in Kierkegaards Frühschrift ›Über die Ironie‹ heißt, als »ungeheurer Reservefonds der Möglichkeit« dar. Anders beim Ethiker, er sieht überall Aufgaben, für
21 Sören Kierkegaard: Entweder/Oder, hg. v. H. Diem, W. Rest, München 2005, S. 711.
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ihn konkretisiert sich das Mannigfaltige des Lebens in einer alltagsnahen Zieloder Zweckbestimmtheit, aber auch in tödlicher Langweile. Eine radikal experimentelle Form des Lebens und Denkens bedingt die Unausweichlichkeit der Ironie. Das ist Kierkegaards These. Ironie und eine experimentelle Sichtweise des Lebens gehören zusammen. »Die Prüfung ist der höchste Ernst des religiösen Paradigmas, aber für das bloße Ethische ist die Prüfung ein Scherz, und das auf Probe existieren keinesfalls Ernst, sondern ein komisches Motiv, das unbegreiflicher Weise noch kein Dichter benutzt hat, um damit den Mangel an Willen in einem fast wahnsinnigen Maximum darzustellen, wie wenn einer 22
sich auf Probe verheiraten würde.«
Philosophen oder Intellektuelle stehen in ihren Gedankenspielen per se ständig am Rande einer déformation professionelle, sie können von ihrer Denk- und Lebensweise her das Ethische, wie alles, das die Menschen unmittelbar und authentisch oder im Ernst betrifft, nicht ernst nehmen, auch sich selbst nicht. Exemplarisch, aber ohne den Witz des Ästhetikers, ist in diesem Zusammenhang der Utilitarismus, für den das Ethische sich nicht selten in lebensfernen Gedankenexperimenten konkretisiert. Bei Gedankenexperimenten in der Ethik gerät der moralische Sinn fast zwangsläufig unter die Räder des kognitiv instrumentellen Mainstreams der Philosophie, was wiederum nicht ohne Rückwirkung auf die Ethik und ihr Verständnis bleibt. Vielleicht kann man von daher verstehen, wie zweideutig und problematisch die herablassende Rede von den ›Gutmenschen‹ ist; in erster Linie ist sie gedankenlos, sie sagt wenig über die Sache, umso mehr über den blinden Fleck von Berufsgruppen wie Philosophen, Journalisten und Politikern, bei denen grundsätzlicherweise das, was Andere sagen, in ironische oder zynische Klammern gesetzt wird. Leider erreicht deren abfällige Psychologie selten den selbst- und moralkritischen Witz, den Kierkegaard und Nietzsche an den Tag legen, wenn sie in diesen Urteilen den unterdrückten Selbsthass und das schlechte Gewissen über den Verrat der frühen Ideale an allen Ecken und Enden durchschimmern sehen. Der Ästhetiker und der Intellektuelle gehören zusammen. Sie eint das Leben im Horizont des Möglichkeitssinns. Kierkegaard: »In Richtung auf das Ästhetische und Intellektuelle zu fragen, ist dies oder jenes nun wirklich […], ist ein Mißverstand, der die ästhetische und intellektuelle Idealität nicht als
22 Sören Kierkegaard: Philosophische Brosamen und unwissenschaftliche Nachschrift, hg. v. H. Diem, W. Rest, München 2005, S. 415.
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Möglichkeit begreift […]. Ethisch wird richtig gefragt, wenn man fragt, ist das wirklich, doch wohl bemerkt so, daß das einzelne Subjekt sich selbst ethisch nach seiner eigenen Wirklichkeit fragt. Die ethische Wirklichkeit eines anderen Menschen kann von ihm wieder nur begriffen werden, indem er sie denkt [Hervorhebungen von mir, G.G.], das 23
heißt als Möglichkeit.«
Da auf der ganzen Linie das Mögliche unter seinen beiden Einstellungen des Intellektuellen oder, wie wir heute sagen würden, des Kognitiv-Instrumentellen und des Ästhetischen auf dem Vormarsch ist und in der modernen Welt einen überwältigenden Vorrang behauptet, werden diese »Zeit und die Menschen […] immer unwirklicher, daher diese Surrogate, die das Verlorene ersetzen sollen.« Kierkegaards Diagnose (und Befürchtung) ist die, dass man, in diesem Zusammenspiel von ethischem, ästhetischem und kognitivem Leben, das »ethische […] mehr und mehr aufgibt«. Das Leben des Einzelnen gerät entweder – ästhetisch und kognitiv – unter die Räder eines rein experimentell eingestellten, und das heißt verdinglichten Selbst- und Weltverhältnisses oder es wird »weltgeschichtlich beunruhigt« (Kierkegaard denkt dabei an Hegels Geschichtsphilosophie) »und dadurch an seiner ethischen Existenz verhindert«. 24 Eine andere aufschlussreiche Bedeutung hat das Experiment im Zusammenhang einer, wie man sagen könnte, Methodologie der Ethik. Dabei handelt es sich um Überlegungen zur ›indirekten Mitteilung‹, wie die rückblickenden Hinweise auf seine Schrift ›Die Wiederholung‹, die bezeichnenderweise den Untertitel ›Psychologisches Experiment‹ trägt, belegen. In diesem Zusammenhang schlüpft das Experiment in die Rolle einer »doppelt reflektierte(n) Form der Mitteilung«.25 Eine Mitteilung als Experiment zu deklarieren, heißt, mit jedem Unmittelbarkeits- und Authentizitätsgehabe zu brechen; dem Leser bewusst zu machen, dass sein Verständnis und seine Erfahrung andere als die des Autors sind, der, wenn er seine Erfahrung in Form eines Experiments beschreibt, bereits einen (ersten) mächtigen Schritt der Reflexion gemacht hat, der den Leser wiederum in Übertragung auf seine Verhältnisse (der ›Innerlichkeit‹ oder ›Subjektivität‹) zu einer weiteren Reflexion nötigt.
23 Ebd., S. 484f. 24 Ebd., 481. Vgl. dazu insgesamt Gerhard Gamm: Philosophie im Zeitalter der Extreme. Eine Geschichte philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 2635, 309-320. 25 Kierkegaard: Philosophische Brosamen, S. 415.
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»Denn dadurch, dass die Mitteilung in der Form des Experiments geschieht, schafft sie sich selbst einen Widerstand, und das Experiment befestigt einen gähnenden Abgrund zwischen Leser und Verfasser, setzt die Scheidung der Innerlichkeit zwischen sie, so daß das direkte Verständnis unmöglich gemacht ist. Das Experiment befestigt der bewußte neckische Widerruf der Mitteilung, was für einen Existierenden, der für Existierende schreibt, immer von Wichtigkeit ist, damit das Verhältnis nicht dahin geändert wird, daß 26
nun ein Ableierer für Ableiernde schreibt.«
Dass es sich bei der Mitteilung um ein Experiment handelt, wirft jeden Einzelnen auf sich selbst zurück. Diese Denkbewegung oder (mehrfach gebrochene) Selbstbezugnahme nennt Kierkegaard das Existieren oder den Ernst eines jeden Lebens: Ihn »behält er […] wesentlich für sich selbst.« Mit einer schönen Formulierung leuchtet er abschließend in die eigentümliche Dialektik dieser Kommunikationssituation, wenn er schreibt: »Das Dazwischensein des Experiments begünstigt die Innerlichkeit der beiden weg von einander in Innerlichkeit.«27
26 Ebd. 27 Ebd., S. 416.
Experimentelle Szenen – Philosophie, Literatur, Sprache
Experiment im Gleichnis Platons Versuch, der Höhle zu entkommen P ETRA G EHRING
Es ist alles andere als selbstverständlich, die Kategorie des Experiments auf Platon anzuwenden. Legt man einen strengen Experimentbegriff zugrunde – es handelt sich um die Durchführung einer systematisch vororganisierten, auf Wiederholbarkeit angelegten Beobachtung unter den maximal kontrollierten Rahmenbedingungen eines Labors – dann gibt es bei Platon keine Experimente. Es ist auch nicht so, dass die unter dem Namen Platons auf uns gekommenen Texte einfach auf das Experiment verzichten. Sie liegen vielmehr auf eine grundlegende Weise außerhalb des Experimentellen. Denn derjenige Typ von Wissenschaft, der mit der Erkenntnistechnik des Experimentierens hantiert, ist historisch gesehen überhaupt erst nach Platon entstanden. Weder die Physik als Disziplin mit gesonderter Methodik, noch das Labor, noch überhaupt im engeren Sinne Naturwissenschaft existierten im antiken Athen der klassischen Zeit. Platons Texte sind, so besehen, nicht nur alt, sie sind uns auch fern. Das Denken, das in ihnen steckt, bewegt sich diesseits dessen, worum es empirischer Forschung im neuzeitlichen und modernen Verständnis geht. Freilich ist dies – philosophiegeschichtlich – nur die halbe Wahrheit. Denn die Form namens Experiment lässt sich auch weiter fassen: als Klärung angelegte Prüfung, die der Vergewisserung dient oder vielleicht sogar die Machbarkeit des unmöglich Scheinenden erweisen soll. In Gestalt solcher feuerprobenhafter Einsätze hat Philosophie, seit es sie gibt, einen experimentellen Zug. Folgt man dieser Überlegung, so landet man fast zwingend doch und gerade bei Platon. Das platonische Philosophieren bewegt sich in Herausforderungen – wie Sokrates, der sich den Machtpolitiker Kallikles zum »Prüfstein« nimmt1, es bewegt sich in 1
Vgl. Gorgias 486 e-487 e.
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radikalen argumentativen Gesten, mit denen der Philosoph etwas wagt, den eigenen Lebensstil der Theorie ausliefert und womöglich sogar das eigene Leben aufs Spiel setzt mit dem Eintreten für das Wahre – hierauf zielt der griechische Ausdruck parrhesia.2 Und es bewegt sich in versuchshaft angelegten Schreibformaten – wie der platonische Text selbst. Platons Texte enthalten die Blaupausen für nahezu alle gewagten Denkfiguren, die wir kennen. Vielleicht sollte man von philosophischen Abenteuern sprechen und diese mindestens als Vorläufer des Experiments betrachten: Theoretisch angeleitet, sich selbst reflektierend, sind sie sowohl auf Mitteilung als auch auf Nachvollzug angelegt. Und gilt dies nicht auch für die am Ende tödliche Probe? Der große Test, den die Figur Sokrates auf die Politikverträglichkeit sowie, mag man sagen, auf die epistemische ›Nachhaltigkeit‹ seiner kontrolliertsubversiven Hinterfragungstechnik anstrengt, ist vielleicht der philosophische Selbstversuch schlechthin. Obwohl Platon also vor jedem experimentalwissenschaftlichen Rahmen agiert, lassen sich womöglich doch Spuren eines Quasi-Experimentellen bei Platon finden. Den Experimentbegriff im engeren Sinne kann ich, indem ich diesen Spuren nachgehe, nicht erhellen. Eher mag es reizvoll sein, sich am antiken Beispiel vor Augen zu führen, über welchen ethischen und politischen Reichtum, über welche Welthaltigkeit und welche Bewahrheitungsoptionen das auf Labornatur reduzierte Experimentieren nicht verfügt. Das platonische Gleichnis – Probe? Spekulation? Gedankenexperiment? – kennt die sich später physikalisch nennende Gerätebindung des Erkennens nicht. Es steht zur Physik der Neuzeit in einem Verhältnis wie die Sonne zum Mond. Ich verlasse daher das technowissenschaftliche Universum und ziehe den naturwissenschaftlich geschärften Begriff des Experiments erst abschließend und auch nur spielerisch, nicht zu historischen Vergleichszwecken heran.
AUSGANGSLAGE , I NTERVENTION SOWIE P HASEN EINES W EGES Das Stichwort lautet »Höhle«, womit auch klar ist, welches platonische Textstück aufgerufen ist: das sogenannte Höhlengleichnis, enthalten in der Schrift Politeia, zu Deutsch der Staat oder besser die Stadt, Buch 7, Randnummern 514 a bis 517 a.
2
Vgl. Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der Anderen, Frankfurt/M. 2009; ders.: Der Mut zur Wahrheit: Die Regierung des Selbst und der Anderen II, Berlin 2010.
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Idè, »Schau« – oder besser: »Stell dir vor«3, sagt Sokrates zu Beginn dieser Passage zu seinem Gesprächspartner Glaukon: Stell dir Menschen vor, die in einer unterirdischen Höhle von Kindheit an bis zum Hals gefesselt sitzen und nur geradeaus nach vorn blicken können. Irgendwo hinter ihrem Rücken brennt ein Feuer als einzige Lichtquelle. Hinter ihrem Rücken gibt es ebenso eine Mauer, und hinter dieser Mauer bewegen sich Leute, die allerlei Gebilde hin- und hertragen. Diese wiederum ragen über die Mauer. Wie in einem Schattentheater fallen daher merkwürdig bewegte Schattenrisse auf die Wand, auf welche die Gefangenen blicken – ohne dass die unbeweglich dort Sitzenden je gesehen hätten, wie die Phänomene, die sie sehen, zustande gekommen sind. Menschen in dieser Lage, da sind sich Sokrates und Glaukon einig, werden das, was sie sehen, die bloßen Schattenbilder von Gegenständen, für das Wahre halten. Für die Welt, wie man sie beim Wort nehmen muss. Für »das Seiende selbst«4. Nun stell dir weiter vor, so Sokrates, ein einziger von diesen in der Höhle Herangewachsenen würde losgebunden. Man würde ihn zwingen, sofort aufzustehen, sich herumzudrehen, loszugehen und ins Licht zu blicken – wobei er bei dieser zuvor niemals vollzogenen Bewegung ganz gewiss Schmerzen hätte und mit geblendeten Augen erst einmal gar nicht erkennen könnte, was da nun plötzlich zu sehen sein soll. Würde derjenige, mit dem man so verfährt, nicht erst einmal behaupten, er sähe da nur Irreales, die ihm vertraute Schattenwelt aber, das sei die eigentlich erkennbare, die wahre Welt? Glaukon stimmt Sokrates zu. Zumindest wäre eine Zeit der Gewöhnung notwendig, bevor der seiner vertrauten Umgebung Entrissene den Zusammenhang von Gegenständen, Lichtschein und Schatten begreifen kann. Bis er also sähe, dass die Schatten nur Schatten sind. Würde man nun diesen Einzelnen, fährt Sokrates fort, auch noch mit Gewalt »durch den unwegsamen und steilen Aufgang«5 zum Ausgang der ganzen Höhle schleppen und ihn nach draußen bringen, ins Licht der Sonne. Würde er dann nicht restlos geblendet sein? Auch das bestätigt Glaukon sofort. Allenfalls allmählich würde jemand, der eine solche, für ihn völlig neue Erfahrung macht, Unterscheidungsvermögen gewinnen und die Dinge, den Himmel, Tag und die Nacht sowie schließlich sich selbst, etwa das Bild seiner selbst im Wasser, erkennen lernen. Was auf diese Weise Zeit braucht, ist andererseits fühlbarer Zugewinn. Der Entführte beheimatet sich in einer neuen Welt von verdichteter
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Politeia 514 a, ich mische und modifiziere im Folgenden die Übersetzungen.
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Politeia 515 b, als »Seiendes selbst« übersetzt Hans Blumenberg: Höhlenausgänge,
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Politeia 515 e.
Frankfurt/M. 1996, S. 91.
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Evidenz. Auch die Bedeutung der Sonne als Lichtquelle – und überhaupt des Lichts, auch als Quelle der Schatten unten in der Höhle – würde diesem Einzelnen dann irgendwann klar. Sokrates spinnt die Geschichte noch weiter aus. Was macht der der Höhle Entrissene, nachdem er all das erkennen gelernt hat und »sieht«? »Glaubst du nicht«, fragt Sokrates, dieser Mensch würde einerseits sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, die ihm widerfahren ist, andererseits aber auch an die anderen dort unten in der Höhle denken und mitleidig deren Schicksal »beklagen«?6 Aber klar, so Glaukon. Und in die alte Sicht der Dinge möchte jener der Höhle Entstiegene auch ganz sicher nicht mehr zurück. Dort unten führt die Gemeinschaft der Festgebundenen Wettbewerbe durch, sie prämieren denjenigen, der ein vorüberziehendes Schattenbild am besten erkennen kann. Wie könnte man bei einem solchen Wettstreit jemals wieder mittun, war man einmal am Licht? Die Erfahrung des Unvorstellbaren schafft einen Abstand, der nicht rückgängig zu machen ist. »Auch das bedenke noch«7, so Sokrates, also: nimm dennoch zusätzlich Folgendes an. Unser Sonnenseher kehrte wieder in die Höhle zurück und setzte sich wieder an seinen alten Sitzplatz. Zunächst wären ihm die Augen sicher voll Dunkelheit. Bis er sich neuerlich umgewöhnt, überlagerte ein Flimmern den Eindruck der Schatten. Was würden in dieser Lage nun die anderen sagen? Würde man den Rückkehrer nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen? Würde man nicht außerdem den Schluss ziehen, der Versuch, der Höhle zu entkommen, lohne erwiesenermaßen nicht? Würde am Ende, so Sokrates, jener der Höhle Entkommene die Fesseln seiner ehemaligen Gefährten lösen und daran gehen, sie ebenfalls hinaufzubringen – würden dann nicht diejenigen, die nur Höhle kennen, vorausgesetzt, sie könnten ihn packen, gemeinsam jenen einen, der das Licht sah, töten? Ja, so würde es wohl sein, stimmt Glaukon zu.
D IE S ZENE
DEUTEN
Lang ist sie nicht, diese Stell-dir-einmal-vor-Geschichte von Schattenspiel, Entfesselung, Höhlenausstieg und Rückkehr. Gleichwohl hat sie es in sich. In einer ersten naheliegenden Deutung haben wir eine bildhafte Darstellung der paideia, des philosophischen Lernens, vor uns. Sokrates selbst leitet die fragliche Passage
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Politeia 516 c.
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Politeia 516 e.
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so ein: Es gehe um »unsere Natur« bezüglich des Zustandes von Unbildung und Bildung.8 Demnach portraitierte die Geschichte also den Bildungsprozess des Einzelnen in einer Art biografischem Bogen. Der philosophische Schüler lernt, den blinden Glauben ans Gesehene zu hinterfragen und wird – nicht ohne schmerzhafte Anstrengung – frei von Scheinwahrheiten und Illusionen. Die Gefesselten erscheinen ein wenig wie Kinder. Jedenfalls wird man ihnen nicht vorwerfen, dass sie an Chimären glauben, denn sie kennen nicht nur nichts anderes, sondern sie können nichts anderes kennen. Solange sie die gesamte Konstruktion in ihrem Rücken (Lichtquelle, Mauer, bewegte Objekte) nicht durchschauen, fehlt ihnen sogar das Wissen, was »Schatten« sind. Allerdings ist Hilfe möglich. Ein Lehrer kann Spielraum schaffen, die unbekannte Drehbewegung erzwingen und vollends dann die Befreiung aus der Höhle organisieren. Am Ende versteht derjenige, der das durchlebt hat, in welcher begrenzten Lebensund Erkenntnissituation er sich befand. Sein Horizont wird weiter, er sieht bis zur Sonne. Durchschauen kann er auch, dass die Schatten von damals keinen Weg zu einer Wahrheit enthalten. Ein Höhlenbewohner kann sein Leben lang Schatten interpretieren und wird doch nie darauf kommen, wie es sich eigentlich verhält: dass es Feuer gibt, dass Licht eine Quelle hat, dass die bewegten Phänomene an der Wand von Gegenständen herrühren, dass es sich also ›nur‹ um Umrissbilder, um Schatten von dreidimensionalen Objekten handelt – und dass hinter der Mauer ein ganzer unsichtbarer Mechanismus einschließlich sich frei bewegender Akteure verborgen ist. Auch die wahren Fähigkeiten seiner selbst, die Vermögen seines Körpers – Umdrehen, Klettern, ins Licht Blicken, im Hellen Gegenstände Sehen, das eigene Spiegelbild Erkennen – lernt der Höhlenentstiegene neu kennen und reflektieren. Allerdings hält die Bildungserfahrung am Ende eine bittere Erkenntnis bereit, nämlich die, dass man den selbsterlebten Aha-Effekt nicht ohne Weiteres an andere weitergeben kann. Andere glauben einem nicht, haben sie nicht Gleiches erfahren. Soweit die – nennen wir sie: Bildungsversion des Gleichnisses. Sie wird in unzählbaren Varianten angeboten, wobei die Betonung gern auf der Anstrengung liegt, die Lehrer fordern und Schüler hinnehmen müssen, weil die Anstrengung am Ende zwar von den Ungebildeten nicht honoriert wird, aber dennoch lohnt. In einer zweiten, deutlich schärferen Deutung wird von der persönlichen Erfahrung des Entfesselten zwar nicht vollständig abgelenkt, der Blick jedoch vor allem auf die Machenschaften hinter der Mauer gelenkt. Das von Sokrates entworfene Szenario wird so zur Parabel auf einen gesamtgesellschaftlichen Aufklärungsprozess.
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Politeia 514 a.
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Aufklärung – das wäre in dieser Sichtweise nicht nur ein Vorgang, bei dem jemand etwas lernt, sondern einer, durch den einem Betrugsgeschehen ein Ende bereitet wird. Die Schattenbilder wiederum, welche sich vor den Augen der Gefesselten bewegen, sind genau dies: absichtsvoll erzeugte Trugbilder, Menschenmachwerke, ein flaches Unterhaltungsprogramm bei Kunstlicht, an denen die Betrachtenden sich zwar erfreuen, aber ohne zu merken, was wirklich gespielt wird. Eine nicht näher benannte Elite gaukelt den Höhlenbewohnern im Grunde etwas vor. Die Fixierung lösen und den Kopf drehen verändert in dieser Lage das Herrschaftsverhältnis. Die von den Bilderkünstlern – modern gesprochen: Medienschaffenden – hergestellte und perfekt gefälschte, fiktive Welt wird entzaubert und ersetzt: durch die Teilhabe an der Idee, durch Wahrheit, durch das natürliche Licht der Vernunft. In dieser Deutungsversion erhält Platons Ausgang aus der Höhle den Anstrich eines revolutionären Akts: Einer wenigstens ist dem Verblendungszusammenhang entronnen und nimmt die Aufgabe auf sich, den Schleier vor den Augen der anderen ebenfalls zu zerreißen. Die Gewalthaltigkeit der gesamten Szene macht der platonische Text ja durchaus deutlich: In der Höhle verkümmern die Körper in lebenslangen Fesseln, die Drehbewegung ist eine Qual, der Weg nach draußen gelingt nur durch Zwang, das gleißende Licht schmerzt. Allerdings gleicht die Herauslösung aus der Schattenwelt nur sehr vage einem revolutionären Akt. Jedenfalls wurde der Losgebundene nicht initiativ und er handelt auch nicht. Irgendjemand – es wird nicht gesagt wer – will ihn vielmehr frei machen, hat ihn ausgewählt und schiebt ihn auf den Weg. Revolutionär sind also allenfalls die namenlosen Helfer, die den Lichtseher nach oben treiben. Wenn es denn Helfer sind. Sollte man sie nicht vielleicht Experimentatoren nennen? Festhalten lässt sich, dass auch der Schluss der Geschichte nur schlecht in ein ungebrochenes Aufklärungsschema passt: Die Höhlenbewohner bringen den Rückkehrer, sobald er als Befreier tätig wird, kurzerhand um. Sie wollen lieber weiterhin Schattenkino als die Höhle verlassen. Und womöglich würden sie so weit gehen, sich mit der Unterhaltungsindustrie in ihrem Rücken gegen den Eindringling zu verbünden – oder jedenfalls trotz des Lichts, das draußen herrscht, eine Fortsetzung des Programms zu erzwingen. Wer weiß allerdings, ob nicht auch die Schattenmacher nur Opfer sind: brave Festangestellte, die sich tagaus, tagein hinter ihrer Mauer abrackern – für das Vergnügen des festgebundenen Publikums. Neben der Bildungsversion und der Aufklärungsversion gibt es eine Vielzahl weiterer Lesarten des Höhlengleichnisses. Man kann den Höhlenausgang psychologisch deuten, als Bild für das Geburtstrauma und das dann anstehende Erwachsenwerden: Trotzdem und deswegen siegt ein Realitätsprinzip. Oder man deutet ihn anthropologisch als Gleichnis für die Menschwerdung: Durch das
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Erwachen einer der Instinktbindung entsteigenden Vernunft entsteht Humanität. Oder man gibt dem Entwicklungsmotiv eine kulturhistorische und räumliche Wendung: In Höhlen leben wir, aber nach ›draußen‹ zu gehen, treibt Kulturentwicklung voran.
H ÖHLENSITUATION
UND
M ITTEILUNGSGRENZEN
Differenziertere Perspektiven ergeben sich, wenn man die tiefgehenden Ambivalenzen der Gesamtsituation ins Zentrum der Überlegungen rückt. Einfach nur einen Weg aus dem Reich des Scheinbaren hinaus in die Wirklichkeit bahnt der Höhlenausgang ja nicht. Denn wie »real« ist das, was der einsame Lichtgänger draußen erlebt? Er adaptiert sich an radikal Unbekanntes, an Lebensbedingungen, die kein anderer mit ihm teilt – oben jedenfalls scheint es niemanden zu geben. Ob die erworbene Licht-Erkenntnis dort draußen, außerhalb der Höhle, irgendwie gebraucht wird, bleibt merkwürdig offen. In welchem Sinne gewinnt die helle Welt für ihn also eine umgreifende, eine auch durch andere bestätigte, fraglose Realität? Eher hat man den Eindruck, dass auch für den Lichtgänger die einzige »wirklich« zu nennende Bedeutung seiner Einsichten allein darin liegt, sie den anderen dort unten in der Höhle mitzuteilen. Die Welten wollen verbunden sein. In einem neuen, besseren Verständnis der Höhlensituation, nicht im Auswandern in ein Sonnenleben, scheint der Sinn jener neuen Augen zu liegen – weil es Augen sind, die womöglich alle haben könnten. Es wird also eine fatale Schwierigkeit durch den Höhlenausgang deutlich: Eine Welt draußen zu kennen, heißt noch nicht, eine Perspektive zu haben, mittels derer sich eine Wahrheit für die Welt drinnen erschließt. Drinnen wie draußen herrschen Sichtweisen, die inkompatibel sind. Für den, der von draußen kommt, hat das alte Spiel der Schatteninterpretation seinen Sinn verloren, jede der Formen an der Wand ist gleichermaßen Illusion. Umgekehrt aber ist der mitgebrachte Sinn für die Lichtwahrheit aus Sicht der Schattendeuter definitiv nicht relevant. Zwischen beiden Standpunkten herrscht ein Patt, und so gibt es hier wie dort ein Realitätsproblem. Der Vertreter des Lichts kann sagen, wie die Schatten entstehen, der Vertreter des Schattens hat die Evidenz der Mehrheit und die Tradition für sich. Der Lichtgänger ist hier in einer prekären Situation. Zwar hat er eine seiner Erfahrung entspringende, intellektuell schlüssige Erklärung – und zwar für die Höhle mitsamt ihrer Umgebung, also eigentlich für die ganze Welt. Er ist jedoch allein mit dem Erlebten und auch mit den Referenzpunkten seiner Erklärung. Weswegen diese die anderen nicht überzeugt. Wie aber kann der Lichtgänger wiederum sicher sein, die Wahrheit zu besitzen, wenn er nicht immerhin indirekte Mittel besitzt,
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diese anderen nachvollziehbar zu machen? Sprache versagt offenbar. Den Höhlenbewohnern fällt vor allem der mitgebrachte Augenschaden des Lichtgängers auf. Der Wissende scheint seinerseits die Macht dessen unterschätzt zu haben, was die anderen davon abhält, seine Einsichten mit ihm zu teilen. Die Grenzen dessen nicht erkennen und manipulieren zu können, was der andere begreifen kann, ist für denjenigen, der sich im Besitz einer Gewissheit weiß, eine ernste Sache. Der Philosoph mag versucht sein, diese Grenzen des Verstehens Dummheit zu nennen – das verschleiert aber, dass erstens auch die einfältige Weltsicht ihr Eigenrecht hat und dass zweitens auch der Wissende darauf angewiesen bleibt, die Welt der anderen zu teilen. Die Kehrseite jener Grenze, dass niemand zur Erkenntnis gezwungen werden kann, ist die offenkundige Schwäche der eigenen Sprache, die in der Höhle zur Privatsprache wird. So mag der Sonnenseher Erkenntnis haben. Aber kann er sie nicht vermitteln, haben seine Evidenzen keinen Wirklichkeitswert. In den Worten Hans Blumenbergs: »Die Problematik der Höhlenausgänge liegt darin, daß man in einer Höhle nicht darstellen kann, was eine Höhle ist.«9 Das wiederum ist für denjenigen, der eine undarstellbare Erfahrung bei sich trägt, nicht nur ein logisches, sondern ein existentielles und das Gewicht seiner Einsicht gefährdendes Problem. Fasst man es sozialphilosophisch, so könnte man sagen: Die Problematik des der Höhle entkommenen Philosophen liegt darin, dass seine Erfahrung zu esoterisch ist, um die anderen zu faszinieren. Fasst man es erkenntnispolitisch, müsste man zugeben: Der philosophischen Mitteilung fehlt es an Macht. Die physische Kraftprobe aber würde für unseren Lichtbotschafter tödlich. Wendete er seinerseits Gewalt an, würde er beispielsweise die Fesseln der anderen einfach lösen, so würde er als übergriffiger Propagandist gesehen und erst recht – was Sokrates und Glaukon ohnehin prognostizieren – als Feind der bestehenden Weltordnung erschlagen.
E XPERIMENTALKONSTELLATIONEN Verlässt man, wie eingangs angedeutet, den Boden eines engen Experimentbegriffes, so lassen sich in der von Platon arrangierten Geschichte auch Experimentalkonstellationen finden. Damit akzentuiere ich nun das Gleichnis um – zugunsten unseres Themas und in spielerischer Absicht. Es beginnt bei jener seltsamen Höhlengemeinschaft: Da leben die vielen, offensichtlich nicht unzufriedenen Festgebundenen und blicken auf ihre Schatten-
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Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 89.
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spiele, während eine vermutlich deutlich geringere Zahl von Geräteträgern, vielleicht Gauklern, vielleicht anderweitigen Dienstleistern, sich hinter der Mauer frei bewegt, dabei weiß, was gespielt wird und das Spiel womöglich auch kontrolliert. Diese Konstellation lässt nicht nur an Priesterherrschaft denken: Wenige Wissende halten viele im Unwissen. Sondern sie erinnert auch an ein modernes psychologisches Experiment. Die Höhle gliche dann einem Labor: streng zweigeteilt durch die bewusste Mauer wie durch eine EinwegGlasscheibe. Auf der einen Seite der Scheibe sitzen die Versuchspersonen, auf der anderen agieren die Experimentatoren. Die Probanten erleben nur einen einzigen Raum, für die Experimentatoren existieren zwei: der Versuchsraum und das Hinterzimmer als Regieraum, in welchem die Beobachtungsdaten gesammelt und verarbeitet werden. Hier wird das Experiment gesteuert – und, wichtiger noch: Allein hier weiß man auch, worum das Experiment sich dreht und im Grenzfall – je nach Vorinformation der Probanten – wissen auch nur die Experimentatoren, dass es sich überhaupt um eine Versuchsanordnung handelt. Im Versuchsraum wie im Kontrollraum herrscht Kunstlicht, durchquert man das gesamte Laborgebäude, gelangt man nach draußen ins Tageslicht. Von innen her betrachtet haben psychologische Labors eine gewisse Nähe zum Theater – wie auch die platonische Höhlenszene etwas von der Einteilung in eine Vorderbühne und einen Bühnenhinterraum hat. Sind also die Höhlenbewohner Objekte eines von anderen, frei herumlaufenden Höhlenbewohnern veranstalteten Experiments? Es liegt auf der Hand, was dagegen spricht: Platon gibt keinen Hinweis darauf, dass es die Geräteträger sind, die jenem Einzelnen die Fesseln lösen, ihm den Kopf herumdrehen, um ihn schließlich zum Aufstieg zu treiben. Auch im Zusammenhang mit der Rückkehr des Lichtgängers wird das Gauklerpersonal nicht erwähnt. Es scheint keine Rolle zu spielen. Weder verhindert noch unterstützt es die Kunde von der draußen existierenden, ganz anderen Welt. Entweder also verhalten sich die Leute hinter der Mauer allein als Beobachter und geradezu unheimlich neutral – oder aber, was die wahrscheinlichere Deutung sein wird, auch für das Gauklerpersonal zählt allein das Geschehen in der Höhle. Auch für sie liegt in der Dunkelheit die eigentliche Welt. Rücken wir ab vom Paradigma des Labors könnten wir auch das, was der der Höhle Entkommene tut, als Experimentiervorgang deuten. Beim ersten Umdrehen des Kopfes, beim Blick ins Feuer und auch beim Höhlenausstieg überwog wohl eindeutig der von unbekannter Seite ausgeübte Druck. Hier war wenig Eigenantrieb im Spiel. Aber dann – vor dem Ausgang der Höhle? Das Auge hat begonnen, sich an die Sonne zu gewöhnen, der Reichtum der Welt tut sich auf. Zuvor nie gesehene Schönheiten zeigen sich, und eine neue Ordnung – einschließlich Höhlen – bietet sich dem Verständnis an. Auch das eigene Sosein
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sowie das seltsame Schicksal der anderen werden begreiflich. Dann aber unternimmt der Ex-Höhlenbewohner diesen eigenartigen Schritt: Er entschließt sich zurückzugehen. Warum tut er das? Was ist sein Motiv? Wieder sind ganz verschiedene Antworten möglich. Eine Regung des Herzens vielleicht: Er will die anderen lehren, sein Schicksal zu ihrem machen, sie ebenfalls befreien. Eine Regung des Kopfes vielleicht, aber auch dann ginge es weniger um Mitgefühl als um Wahrheit: Der die Ideen geschaut hat, will ihnen zum Durchbruch verhelfen, die Wahrheit folglich verkünden, sie am Ende vielleicht sogar durchsetzen. Eine dritte Möglichkeit bewegte sich – um im Bild zu bleiben – zwischen Kopf und Herz. Womöglich ist der, der alles nun zu sehen vermag, dort draußen, vor der Höhle, gleichwohl noch gar nicht vollständig überzeugt. Es fehlt ihm vielmehr etwas. Eine letzte Probe auf die Wahrheit der Ideen, über die – darauf hatte ich schon aufmerksam gemacht – bislang ja doch nur er allein verfügt. Hier will der Sonnengänger nun die entscheidende Probe wagen: Der eigenen Evidenz ist erst dann hundertprozentig zu trauen, wenn auch andere sich von der Wahrheit des Gesehenen überzeugen lassen. Wenn das Erlebte mitsamt den Schlussfolgerungen, die aus ihm zu ziehen sind, sich vermitteln lässt. Im ersten Fall folgte unser Lichtgast einer Bildungsmission, er wäre ein humanistischer Lehrer, vielleicht sogar ein politisch engagierter Befreier – Mitgefühl und Solidarität mit seinesgleichen treiben ihn voran. Im zweiten Fall folgt der Höhlenrückkehrer einer Verpflichtung gegenüber der Wahrheit selbst – Erkenntnis will vermittelt werden, sie soll gerade den bisher dunklen Teil der Welt erhellen. Im dritten Fall hingegen bewegte den Lichtgänger der verbliebene Zweifel – ein Zweifel an sich selbst wie auch an der sinnlich zwar perfekten, aber einsamen und daher im Medium der Mitteilbarkeit noch nicht Gestalt gewordenen Evidenz. Die Suche nach Erkenntnis wäre in dieser Lesart noch gar nicht wirklich vorbei. Dass die eigenen Augen sehen und der eigene Verstand versteht, bleibt nur ein Anfang. Der wirkliche Beweis, eine in der Vermittlung gelingende Probe – und zwar auf die theoretische Wahrheit des Gesehenen wie auch auf den praktischen Sinn des Erlebten – stünde aber noch aus. Aus dieser dritten Sicht wäre die Entscheidung zum Rückweg in die Höhle ein Experiment. Dieses wiederum diente nicht einfach der intersubjektiven Bestätigung eines empirischen Datums oder lässt einer Theorie eine Praxis folgen. Es ist vielmehr auf die Realisierung eines Faktums in der Form der Mitteilbarkeit angelegt. Der Glaube des Boten an sein Erleben10 steht mit auf dem Spiel.
10 Bote ist der Lichtgänger, sofern nur er selbst es sein kann, der Medium seiner eigenen Botschaft wird. Damit ist er ein Grenzfall, sofern man den typischen Boten als »heteronom«, also als Übermittler fremder Botschaften (und fremd erlebter Evidenzen) be-
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Man sollte also nicht von Objektivierung (eines subjektiv sicheren Datums) und eigentlich auch nicht von Realitätsprüfung sprechen (denn um die Evidenz des fraglos Gegebenen geht es gerade nicht), sondern von der Probe auf den Wirklichkeitswert einer Wahrheit, die möglich, aber ihrer Herkunft nach problematisch ist. Eine erlebte Wahrheit – Evidenz im Augenblick – ist für sich noch nicht viel. Erst in jenem gegen die Erfahrung des Erkennens seltsam verschobenen, vermittlungsförmigen und in seiner Ausgestaltung schwierigen Abstand zwischen Wirklichkeit und Wahrheit liegt das eigentliche Profugium, liegt der Puls der Philosophie. Platon lässt seinen Höhlenmythos nicht mit der fröhlichen Botschaft enden, der Weg zur Sonne sei möglich. Eher scheint das Gegenteil der Fall. Die ganze Aufstiegsgeschichte im Höhlengleichnis könnte nur die Vorgeschichte sein – für jene entscheidende Probe philosophischer Art, für das »wirkliche« philosophische Experiment, das mit der Rückkehrentscheidung beginnt. Experimente sind freilich keine Dramen. Sie können nicht gut oder schlecht ausgehen, sondern sie erbringen ein Ergebnis, welches ausgewertet werden muss und in jedem Fall etwas besagt. Im Falle des Rückkehrexperiments des ehemaligen Höhlenmenschen fällt das Ergebnis eindeutig aus: Die Vermittlung misslingt. Und schlimmer noch: Sokrates und Glaukon sind sich einig, dass dies Misslingen absehbar war. Einzelheiten des Dramas nach der Rückkehr werden nicht geschildert. Wir wissen nicht, ob der Lichterfahrene in der Höhle Schrecken verbreitete oder ob man ihn verlachte, ob er der Melancholie verfiel, ob er pathologisiert wurde – oder ob er trotz der allgemeinen Ablehnung doch noch einige Sympathisanten fand. Ob er vielleicht irgendwo in der Ecke – ohne praktische Übungen oder dergleichen – immerhin unterrichten durfte. Ob er vielleicht philosophische Seminare abhielt oder philosophische Schriften verfertigte, die später noch jemand las. Wir können uns aber seine Rolle und seine Selbstzweifel vorstellen: Sein Wissen bleibt ein Wissen zwielichtiger Art. Im besten Fall erscheint es harmlos, weil unnütz – und wird vielleicht aufgrund eines gewissen Unterhaltungswertes geschätzt. Im schlimmeren Fall wird es als Gefahr wahrgenommen, gegen welche die Mehrheit sich wehrt. So oder so ist der Versuch fehlgeschlagen. Der Zweifel an der Wirklichkeit der Wahrheit wird dem Lichtbringer-Experimentator nicht genommen werden. Als Versuch betrachtet, gelingt das Erkennen nie ganz. Bleibt eine kleine Lüge, ein Trick, als Trost der Philoso-
stimmt. Dass der Höhlenrückkehrer alles auf einmal sein muss, ist Teil seines Vermittlungs- und damit auch seines Wirklichkeitsproblems. Zum Boten vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/M. 2008, S. 108ff.
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phie: Man kann sich denken, jener Rückweg sei noch gar nicht am Ende, der Versuch der Vermittlung des Gesehenen halte noch an.
E XPERIMENT T EXT Eine letzte Deutung legt sich auf diese Weise nahe. Nicht irgendwo im Inneren der platonischen Geschichte finden wir die Probe, vielmehr funktioniert der Text als Ganzes so. Das Höhlengleichnis wäre aus dieser Sicht ein Gedankenexperiment, bei welchem Sokrates, Glaukon, Platon und letztlich vielleicht sogar wir selber – Platons Leser – die Beteiligten einer demonstratio ad oculos sind. Denn was tut Sokrates? Er definiert im gemeinsamen Namen eine Versuchsanordnung und spielt dann einen imaginierten Ablauf durch: »Sieh hin …«, »stell dir vor« wir würden einem dieser Höhlenbewohner die Freiheit zumuten. »Stell dir vor«, er wäre schließlich draußen: Was würde seinen Augen Unbekanntes zuteil – und was finge er mit den neu gewonnenen Perspektiven an? Noch einmal: Wer experimentiert hier mit wem? Wir alle mit den vorgestellten Figuren? Sokrates mit seinem Gesprächspartner? Oder am Ende Platon mit uns? So oder so steht im Fluchtpunkt des Gleichnisses – geht es um den Weg dessen, der nach Wahrheit strebt – der Leser. Damit ist letztlich die Rede von uns selbst. Und von unserem Verhältnis zur Philosophie. Tatsächlich ist die Frage, ob jemand zu denken anfängt, sich also etwas anderes zumuten lässt als Schattenbilder, mit denen sich alle beschäftigen, keine triviale Frage. Jenseits der Aufforderung, sich seines Verstandes zu bedienen, öffnet sich das Problem, auf was genau man sich einlässt, in welches Verhältnis zur vertrauten Ordnung man gerät und zu wem man wird, wenn man in dieser Weise ausschert. In welche Praxis und in welches Leben führt der Weg aus der Höhle – ein Weg, mit dem deutlich wird, dass alles bisherige ›nur‹ eine Höhle war, eine kontrastarme Provinz des Sinns. Es gibt Erkenntnis, das scheint eine klare Botschaft der Höhlenerzählung zu sein. Das Gedankenexperiment fragt aber weiter. Jenseits des Problems, ob der Ausgang aus dem Unwissen möglich ist, wartet die Frage, was – wenn das Erkennen gelungen ist – weiter folgen soll. Wie entscheide ich mich? Will ich Höhlenflüchtling sein? Oder nicht doch lieber Höhlenbewohner bleiben? Und wie stelle ich mich, wenn es mich vielleicht sogar unabsichtlich aus der Höhle hinausgetrieben hat, zur Rückkehrfrage? Sokrates zwingt Glaukon und Platon zwingt seine Leser mittels der Experimentalanordnung, der bitteren Konsequenz ins Auge zu blicken, dass das Denken dauerhaft nicht in intellektuelle, aber in soziale, die Grenzen der Vermittlung
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betreffende und damit tatsächlich in »unwirkliche« Spaltungen führt. Das Denken ist eine Praktik, die lernbar ist und eine Praktik, die Wahrheiten hervorbringt. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen wird die Philosophie letzten Endes nicht in der Lage sein, das, was man durch Denken verlässt, und das, was man durch Bildung erreichen kann – im Bild: das Innere und das Außerhalb der Höhle, in einer Gesamtwahrheit aufzuheben oder aber in dem Entwurf einer gemeinsam guten Lebensform, die Gebliebene und Rückkehrer zusammenführt. Am Ende des Rückwegs stehen weder Gemeinschaft noch Institutionen, und ich denke, das ist gut so.11 Auf diese Weise wird das Höhlengleichnis zu einer Art Warnhinweis für Intellektuelle, für Wissenschaftler und solche, die es werden möchten: Kann man unter diesen Bedingungen Philosophie überhaupt vertreten? Und kann man es für sich persönlich wollen? Sokrates selbst bezeichnet die Höhlenpassage in der Politeia als »Bild« – eikon. Ich spreche in meinem Titel – ein Vorschlag der Herausgeber – von »Gleichnis«. Hans Blumenberg, der dem platonischen Höhlenausgang ein Buch von über 800 Seiten gewidmet hat, nennt die fraglichen Abschnitte der Politeia eine »Parabel«, also ein Lehrgleichnis, oder auch einen »Kunstmythos«12, also eine nicht überlieferte, sondern konstruierte Erzählung. Tatsächlich ist das, was im Text diese Vielzahl philosophischer Anstöße gibt, sowohl kunstvoll, als auch in seiner dramaturgischen Willkür künstlich arrangiert. Wie im Innern der Höhle die Schattenbilder etwas Hergestelltes sind, wie der schmerzhafte Weg ins Licht eine anstrengende Lerntechnik darstellt, so ist auch das Höhlengleichnis nicht einfach eine Geschichte unter Geschichten. Platon zieht hier vielmehr die Register. Er macht etwas klar. Der Leser wird konfrontiert mit einer abenteuerlichen, aber eben auch verunsichernden Perspektive, die alle diejenigen erwartet, die sich von den Fesseln einer unreflektierten Normalsichtweise lösen – oder lösen lassen. Das Höhlengleichnis wendet gleichsam erzählerisch-gedankliche Interventionstechniken an. Einerseits kommt es unverbindlich daher, andererseits zwingt es mit den Schlüssen, zu denen das experimentierend angelegte Gleichnis zwingt, Konsequenzen auf. Und es provoziert Reaktionen. Wie Probanten eines Denkversuchs finden wir uns vor der Entscheidung, ob wir den Höhlenausgang wagen wollen. Während wir uns auf den Text einlassen, der diese Entscheidung fordert, treten wir freilich den Weg aus der Höhle heraus bereits an.
11 Damit widerspreche ich Blumenberg, der für ein »finales Höhlengleichnis« heutiger Tage »Institutionen« als den wünschenswerten und erwartbaren Schlusspunkt aller Rückkehrbewegungen nennt (Höhlenausgänge, S. 812). 12 Vgl. ebd., S. 25.
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Sokrates stellt seinen Gesprächspartner auf die Probe, Platon erprobt seine Leser. Wir wiederum experimentieren mit einem sehr alten, aber immer noch provokativen Buch. Das wiederum heißt, etwas aufs Spiel zu setzen. Platon warnt, dass der Ausgang des Experiments, zu denken, nicht offen ist. Wir riskieren das Verhältnis zum Vertrauten und wir riskieren uns selbst.
Im Labor der Aufklärung Der Menschenversuch als Gedankenexperiment im 18. Jahrhundert1 N ICOLAS P ETHES
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UND
AUFKLÄRUNG
Für die Frage nach der experimentellen Dimension der Philosophie ist das 18. Jahrhundert nicht nur im metaphorischen, sondern in einem ganz konkreten methodologischen Sinn eine entscheidende Epoche gewesen. Denn unter Aufklärung sind ja neben erkenntnistheoretischen Grundlegungen und gesellschaftspolitischen Emanzipationsprojekten auch alle die Versuche zu verstehen, wissenschaftliche Methoden auf empirische Grundlagen festzulegen. »Die Vernunft«, so Kant in seiner Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, »muß mit ihren Prinzipien […] in einer Hand, und mit dem Experiment […] in der anderen, an die Natur gehen«.2 Für die Kant zufolge allen philosophischen Projekten übergeordnete Frage nach dem Menschen ging damit ein nicht unerhebliches Problem einher: Zwar nimmt im Bereich der Medizin das empirische Wissen über physiologische Zusammenhänge bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts rapide zu, Untersuchungsgegenstände wie die Seele
1
Die nachfolgenden Thesen habe ich ausführlich hergeleitet und belegt in: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007. Meine Ausführungen stützen sich großenteils auch auf die Materialgrundlage dieses Buchs und gehen nur in Ansätzen über dessen Ergebnisse hinaus.
2
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787, B XIII, Hamburg 1990, S. 18.
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oder die Entwicklung des Menschen entziehen sich aber der Beobachtung, da sie entweder ohne materielle Grundlage oder zu langwierig sind. Damit scheint eine philosophische Anthropologie des ›ganzen Menschen‹3 nicht als empirische Wissenschaft möglich zu sein, zumindest nicht dann, wenn man zu den Bedingungen für eine solche empirische Grundlegung auch den Einsatz experimenteller Verfahren zählt. Und tatsächlich etablieren sich in den Wissenschaften vom Menschen Versuche am lebenden Menschen erst spät: in der Physiologie während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Psychologie sogar erst ab 1850 und in den Sozialwissenschaften im Laufe des 20. Jahrhunderts – mit den bekannten, aber im einzelnen nach wie vor kaum fassbaren Auswüchsen, die bereits am Ende des 19. Jahrhunderts zu Protesten gegen die sogenannte Vivisektion und angesichts der wehrmedizinischen, erbbiologischen und bevölkerungspolitischen Versuche in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu einer in der Philosophie fest institutionalisierten bioethischen Debatte über Möglichkeiten und Grenzen des Menschenexperiments geführt haben.4 Das 18. Jahrhundert ist von beidem noch denkbar weit entfernt, es ist aber, wie ich im Folgenden zeigen möchte, dennoch der Zeitraum, währenddessen die epistemologische Grundlegung für die Menschenversuche des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt und das Projekt einer experimentellen Anthropologie als Möglichkeit vorweggenommen und erprobt wird. Eine solche genealogische Perspektive steht quer zur zuletzt wieder verstärkt betonten Kontinuität in der Geschichte des Menschenversuchs von der antiken Medizin über die Anatomie der Renaissance bis zur Humangenetik unserer Tage.5 Die Einheit dieser Entwicklungsgeschichte zu postulieren, setzt allerdings einen zeitlosen Begriff des Experimentierens voraus. Dagegen ist der hier vorgeschlagene wissenschaftshis-
3
Vgl. zur psychophysiologischen Wende der Aufklärungsanthropologie Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994; zu den verschiedenen anthropologischen Konzepten des 18. Jahrhunderts vgl. Michel Vovelle: Der Mensch der Aufklärung, Frankfurt/M. 1996.
4
Vgl. Barbara Elkeles: Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Jena/New York 1996; weitere Literaturhinweise sowie Fallbeispiele zu Experimenten bzw. Dokumente zu bioethischen Regelungsversuchen enthält die kommentierte Quellensammlung von Nicolas Pethes, Birgit Griesecke, Marcus Krause, Katja Sabisch (Hg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 17502000, Frankfurt/M. 2008.
5
Vgl. etwa Anna Bergmann: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod, Berlin 2004.
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torisch differenzierte Blick sensibel für die Brüche zwischen den verschiedenen als Experiment bezeichneten Praktiken: Mitte des 18. Jahrhunderts, so wird zu sehen sein, sind Versuche an lebenden Menschen zwar als Ankündigung in aller Munde, stets handelt es sich aber – ob nun in Maupertuis’ Vorschlag, Gefangene zu medizinischen Versuchen heranzuziehen, Albrecht von Hallers Schrift Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, die de facto auf Tierversuchen beruht, oder Johann Gottlob Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre, die anstelle psychologischer Experimente längst bekannte Fallgeschichten präsentiert – um bloße Projektankündigungen und nicht um tatsächliche Versuchsanordnungen. Es wird im Folgenden mithin um eine Genealogie des Menschenversuchs gehen – um die Freilegung einer Vorgeschichte, innerhalb derer die Wissenschaften vom Menschen noch nicht experimentell verfasst gewesen sind, aber die Möglichkeitsbedingungen für eine zukünftige Betrachtung des Menschen als Versuchsobjekt geschaffen wurden.6 Diese Möglichkeitsbedingungen bestehen zum einen darin, überhaupt eine experimentelle Haltung gegenüber Menschen für denkbar zu erklären und anthropologische Theorien nicht länger nur auf philosophische oder religiöse Spekulationen zu gründen. In diesem Sinne wird hier von einer proto-experimentellen Phase der Anthropologie die Rede sein, die, wie zu zeigen sein wird, in erster Linie den Diskurs der aufklärerischen Reformpädagogik prägt und ihr zentrales Medium in den fiktiven Versuchsszenarien und Gedankenexperimenten der schönen Literatur findet. Diese Literatur kann dabei insofern als ein ›Labor‹ der Aufklärung bezeichnet werden, als die zeitgenössische Anthropologie selbst noch nicht experimentell verfasst ist, sondern im Modus der Fiktion erprobt, wie experimentiert werden könnte.7 Zum anderen lassen sich in der Aufklärungsanthropologie bereits all jene Versatzstücke und Einzeloperationen nachweisen, die dann im 19. und 20. Jahrhundert zur Methode tatsächlicher Menschenversuche zusammengefügt werden. Es wird, mit anderen Worten, im 18. Jahrhundert zwar noch nicht mit Menschen experimentiert, durchaus aber werden die einzelnen Verfahrensschritte des Expe-
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Vgl. zu diesem methodischen Perspektivwechsel Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 69-90.
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Vgl. zu dieser, Ernst Machs Begriffsprägung am Ende des 19. Jahrhunderts vorgreifenden, Verwendung des Konzepts Sigrid Weigel: »Das Gedankenexperiment: Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur«, in: Thomas Macho, Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt/M. 2004, S. 183-205.
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rimentierens sondiert und diskutiert. Diese Einzeloperationen, aus denen sich ein naturwissenschaftlicher Versuch zusammensetzt, sind das Isolieren des Versuchsgegenstands, die Zufügung eines externen Reizes sowie die Beobachtung und schriftliche Auswertung der zugehörigen Reaktion. Das Experiment des ›Labors der Aufklärung‹ besteht daher auch darin, diese aus der Physik bekannten Operationen, aus denen sich experimentelle Untersuchungen zusammensetzen, in ihrer Anwendbarkeit auf Menschen jeweils für sich, dafür aber in verschiedenen Diskursfeldern zugleich, zu überprüfen.8
I SOLATION
UND
E INSAMKEIT
Das Motiv der Isolation wird innerhalb der Philosophie der Aufklärung am prominentesten von Jean-Jacques Rousseau vertreten. Rousseaus Anthropologie fußt bekanntlich auf der Annahme, dass der Mensch in dem Moment, in dem er sich in sozialen Zusammenhängen bewegt, schon nicht mehr die Qualitäten zutage legen kann, die ihm eigentlich zu Gebote stehen. Das heisst im Umkehrschluss: Nur in Einsamkeit, nur im Vermeiden von sozialen Verträgen, ist der Mensch in der Lage, gut zu sein und zu leben. Diese Aufwertung der Einsamkeit, die Rousseau in seinem Diskurs Über die Ungleichheit unter den Menschen entfaltet, die aber auch seinen pädagogischen Traktat Emile prägt, steht nicht nur im Zusammenhang mit pietistischen Strömungen,9 sondern ähnelt auch der naturwissenschaftlichen Methodik, Gegenstände der Forschung von Umwelteinflüssen freizuhalten und daher – innerhalb eines Laborraums – zu isolieren und zu kontrollieren.10 Allerdings sieht das Rousseausche Szenario zum einen durchaus eine Interaktion zwischen Erzieher und Zögling (sowie eines weiteren Kinds) vor, zum anderen handelt es sich um ein fiktives Szenario, in dem das Modell einer möglichst ›natürlichen‹ Erziehung als Gedankenexperiment durchgespielt wird.
8
Diese systematische Unterscheidung der fünf Versuchspraktiken Isolieren, Irritieren, Observieren, Protokollieren und Interpretieren folgt der Gliederung meines in Anm. 1 genannten Buchs. Insofern die beiden letztgenannten bereits zur Aufbereitung des Versuchsablaufs gehören, beschränke ich mich in der vorliegenden Darstellung auf die ersten drei.
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Vgl. in diesem Kontext Johann Georg Zimmermann: Über die Einsamkeit, vier Bände, Leipzig 1784/85.
10 Zur Entstehung dieser Methode vgl. Steven Shapin, Simon Shaffer: Leviathan and the Air Pump: Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985.
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Dieser Modus der Fiktion ist nun aber keineswegs als Mangel von Rousseaus Entwurf zu betrachten, sondern stellt vielmehr die einzige Möglichkeit seiner Umsetzung dar: Während in der Wirklichkeit Einflüsse auf Kinder kaum vollständig absorbiert und kontrolliert werden können, kann Rousseau den Entwicklungsgang eines »imaginären Schülers«11 idealtypisch entfalten. Rousseaus Erziehungsmodell hatte nichtsdestotrotz ganz konkrete Auswirkungen auf die aufgeklärte Reformpädagogik.12 Die proto-experimentellen Implikationen der Idee einer isolierten Erziehung werden aber vor allem in der schönen Literatur der Zeit reflektiert. So veröffentlicht der Dramatiker Marivaux bereits 1748 ein Lustspiel, in dem der (titelgebende) Streit, ob in Liebesdingen Männer oder Frauen Schuld an der Untreue trügen, anhand folgender Anordnung geklärt werden soll: »Achtzehn oder neunzehn Jahre sind es, daß unser ieziger Streit am Hofe meines Vaters entstanden ist. Er wurde hitzig getrieben und dauerte lang. Mein Vater, der von Natur ein ziemlicher Philosoph und nicht von Ihrer Meinung war, beschloß zur Entscheidung dieser Sache eine solche Probe anzustellen, die keinen Zweifel mehr übrig ließe. Einige Kinder, theils von Ihrem, theils von unserm Geschlecht, wurden auf seinen Befehl, gleich von der Wiege an, in einen Wald gebracht, wo er dieses Haus ganz besonders für sie hatte zurichten lassen. Jedem von Ihnen wurde seine eigene, abgesonderte Wohnung gegeben. Ein Platz, den sie bis jetzt noch inne haben, und niemals verliessen, so, daß sie auch niemals bisher einander sahen.«13
Das Stück verfolgt die Befreiung und anschließende Begegnung der Probanden, die sich wechselseitig, allerdings auch mehrfach, ineinander verlieben, so dass die Frage schlussendlich nicht eindeutig geklärt werden kann. Umso deutlicher wird aber bereits hier die Verklärung der Einsamkeit ironisch gebrochen, wie
11 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung [1762], Stuttgart 1963, S. 134. 12 Vgl. Dietrich Benner, Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, 2. Auflage, Weinheim/Basel 2003, S. 74f. und 259ff. 13 Pierre Cartet de Chamblain de Marivaux: Der Streit oder welches Geschlecht brach zuerst die Treue der Liebe, Jena 1778, S. 6f.; vgl. Gabriele Ribémont: »Von Reiz zu Reiz: Die ›inconstance‹ zwischen Humoralpathologie und sensualistischem Experiment: Venette – Marivaux«, in: Jörn Steigerwald, Daniela Watzke (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Über Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003, S. 91-103.
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auch die Paradoxie des Labors, Natur nur mittels kultureller Einrichtungen zu sehen zu geben. Und doch besteht die für die Frage nach dem Stellenwert experimenteller Modelle in der Philosophie der Aufklärung zentrale Bedeutung von Marivauxs Stück darin, dass es trotz dieser ironischen Subversion des Isolationsprinzips ganz und gar ernst gemeinte Forschungsprojekte vom Ende des Jahrhunderts vorwegnimmt. Denn jenseits der Literatur bleibt die Isolierung von Kindern durchaus als methodisches Ideal bestehen, wie folgende Programmschrift einer Pariser anthropologischen Gesellschaft, der Société des Observateurs de l’homme, von 1803 zeigt: »Eines Tages muß die Gesellschaft wohl prüfen, ob es, um die fortschreitende Entwicklung der physischen, intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen […] zu verfolgen, nicht günstig wäre, mit Genehmigung der Regierung ein Experiment über den Naturmenschen zu unternehmen, das darin bestünde, während zwölf oder fünfzehn Jahren vier oder sechs Kinder, zur Hälfte männlichen, zur Hälfte weiblichen Geschlechts, sorgfältig zu beobachten, nachdem man sie von Geburt an am selben umfriedeten Platz, fern jeder gesellschaftlichen Einrichtung ausgesetzt und die Entwicklung ihrer Ideen und ihrer Sprache dem natürlichen Instinkt überlassen hätte.«14
Ein halbes Jahrhundert nach Marivauxs Stück ist das dort entworfene Szenario Bestandteil eines Forschungsprojekts, das beansprucht, Fragen der philosophischen Anthropologie sowie solche nach der moralischen und religiösen Bildung oder dem Sprachvermögen des Menschen zu klären. Nimmt man diese Parallele trotz des Diskurswechsels von der schönen Literatur zur empirischen Anthropologie ernst, so wird deutlich, dass beide gleichermaßen zur Geschichte der Etablierung experimenteller Verfahren für philosophische Fragestellung gehören – auch hier allerdings mit dem Unterschied, dass die Umsetzung des Projekts nur im Modus der Fiktion gelingt. Der Société bleibt die erhoffte Genehmigung, Kinder so gezielt zu isolieren, wie das an Marivauxs fiktivem Hof möglich war, verwehrt. Sie ist daher gezwungen, ersatzweise auf ein Kind zuzugreifen, das die Bedingung der Isolation zufällig erfüllt: Im Januar 1801 wird in Südfrankreich ein ungefähr elfjähriger Junge entdeckt, der offensichtlich ohne Eltern im Wald lebt, keine Kleider trägt, sich von Nüssen und Wurzeln ernährt und weder spre-
14 Louis-François Jauffret: »Einführung in die ›Mémoires‹ der ›Société des Observateurs de l’homme‹«, in: Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973, S. 209-219. Moravias Buch gibt zugleich einen wegweisenden Abriss über die Empirisierung der Anthropologie im Frankreich des 18. Jahrhunderts.
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chen kann noch jeglichen sozialen Umgang gewohnt scheint. Als die Société von diesem Fund erfährt, lässt sie ihn umgehend nach Paris bringen, wo er am dortigen Taubstummeninstitut von einschlägigen Fachleuten wie Gall oder Pinel für geisteskrank erklärt und anschließend sechs Jahre lang im Haus des Pädagogen Jean Itard erzogen wird. Itard hat diesen Erziehungsversuch über die Folgen der Isolation im Kindesalter minutiös festgehalten.15 Anstelle dabei allerdings des Naturmenschen ansichtig zu werden, wurden die extremen kognitiven und sozialen Deprivationen des Kindes sichtbar und damit nicht nur der Erfolg des Verfahrensideals der Isolation sondern auch die Natürlichkeit eines vermeintlichen Naturzustands fragwürdig.
I RRITATION
UND
R EIZ
Diese kurzen Beispiele skizzieren den Weg, den die Vorstellung, die Natur des Menschen trete unter den Bedingungen der Isolation unverfälscht hervor, von einer literarischen Fiktion über ein philosophisches Modell zu einem empirischen Projekt und dessen verschobener Realisierung nimmt. Und sie zeigen, dass trotz der mitunter programmatischen Rhetorik des Experimentellen in allen vier Fällen die intendierte Versuchsanordnung nie umgesetzt wird und das Szenario der Isolation in diesem Sinne proto-experimentell bleibt. Dass aber Wissen vom Menschen seine Isolation voraussetzt, bleibt als Postulat völlig unabhängig von der konkreten Umsetzung oder befriedigenden Ergebnissen diskursübergreifend unbestritten. Damit belegt die Tatsache, dass die Rhetorik der Isolation vor der konkreten Umsetzung eines Menschenversuchs in so unterschiedlichen Bereichen wie pietistischen Diskursen, pädagogischen Traktaten, Aufklärungskomödien, anthropologischen Projektanträgen und psychiatrischen Fallgeschichten auftaucht, die These von der diskursiven Vorbereitung des Menschenversuchs im virtuellen Labor der Aufklärung. Zugleich enthält der Fall des wilden Kinds von Aveyron, das nicht gezielt isoliert wurde, ein anderes Element, das die künftigen Versuchspraktiken des 19. Jahrhunderts auf ähnliche Weise vorbereitet. Dieses zweite Element der protoexperimentellen Untersuchung, die Itard in seinen zwei Gutachten beschreibt, ist die Irritation: Nachdem er feststellt, dass der Junge, den er Victor nennt, nahezu hitze- und kälteunempfindlich ist und auch nur solche Geräusche wahrzunehmen
15 Vgl. die Dokumentation von Lucien Malson: Die wilden Kinder, Frankfurt/M. 1972, S. 114-220; sowie Harlan Lane: Das wilde Kind von Aveyron. Der Fall des Wolfsjungen, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1985.
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scheint, die unmittelbar mit der Nahrungssuche zusammenhängen, versetzt Itard Victor in extreme physiologische und psychologische Zustände, indem er ihn beispielsweise in kochendheißes Badewasser setzt oder bewusst ungerecht behandelt. Von den Reaktionen des Jungen auf solche gezielt herbeigeführten Ausnahmezustände verspricht sich Itard das deutlichste Bild von den Folgen der Isolation. Die damit zusammenhängende Vorstellung, dass man Untersuchungsobjekte in Extremzustände versetzen muss, um ihrem Wesen auf die Spur zu kommen, ist für die Genealogie des Menschenversuchs ebenso zentral wie diejenige von der Isolierung der Natur. Sie hat ihren historischen Ursprung in der Experimentalphysiologie des 18. Jahrhunderts, die sich allerdings auf die Untersuchung von Tieren beschränkt. 1752 publiziert der Physiologe Albrecht von Haller seinen Traktat Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, in dem er erstmals die Funktionsweise von Muskeln und Nerven differenziert, und zwar auf folgender Grundlage: »Ich habe bei lebendigen Tieren denjenigen Teil entblößet, von welchem die Frage war; ich habe den entblößten Teil durch Blasen, Wärme, Weingeist, mit dem Messer, mit dem Ätzsteine gereizet. Ich habe alsdann Acht gehabt, ob das Tier durch berühren, spalten, zerschneiden, brennen oder zerreißen, aus seiner Ruhe und seinem Stillschweigen gebracht würde; ob es sich hin- und herwürfe, oder das Glied an sich zöge, und mit der Wunde zückte.«16
Mittels verschiedener Instrumente reizt Haller verschiedene Haut- und Nervenschichten seiner Versuchstiere und beobachtet anschließend ihre Artikulationen des Schmerzes. Die Übertragung dieses Verfahrens auf den Menschen bleibt auch hier Projekt. Haller etabliert aber bereits eine spezifische Rhetorik der Notwendigkeit des Experimentierens und der Unumgänglichkeit der damit verbundenen Grausamkeiten. »Berühren, spalten, zerschneiden, brennen oder zerreißen« gehören zu denjenigen Modi des Irritierens, die die Untersuchung lebender Körper im 19. und 20. Jahrhundert leiten werden, deren Voraussetzung aber vor jedem konkreten Versuch am Menschen im Rahmen eines neuen Körperbilds geschaffen werden: »Nicht eine im Dunkel des Körpers verborgene Seele, sondern das, was auf der freigelegten Oberfläche der sezierten Gewebe als Zucken und Zusammenziehen sich zeigt, ist das Wesen des Lebendigen«.17
16 Albrecht von Haller: Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, hg. von Karl Sudhoff, Leipzig 1922, S. 5. 17 Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/M. 2001, S. 56.
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Dass Hallers Tierversuche nicht nur aufgrund des Titels seiner Schrift auf die Erforschung des menschlichen Körpers und also eine experimentelle Grundlegung der philosophischen Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Seele (das commercium mentis et corporis18) zielt, zeigt eine 1756 publizierte Schrift von Johann Gottlob Krüger mit dem Titel Versuch einer ExperimentalSeelenlehre. Krüger stellt darin die Frage, ob die empirischen Verfahren aus der Physiologie auf eine damit neu zu begründende Psychologie übertragen werden können, »wie man« also »die Seele durch Experimente solle kennen lernen«.19 Die methodische Schwierigkeit, »Geister unter die Luftpumpe bringen« zu müssen, tritt dabei aber hinter die Grundüberzeugung zurück, dass eine Anthropologie, die den ganzen Menschen in Betracht zieht, auch das Studium seiner Seele auf diejenige Basis stellen müsse, auf die Haller seine Erforschung von Nerven und Muskeln gründet. Diese Basis ist die gezielte Reizung. Da die Seele allerdings kein materieller Gegenstand ist, sieht sich Krüger gezwungen, auch hier wieder am Körper anzusetzen und dessen Reaktionen als Ausdruck der Seele zu verstehen: »Hieraus ziehe ich die Folge, dass man durch außerordentliche Veränderungen die man mit dem Leibe vornimmt, Veränderungen in der Seele zuwege bringen könne, die sich sonst nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur bey ihr nicht gezeigt haben würden.«20 Diese im Rahmen eines psychologischen Interesses vollzogenen physiologischen Irritationen sind aber auch hier weniger in ihrer empirischen Wirklichkeit als in ihrer diskursiven Vorbereitung und Reflexion von Interesse. In Gestalt eines Dialogs mit der Allegorie der »Stimme der Menschlichkeit« führt Krüger nämlich aus: »Wie? ruft sie: grausamer Barbar und Unmensch der du die Natur verleugnest, und die Mexicaner selbst an Unmenschlichkeit übertriffst. Du willst vernünftiger Menschen Köpfe eröffnen, um den Sitz ihrer Vernunft zu entdecken, du willst ihr Gehirne zerschneiden, um zu erfahren, wo ihr Gedächtniß seinen Sitz habe, du willst sie in die Flechsen und Bein-
18 Zur Diskussion der Optionen eines influxus physicus oder animae vgl. Alexander Košenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie: Der ›philosophische Arzt‹ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989; Carsten Zelle (Hg.): ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001; Dirk Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York 2003. 19 Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre, Halle/Helmstedt 1756, S. 1f. 20 Ebd., S. 18.
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häute stechen, damit sie dir sagen können, ob diese Theile Empfindlichkeit haben: du willst ihnen das Herz aus dem Leibe reißen, solches mit Nadeln stechen, und sie fragen, ob sie etwas davon fühlen; du willst ihnen die Köpfe abschlagen, um zu wissen, ob der abgesonderte Kopf noch etwas fühle, und wie lange sich die Seele darinnen aufhalte: du willst ihnen neue Arten von Gifften beybringen, um bey ihnen neue Arten der Veränderungen und des Todes zu verursachen; kurz du willst ein Tyrann von einer neuen Art werden, welcher bey seinen grausamen Unternehmungen weder die wilde Erziehung, noch die Religion, sondern, welches abscheulich zu sagen ist, die Weltweisheit, diese Weltweisheit die die Menschen glücklich machen sollte, zu einer Ursache von Grausamkeiten erwählt, vor welchen die menschliche Natur einen Abscheu hat.«21
Auch hier bleibt die konkrete Experimentalpraxis also bloßes Projekt – ein Projekt allerdings, das die wissenschaftsgeschichtliche Dialektik der Aufklärung bereits deutlich artikuliert: Der Fortschritt auf dem Gebiet des empirischen Wissens über den Menschen setzt Untersuchungsmethoden voraus, die zugleich dem Menschen zuwider sind. Und auch wenn die imaginierten Szenarien bei Krüger gezielte Übertreibungen darstellen sollen, werden sie von der Wirklichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts bald eingeholt. Entscheidend ist aber auch hier vor allem, dass Krügers Entwurf gerade in seiner extremen Überzeichnung die Vorstellung verfestigt, derzufolge man den Menschen in Extremsituationen versetzen müsse, um etwas über ihn lernen zu können. Und wie schon im Fall des Isolierens führt die Tatsache, dass diese Situationen als extreme realiter nicht praktikabel sind, zu einer Substitution der geforderten Empirie durch den Modus der Fiktion: Es sind wiederum literarische Gedankenexperimente, die die Szenarien einer äußersten Reizung der Psyche und Physis des Menschen in Gänze durchexerzieren und auf diese Weise die experimentalwissenschaftliche Relation von Ursache und Wirkung auf Fragen der philosophischen Anthropologie übertragen. Das zeigt am deutlichsten der Roman Belphegor von Johann Carl Wezel aus dem Jahr 1776, der die Erzählanlage von Voltaires Candide – den Titelhelden einer nicht abreißen wollenden Kette von Versehrungen und Verstümmelungen auszusetzen – übernimmt, allerdings nicht mehr nur mit dem Ziel, die Theodizeelehre zu hinterfragen, sondern vielmehr, die charakterologische Typisierung der drei Protagonisten Belphegor, Medardus und Fromal auf die Probe zu stellen. Dem hochfliegenden Ideal, der Mensch sei »ein Geschöpf höherer Ordnung, geschmückt mit den auserlesensten moralischen Vollkommenheiten«, wird dabei von Beginn an entgegengehalten:
21 Ebd., S. 18f.
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»Man stoße ihn aus seiner idealen Welt in die wirkliche; man lasse ihn die vergangenen Zeiten, die Geschichte der Menschheit und Völker durchwandern; man werfe ihn in den Wirbel des Eigennutzes, des Neides und der Unterdrückung, in welchem seine Zeitgenossen herumgetrieben werden: wie wird sich die ganze Scene in seinem Kopfe verwandeln!«22
Dieser Satz enthält zugleich das Erzählprinzip des Romans: Metaphysische Ideale (vertreten durch Belphegor), teleologisches Gottvertrauen (Medardus), aber auch deterministischer Fatalismus (Fromal) werden im Romanverlauf immer wieder mit Ereignissen konfrontiert, die sie als dogmatische Weltsicht ad absurdum führen. Dennoch bleibt das Romanpersonal trotz immenser Irritationen bei seinen ursprünglichen Grundüberzeugungen: So fragt Medardus noch im Augenblick seines Todes »wer weiß, wozu mirs gut ist?« Der zerschundene Belphegor verharrt bei seinem Ideal: »Keine Illusion ist glücklicher, als die Illusion der Freiheit, wenn man ihr gleich jährlich etliche hundert Hirnschädel opfern müßte.« Und nachdem Medardus Belphegor stereotyp ermahnt: »Wer weis, wozu es gut ist, daß du ein Krüpel bist?«, bemerkt Fromal: »In der langen Kette von Ursachen und Wirkungen in dieser Welt war es schon längst vorbereitet, daß er ein Krüpel seyn sollte: wer kann der Nothwendigkeit widerstreben, die die sterblichen Begebenheiten aus einander hervorwachsen lassen«.23 Dieses Bekenntnis zum Determinismus, zum unerbittlichen Prinzip von Ursache und Wirkung, dessen Ergebnis die verstümmelten Körper des Romans sind, tritt an die Stelle eines Lernprozesses der Figuren. Der Roman langt auf diese Weise nicht bei Antworten auf die anthropologischen Fragen an, sondern allein bei der Affirmation des experimentalwissenschaftlichen Kausalprinzips:
22 Johann Carl Wezel: Belphegor. Oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne [1776], Frankfurt/M. 1982, S. 5; vgl. im Nachwort zu dieser Ausgabe von Lenz Prütting: »Nachrichten aus der Strafkolonie. Einige Anmerkungen zu Johann Karl Wezels philosophischem Roman ›Belphegor‹«: »Die Aufeinanderfolge der Episoden, in die Wezel seine Hauptgestalten bringt, ist demnach auch nicht zu verstehen als Nachzeichnung erfundener Lebensläufe individueller Gestalten, sondern als Folge von Experimenten, die er mit seinen Gestalten anstellt. […] Der Ablauf der einzelnen Experimente ist ebenfalls streng schematisiert und läuft nach den mechanistischen Prinzipien bedingter Reflexe ab. Die Gestalten agieren also nicht nach Plan und Überlegung, sondern re-agieren nur.« (Ebd., S. 453-502, hier S. 464f.) Im Unterschied zu dieser Anwendung einer behavioristischen Terminologie auf die Aufklärungsanthropologie wird hier die Differenz von deren protoexperimentellen Diskursen zu späteren Menschenversuchen hervorgehoben. 23 Ebd., S. 450, 135 und 137.
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»Ich erblicke in den Begebenheiten der Erde und jedes einzelnen Menschen einen Zusammenhang, der sie so zusammenkettet, daß eine wirkt, und die andre gewirkt wird, um wieder zu wirken. Dieß ist das einzige, was ich mit Gewisheit sehe, und wenn ich daran zweifeln wollte, so würde ein Stein, der auf meinen Kopf fällt, mich lebhaft davon überzeugen: es ist eine Bemerkung, die eine leichte Aufmerksamkeit macht, und sie hat, deucht mich, die nämliche Evidenz, die das Zeugniß unsrer Sinnen giebt«.24
Dass dieses Prinzip nicht nur in der physikalischen, sondern auch in der moralischen Welt gilt, hatte ein Jahrzehnt vor dem Belphegor bereits Christoph Martin Wielands Roman Geschichte des Agathon gezeigt, in dem der Philosoph Hippias die Tugend des Titelhelden auf die Probe stellt, indem er sich den Doppelsinn der deutschen Übersetzung von irritatio zunutze macht: Hippias führt Agathon in das Haus der schönen Danae, die einen Tanz aufführt, der einen »außerordentlichen Eindruck […] auf unsern allzureizbaren Helden machte.«25 In dieser Reizbarkeit konvergiert das proto-experimentelle Interesse des Hippias mit dem sinnlichen des Agathon.26 Und wie im Fall der Begriffe Isolation/Einsamkeit, die gleichermaßen durch naturwissenschaftliche und pietistische Diskurse geprägt sind, zeigt sich auch hinsichtlich der Konzepte Irritation/Reiz eine doppelte Codierung, die sowohl die empfindsame als auch die physiologische Semantik auf den Plan ruft, ohne dass einer von beiden hierarchische Priorität oder kausale Vorgängigkeit zugesprochen werden könnte.
O BSERVATION
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E RZIEHUNG
Diese wenigen Beispiele machen bereits deutlich, dass die in den Naturwissenschaften etablierten und in der Aufklärungsanthropologie postulierten experimentellen Verfahren nicht einfach übernommen und angewandt, sondern zu-
24 Ebd., S. 428. 25 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon [1766/67], hg. von Klaus Schaefer, Berlin 1961, S. 90. 26 Danae würde ihren Plan »nicht ausgeführt haben, wenn sie nicht die gute Würkung davon mit einer Art von Gewißheit vorausgesehen hätte. […] Agathon mußte in den Fall gesezt werden, sich selbst zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden; und wenn er für subalterne Reizungen empfindlich gemacht werden sollte, so mußte es durch die Vermittlung der Einbildungskraft und auf eine solche Art geschehen, daß die geistigen und die materiellen Schönheiten sich in seinen Augen vermengten, und daß er in den letzern nichts als den Widerschein der ersten zu sehen glaubte.« (Ebd.)
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nächst auf einer diskursiven Ebene verhandelt werden, indem man Schnittmengen zwischen der traditionellen anthropologischen Semantik und der modernen Wissenschaftsrhetorik nutzt. Das gilt auch für die dritte proto-experimentelle Operation, die auf das Isolieren und Irritieren der Versuchsperson folgt, sich dabei aber wiederum auf die pietistische Tradition stützen kann: Denn so sehr das Observieren eine Methode der empirischen Wissenschaften zu sein scheint, so sehr speist sich die Forderung, Menschen zu beobachten, aus einem moraltheologischen Diskurs der Selbst- und Fremdkontrolle tugendhaften Lebens.27 Diesen Zusammenhang legt im deutschsprachigen Raum nicht nur Carl Philip Moritz offen, wenn er in den 1780er Jahren auf der einen Seite versucht, Krügers Projekt einer empirischen Psychologie »aus den vereinigten Berichten mehrerer sorgfältiger Beobachter des menschlichen Herzens« in Gestalt des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde umzusetzen, und auf der anderen seinen »psychologische[n] Roman« Anton Reiser als detaillierte Selbstbeobachtung der traumatischen Auswirkungen seiner eigenen pietistischen Erziehung gestaltet.28 Auch Johann Georg Zimmermann, der 1763 mit Von der Erfahrung in der Arzneykunst die empirische Medizin in Deutschland begründet, greift die dort geforderte »Beobachtungskunst«29 zwanzig Jahre darauf in seiner pietistischen Erbauungsschrift Über die Einsamkeit wie folgt auf: »Kennen muß man einmal die Menschen, und wenn man sie kennen will, so muß man sie beobachten. Also halte ich wahrlich, das ganz im Stillen genossene, oder auch zur allgemeinen Aufklärung angewandte Studium eines solchen Menschen, nicht für ein höchst betrügliches, ein verabscheuungswürdiges, teuflisches Studium […]. Alle angebliche Teufeley in einem solchen Charakter deucht mir doch weiter nichts, als Beobachtungsgeist.«30
27 Vgl. Helmuth Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987; sowie Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung, Göttingen 1997. 28 Vgl. Carl Philipp Moritz: »Aussichten zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde« [1782], in: ders.: Werke, hg. von Horst Günther, Bd. 3., Frankfurt/M. 1981, S. 85-99, hier S. 88; sowie ders.: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [1785-1790], in: ders.: Werke, Bd. 1, S. 33-399, hier S. 36. Zum Zusammenhang beider Projekte vgl. Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ ›Anton Reiser‹, Frankfurt/M. 1987. 29 Johann Georg Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst [1763], 2. Auflage, Zürich 1777, S. 96. 30 Zimmermann: Über die Einsamkeit, Bd. 3, S. 311f.
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Das belegt nicht nur noch einmal die interdiskursive Funktion des Konzepts der Isolation, sondern markiert vor allem die umfassende Bedeutung des Beobachtungsbegriffs, der Projekte wie dasjenige einer pietistischen Selbstprüfung,31 der gegenseitigen Kontrolle von Logenbrüdern32 oder wissenschaftlicher Gesellschaften wie der Pariser Societé des Observateurs de l’homme umfaßt.33 In Moritz’ Grundlegung einer Erfahrungsseelenkunde dient dieser Beobachtungsbegriff in erster Linie dazu, vorschnellen Deutungen menschlichen Verhaltens und Befindens vorzubeugen: Die Einsendungen, die Moritz in seinem Magazin veröffentlicht, sollen das Beobachtete ohne jede Interpretation und also als bloße empirische Daten darstellen.34 Dieser Verzicht auf Auswertung ist der deutlichste Anhaltspunkt dafür, dass das Beobachten in der Aufklärungsanthropologie noch nicht als vollständiges experimentelles Verfahren verstanden wurde.35 Anders als im Fall der ersten beiden proto-experi-
31 Vgl. hierzu: »Wer sich zum eigentlichen Beobachter des Menschen bilden wolle, der müßte von sich selbst ausgehen: erstlich die Geschichte seines eigenen Herzens von seiner frühesten Kindheit an sich so getreu wie möglich entwerfen.« (Moritz: »Aussichten«, S. 92) 32 Vgl. etwa: »Das genaueste Studium des Menschen, die strenge Erforschung seiner Absichten, muß daher, bey dieser Art von Menschenvereinigung das erste aller Geschäfte seyn. Die Mitglieder müssen zu diesem Ende unter einer unaufhörlichen Beobachtung stehen. Sie müssen dadurch zu einer anhaltenden Aufmerksamkeit über sich selbst genöthiget werden.« (Adam Weishaupt: Pythagoras oder über die Betrachtungen über die geheime Welt= und Regierungs=Kunst, Frankfurt/Leipzig 1790, S. 429) 33 Vgl. hierzu: »Schon allein durch ihren Namen zeigt die Gesellschaft an, auf welche Weise sie eine gründlichere Kenntnis des Menschen erlangen zu können glaubt. Ihr Plan ist es vor allem, viele Tatsachen zu sammeln, die Beobachtungen zu erweitern und zu vermehren und dabei alle leeren Theorien, alle verwegenen Spekulationen beiseite zu lassen.« (Jauffret: »Einführung«, S. 209) 34 Vgl. hierzu: »Dann müßten aber schlechterdings nur wirkliche Fakta abgedruckt werden, und wer sie einsendet, müßte der Versuchung widerstehen, Reflexionen einzuweben.« (Moritz: »Aussichten«, S. 90) 35 Vgl. im Vorgriff auf die berühmte Unterscheidung von Claude Bernard von 1865: »Ein Experiment ist von einer bloßen Beobachtung verschieden, weil man durch Beobachtung die erlangte Kenntniß einer Sache versteht, die sich von selbst zeigt; da man hingegen ein Experiment zu machen eine Sache sehen will, und sie folglich sucht. Ein Arzt, der den natürlichen Lauf einer Krankheit betrachtet, macht also Beobachtungen; ein Arzt der in einer Krankheit ein Mittel giebt und auf die Wirkungen
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mentellen Operationen bleibt das Observieren aber kein bloßes Projekt, das lediglich im Modus der Fiktion realisiert würde. Zwar gilt auch für die Erfahrungsseelenkunde, dass Moritz’ Roman Anton Reiser die »stärkste Sammlung von Beobachtungen der menschlichen Seele enthält, die ich zu machen Gelegenheit gehabt habe«,36 die gleiche Methode wird aber zeitgleich zu Moritz in unmittelbar praxisbezogenen Feldern aufgegriffen und umgesetzt. Das wichtigste dieser Praxisfelder ist uns wiederum im Zusammenhang mit den Isolationsdiskursen bereits begegnet und von Moritz auch ausdrücklich als »eines der wichtigsten Werke«37 im Rahmen der neuen Erfahrungsseelenkunde bezeichnet worden: die Pädagogik. Die intensiven reformpädagogischen Bemühungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts führten nicht nur zu Projekten wie Johann Bernhard Basedows Dessauer Philanthropinum, das von Autoren wie Kant ausdrücklich als »Experimentalschule«38 bezeichnet wurde. Das gesamte Projekt einer Reform des Erziehungssystem macht sich von Beginn an die auch Moritz’ Entwurf prägende Überzeugung zueigen, dass wissenschaftliche Innovationen genaue Beobachtungen voraussetzen. Auf dem Feld der Pädagogik bedeutet dies, dass der Reformer zunächst einmal wissen muß, wer überhaupt Objekt der Erziehung ist. Bereits 1771 verpflichtet der Vater der seinerzeit als Wunderkind angesehenen ersten Promovendin der Universität Göttingen, Dorothea Schlözer, im Nachwort zu seiner Übersetzung eines französischen Traktats die moderne Pädagogik auf eine entsprechende Methode: »Der pädagogische Observator stellt über den Fortgang der Seele, in Erwerbung neuer Kenntnisse und Fertigkeiten, Versuche und Beobachtungen an, und protocolliert sie. Man hat Spinnen, Schnecken, Würmer, Bienen, und Frösche aufgezogen, und über ihre täglichen Veränderungen genaue und umständliche Tagebücher geführt: diese Tagebücher sind unsterbliche Zierden von den Commentarien der Akademien der Wissenschaften. Eben so beobachtet und beschreibt der Pädagoge umständlich, Schritt vor Schritt und Tag vor Tag,
dieses Mittels aufmerksam ist, macht ein Experiment. Der beobachtende Arzt hört die Natur, der erfahrende frägt sie.« (Zimmermann: Von der Erfahrung, S. 31f.) 36 Carl Philipp Moritz: »Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins«, in: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 4, 1786, Nr. 3, S. 1-16, hier S. 4f. 37 Vgl.: »Wie viele Gelegenheit hat aber demohngeachtet vor vielen andern der Schulmann, Beobachtungen über den Menschen anzustellen.« (Moritz: »Aussichten«, S. 97) 38 Immanuel Kant: »Über Pädagogik« [1803], in: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, S. 691-761, hier S. 708.
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wie ein Kind allmälich reden lernt, wie sich sein moralisches Gefühl entwickelt, wie es sich zu Bosheiten gewöhnt; wie es zählen, zeichnen, schreiben, lesen, wie es eine neue Sprache lernt; wie es historische, geographische, mathematische, natur- und kunstgeschichtliche Materialien in seine leere Seele häufet. Diese Tagebücher finden sich – ich weiß in Wahrheit nicht wo? Ich wenigstens habe all mein Tage keines gefunden, ungeachtet ich schon seit 15 Jahren suche: und doch behaupte ich dreiste und zuversichtlich, daß alle unsere Pädagogik Stümperei seyn und bleiben werde, so lange wir nicht in den Geschmack kommen, pädagogisch zu observiren.«39
Und Ernst Christian Trapp, der in Basedows Philanthropinum als Lehrer tätig gewesen war, bevor er den ersten Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Halle besetzte, schreibt 1780 in seinem Versuch über die Pädagogik: »Diese Beobachter müßten nun auf jede auch die allerkleinste Bewegung der Kinder, auf ihre Ursachen und Folgen Acht geben, und sie alle gezählt in ihr Protokoll tragen. Ein solches Protokoll würde zwar Vielen eine lächerliche Sache scheinen, und sie würden es eben so wenig lesen mögen, als eine Reihe Wetterbeobachtungen. Aber ich glaube, daß jenes für die Erziehung wenigstens eben so nützlich sein würde, als diese für den Landmann und den Reisenden. In dieses Protokoll würde nun eingetragen, welche und wie Viele onanistische Ausschweifungen begehen und Andere diese Kunstlehren; welche und wie Viele Ihre Hände, Füsse, Zunge, Augen, Ohren, auf andere Weise beschäftigen, und auf welche Art und wie oft sie es thun; welche gähnen, welche schlafen, welche in den Tisch schneiden, und was sie hineinschneiden, welche malen, und was sie malen, u.s.w.«40
Aufgabe des Lehrers ist mithin nicht die Korrektur des Verhaltens, sondern festzustellen, wer die Zöglinge sind und was sie machen: »Denn man muß die menschliche Natur erst kennen, ehe man Menschen erziehen kann.«41 Anstatt Lernfortschritte oder Charakterentwicklungen zu registrieren, erstellt der Pädagoge bei Trapp eine proto-statistische Liste der Abweichungen, Ticks und Verfehlungen.
39 Johann August Schlözer: »Zerstreute Anmerkungen des deutschen Herausgebers über die vorhergehende Pädagogik des Herrn de la Chatolais«, in: Ludwig Renatus de Caradeuc de la Chalotais: Versuch über den Kinder-Unterricht. Aus dem Französischen übersetzt; mit Anmerkungen und einer Vorrede, die Unbrauchbarkeit und Schaedlichkeit der Basedwoschen Erziehungs-Projecte betreffend, Göttingen/Gotha 1771, S. 221-264, hier S. 224. 40 Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik, Berlin 1780, S. 73f. 41 Ebd., S. 11.
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DER
A UFKLÄRUNG
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Die Kehrseite eines solchen philanthropischen Reformeifers ist damit nur allzu offensichtlich: Die Humanisierung des Erziehungssystems im Sinne der Philanthropie geht mit der Totalisierung der Überwachung der Zöglinge als Objekte des Wissens einher.42 Aber nicht nur das: Die Tatsache, dass die dritte proto-experimentelle Operation, das Beobachten, auf dem Feld der Pädagogik nicht mehr nur als bloße Möglichkeit diskutiert und fiktional ausgestaltet, sondern angewandt zu werden droht, rückt die Reformpädagogik in eine derartige Nähe zu einem tatsächlichen Menschenversuch, daß sie aus eben diesem Grund scheitert. Dieser Zusammenhang wurde zeitgenössisch von Johann Carl Wezel, der ebenfalls am Philanthropinum unterrichtete, deutlich gesehen und auch bei dem Namen genannt, der im Fall der Isolation und Irritation noch nicht angemessen schien: »So wenig jemand seinen geliebten Joli oder Brillant, seinen Papen oder Kanarienvogel einem Naturforscher gern hergiebt, um an ihm die Wirkungen der Electricität oder des luftleeren Raums untersuchen zu lassen, eben so wenig, und noch millionenmal weniger wird jemand seinen Sohn zum Experimentiren für die Erziehung ausliefern«.43
Mit der Forderung nach »Menschenbeobachter[n]«44 hat die Aufklärungsanthropologie also den Schritt von der Potentialität zur Aktualität getan45 und damit
42 Die Reformpädaogik ist damit ein Anschauungsbeispiel für Foucaults Analysen zum Machtwissen in der Moderne, das sich in der Architektur des Panopticons materialisiert, aber alle gesellschaftlichen Institutionen umgreift. Vgl. hierzu: »Dieselbe Entwicklung findet in der Umgestaltung des Elementarunterrichts statt: die Überwachung wird zu einer eigenen Aufgabe und zugleich in das Erziehungsverhältnis integriert. […] Die ›Beobachter‹ müssen jeden notieren, der seine Bank verläßt, der schwätzt, der weder Rosenkranz noch Stundenbücher hat, der sich bei der Messe schlecht benimmt, der sich auf der Straße Unanständigkeiten, Klatschen, Lärmen zuschulden komme läßt.« (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976, S. 227) 43 Johann Carl Wezel: »Anmerkungen zu den philanthropischen Gedanken über den Philanthropinismus« [1779], in: ders.: Gesamtausgabe Bd. 7, Heidelberg 2001, S. 505-519, hier S. 512. 44 Moritz: »Aussichten«, S. 93. 45 Zur Einheit der Unterscheidung von Potentialität und Aktualität wie generell zur Relevanz der Literatur für die Wissenschaftsgeschichte des Experimentierens vgl. die Einleitung zu Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 7-18, bes. S. 17.
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auch die Grenze zum tatsächlichen Experiment überschritten. Das Scheitern des Philanthropinums aufgrund dieser Grenzüberschreitung zeigt dabei noch einmal, wie wenig die anthropologische Philosophie der Aufklärung an realen Experimenten interessiert war und wie sehr sie stattdessen mit proto-experimentellen Diskursen experimentiert hat. Vor allem aber markiert dieses Scheitern das Ende derjenigen Epoche, innerhalb derer tatsächliche Versuche an Menschen noch als Grenzverletzung wahrgenommen wurden. Wezel selbst fordert weniger das Ende der Beobachtung als lediglich eine bessere Vermarktung der Reformpädagogik. Im 19. Jahrhundert aber wird nicht nur das Dispositiv der Beobachtung, sondern auch dasjenige der Isolation und Irritation menschlicher Versuchspersonen zur Realität in den ganz konkreten Laboren einer nunmehr vollständig naturwissenschaftlichen Anthropologie. Deren Voraussetzung aber bildet der proto-experimentelle Diskurs der – auch in diesem Sinne von Beginn an dialektisch verfassten – Aufklärung.
Experiment Liebe Eine literaturwissenschaftliche Annäherung oder Musil begegnet Schlegel M ATTHIAS L USERKE -J AQUI
Am Beispiel einer Begegnung zweier Texte von Robert Musil und Friedrich Schlegel wollen wir über ein Experiment in Sachen Liebe nachdenken.1 Man kann dabei von einem ›Cross-over‹ sprechen, von einem ›missreading‹, vom absichtsvollen Verzicht auf Werktreue und der Feier einer Haltung, die auf die Insistenz vorhandener Theorieangebote verzichtet. Fassen wir es einfach in diesem Satz zusammen: Interpretation ist das Ereignis der Kontingenz von Deutungen. Ich bringe in meinem diskursiven Feld des Experiments die zwei Themenbereiche Literatur und Liebe zusammen, deren Wurzeln fest in individuellen Erfahrungswelten verankert sind. Das hat ein großer Gelehrter, Erasmus von Rotterdam, ähnlich schon in diese Worte gefasst, was auch für die Liebe gilt: »Wozu […] braucht man […] Autoritäten, / wenn, ach, die Lebenserfahrung nur allzu guter Beweis ist.«2 Und zu guter Letzt hält mir eine Focus-Umfrage vom Mai 2008 vor Augen, dass immerhin zwei Drittel der Deutschen (nämlich 69 Prozent) an die einzig große Liebe glauben.3 Was also tun? Damit formuliere ich die erste Experimentalbedingung: Einen Text über Liebe zu lesen generiert Wissen über Liebe (vielleicht sogar Liebe selbst?). Die
1
Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf meinem Buch: Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe. Studien zur erlesenen Lust, Darmstadt 2011.
2
Erasmus von Rotterdam: »An den hochgelehrten Arzt Wilhelm Cop: Über das Alter«, in: Harry C. Schnur (Hg.): Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, Stuttgart 1967, S. 115/117.
3
Vgl. www.focus.de (30.5.2008).
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brennende, sagen wir die große Liebe gibt es nicht ohne den Zwang zur Komplexitätsreduktion. Es geht daher nicht um die bekannte Opposition von Konvenienzehe und Liebesheirat, sondern diesen einfachen Zusammenhang herzustellen zwischen Lust und Liebe, das lehrt uns, was vulgo als Modell von ›romantischer Liebe‹ in Anspruch genommen wird und wohl zu den gängigsten Irrtümern unserer Wissenschaft zählt. Man kann es ganz einfach auch so ausdrücken: Das Modell romantische Liebe – eigentlich ist damit ausschließlich Friedrich Schlegels »Lucinde«-Modell gemeint, denn alle anderen romantischen Liebesmodelle der Literatur fallen wiederum dem zivilisatorischen Disziplinierungsdruck ihrer Zeit zum Opfer – das Modell romantische Liebe also rehabilitiert die Lust. Die Verbindung von ›Lust und Liebe‹, die Forderung nach deren existenzieller Unabdingbarkeit, gab es in der Literatur aber schon seit je. Das reicht vom alttestamentarischen »Hohen Lied«, über griechische und lateinische Zeugnisse, über Oswald von Wolkensteins Liebesgedichte, die Frühe Neuzeit – man denke nur an Piccolominis »Euryalus und Lucretia«, an Johannes Secundus, an Simon Lemnius. Allerdings wurde ihre kulturelle Bedeutung immer wieder höchst unterschiedlich bewertet. Meist erfuhr das ›Evangelium von Lust und Liebe‹, wie es bei Schlegel heißen wird, eine effektive Minimalisierung oder sogar Repression.
E XPERIMENT M USIL – »D ER M ANN OHNE E IGENSCHAFTEN «: U LRICH UND AGATHE Betrachten wir unser erstes Liebesexperiment in der Literatur: Robert Musil entwickelt im 61. Kapitel seines Jahrhundertromans »Der Mann ohne Eigenschaften« den Zusammenhang von Experiment und Utopie. Diese Textstelle ist gewissermaßen eine Trockenübung in Sachen Experiment, das in Folgendem besteht: »Utopien bedeuten ungefähr soviel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammengesetzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Folgerungen zieht; Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Ele-
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ments und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen.« (S. 246)4
Man kann dies wörtlich nehmen und modallogisch analysieren, das habe ich vor langer Zeit einmal getan – heute stehe ich dem eher skeptisch gegenüber.5 Ich hatte damals die Idee, man könne aus dem »Mann ohne Eigenschaften« einen modalkategorialen Generalschlüssel zur Interpretation von Texten ableiten, ich pflegte also eine Art hermeneutischer Allmachtsphantasie. Die Leitbegriffe, auf die ich dabei zurückgriff, waren von Musil selbst im Roman exponiert worden, nämlich Wirklichkeit und Möglichkeit. Und so wunderte es nicht, dass ich mich in den Untiefen einer modaltheoretischen Untersuchung verlor, fern jeglichen Tageslichts.6 Versuchen wir heute einen anderen Weg. In jenem angesprochenen 61. Romankapitel entwickelt Musil die Basis-Bedingungen für ein Experiment und man kann ganz klar erkennen: Musil stellt die Bedeutung der Möglichkeit heraus, es ist von möglicher Veränderung eines Elements und von den möglichen Wirkungen im Leben die Rede, nicht von den zu erwartenden, tatsächlichen Veränderungen oder Wirkungen. Wenn eine Möglichkeit sich entwickelt, entsteht Utopie, Utopien sind sich entwickelnde Möglichkeiten; und: Utopie ist ein Experiment. Da aus Möglichkeiten Utopien entstehen und Utopien Möglichkeiten sind und Utopien Experimente sind, bedeutet dies in der logischen Schlussfolgerung, eine Möglichkeit ist ein Experiment mit möglichen Parametern. Ich drehe das terminologisch etwas: Eine Möglichkeit ist eine Möglichkeit, die eine Möglichkeit oder mehrere Möglichkeiten im Leben beobachten lässt. Was geschieht nun, wenn Liebe als Platzhalter dieser Utopie in Musils Denkfigur eingelesen wird? Damit bin ich sogleich bei meiner zweiten Experimentalbedingung: Unter den Bedingungen des Textes gilt: Wenn nun diese Möglichkeit die Liebe ist, bedeutet dies: Die Liebe ist eine Möglichkeit, die Liebe beobachten lässt, schärfer: Die Liebe ist eine Möglichkeit zur Liebe, eine Liebe ist eine Liebe ist eine Liebe, nur Liebe schafft Liebe. Liebe ist, was Liebe generiert. Ein erstaunliches Ergebnis dieses Musil’schen Experiments. Der Autor instruiert seinen Erzähler, das Experiment sogleich zu starten, und zwar mit seinem Prota-
4
Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. v. Adolf Frisé, Bd. 1-5: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b. Hamburg 1978. Die Seitenzahlen im Haupttext dieses Kapitels beziehen sich auf diese Ausgabe.
5
Vgl. Matthias Luserke: Wirklichkeit und Möglichkeit. Modaltheoretische Untersu-
6
Vgl. ebd., bes. S. 131-148; sowie Matthias Luserke: Tractatus methodo-logicus. Zum
chung zum Werk Robert Musils, Frankfurt/M. u.a. 1987. modalkategorialen Aspekt einer Literaturästhetik, Hildesheim u.a. 1988.
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gonistenpaar Ulrich und Agathe, sie beginnen ihr Experiment Liebe, eines der bemerkenswertesten Experimente erzählender Literatur des 20. Jahrhunderts. Die »Heiligen Gespräche« – so der Titel des elften Kapitels des zweiten Buches (1932) – der Geschwister Ulrich und Agathe nehmen ihren Ausgangspunkt in der Lektüre verschiedener Mystikertexte.7 Sie sind aber keine Gottessucher, das wäre ein Missverständnis. Ulrichs Bemerkung, er unterrichte sich über die Wege des heiligen Lebens, bedeutet nicht, dass er eine religiöse Wendung vollzogen hat (vgl. S. 750). Ulrich und Agathe gehen diesen Weg, »ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben; sie waren als Menschen dieser Welt auf ihn geraten und gingen ihn als solche: und gerade das war das Beachtenswerte« (S. 761). Das Liebesexperiment der Geschwister besteht darin, einen der Unio mystica vergleichbaren Zustand zu schaffen und ihn dauerhaft zu sichern, eben den anderen Zustand. Doch wie kann dieser Zustand erreicht werden? Ulrich weiß, dass ihn die Diskursmaschine lediglich in die Lage versetzt, viel darüber sprechen zu können.8 Er selbst erkennt, »meine Natur ist als eine Maschine angelegt, […]! Ich will einmal anders sein!« (S. 891, Hervorhebung M.L.-J.) Unter diesem Blickwinkel ist es nur schlüssig, wenn Ulrich auch über die Liebe feststellt, sie sei eine von den »Übereinstimmungsmaschinen« (S. 1108). Deren Funktion besteht darin, Gleichgerichtetheit herzustellen, in Überzeugungen, Absichten, Interessen, Glauben, Entscheidungen. Die heiligen Gespräche also kreisen um die Liebe. Der Erzähler warnt seine Leser: »Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand des Möglichen, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte« (S. 761).
Die Protagonisten sind auf der Suche nach einer Bewusstseins- und Lebensverfasstheit, die der Roman den ›anderen Zustand‹ nennt. Es ist ein Zustand der »Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik gemeinsam ist!« (S. 765) Ulrich wirft der »bürgerliche[n] Kultur« vor, sie habe »jenen anderen Zustand auf den Hund gebracht, der Erkenntnisse appor-
7
Zu den nachfolgenden Ausführungen vgl. Matthias Luserke: Robert Musil, Stutt-
8
Vgl.: »Ich kann viel davon reden!« (Ebd., S. 754)
gart/Weimar 1995, S. 98f.
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tiert« (S. 766). »Der Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins- und Denkzustände«, Mystik aber lehnt Ulrich ab, das gliche »Dauerferien« (S. 767), in einer Nachlassnotiz findet sich sogar die Bemerkung, Mystik sei nur das Geheimnis, »in unserer Welt anders zu leben« (S. 1279). Also bleibt die Liebe, die Utopie eines »anderen […] Lebens in Liebe« (S. 1882) oder die Utopie des Essayismus II, wie es Musil auch nennt. Und darum geht es auf den nächsten 1000 Seiten des Romans. Das von den Geschwistern diagnostizierte Entgrenzungsgefühl wird von ihnen als ein Merkmal der Liebe definiert. Plötzlich haben sie das diskursiv eingeholt, was sich körperlich schon längst abzeichnete: Ulrich und Agathe lieben sich. In einer Nachlassnotiz zu Agathe schreibt Musil: »Nun denkt sie angestrengt nach; das Ergebnis heißt wohl: ich muß handeln, uzw. (Glanz aus Brüsten): sex. handeln« (S. 1912). Ob dies der Roman dann auch tatsächlich umsetzt, es also zum geschwisterlichen Inzest kommt, lässt der Text uneindeutig und ist in der Forschung – wie könnte es anders sein – heftig umstritten.9 An anderer Stelle jedenfalls lässt Musil Agathe sagen, in der »gewöhnlichen verliebten Liebe« seien »ohne Zweifel Begehren und Selbstlosigkeit enthalten« (S. 1318, Hervorhebung im Original). Da es Ulrich und Agathe in diesem Zustand nicht möglich ist, zu »erzählen« (S. 1083), was vor sich geht, übernimmt der Autor diese Funktion und widerlegt damit vordergründig die Ansicht, dass dieser Zustand nicht beschreibbar sei. Doch bleiben auch seine Beschreibungsversuche vage. Obwohl das Begehren die sexuelle Vereinigung in der Phantasie bereits vorweggenommen und auch vollzogen hat, empfinden die Geschwister ein noch stärkeres Verlangen, das sie den realen Vollzug des Inzests noch vermeiden lässt, sie sind »die Ungetrennten und Nichtvereinten« (S. 1104), oder, wie Musil nach 1938 in einem der Versuche zur Fortsetzung der Druckfahnenkapitel schreibt: »Wahrsch[einlich] Coit[us] voraussetzen, aber, als natürlich, darüber schweigen; u. das sind Nebenlinien.« (S. 1282) Es bleibt aber unklar, was dieses höhere Gebot und die höhere Ahnung, die stärker als das Begehren sind, genau bedeuten. Nun ergeben sich aber zahlreiche Schwierigkeiten. Schon zu Beginn des Romans prädiziert der Autor, ein Liebender müsse die Liebe verlassen, um sie zu beschreiben, den anderen Zustand zu schildern gelinge nur, wenn man sich nicht in diesem Zustand befinde (vgl. S. 255). Diese Bemerkung findet sich übrigens in jenem Kapitel, worin Musil seine Denkfigur des Utopie-Experiment-Modells vorstellt, man kann der Textstelle also eine gewisse Dignität zusprechen. Daraus
9
Es darf aber in Erinnerung gerufen werden, dass Musil im Nachlass Folgendes notiert hat: »U.[lrich] fühlt in ihrer Nähe das Zurückströmen des Außen u Innen zum Gefühl u. das Durchgreifen des Gefühls. Auch die sex. Tendenz, die einer anderen Sphäre angehört.« (Ebd., S. 1276)
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ergibt sich die Kardinalfrage, vielleicht eine Art Experimentum crucis im Bacon’schen Sinne, wie es in einem Nachlasskapitel über die Möglichkeit der unverfälschten Liebe ausgedrückt ist (vgl. S. 1427): Warum wird dann trotzdem so viel darüber geschrieben oder anders: Wie ist es möglich, darüber so viel zu schreiben? Wie kann sich der Autor Musil aus diesem Dilemma befreien, »dass die Sprache nicht für diese Seite des Daseins geschaffen ist« (S. 1202)? Man müsse in diesem Zustand der Liebe sein, um zu wissen, was vor sich gehe, reklamiert immerhin der Erzähler (vgl. S. 1084). Damit befindet dieser sich in dem Dilemma, dass die Darstellung des anderen Zustands und der Liebe ihm unter der Hand zur Beschreibung einer Beschreibung gerät, wenn er diesen Zustand selbst nicht dauerhaft zu sichern vermag. Diese Sicherung aber, die Verzeitlichung der Liebe, garantiert die Literatur! Das ist ein entscheidendes Ergebnis des Experiments. Agathe entwickelt ein finales Bewusstsein, sie fürchtet, dass sie und ihr Bruder »eine Art Letzte Mohikaner der Liebe« sein könnten und sie »überhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben kann« (S. 1094), lebten. Liebe als Gefühl lässt, folgt man den Gesprächen der Geschwister, »ein mögliches Leben gebrochen durch das wirkliche« (S. 1104) empfinden. Es geht also um einen Erfahrungsdualismus, dass alles stets auch anders sein könnte und im Wirklichen sich das Mögliche verbirgt. Liebe macht zwar blind, sie macht aber auch sehen, was nicht sichtbar ist, darauf beharrt Agathe gegenüber Ulrich (vgl. S. 1108). Der Liebende erwecke diese Möglichkeiten, er ist also Experimentator. Dann macht Ulrich folgende Bemerkung: Ein Liebender sei zugänglich »für alles, was geliebt, und also gewollt, gedacht und in Worten niedergelegt worden ist« (S. 1111). Was geliebt wurde, versicherte sich der Schrift, wo Liebe ist, ist Schrift. Das Gespräch kreist im Folgenden um die Liebeskomposita wie Feindesliebe, Schönheitsliebe, Vaterlandsliebe, Lebensliebe, Jagdleidenschaft, Heimatliebe, Naturliebe, Nekrophilie, Hassliebe, Backfischliebe usf. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass die Diskursmaschine Ulrich zu überhitzen beginnt. Agathe findet Ulrichs Tagebuch, was dem Erzähler die Möglichkeit bietet, diese reflexiven und essayistischen Passagen des Romans aus dem Gesprächszusammenhang der beiden Hauptfiguren zu lösen und gattungstypologisch weich zu betten. Ulrich erörtert nun also die Frage, ob Liebe ein Gefühl sei. Das Erstaunen des Lesers greift er sogleich auf und präsentiert die »richtige Antwort«, wonach es bei der Liebe am wenigsten um Gefühle ginge. Das stellt eine über dreitausendjährige abendländische Erfahrung auf den Kopf. Was ist Liebe denn? Und Ulrich lässt sich zu einer bemerkenswerten Festlegung hinreißen, wenn er weiter ausführt: »Liebe ist das sanfte, göttliche, von Asche verdeckte, aber unauslöschliche Wesen der Welt!« (S. 1123) Doch mehr als ein metaphorisches Sprechen ist damit auch nicht gewonnen, das erkennt Ulrich sofort, denn andere Universalparameter wie ›göttliche Ver-
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nunft‹, ›Logos‹ oder ›Schoß der Welt‹ könnten an dessen Stelle treten. Liebe wird nun als ein Zustand begriffen, der die mögliche Welt zum Vorschein bringe. Ulrich erkennt, dass seine Schwester und er diese Welt suchen, sie sind also Liebende. Weshalb nun ist Liebe kein Gefühl, sondern ein Zustand? Ulrichs Tagebuchantwort fällt klar und entschieden aus: Ein Gefühl hat weder Dauer noch Identität, es verändert sich stetig. Ulrich und Agathe suchen das andere Gefühl, eben den Zustand der Liebe – Ulrich spricht auch vom Zauberwald. Und wenn Liebe denn ein Gefühl wäre, dann sicherlich ein anderes als die übrigen Gefühle; Ulrich schlussfolgert: »Liebe ist eine Ekstase« (S. 1130). In der Literatur habe es hierfür Beispiele gegeben, ergänzt er an späterer Stelle (vgl. S. 1192). Agathes heimliche Lektüre von Ulrichs Tagebuch wird durch den weiteren Erzählverlauf kurzzeitig unterbrochen, dann findet sie zu ihrem Missvergnügen einen geschichtlichen Abriss zur Gefühlspsychologie, wie die Überschrift von Kapitel 52 lautet. Darin folgt Ulrich vor allem der Frage, was ein Gefühl sei, am Beispiel historischer Entwicklungslinien innerhalb der Schulpsychologie. Im Ergebnis belegt es Ulrichs mäandernde Reflexionskraft ebenso wie des Autors solide Kenntnisse der historischen Psychologie (besonders der Gestaltpsychologie), immerhin war Musil auch studierter und promovierter Psychologe.10 Ein Gefühl habe seine Ursache in einem äußeren Reiz, der aber nicht einmalig auslösend, sondern beständig im Gefühl vorhanden bleibe. So schaffe sich jedes Gefühl seine eigene Welt. Ulrich weicht einer exakteren begrifflichen Festlegung zunächst aus und bedient sich des Verfahrens der doppelten Bedeutung, er exerziert die Flucht in den Begriff: Ein Gefühl scheine sowohl Zustand als auch Vorgang und weder Zustand noch Vorgang zu sein (vgl. S. 1159). Logisch ist dies, denn wenn ein Gefühl Zustand ist, kann es nicht Vorgang sein, und wenn es Vorgang ist, kann es nicht Zustand heißen. Ulrich spricht von der »amphibische[n] Zweideutigkeit der Gefühle« (S. 1162) – nebenbei bemerkt: Dann kann aber das zuvor präjudizierte Weder-Noch des Gefühls nicht stimmen, oder die Dialektik stößt an ihre Grenzen. Ulrich verknüpft nun Gefühl mit Handeln, womit er im Grunde Intentionalität meint. Die Größe und Intensität und der Gegenstand unserer Gefühle kennen wir erst, wenn wir handeln (vgl. S. 1172). Für die Liebenden heißt dies, indem sie handeln, lieben sie. Lieben ohne Handeln ist ein Unding. Im Liebenden liegt also die Möglichkeit, unsere Welt anders zu erleben (vgl. S. 1201). Diese andere Welt der Liebe konstituiert sich aus »möglichen Wirklichkeiten« (S. 1195). Nun kann man erkennen, dass der Autor Musil durch diese
10 Vgl. Matthias Luserke: »Gestalt- und gegenstandstheoretische Implikate im Denken Robert Musils«, in: Gestalt-Theory 10, 1988, S. 276-289.
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modaltheoretische Wendung wieder auf seine Denkfigur des Utopie-Experiments zurückkommt, da bricht der Roman ab und die spannende Frage, wie es mit den Liebenden weitergeht, bleibt unbeantwortet. Ulrich bilanziert ernüchternd, es gebe ein gewöhnliches Gefühl und ein anderes Gefühl, die Sprache sei »nicht für diese Seite des Daseins geschaffen« (S. 1202). Robert Musil beendet dieses Dilemma – und damit auch den bis dahin veröffentlichten und den in korrigierten Druckfahnen vorliegenden Teil seines Romans – mit einem Trick, einem klassischen Literaturparadoxon: Was der Sprache verwehrt ist, gelingt der Figur und so bleibt dem Autor wie seinem Protagonisten Ulrich nur die eine Form der ›Bewältigung‹, und in dieser schlichten Aporie läuft der Roman aus: »Und so schrieb er nieder, was er gedacht hatte« (S. 1203). Ähnlich lässt er Ulrich in einer Nachlassnotiz sagen: »Ich schreibe, weil ich manches besser verstehen möchte« (S. 1273). Später, in einer – man muss sagen: leider – verworfenen Ausführung zum letzten Kapitel »Atemzüge eines Sommertages« lässt Musil folgenden Dialog über die Liebe die beiden Protagonisten ausagieren: »›Willst du also gar nichts tun?‹ fragte Agathe zurückhaltend. ›Doch! Aber das Reich der Liebe ist ja in allem die große Anti-Realität. Darum hast du als erstes deinem Gefühl Arm und Bein abzuschneiden; dann werden wir erst sehen; was trotzdem geschehen kann!‹ ›Du machst das wie eine Maschine!‹ schmälte Agathe. ›Man muß es wie ein guter Experimentator tun‹ widersprach Ulrich ungerührt. ›Man muß das Entscheidende einzukreisen trachten!‹ Agathe leistete nun ernsthaft Widerstand. ›Wir haben doch keine Untersuchung abzuschließen, sondern, wenn du den Ausdruck gestattest, unser Herz zu öffnen‹ verlangte sie mit einiger spöttischer Schärfe.« (S. 1319)
Ist das Reich der Liebe also wirklich »die große Anti-Realität« (S. 1319)? Im Grunde geht es in den Gesprächen zwischen Ulrich und Agathe stets um die Frage, ob der Liebe eine dauerhafte Qualität eigne, ob sie ein beständiges Gefühl sei. Ulrich tendiert sehr dazu, dies zu bejahen, da der Liebe immerhin eine »weltgestaltende Kraft« (S. 1405) zugestanden werde, er bleibt letztlich aber unentschieden, löst den einen Standpunkt durch die Betonung des anderen wieder auf, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen; er nennt dies auch das ›unernste Philosophieren‹ (vgl. S. 1413). Agathe reagiert darauf zunehmend unwillig, für sie ist Denken kein abstrakter akademischer Vorgang, sondern hat direkt etwas mit ihrem Leben zu tun. Insofern heißt für sie über die Liebe reflektieren über ihr eigenes Leben reflektieren, um eine Klärung für sich herbeizuführen. Je länger
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der Roman dauert, desto mehr gelingt es ihr, ihren Bruder Ulrich von der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Haltung zu überzeugen, der von der »Bevorzugung der Liebe in seinem Denken«, von seinem »Verlangen nach Liebe« (S. 1415) reichlich irritiert ist. Leider bleibt unklar, wie sich der Autor Musil diese weitere Liebesentwicklung vorgestellt haben könnte. Aber Musil lässt uns Leser sogar doppelt ratlos zurück, neben dieses eine Paradoxon – dem fundamentalen Zweifel an der Repräsentationsfähigkeit der Sprache für die Liebe – gesellt sich ein weiteres, das sich in der Frage bündeln lässt, wenn die Sprache der Liebe, wie Musil im zweiten Band seines Romans ausführt, eine »Geheimsprache ist und in ihrer höchsten Vollendung so schweigsam wie eine Umarmung« (S. 1102), wer vermag dann noch diese Sprache zu dechiffrieren? Hier müssen wir Einspruch erheben. Der Roman selbst ist der Gegenbeweis: Wir wissen nun, nach dem Experiment mit Musil, nichts ist geschwätziger als die Liebe, da ihr Verbündeter die Literatur ist. Schon Novalis’ Klingsohr sagte im »Heinrich von Ofterdingen«: »Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. […] die Liebe ist selbst nichts, als die höchste Naturpoesie.«11 Und später notiert dann Novalis: »Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte – das Amen des Universums.«12 In einem von Musils Reinschriftkapiteln, die immerhin Varianten zu den Druckfahnenkapiteln darstellen, greift der Erzähler übrigens selbst in diesem Sinne ein und kommentiert das Geschehen zwischen Ulrich und Agathe folgendermaßen: »Ob übrigens, was Agathe und Ulrich verband, als Liebe zu verklagen sei oder nicht, soll damit nicht entschieden sein, obgleich sie unersättlich miteinander sprachen. […] es gilt von der Liebe wie von allen Gefühlen, dass sich ihre Glut umso größer in Worten ausbreitet, je weiter ihnen noch das Handeln ist« (S. 1220). Musil bestätigt damit also explizit, was er in den Druckfahnenkapiteln offen lässt, er wertet die Funktion der Sprache in der Liebe immens auf.
E XPERIMENT GROSSE L IEBE : F RIEDRICH S CHLEGELS »L UCINDE « Ich gelange beim Experiment »Lucinde« zu der These, dass Liebe einer sprachlich-textuellen Darbietung bedarf, um als große Liebe erkannt und verbürgt zu
11 Novalis: »Heinrich von Ofterdingen«, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hg. v. Richard Samuel, München/Wien 1978, S. 117. 12 Ebd., S. 427.
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werden. Dies markiert zugleich ein Paradoxon zum Anspruch der Liebe, dass Worte sie mitzuteilen versagten. Darin mag das Romantische von Schlegels Liebesmodell zu erkennen sein, dass er dem Liebesdiskurs als Text die größtmögliche Authentizität des Gefühls einräumt und dies, entgegen jüngerer literaturwissenschaftlicher Arbeiten, unabhängig von jedweder gattungstypologischen Diskussion. Damit griff Schlegel das auf, was Friedrich Schiller im »Don Karlos« schon auf den Begriff gebracht hatte: »Liebe, der schönste Text« (Vers 1596). Sprach Hegel von der ›Beredsamkeit der Leidenschaft‹, so Friedrich Schlegel von der ›Rhetorik der Liebe‹. Liebe wird demnach als kulturelles Muster verstanden, das die Sprache als Geschlechter- und Liebesordnung ebenso regelt wie es sie in Unordnung zu bringen vermag. Bevor die »Lucinde« 1799 überhaupt erschienen war, hatte Schiller bereits befunden, Schlegel habe »zum Schriftsteller kein Talent«13. Als dann der Roman vorlag, urteilte er in einem Brief an Goethe vom 19. Juli 1799: »Schlegels Lucinde […] ist der Gipfel moderner Unform und Unnatur, man glaubt ein Gemengsel aus Woldemar, aus Sternbald, und aus einem frechen französischen Roman zu lesen«14. Friedrich Schlegel wagte es, dem Lesepublikum in seiner »Lucinde« das Modell einer »großen Liebe« (S. 106)15 vorzustellen, das dem Großteil der Leser als unverhüllte Pornographie erschien. In die Reihe derer, die nur moralisch pikiert auf die »Lucinde« reagieren konnten, ist auch die unverständige Kritik Heinrich Heines aus der »Romantischen Schule« aufzunehmen. Jene Rezensenten, welche die »Lucinde« priesen, wünscht sich Heine »von Obrigkeitswegen«16 festgesetzt. Er beklagt die unzüchtige Nichtigkeit, Lucinde sei keine Frau, sondern »eine unerquickliche Zusammensetzung von zwei Abstraktionen, Witz und Sinnlichkeit«17.
13 Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, 1940 begründet v. Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel, hg. v. Norbert Oellers, Weimar 1943ff., Bd. 28, S. 2. Zum Verhältnis Schillers und Schlegels, der seinen ›klassischen‹ Kollegen als den ›reinen Nullpunkt‹ in der Dichtung titulierte, vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, Tübingen/Basel 2005, S. 32f. 14 Ebd., Bd. 30, S. 73. 15 Ich zitiere nach der Ausgabe: Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Studienausgabe. Kritisch u. mit Begriffs-Repertorium, Bibliographie u. Nachwort versehen v. Karl Konrad Polheim, revidierte u. erweiterte Ausgabe, Stuttgart 2001. Die Seitenzahlen im Haupttext dieses Kapitels beziehen sich auf diese Ausgabe. 16 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 5: Schriften 1831 – 1837, hg. v. Karl Pörnbacher, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1981, S. 408. 17 Ebd.
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1799 erscheint der Debütroman von Friedrich Schlegel mit dem schlichten Titel »Lucinde. Ein Roman.« Dieser Roman provoziert bis heute auch in der Forschung höchst unterschiedliche Lesarten. Die einen sehen in ihm das frühe Zeugnis der Frauenemanzipation, von einem männlichen Verfasser geschrieben, die anderen platonisieren den Text, entziehen ihm gewissermaßen seine Körperlichkeit und feiern im Roman das Manifest einer Liebesreligion. Und schließlich gibt es einige wenige Stimmen, die den Roman als literarische Männerphantasie, als emanzipatorischen, als wilden Text im Gehege des Patriarchats verstehen. Ich denke, man muss zur Lektüre zwei Voraussetzungen treffen: 1.) Auf die Zeitgenossen hat der Roman unverschämt provozierend gewirkt, von vorbehaltloser Zustimmung bis hin zum Vorwurf der literarischen Pornographie reicht das Spektrum, obgleich die Schlegel zugeschriebenen pornographischen Gedichte zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen waren. Um nur ein Beispiel anzuführen: »So liegst du gut. Gleich wird sich’s prächtig zeigen Wie klug mein Rat: ich schiebe meinen Dicken In dein bemoostes Tor – man nennt das Ficken. Du fragst warum? – Davon laß jetzt mich schweigen. Schon seh’ ich Schmerz in deinen blanken Blicken, Das geht vorbei: du mußt zurück dich neigen, Gleich wird dein Blut dir jubeln wie die Geigen Von Engeln, welche ihre Brünste schicken In bebender Musik zum Ohr der Welt. Famos! … Du einst dich mir in bravem Schaukeln, Die Schenkel schmiegen pressend, es umgaukeln Mich Düfte, die mich locken in die Unterwelt. Ein Stoß – ein Schrei! … Die weißen Glieder zittern Im Kampf wie Apfelblüten in Gewittern.«18
18 Zitiert nach: Ich will dich. Die hundert schönsten erotischen Gedichte. Ausgewählt v. Hansjürgen Blinn, Berlin 2001, S. 78.
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Ist Schlegel nun der Erste, der Einzige, der mit dieser Freizügigkeit den Zusammenhang von sexuellem Begehren und Liebe beschreibt? Beileibe nicht. Wer einen wahrlich pornographischen ›Gegentext‹ zur »Lucinde« sucht, sei beispielsweise auf das von mir vor Jahren wiederentdeckte Buch »Lina’s aufrichtige Bekenntnisse« aus dem späten 18. Jahrhundert verwiesen. Wer ein hochliterarisches Beispiel bemühen will, denke an Wilhelm Heinse. In der »Lucinde« decodiert Schlegel den Liebesdiskurs so radikal, dass dies von den Zeitgenossen als Sakrileg empfunden wurde. Es ist weder die Rede von metaphorisch-religiöser Inbrunst (wie etwa in Novalis »Hymnen an die Nacht« von 1800) noch von künstlerischen Sublimationsleistungen, es geht schlicht um den Zusammenhang von Liebe, Lust und Literatur. Man kann also mutmaßen, dass der Text zeitgenössisch als programmatischer Emanzipationstext, als Patriarchatskritik verstanden wurde. 2.) Aus heutiger Sicht, wenn wir also nach dem aktuellen Stellenwert des Textes fragen, müssen wir kritisch festhalten, dass der Text weder historisch noch aktuell für weibliche Autonomie plädiert. Er erscheint uns vielmehr als der Versuch, Emanzipation fiktional abzublocken, indem das Phantasma der scheinbar selbstständigen Frau entworfen wird. Der Text erfordert also eine geschlechterdifferente Lektüre, die nach der literarischen und kulturellen Konstruktion von Weiblichkeit im Text fragt. Die Sprache der Liebe solle »frey und kühn« (S. 37) sein, die Darstellung körperlicher Liebe erfordert demnach eine andere, eine neue kulturelle Mitschrift. Zeitgenössisch wurde der Anspruch dieses neuen Tons, der neuen Schrift, durchaus erkannt, nicht aber honoriert und schon gar nicht fortgesetzt. Die weibliche Hauptfigur des Textes, Lucinde, ist nicht verheiratet, sie hat ein uneheliches Kind und lebt in einer ›wilden Ehe‹, einer Liebesgemeinschaft mit der männlichen Hauptfigur, Julius, zusammen. Schon allein diese Konstellation war für die Zeitgenossen ein Tabubruch. Weibliche »Prüderie« (S. 34), also das zivilisatorische, das kulturell erworbene Ansichhalten, wird als unnatürlich verworfen. Der Text imaginiert dadurch die befreite, die lustspendende und die lustempfangende Frau, es geht um die Männerphantasie der ständigen sexuellen Verfügbarkeit und Willigkeit, es geht dem männlichen Schreiber und Erzähler letztlich nicht um die einzelne Frau Lucinde, sondern um Weiblichkeit schlechthin: »Laß mich’s bekennen, ich liebe nicht dich allein, ich liebe die Weiblichkeit selbst. Ich liebe sie nicht bloß, ich bete sie an, weil ich die Menschheit anbete. […] Es ist die älteste kindlichste einfachste Religion, zu der ich zurückgekehrt bin«. (S. 34f.) Die »Lucinde« führt im Untertitel die gattungstypologische Bezeichnung »Ein Roman«. Im Text selbst greift der Autor dreimal diese Zuordnung auf:
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»Und sollte dir ja dieser kleine Roman meines Lebens zu wild scheinen: so denke dir, daß er ein Kind sey […]« (S. 23). An anderer Stelle heißt es: »Übrigens wollte ich eigentlich davon reden, welchen Eindruck dieser fantastische Roman auf die Frauen machen würde, wenn der Zufall oder die Willkühr ihn fände und öffentlich aufstellte« (S. 35). Indirekt spricht der Autor aber auch von seinem Text als Roman, wenn er ihn »dieses tolle kleine Buch« (S. 32) nennt. Im Stil der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts fingiert er seinen Roman als »Bekenntnisse« (o. S. [= S. 9]), was wiederum die Charakterisierung als ›wilder‹ und ›fantastischer‹ Roman legitimieren hilft. Dem eigentlichen Text ist ein Prolog vorangestellt, der mehr enthält, als nur literaturhistorische Referenzen auf Petrarka, Boccaccio und Cervantes, welche die rhetorische Funktion einer klassischen Captatio benevolentiae ersetzten. Die drei großen Namen der europäischen Literaturgeschichte, die mit Petrarka auch den Begründer eines der wichtigsten europäischen Liebesdiskurse aufruft, werden mit einer mythologiegeschichtlichen Referenz verknüpft, die sich unschwer als Sublimierungsallegorie zu erkennen gibt. Es ist der griechische Mythos von Leda und dem Schwan, wonach der Göttervater Zeus Leda begehrte, die seine Zuneigung aber nicht erwiderte. So verwandelte er sich in einen Schwan und vollzog in der Tierkostümierung den Geschlechtsakt. Bei Schlegel nun dient das Bild zunächst zur Abwehr möglicher Kritiken, Adler – als Sinnbild unangreifbarer Dichtergröße – und Schwan kümmerten sich nicht um das »Gekrächz der Raben« (o. S. [= S. 7]). Dem Schwan gehe es um nichts anderes, »als daß der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schooß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen; und alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauchen« (o. S. [= S. 7]). Der Schoß der Leda wird zum Sinnbild weiblicher Sexualität und die Berufung auf dieses Sinnbild dient der Rechtfertigung literarischen Schreibens darüber. Die Sublimierung des männlichen Begehrens erfolgt im ›Gesang‹, was hier als poetisches Artefakt verstanden werden kann. Literatur wird demnach als Sublimierungsprodukt eines fiktiv angenommenen, da mythologisch evozierten, Begehrens verstanden. Anders gesagt, stellt sich die Fiktion (die Literatur) als Ergebnis eines fiktiven Begehrens dar. Damit wiederholt Schlegels Text im Prolog, was für die Ebene der Autorwirklichkeit ohnehin gilt, dass die Literatur stets Begehren modelliert. Die Bedeutung der Schoßmetaphorik ergibt sich, streng hermeneutisch argumentiert, aus den zahlreichen Parallelstellen. Von den insgesamt neun Textstellen überwiegt die Bedeutung von weiblichem Schoß (vgl. S. 33), vom Schoß der Natur (vgl. S. 30) und vom Schoß als Ort der Paaridentität (vgl. S. 39). Im ersten ›Bekenntnis eines Ungeschickten‹ steht Julius am Fenster und phantasiert die Gegenwart seiner Geliebten. In der Lesart dieses ersten Briefes
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von Julius an Lucinde ist Liebe demnach nicht ein kulturelles Produkt, sondern Liebe ist ein Naturzustand. Erst die kulturelle Überformung macht aus der (natürlichen) Liebe ein (unnatürliches) Verhaltensmuster. Liebe offenbart »einen tiefen Blick in das Verborgne der Natur« (o. S. [= S. 11]). Im Sinne einer Antitheodizee geht es nicht mehr darum, die Ordnung der Dinge und die Welt als die beste oder nützlichste aller möglichen Welten zu rechtfertigen, sondern es ist die denkbar »schönste« (ebd.) Welt. Eines wird hier schon deutlich: Die Liebe ästhetisiert – die Wahrnehmung, die Dinge, das Verhalten. Auch wenn sich für Julius sein Zustand »leicht aus der Psychologie« (S. 13) erklären lässt, so bleibt die »romantische Verwirrung« (S. 12) der Liebe doch jener flüchtige Moment, den es als Erinnerung, Phantasie oder Wirklichkeit festzuhalten gilt. »Ich bat sehr, du möchtest dich doch einmal der Wuth ganz hingeben, und ich flehte dich an, du möchtest unersättlich seyn« (S. 12). Die Wut, von der Julius spricht, ist im Wortsinn des 18. Jahrhunderts die sexuelle Lust, die im zeitgenössischen medizinischen Diskurs als Mutterwut, Liebesfieber, furor uterinus oder febris amatoria bezeichnet wird und über die zu lesen ist: »Artet der Trieb zum Beyschlafe in Wuth und Unsinn aus, so wird er auch wohl Liebeswuth genannt«.19 Die Bedeutung der schönsten Welt schließt ein, dass über die »schönste Situazion in dieser schönsten Welt« (S. 15) gesprochen bzw. geschrieben wird. Dies heißt aber im Klartext, die »Ordnung« (S. 14) der Welt, die Beschreibungsregulative einer »bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung« (S. 69) zu verlassen, gar sie zu vernichten und ihr die Unordnung der Liebe entgegenzusetzen, deren Darstellung die Unordnung des Textes bedeutet. Das »schönste Chaos« (S. 14), von dem Julius nun schreibt, ist diese Unordnung der Liebe. So erklärt Schlegel – via sein Alter Ego Julius, der sich selbst als »gebildeter Liebhaber und Schriftsteller« (S. 14) bezeichnet –, weshalb sein Roman kein narrativ kohärenter Text ist, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Gattungstypen vereint. An diesem Punkt steht Schlegels Roman in der Tat am Beginn einer romanpoetischen Moderne. Folgerichtig fügt sich also als nächstes Kapitel des Romans die »Dithyrambische Fantasie über die schönste Situazion« an. Der Text benennt das Begehren nach der Dauer der Erfüllung. Das schließt die Gültigkeit und Dauer des Augenblicks nicht aus: »Die Liebe […] ist auch der heilige Genuß einer schönen
19 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart, Wien 1808, Tl. 2, Sp. 2059. Zu den anderen Lemmata vgl. ebd., Tl. 3, Sp. 350; Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1885, Bd. 6, Sp. 2830; Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Braunschweig 1809. Nachdruck, Hildesheim/New York 1969, Tl. 3., S. 121f. u. S. 384.
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Gegenwart« (S. 88). In dieser Phantasie, die Julius sucht, soll es »sich endlich erfüllen und endlich Ruhe finden« (S. 16). Lust und Liebe kennzeichnen diesen Zustand, gar von einem großen Karneval der Lust und Liebe spricht Julius an anderer Stelle (vgl. S. 29). Im Zusammenhang dieser Phantasie fällt auch erstmals das Wort von der Ehe, die beide miteinander verbinde. Damit ist nicht das bürgerliche Institut oder ein religiöses kirchliches Sakrament gemeint, auch wenn Julius wenig später von der »Religion der Liebe« (S. 18) spricht.20 Vielmehr erfolgt die Definition dessen, was unter »unsrer Ehe« (S. 17) verstanden wird, aus der männlichen Perspektive. Für Julius bedeutet dieser Zustand die Verschmelzung von weiblichem Ich und männlichem Ich mit einem Allmachtsanspruch, der jegliche Vergänglichkeit ausschließt. Zu einer echten Ehe gehöre, so Julius, ewige Liebe (vgl. S. 91). »Ich kann nicht mehr sagen«, schreibt Julius, »meine Liebe oder deine Liebe; beyde sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe« (S. 17). Ewigkeit, Einheit und Harmonie sind die Anspruchskriterien, die dieses Ehemodell kennzeichnen. Friedrich Nietzsche wird dies später in die längst zur gängigen Münze gewordene Formulierung kleiden: »Denn alle Lust will – Ewigkeit«.21 Lucinde ist die ›große Liebe‹, so wird es am Ende des Romans heißen (vgl. S. 115). Schlegel führt damit einen Begriff ein, der in der zeitgenössischen Literatur seinesgleichen sucht. Lucinde wird von Julius als eine Frau erfahren und phantasiert, die sexuelle Erfüllung gewährt und »unersättlich« (S. 12) ist. Julius genießt nicht nur diese sexuelle Erfüllung mit seiner großen Liebe, sondern er genießt auch den Genuss (vgl. S. 12). Das Superlativische von Lust und Liebe kennzeichnet also diese große Liebe von Beginn an und nur so ist zu verstehen, wenn Julius sich selbst als Priester und Prophet im Namen der Geschlechterliebe begreift, der »das hohe Evangelium der ächten Lust und Liebe« (S. 37) zu verkündigen habe. Die schönste Situation meint die sexuelle Erfüllung in der großen Liebe und das wirft unweigerlich die Frage nach der Moral einer textuellen Darstellung dieser großen Liebe auf. Beide Hauptfiguren, Julius und Lucinde, thematisieren
20 Um dies noch einmal explizit zu betonen: Ich argumentiere auf der Textebene der Figuren, nicht auf der Autorebene. Dass bei Friedrich Schlegel die Grenzen zwischen der vollendeten Liebe und der (bürgerlichen) Ehe aufgehoben sind, ist bekannt, vgl. dazu etwa die verdienstvolle Lemmatisierung des Herausgebers Karl Konrad Polheim in seiner ›Lucinde‹-Ausgabe (S. 144). 21 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I-IV. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. durchgesehene Auflage, München 1988, Bd. 4, S. 402. Hier: Zarathustra IV: »Das Nachtwandler-Lied«, Nr. 10.
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genau dies, wenn Lucinde einwirft, wie könne man das schreiben wollen, »was kaum zu sagen erlaubt ist, was man nur fühlen sollte?« (S. 20), und Julius antwortet, man dürfe, was man fühle, auch sagen und was man sagen wolle, dürfe man auch schreiben. Allein die Authentizität des Gefühls legitimiert die Darstellung ›des Schönsten‹. Wie Leser darauf reagierten, ist bekannt. Die große Liebe findet noch eine weitere Steigerungsmöglichkeit. Diese besteht darin, »die Rollen [zu] vertauschen« (S. 19). Erstaunlicherweise wurde diese Textstelle bislang bei den »Lucinde«-Interpretationen geflissentlich überlesen, passt sie doch so gar nicht in ein naiv emanzipatives oder ein vorschnelles genderkritisches Verständnis des Textes.22 Gleichwohl markiert sie vom Beginn an das Phantasma des Rollen- und Geschlechterwechsels – und nicht der Rollen- und Geschlechterauflösung! – in der großen Liebe. Dieses Spiel des Rollentauschs stellt sich Julius als »wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit« (S. 19) dar. Weshalb aber bedarf es dieser Vollendung? Darauf gibt der Text keine Antwort. Der Verzicht auf kulturelle Inszenierungsmuster, die als Vorurteile und als falsche Scham gebrandmarkt werden (vgl. S. 23) – nicht umsonst spricht Julius von der »beneidenswürdige[n] Freyheit von Vorurtheilen« (S. 23), davon, dass man sich »über alle Vorurtheile der Cultur und bürgerlichen Conventionen« (S. 30) hinwegsetzen solle, oder, wie es in den »Lehrjahren der Männlichkeit« heißt: »Es ward Grundsatz bey ihm, die gesellschaftlichen Vorurtheile, welche er bisher nur vernachlässigte, nun ausdrücklich zu verachten« (S. 65) –, der Verstoß also gegen kulturelle Codes, gegen soziale Regeln und religiöse Rücksichtnahmen, kurz: der Anspruch »in schöner Anarchie« (S. 23) die Vollendung von Lust und Liebe zu leben, enthält eine klare Absage an tradierte Verhaltens- und Verständnisordnungen. Bei Schlegels Schriftstellerkollegen Wilhelm Heinse findet sich eine vorrevolutionäre Vorwegnahme dieses antibürgerlichen Impulses in seinem Roman »Ardinghello« (1787). Darin schreibt Heinse über den kulturellen Zwang zur monogamen Paarintimität:
22 Auszunehmen ist hierbei die Arbeit von Michel u. Michel, die von Rollenpluralität sprechen und diese mit Schlegels Konzept einer Symphilosophie erklären. Die Ausweitung ihres Untersuchungsgegenstandes auch auf Novalis unterstreicht, dass die modellhafte Übertragung und Verschiebung von Geschlechterrollen in der frühromantischen Literatur nicht auf Schlegels ›Lucinde‹ begrenzt ist. Ihrer Kritik an der Sekundärliteratur ist vorbehaltlos zuzustimmen, vgl. Edith Michel, Willy Michel: »Der ›zusammenstimmende Pluralis‹ und die ›unbegreiflichen gleichzeitigen Empfindungen‹. Zur Symphilosophie der Liebe bei Friedrich Schlegel und Novalis«, in: Walter Hinderer (Hg.): Codierungen von Liebe in der Kunstperiode, Würzburg 1997, S. 113-135.
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»Und ist eine junge Schönheit nicht imstande, ihrer viele zu vergnügen? Verliert der eine etwas, wenn der andre auch von der Quelle trinkt, woran er schon seinen Durst gelöscht hat? In einer guten bürgerlichen Gesellschaft sollte platterdings auch gesellschaftliche Liebe und Freundlichkeit sein; allein wir können uns von dem Krebsschaden der Vorurteile vieler Jahrtausende noch nicht heilen. Eins und eins ist wahrlich nicht viel mehr als einsiedlerisch und gegen die Natur; […]«23
In einer freilich zu Lebzeiten Heinses nicht veröffentlichten Ergänzung dieser Textstelle schmückt er die Erklärung sexuell noch drastischer aus. Schlegel gebraucht in der »Lucinde« an dieser Stelle ein kleines Adjektiv, mit dem er seinen Roman kennzeichnet, dieser könne, lässt er Julius sagen, ob seiner erotischen Assoziationsmöglichkeiten zu »wild« (S. 23) scheinen. Mit dieser Charakterisierung greift er – ob wissentlich oder unwissentlich, spielt dabei keine Rolle – eine Sprachregelung auf, die Friedrich Schiller in »Kabale und Liebe« (1784) immerhin zur Bestimmung sexuellen Begehrens ins Spiel brachte.24 Louise Miller bringt hier eine Unordnung in die Liebe, da sie deren Triebnatur erkennt. Ob sie diese Kenntnis aus der Literatur bezogen hat, wie der Vater mutmaßt, bleibt im Stück dahingestellt. Sie artikuliert »wilde Wünsche« (I/4),25 die sich für sie als Bedrohung darstellen. Ihr Geliebter Ferdinand wird zum »Feuerbrand« (I/4), der wütet und den Mann sprachlos macht. Die Sprachlosigkeit bleibt auch gegenüber Lady Milford (vgl. II/3), sie spiegelt jeweils seine Fassungslosigkeit angesichts der distinkten Aussagen der beiden Frauen Louise und Lady Milford. Die aristokratische männliche Sprachbeherrschung versagt vor der sprachgewandt artikulierten Autonomie des weiblichen Ichs. Louises wilde Wünsche werden von Lady Milfords »wildere[n] Wünsche[n]« (II/1) überboten. In einem regelrechten Wettbewerb der Leidenschaften versuchen sich die beiden Frauen ständedistinkt zu positionieren. Dabei tritt eine erstaunliche Umkehrung der Verhaltensstandards bürgerlicher und aristokratischer Ordnung zutage. Während Lady Milford sexuell exzessiv gelebt hat und nun ihre Sehnsucht nach einer verlässlichen Partnerbeziehung, nach ihrer großen Liebe artiku-
23 Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe, hg. v. Max L. Baeumer, Stuttgart 1985, S. 225. 24 Ich fasse an dieser Stelle kurz zusammen, was ich andernorts ausführlich dargelegt habe, vgl. Matthias Luserke-Jaqui: »Die Unordnung der Liebe – Kulturgeschichtliche Aspekte der Subjektkonstitution in Friedrich Schillers ›Kabale und Liebe‹ (1784)«, in: Jutta Schlich, Sandra Mehrfort (Hg.): Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770 – 2006), Heidelberg 2006, S. 17-34. 25 Römische Akt-, arabische Szenenzahl.
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liert und dies für sie ›wildere Wünsche‹ sind als je ihre Lebensweise zuvor, ahnt die unerfahrene Louise, dass ihre Liebe zu Ferdinand nicht körperlos bleiben wird, sondern auf eine sexuelle leidenschaftliche Beziehung zielt, ihre Wünsche also wild, leidenschaftlich, ungeordnet, nicht mehr disziplinierbar werden. Am Ende aber wird Ferdinand den Superlativ wilder Wünsche vollenden. Als er an der Aufrichtigkeit von Louises Liebe zweifelt, ruft er sich selbst in Erinnerung, dass seine »wildesten Wünsche schwiegen« (IV/2), obwohl er Louise gerade geküsst hatte. Begehrensfrei und körperlos war ihre Liebe. Allerdings dient ihm diese Erinnerung nicht dazu, die geliebte Frau zu entlasten und sein verlorenes Vertrauen zurück zu gewinnen, sondern er prädiziert damit eine Kosten-Nutzen-Reflexion, die seinen Verzicht und damit seinen Verlust in den Mittelpunkt rücken und er eröffnet dadurch eine Rechnung bürgerlicher Ökonomie. Schlegel erschließt also einen hoch interessanten textualistischen Liebesbegriff. Demnach wird Liebe als Text verstanden, dessen richtiges Verstehen von der entsprechenden hermeneutischen Schulung der Liebenden, also dem Textschreiber und zugleich dem Textleser, abhängt. Julius spricht von einer »Rhetorik der Liebe« (S. 31), vom »ächte[n] Buchstabe[n] « (S. 30), von einem neuen Sinn, der sich ihm erschlossen habe (vgl. S. 29) und den er den »höhern Kunstsinn der Wollust« (S. 31) nennt, der nur durch die Liebe gelehrt werden könne. So erklärt sich nebenbei auch des Autors Schlegel Bemerkung: »Ursprung der Kunst aus der Wollust und Liebe«.26 Diese »Empfindung des Fleisches« (S. 31), was also das körperliche Begehren meint, wird von Julius als die erste Stufe einer »Liebeskunst« (S. 31) definiert. Während Männer diesen ersten Grad der Liebe aber lernen müssen, eignet er den Frauen von Natur aus, »jede hat die Liebe schon ganz in sich« (S. 33). Die Liebe ist für den Mann »nur ein Wechsel und eine Mischung von Leidenschaft, von Freundschaft und von Sinnlichkeit« (S. 82). In den »Lehrjahren der Männlichkeit« wird Julius hervorheben, dass die Frauen »mitten im Schooß der menschlichen Gesellschaft Naturmenschen geblieben sind« (S. 80). Keine Frage, dass Julius hier das traditionelle Geschlechterbild der Frau als ursprüngliches, leidenschaftliches und triebgesteuertes Wesen evoziert. Der zweite Grad jener Liebeskunst entspricht einem Ideal, nämlich der Erfüllung und Befriedigung des weiblichen Verlangens. Für den Mann heißt dies, »Fantasie« (S. 32) aufzubringen und die »Allmacht der Fantasie« (S. 99) auch zu ertragen, um diesen Grad
26 Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur. Erster Teil. Mit Einleitung u. Kommentar, hg. v. Hans Eichner, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16, Paderborn 1981, S. 354 [= Nr. 102].
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der »intensive[n] Unendlichkeit, Unzertrennlichkeit ohne Zahl und Maaß« (S. 32) zu erreichen. Der dritte Grad ist »das bleibende Gefühl von harmonischer Wärme« (S. 32). Sexuelle Lust, phantasievolle Befriedigung und Harmonie werden also als die drei Stufen der großen Liebe beschrieben. Schlegels Julius liebt nicht nur Lucinde, sondern »die Weiblichkeit selbst« (S. 34), er betet die Weiblichkeit und die Menschheit an und fordert Lucinde auf, ihn zum Priester der Weiblichkeit zu weihen (vgl. S. 35). Nur so ist die in der sich anschließenden »Idylle über den Müssiggang« geprägte Formel vom ›hohen Evangelium der echten Lust und Liebe‹ zu verstehen. Julius ist zum Priester dieser Liebesreligion geweiht. Ihm geht es darum, die Objektivität seiner Liebe, die Liebe als Naturzustand, festzustellen. »Diese Objektivität und jede Anlage zu ihr bestätigt und bildet ja eben die Magie der Schrift, […]. Die Liebe selbst sey ewig neu und ewig jung, aber ihre Sprache sey frey und kühn […]« (S. 36f.). Schlegels textualistisches Liebesverständnis – wonach also die Schrift und die Sprache der Liebe ihre Objektivität verbürgen – ist an die Ästhetisierung des Sexes gekoppelt. Anders formuliert: Die Ästhetik der Wollust wird an das Durchschreiten der dreigradigen Liebeskunst gebunden. Die echte, objektive Liebe ist – folgt man der Argumentation des Romans – die große Liebe, ihre Tatsächlichkeit ist textgestützt, auch wenn sich in das, »was reine Darstellung und Thatsache scheint«, »Allegorie eingeschlichen« (S. 86) hat. Wenn man das Schlegel’sche Liebesmodell als das Modell einer Liebesbeziehung gegen die »öffentliche Meinung« (S. 24) versteht, wird deutlich, dass demzufolge auch ein Liebestext wie die »Lucinde« sich zwangsläufig gegen Erwartungen, Regularien und Geschmacksvorstellungen der zeitgenössischen Öffentlichkeit stellen muss. Aus »niedriger Ordnungsliebe« (S. 38) darf ein wildwüchsiger Text der Liebe nicht beschnitten werden. Das Plädoyer für den Müßiggang lehnt vehement die Triebfedern einer modernen Gesellschaft ab. Eile, Zeitnot, Effizienzdenken oder ökonomisches und soziales Maximierungsstreben sind mit der Unordnung der Liebe unvereinbar, die gerade auf ihre Zeitvergessenheit und Sorglosigkeit verweist. Schlegels Ästhetik der großen Liebe gründet sich auf die Annahme, »alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft« (S. 39). In diesem Zusammenhang fällt der Begriff des »Sturm und Drang« (S. 39), dessen die Liebe nicht bedürfe, da sie nur in der »heiligen Stille der ächten Passivität« (S. 40) statthat, und es muss die Frage erlaubt sein, weshalb Schlegel an dieser Stelle auf diesen literarhistorischen Periodenbegriff rekurriert.27
27 Zum wissenschafts- und begriffsgeschichtlichen Kontext vgl. ausführlich: Matthias Luserke: »›Zum Tollwerden sind die vernünftigen Diskurse‹. Ein Beitrag zur Wissen-
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Die kritische, genauer skeptische Haltung Schlegels gegenüber dem Sturm und Drang zeigt schon ein 1798 formuliertes »Athenäums-Fragment« (Nr. 306): »Die Geschichte von den Gergesener Säuen ist wohl eine sinnbildliche Prophezeiung von der Periode der Kraftgenies, die sich nun glücklich in das Meer der Vergessenheit gestürzt haben«28. In der »Lucinde« nun ist über den Zusammenhang von Sexualität und dem Drang zur Diskursivierung zu lesen: »Es brannte und zehrte in meinem Mark; es drängte und stürmte sich zu äußern. Ich griff nach Waffen, um mich in das Kriegsgetümmel der Leidenschaften, die mit Vorurtheilen wie mit Waffen wüthen, zu stürzen und für die Liebe und die Wahrheit zu kämpfen […]« (S. 30). Nur so wird die Äußerung von Julius verständlich: »Lieber erst den Diskurs, und hernach die Götter« (S. 47f.). Die große Liebe von Julius und Lucinde hat den dritten und höchsten Grad der Liebeskunst, die Harmonie, erreicht. Dies bedeutet nun nicht, dass diese Liebe körper- und geschlechtslos geworden ist. Die Liebe ist alles, erklärt Julius, sie enthält »Freundschaft, schöne[n] Umgang, Sinnlichkeit und Leidenschaft« (S. 51). Und doch gilt: »In einem Augenblick ist die Liebe da, ganz und ewig, oder gar nicht« (S. 47) und »alles Schöne ist schnell und leicht« (S. 40). Die Liebe bleibt fragil und flüchtig, allein der Text verbürgt ihr Dauer. Darin liegt das Geheimnis einer Ästhetik von Lust und Liebe als Lebensform und als Schreibhaltung in der »Lucinde«. Die Entwicklungsgeschichte der großen Liebe zwischen Lucinde und Julius nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Beobachtung, dass auch Lucinde einen »entschiednen Hang zum Romantischen« (S. 78) habe. Julius versteht darunter die Ablehnung von kulturell codierten Vorurteilen und bürgerlichen Ordnungsmustern. Lucinde vermag ohne Rücksichtnahmen frei und unabhängig zu leben. Julius erkennt in der Geliebten eine »wunderbare Gleichheit« (S. 78). Nur er und sie vermögen »in der heiligen Schrift der schönen Natur« (S. 85) zu lesen. Diese ›schöne Natur‹ ist in einem einzigen Wort gebündelt, »er hatte das Wort gefunden […] Liebe« (S. 83f.). Die große Liebe macht die Menschen erst »zu wahren vollständigen Menschen« (S. 93). Julius modifiziert mit dieser Äußerung die Anthropologie der Aufklärung um ein entscheidendes Stück. Galt dort die Einsicht, dass der Mensch ein Triebwesen sei und erst die Disziplinierung der Lei-
schaftsgeschichte des Sturm und Drang«, in: ders.: Lenz-Studien. Literaturgeschichte, Werke, Themen, St. Ingbert 2001, S. 29-52, bes. S. 31f.; sowie David Hill (Hg.): Literature of the Sturm und Drang, Woodbridge 2003. 28 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, hg. v. Ernst Behler, Hans Eichner, Bd. 2, Kritische Schriften und Fragmente 1798–1801, Paderborn u.a. 1988, S. 134.
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denschaften und die Affektmodellierung ihn zum Menschen mache,29 so ist es nun die Rückkehr in den Naturzustand der Liebe ohne kulturelle und gesellschaftliche Überformung. Dies führe letztlich zu einer freien Republik der Liebenden oder, wie Julius sagt, zu einer »allgemeine[n] Brüderschaft aller Einzelnen« (S. 92). Dass hier Julius für seinen Autor spricht, geht aus folgender Eintragung Schlegels hervor, wonach diese Erkenntnis in den Liebesdiskurs implementiert wird: »Nur durch die Liebe und durch das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Menschen.«30 Eine »neue Ordnung der Dinge« (S. 88) basiert auf der Unordnung der Liebe, sie intendiert ein Kommunikations- und Handlungsmodell, das die Gleichheit der Liebenden proklamiert und die Geschlechterdifferenz festigt. In dieser veränderten Perspektive ist nun »die Gesellschaft […] ein Chaos« (S. 51). Während der Mann Julius sich zur Gottvollkommenheit entwickelt, vervollkommnet sich die Frau Lucinde, »gleich der Natur als Priesterin der Freude das Geheimniß der Liebe leise zu offenbaren« (S. 96). Die Hierarchie der Geschlechter bleibt zwar bestehen, doch verbürgt die Textur der Liebe die Gleichheit der Liebenden. Denn – und auch dieses Argument ist nicht in den genderkritischen Arbeiten zur »Lucinde« zu finden – die große Liebe wandelt »die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit« (S. 98). Während der Mann also gottähnlich wird, wird die Frau gottgleich. Und diese Wandlung vollzieht das »heiligste Wunder der Natur« (S. 98), die Wollust. Schlegel ruft somit emphatisch das sexuelle Begehren als jenen Ort der Verwandlung auf, der die Umkehrung der Geschlechterrollen und deren Aufhebung verbürgt. Für das Jahr 1799 ein wahrlich kühnes Gedankenexperiment! Versuchen wir zum Abschluss eine Art experimenteller Zusammenfassung, dann lassen sich als Ergebnis folgende Erkenntnisse, jedenfalls Ergebnisse zum Verhältnis von Liebe und Literatur formulieren: Für Schlegel gilt: 1.) Liebe ist ein Naturzustand, ist nichts kulturell Generiertes, sie ist ein anthropologisches Muss. 2.) Liebe wird als Text verstanden. Sie bleibt fragil und flüchtig, allein der Text verbürgt ihr Dauer. Die Textur der Liebe gewährt die Gleichheit der Lieben-
29 Vgl. dazu Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1995. 30 Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. und eingeleitet v. Hans Eichner, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, Paderborn 1967, S. 264 [= Nr. 83].
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den. Denn die große Liebe wandelt »die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit«. 3.) Letztlich könnte man von hier aus sogar die These wagen, Liebe sei eine ›natürliche‹ Kulturtechnik (Liebe = Natur, Text = Kultur). 4.) Das schlägt auch auf die Darstellung von Liebe durch: Die Unordnung der Liebe bedeutet bei Schlegel die Unordnung des Textes. Die Liebe ästhetisiert – die Wahrnehmung, die Dinge, das Verhalten, sie verändert also. 5.) Schlegels Konjunktions-Modell von Lust und Liebe auratisiert die große Liebe als Evangelium und gibt ihr doch zugleich ihre Lust zurück. Sexuelle Lust, phantasievolle Befriedigung und Harmonie werden als die drei Stufen einer großen Liebe beschrieben. Und für Musil gilt: 1.) Liebe ist, was Liebe generiert (also unabhängig davon, ob dieser Zustand ›natürlich‹ oder ›kultürlich‹ bedingt ist). 2.) Für die Liebenden heißt dies, indem sie handeln, lieben sie. 3.) Liebe ist kein Gefühl, sondern ein Zustand, der Anderes von der Welt zum Vorschein bringt. 4.) Die Verzeitlichung der Liebe garantiert die Literatur. Das ist ein entscheidendes Ergebnis des Experiments. In jedem Fall ist Liebe, bei beiden Autoren, eine Ur-Experimentalsituation! Wir wissen nun, nach dem Experiment mit Musil und Schlegel, nichts ist geschwätziger als die Liebe, und dieses Schicksal teilt sie mit der Literatur. Als Literaturwissenschaftler stelle ich – nicht ohne Genugtuung – fest: Liebe braucht Literatur, denn nur Literatur garantiert ihre Dauer.
Gavagai Vom Versuch (Quines) mit einer radikalen Übersetzung J ENS K ERTSCHER
G EDANKENEXPERIMENTE ALS PHILOSOPHISCHE M ETHODE Die Philosophie gilt als reflexive Wissenschaft. Sie bezieht sich nicht direkt auf ihre Gegenstände, sondern reflektiert auf Grundbegriffe, mit denen wir uns, nicht zuletzt auch in den Wissenschaften erkennend und handelnd auf die Welt beziehen. Dieser Versuch, die Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften abzugrenzen, ist zugegebenermaßen unspezifisch. Immerhin hat diese Charakterisierung den Vorteil, unverträgliche metaphilosophische Positionen unter einen Hut bringen zu können. Wie immer man nämlich die Aufgaben der Philosophie im Einzelnen bestimmen mag: Dass sie keine empirische Wissenschaft ist, dürfte zu den ganz wenigen unter Philosophen allgemein akzeptierten disziplinären Selbstbeschreibungen gehören. Und gerade deshalb liegt es auch nahe, zu vermuten, dass das Gedankenexperiment vornehmlich in der Philosophie zu Hause ist: »Of all the armchair methods of philosophy, one of the most conspicuous is the thought experiment«.1 Wenn Gedankenexperimente überhaupt eine ernst zu nehmende Methode sein sollen, dann wohl am ehesten in einer nicht-empirischen Wissenschaft wie der Philosophie. Ihr Medium ist der Begriff. Und was sind Gedankenexperimente, wenn nicht ein Ausloten von begrifflichen Möglichkeiten durch die Imagination ungewöhnlicher Beispiele?2 Tatsächlich wimmelt es in der Philosophiegeschichte nur von solchen 1
Timothy Williamson: The Philosophy of Philosophy, Oxford 2007, S. 179.
2
Ernst Mach, mit dem man die Geschichte des Begriffs ›Gedankenexperiment‹ üblicherweise beginnen lässt, bezeichnet es als »Variation der Tatsachen in Gedanken«
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imaginierten Absonderlichkeiten: Lockes Beispiele zur Identität der Person oder Descartes täuschender Gott, Strawsons Modell der auditiven Welt, Jacksons Mary oder Putnams Zwillingserde, Davidsons Sumpfmann oder Searles Chinesisch-Zimmer, Molyneux’ Problem oder Condillacs Statue, das Schiff des Theseus oder die so genannten Gettier-Beispiele. Immer wieder versuchen Philosophen, ihre begrifflichen Untersuchungen durch die Erfindung von Gedankenexperimenten plausibel zu machen oder gegnerische Theorien durch raffinierte Gegenbeispiele ins Wanken zu bringen. Trotzdem ist es alles andere als klar, was Gedankenexperimente in der Philosophie überhaupt sind und was sie genau leisten. So ist schon unklar, wie man die oben genannten Beispiele für Gedankenexperimente von anderen Formen mit Fiktionen arbeitender philosophischer Argumentation abgrenzen soll: Sind Spekulationen über Naturzustände, wie man sie von Hobbes bis Rawls in der politischen Philosophie findet, Gedankenexperimente? Wie verhält es sich mit den plakativen Extrembeispielen in der so genannten angewandten Ethik? – Sind das auch Gedankenexperimente? Und wenn jedes mehr oder weniger realistische Beispiel ein Gedankenexperiment sein soll, was wäre dann das Gemeinsame daran, das sie als bevorzugte Methode der Philosophie – jenseits aller schulphilosophischen Differenzen – auszeichnet und damit auch empfiehlt? Unklar ist ferner ihr Erkenntniswert. Was zeigen solche Beispiele überhaupt? Was für eine Art Wissen gewinnen wir durch philosophische Gedankenexperimente? Gewähren sie uns Einblicke in die logische Geographie von Begriffen oder lassen sich aus ihnen gar Einsichten über die Wirklichkeit – gleichsam ohne alle Empirie, aus dem Lehnstuhl heraus – gewinnen? Illustrieren sie Argumente oder sind sie selbst welche? Und schließlich muss man danach fragen, was solche Gedankenexperimente überhaupt als Experimente in einem soliden wissenschaftlichen Sinn auszeichnet. In den Naturwissenschaften gibt es einigermaßen klare Antworten darauf, was ein Experiment ist und was es in einem Forschungszusammenhang leistet bzw. wo seine Grenzen liegen. Bei den erwähnten Beispielen aus der Philosophie ist das nicht offensichtlich.
(Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung [1926], unveränderter Nachdruck der 4. Auflage, Darmstadt 1991, S. 188, kursiv im Orig.). Mach hatte zwar durchaus auch Philosophen und Künstler im Auge, wollte diese Methode jedoch vor allem für die Naturwissenschaften legitimieren. Zur Begriffsgeschichte sowie zur Reichweite und den Grenzen des Gedankenexperiments als naturwissenschaftliche Methode im Anschluss an Mach und die darauf folgenden wissenschaftstheoretischen Diskussionen vgl. die ausführliche Studie von Ulrich Kühne: Die Methode des Gedankenexperiments, Frankfurt/M. 2005.
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Angesichts des unklaren methodischen Status von Gedankenexperimenten sind Zweifel an der Validität dieser Methode angemeldet worden. So schreibt beispielsweise Quine über Science-Fiction Beispiele, die vor allem in Debatten über personale Identität beliebt sind: »The method of science fiction has its uses in philosophy, but at points […] I wonder whether the limits of the method are properly heeded. To seek what is ›logically required‹ for sameness of person under unprecedented circumstances is to suggest that words have some logical force beyond what our past needs have invested them with.«3
Der Sinn von Quines Kritik ist klar: Gedankenexperimente können nichts über die Bedeutung von Begriffen bzw. die logischen Bedingungen von Wortgebräuchen lehren, denn alles über die Bedeutung von Wörtern Bekannte ist über vergangene und aktuelle sprachliche Praktiken vermittelt. Zuverlässige oder gar logisch zwingende Aussagen über zukünftige Wortgebräuche lassen sich daraus nicht ableiten. Wenn es zutrifft, dass die Methode des Gedankenexperiments in der Philosophie typischerweise eine Metaphilosophie voraussetzt, die der Philosophie eine eigene, nicht-empirische Methode eröffnet, dann ist Quines Skepsis gegenüber Gedankenexperimenten als Methode zur Ermittlung rein begrifflicher, sprachlogischer oder ›grammatischer‹ Wahrheiten keine zufällige Nebenbemerkung. Sie lässt sich selbst auf bestimmte philosophische und in letzter Konsequenz auch metaphilosophische Voraussetzungen und Positionen rückbeziehen. Bei Quine wären das der Naturalismus und vor allem die Kritik an den beiden Dogmen des Empirismus. Von Quines Naturalismus wird später noch die Rede sein. Die Kritik an den Dogmen des Empirismus richtet sich bekanntlich einerseits gegen die verifikationistische Bedeutungstheorie mit ihrer Annahme einer Einzelprüfung empirischer Aussagen, andererseits gegen die prinzipielle Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen, also der Unterscheidung zwischen empirischen Wahrheiten und Bedeutungswahrheiten.4 Wenn Quines Argumente zutreffen, dann wird die Idee einer Philosophie, die sich losgelöst von aller Empirie im Bereich der Bedeutungswahrheiten bewegt, hinfällig. Im Folgenden soll es aber nicht, zumindest nicht in erster Linie, um eine Diskussion von Quines sprachphilosophischen Thesen gehen. Die Literatur dazu ist ausufernd, und ich will mir nicht anmaßen, dazu
3
Willard Van Orman Quine: »Milton K. Munitz (ed.): Identity and Individuation«, in:
4
Willard Van Orman Quine: »Zwei Dogmen des Empirismus«, in: ders.: Von einem
The Journal of Philosophy, 69, 1972, S. 488-497, hier S. 490. logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1979, S. 27-50.
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etwas Neues beizusteuern. Stattdessen sollen Quines Thesen im Zusammenhang mit den allgemeineren Fragen nach der adäquaten Methode der Philosophie und der Rolle von Gedankenexperimenten vorgestellt werden.5 Als Kontrastfolie dazu werde ich mich auf Überlegungen beziehen, die Timothy Williamson zur Epistemologie des Gedankenxperiments entwickelt hat.
W ILLIAMSONS M ODALITÄTSTHESE Timothy Williamson gehört zu den zeitgenössischen Philosophen, die eine methodische Ausnahmestellung der Philosophie gegenüber anderen Wissenschaften ablehnen. Seine metaphilosophische Position fällt dadurch auf, dass er seine Ablehnung einer methodischen Ausnahmestellung der Philosophie nicht von einem naturalistischen Standpunkt aus begründet, wie beispielsweise Quine, sondern sie mit der eher traditionellen Auffassung von Philosophie als einer ›LehnstuhlWissenschaft‹ kombinieren will.6 Weder unterscheidet sich die Philosophie hinsichtlich ihrer Themen und Fragestellungen von den anderen Wissenschaften noch verfährt sie prinzipiell anders als diese: »[T]he common assumption of philosophical exceptionalism is false. Even the distinction between the a priori and the a posteriori turns out to obscure underlying similarities. Although there are real methodological differences between philosophy and the other sciences, as usually practiced, they are less deep than is often supposed.«7
Wie die von ihm behauptete Kontinuität zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften genauer zu verstehen ist, lässt sich nach Williamson am Gedankenexperiment zeigen. Williamson schließt sich dabei der verbreiteten Auffassung an, dass Gedankenexperimente eine modale Behauptung, eine Behauptung über etwas Mögliches implizieren.8 Er entwickelt diese Idee, indem er sie mit zwei
5
Auch zu dieser Thematik ist die Literatur inzwischen kaum mehr zu überblicken. Ein Klassiker aus dem Kontext der englischsprachigen Debatte ist Roy A. Sorensen: Thought Experiments, New York 1998. Vgl. ferner Daniel Cohnitz: Gedankenexperimente in der Philosophie, Paderborn 2006.
6
Vgl.: »Although this book is a defence of armchair philosophy, it is not written in a
7
Ebd., S. 3.
8
Zu den modalen Implikationen philosophischer Gedankenexperimente vgl. Cohnitz
purely conservative spirit.« (Williamson: The Philosophy of Philosophy, S. 7)
2006, S. 177-192.
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weiteren Überlegungen verbindet: Erstens geht er davon aus, dass modales Wissen, also unser Wissen über mögliche Tatsachen, in der Bewertung von bzw. im schlüssigen Argumentieren mit kontrafaktischen Konditionalsätzen aufgeht. Ein kontrafaktischer Konditionalsatz hat bekanntlich die Form »wenn p der Fall gewesen wäre, dann wäre auch q der Fall gewesen.« Da p im Antezedenz eines kontrafaktischen Konditionalsatzes in der tatsächlichen Welt nicht wahr sein darf, bezeichnet p einen Satz, der wahr sein könnte, m. a. W.: eine Möglichkeit. In diesem Sinne enthalten nach Williamson auch Gedankenexperimente Thesen über kontrafaktische Möglichkeiten. Sie vermitteln Wissen über kontrafaktische Tatsachen. Gedankenexperimente lassen sich – das ist die zweite Überlegung – auf die Form einer kontrafaktischen Annahme bringen, wobei das Antezedenz eine mögliche Situation beschreibt und das Konsequenz eine Situation, die mit dem Antezedenz genau dann verträglich ist, wenn man den kontrafaktischen Satz insgesamt als wahr bewertet. Das berühmte Gedankenexperiment von Frank Jackson könnte demnach folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden: »Wenn Mary Farben wahrnehmen könnte, hätte sie etwas gelernt.«9 Williamson nutzt dabei die aus der Modallogik bekannten Äquivalenzen zwischen den Modaloperatoren und kontrafaktischen Konditionalsätzen: (I) A ist notwendig gdw. »wenn A nicht der Fall wäre, wäre A der Fall«; in formaler Notation: A ≡ (¬ A → A) (II) A ist möglich gdw. »Es ist nicht der Fall, dass wenn A der Fall wäre, A nicht der Fall wäre«; in formaler Notation: ◊A ≡ ¬ (A → ¬ A)10 Geht man von diesen Äquivalenzen aus, lässt sich nach Williamson zeigen, dass sich die Erfindung möglicher Situationen in Gedankenexperimenten nicht von der auch aus anderen mehr oder weniger gewöhnlichen Zusammenhängen bekannten Beurteilung von kontrafaktischen Konditionalsätzen unterscheidet. Normalerweise bereitet es keinerlei Schwierigkeiten, einen banalen Satz wie den folgenden hinsichtlich seines Wahrheitswertes zu evaluieren: »Wenn ich früher aufgestanden wäre, hätte ich den Zug nicht verpasst«. Die Wahrheit solcher Aussagen beruht auf robustem Wissen über empirische Regelmäßigkeiten. Die Bewertung anderer Aussagen verlangt ein wenig mehr Phantasie und ist entsprechend anspruchsvoller: »Wenn der Thronfolger Österreich-Ungarns am 28. Juni 1914 nicht ermordet
9
Vgl. ausführlich Frank C. Jackson: »What Mary Didn’t Know«, in: The Journal of Philosophy, 83, 1986, S. 291-295.
10 Vgl. ausführlich Williamson: The Philosophy of Philosophy, S. 158f. Das Symbol »→« steht für das kontrafaktische Konditional.
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worden wäre, wäre der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen«. So wie wir manchmal im Alltag kontrafaktische Konditionalsätze gebrauchen, um über mögliche Tatsachen zu urteilen, so können wir nach Williamson auch in der Philosophie über mögliche Tatsachen urteilen und dazu Gedankenexperimente entwickeln: »Paradigm thought experiments in philosophy are simply valid arguments about counterfactual possibilities.«11 Dabei können wir auf ganz gewöhnliche kognitive Ressourcen zurückgreifen: empirisch begründete Verallgemeinerungen sowie logisches Schließen. Besondere Erkenntnisquellen wie ›Intuition‹ oder a priorisches Wissen sind dazu nicht erforderlich. Interessant an Williamsons Vorschlag ist, dass er den Zusammenhang zwischen Gedankenexperimenten und einer philosophischen Sonderrolle auflöst. Die Epistemologie von Gedankenexperimenten, so die These Williamsons, lässt sich am besten mithilfe der Epistemologie von kontrafaktischen Konditionalsätzen verständlich machen. Im Grunde sind Gedankenexperimente bloß ein Anwendungsfall des Bewertens von kontrafaktischen Konditionalsätzen, wie sie auch in außerphilosophischen Kontexten üblich ist. Es reicht allerdings nicht aus, ein Gedankenexperiment auf die Form eines kontrafaktischen Konditionalsatzes zu bringen, um einzusehen, welchen Gewinn die Analyse solcher Sätze für das Verständnis der Epistemologie von Gedankenexperimenten bringt. Williamson erläutert daher seine These anhand der in der Erkenntnistheorie viel diskutierten Gettier-Beispiele. Es scheint nicht auf der Hand zu liegen, dass es sich dabei überhaupt um Gedankenexperimente handelt.12 Edmund Gettier konstruiert in einem viel diskutierten Aufsatz zwei Beispiele, die die Standarddefinition von Wissen als »wahre, gerechtfertigte Meinung« erschüttern sollen. Die drei in der Standarddefinition auftretenden Bedingungen, wonach S genau dann weiß, dass p, wenn p wahr ist, S die Überzeugung hat, dass p und S darin gerechtfertigt ist zu glauben, dass p, sollen je für sich notwendig und insgesamt hinreichend für die Zuschreibung von Wissen sein. Gettiers zwei Beispiele zeigen, dass jemand eine wahre gerechtfertigte Meinung p haben kann, ohne p zu wissen.13 Nach Williamson lässt sich dieses Gedankenexperiment folgendermaßen analysieren. Zunächst muss die Standarddefinition formalisiert werden:
11 Ebd., S. 207. 12 Eine Diskussion der Gettier-Beispiele unter dem Gesichtspunkt des Gedankenexperiments findet sich auch bei Cohnitz: Gedankenexperimente, 120ff. Anders als Williamson interessiert Cohnitz sich dabei für die Frage, ob Gedankenexperimente geeignet sind, eine Überzeugungsrevision herbeizuführen. Bei Gettiers Beispielen ist das, laut Cohnitz, eindeutig der Fall. 13 Vgl. Edmund L. Gettier: »Is Justified True Belief Knowledge?«, in: Analysis 23.6, 1963, S. 121-123.
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(1) ∀x∀p (K (x,p) ≡ JTB (x,p))14 Das Argument gegen (1) besteht darin, ein Gettier-Beispiel (GB) zu konstruieren, wonach es möglich ist, dass jemand eine wahre, gerechtfertigte Meinung, dass p hat, die kein Wissen ist: (2) ◊∃x∃p GB (x,p) Um das Argument gegen (1) zu vervollständigen muss noch deutlich werden, dass jeder, der in der im Gettier-Beispiel beschriebenen Relation zu einer Proposition p steht, eine wahre, gerechtfertigte Meinung über diese Proposition hat, ohne p zu wissen: (3) ∀x∀p (GB (x,p) → (JTB (x,p) ∧ ¬K (x,p))) Da die notwendige Konsequenz von etwas Möglichem selbst möglich ist, folgt aus (2) und (3), dass es möglich ist, dass jemand eine wahre gerechtfertigte Meinung hat, die kein Wissen ist: (4) ◊∃x∃p (JTB (x,p) ∧ ¬K (x,p)) (4) widerspricht (1), daher ist eine wahre, gerechtfertigte Meinung nicht hinreichend für Wissen. Diese Behauptung über einen möglichen Sachverhalt kann – das war Williamsons These – durch eine entsprechende Erweiterung von (3) in die Form eines kontrafaktischen Konditionalsatzes gegossen werden: (3*) ∃x∃p GB (x,p) → ∀x∀p (GB (x,p) → (JTB (x,p) ∧ ¬K (x,p))) Aus (3*) folgt ebenfalls (4), was (1) widerspricht. Das Gedankenexperiment hat die Funktion, die Behauptung zu widerlegen, dass die drei Bedingungen für Wissen immer gemeinsam erfüllt sein müssen. Es ist wichtig zu sehen, dass es sich dabei selbst um eine modale Behauptung handelt, denn sie besagt, dass die drei Bedingungen notwendigerweise gemeinsam erfüllt sein müssen. Aus diesem Grund ist auch die modallogische Formulierung des Einwandes gegen (1) unverzichtbar. Gettier präsentiert seine Beispiele nämlich als Möglichkeiten. Seine imaginierten Fälle sind nicht als Gegenbeispiele zu der nicht-modal (also aktual) zu verstehenden Behauptung gedacht, dass die drei Bedingungen tatsächlich immer gemeinsam erfüllt sind. Sie richten sich im Modus des Möglichen gegen eine entgegengesetzte modale Behauptung.15 Allgemeiner formuliert: Nach Williamsons Analyse ist
14 Für die folgende Darstellung vgl. Williamson: The Philosophy of Philosophy, S. 183187. Ich gebe hier eine komprimierte Zusammenfassung. Weil es weniger umständlich ist, habe ich die Variablen in der Formel aus dem Original übernommen. Sie stehen für die relevanten englischen Ausdrücke (K = Knowledge; JTB = Justified True Belief). 15 Vgl. ebd., S. 185.
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ein Gedankenexperiment, wie das der Gettier-Beispiele, ein modales Argument, das von modalen Prämissen auf eine modale Konklusion schließt. Die Hauptprämisse kann als kontrafaktischer Konditionalsatz formuliert werden (3*). Das Gedankenexperiment beruht dabei auf gewöhnlichem Argumentieren mit und Bewerten von kontrafaktischen Konditionalsätzen. Dazu ist nicht mehr nötig als ein wenig Phantasie gepaart mit schlichtem empirischen Wissen. Wie bereits erwähnt, dient Williamsons Analyse der Funktion von Gedankenexperimenten dazu, seine Kritik an der Auffassung von Philosophie als rein begriffliche Analyse, die glaubt, eigene Erkenntnisquellen wie Intuition oder Wissen a priori mobilisieren zu können, zu konkretisieren. Auch dann, wenn Philosophen in ihrem Lehnstuhl Platz nehmen, so Williamson, produzieren sie nicht nur Wissen über begriffliche Zusammenhänge: »[T]he subject matter of much philosophy is not conceptual in any distinctive sense. Many epistemologists study knowledge, not just the ordinary concept of knowledge. Metaphysicians who study the nature of identity over time ask how things persist, not how we think or say they persist. In such inquiry, the gap between belief and truth is of the same kind as in most non-philosophical inquiry«16
Es ist also ein Irrtum, zu glauben, dass Philosophie ein rein begriffsanalytisches Unternehmen ist oder dass für sie empirische Erkenntnisse irrelevant wären, nur weil Philosophen im Lehnstuhl tatsächlich zu relevanten Einsichten kommen können. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Gedankenexperimente als gültige Argumente über kontrafaktische Möglichkeiten verstanden werden können. Der Gebrauch solcher Argumente ist aber keine philosophische Besonderheit. So attraktiv diese Analyse von philosophischen Gedankenexperimenten ist, sie bleibt in einer bestimmten Hinsicht voraussetzungsreich. Die Unterstellung, dass die Gettier-Beispiele das Wesen des Wissens, also eine metaphysische Modalität und nicht eine begriffliche Notwendigkeit betreffen, ist nämlich alles andere als selbstverständlich. Viele Erkenntnistheoretiker sind der Auffassung, dass die traditionelle Definition des Wissens eine begriffliche Wahrheit darstellt und keineswegs eine Aussage über ›Wissen‹ im metaphysischen Sinne.17 Die
16 Ebd., S. 211. 17 Metaphysische Notwendigkeiten bezeichnen normalerweise Naturnotwendigkeiten oder nomische Notwendigkeiten: »Etwas ist metaphysisch notwendig gdw. es aus den Natur-
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oben genannten Sätze (1) und (2) würden demnach begriffliche Notwendigkeiten bzw. Möglichkeiten artikulieren. Das durch Gettiers erdachte Beispiele entstehende Problem verlangt daher entweder die Änderung einer der drei Bedingungen oder die Ergänzung von (1) durch zusätzliche Bedingungen, um schließlich zu einer Analyse des Wissensbegriffs zu gelangen, die gegen Beispiele à la Gettier immun ist. Dagegen begreift Williamson (1) im Sinne einer metaphysischen Modalität. Eine begriffliche Interpretation der Gettier-Beispiele wäre seiner Auffassung nach für Erkenntnistheoretiker sogar völlig uninteressant: »The conclusion would be that it is conceptually possible to have justified true belief without knowledge. That does not refute the hypothesis that knowledge just is justified true belief, of metaphysical necessity, any more than the conceptual possibility of something with the atomic number 79 that is not gold refutes the hypothesis that gold just is the element with atomic number 79, of metaphysical necessity. The primary concern of epistemology is with the nature of knowledge, not with the nature of the concept of knowledge. If knowledge were in fact identical with justified true belief, that would be what mattered epistemologically, irrespective of the conceptual possibility of their nonidentity.«18
Die begriffsanalytische Lesart der Gettier-Beispiele wäre geradezu trivial, denn was bedeutet »begrifflich möglich« anderes, als dass es möglich ist, ungewöhnliche Situationen zu konstruieren, bei denen der Begriff des Wissens und der Begriff der gerechtfertigten, wahren Meinung auseinander fallen?19 So ein Ergebnis wäre allenfalls für Begriffstheoretiker, aber nicht für Erkenntnistheoretiker interessant. Williamsons Analyse der Gettier-Beispiele beruht also auf der Annahme, dass Wissen – genauso wie Gold – eine natürliche Art ist. Es erübrigt sich, zu betonen, dass diese Sichtweise alles andere als selbstverständlich ist.20 Hat Wissen ein Wesen in dem Sinne, wie man vielleicht bei natürlichen Arten von einem realen Wesen sprechen kann? Diese Frage muss hier nicht diskutiert werden.
gesetzen folgt, bzw. in allen naturmöglichen Welten wahr ist. Etwas ist ›metaphysisch möglich‹, wenn es mit den Naturgesetzen vereinbar ist, bzw. in mindestens einer möglichen Welt wahr ist, die in der Menge der naturmöglichen Welten ist.« (Cohnitz: Gedankenexperimente, S. 204; für weitere Erläuterungen dazu vgl. ebd.). 18 Williamson: The Philosophy of Philosophy, S. 206. 19 Ebd., S. 205. 20 Vgl. die vehemente Kritik von Peter M. S. Hacker: »A Philosopher of Philosophy«, in: The Philosophical Quarterly 59, 2009, S. 337-348, hier S. 346f.
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Was die Rolle von Gedankenexperimenten betrifft, versucht Williamson einen dritten Weg einzuschlagen: Er grenzt sich von denjenigen ab, die den Wert von Gedankenexperimenten in der Philosophie grundsätzlich anzweifeln;21 zugleich verwirft er die rationalistische Position, wonach es substantielle metaphysische Wahrheiten gibt, die a priori erkannt werden können.22 Trotzdem stellt sich die Frage, wie weit sich Williamsons Theorie des Gedankenexperiments als gültiges Argument über kontrafaktische Möglichkeiten auch dann verallgemeinern lässt, wenn man die Voraussetzungen seiner Kritik am begriffsanalytischen Selbstverständnis der Philosophie nicht teilt. Es wurde bereits angedeutet, dass man Gettiers Beispiele durchaus sinnvoll als Diskussion des Wissensbegriffs verstehen kann. Bei anderen Gedankenexperimenten ist es noch offensichtlicher, dass sie sich auf begriffliche Zusammenhänge beziehen, ohne dass ihr Ergebnis bloß für Begriffstheoretiker oder gar nur für Linguisten interessant wäre. So beansprucht Peter Strawson mit seiner Spekulation über eine rein auditive Welt, Einsichten über unseren Begriff einer objektiven Welt zu ermitteln. Ihn interessiert die Frage, ob dieser Begriff in der Welt, wie wir sie kennen, überhaupt eine Verwendung hätte, wenn es in ihr nur akustische Wahrnehmungen gäbe.23 Viele Gedankenexperimente haben die Funktion, Grenzen von Begriffsverwendungen auszuloten; sie fungieren somit als kritisches Instrument im Rahmen begriffsanalytischer Untersuchungen. Alternative Lesarten sind hier – anders als vielleicht bei den Gettier-Beispielen – nur schwer möglich bzw. würden auf eine Kritik an bestimmten inhaltlichen Prämissen einer Position hinauslaufen und nicht nur methodische Fragen betreffen. Umgekehrt lassen sich viele Gedankenexperimente mühelos mithilfe von Williamsons Vorschlag als Argument über eine kontrafaktische Möglichkeit interpretieren, ohne dass man seine Annahmen über den ontologischen Status ihres Gegenstandes teilen muss. Ein gutes Beispiel dafür bietet Quines berühmtes Szenario der radikalen Erstübersetzung.
21 Ein besonders drastisches Beispiel für die ablehnende Haltung ist Hacker: »I note merely that thought-experiments are no more experiments than Monopoly money is money; the fact that Galileo and Einstein engaged in thought-experiments does not make metaphysics any more akin to science than to chess or cricket.« (Ebd., S. 347) Eine ausführliche Diskussion kritischer Positionen zu Gedankenexperimenten in der Philosophie findet sich bei Cohnitz: Gedankenexperimente, S. 153-176. 22 Zu diesem ›modalen Rationalismus‹ vgl. wiederum ebd., S. 206ff. 23 Vgl. Peter F. Strawson: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959, S. 64-86.
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R ADIKALE E RSTÜBERSETZUNG Im Folgenden beabsichtige ich weder, eine modallogische Analyse von Quines Argument zu liefern, noch es in aller Ausführlichkeit zu referieren.24 Es lässt sich mühelos zeigen, dass Williamsons Analyse auch auf Quines Gedankenexperiment der radikalen Erstübersetzung zutrifft, mit dessen Hilfe er seine These von der Unbestimmtheit der Übersetzung begründen will. Diese These lautet: »Handbücher der Übersetzung von einer Sprache in die andere können auf voneinander verschiedene Weise eingerichtet sein, so daß sie alle mit der Gesamtheit der Rededispositionen in Einklang stehen und doch miteinander unverträglich sind.«25
Um das darin verborgene Gedankenexperiment deutlicher hervortreten zu lassen, kann man die These auch als kontrafaktischen Konditionalsatz formulieren: Wenn zwei Feldlinguisten unabhängig voneinander einzig und allein auf der Basis des beobachtbaren Sprachverhaltens von Sprechern einer völlig unbekannten Sprache Übersetzungshandbücher anfertigen würden, wäre es möglich, dass sie mit zwei miteinander unvereinbaren Übersetzungshandbüchern zurückkommen, ohne dass einer von ihnen mangelhaft gearbeitet hätte. Etwas schwieriger wird es, wenn man fragt, was eigentlich genau der Gegenstand von Quines These bzw. was die Target-These seines Gedankenexperiments ist. Die Antwort hat zwei Seiten: Zum einen betrifft Quines Unbestimmtheitsthese den Begriff der Bedeutung als theoretischen Begriff der philosophischen Semantik. Quines These läuft darauf hinaus, dass eine empirisch respektable reduktive Definition des Bedeutungsbegriffs unmöglich ist. Anders als Gettier mit seinen Beispielen zur Standarddefinition von Wissen, geht es Quine nicht um den Nachweis der Unzulänglichkeit einer bekannten und vielleicht allgemein akzeptierten Definition durch geschickt konstruierte Gegenbeispiele. Nach Quine ist es, was den Bedeutungsbegriff betrifft, auf rein empirischer Basis gar nicht möglich, zu einer solchen Definition zu kommen. Als zentraler theoretischer Begriff der philosophischen Semantik ist dieser Begriff daher unbrauchbar. Er hat in der Sprachphilosophie keine Verwendung, während er in vortheoretischen Zusammenhängen von einem unkritisch akzeptierten Mythos zehrt:
24 Eine ausführliche Gesamtdarstellung von Quines Philosophie bietet Peter Hylton: Quine, New York 2010. Als deutschsprachige Gesamtdarstellung empfiehlt sich Geert Keil: Quine zur Einführung, Hamburg 2002. Zur radikalen Übersetzung vgl. dort insbesondere S. 41-58. 25 Willard Van Orman Quine: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, S. 60.
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»Eine solche unkritische Semantik ist nichts anderes als der Mythos von einem Museum, in dem die Ausstellungsstücke Bedeutungen und die Schildchen daran Wörter sind; und nach diesem Mythos werden Sprachen dadurch geändert, daß man die Schildchen austauscht.«26
Quines Unbestimmtheitsthese betrifft aber nicht nur den vortheoretischen und den theoretischen Bedeutungsbegriff, sondern hat auch eine ontologische Dimension: ›Bedeutungen‹ als mentale Entitäten existieren nicht. Quines Kritik richtet sich dabei sowohl gegen das, was man seit Carnap als ›Intension‹ als auch gegen das, was man als ›Extension‹ eines Ausdrucks zu bezeichnen pflegt.27 Wenn Quine seine bedeutungsskeptischen Thesen mithilfe eines Gedankenexperiments entwickelt, dann widerspricht er auch nicht seiner anfangs zitierten Skepsis gegen den Gebrauch von Science-Fiction-Beispielen in der Philosophie. Um ein solches Beispiel handelt es sich bei der radikalen Erstübersetzung nämlich gar nicht. Quines Diskussion beansprucht vielmehr, zu zeigen, was ein konsequent empirisch verfahrender Feldlinguist über das Sprachverhalten eines Sprechers einer völlig unbekannten Sprache erfahren könnte und was daraus für ein Übersetzungshandbuch folgt, das es zu erstellen gilt. Sein Gedankenexperiment hat also eher explorativen Charakter. Darüber hinaus soll es freilich auch einen Beitrag zur Begründung der These von der Unbestimmtheit der Übersetzung leisten. Um den Vergleich zwischen Williamsons und Quines metaphilosophischen Annahmen weiter führen zu können, ist es erforderlich, ein wenig genauer auf das Gedankenexperiment der radikalen Erstübersetzung einzugehen. Darüber hinaus ist zu fragen, wie Quines These von der Unbestimmtheit der Übersetzung mit anderen Annahmen seines holistisch gewendeten Empirismus zusammenhängt und was sich daraus wiederum für das Verständnis der Unbestimmtheitsthese ergibt. Ich hatte bereits erwähnt, dass sich Quines Unbestimmtheitsthese gegen bestimmte Auffassungen des Bedeutungsbegriffs richtet. Diese Bedeutungsskepsis wird bei Quine allerdings erst richtig verständlich, wenn man sie in den Zusam-
26 Willard Van Orman Quine: »Ontologische Relativität«, in: ders.: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 41-96. 27 Vgl. hierzu: »Ich gebrauche ›Intension‹ als ein Fachausdruck für die Bedeutung eines Ausdrucks oder, spezifischer, für seine designative Bedeutungskomponente […]. Zum Beispiel ist im Deutschen die Intension von ›blau‹ die Eigenschaft, blau zu sein.« (Rudolf Carnap: Bedeutung und Notwendigkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik, Wien 1972, S. 292) Die Extension ist dagegen der Einzelgegenstand, auf den sich der Terminus bezieht.
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menhang der Frage stellt, welche semantischen Grundbegriffe einer wissenschaftlichen Explikation fähig sind und selbst eine explanatorische Funktion erfüllen können. Semantische Begriffe wie ›Intension‹ und ›Extension‹ müssen einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich sein. Das ist nach Quine deshalb erforderlich, weil eine philosophische Semantik u. a. eine Erklärung für die Fähigkeit von Sprechern liefern muss, eine Sprache zu verstehen. Es zeigt sich allerdings, dass der Bedeutungsbegriff nur scheinbar für diese Zwecke geeignet ist: »People persist […] in talking of knowing the meaning and of the sameness of meaning […]. They do so because the notion of meaning is felt somhow to explain the understanding and equivalence of expressions. We understand expressions by knowing or grasping their meanings; and one expression serves as translation or paraphrase of another because they mean the same. It is of course spurious explanation, mentalistic explanation at its worst […]. [W]here the real threat lies, in talking of meaning, is in the illusion of explanation.«28
Quine geht es also nicht darum, infrage zu stellen, ob Sprecher, mit dem, was sie sagen, etwas meinen. Dies zu bestreiten, wäre nicht nur deskriptiv falsch, sondern auch eine wohl kaum plausible revisionäre These. Sein Punkt ist vielmehr, dass der Begriff explanatorisch wertlos ist. Indem der Bedeutungsbegriff die Illusion einer Erklärung suggeriert, verstellt er den Weg zu wissenschaftlich aussagekräftigeren Einsichten in das Funktionieren von Sprache. Der Begriff sollte also nicht schon am Anfang semantischer Untersuchungen als unproblematisch vorausgesetzt werden. Die Tatsache, dass wir uns mit Sprachen mehr oder weniger erfolgreich verständigen können, sollte nicht mithilfe eines unanalysierten, unkritischen Bedeutungsbegriffs erklärt werden. Außerdem sind der Bedeutungsbegriff und damit verbundene semantische Kategorien wie z. B. die der Proposition auch noch in anderen philosophischen Zusammenhängen mit erheblichen Erklärungslasten befrachtet: Man denke nur an die zentrale Bedeutung der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen in der neuzeitlichen Philosophie, die den Bedeutungsbegriff voraussetzt, oder an den theoretischen Stellenwert von Propositionen allein bei Frege und Russell. Quine schließt sich der behavioristischen Methode an, die bereits Carnap benutzt hat, um zu einer empiristischen Erklärung der Intensionsbegriffe zu gelangen.29 Eine wissenschaftlich respektable Erklärung für sprachliche Bedeutung wird
28 Willard Van Orman Quine: »Mind and Verbal Dispositions«, in: Samuel Guttenplan (Hg.): Mind and Language, Oxford 1975, S. 83-95, hier S. 86f. 29 Carnap nennt das »ein behavioristisches, operationales Verfahren« (Carnap: Bedeutung und Notwendigkeit, S. 294) für den Begriff der Intension, das er in Form eines
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sich lediglich auf die Disposition von Sprechern stützen können, unter bestimmten Umständen ein bestimmtes Sprachverhalten an den Tag zu legen: »Wir beschäftigen uns hier mit der Sprache als einem Komplex gegenwärtiger Dispositionen zu verbalem Verhalten, in dem sich Sprecher derselben Sprache wohl oder übel aneinander angeglichen haben.«30 Maßgeblich dafür sind neben dem Sprachverhalten der Sprecher auch die Reizungen, denen ihre Sinnesorgane beim Sprechen ausgesetzt sind: »Die einzigen objektiven Daten, nach denen er sich richten kann, sind die Kräfte, die er auf die Außenfläche des Eingeborenen einwirken sieht, sowie das beobachtbare, stimmliche und sonstige Verhalten des Eingeborenen. Solche Daten bekunden nur Eingeborenen-
›Bedeutungen‹ der objektiven empirischen bzw. reizgebundenen Spielart.«31 Anders als Kritiker Quines behaupten, ist dieses Verfahren nicht reduktionistisch. Mentale Zustände, wie das Erfassen einer Bedeutung, werden nicht durch den Rekurs auf Verhalten erklärt, also darauf reduziert; das Sprachverhalten dient vielmehr dazu, solche Zustände objektiv zu spezifizieren.32 Die physiologische Ebene – Zustände des Gehirns – ist nach Quine dabei jedoch nicht zugänglich. Unser Wissen über das Gehirn ist nach wie vor begrenzt, und es ist nicht absehbar, ob eine rein physiologische Erklärung der fraglichen Phänomene überhaupt gelingen kann. Es gibt aber noch einen wichtigeren Grund, warum Quine vom öffentlich beobachtbaren Sprachverhalten ausgeht. Sprache ist ein genuin soziales Phänomen. Sie wird von den Sprechern einer Sprachgemeinschaft geteilt und wird im Austausch mit anderen Sprechern auf der Grundlage von öffentlich beobachtbarem Verhalten erworben. Was dabei möglicherweise im Gehirn vorgeht, ist nur insofern relevant, als es öffentlich zugänglich ist:
Gedankenexperiments ausgestaltet, bei dem ein Linguist eine ihm fremde Sprache übersetzen muss. 30 Quine: Wort und Gegenstand, S. 61. 31 Ebd., S. 62. 32 Vgl. Willard Van Orman Quine: »Facts of the Matter«, in: Robert W. Shahan, Chris Swoyer (Hg.): Essays on the Philosophy of W. V. O. Quine, Norman/Okl. 1979, S. 155-169: »Mental states do not reduce to behavior, nor are they explained by behavior. They are explained by neurology, when they are explained. But their behavioral adjuncts serve to specify them objectively. When we talk of mental states or events subject to behavioral criteria, we can rest assured that we are not just bandying words; there is a physical fact of the matter, a fact ultimately of elementary physical states.« (Ebd., S. 167)
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»In der Psychologie hat man im jeweiligen Fall noch die Wahl, ob man Behaviorist sein will oder nicht; doch in der Sprachwissenschaft ist man dazu gezwungen. Seine Sprache erwirbt ein jeder von uns zwangsläufig teils durch Beobachtung des sprachlichen Verhaltens anderer, teils auf dem Wege der Beobachtung plus Verstärkung (oder aber Korrektur) seines eigenen sprachlichen Verhaltens durch andere […]. In die semantische Bedeutung von etwas Sprachlichem wird mithin nicht mehr eingehen können als das, was wahrnehmbarem Verhalten in beobachtbaren Situationen auch zu entnehmen ist.«33
Der Behaviorismus wird heute als veraltet betrachtet. Quines Ansatz hängt aber nicht davon ab. Es ist angemessener, seine behavioristische Strategie als Konsequenz seines holistischen Empirismus zu begreifen. Für diese Interpretation gibt es bei Quine selbst Anhaltspunkte: »Die Art von Bedeutung, die für Übersetzungen und für die Erlernung der eigenen Sprache grundlegend ist, ist notwendigerweise empirische Bedeutung und nichts weiter. Ein Kind lernt seine ersten Wörter und Sätze dadurch, daß es sie in der Gegenwart geeigneter Reize hört und gebraucht. Diese Reize müssen von außen kommen, denn sie müssen sowohl auf das Kind wie auf den Sprecher einwirken, der sein Lehrer ist. Sprache ist sozial antrainiert und kontrolliert; das Training und die Kontrolle beziehen sich ausschließlich auf die Abstimmung von Sätzen auf gemeinsame Reize […]. Was die Theorie der sprachlichen Bedeutung angeht, so hat man sicher keine andere Wahl als die, ein Empirist zu sein.«34
Obwohl Quine also von Behaviorismus spricht, kann man seinen sprachphilosophischen Ansatz als Anwendung seiner empiristischen Erkenntnistheorie begreifen, der zufolge »Informationen über die Welt nur durch kausale Einwirkung auf unsere Sinnesrezeptoren in uns hineingelangen.«35 Wir können uns nun noch einmal dem Feldlinguisten zuwenden. Angesichts seiner völligen Unkenntnis der fremden Sprache muss er annehmen, dass es zwischen den Äußerungen eines Sprechers und außersprachlichen Reizen gewisse Korrelationen gibt. Quines Gedankenexperiment beschreibt nun minutiös, wie der Linguist ausgehend von Einwortsätzen – beispielsweise ›gavagai‹ – zunächst deren Reizbedeutung ermittelt, in diesem Fall: ›Sieh da, ein Kaninchen!‹36 Ein Unbe-
33 Willard Van Orman Quine: Unterwegs zur Wahrheit. Konzise Einleitung in die theoretische Philosophie, Paderborn 1995, S. 52. 34 Willard Van Orman Quine: »Naturalisierte Erkenntnistheorie«, in: ders.: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 97-126, hier S. 112f. 35 Vgl. Quine: Unterwegs zur Wahrheit, S. 27. 36 Der locus classicus ist das 2. Kapitel von Quine: Wort und Gegenstand.
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stimmtheitsproblem stellt sich hier noch nicht. Das ändert sich, sobald der Linguist beachtet, dass eine Sprache nicht nur aus einer Sammlung von Gelegenheits- und Beobachtungssätzen besteht. Wie soll er mit abstrakten theoretischen Aussagen, mit den vielen komplexen Redesegmenten, bei denen keine Beobachtungsnähe rekonstruiert werden kann, umgehen? Er wird so genannte analytische Hypothesen aufstellen, mit denen Korrelationen zwischen Satzteilen (z. B. Pronomen oder Pluralbildungen) der Ausgangs- und der Zielsprache hergestellt werden.37 Der größte Teil des Übersetzungshandbuchs wird durch analytische Hypothesen gewonnen. Bei ihrer Prüfung stößt der Linguist nun auf ein grundsätzliches Problem. Denn hier gibt es keine unabhängigen empirischen Belege mehr; es gibt keine direkten Korrelationen zwischen den jeweiligen Konstruktionen und außersprachlichen Reizen. Der Linguist muss die analytischen Hypothesen den bereits übersetzten Sätzen anpassen. Dafür muss er Entscheidungen treffen, die nicht empirisch durch Berufung auf Reize und beobachtbares Verhalten abgesichert sind. Anders formuliert: Verschiedene Übersetzer könnten verschiedene analytische Hypothesen für richtig, d. h. durch die jeweilige Reizsituation bestätigt sehen. Wie auch immer sich der Linguist hier entscheidet: Es handelt sich um keine Tatsachenfrage. Andere Überlegungen, z. B. die Beachtung von Prinzipien der wohlwollenden Interpretation angesichts sich einstellender Widersprüche, können eine Übersetzungsentscheidung rechtfertigen. Man kann das Problem noch allgemeiner fassen. Jede Übersetzung eines Ausdrucks einer fremden Sprache steht vor einem Hintergrund anderer Ausdrücke derselben Sprache, die bereits als richtig angenommen wurden. Gelangt der Linguist bei der Übersetzung eines bestimmten Ausdrucks zu voneinander abweichenden Übersetzungshypothesen, so kann er diese Diskrepanz dadurch ausgleichen, dass er Korrekturen bei der Übersetzung anderer Ausdrücke vornimmt. Grundsätzlich gilt dann, dass jede analytische Hypothese, die der Reizsynonymie der Gelegenheitssätze Rechnung trägt, mit gleichem Recht als richtige Übersetzung angesehen werden kann. Übersetzen ist nach Quine ein holistischer Prozess. Übersetzer gehen nicht Wort für Wort vor, sondern berücksichtigen immer einen größeren Zusammenhang, vor dessen Hintergrund sich erst entscheiden lässt, welche Übersetzung sinnvoll ist bzw. sich in das bisher Übersetzte einfügt. Weil das so ist, kann Quine behaupten, dass die Wahl eines Systems analytischer Hypothesen und ein Übersetzungshandbuch, das dabei herauskommt, durch die sprachlichen Belege und die Sprecherdispositionen unterbestimmt sind. Diese These ist nicht epistemologisch, sondern ontologisch gemeint.38 Sie betrifft nicht die Frage, ob es möglich ist, he-
37 Vgl. Quine: »Ontologische Relativität«, S. 49f. 38 Vgl. Hylton: Quine, S. 201ff.
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rauszufinden, was die richtige Übersetzung wäre. Quine bestreitet vielmehr, dass die Entscheidung zwischen zwei behavioral äquivalenten Übersetzungen eine Tatsachenfrage ist: »Was die Unbestimmtheitsthese auf dem Wege einer Dramatisierung mit Händen greifbar machen soll, ist die Tatsache, daß ein radikaler Übersetzer gezwungenermaßen immer so viel in die Fakten hineinlegt, wie er ihnen entnimmt.«39 Die entstehenden Übersetzungshandbücher könnten also dergestalt unvereinbar sein, dass aus einem Ursprungstext, dessen Sätze man abwechselnd mithilfe eines der beiden Handbücher übersetzt, kein kohärenter Text in der Zielsprache entsteht.40 Es könnten also nicht beide Systeme analytischer Hypothesen nebeneinander benutzt werden. Quines Unbestimmtheitsthese hat zwei Aspekte. Sie betrifft zunächst die Bedeutung ganzer Sätze. Quine hat in späteren Darstellungen von einer ›holophrastischen These‹ gesprochen.41 Sie besteht darin, dass »divergierende Interpretationen möglich sind, die sogar auf der Ebene ganzer Sätze unausgeräumt bleiben und einzig und allein auf dem Weg divergierender Übersetzungen anderer ganzer Sätze zu kompensieren sind.«42 Gerade weil Übersetzung ein holistischer Prozess ist, nimmt diese »uneingeschränkte oder holophrastische Unbestimmtheit der Übersetzung in viel zu globaler Weise stets eine ganze Sprache in Anspruch, als daß sie noch ohne weiteres an empirischen Beispielen illustrierbar sein könnte.«43 Das ist bei der zweiten Form von Unbestimmtheit – der Unbestimmtheit der Referenz – anders. Hier geht es um die Übersetzung einzelner Termini, z. B. dem Wort ›Gavagai‹. Dass die Beobachtungssätze ›gavagai‹ und ›sieh da ein Kaninchen‹ auf dieselbe Reizbedeutung zurückzuführen sind, bedeutet noch nicht, dass die beiden Termini ›Gavagai‹ und ›Kaninchen‹ koextensiv sind. Quine zeigt, dass es einen Spielraum hinsichtlich des Bezugsgegenstands des Ausdrucks ›Gavagai‹ gibt.44 Verbunden mit der These von der Unbestimmt-
39 Quine: Unterwegs zur Wahrheit, S. 69. 40 Vgl. ebd., S. 67f. 41 Ebd., S. 71. 42 Ebd., S. 72. 43 Ebd. 44 Die These von der Unbestimmtheit der Übersetzung wird oft mit der These von der Unerforschlichkeit der Referenz identifiziert. Quines spektakuläres Beispiel mag dazu beigetragen haben. Mit Bezug auf das Wort ›Gavagai‹ behauptet Quine nämlich, dass es durchaus mit Kaninchen übersetzt werden kann. Gemeint sein könnten aber auch kurze Zeitsegmente von Kaninchen. In diesem Fall würde sich die Übersetzung »zeitliches Kaninchenstadium« anbieten; oder »unabgetrennte Kaninchenteile«, oder der abstrakte Gegenstand »Kaninchenheit«. Das Beispiel wirkt absurd. Quine macht aber zu Recht da-
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heit der Übersetzung sind die Thesen von der Unerforschlichkeit der Referenz sowie der ontologischen Relativität. Beide Thesen sind kaum voneinander zu trennen. In späteren Darstellungen hat Quine die allgemeinere, radikalere holophrastische Unbestimmtheit von der Unbestimmtheit des Bezugs deutlicher unterschieden als in Word and Object.45 Bezogen auf die Auseinandersetzung mit der traditionellen philosophischen Semantik heißt das wiederum, dass der Begriff der Bedeutung weder im Sinne von Intension noch im Sinne von Extension rein empirisch gerechtfertigt werden kann. Übersetzungsbeziehungen beruhen nicht auf Synonymie. Es gibt somit auch für diesen Begriff keine empirische Erklärung: »Betrachtet man Sprache naturalistisch, so ist der Begriff der Bedeutungsgleichheit einfach unsinnig.«46 Doch wie dramatisch ist dieses Ergebnis eigentlich und vor allem: Wie zentral ist es für Quines Philosophie? Die Hauptfrage Quines in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Semantik, insbesondere mit den Vorschlägen Carnaps war, ob es möglich ist, intensionale Begriffe wie Bedeutung oder Proposition sowie den epistemischen Zugang von Sprechern zu diesen Entitäten ohne empirische Rechtfertigung zu konzipieren. Nach Quine ist eine solche Annahme nicht statthaft. Seine Unbestimmtheitsthesen gehen schon davon aus, dass eine akzeptable Rechtfertigung intensionaler Begriffe empirisch verfahren muss. Das ist Quines wichtigste und wohl auch zentralste sprachphilosophische Annahme.47 Deshalb hatte ich schon zu Beginn dieser Darstellung darauf hingewiesen, dass Quines sprachphilosophische Methode eine Anwendung seines empiristischen Ansatzes auf Fragen der Semantik ist. Die Unbestimmtheitsthesen dienen daher auch nicht dazu, diese Annahme zu begründen, sondern erweisen sich als Konsequenzen dieses stringent verfolgten empiristischen Zugangs zur Sprache. Das Gedankenexperiment der radikalen Erstübersetzung ist ein prominenter argumentativer Baustein in diesem Projekt. Dabei zeigt sich, dass der Rekurs auf empirisch nicht gerechtfertigte intensionale Begriffe für eine fruchtbare Diskus-
rauf aufmerksam, dass eine eindeutige Entscheidung voraussetzen würde, dass der Übersetzer die Individuationsprinzipien der anderen Sprache bereits beherrscht: »Das ist das Vertrackte an gavagai: Wo hört ein gavagai auf und wo beginnt ein anderer?« (Quine: »Ontologische Relativität«, S. 48). 45 Vgl. Quine: Unterwegs zur Wahrheit, S. 73. Für eine differenzierte Diskussion dieser Unterscheidung vgl. Hylton: Quine, S. 205ff. Ontologische Relativität heißt in diesem Zusammenhang, dass es sinnlos ist, nach dem Bezugsgegenstand eines Ausdrucks unabhängig von einer Rahmensprache zu fragen. 46 Quine: »Ontologische Relativität«, S. 45. 47 Vgl. Hylton: Quine, S. 227f.
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sion und Klärung zentraler sprachphilosophischer Fragestellungen überflüssig ist. Viele Sprachphilosophen vor Quine waren der Auffassung, dass der Rekurs auf Propositionen, Intensionen oder auch Frege’sche Gedanken unentbehrlich ist, um das Verstehen bzw. den Gebrauch einer natürlichen Sprache angemessen verständlich zu machen. Quine hält dem entgegen, dass das auch dann nicht hilfreich sei, wenn es möglich wäre, intensionale Begriffe empirisch zu rechtfertigen. Erst recht gilt das für den Rückgriff auf empirisch unbegründete intensionale Begriffe in der Sprachphilosophie. Das Gedankenexperiment der radikalen Erstübersetzung läuft nicht zuletzt darauf hinaus, zu zeigen, dass der Vorgang des Übersetzens verständlich gemacht werden kann, ohne an der objektivistischen Fiktion semantischer Äquivalente festzuhalten. Wie immer man also als Sprachphilosoph den Bedeutungsbegriff verwenden will: Die Annahme, es handle sich dabei um eine objektive Entität, etwas, das unabhängig von konkreten Situationen des Sprachgebrauchs existiert und von Sprechern lediglich aktualisiert werden muss, ist sprachphilosophisch von zweifelhaftem Wert. Nach dieser pragmatischen Interpretation von Quines Unbestimmtheitsthesen verlieren sie viel von der Dramatik, die man mit bedeutungsskeptischen Thesen zu verbinden geneigt ist. Allerdings wird dadurch die theoretische Herausforderung für jede Sprachphilosophie, die auf empirische Rechtfertigungen ihrer semantischen Grundkategorien glaubt verzichten zu können, umso deutlicher.48
M ETAPHILOSOPHISCHE V ORAUSSETZUNGEN Ich habe vorgeschlagen, wie man die Konsequenzen von Quines Gedankenexperiment zur radikalen Erstübersetzung verstehen kann und wie sie mit seinem holistischen Empirismus zusammenhängen. Diese Überlegungen habe ich in eine Diskussion von Timothy Williamsons Thesen zur Methode der Philosophie, insbesondere zur Epistemologie von Gedankenexperimenten, eingebettet. Darauf will ich nun abschließend zurückkommen. Dabei bietet es sich an, noch einmal die beiden Fragen nach der Verallgemeinerungsfähigkeit von Williamsons Analyse des Gedankenexperiments als philosophische Methode sowie nach ihrer Verträglichkeit mit konkurrierenden metaphilosophischen Positionen aufzunehmen. Beides ist auch im Hinblick auf Quine interessant.
48 Quines Schüler Donald Davidson hat die Konsequenzen aus dieser Herausforderung erfasst, indem er eine Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen entworfen hat, die die von Quine abgesteckten empirischen Einschränkungen akzeptiert und daher ohne Rekurs auf Bedeutungen auskommt.
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Der Reiz des Williamson’schen Vorschlags besteht nicht zuletzt darin, dass er mit einer Vielzahl von philosophischen Methoden und Ansätzen verträglich ist. Die Kehrseite dieser Offenheit ist allerdings, dass sein Verständnis des Gedankenexperiments einigermaßen unspezifisch bleibt. In anderer Hinsicht ist es wiederum zu eng. Das hat die Diskussion einiger Voraussetzungen von Williamsons Interpretation der Gettier-Beispiele deutlich gemacht. Mit Bezug auf Quine wird die begrenzte Reichweite von Williamsons Vorschlag noch deutlicher: Einerseits lässt sich das Experiment der radikalen Erstübersetzung mühelos im Sinne einer kontrafaktischen Annahme interpretieren. Andererseits habe ich aber darauf hingewiesen, dass Quine mit diesem Gedankenexperiment keine philosophische Theorie in dem Sinne widerlegt, wie die Gettier-Beispiele tatsächlich eine unter vielen Erkenntnistheoretikern akzeptierte philosophische Konzeption des Wissens widerlegen. Die Analogie hat also Grenzen. Zur Verteidigung Williamsons muss jedoch betont werden, dass er nicht behaupten will, jedes Gedankenexperiment sei erschöpfend analysiert und verstanden worden, sobald es auf die Form eines kontrafaktischen Konditionalsatzes gebracht worden ist. Seine Behauptung ist vielmehr, dass Gedankenexperimente eine Methode unter vielen anderen Lehnstuhl-Methoden in der Philosophie sind. An den Gettier-Beispielen lässt sich zeigen, wie man in der Philosophie einen Theorievorschlag widerlegt, ohne dafür besondere Erkenntnisquellen in Anspruch nehmen zu müssen. Interessanter ist dagegen sicherlich die Frage nach der Verträglichkeit dieser metaphilosophischen Annahmen mit konkurrierenden Positionen. Wie bereits erläutert, wendet sich Williamson sowohl gegen rationalistische bzw. rein begriffsanalytische Auffassungen von Philosophie als auch gegen strikt empiristische, wonach man sich in der philosophischen Theoriebildung nur auf empirisch gerechtfertigte Überzeugungen berufen darf. Das Gedankenexperiment steht bei ihm gleichermaßen für den Balanceakt zwischen solchen Extremen und für die Kontinuität zwischen philosophischem Argumentieren und Beweisführungen in den Einzelwissenschaften. Der Graben zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften ist demnach weder methodisch noch inhaltlich so groß, wie es Positionen suggerieren, die von einer Ausnahmestellung der Philosophie ausgehen.49 Der Ablehnung einer Sonderrolle der Philosophie im Konzert der Wissenschaften sowie der damit verbundenen Kontinuitätsthese würde auch Quine
49 Nach Williamson handelt es sich hierbei eher um eine institutionelle als um eine sachlich begründete Differenz: »The distinction between the Department of Philosophy and the Department of Linguistics or the Department of Biology is clearer than the disticntion between philosophy and linguistics and biology.« (Williamson: The Philosophy of Philosophy, S. 4).
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zustimmen. Beides gehört zu den Grundpfeilern seines Naturalismus.50 Allerdings ist er auch konkreter als Williamson, der nicht naturalistisch argumentiert. Nach Quine sind die Wissenschaften ein Maßstab, ein Maßstab, der für seine Position sogar noch wichtiger ist als bestimmte empiristische Annahmen zur Genese von Erkenntnis oder zum Sprachverhalten. Auch dann, wenn man Quine ein möglichst liberales Wissenschaftsverständnis zuzuschreiben bereit ist, man also seine Einschränkung auf die Physik ablehnt, so bleibt es doch bei der grundsätzlichen Privilegierung wissenschaftlicher Erkenntnispraxis: »Mein Naturalismus hat sich nun offensichtlich auf die Behauptung reduziert, daß wir für unser Streben nach Wahrheiten über die Welt nichts Besseres haben als unser herkömmliches wissenschaftliches Vorgehen, die hypothetisch-deduktive Methode.«51 Formale Wissenschaften wie die Mathematik und die Logik, aber auch die Philosophie sind nach Quines Version des Naturalismus legitime Bestandteile »unserer Gesamttheorie der Welt«.52 Während Williamson recht allgemein von einer Vielzahl von Methoden spricht, verpflichtet sich Quine auf die hypothetisch-deduktive Methode. In diesem Punkt ist Williamsons Position zweifellos flexibler. Er spricht lediglich davon, dass die Philosophie gut daran tue, einzelwissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Wer würde dem schon ernsthaft widersprechen? Außerdem ist die Art, wie er die Philosophie den formalen Wissenschaften zuordnet53, schon deshalb sinnvoll, weil sie genuin philosophische Theoriebildungen und Problemklärungen zulassen kann, ohne einerseits in den von Quine zu Recht kritisierten Anspruch einer fundierenden Funktion der Philosophie gegenüber den anderen Wissenschaften zu verfallen, und ohne andererseits wissenschaftliches Denken auf ein bestimmtes Methodenverständnis einzuengen.54 Folgt man Williamsons metaphilosophischem Ansatz, wird jedenfalls leichter verständlich, warum Quines Ausführungen zur Ontologie und zur
50 Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen in Hylton: Quine, S. 6-32. Zur deutschsprachigen Diskussion vgl. die Ausführungen von Geert Keil und Herbert Schnädelbach: »Naturalismus«, in: dies. (Hg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 2000, S. 7-45. 51 Willard Van Orman Quine: »Naturalismus – oder: Nicht über seine Verhältnisse leben«, in: Keil, Schnädelbach (Hg.): Naturalismus, S. 113-128, hier: S. 121. 52 Ebd., S. 122. 53 Am ehesten, so Williamson, kann man die Philosophie an die Seite der Mathematik stellen, vgl. Williamson: The Philosophy of Philosophy, S. 4f. 54 Vgl.: »The unexceptional nature of philosophy is easier to discern if we avoid the philistine emphasis on a few natural sciences, often imagined in crudely stereotyped ways that marginalize the role of armchair methods in those sciences.« (Ebd., S. 4)
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Semantik genuin philosophische Theoriebildungen sind, auch wenn sie darüber hinaus noch für Physiker oder Linguisten interessant sein dürften.55 Metaphilosophische Erwägungen, zu denen auch Fragen nach der Funktion und Legitimität von Gedankenexperimenten in der Philosophie gehören, besitzen eine eigentümliche Brisanz. Der Naturalismus Quines ist eine ebenso pointierte wie umstrittene metaphilosophische Position. Die vorangehenden Überlegungen zu Gedankenexperimenten in der Philosophie sollten die innerphilosophische Brisanz solcher metaphilosophischen Positionen deutlicher hervortreten lassen. Manchmal sind sie folgenreicher als einzelne philosophische Thesen wie die Unbestimmtheit der Übersetzung.
55 Dass Quine den Status seiner eigenen Theoriebildungen im Rahmen seines Naturalismus nur unzureichend erfassen kann, betonen Keil, Schnädelbach: »Naturalismus«, S. 41.
Versuche und Explorationen – Natur, Wissenschaft
Subatomare Teilchen: Hergestellt oder entdeckt? Die experimentelle Methode und ihre Erfolge in der Physik B RIGITTE F ALKENBURG
Mein Beitrag geht auf das Experiment aus den Naturwissenschaften ein, am Fall der Physik. Zunächst erkläre ich, was die experimentelle Methode ist und wie sie dazu beiträgt, dass die Mathematik auf die Natur anwendbar ist. Der zweite Teil diskutiert, wie sich die Ergebnisse der experimentellen Methode zur Wirklichkeit verhalten; in der philosophischen Debatte um den wissenschaftlichen Realismus ist dies bis heute umstritten. Der dritte Teil konzentriert sich auf die subatomaren Teilchen der Physik, nach denen man in Experimenten mit immer höherer Energie sucht. Der vierte Teil geht auf die enttäuschte Erwartung ein, die Natur möge sich im Kleinen so verhalten wie im Großen – also die Atome und ihre Bestandteile, die man ab Ende des 19. Jahrhunderts fand, wie Planeten oder Billardkugeln im Kleinen. Die Erwartung wurde böse enttäuscht, und die Quantentheorie musste entwickelt werden. Zuletzt komme ich auf die Titelfrage zu sprechen: Sind diese Teilchen denn nun hergestellt oder entdeckt?
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EXPERIMENTELLE
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Die experimentelle Methode zielt auf die Mathematisierung der Naturerscheinungen. Galilei schrieb 16231, das Buch der Natur sei in mathematischen Lettern
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Galileo Galilei: Schriften, Briefe, Dokumente, hg. von Anna Mudry, Berlin 1987, Band 2, S. 275.
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geschrieben. Dieser programmatische Satz fordert, die mathematischen Naturgesetze auf der Grundlage von Beobachtungen und Experimenten zu entziffern – und so ein neues Buch zu schreiben, das Auskunft über die Schöpfung gibt. Dieses Buch der Natur war ein Konkurrenzunternehmen zur biblischen Offenbarung. Im berühmten Brief an die Großherzogin der Toskana von 1615 hebt Galilei hervor, im Zweifelsfall sei eher der Naturbeobachtung zu glauben, da sie die Offenbarung erster Hand sei.2 Beobachtungsinstrumente wie das Fernrohr erlaubten ihm, neue Seiten im Buch der Natur aufzuschlagen. Als er empirische Beweise für das heliozentrische Weltsystem fand – die Venusphasen und die Jupitermonde – geriet er in Konflikt mit der Kirche. Sein ›Dialog‹ von 1632 verteidigte das Kopernikanische System3, und Galilei wurde bekanntlich trotz Druckerlaubnis vor die Inquisition zitiert. Die Wahrheit des Kopernikanischen Weltsystems lag nicht auf der Hand. Es entsprach nicht dem Augenschein, und es beschrieb die Planetenbewegungen schlechter als das ptolemäische System, das dem geozentrischen Weltbild des Aristoteles entsprach. Ptolemäus’ System von Zyklen, Epizyklen und deren Dezentrierung war ein sehr flexibles Näherungsverfahren; es konnte die scheinbaren Planetenbahnen genau beschreiben – vor allem die komplizierte Schleifenbewegung des Mars. Kopernikus vereinfachte die Weltbeschreibung, doch erst Keplers Gesetze, nach denen die Planeten keine Kreisbahnen haben, sondern sich auf Ellipsen bewegen, brachte der Astronomie den entscheidenden mathematischen und empirischen Fortschritt. Die Anwendung der Mathematik in der Astronomie, die seit der antiken Astronomie bekannt war und zur Kopernikanischen Revolution führte, war der eine Teil der Mathematisierung der Natur. Der andere Teil war, die Mathematik auf Probleme der Mechanik anzuwenden, etwa auf die Bahn von Kanonenkugeln – also auf Probleme, die nach dem aristotelischen Weltbild der Technik zugerechnet wurden, nicht der Naturwissenschaft oder Physik. Hierfür hat Galilei die experimentelle Methode weiterentwickelt. Er hatte Vorläufer; aber er hat sich als erster systematisch darüber Gedanken gemacht, wie Bewegun-
2
Galileo Galilei: Lettera a madama Cristina di Lorena, Granduchessa di Toscana, in: Le opere di Galileo Galilei, Vol. V, Florenz 1895, S. 316f. Übersetzt von M. Müller. Textauszug in: Shmuel Sambursky (Hg.): Der Weg der Physik. Zürich und München 1975, S. 284.
3
Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme [1891]. Nachdruck der Übersetzung von Emil Strauß, Stuttgart 1982.
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gen experimentell in Komponenten zerlegt werden können; so fand er das Fallgesetz.4 Warum ist die Mathematik eigentlich auf die Natur anwendbar? Die Astronomie des Ptolemäus lehrt, dass mathematische Näherungsverfahren die Gestalt der Phänomene mit beliebiger Genauigkeit erfassen können. Hinzu kommt die experimentelle Methode. Sie dient dazu, Naturerscheinungen zu analysieren und zu untersuchen, wie sich die Phänomene aus den Produkten dieser Analyse zusammensetzen. Dabei geht sie teils analytisch, teils synthetisch vor und heißt deshalb analytisch-synthetische Methode. (Die Begriffe der Analyse und Synthese sind in diesem Sinn bis heute in der Chemie in Gebrauch.) Wissenschaftshistorisch geht das Verfahren der Analysis und Synthesis auf die antike Geometrie zurück.5 Galilei und andere übertrugen es auf die Physik; sie begannen, Naturerscheinungen wie den freien Fall durch trickreiche Experimente in Komponenten zu zerlegen, um zu erforschen, wie sich diese unter unterschiedlichen Versuchsbedingungen verhalten und wie sich das untersuchte Phänomen daraus zusammensetzt. Die analytisch-synthetische Methode war auch den Philosophen der Neuzeit geläufig; Descartes formulierte sie in der zweiten und dritten Regel des ›Discours de la méthode‹. Bei Experimenten besteht die Analyse in der Zergliederung in Komponenten und in der Suche nach kausal relevanten Faktoren. Sie hat also zwei Aspekte, die Zerlegung eines Ganzen in Teile und den Rückgang von Wirkungen auf Ursachen. Die Synthese besteht umgekehrt in der Zusammensetzung eines Phänomens aus Komponenten und seiner Erklärung durch das Zusammenspiel der Einzel-Ursachen. Nach Galilei hieß dies die resolutivkompositive Methode (in lateinischen Begriffen anstelle der griechischen).6 Auch mathematische Näherungsverfahren beruhen auf der analytischsynthetischen Methode. Sie zerlegen empirische Strukturen nach einem System von mathematischen Funktionen und setzen geeignete mathematische Komponenten so zusammen, dass diese die Gestalt der Ausgangsphänomene, etwa die Planetenbewegungen, schrittweise approximieren. So ging schon Ptolemäus in der antiken Astronomie vor. Seine ›nullte‹ Näherung waren die Kreisbahnen des Monds, der Sonne und der Planeten um die Erde nach dem aristotelischen Welt-
4
Galileo Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenschaftszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend [1890]. Nachdruck der Übersetzung von Arthur von Oettingen, Darmstadt 1964.
5 6
Vgl. Hans-Jürgen Engfer: Philosophie als Analysis, Stuttgart/Bad Cannstatt 1982. Vgl. Joseph Losee: A Historical Introduction into the Philosophy of Science, Oxford 1993, S. 55–63.
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bild; die erste Näherung waren die Epizyklen; die zweite Näherung bestand darin, die Zentren dieser kleinen Kreise aus den großen Kreisen zu rücken, usw. Dieses Approximationsverfahren erlaubte, ad hoc immer neue Korrekturen vorzunehmen, wenn neue Beobachtungen dies erforderten. Natürlich lassen sich auch die Kopernikanischen Kreisbahnen der Planeten um die Sonne als ›nullte‹ Näherung betrachten. Diese war sogar in einer Hinsicht besser als die des Ptolemäus: Sie erklärte die scheinbar rückläufigen Planetenbewegungen ohne jede Korrektur – wenn auch nicht sehr genau. Keplers ellipsenförmige Planetenbahnen waren eine verbesserte ›nullte‹ Näherung für das Kopernikanische System. Newtons Theorie der Gravitation ermöglichte es später, darüber hinaus auch zu berücksichtigen, wie sich die Planeten in ihren Bewegungen gegenseitig stören. Die Astronomie benutzt also schon lange Näherungsverfahren, die erlauben, die Bewegungen der Himmelskörper sehr präzise zu beschreiben. Die Näherungsverfahren erklären ein Stück weit, warum die Mathematik so gut auf die Natur anwendbar ist, oder: was es heißen kann, dass das Buch der Natur in mathematischen Lettern neu geschrieben wird. Auch die experimentelle Methode dient der Anwendung der Mathematik auf die Natur, doch ihre analytisch-synthetischen Mittel schreiben das Buch der Natur drastischer neu. Experimente dienen dazu, Naturerscheinungen in Komponenten zu zerlegen und diese kausal zu analysieren, indem die Versuchsbedingungen systematisch variiert werden. Galilei führte Versuche mit der schiefen Ebene durch und variierte den Neigungswinkel der schiefen Ebene; er wollte sehen, wie sich dies auf den Fallprozess auswirkt, und beobachten, ob schwere Kugeln schneller herunter rollen als leichte Kugeln. Experimente zielen darauf, die Naturerscheinungen komponentenweise zu untersuchen – im Versuchslabor, d. h. unter technischen Bedingungen, die der Experimentator kontrolliert und gezielt ändert. Newton entwickelte Galileis Physik und die analytisch-synthetische Methode weiter. Seine Mechanik zeigt, wie die Bewegung bei einem Steinwurf in die Wurf- und in die Fallkomponente zerlegt wird. Resultat ist letztlich das berühmte Kräfteparallelogramm. Ein anderes schönes Beispiel für die Analyse und die Synthese der Phänomene ist die Spektralzerlegung des Lichts: Beim Blick durch ein Prisma sieht man die Regenbogenfarben. Newton sandte in seinen optischen Experimenten Sonnenstrahlen, die durch ein Loch im Fensterladen fielen, durch ein Prisma und beobachtete das Farbspektrum an der Wand. In einem weiteren Experiment stellte er ein zweites Prisma parallel daneben, so dass sich die beiden Spektren überlagerten; dadurch bekam er in additiver Farbenmischung wieder weißes Licht. Ein einzelnes Prisma zerlegt weißes Licht in seine Farben; doch zwei Prismen können so angeordnet werden, dass sich die Spektren wieder zu weißem Licht überlagern.
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Was sind nun die Strukturmerkmale der experimentellen Methode? Zunächst muss man ein Phänomen, das man erforschen will, isolieren, d.h. gegen unerwünschte Einflüsse abschirmen. Wenn Sie z. B. einen Fallprozess untersuchen wollen, ist es nicht sinnvoll, ihn mit einer Eisenkugel durchzuführen und die Fallgeschwindigkeit über einem Magneten zu messen. Um den Fallprozess zu untersuchen, müssen Sie ihn gegen alle Wechselwirkungen außer der Schwerkraft abschirmen. Die Versuchsbedingungen sollten deshalb so gestaltet sein, dass der Luftwiderstand eine möglichst geringe Rolle spielt. Im Bremer Fallturm finden heute Experimente ohne Luftwiderstand statt, in einer evakuierten Fallröhre. Zweitens wollen Experimentalphysiker die Phänomene, die sie untersuchen, nicht nur einmal sehen. Experimentelle Ergebnisse müssen reproduzierbar sein. Ein Versuch muss so durchgeführt werden, dass er immer wieder gelingt und dass auch ein anderer Experimentator (innerhalb bestimmter Fehlergrenzen) dasselbe Ergebnis bekommt. Ein Phänomen, das nur einmal beobachtet wurde, ist nicht stabil, es zählt in der Physik nicht. Die Reproduzierbarkeit der experimentellen Ergebnisse sorgt dafür, dass ein Experiment Klassen von gleichartigen Phänomenen erzeugt. Experimente mit einem Stromkreis, einer vorgegebenen Spannung und einem elektrischen Leiter mit festem Widerstand erzeugen z.B. Phänomene, bei denen das Strommessgerät einen ganz bestimmten Zeigerausschlag hat. Phänomene, die unter gleichartigen Bedingungen erzeugt sind, bilden ein Kollektiv, auf das man wunderbar den mathematischen Mengenbegriff anwenden kann. Reproduzierbare experimentelle Ergebnisse lassen sich also in Klassen einteilen, die durch mathematische Mengen beschreibbar sind. Und drittens werden noch die Versuchsbedingungen variiert, z. B. durch Änderung der Neigung der schiefen Ebene, der Stromstärke oder Spannung im elektrischen Stromkreis, usw. So wird untersucht, wie sich die Phänomene und ihre Messgrößen in Abhängigkeit voneinander ändern, und es werden funktionale Zusammenhänge für sie aufgestellt. Galilei maß die Rollzeit der Kugeln auf der schiefen Ebene in Abhängigkeit vom Neigungswinkel, Ohm maß die Beziehung zwischen Spannung und Stromstärke bei einem elektrischen Leiter. Die Isolation zielt also darauf, Einzelphänomene zu untersuchen; die Reproduzierbarkeit darauf, Klassen gleichartiger Phänomene zu bekommen; und die Variation der Versuchsbedingungen darauf zu messen, wie sich diese Phänomenklassen in Abhängigkeit voneinander ändern, und dies durch mathematische Funktionen zu beschreiben. Diese Strukturmerkmale der experimentellen Methode sind perfekt darauf zugeschnitten, die Mathematik auf die Natur anzuwenden.
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E XPERIMENT
UND
W IRKLICHKEIT
Oder aber umgekehrt: Phänomene zu isolieren, Klassen gleichartiger Phänomene zu erzeugen und sie kontrolliert zu verändern, schneidet die Naturerscheinungen auf den Gebrauch der Mathematik zu. Deshalb hob ich oben hervor, dass die experimentelle Methode das Buch der Natur drastischer umschreibt als die Näherungsverfahren der Astronomie. Dies wirft die Frage auf: Sind die Ergebnisse der experimentelle Analyse und Synthese natürlich oder künstlich? Sind Phänomene, die man unter Laborbedingungen gewinnt, noch Natur, oder stellen sie Artefakte dar? Werden sie entdeckt oder erzeugt? Konstruktivisten unterschiedlichster Spielart behaupten Letzteres. Zur Natur zählt nur, was außerhalb des Labors mit bloßen Augen beobachtbar ist, etwa der Sternenhimmel, soweit man ihn im Lichtsmog unserer Städte noch sehen kann. Schon die Beobachtung der Sterne und Planeten mit einem Teleskop zählt streng genommen nicht mehr dazu. Galileis aristotelische Gegner hielten Galileis Beobachtung der Jupitermonde und Venusphasen mit dem Fernrohr keineswegs für eine klare Evidenz – zumal ja das Kopernikanische System die Beobachtungsdaten viel ungenauer erklärte als das präzise Näherungsverfahren des Ptolemäus. Das Fernrohr isoliert und vergrößert einen winzigen Himmelsausschnitt nach den Gesetzen der geometrischen Optik; doch die Gesetze der irdischen Physik auf die Beobachtung der Himmelskörper zu übertragen, erschien den Aristotelikern des 17. Jahrhunderts unzulässig. Darüber hinaus ist das Fernrohr ein technisches Gerät, dessen Anwendung aus der aristotelischen Sicht dazu diente, die Natur zu überlisten, und nicht, sie zu erkennen; sie steht nach Aristoteles auf der Seite der technischen Praxis und nicht auf der Seite der theoretischen Erkenntnis. Der Streit um die Wahrheit der astronomischen und physikalischen Theorien begleitet die Physik seit Kopernikus und Galilei. Die Debatte um die realistische Deutung physikalischer Ergebnisse reicht bis in die aktuelle Wissenschaftsphilosophie hinein, ihr Ende ist nicht in Sicht. Noch heute bezweifeln Konstruktivisten, dass technische Beobachtungsinstrumente und Daten, die unter Laborbedingungen gemessen werden, wirklich Aufschluss über Naturvorgänge geben. Doch auch Physiker werfen gelegentlich die Frage auf, ob experimentelle Phänomene entdeckt oder erzeugt sind. Der Astrophysiker Arthur Eddington leitete im Jahr 1919 die Expedition zu einer Sonnenfinsternis auf der Südhalbkugel, um zu messen, ob das Schwerefeld der Sonne das Licht benachbarter Sterne ablenkt, wie Einstein vorhergesagt hatte. Die Ergebnisse galten als Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie und machten Einstein fast über Nacht berühmt. Eddington war kein Konstruktivist; sonst hätte er sich weder auf die Expedition eingelassen noch später eine
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Theorie über den Mechanismus aufgestellt, der die Sterne durch Gasverbrennung zum Leuchten bringt. Doch dass seine Ergebnisse von 1919 nicht so eindeutig waren, wie sie damals der Öffentlichkeit präsentiert wurden7, konnte ihm nicht entgangen sein. Zwanzig Jahre später griff er in einem Buch den Konstruktivismus als philosophisches Problem der Physik auf. Unter dem Titel ›Entdeckung oder eigene Erzeugung?‹ bürstete er Newtons Experiment zur Lichtzerlegung wie folgt gegen den Strich: »Es scheint eine einfache Sache zu sein, zu beweisen, daß das weiße Licht der Sonne wirklich eine Mischung von Licht von verschiedenen Farben ist. | […] [Aber] vor Newton [war] die vorherrschende Ansicht, daß das Prisma tatsächlich die Farbe hervorbringt. | […]. Ob das Spektroskop eine gewisse Periodizität aussondert oder verleiht, ist nur eine Sache des Ausdrucks.«8
Darüber hinaus führt er ein schönes Bild an, um zu verdeutlichen, worauf es ihm hier ankommt. Er vergleicht die experimentelle Methode mit den Netzen, mit denen die Fischer losziehen, um Fische zu fangen. Die Fischernetze haben Löcher von einer Größe von fünf Zentimetern. Nach ihrem Fischzug stellen die Fischer das biologische Theorem auf, dass es keine Fische gibt, die kleiner sind als fünf Zentimeter.9 Die Botschaft ist: Die Experimente, Beobachtungsinstrumente und Analysemethoden der Physik schneiden die Natur zurecht und es kann sein, dass den Physikern etwas durch die Maschen fällt. Die Frage, ob die physikalische Erkenntnis realistisch gedeutet werden darf, war schon um 1900 stark umstritten. In der Philosophie der Naturwissenschaft waren zwei antirealistische Positionen vorherrschend. Empiristen und Instrumentalisten wie Ernst Mach und Pierre Duhem bestritten, dass die Materie aus Atomen besteht, weil Atome prinzipiell nicht beobachtbar sind.10 Die Marburger Neukan-
7
Vgl. Ian McCausland: Anomalies in the History of Relativity, in: Journal of Scientific Exploration, 1999, S. 271-290; Peter Coles: »Einstein, Eddington and the 1919 Eclipse«, in: Proceedings of International School on ›The Historical Development of Modern Cosmology‹, Valencia 2000; http://arxiv.org/abs/astro-ph/0102462v1.
8
Arthur Eddington: The Philosophy of Physical Science, Cambridge 1939. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Philosophie der Naturwissenschaft. Übersetzt von Karl Hauptvogel, Wien 1949, S. 136-138 (Hervorh. im Orig.).
9
Ebd., S. 28ff.
10 Pierre Duhem: Ziel und Struktur physikalischer Theorien [1908]. Hamburg 1978; Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung [1883]. Nachdruck der 9. Auflage von 1933, Darmstadt 1991.
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tianer vertraten eine konstruktivistische Sicht der exakten Wissenschaften. Hermann Cohen und Paul Natorp hatten detaillierte Kenntnisse der Physik; sie betonten die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen und Messergebnissen und sahen in den Theorien keine Wirklichkeitsbeschreibung, sondern Konstrukte.11 Dagegen vertraten die Physiker Ludwig Boltzmann, Max Planck und Albert Einstein den Atomismus und unterschiedliche Varianten eines wissenschaftlichen Realismus.12 Der Streit wird in der Wissenschaftsphilosophie noch heute weitergeführt. Zu den heutigen Antirealisten zählen Sozialkonstruktivisten wie Bruno Latour oder Kulturalisten wie Peter Janich, aus deren Sicht naturwissenschaftliche Ergebnisse vor allem als soziale oder kulturelle Produkte zu betrachten sind;13 empiristisch orientierte Instrumentalisten wie Nancy Cartwright, die betont, dass die Modelle der Physiker, wie diejenigen der Ökonomen, eine tool-box, einen Werkzeugkasten der Wissenschaften bilden. Diese sehr unterschiedlichen Positionen teilen den Kritikpunkt am Realismus, dass es nicht zulässig ist, von Tätigkeiten und Beobachtungen im Experimentierlabor auf die Natur außerhalb davon zu verallgemeinern. Unter den Wissenschaftsphilosophen gibt es aber auch wissenschaftliche Realisten. Grover Maxwell hat im Jahr 1962 darauf hingewiesen, dass es ein Kontinuum der Beobachtung wissenschaftlicher Objekte durch Beobachtungsinstrumente gibt; sie machen von der Brille über das Fernrohr bis zum HubbleTeleskop immer weiter entfernte Objekte sichtbar, und von der Lupe über das Mikroskop bis zum Teilchenbeschleuniger immer kleinere Objekte.14 Berühmt ist auch das ›no miracle‹-Argument von Hilary Putnam, wonach die Erklärungserfolge der Physik und anderer Naturwissenschaften kein Wunder sein können, sondern nur verständlich sind, wenn die Theorien der Naturwissenschaften die wahre Struktur der Natur erfassen.15
11 Vgl. Hermann Cohen: Die Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902; Paul Natorp: Die Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1910. 12 Vgl. hierzu insbesondere Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker, München 2007. 13 Vgl. Bruno Latour, Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, 2. Auflage, Princeton 1986; Peter Janich: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt/M. 1996. 14 Grover Maxwell: »The Ontological Status of Theoretical Entities«, in: Herbert Feigl, Grover Maxwell (Hg.): Scientific Explanation, Space, and Time. Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 3., Minneapolis 1962, S. 3–27. 15 Hilary Putnam: Mathematics, Matters and Methods. Philosophical Papers I., Cambridge 1975.
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Drittens gibt es ein Argument, das auf Ian Hacking zurückgeht und das ich gern als ›Hammer und Nagel‹-Argument bezeichne. Wenn man einen physikalischen Prozess wie die Lichtausbreitung, radioaktive Zerfälle oder Strahlen subatomarer Teilchen aus einem Teilchenbeschleuniger gezielt als technisches Mittel für irgendeinen Zweck einsetzen kann, dann muss dieser Prozess ebenso wirklich sein wie der Hammer, mit dem man einen Nagel in die Wand schlägt. Wie Hacking hervorhebt:16 »If you can spray them, they exist!« Wie der Hammer beschaffen ist, ob man die völlig korrekte Theorie darüber hat, weiß man damit natürlich noch nicht. Doch zumindest weiß man dann, dass man ein Instrument benutzt, welches diese Funktion erfüllt und dafür bestimmte Struktureigenschaften besitzen muss. Sie können einen Nagel mit einem Schuhabsatz in die Wand schlagen, aber nicht mit einem Pudding. Gemeinsam ist den Argumenten für den Realismus der Hinweis darauf, dass es kein Zufall ist, wie gut die theoretischen und experimentellen Instrumente der Physik funktionieren. Doch wie gut gelingt nun die Erkenntnis der Realität mit den mathematischen und experimentellen Instrumenten der Physik? Was kann das Netz der Physiker einfangen, was fällt durch seine Maschen? Das zentrale Problem der ganzen Debatte von Anfang an und bis heute ist: Die Wirklichkeit der Physik wird durch uns strukturiert, durch unsere Theorien, mathematischen Näherungsverfahren, experimentellen Methoden und Beobachtungsinstrumente. Dennoch nehmen wir an, dass diese Wirklichkeit in ihrer Struktur unabhängig von uns ist. Können wir erkennen, inwieweit sie nicht durch uns konstruiert und nicht nur durch unsere Instrumente zugeschnitten ist, sondern unverfügbar? Können wir das Unverfügbare überhaupt erkennen? Das ist die philosophische Frage, die im Zentrum der Realismusdebatte steht, aber in den heutigen Debatten kaum noch direkt diskutiert wird. Behandelt wird sie von den Philosophen des Pragmatismus, von Charles Sanders Peirce und seinen Nachfolgern, zu denen um 1930 der Neukantianer Edgar Wind zählte17, und heute Hilary Putnam. Doch eigentlich wissen wir alle aus dem Alltag, was die Realität ist: Wirklich ist dasjenige, woran wir nicht mehr vorbeikönnen, was sich nicht um unsere theoretischen Konstrukte schert, was unsere Erwartungen zerschlägt. Real ist, was unsere Erwartungen zerschlägt; hierin liegt das Unverfügbarkeitsmoment. Doch auch das Kriterium des epistemischen Zugangs ist erfüllt, denn unsere Erwartungen können ja nur durch etwas zerschlagen werden, das wir erfahren
16 Ian Hacking: Representing and Intervening, Oxford 1983, S. 22–25 und S. 265–273. 17 Vgl. Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik, Tübingen [1934], Neuausgabe von Bernhard Buschendorf, mit einer Einleitung von Brigitte Falkenburg, Frankfurt/M. 2001.
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und akzeptieren. (Karl Popper hat beide Aspekte in sein Falsifikationskriterium zusammengefasst – wissenschaftliche Theorien, die sich auf die Wirklichkeit beziehen, müssen falsifizierbar sein.18) Das Kriterium, wonach real ist, was theoretische Erwartungen zerschlägt, ist zentral für meine Titelfrage, ob subatomare Teilchen hergestellt oder entdeckt sind. So perfekt die experimentelle Methode auch auf die Mathematisierung der Natur zugeschnitten ist, oder umgekehrt die Natur auf die Mathematik zuschneidet: Ob sich bei einem Experiment reproduzierbare Versuchsergebnisse und gesetzmäßige Zusammenhänge einstellen, und wenn ja, welche – dies haben die Experimentatoren nicht immer in der Hand.
S UBATOMARE T EILCHEN Die Vorstellung, dass die Materie aus unteilbaren Bestandteilen oder Atomen besteht, geht auf den antiken Atomismus zurück. Die Naturforscher der frühen Neuzeit griffen diese Vorstellung wieder auf; später wurde sie in das mechanistische Weltbild integriert, das Descartes begründete. Nach Descartes verursachen Wirbel in der Himmelsmaterie die Schwerewirkungen auf der Erdoberfläche. Newton stellte das Gravitationsgesetz für alle schweren Körper auf, seine Mechanik lieferte dem mechanistischen Zeitalter die mathematische Theorie. Er hätte die Schwerkraft gern aus der Wirbelbewegung eines feinstofflichen Äthers, der den Weltraum erfüllt, abgeleitet, doch dies gelang ihm nicht – in diesem Kontext steht sein berühmtes Diktum »Hypothesen erdenke ich nicht.«19 Sein Massebegriff setzte die Atomvorstellung voraus. In der Erläuterung zur »dritten Regel zur Erforschung der Natur« hebt Newton hervor: »Die Ausdehnung, Härte, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit und Kraft der Trägheit des Ganzen entspringt aus denselben Eigenschaften der Theile; hieraus schliessen wir, dass die kleinsten Theile der Körper ebenfalls ausgedehnt, hart, undurchdringlich, beweglich und mit der Kraft der Trägheit begabt sind. Hierin besteht die Grundlage der gesamten Naturlehre.«20
18 Karl R. Popper: Logik der Forschung [1934], 10. Auflage, Tübingen 1994. Poppers Falsifikationskriterium entstand aber in anderem Kontext, im Rahmen der Suche nach Kriterien dafür, wissenschaftliche resp. empirische Theorien gegen bloße Metaphysik abzugrenzen. 19 Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre [1687], Nachdruck der Übersetzung von Jakob Philipp Wolfers [1872], Darmstadt 1963, S. 511. 20 Ebd., S. 380.
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Danach hätten die Atome dieselben Eigenschaften wie mechanische Körper. Newton beschloss seine ›Optik‹ mit Fragen zum atomaren Aufbau der Materie und des Lichts. Er vertrat dort das Prinzip, die Natur sei »sehr einheitlich mit sich selbst und sehr einfach«21 – ein Gleichförmigkeitsprinzip, nach dem die Natur im Kleinen so beschaffen ist wie im Großen.22 Schön wäre es gewesen! Noch der Begründer der Elektrodynamik, James Clerk Maxwell, hing dem mechanistischen Weltbild an. Er entwarf das mechanistische Modell eines Äthers mit einer Art Kugellager-Struktur, in dem sich Licht und andere elektromagnetische Wellen ausbreiten. Doch die Atome, die dann entdeckt wurden, verhalten sich nicht mechanisch, sie haben völlig andere Eigenschaften. Außerdem sind sie nicht unteilbar, sondern haben eine komplexe innere Struktur. Bei der Entdeckungsgeschichte spielte immer wieder der Zufall eine große Rolle, und die klassischen theoretischen Erwartungen wurden Stück für Stück zerschlagen.23 1896 entdeckte Henri Becquerel nicht in einem gezielten Experiment, sondern durch Zufall die Radioaktivität – in Form von einer unbekannten Strahlungswirkung, die seine Fotoplatten belichtete, als sie in einem dunklen Schrank gelagert waren. 1897 führte Joseph J. Thomson ein Experiment durch, das nachwies, dass Kathodenstrahlen (die Strahlung aus einer Elektronenröhre) durch elektrische und magnetische Felder abgelenkt werden, und maß das Verhältnis der elektrischen Ladung e und der Masse m. Dies galt als Nachweis der Teilchennatur dieser Strahlung und als e/m-Messung des Elektrons. 1903 wies Ernest Rutherford mit Thomsons Messmethode nach, dass die radioaktive Strahlung aus drei Komponenten unterschiedlicher Ladung und Masse besteht. Im selben Jahr fand William Crookes heraus, dass die schwersten davon, die Alpha-
21 Isaac Newton: Opticks or Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections & Colours of Light [1730], 4, Auflage. New York 1952 und 1979, S. 397. 22 Newtons Mechanik unterstellt diese Gleichförmigkeit für den Zusammenhang zwischen Galileis Fallgesetz und Keplers Gesetzen der Planetenbewegungen, den das Gravitationsgesetz herstellt. Die englische Ausgabe der ›Principia‹ veranschaulichte den kontinuierlichen Übergang zwischen den Bewegungen nach beiden Gesetzen anhand eines Steinwurfs von einem extrem hohen Berg: Jemand wirft einen Stein mit immer mehr Kraft, der Stein fliegt immer weiter, bis er irgendwann in einer Satellitenbahn um die Erde herumfliegt, wie der Mond. Vgl. Mathematical Principles of Natural Philosophy and his System of the World [1729], hg. von Florian Cajori, Nachdruck Berkeley 1934 und 1962, S. 551. 23 Zum folgenden vgl. Brigitte Falkenburg: Particle Metaphysics. A Critical Account of Subatomic Reality, Berlin/Heidelberg 2007.
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strahlen, auf einem Leuchtschirm einzelne Lichtblitze erzeugen, die sich im Dunkeln nach einer gewissen Adaptationszeit der Augen mit der Lupe beobachten ließen. 1909 entdeckten Rutherfords Mitarbeiter auch wieder durch Zufall mit dieser Lichtblitzmethode, dass die Alphastrahlen an einer hauchdünnen Goldfolie auch rückwärts gestreut werden. Dies stand im Widerspruch zum damaligen Atommodell von Thomson, nach dem das Atom eine positiven Ladungswolke mit winzigen darin verteilten Elektronen war; danach sollten alle Teilchen praktisch ungehindert durch die Goldfolie durchfliegen. Doch einige Teilchen prallten offenbar an etwas in der Goldfolie ab; und daraus schloss Rutherford nach langwierigen Rechnungen, dass das Atom einen sehr kleinen, extrem harten Kern haben muss. Dies waren alles sehr indirekte, langwierige Nachweismethoden. Robert Millikan maß in aufwendigen Experimenten von 1910-1913 das Verhältnis von Ladung und Masse für einzelne Ladungen auf Öltröpfchen, die im elektrischen Feld eines Kondensators im Schwerefeld der Erde schweben. Die ›Entdeckung‹ subatomarer Teilchen hat sich also schrittweise vollzogen und in vielen Fällen jahrelang gedauert. Im Fall des Elektrons dauerte sie von 1897 bis 1913; der Nachweis der Teilchenstruktur der radioaktiven Alpha- und Beta-Strahlen ab 1903 ebenfalls ein paar Jahre; der Fund des Atomkerns begann 1909 mit dem Befund der Rückwärts-Streuung, dann rechnete Rutherford zwei Jahre lang und publizierte sein Atommodell erst 1911. Direkte Belege gab es ab 1912, als die Spuren einzelner geladener Teilchen in der Nebelkammer nachgewiesen und fotografiert werden konnten (siehe Abb. 1). Sie sahen so aus wie nach der klassischen Mechanik erwartet. Die Spuren von Kondensationströpfchen im Wasserdampf verliefen, als seien sie von mikroskopischen Projektilen erzeugt – ganz nach Newtons Gleichförmigkeitsprinzip. Dies machte es nun möglich, die Eigenschaften einzelner subatomarer Teilchen nach den Gesetzen der klassischen Mechanik zu messen. Die Spurdicke hängt von der Masse ab, die Krümmung im Magnetfeld von der Ladung. Ab 1932 wurden immer neue subatomare Teilchen nachgewiesen. Teilchenspuren in der Nebelkammer zeigten ein ›positives‹ Elektron mit falscher Spurkrümmung, das Positron (siehe Abb. 2). Die Erforschung der Radioaktivität führte zum Nachweis, dass das Proton im Atomkern ein elektrisch neutrales Partnerteilchen hat, das Neutron. Ein großer ›Zoo‹ weiterer Teilchen folgte, der durch die Experimente an Teilchenbeschleunigern drastisch weiter anwuchs. Sind diese Teilchen nun entdeckt – oder erzeugt? Eddington schreibt im schon zitierten Buch:
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Abb. 1: Teilchenspuren von Apha-Strahlen in der Nebelkammer
Abb. 2: Die Spur des Positrons (Nebelkammer mit Bleiplatte und Magnetfeld)
(Lise Meitner. Nach: Grimsehls Lehrbuch der Physik, Leipzig und Berlin, 8. Auflage 1938, S. 16.)
(Carl D. Anderson: The Positive Electron. In: Physical Review 43 [1933], S. 492.)
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»Die Frage, die ich dabei bin aufzuwerfen, lautet: Wieviel entdecken wir und wieviel erzeugen wir selber durch unsere Experimente? Als uns der verstorbene Lord Rutherford den Atomkern zeigte, hat er ihn da gefunden oder hat er ihn gemacht? Weder in diesem noch in jenem Fall soll das unsere Bewunderung für seine Leistung beeinflussen; aber wir möchten doch gerne wissen, welcher Art sie war. Die Frage ist eine von denen, die kaum eine endgültige Antwort zuläßt.«24
Der empirische Befund war die Beobachtung der Rückwärts-Streuung, doch was hat Rutherford dann gemacht? Zwei Jahre lang gerechnet und schließlich sein Atommodell publiziert. Eddington führt uns vor Augen: Wir müssen beachten, welche konstruktiven Aspekte die experimentelle Methode auch hat, welche Momente des Konstruierens den physikalischen Entdeckungen immer zugleich anhaften. Die Geschichte des Neutrinos ist besonders aufschlussreich. Hier lag am ehesten der Verdacht nahe, es könne sich um ein theoretisches Konstrukt handeln. Der einzige empirische Befund war die fehlende Energie bei gewissen radioaktiven Zerfällen. Zur Vermeidung der Annahme, hier sei der Satz von der
24 Eddington: Philosophie der Naturwissenschaft, S. 139 (Hervorh. im Orig.).
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Erhaltung der Energie verletzt, schlug Wolfgang Pauli 1930 vor, dass ein neues Teilchen, das Neutrino, die fehlende Energie davon trägt. Neutrinos wurden erst 1956 in einem Kernreaktor nachgewiesen, anhand von anderen Reaktionen, die sie auslösten. Im Jahr 1939, 9 Jahre nach der Aufstellung der NeutrinoHypothese und 17 Jahre vor dem experimentellen Nachweis, schrieb Eddington dazu: »Ich bin von der Neutrinotheorie nicht sehr beeindruckt. Auf gebräuchliche Art könnte ich sagen, daß ich nicht an Neutrinos glaube. […] Soll ich die Behauptung wagen, daß die Experimentalphysiker nicht genug Erfindungskraft haben werden, um Neutrinos zu machen? | […] Falls es ihnen gelingen sollte, Neutrinos zu machen, und vielleicht sogar industrielle Anwendungen davon zu entwickeln, dann werde ich vermutlich daran glauben müssen, obwohl ich das Gefühl haben mag, daß sie nicht ganz ehrlich gespielt haben.«25
Später hat man es tatsächlich geschafft, Teilchenstrahlen mit Neutrinos herzustellen, um die Struktur der Protonen und Neutronen im Atomkern zu untersuchen. Die Neutrinos selbst hinterlassen keine Spuren im Teilchendetektor, nur die Sekundärteilchen, die bei den seltenen Neutrino-Reaktionen entstehen. Auf den Fotos von Neutrino-Reaktionen fängt irgendwo wie aus dem Nichts ein einziges Spurengewirr von Sekundärreaktionen an. In diesen Experimenten ist genau das passiert, wovon Eddington schrieb, er müsste sich dann wohl belehren lassen, falls die Experimentalphysiker dabei ehrlich gespielt haben. Dass das Proton und das Neutron keine echten Elementarteilchen sind, sondern eine innere Struktur haben, wurde 1968 durch eine Zufallsentdeckung nachgewiesen. Der Nachweis war eine Neuauflage der Rutherford-Streuung: es wurde Rückwärts- bzw. Großwinkel-Streuung entdeckt, und es gab Anzeichen für winzige Streuzentren im Proton und Neutron. Das Experiment arbeitete mit den etwas schwereren Geschwistern der Elektronen, nämlich mit Myonen. Doch bestimmte Untersuchungen erforderten einen Teilchenstrahl, der elektrisch neutral ist – eben einen aus Neutrinos. Hackings Realitätskriterium aus dem Hammer-und-Nagel-Argument ist hier erfüllt: Die Neutrinos wurden benutzt, um die Struktur des Protons und des Neutrons zu erforschen. An einem solchen Neutrino-Nukleon-Streuexperiment, das 1983 am CERN stattfand, habe ich vor vielen Jahren meine physikalische Doktorarbeit gemacht. Die Neutrinos stammten daraus, dass Protonen aus dem Teilchenbeschleuniger auf einen Beryllium-Block geschossen wurden. Nach ein paar hundert Metern waren alle anderen Teilchensorten ausgebremst oder radioaktiv zerfallen, nur die
25 Ebd., S. 143f. (Hervorh. im Orig.).
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Neutrinos blieben übrig. Dort war der große Eisen-Detektor aufgebaut, mit dem wir die Sekundärreaktionen der Neutrino-Streuung an den Protonen und Neutronen in den Eisenscheiben maßen. Von den ephemeren Teilchen, die nur extrem wenige Wechselwirkungen haben, bekamen wir in ein paar Monaten Laufzeit des Experiments immerhin 300.000 Streu-Ereignisse.26
E NTTÄUSCHTE E RWARTUNGEN Doch parallel zu dieser ganzen Geschichte wurde entdeckt, dass Licht und Materie sich nicht so verhalten, wie es sich die Physiker im goldenen klassischen Zeitalter gedacht hatten. Dass die Natur im Kleinen nicht so beschaffen ist wie im Großen, zeigte sich ab 1900 an der Wärmestrahlung und am Licht. Max Planck stellte sein Strahlungsgesetz auf, nach dem die Wärmestrahlung in diskreten Energieportionen oder -quanten auftritt. Nach Einsteins Lichtquanten-Hypothese von 1905 besteht das Licht nicht aus Wellen, sondern aus teilchenartigen Energiequanten. Dies widersprach dem seit bald hundert Jahren gut bekannten Phänomen, dass Lichtstrahlen gebeugt werden können und sich hinter einem feinen Doppelspalt wie Wasserwellen überlagern, d.h. sich gegenseitig so verstärken oder auslöschen, dass Interferenzstreifen entstehen. 1916 sagte Einstein voraus, dass Lichtquanten ähnlich wie massive Teilchen einen Impuls haben, so dass sie massiven Teilchen einen kleinen Rückstoß verleihen können. 1923 bestätigte der Compton-Effekt diese Vorhersage: Licht, das an einem Elektron streut, gibt dem Elektron einen Kick und ändert dabei die Farbe, weil es Energie verliert. Im Wellenbild, das trotz Quantentheorie nicht ganz aufgegeben werden kann, entspricht dies langwelligerem Licht. 1927 wurde umgekehrt gezeigt, dass Elektronenstrahlen, die man durch einen Kristall schickt, ein Interferenzmuster erzeugen wie Wellen. Aus klassischer Sicht ist dies verkehrte Welt: Lichtwellen können Teilchenkicks hervorrufen; umgekehrt haben Elektronen, Protonen und andere massive Teilchen auch Welleneigenschaften. Oben wies ich darauf hin, dass zur Wirklichkeit gehört, was unsere Erwartungen zerschlägt. Nichts hat die Erwartungen der Physiker ab 1900 mehr
26 Brigitte Falkenburg: Bestimmung von Nukleonstrukturfunktionen aus Neutrino-EisenStreuung. Dissertation, Heidelberg 1986. Resultate veröffentlicht in: P. Berge et al.: »A Measurement of differential cross-sections and nucleon structure functions in charged-current neutrino interactions on iron«, in: Zeitschrift für Physik C 49 (1991), S. 187–223.
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schockiert als die Eigenschaften der subatomaren Teilchen. Anstatt in der Natur im Kleinen klassische Teilchen und klassische Wellen zu finden, fanden sie, dass sich das Licht teilchenartig verhält und die Materie wellenartig. Nach dem obigen Realitätskriterium besteht die physikalische Wirklichkeit im Kleinen also nicht aus klassischen Teilchen und Wellen. Die Natur ist nicht so gleichförmig mit sich selbst, wie Newton dachte. Das Weltbild der klassischen Physik ist nach Popper glasklar falsifiziert. Das Vertrackte dabei war, dass manche experimentelle Phänomene die klassischen Erwartungen bestätigten, während andere sie zugleich über den Haufen warfen. Die Experimente zeigen einen Welle-Teilchen-Dualismus von Licht und Materie: Licht und Elektronen, Protonen usw. lassen sich am Doppelspalt oder einem Kristall beugen; in beiden Fällen entstehen wellenartige Interferenzmuster. Licht und Elektronen, Protonen usw. übertragen bei Streuprozessen Impuls und Energie auf andere Teilchen. Beim Licht führt dies zum Compton-Effekt, bei massiven Teilchen zu Teilchenspuren in der Blasenkammer oder zu Rückwärts-Streuung wie bei Rutherfords Streuexperiment. Dieser Doppelcharakter von Teilchen und Welle zwang die Physiker dazu, das klassische Atommodell aufzugeben. Rutherfords Atom war nach dem Modell des Sonnensystems konstruiert, mit einem winzigen positiv geladenen Atomkern im Zentrum und den Elektronen in großer Entfernung davon auf Keplerschen Ellipsenbahnen. Nun sind aber Elektronen keine Planeten; und ihre Wechselwirkung mit dem Atomkern ist keine Gravitation, sondern elektrische Abstoßung. Newtons Kraftgesetz ergibt für den Fall der Anziehung oder Abstoßung dieselben Bahnen; doch die Analogie zwischen Atom und Sonnensystem war trotzdem nicht tragfähig. Teilchen auf elliptischen Bahnen ändern dauernd ihren Bewegungszustand, d.h. sie bewegen sich beschleunigt. Den Planeten macht das nichts, ihr Drehimpuls bleibt konstant, und sie bleiben auf ihrer Bahn. Doch beschleunigte elektrische Ladungen strahlen. Sie erzeugen elektromagnetische Wellen; dies ist das Prinzip von Radio und Telefon. D. h., nach Rutherfords Atommodell würden die Elektronen auf ihren elliptischen Bahnen permanent Schwingungen abstrahlen; sie würden sich verhalten wie winzige Antennen, dabei ihre gesamte Energie innerhalb von Sekundenbruchteilen verlieren und innerhalb kürzester Zeit in den Atomkern abstürzen. Rutherfords Atommodell war instabil. Dies war der tiefere Grund dafür, dass Rutherford zwei Jahre lang rechnete: Er versuchte, die Rückwärts-Streuung der Alphateilchen anders zu erklären. Niels Bohr stellte 1913 das Quantenpostulat auf, das die Elektronen in diskontinuierliche Energieniveaus ›einfror‹ und ihnen ad hoc verbot, auf ihrer Bahn Energie zu verlieren. Dabei griff er Einsteins Lichtquantenhypothese auf.
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Er postulierte Übergänge zwischen den verschiedenen erlaubten Bahnen der Elektronen im Atom, bei denen ein Lichtquant ausgesandt wird, und konnte so die beobachteten Farbspektren erhitzter Gase sehr gut erklären. 1916 leitete Einstein dann Plancks Strahlungsgesetz aus Bohrs Atommodell her, in derselben Arbeit, die dem Lichtquant einen teilchenartigen Impuls oder ›Kick‹ zusprach. Das subatomare Puzzle fügte sich zum Welle-Teilchen-Dualismus zusammen. Als Compton 1923 den nach ihm benannten Effekt nachgewiesen hatte, postulierte Louis de Broglie, dass umgekehrt auch die Elektronen Wellennatur haben; was dann 1927 experimentell nachgewiesen wurde. Ab 1925 wurde die moderne Quantentheorie begründet, diese merkwürdige Theorie der Materie (die Quantenmechanik von 1925/26) und des Lichts (die Quantenelektrodynamik von 1927/28). Abb. 3: a) Beugung von Elektronen,
b) Beugung von Röntgenstrahlen.
(Heinz Raether: Elektroneninterferenzen. In: Handbuch der Physik Band 32, Berlin 1957, S. 443.) Die Beugung von Elektronen oder Röntgenstrahlen an einer dünnen Aluminiumfolie ergibt gleichartige Phänomene (siehe Abb. 3). Röntgenstrahlen sind sehr kurzwellige elektromagnetische Strahlen, sie haben dieselbe Wellennatur wie das Licht. Doch Elektronen lassen sich im Magnetfeld ablenken, denn sie haben Masse und Ladung; Röntgenstrahlen nicht. Wenn man beim Beugungsexperiment ein Magnetfeld anlegt, sieht man etwas, das man nur bei den Elektronen sehen kann, aber nicht bei Röntgenstrahlen oder Licht: das Magnetfeld verbeult die Beugungsringe, weil es die Elektronen von ihrem Weg ablenkt (siehe Abb. 4). Die verzerrten Beugungsringe des Elektrons zeigen also direkt das Phänomen des Welle-Teilchen-Dualismus. Elektrische Ladung ist eine Teilcheneigenschaft, die Beugungsringe sind eine Welleneigenschaft.
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Abb. 4: Welle-Teilchen-Dualismus: Elektronenbeugung im Magnetfeld.
(Joseph J. Thomson. Nach: Grimsehls Lehrbuch der Physik, Leipzig und Berlin, 8. Auflage 1938, S. 221.) Der ganze Weg zur Quantentheorie ist eine Geschichte der enttäuschten Erwartungen. Schon Plancks Strahlungsgesetz war eine Revolution wider Willen.27 Einstein glaubte selbst nicht an seine Lichtquantenhypothese, als er sie 1905 aufstelle; deshalb sprach er vorsichtig von einem »heuristischen Gesichtspunkt«.28 Dann kam Rutherfords instabiles klassisches Atom, das Bohr dazu brachte, ad hoc sein Quantenpostulat aufzustellen. 1916 als Einstein die Lichtquantenhypothese an das Atommodell von Bohr anschloss und daraus Plancks Strahlungsgesetz herleiten konnte, bemängelte er schon, dass die Lichtausstrahlung völlig indeterministisch ist. 1926 schlug Erwin Schrödinger vor, die Teilchen im Atom wie stehende Wellen zu interpretieren; doch bald war klar, dass Schrödingers Wellenpakete nach der Quantenmechanik zerfließen, so dass man auf diese Weise keine stabilen Teilchen außerhalb des Atoms beschreiben kann. Die einzige haltbare Deutung war – und ist – die Wahrscheinlichkeitsdeutung, die Max Born 1926 begründete und Johann von Neumann formal präzisier-
27 Planck selbst sprach von einem »Akt der Verzweiflung«, als er Boltzmanns statistischen Entropiebegriff auf das thermodynamische Strahlungsgleichgewicht anwendete; die Einführung des Wirkungsquantums h war eine Konsequenz davon. Vgl. Dieter Hofmann: Max Planck. Die Entstehung der modernen Physik, München 2008. 28 Albert Einstein: Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Gesichtspunkt, in: Annalen der Physik 17 (1905), S. 132-148.
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te: Ein Quantensystem wird beschrieben durch eine Wellenfunktion Ψ. Das Betragsquadrat der Wellenfunktion hat die Bedeutung einer Wahrscheinlichkeit. Die quantentheoretische Beschreibung liefert keine Vorhersage für das einzelne Messergebnis, sondern nur für die Ergebnisse vieler Messungen. Die Messung wird formal als unstetige Zustandsänderung der Wellenfunkton Ψ beschrieben, wobei sich das Ergebnis dieser Zustandsänderung, das Vorliegen eines objektiven Messwerts, aus der Quantenmechanik nicht ableiten lässt. Die Quantenmechanik ist indeterministisch, womit sich Planck und Einstein beide ihr Leben lang nicht abfinden konnten. Und es lässt sich zeigen, dass dies nicht nur an Unwissen oder Unkenntnis des ›wahren‹ Systemzustands vor einer Messung liegt. Wie die Messergebnisse mit der Systembeschreibung vor der Messung zusammenhängen, erklärt eine Quantentheorie nur statistisch, auf der Wahrscheinlichkeitsebene. Philosophisch ist die Quantentheorie bis heute unverstanden. Für die physikalische Praxis gilt dies nicht. Es handelt sich um die beste Theorie der Physik, die hoch präzise Ergebnisse liefert und ganz unterschiedliche Varianten hat, von der Quantenmechanik über die Quantenelektrodynamik bis zur Quantenchromodynamik, der Bestandteile der Protonen und Neutronen im Atomkern. Doch was im Einzelfall bei der Messung an einem Quantensystem passiert, bleibt unverstanden. Vielleicht gibt es hier auch gar nichts zu verstehen: Bohr war ab 1927 der Auffassung, dass Plancks Wirkungsquantum (das h in Einsteins Lichtquantenhypothese E = hν) eine grundsätzliche Grenze der experimentellen Analyse bedeutet. Es drückt eine untere Schranke für die Zerlegung des Lichts in Portionen und für die Übertragung von Energie bei Wechselwirkungen aus. Sie wird formal durch die Heisenberg’sche Unschärferelation beschrieben. Diese besagt, dass der Ort q und der Impuls p (das Produkt von Masse und Geschwindigkeit) nicht gleichzeitig scharf gemessen werden können, sondern nur bis auf eine Streuung der Messwerte beider Größen von der Größenordnung des Planck’schen Wirkungsquantums. Die Grenze der experimentellen Analyse, die Bohr hier sah, ist nichts anderes als eine Grenze der analytisch-synthetischen Methode der neuzeitlichen Physik. Es gibt keine physikalische Theorie, die den Bruch im Weltbild zwischen der klassischen Beschreibungsebene und der Quantentheorie vollständig heilt – bis heute nicht. Nur auf der Wahrscheinlichkeitsebene, aber für den Einzelfall nicht. Für den Einzelfall gilt nach wie vor, dass eine einzelne Ortsmessung ein scharfes Ergebnis haben kann, aber dass man hinterher dann nicht sagen kann, wie groß die Geschwindigkeit des Teilchens ist; und dass man das nicht bloß nicht wissen, sondern dass die Geschwindigkeit des Teilchens in diesem Fall prinzipiell unbestimmt ist.
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Nach der Quantentheorie beruhen auch die Teilchenspuren der Teilchenphysik nicht auf klassischen Teilchenbahnen. Eine Teilchenspur ist nur eine lückenhafte Folge einzelner Ortsmessungen – was man vielen Teilchenspuren auch deutlich ansieht (siehe Abb. 5). Jeder Messpunkt kommt durch einen quantentheoretischen Messprozess zustande, und die Messpunkte liegen nur meistens, doch nicht immer auf der Bahn, die das klassische Kraftgesetz vorhersagt. Was zwischen den Messpunkten passiert, beschreibt die Quantentheorie nur als Wahrscheinlichkeitsverteilung für den nächsten Messpunkt. Vom Teilchenbegriff der klassischen Physik bleibt noch ein operationaler Teilchenbegriff übrig, der genau dem entspricht, was man messen kann: das wiederholte ›Klick‹ im Teilchendetektor und die Erhaltungssätze für Energie, Masse und Ladung, die entlang der einzelnen Teilchenspur auch nach der Quantentheorie noch gelten. Darüber hinaus haben Quantenobjekte sonderbare Eigenschaften. Sie haben alle mit ihrem Doppelcharakter von Welle und Teilchen zu tun; dabei liegt der Wellenaspekt nur in der mathematischen Wellenfunktion, nach der sich die Wahrscheinlichkeitsverteilung für viele Messergebnisse berechnet, und der Teilchencharakter nur im ›Klick‹ des Teilchendetektors bei der Messung. Die Wellenfunktion für ein ›verschränktes‹ Zwei-Teilchen-System sagt nicht-lokale Korrelationen vorher, die sich bei der Messung der Teilchenpaare zeigen. Die Nichtlokalität zeigt sich auch bei der Beugung ›einzelner‹ Photonen (Lichtquanten) oder Elektronen an einem Doppelspalt. Hinter dem Doppelspalt werden einzelne Teilchen-›Klicks‹ registriert, doch nach längerer Laufzeit des Experiments ergeben all diese ›Klicks‹ ein wellenartiges Interferenzmuster. Paul Dirac hob deshalb schon Anfang der dreißiger Jahre hervor, dass jedes Photon oder subatomare Teilchen mit sich selbst interferiert.
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Damit komme ich zum Schluss – und zur Antwort auf die Titelfrage, ob die subatomaren Teilchen nun eigentlich hergestellt oder entdeckt sind. Vor allem nach den folgenden beiden Realitätskriterien sind sie keine Konstrukte, sondern gehören zur Wirklichkeit: • Real ist das, was unsere Erwartungen zerschlägt. Das Konstrukt war das
klassische Teilchenkonzept – doch es erwies sich als unhaltbar. Die Phänomene der Atomphysik, die es über den Haufen warfen, sind offenbar Wirkungen einer physikalischen Realität, denen dieses Konstrukt nicht standhielt.
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• Real ist, womit wir technische Zwecke verwirklichen können (das Hammer- und
Nagel-Argument). Subatomare Teilchen haben viele technische Anwendungen, von der Solarenergie (Photo-Effekt) über radioaktive Marker in der Medizin bis zur Quantenkryptographie. Die Neutrinos haben es noch nicht zur industriellen Anwendung gebracht, aber doch bis zum Werkzeug in Streuexperimenten. Dabei ist die Struktur der subatomaren Wirklichkeit so fremdartig für uns, dass wir bis heute nicht eindeutig sagen können, in welchem Sinne die subatomaren Teilchen denn nun eigentlich real sind. An der Quantentheorie scheitert der traditionelle Begriff eines Objekts mit wohldefinierten raumzeitlichen Eigenschaften. Wir können subatomaren Teilchen nicht zugleich Ort und Geschwindigkeit zusprechen. Wir können ihre Bahn in Raum und Zeit nicht lückenlos verfolgen, denn nach Heisenbergs Unschärferelation gibt es keine solche Bahn. Zugleich scheitert hier traditionelle philosophische Vorstellungen: der Substanzbegriff, nach dem allen Prozessen etwas Beharrliches mit wohldefinierten Eigenschaften zugrunde liegt; sowie das Kausalprinzip, nach dem jede Wirkung ihre eindeutige Ursache hat, auch und gerade für einzelne Ereignisse.29 Beide traditionellen metaphysischen Prinzipien, die direkt in die klassische Physik mit ihrem Teilchenbegriff eingeflossen sind, versagen hier. Was ist dies für eine subatomare Realität, die weder aus Substanzen besteht noch sich nach dem Kausalprinzip richtet? Die Welle, die subatomare Teilchen beschreibt, ist nicht real, sondern nur eine Wahrscheinlichkeitsamplitude; doch die Teilchen haben keine Raum-Zeit-Bahn und keine wohldefinierten Objekteigenschaften, also keine Realität im üblichen Sinn. Wer aber versucht, die Quantentheorie umzudeuten oder anders zu fundieren, um von den klassischen Objekteigenschaften das zu retten, was immer sich retten lässt, der bezahlt einen hohen metaphysischen Preis. Die beiden populärsten Deutungen sind: • Die Vielwelten-Deutung nimmt an, dass bei jeder quantenmechanischen Mes-
sung alle Möglichkeiten realisiert werden. Bei einer Ortsmessung sind dies (nach der Theorie der reellen Zahlen) überabzählbar unendlich viele mögliche Welten, die alle gleichzeitig mit unserer Welt beim Ergebnis der Ortsmessung realisiert werden; und dies passiert andauernd – an jedem Messpunkt einer Teilchenspur. • Oder man nimmt verborgene Parameter an, die das Verhalten der Teilchen auf einer tieferen Wirklichkeitsebene steuern. Diese verborgenen Eigenschaften
29 Vgl. Ernst Cassirer: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik [1936]. Neuausgabe in: Werke Band 19, Hamburg 2004.
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sind jedoch nicht-lokal, was in Konflikt mit der Speziellen Relativitätstheorie steht. Dies ist fatal für die Quantenfeldtheorie, die man in der Teilchenphysik braucht; eine brauchbare solche Theorie mit verborgenen Parametern hat noch niemand vorgelegt. Die subatomaren Teilchen sind technisch manipulierbar, doch epistemisch unzugänglich. Die Realitätsvorstellung, die seit Beginn der Neuzeit vorherrschend war, scheitert an der subatomaren Wirklichkeit. Quanten-›objekte‹ sind keine Objekte. Sie sind eher so etwas wie nicht-lokale Ursachen mit lokalen Wirkungen. Doch diese nicht-lokalen Ursachen lassen sich mit tradierten philosophischen Begriffen nicht erfassen. Quanten-›objekte‹ sind weder Teilchen noch Wellen im klassischen Sinn. Sie sind eine Wirklichkeit, für die wir präzise mathematische Begriffe und physikalische Messverfahren haben, aber keine unumstrittene philosophische Deutung. Unsere Konstrukte versagen – dies ist eigentlich die philosophische Lehre, die man aus der Quantentheorie ziehen muss. Die Physiker haben hier mit ihrem Netz Fische an Land gezogen, die ihnen zugleich durch die Maschen des Wirkungsquantums entschlüpfen. Technisch sind subatomare Teilchen wunderbar verfügbar, d.h. nach Hackings Kriterium: Sie sind real. Quantenwellen und Quantenwahrscheinlichkeiten lassen sich experimentell präparieren, technisch manipulieren und für viele industrielle Anwendungen nutzen. Der einzelne Quantenprozess ereignet sich jedoch völlig unberechenbar. Er ist nur statistisch bestimmt. Ein statistisches Gesetz besagt nur für viele Ereignisse etwas, aber nicht für den Einzelfall. Einzelne subatomare Teilchen klicken dann und dort, wann und wo man es nicht erwartet. Sie sind und bleiben unbeherrschbar. Die Physiker können an dieser Realität nicht vorbei, und die Philosophen sollten dies akzeptieren.
Neue Experimente zu alten Fragen Libet, seine Nachfolger und der freie Wille M ICHAEL P AUEN
Philosophie und Experimente? Nicht nur auf den ersten Blick eine merkwürdige Kombination. Experimente, die werden von Naturwissenschaftlern und hin und wieder mal von Psychologen durchgeführt. In Experimenten geht es zudem um empirische Tatsachen, doch die spielen in der Philosophie eine untergeordnete Rolle. Philosophen befassen sich allenfalls mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Experimenten und darüber hinaus mit Normen und Begriffen. So zumindest scheint es. Tatsächlich aber gibt es eine Vielzahl von Belegen dafür, dass Experimente eine große Bedeutung auch für philosophisches Denken hatten. So ist etwa Descartes’ Vorstellung vom Körper als eine Maschine offenbar von Harveys Untersuchungen zum Blutkreislauf beeinflusst, Kants Theoretische Philosophie kaum denkbar ohne die newtonsche Physik und die Abwendung von dieser Physik ebenso wie von dem mit ihr verbundenen Weltbild hängt offenbar eng zusammen mit experimentellen Befunden, insbesondere den Michelson-Morley Experimenten. Einen kaum weniger überzeugenden Beleg für die Bedeutung experimenteller Untersuchungen für die Philosophie hat auch die Debatte über die Willensfreiheit geliefert, wie sie vor einigen Jahren im deutschen Feuilleton geführt worden ist. Vor allem am Beginn dieser Debatte stand bei vielen Autoren die Annahme, dass man mit der Hilfe von Experimenten bestimmte philosophische Fragen lösen kann, konkret, dass man bestimmte philosophische Thesen experimentell widerlegen kann. Interessant war diese Debatte auch deshalb, weil sie als Beispiel dafür taugt, zu zeigen, wo die Gemeinsamkeiten, aber auch die prinzipiellen Unterschiede zwischen philosophischer und empirischer Arbeit liegen. Gerade wenn Philosophen mit experimentell arbeitenden Wissenschaftlern zu-
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sammenarbeiten, dann dürfen die Grenzen nicht verschwimmen. Schließlich kann es ja nicht darum gehen, dass naturwissenschaftlich dilettierende Philosophen mit philosophisch dilettierenden Naturwissenschaftlern zusammenarbeiten – dabei würde wenig Gutes entstehen. Entscheidend ist vielmehr, dass man sich Klarheit über die besonderen Fähigkeiten beider Disziplinen, vor allem aber über die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede verschafft. Erst auf der Basis einer Kenntnis dieser Unterschiede kann man dann versuchen, gemeinsame Interessensfelder bzw. Themen zu identifizieren, bei denen eine Zusammenarbeit sinnvoll ist. Das Thema Willensfreiheit ist schließlich auch deswegen interessant, weil es zwei prinzipiell unterschiedliche Vorstellungen von Willensfreiheit gibt, von denen nur eine überhaupt als Gegenstand experimenteller Untersuchungen geeignet ist. Was damit gemeint ist, erkennt man an einer Äußerung des Psychologen Wolfgang Prinz zum Thema Willensfreiheit. Prinz ist ein wichtiger Experte im Bereich der Entscheidungsforschung. In seinem Labor wurde auch eine Reihe von Experimenten gemacht, die in den letzten Jahren sehr lebhaft diskutiert wurde. Bei ihm heißt es: »Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat und dass man diese Ursachen finden kann. Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, also nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist.«1
Schauen wir uns diese Äußerung etwas genauer an. Zunächst einmal glaube ich, dass Prinz in einer ganzen Reihe von Punkten recht hat. Natürlich geht Wissenschaft davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat. Es sind nämlich nicht zuletzt diese Ursachen, die wir in wissenschaftlicher Arbeit zu finden versuchen. Wir können nicht sicher sein, dass dieser Versuch immer erfolgreich ist. Aber als heuristische Annahme ist die von Prinz beschriebene Erwartung sicherlich sinnvoll – wenn es keine Ursachen gibt, braucht man sie schließlich auch gar nicht erst zu suchen. Prinz macht aber noch eine weitere Voraussetzung, und die kann man infrage stellen. Er unterstellt nämlich, dass Freiheit auf der Abwesenheit von Determination beruht. Würde man Prinz hier folgen, dann wäre Freiheit in der Tat kein interessanter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Man könnte dann näm-
1
Wolfgang Prinz: »Der Mensch ist nicht frei« (Interview), in: Das Magazin, 2, 2003, S. 18-20, hier S. 19.
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lich nur untersuchen, ob menschliche Handlungen determiniert sind oder nicht. Doch es ist zum einen mehr als unklar, ob es hier überhaupt einen schlüssigen experimentellen Nachweis geben kann. Und selbst wenn dies der Fall wäre, dann könnte man eben nur eine einzige Frage stellen und die auch nur entweder mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ beantworten – auf die Dauer kein besonders fruchtbares Feld für ernsthafte wissenschaftliche Arbeit. Weist man Prinz’ Unterstellung dagegen zurück und besteht darauf, dass sich Freiheit nicht einfach daran entscheidet, ob eine Handlung determiniert ist oder nicht, dann gibt es dagegen eine ganze Reihe von interessanten Fragen, die experimentell untersucht werden können. Man kann dann feststellen, unter welchen Bedingungen wir frei zu handeln vermögen, welche natürlichen Bedingungen Freiheit ermöglichen, welche sie einschränken und welche unterschiedlichen Grade von Freiheit es gibt. Kurz: Man kann Freiheit als eine natürliche Eigenschaft verstehen, die sich so untersuchen lässt wie andere menschliche Fähigkeiten auch. Ich werde im Folgenden für genau diese Position argumentieren. Natürlich kann man sich dabei nicht darauf berufen, dass man schönere Experimente machen kann, wenn man Freiheit als eine natürliche Eigenschaft versteht, die auch in einer determinierten Welt möglich ist. Vielmehr gibt es handfeste philosophische Argumente, die für diese Position sprechen. Doch: Was sind denn hier überhaupt die entscheidenden philosophischen Fragen und wie unterscheiden sie sich von den empirischen Problemen, die sich mit experimentellen Verfahren untersuchen lassen? Wie anfangs bereits erwähnt, begann die neuere Debatte über die Willensfreiheit mit der Annahme, das alte philosophische Freiheitsproblem könne heute mit neuen empirischen Verfahren gelöst werden. Dummerweise, so die Behauptung vieler Wissenschaftler, sei das Ergebnis allerdings, dass es Freiheit nun einmal nicht gäbe. Einer der Fehler dieser Argumentation besteht darin, dass sie zwei unterschiedliche Aspekte des Freiheitsproblems miteinander vermengt, nämlich die philosophische und die empirische Seite dieses Problems. Philosophisch geht es um die Frage, was wir meinen, wenn wir von Freiheit sprechen. Was also sind die Maßstäbe, was die Kriterien für eine freie Handlung? Diese Fragen kann man nicht in einem Experiment beantworten, hier kommen theoretische Überlegungen ins Spiel. Und erst wenn man diese Frage beantwortet hat, wenn man also weiß, was die entscheidenden Kriterien sind, durch die sich freie von unfreien Handlungen unterscheiden, erst dann kann man beginnen, sich Experimente zu überlegen, in denen untersucht wird, unter welchen Bedingungen Menschen frei oder nicht frei handeln – wann sie also diese Kriterien erfüllen und wann nicht. Wenn man das nicht weiß, dann weiß man auch nicht, was man untersuchen soll.
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Doch das Verhältnis von Philosophie und experimenteller Wissenschaft besteht nicht einfach darin, dass die Philosophen den Wissenschaftlern Begriffe und Kriterien vorgeben. Vielmehr müssen Philosophen auch daran interessiert sein, zu erfahren, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen Menschen diese Kriterien erfüllen. Wann also handeln wir frei und wann nicht? Und welche unterschiedliche Arten und Grade von Freiheit gibt es? Außerdem können in solchen Untersuchungen Erkenntnisse gewonnen werden, die eine Weiterentwicklung auch der begrifflichen Unterscheidungen notwendig machen. Normen und Begriffe, Philosophie und Empirie sind also längst nicht so weit voneinander entfernt, wie man das auf den ersten Blick vermuten könnte – auch deshalb ist das Verhältnis von Philosophie und Experiment interessant. Mein Aufsatz hat drei Teile. Ich werde im ersten Teil das Verhältnis von Freiheit und Determination behandeln, werde im zweiten Teil das Problem der alternativen Handlungsmöglichkeiten diskutieren und dann im dritten Teil etwas ausführlicher auf einige Experimente eingehen, die in den letzten Jahren gemacht worden sind. Meine Schlussfolgerung wird sein, dass Freiheit und Determination miteinander vereinbar sind und dass sich aus den neueren Experimenten keine Widerlegung der Freiheit ableiten lässt.
F REIHEIT
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Zunächst zum Thema Freiheit und Determination. Was macht man eigentlich, wenn man eine philosophische Untersuchung zum Thema Freiheit anstellt? Entscheidend ist dabei der Versuch, möglichst genau zu erfassen, wie wir diesen Begriff benutzen und welche Kriterien oder welche Maßstäbe die Verwendung dieses Begriffs im Alltag bestimmen. Festgestellt werden soll also, unter welchen Bedingungen wir im Alltag davon ausgehen, dass eine Handlung frei ist. Das Ziel einer solchen Untersuchung ist es, einen möglichst klaren und kohärenten Begriff von Freiheit zu entwickeln, der unseren vorwissenschaftlichen oder alltagssprachlichen Annahmen so weit wie eben möglich gerecht wird. Hierbei taucht jedoch ein offensichtliches Problem auf: Wenn man nämlich überhaupt eine solche philosophische Untersuchung benötigt, dann kann der Alltagsbegriff ja nicht besonders klar sein – möglicherweise ist er sogar widersprüchlich. Doch wie können Philosophen dann überhaupt einen klaren und nicht widersprüchlichen Begriff von Freiheit entwickeln, ohne sich sehr weit von dem unklaren und widersprüchlichen Alltagsbegriff zu entfernen? Ich glaube, dass dieses Dilemma in vielen anderen Fällen sicherlich besteht. Wenn es jedoch um das Problem der Freiheit geht, dann gibt es einen eleganten Ausweg, um trotz-
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dem zu einem kohärenten Begriff von Freiheit zu kommen. So uneinig wir uns nämlich dann sind, wenn es um die Frage nach den hinreichenden Bedingungen von Freiheit geht: Bei den notwendigen Bedingungen, genauer, bei den Grenzen, unterhalb derer man sicher nicht mehr von Freiheit sprechen kann, sind wir uns vergleichsweise einig. Anders ausgedrückt: Wenn man fragt, was Menschen unter Freiheit verstehen, wird man sicherlich sehr viele verschiedene und widerspruchsvolle Antworten bekommen. Aber wenn man fragt, unter welchen Bedingungen man ganz sicher nicht mehr von Freiheit sprechen kann, welche Bedingungen die Existenz von Freiheit ausschließen, dann sind diese Unterschiede überraschend klein. Und genau hier setzt meine Strategie an. Ich versuche also, aus vergleichsweise klaren Vorstellungen über die Grenzen von Freiheit einen kohärenten und adäquaten Begriff von Freiheit zu entwickeln. Da dieser Begriff allerdings auf zwei Minimalbedingungen basiert, wird sich später die Frage stellen, ob er nicht zu schwach ist. Ich werde dieser Frage im zweiten Teil dieses Papiers nachgehen und dabei zu zeigen versuchen, dass dies nicht der Fall ist. Urheberschaft und Autonomie Letztlich geht es hier um zwei Punkte. Der erste ist, dass wir Freiheit in jedem Fall gegen Zwang oder externe Determination abgrenzen. Wenn man also wüsste, dass eine Person unter Zwang gehandelt hat, würde man nicht sagen, dass die Person frei war. Erzwungene, extern determinierte Taten sind nicht frei, für sie würde man den Handelnden auch nicht verantwortlich machen. Bezeichnet man die Abwesenheit von Zwang und externer Determination als Autonomie, dann benötigt Freiheit also in jedem Falle Autonomie. Zweitens grenzen wir freie Handlungen auch ab gegen zufällige Geschehnisse. Wenn also ein Angeklagter in einem Prozess deutlich machen kann, dass nur eine zufällige neuronale Entladung in seinem Motorkortex dazu geführt hat, dass sein Finger den Abzug der Pistole betätigt hat, dann dürfte er ganz gute Chancen auf mildernde Umstände haben, zumindest, was den Schuss betrifft. Dass er die Pistole in der Hand und auf das Opfer gerichtet hatte, dafür wäre er damit natürlich noch nicht entschuldigt. Fest steht in jedem Fall, dass wir niemanden für Zufälle verantwortlich machen können. Doch was ist der Unterschied zwischen einem zufälligen Geschehnis und einer verantwortlichen oder freien Handlung? Der entscheidende Unterschied ist, dass eine verantwortliche, freie Handlung einer Person zugeschrieben werden kann bzw. von ihr hervorgebracht wurde. Nur weil es eine solche enge Verbindung zwischen der Person und der Handlung gibt, weil also die Person als Urheberin der Handlung betrachtet werden kann, vermögen wir, sie auch für ihre
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Handlung zur Rechenschaft zu ziehen. Damit haben wir ein zweites notwendiges Merkmal von Freiheit, nämlich die Urheberschaft. Freiheit als Selbstbestimmung Insgesamt verfügen wir damit über zwei Kriterien: Die Autonomie grenzt Freiheit von Zwang und äußerer Determination ab, die Urheberschaft dient der Unterscheidung von Freiheit und Zufall. Beiden Kriterien kann man gut gerecht werden, wenn man Freiheit als Selbstbestimmung versteht. Selbstbestimmung impliziert unmittelbar eine Abgrenzung gegenüber Zwang und externer Determination. Bei einer erzwungenen oder extern determinierten Handlung würden wir eben nicht mehr von Selbst-, sondern von Fremdbestimmung sprechen. Selbstbestimmung entspricht also dem Autonomieprinzip. Gleichzeitig wird sie aber auch dem Prinzip der Urheberschaft gerecht und entspricht damit der Unterscheidung von Freiheit und Zufall. Selbstbestimmung bedeutet nämlich, dass die Handlung durch die Person selbst, d.h. durch ihren Urheber, bestimmt worden ist – andernfalls würde man sagen, dass die Handlung unbestimmt war. Es sieht also so aus, als könnte man die wesentlichen vorwissenschaftlichen Bedingungen von Freiheit, nämlich Urheberschaft und Autonomie, ganz gut erfassen, wenn man Freiheit als Selbstbestimmung versteht. Doch was heißt das? Nehmen wir einmal an, ich wäre fest davon überzeugt, dass Diebstahl verwerflich ist, und es hinge faktisch auch von dieser Überzeugung ab, dass ich in einer bestimmten Situation bezahlt und nicht gestohlen habe. Diese Überzeugung würde also verständlich machen, dass ich so und nicht anders gehandelt habe. In diesem Falle könnte man sagen, dass ich selbstbestimmt oder auch frei gehandelt habe, gleichzeitig wäre ich für diese Handlung auch verantwortlich. Selbstbestimmung heißt also, dass eine Handlung von den Wünschen, Überzeugungen und sonstigen Einstellungen abhängig ist, die wirklich konstitutiv für eine Person sind. Sie dürfen der Person nicht aufgezwungen sein, vielmehr muss die Person fähig sein, sich von ihnen zu lösen, sofern sie dies will. Schränkt Determination Freiheit ein? Viele Philosophen und auch Wissenschaftler würden hier allerdings einwenden, dass unsere Intuitionen in Bezug auf Freiheit damit nicht erfüllt seien. Unsere Intuitionen von Freiheit, so würden sie argumentieren, erforderten mehr als diese notwendigen Bedingungen. Sie verlangten insbesondere, dass eine Handlung bzw. die ihr zugrunde liegende Entscheidung eben nicht nur selbstbestimmt in
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dem gerade genannten Sinne ist, vielmehr muss sie auch unabhängig von äußeren Determinanten sein, also z. B. unabhängig von Naturgesetzen. Die Vorstellung von Selbstbestimmung, die ich gerade erläutert habe, verlangt eine solche Unabhängigkeit nicht. Sie lässt es zu, dass eine Handlung determiniert ist. Verlangt wird nur, dass die Handlung durch die Person selbst determiniert oder zumindest bestimmt2 ist. Wenn es also durch mich determiniert ist, dass ich bezahlt und nicht gestohlen habe, dann schränkt dies meine Fähigkeit, mich bzw. meine Handlung selbst zu bestimmen, nicht ein. Ganz im Gegenteil! Stellen Sie sich vor, diese Determination durch meine eigenen Überzeugungen würde aufgehoben. Dann bestünde die Gefahr, dass ich etwas tue, was meinen innersten Überzeugungen widerspricht. Es könnte also passieren, dass ich stehle und gerade nicht bezahle, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass Diebstahl verwerflich ist. Die Selbstbestimmung wird auf diese Weise sicherlich nicht gestärkt. Dies wirft bereits die Frage auf, ob die Aufhebung von Determination wirklich ein sinnvolles Kriterium von Freiheit darstellt. Oder umgekehrt: Schränkt Determination die Freiheit ein? Schauen wir uns dazu einen weiteren, sehr naheliegenden Einwand an. Diesem Einwand zufolge ist es zwar für Freiheit völlig unproblematisch, wenn eine Handlung durch mich determiniert ist, aber ich selbst darf bzw. meine eigenen Überzeugungen dürfen nicht determiniert sein. Insbesondere dann, wenn sie durch Naturgesetze oder Ereignisse vor meiner Geburt festgelegt würden, dann hätten wir doch Fremdbestimmung in Reinform! Denn dann könnten meine Handlungen durch Prozesse oder durch Ereignisse festgelegt sein, die lange vor meiner Geburt stattgefunden haben. Dann hätte sozusagen schon bei Christi Geburt oder beim Urknall festgestanden, wie ich heute handle. Wie aber kann ich dann noch für mein Tun verantwortlich sein? Das wäre dann doch durch Ereignisse festgelegt, auf die ich selbst überhaupt keinen Einfluss habe.3 Diese Argumentation ist sehr suggestiv. Ich glaube dennoch, dass sie falsch ist. Man kann diese Fehler zum einen in recht komplizierten theoretischen Argumenten nachweisen. Das habe ich an anderer Stelle getan.4 Es gibt aber zum
2
Ich unterstelle dabei, dass die Bestimmung einer Handlung nicht deterministisch sein
3
Vgl. hierzu Peter Van Inwagen: »The Incompatibility of Free Will and Determinism«,
muss, also einen kleineren Grad von Unbestimmtheit zulässt. in: Gary Watson (Hg.): Free Will, Oxford/New York 1982, S. 46-58; ders.: An Essay on Free Will, Oxford 1983; ders.: »Free Will Remains a Mystery.«, in: Robert Kane (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002, S. 158-177. 4
Michael Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004; ders.: »Freiheit: Eine Minimalkonzeption«, in:
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anderen auch wesentlich einfachere, intuitiv plausible Überlegungen, mit denen man die Fehler dieser Argumentation offenlegen kann. Wäre meine Freiheit nämlich wirklich dadurch eingeschränkt, dass meine Handlungen von Ereignissen vor meiner Geburt abhängen, dann müsste ja die Aufhebung dieser Abhängigkeit zu einem Gewinn an Freiheit führen. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall. Es mag sein, dass die Aufhebung der Abhängigkeit von Ereignissen vor meiner Geburt irgendwelche Freiheitsspielräume schafft – aber ich werde sie nicht nutzen können, denn ich existiere ja vor meiner Geburt nicht. Kann ich sie nachher nutzen? Das hängt von den konkreten Ereignissen ab – nicht jedoch davon, ob sie determiniert oder nicht determiniert sind. So könnte es etwa per Zufall zu einem genetischen Defekt kommen, der meine Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt. Genauso könnten in einer determinierten Welt vor meiner Geburt sämtliche Voraussetzungen für ein Maximum an Freiheit und Selbstbestimmung geschaffen werden, materieller Wohlstand, eine optimale Beziehung, größte Handlungsspielräume etc. Hieraus ergibt sich ein allgemeiner Punkt. Meine Freiheit kann direkt nur gesteigert oder beeinträchtigt werden unmittelbar durch Ereignisse oder Prozesse, die sich zum Zeitpunkt oder im unmittelbaren Umkreis meiner Handlungen vollziehen. Natürlich kann es sein, dass Ereignisse 200 Jahre vor meiner Geburt indirekt dazu führen, dass meine Freiheitsspielräume nach meiner Geburt eingeschränkt werden, z. B. dass ich in eine psychische oder physische Abhängigkeit gerate, die meine Freiheit entscheidend einschränkt. Aber die Einschränkung der Freiheit ist eben nicht vor 200 Jahren passiert, sondern geschieht in dem Moment, in dem die psychische Abhängigkeit eine konkrete Entscheidung beeinträchtigt. Und diese Beeinträchtigung besteht, egal wie lang oder kurz die vorausgehende Kausalkette war. Umgekehrt ist das Ereignis 200 Jahre vor meiner Geburt für die Freiheit völlig irrelevant, solange es nicht einen Einfluss auf Geschehnisse und Faktoren gewinnt, die zum Zeitpunkt meines Handelns wirksam werden. Zwar ist damit gezeigt, dass die Freiheit einer Handlung nicht schon durch die Abhängigkeit von Ereignissen eingeschränkt werden kann, die vor der Geburt des Handelns stattgefunden haben. Es ist jedoch noch nicht gezeigt, dass Freiheit generell nicht durch die Aufhebung der Determination profitieren kann.
Friedrich Hermanni, Peter Koslowski (Hg.): Der freie und der unfreie Wille, München 2004, S. 79-112; ders.: »Keine Freiheit in einer determinierten Welt? Neurowissenschaftliche Erkenntnis und das menschliche Selbstverständnis«, in: Eve M. Engels, Elisabeth Hildt (Hg.): Neurowissenschaften und Menschenbild, Paderborn 2005, S. 171-195.
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Möglicherweise haben wir bislang einfach nur den falschen Zeitpunkt ausgewählt. Viele Autoren sind der Ansicht, dass es nicht auf irgendwelche lange vorherliegenden Bedingungen ankommt. Vielmehr sei es der Entscheidungsprozess selbst, der nicht determiniert sein dürfe. Innerhalb eines solchen Prozesses müsse es zumindest einen Moment geben, in dem offen ist, ob die Entscheidung so oder anders ausfällt. Stellen Sie sich also vor, Sie haben noch eine Woche Zeit für die Entscheidung, ob Sie Philosophie oder Jura studieren wollen. Ihr Vater ist Jurist, und Sie haben immer nur davon geträumt, Jura zu studieren, um anschließend Rechtsanwalt zu werden. Aber Sie haben auch hin und wieder davon gehört, dass Philosophie ganz interessant ist. Nehmen wir nun der Einfachheit halber an, Sie würden in der ersten Hälfte dieser Woche die Argumente erwägen, die dafür sprechen, Jura zu studieren; in der zweiten Wochenhälfte widmen Sie sich dann den Argumenten, die zugunsten eines Philosophiestudiums angeführt werden können. Und in der Mitte dieser Woche haben wir eben diesen Moment, in dem alles völlig offen ist. Was hätte das für Konsequenzen? Die Konsequenz wäre, dass all die Argumente wirkungslos werden, die Sie in der ersten Hälfte der Woche zugunsten eines Jurastudiums erwogen haben – obwohl dies die Gesichtspunkte sind, die ihre ureigensten Interessen und Wünsche widerspiegeln. Zum Zuge kommen dann nur die Argumente, die in der zweiten Hälfte der Woche erwogen werden, und so werden Sie sich dann vermutlich für die Philosophie entscheiden, obwohl ihr Herz eigentlich für Jura schlägt. Mit einer selbstbestimmten Entscheidung hätte dies also wenig zu tun – meine Fähigkeit, im Sinne meiner eigenen Wünsche und Überzeugungen zu handeln, würde vielmehr gravierend eingeschränkt. Oder stellen Sie sich eine Anhörung im Bundestag vor. In der ersten Hälfte der Woche kommen die Experten zu Wort, die dafür sind, die deutschen Banken noch einmal mit 500 Milliarden zu unterstützen, danach die Gegner einer solchen Entscheidung. Wiederum wäre das, was in der ersten Hälfte der Woche diskutiert worden ist, und auch alle vorausgegangene Erfahrung, völlig wirkungslos. Man würde einfach noch einmal bei Null anfangen. Offenbar kann so einfach kein rationaler Entscheidungsprozess aussehen. Man kann daher durch einen solchen Nullpunkt innerhalb eines Entscheidungsprozesses nicht an Freiheit und Selbstbestimmung gewinnen, zumindest solange man Freiheit und Selbstbestimmung nicht mit Ahnungslosigkeit verwechselt. Was dadurch entsteht, ist einfach nur ein Mehr an Unbestimmtheit und letztlich ein Verlust an Kontrolle. Und auch deshalb kann man durch die Aufhebung von Determination keine Steigerung von Freiheit erreichen.
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Schlussfolgerungen Wenn das so ist, dann kann man hier einige erste Schlussfolgerungen ziehen. Wenn selbstbestimmte Handlungen freie Handlungen sind, dann kann – so habe ich bereits argumentiert – auch eine determinierte Handlung frei sein, sofern sie durch die Person determiniert ist. Gemeint ist damit, dass die Handlung von den Überzeugungen, Wünschen und sonstigen Einstellungen abhängig ist, die wirklich konstitutiv für die Person selbst sind. Eine Aufhebung der Determination, so hat sich herausgestellt, würde keinen Gewinn an Freiheit bringen, sondern einen Gewinn an Zufall, und damit zu einem Verlust von Kontrolle führen, weil es wahrscheinlicher würde, dass die Person eine Handlung vollzieht, die ihren eigenen Überzeugungen und Wünschen widerspricht. Eine Aufhebung von Determination würde also auch den Einfluss der eigenen Wünsche und Überzeugungen auf eine Entscheidung oder Handlung verringern. Entscheidend wäre daher nicht, ob eine Handlung determiniert ist oder nicht, entscheidend wäre vielmehr, ob sie durch die Wünsche und Überzeugungen der Person bestimmt wird oder eben durch irgendwelche äußeren Umstände. Wenn sie durch die Wünsche und Überzeugungen der Person bestimmt wird, dann ist sie selbstbestimmt und damit frei. Wichtig ist außerdem, dass es unter den skizzierten Bedingungen keine Rolle spielt, ob die Überzeugungen und Wünsche sowie die Entscheidungsprozesse selbst materiell realisiert sind oder nicht. Ich möchte hier nicht auf die Frage eingehen, ob Bewusstseinsprozesse faktisch mit neuronalen Prozessen identifiziert werden können oder nicht. Genauso wenig möchte ich etwas darüber sagen, ob unsere Welt determiniert ist oder nicht. Das sind keine Fragen für Philosophen, sondern Tatsachenfragen, die von Naturwissenschaftlern beantwortet werden müssen. Philosophisch interessant ist allein die Frage, ob die begrifflichen Kriterien von Freiheit mit Determination vereinbar sind und ob sie eine materielle Realisierung geistiger Prozesse zulassen. Die erste Frage, so hatte ich bereits argumentiert, müssen wir mit ›Ja‹ beantworten, und auch die zweite Frage, so möchte ich jetzt zeigen, verdient eine positive Antwort. Wenn unsere Entscheidungen, unsere Wünsche und Überzeugungen und auch alle anderen daran beteiligten kognitiven Prozesse materiell realisiert sind, dann schränkt dies unsere Freiheit nicht ein. Vielmehr stellt dann die materielle Realisierung z. B. einer Überzeugung die Bedingung dafür dar, dass die Überzeugung in einem Entscheidungsprozess wirksam wird. Ebenso stellen die neuronalen Prozesse, die dem Entscheidungsprozess zugrunde liegen, die Bedingung dafür dar, dass dieser über-
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haupt stattfinden kann. Die materiellen Prozesse würden somit also die Freiheit nicht einschränken, sondern sie ganz im Gegenteil überhaupt erst ermöglichen. Völlig verfehlt wäre unter diesen Bedingungen die Behauptung, die Entscheidung sei nicht von mir, sondern von »meinen Neuronen« getroffen worden. Wenn meine Entscheidungsprozesse, meine Wünsche und Überzeugungen, wenn alles, was mich ausmacht, neuronal realisiert ist, dann bin ich es, der die Entscheidung getroffen hat. Und wenn die Entscheidung die zuvor genannten Kriterien von Selbstbestimmung erfüllt, dann wäre sie eine freie Entscheidung. Es käme also nur darauf an, dass die Handlung tatsächlich von den Überzeugungen und Wünschen bestimmt wird, die mich ausmachen, und wenn diese Überzeugungen und Wünsche sowie die Entscheidungsprozesse selbst nun einmal materiell realisiert sind, dann würde diese materielle Realisierung diese Entscheidungsprozesse nicht einschränken, sondern überhaupt erst ermöglichen – so, wie die Hardware das Arbeiten des Computers möglich macht.
E IN
ANSPRUCHSVOLLERER
B EGRIFF VON F REIHEIT ?
Alternative Handlungsmöglichkeiten Die bisherigen Überlegungen basierten auf zwei Minimalbedingungen von Freiheit, nämlich Urheberschaft und Autonomie. Dies hat den entscheidenden Vorteil, dass die Kriterien einigermaßen unumstritten und klar sind, gleichzeitig stellt sich aber die Frage, ob eine solche Konzeption hinreichend anspruchsvoll ist, um wirklich zu erfassen, was mit Freiheit gemeint ist, zumal die hier behauptete Vereinbarkeit von Freiheit und Determination ja alles andere als unumstritten ist. Ich möchte dieser Frage im Folgenden nachgehen. Eine besondere Rolle wird dabei das Problem der alternativen Handlungsmöglichkeiten spielen. Üblicherweise gehen wir nämlich davon aus, dass eine Person, die sich für Handlung A entscheidet, nur dann frei ist, wenn sie auch anders handeln kann, also eine Alternative B hat. Dabei kann B einfach im Unterlassen von A bestehen. Ich glaube, dass diese Forderung sehr sinnvoll ist. Eine der wesentlichen Implikationen von Freiheit ist, dass sie Verantwortung für die in freier Entscheidung vollzogene Tat begründet. Wer in freier Entscheidung eine Norm verletzt, ist für diese Normverletzung auch verantwortlich. Doch wenn er gar nicht anders handeln konnte, dann hätte er auch diese Norm gar nicht einhalten können. Sieht man mal von einigen umstrittenen Spezialfällen ab, dann kann man niemanden für die Verletzung von Normen verantwortlich machen, die er nicht einhalten
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konnte. Doch genau das würde passieren, wenn wir von Freiheit und damit von Verantwortung sprechen würden, ohne gleichzeitig auch alternative Handlungsmöglichkeiten zu verlangen. Das Problem dabei scheint nun aber zu sein, dass es in einer determinierten Welt solche Alternativen eben nicht gibt, weil dort eben alles schon längst festliegt. Es liegt daher sehr nahe, zu unterstellen, dass es wirkliche Alternativen nur in einer nicht-determinierten Welt gibt. Stellen Sie sich vor, ich stehe in Berlin vor dem Bahnhof und überlege mir, ob ich mit dem Zug fahre oder das Auto nehme. Einer extrem verbreiteten Vorstellung zufolge habe ich nur dann eine echte Alternative, wenn es im Verlaufe meines Entscheidungs- oder Handlungsprozesses einen Punkt gibt, an dem sowohl das eine als auch das andere möglich ist, und zwar ganz unabhängig von meinen Überzeugungen, meiner Vorgeschichte, meinen Wünschen usw. Wenn das so ist, dann wäre tatsächlich der Begriff von Freiheit oder Selbstbestimmung, den ich zuvor entwickelt habe, unzureichend, denn dieser Begriff von Freiheit lässt es ja zu, dass eine freie Handlung determiniert ist. Das aber würde bedeuten, dass man eine Person für Handlungen verantwortlich machen würde, auch wenn sie keine Handlungsalternativen hatte. Das aber scheint extrem unplausibel zu sein. Der einzig denkbare Ausweg, so scheint es, ist daher doch ein anspruchsvollerer Freiheitsbegriff, der die Forderung nach Indetermination mit einschließt und damit die Existenz von alternativen Handlungsmöglichkeiten sichert. Doch ist dies tatsächlich die einzige Option, die wir hier haben? Dies wäre nur dann der Fall, wenn es echte Handlungsalternativen nur in einer nichtdeterminierten Welt gäbe. Die Annahme erscheint extrem plausibel – doch ist sie wirklich so unangreifbar, wie sie auf den ersten Blick erscheint? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass dies nicht zutrifft. Die Annahme basiert ihrerseits auf der Voraussetzung, dass von echten Alternativen nur dann die Rede sein kann, wenn unter exakt identischen Bedingungen sowohl die eine als auch die andere Handlungsalternative offensteht. Doch wenn es wirklich unter identischen Umständen möglich sein soll, dass ich sowohl das eine als auch das andere tue, und wenn mit identischen Umständen jetzt gemeint ist, dass nicht nur die äußeren Umstände gleich sein müssen, sondern auch meine eigenen Überzeugungen, dann heißt dies doch nichts anderes, als dass es unabhängig von meinen eigenen Überzeugungen möglich sein soll, dass ich sowohl das Auto als auch den Zug nehme, oder dass ich sowohl bezahle, als auch stehle. Dann aber wäre meine Handlung nicht mehr von meinen Überzeugungen festgelegt. Gleichzeitig würde die Forderung nach Urheberschaft verletzt, die ja darin besteht, dass die Handlung von den Wünschen und Überzeugungen des Urhebers abhängen muss.
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Streng genommen kann man unter diesen Umständen nicht mehr sagen, dass ich eine bestimmte Handlung vollzogen habe. Vielmehr hängt das, was da passiert, letztlich nur vom Zufall ab. Schon allein deswegen ist das ganz offensichtlich kein sinnvolles Verständnis von alternativen Handlungsmöglichkeiten. Auch in diesem Szenario gewinne ich durch die Aufhebung der Determination keine echten Handlungsmöglichkeiten hinzu, vielmehr verliere ich zuvor bestehende Optionen, weil das, was passiert, nicht von mir und meinen eigenen Überzeugungen abhängt, sondern vom Zufall. Doch wenn man diese Interpretation zurückweist – was ist dann ein sinnvolles Verständnis von alternativen Handlungsmöglichkeiten? Eine echte Alternative, entweder A oder B zu tun, habe ich doch offenbar dann, wenn es von mir abhängt, ob jetzt A oder B zustande kommt. Und was sollte die Forderung, dass es von mir abhängt, anderes heißen, als dass es von meinen eigenen Überzeugungen und Wünschen abhängt – und nicht von irgendwelchen Rahmenbedingungen und schon gar nicht vom Zufall. Die Umstände müssen also beide Optionen zulassen, und ich muss in der Lage sein, beide wahrzunehmen. Schauen wir uns das noch ein wenig genauer an. Ich hatte oben gesagt, dass Freiheit als Selbstbestimmung zu verstehen ist. Selbstbestimmung heißt, dass es nur von mir, von meinen eigenen Wünschen und Überzeugungen abhängt, ob ich das eine oder das andere tue. Wenn es nur von meinen eigenen Überzeugungen abhängen darf, ob ich das eine oder andere tue, dann muss ich sowohl das eine als auch das andere tun können. Umgekehrt: Wenn ich etwas nicht tun kann, dann hängt es eben auch nicht von meinen Überzeugungen ab, dass ich es tun werde, sondern von den Umständen, die für meine Unfähigkeit verantwortlich sind. Wenn eine Handlung also wirklich selbstbestimmt ist, dann hat die handelnde Person echte Alternativen: Sie kann die eine Option wählen, aber sie kann sich auch für die andere entscheiden. Und das bedeutet: Egal wofür sie sich letztlich entscheidet – man kann im Nachhinein immer sagen, dass sie auch die andere Option hätte wählen und ausführen können. Ob ich es tun werde, hängt von meinen Wünschen und Überzeugungen ab – und die können so sein, dass ich bestimmte Dinge nie tun werde, ja meine Wünsche und Überzeugungen können dies determinieren. Ich persönlich hoffe jedenfalls, dass ich ein paar verwerfliche Dinge niemals tun werde – nicht aus Zufall, sondern weil ich überzeugt bin, dass diese Dinge verwerflich sind. Dennoch könnte ich zumindest einige von ihnen tun, aber ich will es eben nicht. Auf diese Weise lässt sich ein sinnvolles Verständnis von alternativen Handlungsmöglichkeiten entwickeln, das einerseits die Urheberschaft des Handelnden und damit auch die Bindung der Handlung an die Wünsche und Überzeugungen
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ihres Urhebers sichert, andererseits aber gewährleistet, dass echte Alternativen zur Verfügung stehen. Außerdem ist dieses Verständnis unmittelbar an das obige Verständnis von Willensfreiheit gebunden: Willensfreiheit, als Selbstbestimmung verstanden, impliziert die Existenz alternativer Handlungsmöglichkeiten. Schließlich wird auf diese Weise auch der Unterschied zwischen Dingen, die man nicht tun kann, und Dingen, die man nicht tun wird, klar bestimmt. Nur wenn man diese Lesart von alternativen Handlungsmöglichkeiten akzeptiert, kann man verständlich machen, warum es Dinge gibt, die man zwar tun kann, aber niemals tun wird, und zwar deshalb, weil man sie nicht tun will. Akzeptiert man dagegen das anfangs skizzierte, auf Indetermination beruhende Verständnis von alternativen Handlungsmöglichkeiten, gibt es diese Option nicht. Die Forderung nach alternativen Handlungsmöglichkeiten stellt also die zuvor skizzierte Konzeption von Freiheit als Selbstbestimmung nicht infrage, vielmehr bietet diese Konzeption umgekehrt einen Schlüssel zur Lösung auch des Problems der alternativen Handlungsmöglichkeiten. Das bedeutet überdies, dass es alternative Handlungsmöglichkeiten auch in einer determinierten Welt geben kann. Ganz ähnlich wie bei der Frage nach der Freiheit kommt es auch beim Problem der alternativen Handlungsmöglichkeiten nicht darauf an, ob eine Handlung determiniert ist oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob es von mir abhängt, dass diese und nicht eine andere Handlung ausgeführt wird. Nur wenn das der Fall ist, kann man von Selbstbestimmung sprechen, doch wenn man dies tun kann, dann habe ich auch zwei echte Alternativen – nämlich die beiden Handlungsoptionen, zwischen denen ich wähle oder gewählt habe. Akzeptiert man das hier skizzierte Bild zumindest in seinen Grundzügen, dann ergibt sich eine weitere wichtige Konsequenz: Man kann Freiheit nämlich als eine »natürliche Eigenschaft« verstehen, d.h. als eine Eigenschaft ähnlich der Fähigkeit zu rechnen, zu lesen oder zu laufen. Alle diese Eigenschaften werden erlernt und irgendwann verlernen wir sie auch wieder, sie treten daher in unterschiedlichen Graden auf und es gibt sie auch in verschiedenen Varianten: Der eine kann besser, der andere weniger gut rechnen; einer kann besonders gut multiplizieren, der andere hat seine Stärken im Kopfrechnen. Alle diese Eigenschaften haben zudem eine natürliche Grundlage, und in einigen Fällen verstehen wir den Zusammenhang zwischen der menschlichen Fähigkeit und ihrer natürlichen Grundlage schon ganz gut. In jedem Falle würde es niemandem in den Sinn kommen, die Existenz dieser Fähigkeiten infrage zu stellen, nur weil wir sie auf eine bestimmte natürliche Grundlage zurückführen können – niemand würde also behaupten, dass man nur dann von wirklichem Rechnen sprechen kann, wenn zu den neuronalen Prozessen, in denen die Berechnungen ablaufen, noch etwas hinzukommt, was durch diese neuronalen
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Prozesse nicht festgelegt wird und auch mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften nicht zu erklären ist. Wenn ich die Fähigkeit zu freiem Handeln als eine natürliche Eigenschaft bezeichne, dann meine ich damit, dass all dies auch für die Willensfreiheit gilt: Die Fähigkeit, frei zu handeln, kann man also erlernen und wieder verlernen, man kann sie in unterschiedlichen Graden besitzen und sie tritt in unterschiedlichen Varianten auf: Der eine kann sich hier, der andere dort besonders gut selbstbestimmt verhalten. All dies hat eine natürliche, genauer: eine biologische Grundlage, und die empirischen Wissenschaften können herausfinden, unter welchen Bedingungen wir frei handeln, in welchem Grade unterschiedliche Menschen frei sind und wie genau der Zusammenhang zwischen den biologischen Prozessen im Gehirn und unseren im Alltag beobachteten Fähigkeiten ist.
E MPIRISCHE U NTERSUCHUNGEN Wenn man Freiheit als natürliche Eigenschaft versteht, dann entfällt also auch der von Wolfgang Prinz in dem obigen Zitat behauptete Gegensatz von Wissenschaft und Freiheit: Freiheit kann empirisch untersucht werden, und bei diesen Untersuchungen geht es nicht um die letztlich unproduktive »Alles oder nichts«-Frage, ob Freiheit denn nun existiert oder nicht bzw. ob unser Handeln determiniert ist oder nicht. Zur Diskussion steht vielmehr eine Vielzahl einzelner Probleme, die für sich genommen sicher weniger spektakulär sind als jenes Problem, doch auf die Dauer wird die Auseinandersetzung mit diesen Einzelproblemen sicher wesentlich mehr über uns verraten als die etwas aufgeregten Debatten über das metaphysische Freiheitsproblem. Natürlich möchte ich damit nicht ausschließen, dass wir uns vielleicht doch irren können. Es könnte sich herausstellen, dass Menschen niemals frei und verantwortlich handeln, doch es wäre äußerst merkwürdig, wenn wir uns bei der Einschätzung unserer Fähigkeiten so grundlegend irren würden. Immerhin ist die Zuschreibung von Willensfreiheit und Verantwortung ja nicht einfach eine mehr oder minder willkürliche Einschätzung wie die Vorstellung vom Menschen als einer »Krone der Schöpfung«, die man akzeptieren oder auch zurückweisen kann, ohne sich dabei groß auf Tatsachen berufen zu müssen. Unsere Vorstellungen von den menschlichen Handlungsfähigkeiten werden vielmehr ständig im Alltag überprüft. Wer seinen Mitmenschen zu viel oder zu wenig Verantwortung zuweist, wird schnell in Schwierigkeiten geraten – die Kindererziehung ist hier nur ein Beispiel, das Zusammenleben in einer Familie oder die Kooperation in einer Firma ein anderes.
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Doch warum sollten sich Philosophen für diese Fragen interessieren? Warum also sollten Philosophen an Experimenten zum Thema Willensfreiheit interessiert sein? Die Antwort fällt nicht schwer: Philosophen sollten natürlich daran interessiert sein, ob ihre Begriffe Bezug zur Realität haben. Immerhin ist ja einer der Gründe für die Bedeutung philosophischer Freiheitsbegriffe, dass diese auch Kriterien für die empirische Untersuchung von Freiheit liefern. Insofern spielt es aus Sicht der Philosophie in der Tat eine wichtige Rolle, ob Menschen die Kriterien erfüllen, die sich aus einem sinnvollen Begriff von Willensfreiheit ergeben. Genauer kommt es darauf an, unter welchen Bedingungen Menschen diese Kriterien erfüllen, wie sie die entsprechenden Fähigkeiten erwerben und verlernen und welche unterschiedlichen Varianten es gibt. Dabei geht es nicht nur um Neugier und den Realitätsbezug philosophischer Begriffsklärungen. Vielmehr können sich aus empirischen Untersuchungen neue und produktive philosophische Fragestellungen ergeben, etwa wenn sich herausstellt, dass es charakteristische Unterschiede in unserem selbstbestimmten Verhalten gibt, für die dann philosophische Maßstäbe entwickelt werden müssten. Wenn man die Debatte über bestimmte empirische Untersuchungen in den letzten Jahren verfolgt hat, könnten einem diese Ausführungen jedoch leicht als reichlich realitätsfremd erscheinen. Ging es in dieser Debatte nicht doch um erhebliche Zweifel an der Existenz von Willensfreiheit? Gab es nicht eine ganze Reihe von Untersuchungen, die Willensfreiheit fundamental infrage gestellt haben, statt sich mit unterschiedlichen Graden und Varianten von Freiheit aufzuhalten? Das nach wie vor bekannteste Experiment zum Problem der Willensfreiheit ist Anfang der 1980er Jahre von Benjamin Libet durchgeführt worden.5 Libet, ein amerikanischer Neurophysiologe mit starken dualistischen Intuitionen6, hatte das Ziel, nachzuweisen, dass menschliche Entscheidungen nicht auf physischen Prozessen basieren. Er hat dazu den Zusammenhang zwischen einer bestimmten neuronalen Aktivität, dem sogenannten Bereitschaftspotential, und dem bewussten Entschluss zu einer einfachen Bewegung untersucht.
5
Benjamin Libet: »Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action«, in: The Behavioral and Brain Sciences, 8, 1985, S. 529-539; ders. et al.: »Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activities (Readiness-Potential): The Unconscious Initation of a Freely Voluntary Act«, in: Brain, 106, 1983, S. 623-642.
6
Benjamin Libet: Mind Time. The Temporal Factor in Consciousness, Cambridge 2004; ders.: »A Testable Field Theory of Mind-Brain Interaction«, in: Journal of Consciousness Studies, 1, 1994, S. 119-126.
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Die Versuchspersonen hatten die Aufgabe, zu einem von ihnen frei wählbaren Zeitpunkt eine bestimmte Hand zu bewegen, außerdem sollten sie sich merken, wann sie den entsprechenden Entschluss gefasst hatten. Das war nicht allzu schwierig: Sie mussten sich dazu nur die Position eines rotierenden Punktes auf einem Computermonitor merken. Gleichzeitig stellte Libet mit einem Elektroenzephalogramm den Zeitpunkt des Auftretens des Bereitschaftspotentials fest. Seine Erwartung war dabei offenbar, dass die bewusste Entscheidung vor dem Bereitschaftspotential auftritt und daher als dessen Ursache verstanden werden kann. Seine Experimente zeigten jedoch, dass die Reihenfolge umgekehrt ist: Das Bereitschaftspotential trat nicht nach, sondern vor der bewussten Willensentscheidung auf, und zwar immerhin 350 msec vorher. Erst dann trafen die Versuchspersonen ihren bewussten Entschluss, und noch einmal 200 msec später, also etwa 550 msec nach dem Einsetzen des Bereitschaftspotentials, wurde die Bewegung dann ausgeführt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei die Bewegung allein durch das Gehirn eingeleitet worden; der bewusste Entschluss dagegen erscheint als ein wirkungsloses Nachspiel, das mit der eigentlichen Entscheidung überhaupt nichts zu tun hat. Nicht wir bestimmen, was passiert, sondern unser Gehirn trifft die Entscheidung, und unsere Vorstellung von bewussten und verantwortlichen Entscheidungen ist nichts als eine schöne Illusion. Diese Interpretation erscheint sehr plausibel, und vor allem zu Beginn der Debatte um die Willensfreiheit ist sie auch in Deutschland vielfach vertreten worden. Tatsächlich gibt es jedoch eine Vielzahl von Einwänden gegen dieses Verständnis der Libet-Experimente. Der wichtigste Einwand lautet, dass in dem Experiment keine Entscheidung stattfindet – die Versuchspersonen hatten nämlich überhaupt keine Wahl. Sie waren ja von vornherein instruiert, nur eine Hand zu bewegen und dies nicht nur einmal, sondern vierzigmal hintereinander. Dies war erforderlich, weil das Bereitschaftspotential in einem Durchgang überhaupt nicht zu bestimmen war, sondern nur durch die Mittelung von 40 Durchgängen errechnet werden konnte. Von einer Entscheidung wird man kaum sprechen können, wenn man angewiesen ist, eine bestimmte Bewegung vierzigmal zu wiederholen. Wenn es hier überhaupt eine Entscheidung gibt, dann findet sie vor dem Experiment statt, nämlich dann, wenn die Versuchsperson einwilligt, an dem Versuch teilzunehmen und ihre Hand vierzigmal nacheinander zu bewegen. Danach gibt es keine Entscheidungen mehr, sondern nur noch die Ausführung der entsprechenden Handlung. Aus diesem Grund ist es völlig unklar, was unter dem bewussten Entschluss, von dem Libet spricht, wirklich zu verstehen ist und was mit den entsprechenden Messungen eigentlich erfasst wird. Insofern
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kann man aus dem Experiment auch nicht die Folgerung ziehen, das Bereitschaftspotential trete erst nach der Entscheidung auf. Ein zweites Problem betrifft das Bereitschaftspotential selbst. Da nicht untersucht wurde, ob die Versuchspersonen nach dem Bereitschaftspotential eventuell auch die jeweils andere Hand bewegen konnten, kann man auch nicht behaupten, das Bereitschaftspotential schließe die Bewegung der jeweils anderen Hand aus. Mittlerweile ist diese Frage in einem eigenen Experiment untersucht worden.7 Dabei stellte sich heraus, dass die Versuchspersonen auch nach dem Auftreten des Bereitschaftspotentials noch die andere Hand bewegen konnten. Selbst wenn man also den zuerst genannten Einwand nicht akzeptiert, kann man schon angesichts des Fortbestehens dieser Alternativen nicht behaupten, dass die LibetExperimente die Existenz von Freiheit widerlegen. Hinzu kommen Probleme bei der Bestimmung des Zeitpunktes des Willensaktes. Aus vorherigen Untersuchungen waren derartige Schwierigkeiten bereits bekannt, da die zeitliche Bestimmung eng mit der Aufmerksamkeit zusammenhängt. Wenn wir zwei gleichzeitig stattfindende Reize datieren sollen, werden wir denjenigen früher datieren, dem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden.8 Da unklar ist, ob die Versuchspersonen bei Libet und in ähnlichen Nachfolgeexperimenten sich auf ihren Willensakt oder auf das Computerdisplay konzentrieren, waren hier größere Schwankungen zu erwarten. Und die lassen sich in der Tat feststellen, vor allem wenn man die Nachfolgeexperimente mit einbezieht. So trat der Willensakt bei Haggard und Eimer9 zwischen 4 und 984 msec vor der Handbewegung auf, was insofern bemerkenswert ist, als in diesen Experimenten bei zwei Versuchspersonen der Willensakt vor dem Bereitschaftspotential auftrat – die vermeintliche Wirkung also vor der Ursache. Bei Keller und Heckhausen10 schwankten diese Werte zwischen 362 msec vor der Handlung und 806 msec
7
Christoph S. Herrmann et al.: »Analysis of a choice-reaction task yields a new interpretation of Libet’s experiments«, in: International Journal of Psychophysiology, 67 (2), 2008, S. 151-157.
8
Saul Sternberg, Ronald L. Knoll: »The perception of temporal order: Fundamental issues and a general model«, in: Sylvan Kornblum (Hg.): Attention and Performance IV, New York 1973, S. 629-685.
9
Patrick Haggard, Martin Eimer: »On the Relation Between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements«, in: Experimental Brain Research, 126, 1999, S. 128-133.
10 I. Keller, Heinz Heckhausen: »Readiness Potentials Preceding Spontaneous Motor Acts: Voluntary vs. Involuntary Control«, in: Electroencephalography and Clinical Neurophysiology, 76, 1990, S. 351-361.
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danach. Nimmt man diese Ergebnisse zum Nennwert, dann müssten einige Versuchspersonen ihren Entschluss erst nach der Handlung getroffen haben – wahrscheinlicher ist es, dass die Angaben einfach ungenau sind. Dies ergibt sich schließlich auch aus den Untersuchungen von Trevena und Miller11, bei denen 40% der Versuchspersonen für ihren Willensakt einen Zeitpunkt angaben, der nach der Ausführung der Handlung lag. Auch angesichts dieser Ergebnisse erscheint es völlig unbegründet, weitreichende Schlussfolgerungen aus den Experimenten von Libet und seinen Nachfolgern zu ziehen. Wenn wir gar nicht genau wissen, wann die bewusste Entscheidung stattgefunden hat – wie wollen wir dann feststellen, ob sie vor oder nach dem Auftreten des Bereitschaftspotentials lag? Aber vielleicht ist diese Frage mittlerweile überflüssig geworden. Zwischenzeitlich ist nämlich ein Experiment veröffentlicht worden, in dem es nicht mehr um wenige Millisekunden geht, sondern um mehrere Sekunden. Soon et al. konnten nämlich zeigen, dass man eine Handlung auf der Basis neuronaler Aktivität schon zehn Sekunden vor der Ausführung prognostizieren kann.12 Die Untersuchungen sind auch deshalb von Bedeutung, weil die Versuchspersonen die Wahl zwischen zwei Optionen hatten. Doch kann man aus diesen Erkenntnissen wirklich die Folgerung ziehen, dass unsere Entscheidungen schon fast zehn Sekunden vor der Ausführung, und damit lange bevor wir selbst von der Entscheidung wissen, feststehen? Ich glaube, dass auch diese Interpretation völlig ungerechtfertigt ist – selbst wenn hier, anders als bei Libet, in der Tat eine Entscheidung getroffen wird. Wichtig ist zunächst, dass der ganze Versuchsablauf unter künstlichen Laborbedingungen stattfand. Das ist unvermeidlich, wenn man verwertbare Ergebnisse erzielen will, wirft aber dennoch die Frage nach den Schlussfolgerungen auf, die man aus solchen Resultaten ziehen kann. Die Frage tritt zum einen deshalb auf, weil die Versuchspersonen ja überhaupt keinen Grund hatten, den einen Knopf dem anderen vorzuziehen – so, wie es bei Entscheidungen im Alltag normalerweise der Fall ist. Wichtiger noch aber ist die Frage, ob es nicht die künstlichen Laborbedingungen sind, die die Prognose zehn Sekunden vor Ausführung der Handlung ermöglicht haben. Immerhin bedeutet dies ja, dass die Handlung zehn Sekunden vorher
11 Judy A. Trevena, Jeff Miller: »Cortical Movement Preparation before and after a Conscious Decision to Move«, in: Consciousness and Cognition, 11, 2002, S. 162190. 12 Chung Sion Soon et al.: »Unconscious Determinants of Free Deciscions in the Human Brain«, in: Nature Neuroscience, 11 (5), 2008, S. 543-545.
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feststehen müsste bzw. dass wir eine Reaktionszeit von mindestens zehn Sekunden haben müssten. Doch das ist offenbar falsch, wie man aus Reaktionszeitexperimenten weiß. Jemand, der so langsam reagieren würde, hätte nur sehr schlechte Chancen, einen Gang durch eine Großstadt, geschweige denn eine Fahrt über die Autobahn zu überleben. Im Labor sind solche Ergebnisse einfach deshalb möglich, weil sich in den zehn Sekunden vor der Handlung nichts ändert. Insofern konnte die Versuchsperson einfach einer inneren Tendenz nachgeben, entweder den einen oder den anderen Knopf zu drücken, und diese Tendenz mag nun allerdings im Unterbewussten beginnen, lange bevor sie das Bewusstsein erreicht. Hätte es kurz vor der Ausführung der Handlung noch ein Stoppsignal gegeben oder einen anderen Reiz, der für die Versuchsperson einen guten Grund für die jeweils andere Option geliefert hätte, dann hätte sie vermutlich anders entschieden. Zumindest zeigt das Experiment nicht, dass sie dies nicht tun konnte. Abschließend möchte ich auf einen letzten Punkt eingehen, der in den letzten Jahren in der neurowissenschaftlichen und psychologischen Diskussion eine große Rolle gespielt hat, nämlich auf die Frage, ob bewusste Intentionen wirklich handlungswirksam sind. Einige Autoren, insbesondere der amerikanische Psychologe Daniel Wegner13, bestreiten dies. Wegner, der sich u. a. auf die Experimente von Libet stützt, behauptet, der bewusste Wille sei eine reine Illusion. In Wirklichkeit würden unsere Handlungen durch unbewusste Prozesse gesteuert; erst nach der Ausführung einer Handlung würde sich in uns unter bestimmten Bedingungen die Vorstellung ausbilden, wir seien auch der Urheber unseres Tuns. Ob wir diese Vorstellung ausbilden oder nicht, hat jedoch mit der eigentlichen Entstehungsgeschichte der Handlung und damit auch mit unserer eigenen Rolle in dieser Entstehungsgeschichte gar nichts zu tun. Wir betrachten uns zuweilen also auch dann als Urheber, wenn die Handlung überhaupt nicht auf uns zurückgeht. Ich hatte oben bereits argumentiert, dass man bei der Interpretation der Experimente von Libet extrem vorsichtig sein muss. Es ist daher schwer zu sehen, wie man aus ihnen den Schluss ableiten sollte, dass die Handlung nicht durch die Intention des Handelnden gesteuert wird. Immerhin spricht, wie wir gesehen hatten, ja einiges dafür, dass die Handlung durch einen Entschluss vor Beginn des Experimentes bestimmt wird und nicht durch den etwas schwer festzumachenden vermeintlichen Willensakt, den Libet misst. Die Handlung wäre dann sehr wohl intentional gesteuert. Wegner selbst bringt eine Reihe von Belegen dafür, dass wir uns zuweilen irren, wenn es um unsere eigene Urheberschaft für
13 Daniel M. Wegner: The Illusion of Conscious Will, Cambridge 2002.
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eine Handlung geht. Manchmal betrachten wir uns als Urheber von Handlungen, mit deren Entstehung wir nichts zu tun hatten; in anderen Fällen sehen wir uns nicht als Urheber, obwohl wir die Handlung sehr wohl initiiert hatten. Doch zeigt dies, dass unsere bewussten Intentionen keine Wirkung auf unser Handeln haben? Wohl kaum. Diese Befunde zeigen nicht mehr und nicht weniger, als dass wir uns bei der Selbstzuschreibung von Handlungen zuweilen irren. Das geschieht ebenso bei Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen oder der Einschätzung von Gefühlen, ohne dass deshalb jemand grundlegende Zweifel an unserer Fähigkeit zur Wahrnehmung, zum Schlussfolgern oder zum Einschätzen von Gefühlen äußern würde. Auch die spektakulären Behauptungen Wegners lassen sich daher zurückweisen. Diese Einschätzung gilt umso mehr, wenn man zwei neuere Experimente berücksichtigt, die sich ebenfalls mit der Wirksamkeit von Intentionen befasst haben. So hat Patrick Haggard14 untersucht, ob wir unterscheiden können zwischen Fällen, in denen unsere Intentionen wirksam sind, und Fällen, in denen sie nicht wirksam sind. Wegner zufolge besitzen wir eine solche Fähigkeit nicht – erst im Nachhinein schaffen wir uns die Illusion, wir hätten eine Handlung bewirkt und merken dabei nicht, dass unsere Intentionen in Wirklichkeit völlig unwirksam waren. Haggard konnte jedoch zeigen, dass wir sehr wohl unterscheiden können, ob eine Intention wirksam ist oder nicht. Seine Versuchspersonen hatten wiederum die Aufgabe, eine Bewegung auszuführen, und hörten dann 250 msec später einen Ton. Die Versuchspersonen sollten dann die Zeit zwischen der Bewegung und dem Ton bestimmen. In einer ersten Bedingung, wenn Bewegung und Ton unabhängig voneinander waren, konnten sie das Intervall korrekt bestimmen. Betrachteten sie den Ton dagegen als beabsichtigte Folge ihrer Bewegung, dann unterschätzten sie das Intervall. Haggard spricht in diesem Zusammenhang von einer »intentionalen Bindung« von Handlung und Handlungseffekt. Schließlich gab es eine dritte Bedingung, in der die Versuchspersonen zwar die Intention ausbildeten und die entsprechende Handlung auch vollzogen. Dennoch war die Intention nicht wirksam; die Bewegung wurde nämlich von einem Magnetimpuls über dem Motorkortex ausgelöst. In diesem Falle wurde das zeitliche Intervall zwischen Bewegung und Ton überschätzt; dies bestätigt ex negativo das Phänomen der »intentionalen Bindung«. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass wir sehr wohl unterscheiden können, ob unsere Intentionen wirksam sind oder nicht – auch wenn nachträgliche Überle-
14 Patrick Haggard: »Conscious Intention and Motor Cognition«, in: Trends in Cognitive Sciences, 5 (6), 2005, S. 290-295.
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gungen sicherlich einen Einfluss darauf haben, ob wir uns als Urheber begreifen.15 Diese Einschätzung wird schließlich durch eine Untersuchung von Haynes und Mitarbeitern bestätigt.16 In diesem Experiment hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, sich zwischen einer Additions- und einer Subtraktionsaufgabe zu entscheiden. Nach einem variablen Intervall wurden ihnen zwei Zahlen präsentiert, mit denen sie die entsprechende Rechnung ausführen sollten, schließlich sahen sie ein drittes Display mit verschiedenen Zahlen, u. a. der korrekten Lösung. Aufgabe der Versuchspersonen war es, die korrekte Lösung zu markieren. Das Experiment wurde in einem fMRT-Scanner ausgeführt und es war möglich, auf der Basis von neuronaler Aktivität im präfrontalen Kortex mit einer Sicherheit von immerhin 71% vorherzusagen, ob die Versuchspersonen addieren oder subtrahieren würden. Diese Ergebnisse sprechen sehr stark dafür, dass die Intentionen, in diesem Falle die Intentionen der Versuchsperson zu addieren oder zu subtrahieren, tatsächlich handlungswirksam sind. Dies gilt nicht nur, weil die Versuchspersonen tatsächlich im Sinne ihrer Intention handelten, es gilt auch deshalb, weil die neurobiologischen Daten, aufgrund derer die Prognose erstellt wurde, aus einem Areal des Gehirns stammen, das, nach allem, was wir wissen, eine wichtige Rolle für bewusste Intentionen spielt.
F AZIT Fassen wir zusammen. Ich habe im ersten Teil dieses Aufsatzes zu zeigen versucht, dass Willensfreiheit nicht im Widerspruch zur Determination steht – auch wenn wir nicht wissen, ob unsere Welt determiniert ist oder nicht. Freiheit ist gebunden an zwei notwendige Voraussetzungen, nämlich an Autonomie und Urheberschaft, und beide Voraussetzungen lassen sich am besten erfüllen, wenn man Freiheit als Selbstbestimmung versteht. Selbstbestimmung aber wird durch die Aufhebung von Determination nicht gesteigert, sondern gefährdet. Da diese Konzeption nur auf zwei Minimalbedingungen zurückgeht, kann man allerdings fragen, ob sie anspruchsvoll genug ist. Freiheit scheint nämlich an die Existenz von alternativen Handlungsmöglichkeiten gebunden zu sein, und die, so scheint es, gibt es in einer determinierten Welt nicht. Ich habe jedoch zu zeigen versucht, dass dieser Anschein falsch ist. Er entsteht durch die verfehlte
15 Ebd.; Vgl. auch Michael Pauen: Illusion Freiheit? 16 John-Dylan Haynes et al.: »Reading Hidden Intentions in the Human Brain«, in: Current Biology, 17, 2007, S. 1-6.
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Vorstellung, echte Alternativen bestünden nur dann, wenn man völlig unabhängig von allen Voraussetzungen sowohl die eine als auch die andere Handlung vollziehen kann. Damit aber würde man wieder sämtliche Kontrolle verlieren, weil die Entscheidung unabhängig auch von den eigenen Wünschen und Überzeugungen wäre. Geht man jedoch im Einklang mit dem im ersten Teil gemachten Vorschlag davon aus, dass die Entscheidung zwischen zwei Optionen selbstbestimmt ist, dann bedeutet dies automatisch, dass die Person sowohl die eine als auch die andere Option ausführen kann. Doch dann kann man nachher eben sagen, sie hätte anders handeln können. Freiheit, so lässt sich daher schließen, ist eine natürliche Eigenschaft, die zumindest im Prinzip so verstanden und erklärt werden kann wie andere menschliche Fähigkeiten, z. B. das Rechnen, Lesen oder Laufen. Und das bedeutet, dass sie vermutlich durch biologische Prozesse im Gehirn realisiert ist und mit den üblichen empirischen Mitteln untersucht werden kann. Häufig ist in der letzten Zeit behauptet worden, gerade neuere empirische Untersuchungen würden keinen Platz mehr lassen für die Existenz von Freiheit. In diesem Zusammenhang wurden insbesondere die Experimente von Benjamin Libet genannt. Ich habe jedoch zu zeigen versucht, dass die entsprechenden Interpretationen auf Missverständnissen beruhen. Weder aus den Experimenten von Libet selbst, noch aus vergleichbaren Untersuchungen lässt sich eine Widerlegung der Willensfreiheit ableiten. Einige neuere Untersuchungen bestätigen sogar einen wichtigen Aspekt von freiem Handeln, nämlich die Wirksamkeit bewusster Intentionen. An der Bedeutung von Experimenten für philosophische Theorien der Willensfreiheit sollten unter diesen Umständen keine ernsthaften Zweifel mehr verbleiben. Allerdings auch nicht daran, dass solche Experimente sorgfältig interpretiert werden müssen, und dass zu den wichtigsten Voraussetzungen einer solchen Interpretation ein klarer und kohärenter Begriff von Willensfreiheit gehört. Sonst kommen die neuen Experimente zum Problem der Willensfreiheit doch nicht über die alten Antworten hinaus.
Experimente am Rande der Stabilität Über die Brüchigkeit des Stabilisierungs-Versuchs im Projekt der Moderne J AN C. S CHMIDT
D ER V ERSUCH
DES
E XPERIMENTS …
Experimentieren steht am Anfang des Projekts der Moderne. Der Mensch solle, so heißt es, nicht nur kognitiv-kontemplativ »eine Geschichte der freien und ungebundenen Natur« schreiben, sondern konstruktiv eine »der gebundenen und bezwungenen Natur, d. h. wenn sie durch […] die Tätigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrängt, gepreßt und geformt wird.« Und Francis Bacon, der Ahnherr dieses Projekts, fährt fort: »So beschreibe ich Experimente.«1 Das Experiment als Instrument zur licht- und unmittelbar zur fruchtbringenden Wissenserzeugung qua technischer Naturaneignung hat seit dem 16. Jahrhundert unzweideutig den modern-militaristischen »Heeresweg der Wissenschaften« eröffnet, wie Kant sagt – eine einzigartige Erfolgsgeschichte der viva activa des homo faber. Seither gilt das Experiment als die methodologische Bedingung der Möglichkeit von Natur- und Technikwissenschaft – mehr noch: Technisch-experimentelles Handeln ist Vorbild für rationales Handeln. Experimentieren und Kontrollieren stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis.2
1
Francis Bacon: Neues Organon [1620], hg. v. Wolfgang Krohn, Hamburg 1999, S. 55. Die »Natur der Dinge offenbart sich mehr, wenn sie von der Kunst bedrängt wird, als wenn sie sich selbst frei überlassen bleibt.« (ebd., S. 57). Mittel wurden meist marginalisiert. Vgl. Christoph Hubig: Mittel, Bielefeld 2002.
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Das hier zugrunde gelegte Verständnis des Experiments stellt den planenden Eingriff in die Natur heraus, d. h. die Kontrolle des untersuchten Systems sowie die Beherr-
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Rückblickend allerdings erscheint das Projekt der Moderne nicht nur als ein Zeitalter des Experiments, sondern als eines des Versuchs mit dem Experiment. Es ist der macht- und mittelförmige, spielerisch-systematische Versuch, die Wirklichkeit als eine experimentelle zu konstruieren bzw. zu rekonstruieren. Das Experiment ist – so kann man heute sagen – seit den Zeiten Bacons und Galileis nicht einfach in der Welt, sondern es stellt selbst ein Experiment dar. Das Experiment ist experimentell, insofern auf dem Spiel steht, ob es zur Struktur der Wirklichkeit passt.3 So fragt man sich, ob das Experiment seinen Gegenständen (Natur, Technik, Mensch, Gesellschaft) angemessen ist, ob also berechtigterweise davon auszugehen ist, dass die Gegenstände allesamt in experimentelle verwandelt werden können. Das gilt heute, aufs Ganze gesehen, als zweifelhaft. Den Zweifel meldet die exakte Naturwissenschaft an. Hintergrund sind neuere Entwicklungen seit den 1960er Jahren: die Chaos-, Katastrophen-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorien sowie die Fraktale Geometrie und Synergetik – ein neues Feld der Physik, das ich einmal versuchsweise als nachmoderne Physik bezeichnet habe.4 Die nachmoderne Physik legt nahe, dass das Experiment des Experiments (und nicht das Experiment selbst) dem Ende entgegen geht. Zu Ende geht damit der GroßVersuch, durch das Experiment Reproduzierbarkeit, Regularität und Reversibilität universell her- und sicherzustellen sowie Prognostizierbarkeit und Planbarkeit prinzipiell zu ermöglichen. Heute kann man sagen, dass das eine fortschrittsleitende Fiktion war. So hat sich insbesondere die Stabilitätsannahme, welche jedem klassisch-modernen Experiment zugrunde liegt, als überzogen herausgestellt. Es zeigt sich die Brüchigkeit des modernen Stabilisierungs-Versuchs. Das heißt nicht, dass es nicht weiterhin Experimente geben wird. Doch diese stellen lediglich einen Spezialfall (nicht: Normalfall) einer instabilen Wirklichkeit dar – eine Nische, in der sich die experimentelle Naturwissenschaft über Jahrhunderte hinweg erfolg-
schung der Rand- und Anfangsbedingungen (siehe unten). Ob Überraschungen auftreten oder gar induziert werden, erscheint zweitrangig, da im Experiment vielfach Erwartungen (deduktiv, theoriengeleitet) produziert bzw. reproduziert werden. Demgegenüber stellen beispielsweise Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem und Wolfgang Krohn Überraschungen in den Mittelpunkt. Vgl. Groß et al.: Realexperimente, Bielefeld 2005. 3
In diesem Sinne ist das Experiment nicht nur methodologisch zu verstehen, vielmehr basiert es auf metaphysischen Annahmen über Welt und Wirklichkeit: Im Experiment manifestiert sich ein metaphysisch-methodologisches Amalgam.
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Jan C. Schmidt: Instabilität in Natur und Wissenschaft. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik, Berlin 2008.
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reich entwickeln konnte. Heute hingegen können und müssen wir mit dem Instabilen, Nicht-Experimentellen und Nicht-Kontrollierbaren rechnen. Instabilität und Experimentalität stehen also in einem Spannungsverhältnis. Sie schließen einander zwar nicht aus, problematisieren sich jedoch gegenseitig. Um das darzulegen, ist zu klären, was unter »Instabilität« und was unter »Experiment« verstanden werden kann. Sodann wird das Spannungsfeld erörtert; es wird gefragt, inwiefern Instabilität klassisch-modernes Experimentierhandeln problematisiert. Hieran schließen sich weitere methodologische Probleme der klassisch-modernen Physik an, nämlich die Problematik der Prognose, des Tests und der Erklärung. Diese Probleme lassen es heute rückblickend plausibel erscheinen, dass in der Geschichte der Physik primär stabile Objekte zum Gegenstandsfeld gemacht worden sind; die Geschichte der Physik erscheint als eine Geschichte einer impliziten Stabilitätsannahme. Darüber hinaus provozieren Instabilitäten auch originär philosophische Zugänge und ihre vermeintlich klarklärenden Konsequenzen. Hierzu werden Beispiele gegeben: Wissenschafts-, Technik- und Neurophilosophie. Beginnen wir nun mit der Frage: Was ist unter Stabilität und Instabilität in den exakten Naturwissenschaften zu verstehen?
I NSTABILITÄTEN Martin Heidegger nahm es vorweg: Instabiles und »Chaos« meint »jenes Drängende, Strömende, Bewegte, dessen Ordnung verborgen ist, dessen Gesetz wir nicht kennen.«5 – Dass nicht nur in Stabilität, sondern auch in Instabilität ein Charakterkern der Wirklichkeit (Natur, Technik, Gesellschaft) liegt, hat die Naturwissenschaft in den letzten 40 Jahren zeigen können. Von Chaos, Komplexität und Nichtlinearität ist die Rede.6 Der Wandel in den Naturwissenschaften
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Martin Heidegger: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, Frankfurt/M. 1989, S. 87, 133. Nietzsche ging weiter. Nach ihm ist »der Gesamtcharakter der Welt […] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne fehlender Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung.« (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1930, S. 127).
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Neue Theorien erobern die Bühne, wie Nichtlineare Dynamik, Physik komplexer Systeme, Chaostheorie, Synergetik, Dissipative Strukturen, Fraktale Geometrie oder Katastrophentheorie. Eine nachmoderne Physik, wie sie genannt werden könnte, zeigt sich: Eine neue Physik emergiert, ohne alles Alte – die klassisch-moderne Physik (Klassische und Kontinuums-Mechanik, Elektrodynamik mit Optik, Thermodynamik, inklusive Relativitäts- und Quantenphysik) – hinter sich zu lassen. Den nomologi-
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wurde auch vonseiten der Philosophie gesehen, etwa von Jean-François Lyotard. Lyotard begreift gar »die postmoderne Wissenschaft als Erforschung der Instabilitäten«.7 Doch Lyotards ahnenden Ausführungen – zumal unter dem Begriff des Postmodernen – haben die Wissenschafts-, Technik- und Kulturphilosophen nicht erreicht. Dennoch kann man bei Lyotards Verweis auf Instabilitäten anschließen. Was sind Instabilitäten?8 Wo Instabilitäten dominieren, steht es auf des Messers Schneide: Kipppunkte und Kritizitäten, Brüche und Bifurkationen, Selbstorganisation und Schmetterlingseffekte, Komplexität und schwache Kausalität. Instabilität ist jedermann aus Alltag und Lebenswelt bekannt. Eine Kugel auf einem Berggrat wird bei einem kleinen Windstoß auf der einen oder anderen Seite des Hanges herunterlaufen. Gleiches gilt für ein Pendel im obersten instabilen Punkt der maximalen potentiellen Energie. In Glücksspielen, etwa einem Flipper, trifft die Kugel auf scharfe Kanten und spitze Keile, an denen sich entscheidet, ob sie nach rechts oder links springt. Das galtonsche Brett, bei welchem eine Kugel durch einige gegeneinander versetzte Nagelreihen fällt, stellt eine Hintereinanderreihung statischer Instabilitäten dar. An Punkten statischer Instabilitäten liegt eine sensitive Abhängigkeit vor, hier entscheidet sich der weitere Verlauf. Zwei benachbarte Startpunkte entfernen sich voneinander, ohne sich jemals wieder anzunähern. Diese können, obwohl dicht beieinander, so doch diesseits und jenseits der Wasserscheide liegen. An einer Wasserscheide trennen sich zwei nahe benachbarte Regentropfen: Einer der Regentropfen gelangt ins Mittelmeer, der andere in die Nordsee. Mitunter wurde von einem Schmetterlingseffekt gesprochen.9 Ein Schmetterling in Südamerika kann in den USA einen Wirbelsturm auslösen: kleine Ursache, große Wirkung – wie wir es heute auch aus der Nanotechnologie hören. Nicht nur zwei, sondern vielfache Wasserscheiden treten beim Würfeln auf. Fällt ein Würfel auf eine seiner Kanten, kippt er in die eine oder andere Richtung. Würfeln ist eine Aneinanderreihung von Instabilitäten. Für Jakob Bernoulli war das Werfen idealisierter Münzen und die daraus entstehende Binär-Folge von 0 (»Kopf«) und 1 (»Zahl«) paradigmatisch für die Entwicklung seiner klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie und seine Zufalls-Definition.
schen Kern der nachmodernen Physik bilden Instabilitäten. Instabilitäten liegen also nicht nur im Diskurs, sondern in den Dingen (minimaler Realismus). Vgl. Jan C. Schmidt: Instabilität in Natur und Wissenschaft. 7
Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986, S. 157.
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Für Details siehe: Jan C. Schmidt: Instabilität in Natur und Wissenschaft.
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Edward N. Lorenz: »Computational chaos. A prelude to computational instability«, in: Physica D, 35, 1989, S. 299-317.
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Grundlegender als die eben diskutierten statischen Instabilitäten sind dynamische Instabilitäten. Sie weisen kontinuierliche Wasserscheiden auf. Das System steht kontinuierlich auf des Messers Schneide. Dynamische Instabilität wird oft als regelbehaftetes Chaos bezeichnet. Das chaotische Doppelpendel – ein Pendel am Arm eines anderen Pendels – ist ein gutes Beispiel dafür. Abrupt bleibt es stehen, ändert seine Drehrichtung oder seine Geschwindigkeit. Die Dynamik erscheint phänomenal wirr, eigenwillig, zufällig. Doch gesetzeslos ist sie nicht – von »schwacher Kausalität« wird gesprochen. Verwandt sind die strukturellen Instabilitäten. Hier treten Brüche, Bifurkationen und allgemeine Phasenübergänge auf. An Punkten struktureller Instabilität kann Neues entstehen. Der Begriff der Selbstorganisation referiert auf strukturelle Instabilität. All das findet man schon bei James Clerk Maxwell und Henri Poincaré im 19. Jahrhundert. Doch zwischen Erstentdeckung und Breitenanerkennung liegt ein weiter Weg. Zur Anerkennung unabdingbar war die Computerentwicklung mit der Möglichkeit der numerischen Integration nichtlinear-instabiler Gleichungen ab den 1960er Jahren.
E XPERIMENT Mit Instabilitäten ist eine methodologische Problematik verbunden. Sie betrifft das Experimentierhandeln. Denn »Experimentieren heißt«, so Ian Hacking, der Begründer des anglo-amerikanischen Neuen Experimentalismus, »Phänomene schaffen, hervorbringen, verfeinern und stabilisieren.«10 Experimentieren und Stabilisieren, Produzieren und Reproduzieren, Zeigen und Beobachten gehören offenbar zusammen. Was aber, wenn das Stabilisieren nicht mehr gelingen kann, weil die Gegenstände instabil sind? Was sind Experimente? Diese Frage war lange Zeit kaum der Rede wert – auch wenn sie (implizit) immer präsent gewesen sein mag. Bezeichnend ist die Haltung Justus von Liebigs: »Ein Experiment, dem nicht eine Theorie […] vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinderklapper zur Musik.«11 Experimente fristen im Mainstream der Wissenschaftsphilosophie ein Schattendasein.
10 Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, S. 380. Ob der Neue Experimentalismus tatsächlich so »neu« ist, wie behauptet, darüber lässt sich vortrefflich streiten – insbesondere aus Perspektive der deutschen Tradition des Methodologischen Konstruktivismus/Kulturalismus. 11 Justus von Liebig: Über Francis Bacon von Verulam und die Methode der Naturforschung, München 1963, S. 49.
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Logischer Empirismus und Positivismus wie auch Kritischer Rationalismus und Hypothetischer Realismus – sowohl Induktivismus wie Deduktivismus – beziehen sich auf Sprache, Aussagen und Theorien. Wenn überhaupt besaß das Experiment eine dienende Widerlegungs- oder Bestätigungsfunktion von Theorien. Der großangelegte Deduktivismus im 20. Jahrhundert mit der sich etablierenden Redeweise von der Theorienbeladenheit der Beobachtung war wirkmächtig.12 Fast schien es, als sei das Materielle entbehrlich: Fakt ohne Artefakt, Tatsachen ohne Tat, Theorie ohne Technik. Naturerkenntnis wurde traditionell als Schauen verstanden, als Theorie. Die Geschichte der Naturwissenschaften wurde als Theoriengeschichte geschrieben, als Abfolge von Paradigmen. Ian Hacking kritisiert, dass »Wissenschaftsphilosophen […] ständig von Theorien und Darstellungen der Realität [reden], doch über Experimente, technische Verfahren oder den Gebrauch des Wissens zur Veränderung der Welt […] so gut wie gar nichts [sagen].«13 In den letzten Jahrzehnten konnte das ein wenig korrigiert werden. Programmatisch wurde der Perspektivenwechsel als Neuer Experimentalismus apostrophiert. Doch wie neu er ist, ist strittig. Denn schon Bacon, Galilei und Kant, später Mill, Helmholtz, Mach und Dewey haben Naturwissenschaft als Experimentalwissenschaft verstanden, als empirisch-quantitative, Technik-basierte Wissenschaft: spielerisch-systematische Veränderung der phänomenalen Natur im Dienst der Erkenntnis der nomologischen Natur; Begreifen der Natur durch Eingreifen in die Natur; Experimentieren durch Kontrollieren. Somit setzt Erkennen-Können experimentelles Handeln-Können voraus. – John Dewey hat aus pragmatistisch-materialistischer Perspektive schließlich eine Anklage an die philosophische »Verachtung der Materie und die Verherrlichung des Immateriellen« formuliert; die philosophische »Zuschauertheorie der Erkenntnis« sei nichts als eine Fiktion.14 Vielmehr gelte: »Die Wissenschaft ist in demselben Maße, wie sie experimentell geworden ist, selbst zu einer Art gelenkten praktischen Tuns geworden.«15 – Kontinental12 Dieser ging von Duhems Induktivismuskritik aus (»Nur die theoretische Interpretation ermöglicht den Gebrauch der Instrumente«) und zog sich über Poppers Falsifikationismus und Kuhns Paradigmen-basierte Geschichtsschreibung bis hin zu Lakatos’ Forschungsprogramme. Weniger das technische Ergreifen und manipulative Eingreifen als das kognitiv-kontemplative Begreifen lag im Fokus der Wissenschaftstheorie. 13 Ian Hacking: Philosophie der Wissenschaft, S. 249. 14 John Dewey: Die Suche nach Gewißheit, Frankfurt/M. 1998, S. 9, 27. 15 Ebd., S. 28. So »eliminiert die experimentelle Praxis des Erkennens […] die uralte Trennung von Theorie und Praxis.« (ebd. S. 169) Dewey stellt ebenfalls die Wiederholbarkeit des Experiments heraus: Das Experiment »kann Schritt für Schritt von jedermann wiederholt werden.« (ebd. S. 289)
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europäisch hat der auf Hugo Dingler und sein Buch Das Experiment16 zurückgehende und von der Erlanger-Konstanzer Schule ausgearbeitete Methodologische Konstruktivismus Wissenschaft als zweckrationales Handeln und als regelgeleitete Eingriffspraxis rekonstruiert. »Der Übergang von Einzelerfahrungen zu wissenschaftlichen Erfahrungen«, so Peter Janich, »gelingt dadurch, daß die einschlägigen Handlungen von Wissenschaftlern so durch Regeln und Rezepte normiert werden, daß sie prinzipiell von jedermann wiederholt werden können.«17 – Aus handlungstheoretischer Perspektive hat Georg Henrik v. Wright das Experiment ins Zentrum gerückt. Der »Begriff von Ursache ist wesentlich mit der Idee von Handlungen und daher, als wissenschaftlicher Begriff, mit der Idee von Experimenten verknüpft.«18 – Kritische Theoretiker haben hier angeschlossen. In der Konstitution von Natur als dem, was regelhaft wiederholbar ist, liegt eine machtförmig-metaphysische Denkfigur, die sich in Wissenschaft wie in Gesellschaft finde: eine »nivellierende Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht.«19 Das Experiment wird angesehen als materielle Manifestation der instrumentellen Vernunft.20 – Somit wurde das Experiment vielfach thematisiert. Doch als explizites Thema blieb es bis in die späten 1960er Jahre randständig. Ab dieser Zeit beginnen systematische Klärungen, die die Reproduzierbarkeit in den Mittelpunkt stellen. Der Reproduzierbarkeit voraus geht die Produktion von Neuem, nämlich als Erstmaligkeit, die dann auf Bestätigung – auf Reproduktion – angewiesen ist. Gernot Böhme und Wolfgang van den Daele heben hervor, dass das »methodische Ideal [der Naturwissenschaft] die regelmäßige 16 Hugo Dingler: Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte, München 1928. 17 Peter Janich: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München 1997, S. 50. Janich führt weiter aus: »Es ist mit anderen Worten die technische Reproduzierbarkeit von Verhältnissen, die durch die Qualität der Handlungsanweisungen sichergestellt ist.« (ebd. S. 51) Naturwissenschaft sei – als Handlung – technisch zu verstehen. 18 Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen, Meisenheim 1991, S. 44. 19 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt/M. 1990, S. 19. Ferner sprechen Horkheimer und Adorno von einer »Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung«. (ebd., S. 18) 20 Denn »Natur«, so Holm Tetens, »verstehen wir in der Physik gerade so weit, wie wir sie in Apparaten ›nachbauen‹ oder sie nach dem Modell einer Maschine zu erklären vermögen.« (Holm Tetens: »›Der Glaube an die Weltmaschine‹. Zur Aktualität der Kritik Hugo Dinglers am physikalischen Weltbild«, in: Peter Janich (Hg.): Methodische Philosophie. Beiträge zum Begründungsproblem der exakten Wissenschaften in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler, Mannheim 1984, S. 96).
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Tatsache [ist], die die Bedingungen enthält, unter der ihre Beobachtung für jedermann und jederzeit wiederholbar ist.«21 Jürgen Mittelstraß sieht in der Reproduzierbarkeit »eine allgemeine wissenschaftliche Norm«, insofern sie »die Kontrollierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen« und damit Invarianzen sicherstelle, etwa die Personen-, Zeit- und Ortsinvarianz.22 So ist die »Reproduzierbarkeitsforderung […] als Rationalitätskriterium im Wissenschaftsprozeß unverzichtbar.«23 In diesem Sinne hat auch Peter Janich als das »wichtigste Charakteristikum des klassischen Experiments [… seine] prinzipielle Wiederholbarkeit« genannt.24 Der Rekurs auf Reproduzierbarkeit ist also üblich, nicht nur unter Philosophen, sondern auch bei Physikern. Als »die Lehre vom Wiederholbaren« bestimmt etwa Friedrich Hund die exakte Naturwissenschaft.25 Wolfgang Pauli meint: »Der Physiker hat es mit […] einer besonderen Wirklichkeit zu tun. Er hat sich auf das zu beschränken, was reproduzierbar ist.«26 Bernd-Olaf Küppers betont, dass »die konzeptionelle Grundstruktur der traditionellen Physik […] so angelegt [ist], daß sie im Wesentlichen nur die […] reproduzierbaren Naturphänomene erfaßt.«27 Reproduzierbarkeit impliziert Reversibilität, also Rückholbarkeit und damit Zeitinvarianz. Wer reproduziert, schließt Einmaliges und Zeitliches aus. Damit sind Hinweise zum Begriff des Experiments gegeben. Im Kern liegt die Her- und Sicherstellung der Reproduzierbarkeit.28 Analytisch basiert ein
21 Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele: »Erfahrung als Programm. Über Strukturen vorparadigmatischer Wissenschaft«, in: Gernot Böhme et al. (Hg.): Experimentelle Philosophie, Frankfurt/M. 1977, S. 189. Nach Böhme gilt in der Naturwissenschaft »nicht jede Erfahrung« »als Faktum […], sondern nur solche, die reproduzierbar sind.« (Gernot Böhme: Am Ende des Baconschen Zeitalters, Frankfurt/M. 1993, S. 405). 22 Jürgen Mittelstraß: Die Häuser des Wissens, Frankfurt/M. 1998, S. 106. 23 Ebd., S. 107. 24 Peter Janich: »Experiment«, in: Jürgen Mittelstraß et al. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1., Stuttgart 1995, S. 622. 25 Friedrich Hund: Geschichte der physikalischen Begriffe, Mannheim 1972, S. 274. 26 Wolfgang Pauli: Aufsätze und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie, Braunschweig 1961, S. 94. 27 Bernd-Olaf Küppers: Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt/M. 1992, S. 10. 28 Damit verbunden ist die intersubjektive Herstellung von Beobachtbarkeit. Vgl. Michael Heidelberger: »Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment«, in: Michael
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Experiment auf der Möglichkeit (0) der Isolation von der Umgebung während des Starts und des Verlaufs sowie der Störungsbeseitigung,29 ferner (1) der Zugänglichkeit, Variierbarkeit und Kontrollierbarkeit von Anfangs- und Randbedingungen, (2) der Wiederholbarkeit von Prozessen und (3) der Reproduzierbarkeit von Ereignissen oder Phänomenen. Die Stichworte (1-3) kennzeichnen drei zeitliche Phasen eines Experiments: Start, Verlauf, Resultat. Die Phasen (0) und (1) charakterisieren den hergestellten Teil des Experiments, während Phase (2) und (3) der sich überlassene Teil ist.30 – Was aber ist die Bedingung der Möglichkeit eines Experiments?
S PANNUNGSVERHÄLTNIS : E XPERIMENTALITÄT UND I NSTABILITÄT Es war James Clerk Maxwell in den 1870er Jahren, der die methodologische Problematik von Instabilitäten für das Experiment in voller Klarheit erkannte – nach Vorarbeiten von Newton, Euler, Laplace und den Kontinuumsmechanikern im 19. Jahrhundert.31 Maxwells Bemerkungen finden sich eher beiläufig, im
Heidelberger, Friedrich Steinle (Hg.): Experimental Essays – Versuche zum Experiment, Baden-Baden 1998, S. 71-92. 29 Friedrich Hund meint: »Für die Begreifbarkeit einer Naturerscheinung ist […] Isolierbarkeit […] nötig.« (Friedrich Hund: Geschichte der physikalischen Begriffe, Bd. 1, Mannheim 1989, S. 222). 30 Diese Differenzierung der Phasen lehnt sich auch an v. Wright und sein interventionalistisch-handlungstheoretisches (technomorphes) Kausalitätsverständnis an. V. Wright unterscheidet »zwischen dem Tun und dem Herbeiführen von etwas. […] Dadurch, daß wir gewisse Dinge tun, führen wir andere herbei.« (Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen, Meisenheim 1991, S. 68f). Mindestens zwei Typen der Kausalität sind für jedes Experimentieren notwendig: eine interventionalistische Kausalität in den Phasen (0) und (1) und eine regularitätstheoretische Kausalität (in den experimentellen Objektsystemen, etwa im Sinne von Hume) in den Phasen (2) und (3). 31 Was Newton bereits in seiner Mondtheorie ahnte, wurde im 19. Jahrhundert im Umfeld der Entwicklung der Kontinuumsmechanik – insbesondere der Hydrodynamik, dem Strömen von Flüssigkeiten – deutlich: Instabilitäten sind experimentell schwer zu handhaben, sie behindern empirische Tests, sie verunmöglichen eine saubere Theoriearbeit. So konnte die deduktiv gewonnene Grundgleichung der Hydrodynamik (Navier-Stokes-Gleichung) über Jahrzehnte hinweg experimentell nicht getestet werden. Das gelang erst Ludwig Prandtl mit Näherungen im frühen 20. Jahrhundert.
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einleitenden Kapitel seines Buches ›Matter and Motion‹, 1877, und in einem Vortrag zu ›Science, Determinism and Free Will‹, 1873.32 Er fragt, was die Bedingungen der Möglichkeit für Experimente sind. Seine Antwort ist: Reproduzierbarkeit, spezieller: Stabilität. Doch Reproduzierbarkeit sei zunächst nichts weiter als eine Annahme, eine »allgemeine Maxime«. Diese sei nicht per se gerechtfertigt.33 Maxwell spricht sogar von einer »metaphysischen Doktrin«.34 Diese Doktrin legt Maxwell in zwei Schritten offen. Von der experimentellen Naturwissenschaft werde zunächst objektseitig Kausalität im Sinne von Regelhaftigkeit angenommen (oder gefordert)35: »Die gleichen Ursachen ziehen immer die gleichen Effekte nach sich.«36 Doch diese singuläre Kausalität – der Bezug zur Gleichheit – ist keinesfalls hinreichend für Experimentalität. Denn, so Maxwell, kein Ereignis wiederholt sich.37 Keine zwei identischen Ursachen können je vorliegen, weder zeitlich noch räumlich. So ist in einem zweiten Schritt eine normativ-methodologische Verschärfung vorzunehmen. Um Experimente durchführen und Physik treiben zu können, muss von der empirisch nicht vorhandenen Gleichheit zur Ähnlichkeit übergegangen werden. Abweichungen, Ungenauigkeiten, Störungen, Messfehler sollen erlaubt sein. Die exakte Naturwissenschaft ist empirisch unexakt. Für Maxwell folgt eine normative Forderung an Experimentieranordnungen. Ähnlichkeit und damit Stabilität muss sicher- und hergestellt werden: »Es gibt eine andere [weitergehende] Maxime […]: ›Ähnliche Ursachen erzeugen ähnliche Wirkungen.‹ Das ist aber nur dann wahr, wenn kleine Veränderungen in den Anfangsbedingungen lediglich kleine Veränderungen in den Endzuständen des Systems verursachen. […] Das ist aber nur insofern wahr, als Stabilität herrscht.«38 Stabilität sichert Ähnlichkeit; Ähnlichkeit garantiert, Ungenauigkeiten Rechnung zu tragen und Reproduzierbarkeit 32 James Clerk Maxwell: Matter and Motion [1877], New York 1991; James Clerk Maxwell: »Does the progress of Physical Science tend to give any advantage to the opinion of Necessity (or Determinism) over that the Contingency of Events and the Freedom of the Will?«, in: Lewis Campbell, William Garnett (Hg.): The Life of James Clerk Maxwell, New York 1969 (1882), S. 434-444. 33 James Clerk Maxwell: Matter and motion, S. 13. 34 James Clerk Maxwell: Progress of Physical Science, S. 442f. Es werde Kausalität oder Determinismus in einer bestimmten Form unterstellt. 35 Allerdings wird Maxwell den »prejudice in favour of determinism« kritisieren (ebd., S. 444). 36 James Clerk Maxwell: Matter and motion, S. 13. 37 Maxwell meint: »No event ever happens more than once, so that the causes and effects cannot be the same in all respects.« (Ebd., S. 13) 38 Ebd., S. 13f.
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sicherzustellen. Instabile Objektsysteme hingegen sind sensitiv abhängig von Start- und Randbedingungen. Kleinstes ist von größter Bedeutung. Ähnlichkeit ist nicht gegeben. Diese Objektsysteme zeigen eine jeweils individuelle, nichtreproduzierbare Dynamik. Überraschungen sind unvermeidbar. Ein Experimentieren ist unmöglich. Obwohl Maxwell als Erster die methodologischen Probleme klar formulierte, steht auch er im Horizont der allgemeinen Maxime, der Stabilitätsannahme: »In den meisten physikalischen Gegenstandsfeldern ist diese Bedingung gewährleistet.«39 Stabilität erscheint als Normalfall, Instabilität als Sonderfall. Doch »es gibt allerdings andere Fälle, in welchen eine kleine Variation in den Startbedingungen eine große Veränderung im Endzustand des Systems erzeugt, so wie eine kleine Veränderung, etwa einer Weiche, dazu führen mag, dass ein Zug auf einen anderen auffährt, anstatt auf seinem Kurs zu bleiben.«40 Maxwell illustriert Instabilität anhand des Wettergeschehens. Reduktive Erklärbarkeitsgrenzen treten hier auf: »Insofern das Wettergeschehen auf einer unendlichen Ansammlung lokaler Instabilitäten basiert, ist es nicht erfassbar durch ein endliches Gesetz.« »Dies legt«, so Maxwell aus antimetaphysisch-empiristischer Haltung, »dem Laplaceschen Postulat des universellen Determinismus eine Limitation auf.«41 Nicht nur, dass wir im Wirren des Instabilen niemals ein Gesetz finden können und damit ein zentrales Minimalargument für einen Determinismus wegfällt. Ein weiteres Minimalargument fällt weg, insofern die Kenntnis von Startbedingungen und Gesetz – läge sie denn vor – nicht hinreichend wäre, um in die Zukunft zu schauen: Selbst wenn ein Determinismus vorliegen würde, könnten wir keine Argumente für diesen finden. Bei Instabilitäten kommt es auf kleinste Details an. Die ReproduzierbarkeitsProblematik wurzelt, so können wir heute sagen, in zweierlei: (1) Die messtechnische Grenze ist durch das Messrauschen, durch die Messapparatur mit ihren thermodynamischen Effekten, durch die systematischen und unsystematischen Messfehler erzeugt. Nach der Informationstheorie würden wir ferner für unendlich viele Informationen, also für unendliche hohe Präzision, mit unendlich viel Energie bezahlen. Bekanntlich ist jedoch die Energie im Universum begrenzt. (2) Eine prinzipielle messtheoretische Grenze liefert die Quantenmechanik mit ihrer Unschärferelation zwischen kanonisch konjugierten Observablen, etwa Impuls und Ort. – Sowohl die messtechnische als auch die prinzipiell-messtheo39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 14. Ähnlichkeit – ähnliche Ursachen, ähnliche Wirkungen – ist nicht gewährleistet. Diese »gilt nur, insofern Stabilität gegeben ist und [dies ist die Bedingung,] dass somit Naturgesetze überhaupt formuliert werden können.« (Ebd.).
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retische Grenze negieren die Möglichkeit der Exaktheit der Bestimmung von Startwerten und Parametern. Die Isolierung des Experiments von der Restnatur misslingt. »Das Bemühen, die Welt auf nicht-wechselwirkende freie Einheiten zu reduzieren, ist gescheitert«, so Ilya Prigogine und Isabelle Stengers. 42 So wird fragwürdig, ob bei Instabilität überhaupt noch von einem Experiment gesprochen werden kann.43
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Die Instabilität der Gegenstandsseite und die damit verbundene experimentelle Reproduzierbarkeitsproblematik haben Folgen für weitere implizite Annahmen der klassisch-modernen Naturwissenschaft. Zunächst die Prognostizierbarkeits-Problematik. Auf die »immensen mathematischen Schwierigkeiten«, die mit Nichtlinearität und Instabilität verbunden sind, hat Mario Bunge hingewiesen.44 Sieht man genauer hin, finden sich die Schwierigkeiten schon bei Newton in seiner Mondtheorie und bei Henri Poincaré in seiner Himmelsmechanik. Nichtlinearität ist notwendige Bedingung für Instabilität. Nichtlineare Gleichungen können mit Papier und Bleistift nicht gelöst werden. Eine Lösung ist jedoch notwendig, um Prognosen anzustellen. In einigen Fällen hilft die Computernumerik. Allgemein gilt das allerdings nicht. Denn Instabilitäten erzeugen Sensitivitäten. Selbst wenn man die laplacesche Weltformel in den Händen halten würde, wäre die Zukunft unbestimmt. Für das klassisch-moderne Wissenschaftsverständnis mag hier eine Provokation liegen.
42 Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Dialog mit der Natur, München 1990, S. 79. René Thom meint gleichlautend: »However, no matter what precautions are taken to isolate S, the experimenter cannot remove entirely the interaction between S [= the observed system] and the outside world, and the conditions of a preparation procedure cannot be described and realized with perfect accuracy – and these initial differences cannot but perturb the evolution of the system. Therefore approximately equal results […] can be expected only after implicity assuming that the evolution of S from state a is qualitatively stable.« (René Thom: Structural Stability and Morphogenesis, Massachusetts 1975, S. 16). 43 Wenn »Experimentieren heißt«, wie bei Hacking, »Phänomene [… zu] stabilisieren«, dann sind Experimentalität und Instabilität Antagonismen (Ian Hacking: Philosophie der Naturwissenschaft, S 380). Aber Hacking räumt ein: »In Wirklichkeit ist es […] schwierig, Phänomene in stabiler Weise hervorzubringen.« (ebd.) 44 Mario Bunge: Kausalität, Geschichte und Probleme, Tübingen 1987, S. 188.
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Denn im »Schluß auf die Zukunft« wird oftmals die »eigentliche Pointe der Physik« gesehen.45 Die Prognostizierbarkeit haben Einstein, Podolsky und Rosen gar als Realitätstest herangezogen. »Wenn wir den Wert einer physikalischen Größe, ohne das System in irgendeiner Weise zu stören, mit Gewißheit voraussagen können, dann gibt es einen Bestandteil der physikalischen Realität, der dieser Größe entspricht.«46 Wo jedoch allzu viel Instabilität herrscht, sind Voraussagen limitiert. Dann die Prüfbarkeits-Problematik. Jede Prüfung basiert auf einem konstanten Zusammenhang zwischen Modell (Gesetz, Theorie) und Beobachtung. Bei Instabilitäten ist dieser Zusammenhang nicht gegeben. Kein Modell, so Henry Abarbanel et al., »can be compared with experiment, since any orbit is uncorrelated with any other orbit, and numerical roundoff or experimental precision will make every orbit distinct.«47 Modell und Experiment liegen in zwei disjunkten Welten. So bleibt die Theorie nicht nur experimentell unter-, sondern unbestimmt. Das problematisiert das klassisch-moderne Wissenschaftsverständnis. Heinrich Hertz etwa meinte, dass eine »gewisse Übereinstimmung vorhanden sein [muss] zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt, daß die Forderung erfüllbar ist.«48 Pierre Duhem stellte heraus: »Die Übereinstimmung mit der Erfahrung ist das einzige Kriterium der Wahrheit für eine physikalische Theorie.«49 Instabile Objekte legen Grenzen der Prüfbarkeit und damit der Objektivität nahe. Schließlich die Reduzier- und Erklärbarkeits-Problematik. Redundanzen – notwendige Bedingung für Beschreib- und Erklärbarkeit – können bei Instabilitäten nicht eliminiert, kompakte Gesetze und komprimierte Bildungsregeln nicht gefunden werden. Eine Abkürzung einer gegebenen instabilen Datenreihe ist unmöglich: Instabilität erzeugt effektive Irreduzibilität. James Crutchfield et al. meinen, »the hope that physics could be complete with an increasingly detailed understanding of fundamental physical forces is unfound.«50 Das problematisiert die klassisch-moderne Methodologie: Finde eine minimale, nicht-redundante
45 Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Einheit der Natur, München 1974, S. 122. 46 Albert Einstein et al.: »Can quantum-mechanical description of physical reality be considered complete?«, in: Physical Review, 47, 1935, S. 777-780. 47 Henry D. Abarbanel et al: »The Analysis of Observed Chaotic Data in Physical Systems«, in: Rev. Mod. Phys., 65, 1993, S. 1331-1392. 48 Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik, Darmstadt 1963, S. 1. 49 Pierre Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien [1906], Hamburg 1978, S. 22. 50 James P. Crutchfield et al.: »Chaos«, in: Scientific American, 12, 1986, S. 56.
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Beschreibung der Welt; entdecke Regelmäßigkeiten.51 Die Haltung ist für Heinrich Hertz offensichtlich: »Alle Physiker sind einstimmig darin, daß es die Aufgabe der Physik sei, die Erscheinungen der Natur auf die einfachen Gesetze zurückzuführen.«52 Bei Instabilität ist nun die Redundanzeliminierung limitiert. Vielmehr gilt: Um zu erkennen, muss man geschehen lassen. Zwar mag Nietzsche zu weit gehen, wenn er – nachdem er den Gesamtcharakter der Welt im Chaos gesehen hat, bis in alle Ewigkeit – sagt: »Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Natur gebe.«53 Doch deutet Nietzsche an, dass eine Welt, die von Instabilitäten durchzogen ist, kaum kompakt zu beschreiben ist.
R ÜCKBLICK : S TABILISIERUNGSVERSUCH UND S TABILITÄTSDOGMA Angesichts dieser Problematik ist es – rückblickend – kaum verwunderlich, dass Instabilitäten von der exakten Naturwissenschaft lange Zeit verdrängt worden sind. Doch was heute als konsequent erscheint, war historisch alles andere als eine Frage. Die Frage nach Stabilität und Instabilität hatte weder im Natur- noch im Wissenschaftsverständnis einen Platz. Über 2.500 Jahre hinweg stand außer Zweifel, dass Instabilitäten nicht der Natur selbst zukommen, sondern nur unsere defizitäre Wahrnehmung von Natur widerspiegeln. Der Kosmos galt für Platon im eigentlichen Wortsinne als Garant und Repräsentant von Ordnung, Regelmäßigkeit und Stabilität. Dominant war seit der Antike allein die implizite Stabilitätsannahme. Sie diente der Wahrnehmung von Natur, der Konstruktion von Wirklichkeit, der Selektion der Objekte sowie später der Entwicklung der Methodologie: Natur ist Natur, insofern sie stabil ist; gute mathematische Modelle sind allein solche, welche Stabilität zeigen; gute Experimente sind solche, die hinreichend robust und stabil sind. Rückblickend sprechen die mathematischen Physiker John Guckenheimer und Philipp Holmes von einem metaphysisch geprägten »Stabilitätsdogma«.54 Bekanntlich hatte Maxwell über 100 Jahre zuvor hier eine »metaphysische Doktrin« gesehen.55
51 Redundanzeliminierung gilt auch als Voraussetzung für die über den Beschreibungserfolg hinausgehende anspruchsvollere Erklärungsleistung. 52 Heinrich Hertz: Prinzipien der Mechanik, S. xxv. 53 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 127. 54 John Guckenheimer, Philipp Holmes: Nonlinear Oscillations, Dynamical Systems, and Bifurcations of Vector Fields, New York 1983, S. 259. 55 Maxwell: Progress of Physical Science, S. 442f.
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Nirgends kondensiert sich mehr Metaphysisches als im Methodologischen. Als Hintergrundüberzeugung war das Stabilitätsdogma für die Wissenschaftsentwicklung in methodologisch-experimenteller Hinsicht zunächst erfolgreich.56 Rückblickend allerdings ist das Beharrungsvermögen der Stabilitätsmetaphysik bemerkenswert. Das sieht man auch an den Lichtgestalten der Physikgeschichte: Newton und Einstein. So ist Newton zwar einer der Ersten, der bereits Ende des 17. Jahrhunderts eine Ahnung von einer möglichen Instabilität des Planetensystems hatte. Die interplanetarisch wirkenden Gravitationskräfte sichern keineswegs einen stabilen Kosmos. Newton hatte freilich noch nicht die mathematischen Begriffe, um adäquat von Stabilität und Instabilität sprechen zu können. Doch Newton identifiziert wegweisend das Dreibzw. Viel-Körper-Problem. Dieses ist analytisch unlösbar und kann zu instabilen Bahnbewegungen führen. Dieser mathematischen Möglichkeit zum Trotz zweifelt Newton keinen Moment an der Stabilität des Kosmos. Das metaphysische Stabilitätsdogma wirkt gar weiter. Newton radikalisiert das Problem der Instabilität sogar soweit, dass er eine lokale und temporäre Intervention eines wirkmächtigen Gottes benötigte, um dem drohenden instabilen Zerfall entgegenzuwirken. Die geringfügigen »Unregelmäßigkeiten« kosmischer Bewegungen, so Newton in der Diskussion des Viel-Körper-Problems, rühren »von der gegenseitigen Wirkung der Kometen und Planeten auf einander her. [… Diese wachsen] wohl so lange an […], bis das ganze Systeme einer Umbildung [durch Gott] bedarf.«57 Eine stärkere Einwirkung hat die Stabilitätsmetaphysik wohl selten auf Naturwissenschaftler gehabt, bis vielleicht auf Einstein. Einstein war beunruhigt über seine aus der Allgemeinen Relativitätstheorie deduktiv gewonnenen »kosmologischen Betrachtungen«58. Fast keine Lösung 56 Es diente zur Selektion der Objekte, die als physikalisch zugänglich und erkennbar angesehen wurden. So stand zu Beginn der modernen Naturwissenschaft im 16. Jahrhundert zunächst die (hinreichend stabile) Planetendynamik auf der Agenda der physikalisch vielversprechenden Objekte; andere Objekte der irdischen Physik fielen zunächst heraus. Anhand stabiler Dynamiken konnte die Physik ihre experimentelle Methodologie erfolgreich entwickeln und physikalische Naturerkenntnis als besonders gesichert und überprüfbar ausweisen. Stabilität bildet die methodologische Basis für das, was ein physikalisches Experiment gerade auszeichnet, nämlich die Reproduzierbarkeit. 57 Isaac Newton, 1983: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts [1704], Braunschweig 1963, S. 267f. 58 Albert Einstein: »Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, physikalisch-mathematische Klasse, 1917, S. 142-152.
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der Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie beschreibt einen in der Zeit unveränderlichen, statischen, stabilen Kosmos. Das aber sei notwendig, meint Einstein, um den Kosmos so zu repräsentieren, wie er tatsächlich sei. Deshalb postuliert er ad hoc ein eigenes Kosmosmodell mit speziellen Annahmen, nämlich mit dem »kosmologischen Term«, der ein Glied enthielt, das später als kosmologische Konstante (λ oder Λ) bezeichnet wurde (Einstein-Modell).59 Die kosmologische Konstante ist konstitutiv für die Formulierung einer kosmologischen Abstoßungskraft. Sie soll der Gravitation über große Entfernungen von milliarden Lichtjahren entgegenwirken und Stabilität sichern. Stephen Hawking sieht in der Ad-hoc-Einführung ein »metaphysisch« motiviertes »Frisieren der Theoriestruktur«.60 Einstein besaß fraglos die Hintergrundüberzeugung, das Universum müsse stabil, stationär, ewig sein. Wäre er bei seinen ursprünglichen Gleichungen geblieben, so Hawking, »hätte er vorhersagen können, daß sich das Universum entweder ausdehnen oder zusammenziehen muß«, also instabil ist. Im frühen 20. Jahrhundert wird die metaphysische Stabilitätsannahme immer brüchiger. Als Reaktion darauf schlägt diese Annahme in eine explizite Forderung um – wie sich schon bei Maxwell in seiner allgemeinen Maxime andeutete. Der Physiker Alexander A. Andronov fordert, nur mit solchen Gegenständen in der Physik umzugehen, welche robust und stabil sind. So »entstehen die Forderungen […], daß Prozesse, die durch ein mathematisches Modell widergespiegelt werden, und die entsprechenden Prozesse, die im realen [physikalischen] System zu beobachten sind, in Bezug auf kleine […] Abänderungen […] stabil sein müssen. [… Diese] Forderung führt zum Begriff der strukturellen Stabilität.«61 – Ähnliches findet sich beim Wissenschaftshistoriker und -philosophen Pierre Duhem. Die mit Instabilitäten verbundenen Probleme erörtert er im Abschnitt »Beispiel einer mathematischen Deduktion, die niemals verwendet werden 59 Der Einstein-Kosmos von 1917 ist das erste moderne kosmologische Modell und somit der Klassiker schlechthin. Das Modell beschreibt ein endliches nichtexpandierendes statisches Universum. Einsteins Einführung der kosmologischen Konstante zur Sicherung der Stabilität des Kosmos sowie die sich später anschließenden steadystate-Modelle illustrieren beispielhaft die Wirkmächtigkeit der Stabilitätsannahme. 60 Steven Hawking: Das Universum in der Nußschale, München 2002, S. 29. 61 Alexandre Andronow et al.: Theorie der Schwingungen, Berlin 1965, S. 4. Mit anderen Worten: Es »müssen […] bei geringer Änderung der Parameter im allgemeinen die Merkmale erhalten bleiben, die das Verhalten des betrachteten [mathematischen] Modells kennzeichnen. Vor allem muß bei dynamischen [mathematischen Modell-] Systemen, die physikalischen Problemen entsprechen, bei geringer Abänderung der Parameter die qualitative Struktur der Zerlegung in Trajektorien ungeändert bleiben.« (ebd., S. 403).
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kann.«62 Duhem spricht von der »physikalischen Nutzlosigkeit« von Instabilitäten. Experimente seien nur an jenen Objektsystemen möglich, die Stabilität zeigen. Das gilt aber auch für Theorien, die die Objektsysteme symbolisch zu repräsentieren beanspruchen. Um Stabilität sicherzustellen, seien »strenge Bedingungen« zu fordern. Diese müsse »man der mathematischen Deduktion auferlegen«, der Struktur der Theorien.63 Dadurch werden instabile Gegenstände ausgeklammert. Nur so sei exakte Naturwissenschaft überhaupt möglich.64 Die Stabilitätsannahme weist somit eine metaphysische, später, im Brüchigwerden, zudem eine normativ-methodologische Dimension auf. Dieses metaphysisch-methodologische Zusammenspiel war es offenbar, das den Weg von der Erstentdeckung bis zur Breitenanerkennung der Instabilität so lang werden ließ. Ab den 1960er Jahren beginnen sich Instabilität, Chaos und Komplexität im Kern der exakten Naturwissenschaft zu etablieren.
I MPLIKATIONEN
FÜR PHILOSOPHISCHE
D ISZIPLINEN
Die Wissenschaftsphilosophie hat – wie die exakten Wissenschaften selbst – ihre Positionen unter der Annahme einer stabilen Welt entwickelt. Jedoch, wenn sich heute zeigt, dass Instabilität die Welt durchzieht, kann das die Positionen der (klassisch-modernen) Wissenschaftsphilosophie berühren. (a) Die Instabilität der Gegenstandsseite, verbunden mit der experimentellen Reproduzierbarkeits-Problematik, hinterfragt den methodologischen Konstruktivismus und den Neuen Experimentalismus. Möglicherweise sind auch traditionelle, mitunter technomorphe Handlungs-, Planungs- und Entscheidungstheorien berührt. (b) Die Prognostizierbarkeits-Problematik betrifft instrumentalistische und pragmatistische Wissenschaftsphilosophien. (c) Die Testbarkeits-Problematik kann als Herausforderung gleichermaßen an Traditionslinien des wissenschaftlichen Realismus und des Empirismus verstanden werden. (d) Die Erklärungs-Problematik hinterfragt rationalistische Schulen. Angesichts dieser vierfachen Problematik werden die etablierten Positionen der Wissenschaftsphilosophie wohl selbst
62 Pierre Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien [1906], Hamburg 1978, S. 172f., 180f. 63 Ebd., S. 187. 64 Der Theorien-Holismus, den Quine unter Bezug auf die Arbeiten von Duhem entwickelt hat, ist offenbar – entgegen der üblichen Interpretation – nicht deskriptiv, sondern normativ zu verstehen. Dass sich im Theorie-Holismus eine Stabilitätsannahme zeigt, ist ein bislang kaum reflektiertes Themenfeld.
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instabil. Das ist von den Science and Technology Studies zwar oft äußerlich beschrieben, selten aber inhaltlich begründet worden. Die Anerkennung von Instabilität fordert die Positionen inhaltlich und methodologisch heraus, ihre Kernargumente zu hinterfragen. Vermutlich zeigt sich ein Reflexions- und Revisionsbedarf für die Wissenschaftsphilosophie. Gleiches mag für die selbsternannte Neurophilosophie gelten. Diese ist bekanntlich vor wenigen Jahrzehnten mit dem Anspruch angetreten, die Philosophie des Geistes zu beerben. Alte Fragen sollen durch Rekurs auf neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse abschließend beantwortet werden. Doch, Instabilitäten raten zur erklärungstheoretischen und interpretatorischen Vorsicht. Die erste Arbeit zum Themenfeld Neurophysiologie, Willensfreiheit und Instabilität geht ebenfalls auf James Clerk Maxwell in den 1870er Jahren zurück – eine Arbeit, die von der Neurophilosophie bislang kaum zur Kenntnis genommen worden ist.65 In seinem (bereits genannten) Essay »Does the Progress of Physical Science tend to give any Advantage to the Opinion of Determinism over […] the Freedom of the Will?« argumentiert Maxwell gegen Reduktionsansprüche eines ontologisch-metaphysisch angelegten Determinismus. »Much light«, so Maxwell, »may be thrown on some of these questions by the consideration of stability and instability.«66 Maxwell reflektiert die auf Instabilität basierende sensitive Abhängigkeit von den Startwerten und wendet diese auf die Willensfreiheit an. »In the course of this our mortal life we more or less frequently find ourselves on a watershed, where an imperceptible deviation is sufficient to determine into which of two valley we shall descend.« So zweifelt Maxwell an einer reduktiven Erklärung der Willensfreiheit im Horizont einer »doctrine of determinism«.67 Fällt die Stabilitätsmetaphysik, zeige sich die Brüchigkeit der DeterminismusDoktrin. In der heutigen Diskussion könnte Maxwells Bezugnahme auf Instabilitäten klärend sein. Nicht erst die großen Fragen nach Geist, Bewusstsein, Freiheit, Subjektivität sind ungelöst. Ungeklärt ist auch, was unter dem Gehirn, dem Materiellen, Physischen, Neuronalen zu verstehen ist. Trotz atemberaubender Erkenntnisse der Neurowissenschaften bleibt das Gehirn heute im Ganzen ebenso ungedacht wie der Geist, wie vielleicht der ganze Mensch. Eine notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Mental-Neuronal-Reduktion wäre, dass eine Beschreibung des neuronalen komplex-instabilen Systems »Gehirn« gelingt – was jedoch angesichts der hier aufgezeigten Instabilitäts-Problempunkte begrenzt ist. Eine unified science of brain/mind, von der Patricia S. Churchland in
65 Maxwell: Progress of Physical Science, S. 434f. 66 Ebd., S. 440. 67 Ebd., S. 441.
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den 1980er Jahren sprach,68 erweist sich ebenso als eine Illusion wie eine einheitliche Gehirn-Theorie mit universellem Geltungsanspruch. Einiges scheint für Geert Keils und Herbert Schnädelbachs Einschätzung zu sprechen: »Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Vertrautheit mit den Naturwissenschaften neigen viele Philosophen zur Überschätzung der Erklärungsleistung naturwissenschaftlicher Theorien.«69 Die Instabilitätsthematik könnte auch die Technikphilosophie berühren. Technik wandelt sich – vielleicht kann davon gesprochen werden, dass eine nachmoderne Technik im Entstehen ist. Nachmoderne Technik weist – in Erweiterung zur modernen Technik – eine größere Autonomie auf. Sie zeigt sich in den sogenannten autonomen Systemen, in Agenten-Systemen, in der Robotik, in den Nano-, Bio- und Informationstechnologien. Technik hat mittlerweile, so scheint es, das Moment der Ruhe und Bewegung in sich, nicht nur von außen her: Technik handelt (oder es können ihr Handlungen begründeterweise zugeschrieben werden). Mitunter wächst sie und reproduziert sich. Diese »untechnische« Technik wird phänomenal nicht mehr als Technik wahrgenommen.70 Dabei liegt die Bedingung der Möglichkeit für den autonom erscheinenden Phänotyp in dem veränderten Technikkern. Instabilitäten konstituieren diesen Technikkern – das ist meine zugespitzte Diagnose.71 Sie bilden die Quelle für eine hohe Dynamik, für Selbstorganisation und Emergenz, für Eigenaktivität und Autonomie, für Flexibilität und Adaptivität. Nachmoderne Technik nutzt Instabilität als Produktivität – als Quelle einer als autonom, eigenaktiv und lebendig 68 Patricia S. Churchland: Neurophilosophy. Towards a Unified Science of Mind/Brain, Cambridge/Mass. 1986. 69 Geert Keil, Herbert Schnädelbach (Hg.): Naturalismus, Frankfurt/M. 2000, S. 7. Keil und Schnädelbach kritisieren vielfältige naturalistische Reduktionsansprüche. So sind es, wie Oswald Schwemmer zuspitzt, »nicht allein Wissenschaftler, sondern [insbesondere] Philosophen [, die] denn auch häufig bis nahezu ausschließlich […] die triumphale Auflösung der Rätselfrage Mensch feiern möchten.« (Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997, S. 18). Dabei könnte die Erkenntnis von Instabilitäten neuronaler Prozesse zur Anerkenntnis der grundlegenden Unbestimmbarkeit des Menschen beitragen. 70 Mittlerweile bevölkern Mischwesen, Hybride, Cyborgs, Biofakte und Autonome Systeme unsere technisch-natürliche Welt. Vgl. Christoph Hubig: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006; Alfred Nordmann: Technikphilosophie. Zur Einführung, Hamburg 2008. 71 Der (nomologische) Genotyp von Technik wurde selten in den Blick genommen. Was etwa aus Perspektive phänomenologischer Zugänge der Technisierung plausibel ist, erscheint für die Diagnose der Veränderung von Technik als problematisch.
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erscheinenden Technik. Metaphorisch gesprochen: flexibler Tanz auf des Messers Schneide anstatt Totdämpfen und Stabilisieren. Die Naturalisierung der Technik erreicht einen neuen Höhepunkt, etwa in der Nanobiotechnologie.72 Was Schelling für die Natur sagte, gilt umso mehr für die nachmoderne Technik: Technik ist nicht primitiv!73 Die Nutzbarmachung der Produktivität der Instabilität meint aber auch: Verlust von Kontrollierbarkeit – mit weitreichenden, noch unausgeloteten und (möglicherweise) unauslotbaren Technikfolgenproblemen.74 72 Vgl. Davis Baird, Alfred Nordmann, Joachim Schummer (Hg.): Discovering the Nanoscale, Amsterdam 2004; Jan C. Schmidt: »Emergence and emergent properties«, in: David Guston et al. (Hg.): Encyclopedia of Nanoscience and Society, New York 2010, S. 180-184. 73 Das gilt nicht nur für technische Biosysteme, sondern auch für die Robotik. Auf der RoboCup beispielsweise treten Mannschaften autonomer Roboter zum Fußballspiel gegeneinander an. Entscheidend ist, dass die Roboter jeweils sensitiv und adaptiv auf die jeweilige Spielsituation reagieren. Die Situation ähnelt dem Billard; auch hier haben kleinste Veränderungen in der Ausgangssituation große Wirkungen. Billard ist paradigmatisch für Instabilitäten. Je autonomer ein Roboter agiert, desto geringer sind die Vorhersagemöglichkeit und die Kontrolle. Rolf Pfeiffer meint, dass es für den Konstrukteur »schwierig ist […], Vorhersagen zu machen, wie sich der Roboter in einer Situation, die nicht im Detail vorgesehen war, verhalten wird. Wendet man offene evolutionäre Verfahren an, wo keine Fitnessfunktion vorgegeben wird, wo also lediglich das Überleben die Selektion bestimmt, hat der Designer [= Konstrukteur] noch weniger Kontrolle über das Verhalten des Akteurs.« (Rolf Pfeiffer: »Körper, Intelligenz, Autonomie«, in: Thomas Christaller, Josef Wehner (Hg.): Autonome Maschinen, Wiesbaden 2003, S. 137-159.) So stellt Pfeiffer heraus: »Für den RoboterDesigner ist die größte Herausforderung, Roboter zu entwerfen, die über Autonomie verfügen.« (Ebd., S. 144) »Autonomie« wird explizit als »emergente Eigenschaft« verstanden. Als Ziel seiner Ansätze setzt sich Pfeiffer, eine »Exploration der Emergenzen« zu erreichen und damit ein »besseres Verständnis des Verhältnisses von Körper, Intelligenz und Autonomie.« Evolutionäre Verfahren machen sich den Durchgang durch Punkte struktureller Instabilitäten zunutze. Klassisch-moderne Technik verstand Technik aus der Perspektive eines raumzeitlich materiell-konstruierten Stabilitätsdogmas. 74 Das haben wir jüngst im global-medialen Finanzkapitalismus erfahren. Der Finanzkapitalismus stellt sich rückblickend als ein Versuch des Experiments dar, nicht als Experiment selbst. Der Versuch des Experiments ist an real-konstruierten Instabilitäten (Hedgefonds, Derivate, Optionen) gescheitert. Algorithmenbasierte autonome Agentensysteme haben die Instabilitäten generiert. Der Tanz auf des Messers Schneide ist misslungen. Kontrollverlust ist die Folge. In seinen Paßwörtern hat Jean Baudrillard
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Nachmoderne Technik ist somit gerade nicht-experimentell – und das ist möglicherweise das Problem.75
AUSBLICK Seit Beginn des Projekts der Moderne setzen wir uns der Welt nicht einfach aus, wir machen Erfahrungen mit ihr. Wir versuchen, sie experimentell als stabile zuzurichten – und Kontrollierbarkeit sicherzustellen.76 Dass diese Zurichtung
dies treffend – im Hinblick auf den befreienden wie bedrückenden Kontrollverlust unter dem Stichwort »Chaos« – vorweggenommen: »Heute geben unsere Wissenschaften das strategische Verschwinden des Objekts auf dem Schirm der Virtualisierung zu: Das Objekt ist fortan nicht mehr greifbar. […] Die Spielregel ist im Begriff, sich zu verändern […]. Andere Kulturen, andere Metaphysiken werden durch diese Entwicklung sicherlich weniger erschüttert, weil sie nicht den Ehrgeiz, das Phantasma verspürten, die Welt zu besitzen, sie zu analysieren, um sie zu beherrschen. Da wir aber danach strebten, sämtliche Postulate zu beherrschen, steuert nun natürlich unser eigenes System auf die Katastrophe zu.« (Jean Baudrillard: Paßwörter, Berlin 2002, S. 47f.) Rückblickend scheint der so genannte Postmodernismus-Diskurs einiges von dem vorweggenommen zu haben, was uns heute prägt. 75 Die Instabilitätsthematik trägt eine Problematisierung von Handlungstheorien in sich, welche Handlungen traditionell zumeist technomorph modelliert (kritisch: Christoph Hubig: Kunst des Möglichen I). Wenn beispielsweise v. Wright sein Handlungsverständnis in der Unterscheidung von Tun und Herbeiführen paradigmatisch am Experimentieren orientiert, so unterstellt er ebenfalls Stabilität. Was aber, wenn Stabilität nicht gegeben und nicht herstellbar ist, könnte gefragt werden. Wie verändert sich das technomorph geprägte Handlungsverständnis, was Stabilität voraussetzt? Kann noch von Handlung gesprochen werden – und, ethisch wie auch juristisch relevant, von Zuschreibbarkeit? Welcher Zusammenhang von Intention zur Konsequenz findet sich? Was also wären dann Eckpunkte für modifizierte Handlungstheorien, die der Instabilität Rechnung tragen? – Diese Fragen können hier nicht weiter verfolgt werden. 76 Die Sachen der Welt, die wir fest-stellen, sind Tat-Sachen, also Sachen unserer Taten: Real-Konstruktionen. Das ist erkenntnistheoretisch in der kognitiv-theoretischen Engführung, insbesondere in der Dichotomie zwischen Realismus und Konstruktivismus, noch ein wenig unterreflektiert (Jan C. Schmidt: »Realkonstruktivismus als kritisch-materialistische Erkenntnistheorie«, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 24/25, 2007, S. 6784).
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teilweise möglich war und ist, ist die Quelle der Erfolgsgeschichte der klassischmodernen Natur- und Technikwissenschaften. Doch zeigt der Stabilisierungs-Versuch des Projekts der Moderne Grenzen. Stabilität und Instabilität rücken in ein neues Verhältnis. Angesichts der Prävalenz von Instabilität erscheint das Projekt der Moderne rückblickend nicht nur als das Zeitalter des Experiments, sondern als eines des Versuchs mit dem Experiment. Das Experiment stellt sich heute als experimentell dar, insofern aufs Ganze gesehen fragwürdig wurde, ob es zur Struktur der Wirklichkeit passt. Die nachmoderne Physik legt nahe, dass das Experiment des Experiments dem Ende entgegen geht. Zu Ende geht der großangelegte Versuch, durch das Experiment Reproduzierbarkeit, Reversibilität und Regularität universell her- und sicherzustellen sowie Prognostizierbarkeit und Planbarkeit generell zu ermöglichen.77 Falsifiziert haben sich damit die klassisch-moderne Stabilitätsmetaphysik sowie die Stabilitätsmethodologie, welche jedem klassisch-modernen Experiment als metaphysisch-methodologische Annahme über die Gegenstandsseite zugrunde liegen. Freilich gibt es weiterhin klassisch-moderne Experimente. Allerdings müssen wir zugestehen: Die Experimente, die wir in der klassisch-modernen Naturwissenschaft konstruiert haben, zeigen sich umgeben von Instabilität. Aus heutiger Perspektive lagen sie allerdings immer schon am Rande der Stabilität. Die Inseln der Stabilität treten zurückblickend als ein methodologisch glücklicher Spezial- und Sonderfall im Meer der Instabilität hervor. Damit zeigt sich die Brüchigkeit des Stabilisierungs-Versuchs der Moderne. Die Zukunft indes scheint eine instabile, nicht-reproduzierbare und nichtexperimentelle zu sein – ein gänzlich unspielerisch-unkontrollierbarer Tanz auf des Messers Schneide.78 Ob wir darauf vorbereit sind, muss sich noch zeigen.
77 Gewiss, aus klassisch-moderner Perspektive hätte man Stabilität durchaus in die Liste jener Kategorialbegriffe aufnehmen können, die die Bedingungen der Möglichkeit klassisch-moderner Naturwissenschaft darstellen – wie einst Raum, Zeit und Kausalität; Kausalität allein ist, in ihrer schwachen Form wie Maxwell zeigt, nicht hinreichend. 78 Der Begriff des »Realexperiments« scheint da allzu optimistisch zu sein. Vgl. Groß et al.: Realexperimente.
Aufstieg und Fall des Nichts Gewalt, Fremdheit, Verheißung der Experimentalwissenschaft A LFRED N ORDMANN
Philosophiert wird nicht nur im Kopf und im Medium der Sprache. Auch im materiellen Vollzug eines naturwissenschaftlichen Experiments findet eine Art praktisches Philosophieren statt, wird gezeigt, provoziert, ermöglicht, werden Räume des Handelns und Denkens erschlossen, fragwürdige Tatsachen geschaffen. Berühmt hierfür ist ein Experiment, das in geläufigen Rekonstruktionen als Nachweis des Vakuums gilt.1 Philosophisch bedeutsam ist es in mehrfacher Hinsicht und zwei dieser Hinsichten sollen gleich genannt werden, weil sie hier nämlich nicht weiter verfolgen werden, so interessant sie auch sein mögen. Zunächst war die Frage, ob es einen leeren Raum geben kann, in dem sich keinerlei Materie befindet, naturphilosophisch äußerst umstritten. Hier also griff ein Experiment in einen philosophischen Diskurs ein, der bis in die Antike zurückreicht und mit diesem Experiment keineswegs plötzlich abbrach. Hier ließe sich fragen, was philosophisch auf dem Spiel stand, und zwar nicht nur in der Sache selbst, also in der Frage, ob es einen leeren Raum geben kann. Wie seinerzeit bei Galileos Teleskop ging es philosophisch auch darum, ob ein empirisch erzeugter experimenteller Befund gegen rationalistisch aus Prinzipien hergeleitete Argumente geltend gemacht werden kann. Wenn es in der Natur prinzipiell keine Leere geben kann, dann wird auch kein Experiment einen wirklich leeren Raum erzeugen können. Von dieser Debatte ausgehend ließe sich verallgemeinernd feststellen, dass bei genauerem Hinsehen sehr viele, vielleicht alle naturwissenschaftlichen Experimente Annahmen über Natur und Naturerkenntnis 1
Eine einführende Darstellung bietet James Bryant Conant (Hg.): »Robert Boyle’s Experiments in Pneumatics«, in: Harvard Case Histories in Experimental Science, Bd. 1, Cambridge 1964, S. 1-63.
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hinterfragen. Mehr noch, angesichts dieser Tatsache wäre es ein Armutszeugnis für die Philosophie, dass sie sich naturwissenschaftlichen Experimenten zumeist erst dann annimmt, wenn sie vom Ergebnis her paradox und rätselhaft erscheinen und unseren Alltagserwartungen von Kausalität oder freiem Willen widersprechen. Erst wenn sich die Materialität dieser Experimente in der Versprachlichung aufgelöst hat, kommen sie in Form von unterhaltsamen Gedankenexperimenten bei den Philosophen an. Die zweite hier nicht weiter verfolgte Fragestellung knüpft unmittelbar hieran an, indem sie den Unterschied herausarbeitet zwischen den tatsächlichen Experimenten eines Robert Boyle und einem bloßen Gedankenexperiment oder ideengeschichtlich rekonstruierten Experiment. Boyles Experimente verlangten harte körperliche Arbeit, um ein laut ächzendes Pumpwerk zu bedienen. Luft zischte durch die Ventile und Boyles Publikum wusste nie, wann die Glashaube der Vakuumpumpe bersten würde. Das Experiment in seiner Materialität – und insbesondere das heute im Mittelpunkt stehende Experiment – hat nicht die Philosophie insgesamt, wohl aber die Wissenschaftsphilosophie erschüttert und entscheidend verändert. Und dies geschah erst vor etwa 25 Jahren mit der Veröffentlichung eines Buchs von Ian Hacking, das auf englisch ›Representing and Intervening‹ heißt und auf Deutsch als ›Einführung in die Philosophie der Wissenschaften‹ veröffentlicht wurde. Auch dies ließe sich weiter vertiefen, wie dieses Experiment das philosophische Verständnis von wissenschaftlicher Praxis geprägt hat. So ließe sich beispielsweise anhand des jetzt zu besprechenden Experiments fragen, woran sich eigentlich eine wissenschaftliche Tatsache, ein Faktum, erkennen lässt – eine Tatsache darf nämlich weder zu kompliziert, noch zu minutiös sein, sie bedarf einer aphoristischen Prägnanz und sinnhaft kompakten Gestalt, um als schlagkräftige und möglichst überzeugende Tatsache gelten zu können.2 Die philosophische Geschichte der aussagekräftigen Tatsache ist somit zugleich eine Geschichte des Experimentierens als handwerkliche Kunst. All dies spielt in die folgenden Betrachtungen hinein. Wie der Titel vom Aufstieg und Fall des Nichts bereits ankündigt, beschränken sie sich nicht auf den historischen Zeitpunkt, zu dem das manchmal sogenannte vacuum-in-vacuo Experiment zuerst vorgeführt wurde und seine Wirkung entfaltete. Um das wissenschaftliche Instrument soll es gehen, bzw. den Experimentalaufbau, der einen experimentell-pragmatischen Begriff des Vakuums an die Stelle des metaphy-
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Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen – Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt/M. 2001; Davis Baird, Alfred Nordmann: »Facts-well-Put«, in: British Journal for the Philosophy of Science, Bd. 45, 1994, S. 37-77.
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sisch vorgestellten leeren Raums setzte, und um die bis heute andauernde Geschichte dieses Komplexes von Apparat und Welt, der uns das Vakuum gewährte.3 In drei Schritten entfaltet sich damit eine Geschichte des Verhältnisses von Wissenschaft, Natur und Gesellschaft.
S CHÖPFUNGSGESCHICHTE Die Materialität und Bedeutung des vacuum-in-vacuo Experiments erschließt sich am besten, wenn erst einmal trocken rekapituliert wird, auf welche Weise dieses Experiment ein Argument für das Vakuum geliefert hat, was seine Logik und Rhetorik war. Daran anschließend lässt sich zeigen, wie es zunächst wahrgenommen wurde, wie es gewirkt hat. Die Geschichte des Apparats, der das Experiment wesentlich ausmacht, beginnt 1643 mit dem Barometer. Evangelista Torricelli füllt Quecksilber in eine oben geschlossene Glasröhre und stellt die so gefüllte Glasröhre in ein Quecksilberbad. Die Säule fällt, aber sie fällt nicht ganz. Damit stellen sich zwei Fragen, von denen die erste nur am Rande interessiert: Warum läuft das Quecksilber nicht einfach aus der Röhre hinaus und fällt auf das Niveau des Quecksilberbads? Und was befindet sich in dem entstandenen Raum oberhalb der Quecksilbersäule – könnte es sich um ein Vakuum handeln? Zur ersten Frage leistet Blaise Pascal fünf Jahre später einen entscheidenden Beitrag, indem er den torricellischen Apparat einen Berg hinaufträgt und auf dem Gipfel des Puy-du-Dome feststellt, dass die Säule dort tiefer fällt als im Tal. Dies spricht dafür, dass die umgebende atmosphärische Luft Druck auf das Quecksilberbad ausübt und eine Art Gegendruck und Gleichgewicht zur im Röhrchen stehenden Quecksilbersäule darstellt. Auf dem Berg ist der Luftdruck niedriger und entsprechend leichter fällt die Quecksilbersäule, die nun ein konzentriertes Spiegelbild der ihrerseits unterschiedlich hohen atmosphärischen Luftsäule über dem Quecksilberbad ist. Damit ist aber noch nicht beantwortet, ob der durch die herunterfallende Quecksilbersäule gebildete Raum am oberen Ende des geschlossenen Röhrchens eigentlich leer ist oder nicht. Dieser auch als Torricelli’sches Vakuum bekannte Raum wurde weitere 10 Jahre später – um 1658 – von Robert Boyle in ein anders erzeugtes Vakuum gestellt. Sein Instrument ist eine sogenannte Luftpumpe, heute würden wir Va-
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Rom Harré spicht davon, dass Experimente als Apparat-Welt-Komplexe aufgefasst werden können, die uns Dinge, Phänomene oder Prozesse gewähren, siehe sein »The Materiality of Instruments in a Metaphysics for Experiments«, in: H. Radder (Hg.): The Philosophy of Scientific Experimentation, Pittsburgh 2003, S. 19-38.
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kuumpumpe sagen. Es handelt sich um eine Abwandlung des Geräts, das Otto von Guerickes berühmtes Halbkugelexperiment ermöglicht hatte. Das Gemälde von Joseph of Wright zeigt so eine Luftpumpe (siehe Abb. 1), und obgleich sie hier offenbar für ein anderes Experiment verwendet wird, stehen auf dem Tisch auch die für das hier beschriebene Experiment erforderlichen Gerätschaften. Bei dieser Vakuumpumpe wird Luft aus einem Glasbehälter herausgepumpt und die um den Behälter herum versammelten Beobachter können sehen, was mit den Dingen passiert, die in ihn hineingestellt wurden. Boyle stellt nun das Torricelli’sche Quecksilberbad in diesen sogenannten Rezipienten der Luftpumpe, füllt das Glasröhrchen, stellt es aufrecht ins Quersilberbad. Wie immer fällt die Säule ein gutes Stück und erzeugt somit das Torricelli’sche Vakuum, wenn es denn eines ist. Dann setzt Boyle die gläserne Haube auf, dichtet alles sorgfältig ab und bestellt seine Arbeiter an die Pumpe. Luft wird in den Zylinder gesaugt und schon beim ersten Kolbenhub fällt die Quecksilbersäule weiter. Mit jedem Pumpvorgang wird der Kraftaufwand größer, die Säule fällt weiter, kommt schließlich etwa zweieinhalb Zentimeter oberhalb des Quecksilberbads zum Stehen. Weiter geht es nicht. Für Boyle ist klar, dass seine Pumpe nicht perfekt abgedichtet ist. Aber die Tendenz ist deutlich: Je mehr Luft herausgepumpt wird, desto tiefer fällt die Säule und würde mit einer besseren Pumpe auch ganz abfallen. Und dann würde sich der Raum über der Quecksilbersäule mit dem ganzen Raum unter der Glashaube vereinigen und buchstäblich identisch werden. Da letzterer durch den Entzug von Luft entstanden ist, wird auch ersterer nichts weiter als ein luftleerer Raum sein. Das Torricelli’sche Vakuum kann somit mit dem Boyle’schen Vakuum identifiziert werden. Boyle behauptet nicht, dass es sich hier um einen absolut leeren und materiefreien Raum handelt. Über unwägbare Partikel und Fluida, die womöglich hineingeströmt sind, gibt sein Experiment keine Auskunft. Aber dies kann er über sein experimentell erzeugtes experimentelles Vakuum sagen, dass es wenig oder gar keine Luft enthält. Mit dem vacuum-in-vacuo Experiment und vielen anderen Experimenten Robert Boyles beginnt ein Zeitalter der Chemie, das als das der pneumatischen Chemie bezeichnet wird, eine Chemie also, die sich mit den Eigenschaften der Luft, mit Atmung und Verbrennung und zunehmend mit den verschiedenen Luftarten, also mit Gasen beschäftigt. Die Luftpumpe ist hierbei vor allem der Apparat, um den sich interessierte Forscher versammeln, denn sie erlaubt es, die normale Luft zu entziehen, andere Luftarten einzuführen und zu beobachten, wie sich brennende Kerzen, Gewebeproben, Tiere, Pflanzen und eine Vielzahl von Stoffen unter diesen Bedingungen verhalten. Zur pneumatischen Chemie gehörte auch die Popularisierung der Experimente mit der Luftpumpe, die mit der Verbesserung und Verbreitung dieses Apparats einherging. Ihren Höhepunkt erlebte diese Entwicklung in
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der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aus der eine ganze Reihe Dokumente bekannt ist, die andere Blicke auf das vacuum-in-vacuo Experiment bieten. Das Gemälde von Joseph Wright of Derby aus dem Jahr 1768 stellt eine zeitgenössische Vorführung der Boyle’schen Experimente dar. Im Mittelpunkt steht eines der zahlreichen Tierexperimente ›An Experiment on a Bird in the Air Pump‹. Um die Luftpumpe herum versammeln sich aber nicht nur eine Familie und die verschiedenen Stufen des Lebens von der Kindheit bis zum Greis, sondern auf dem Tisch auch eine Abfolge von Experimenten, wie sie Boyle kunterbunt veröffentlicht hat: Sie sehen eine Kerze, die im luftleeren Raum verlöschen wird, zwei Guericke’sche Halbkugeln, eine Uhr, deren Ticken im Vakuum nicht mehr hörbar ist, eine Leber oder ähnliches organisches Material und natürlich – dies war Boyles Experiment Nummer 17 in einer sehr viel längeren Reihe – ein Barometer für die Vorführung des vacuum-in-vacuo Experiments. Viele Fragen lassen sich an dieses Bild stellen4 und eine erste, ganz naive Frage lautet, ob wir Betrachter uns eigentlich in einem wissenschaftlichen Labor befinden. Die Antwort darauf könnte so lauten: Hier steht das Laboratorium der Natur im Wohnzimmer einer bürgerlichen Gesellschaft. Wir sehen keine Experten, die einen wissenschaftlichen Nachweis erbringen, sondern ein Phänomen, das von verschiedenen Menschen erfasst, gedeutet oder verstanden wird. Die Luftpumpe ist ein kleines Theater, in dem das Schauspiel der Natur stattfindet – gleichermaßen unterhaltsam und erschreckend. Was hat das mit Wissenschaft zu tun, fragte Boyles Kritiker, der Philosoph Thomas Hobbes. Ihn erinnere die ganze sogenannte Experimentalphilosophie mit ihren spektakulären Demonstrationen unverstandener Phänomene an die Zurschaustellung exotischer Tiere.5 Eine echte Wissenschaft müsse grundsätzlich auf Bewegungsprinzipien reflektieren und daraus ableiten, wie dieses oder jenes Phänomen zu verstehen ist. Echte Wissenschaft könne doch nicht darin bestehen, ein Experiment vorzuführen und es der Reflexion anheimzustellen. Die Luftpumpe und die mit Raffinesse konstruierten Experimente mit ihr verdankten sich dem Erfindungsreichtum von Ingenieuren und Handwerkern, die die Prinzi-
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Besonders empfehlenswert ist hierzu Werner Busch: Joseph Wright of Derby – Das Experiment mit der Luftpumpe, Frankfurt/M. 1986.
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»They display new machines, to show their vacuum and trifling wonders, in the way that they behave who deal in exotic animals, which are not to be seen without payment.« Hobbes’ ›Dialogus physicus‹ findet sich in einem Buch, das die Kontroverse zwischen Boyle und Hobbes für die Wissenschaftsphilosophie exemplarisch aufgearbeitet hat: Vgl. Steven Shapin, Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump, Princeton 1985, S. 348.
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pien und Ursachen der Bewegung nicht verstehen.6 Soll dieses Nichtwissen als Experimentalphilosophie und Naturwissenschaft firmieren dürfen? Hobbes’ Kritik an Boyle verdeutlicht, dass die in dem Gemälde Wright of Derbys aufgezeigte Konstellation des Experiments als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Reflektion für die Boyle’sche Experimentalphilosophie und pneumatische Chemie charakteristisch ist. Nicht die Wissenschaftler finden sich in einem geschützten und gegenüber der Gesellschaft abgeschlossenen Raum, nur der gefährdete, bald wiederzubelebende Vogel befindet sich in einem Labor, dessen äußere Grenze die gläserne Haube der Luftpumpe ist. Die Leere des Vakuums strahlt aus und erfüllt den öffentlichen Raum mit einer geradezu gefährlichen Spannung. Ein Streit über die physikalische Interpretation des Geschehens, über seine theologische Bedeutung, über den Hochmut des Menschen droht hier jederzeit auszubrechen. Auf diese Tatsachen lässt sich keine rationale Wissenschaft der Natur, des Menschen und des Staates gründen, sie fundieren keine Gesellschaftsordnung, von ihnen geht vielmehr Dissens, Gewalt und Zerstörung aus. So lautet der Vorbehalt des an der Geometrie orientierten Philosophen Thomas Hobbes, der Bewegungsprinzipien aus grundsätzlichen Überlegungen herleitet und eine empirische Experimentalwissenschaft ablehnt, die erfindungsreich Phänomene produziert, sie in einem öffentlichen Raum zur Schau stellt und ihnen eine unmittelbare Überzeugungskraft zuschreibt, die eine kritische Prüfung und damit den Grundlagenstreit provoziert. Der Streit zwischen Hobbes und Boyle ist Gegenstand des äußerst einflussreichen, im historischen Detail nicht unumstrittenen Buchs ›Leviathan and the Air-Pump‹ der beiden Wissenschaftssoziologen Steven Shapin und Simon Schaffer. Einen doppelten Skandal habe Boyles Experiment produziert, indem er erstens die metaphysische Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit eines Vakuums durch eine empirische und experimentell beantwortbare Frage ersetzt, und damit zweitens den Beweis für die destabilisierenden, geradezu gefährlichen Auswirkungen der Experimentalphilosophie erbringt. Weder kann er die scheinbare Tatsache des Vakuums fest in ein metaphysischtheologisches Weltbild einbetten, noch kann er seine Ausstrahlung in die Gesellschaft beschränken. Ob sich 50 Wissenschaftler einer Akademie oder die ganze bürgerliche Familienwelt um diese Fakten streiten, entzieht sich der Kontrolle des Experimentators.7 Hobbes wird gerne als der Verlierer in der Auseinandersetzung mit Boyle dargestellt. Den Triumphzug der Experimentalwissenschaften konnte er nicht
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Ebd. S. 347, 351.
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Ebd., S. 350.
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aufhalten. Aber seine Warnung über die zersetzende Wirkung der Experimente mit der Luftpumpe ist in das Selbstverständnis dieser Wissenschaften eingeflossen. Genau 130 Jahre nach Hobbes’ Kritik an Boyle wird der pneumatische Chemiker Joseph Priestley als radikaler Pamphletist dargestellt, der seine Verbrennungsexperimente und die zahlreichen von ihm entdeckten Gase in die Gesellschaft hinausträgt (siehe Abb. 2). Diese Beschreibung passt durchaus auf diesen radikalen Denker. So wie der römische Papst seinerzeit durchaus Grund gehabt hätte, sich vor reformatorischer Literatur zu fürchten, so habe laut Priestley »die englische Hierarchie (wenn denn an ihrer Verfasstheit irgendetwas nicht stimmig sein sollte) genausoviel Grund, vor der Luftpumpe oder einer Elektrisiermaschine zu erzittern«.8 Hier lohnt sich ein weiterer Blick auf das Gemälde Wright of Derbys, da es aus dem unmittelbaren Umfeld Priestleys stammt und der sogenannten ›lunar society‹, die sich einmal im Monat zu wissenschaftlichen Abenden zusammenfand und zu der außer Priestley die wichtigsten Industriellen aus Birmingham gehörten, zum Beispiel der Dampfmaschinenproduzent James Watt, der Keramikhersteller Josiah Wedgewood und der Arzt Erasmus Darwin, Großvater von Charles. Auf die Lunar Society spielt das Gemälde an und es verdeutlicht auch, wie Priestley sich die Aufklärung vorstellt, nämlich als gewaltsame Verdrängung des Vorurteils durch die in der Luftpumpe und ähnlichen Maschinen produzierten Tatsachen. »Dieser rasche Wissensprozess, der sich wie der Fortschritt einer Wasserwelle, des Klangs oder des Sonnenlichts nicht nur hierhin oder dorthin ausdehnt, sondern in alle Richtungen – dieser Wissensprozess wird, dies bezweifle ich nicht, das von Gott gewählte Mittel sein, allen Irrtum und alles Vorurteil auszurotten und ein Ende zu setzen aller unverdienten und angemaßten Autorität in Angelegenheiten der Religion wie in Angelegenheiten der Wissenschaft.«9
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»It was ill policy in Leo X. to patronize polite literature. He was cherishing an enemy in disguise. And the English hierarchy (if there be anything unsound in its constitution) has equal reason to tremble even at an air pump, or an electrical machine.« (Joseph Priestley: Experiments and Observations on Different Kinds of Air, New York 1970, S. xxiiii)
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»This rapid process of knowledge, which, like the progress of a wave of the sea, of sound, or of light from the sun, extends itself not this way or that way only, but in all directions, will, I doubt not, be the means, under God, of extirpating all error and prejudice, and of putting an end to all undue and usurped authority in the business of religion, as well as of science; and all the efforts of the interested friends of corrupt establishments of all kinds, will be ineffectual in their support in this enlightened age; though, by retarding their downfall, they may make the final ruin of them more glorious.« (Ebd.)
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Priestley ist gewissermaßen der Albtraum von Thomas Hobbes. Nicht seine Theorien oder seine philosophischen Gründe sind es, die gefährlich sind, sondern die einzelnen Tatsachen, die wie die Körner eines Schießpulvers eine explosive Mischung ergeben: »Wir legen sozusagen Sprengpulver, Körnchen um Körnchen, unter das alte Gebäude des Irrtums und Aberglaubens, die ein einziger Funke hiernach entzünden könnte, um eine augenblickliche Explosion zu bewirken.«10 Mit derlei Reden im Zeitalter der Französischen Revolution hat Priestley schließlich den Zorn einer aufgehetzten Volksmenge auf sich gezogen und musste nach der Zerstörung seines Hauses und seines Laboratoriums in die USA auswandern. Im Experiment wird ein Nichts oder zumindest eine Leere erzeugt, dies aber ist alles andere als eine von aller Weltlichkeit abgeschiedene Wahrheitssuche, sondern ein Angriff auf jeden dogmatisch-rationalistischen Versuch, eine Gesellschaftsordnung unter Berufung auf immer gültige Prinizipien festzuschreiben oder zu verewigen. Dieses Nichts ist somit keine bloße Abwesenheit störender Einflüsse und die Luftpumpe nicht nur ein Instrument zur Variierung des Luftdrucks. Dieses Nichts ist ein Ort des Todes und der Zerstörung und gleichzeitig der Ort, an dem das Leben beginnt und neue Phänomene entstehen. In einer Art Abgesang auf die pneumatische Chemie meint einer ihrer letzten Vertreter, John Robison, 1803, dass sich die Wissenschaft dank ihrer nicht mehr auf das Studium kunstvoll aufbereiteter Gegenstände beschränkt: »Wir haben jetzt Zugang in das Laboratorium der Natur selbst und werden in einige der großartigen Verfahren eingeweiht, mit deren Hilfe der Schöpfer dieser schönen Welt sie zu einem bewohnbaren Ort gemacht hat.«11 Priestley konstruiert einen ähnlichen Kontrast, wenn er mit Rückgriff auf die Luftpumpe den Unterschied zwischen dem Verfassen fiktiver Romane und echter Geschichtsschreibung im Laboratorium der Natur erläutert:
10 »We are, as it were, laying gunpowder, grain by grain, under the old building of error and superstition, which a single spark may hereafter inflame, so as to produce an instantaneous explosion.« (Joseph Priestley: The Importance and Extent of Free Enquiry, London 1785) 11 »It is no longer confined to the study of the properties of bodies which make them the subject of human art, by which they are worked up for our purposes. We are now admitted into the laboratory of nature herself, and instructed into some of those great processes by which the author of this fair world makes it a habitable place.« (John Robison: »Introduction«, in: Joseph Black: Lectures on the Elements of Chemistry, Edinburgh 1803, Bd. 1, S. vi)
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»Alle wahre Geschichte hat einen grundlegenden Vorteil gegenüber jedem Werk der Fiktion. Belletristische oder fiktive Werke gleichen Apparaten wie Globen und Planetarien, die ausgedacht werden, um die Prinzipien der Philosophie zu illustrieren und die nicht weiter reichen als die Ansichten der menschlichen Einbildungskraft. Dagegen gleicht wahre Geschichte oder Geschichtsschreibung den Experimenten mit der Luftpumpe, Kompressions- und Elektrisiermaschine, die die Verfahren der Natur und die Natur Gottes selbst vorführen.«12
Zu welchem historischen Ereignis führt nun aber die Luftpumpe als Geschichtsschreiberin? Da ist einerseits der zukünftige Zeitpunkt, an dem das auf Irrtum und Aberglaube basierende Gesellschaftsgebäude in sich zusammenstürzen wird. Aber zugleich wird auch ein urgeschichtliches Ereignis durch das vacuum-invacuo Experiment und durch die bloße Entleerung des Glasbehälters aufgerufen. Vor allem zeigt der luftleere Raum nämlich an, dass es die atmosphärische Luft ist, die die Erde zu einem bewohnbaren Ort macht. Das experimentelle Vakuum in der Luftpumpe ist wie in Wrights Gemälde ein Ort vor und nach dem Leben, ein Ort des Todes, ein Ort aber auch der (Wieder-)Belebung durch das Öffnen des Ventils und dann ein Ort der Schöpfung und des Entstehens. Luftleer, kalt und stumm ist dieses experimentelle Vakuum. So stellt sich einem weiteren Zeitgenossen Priestleys und Wright of Derbys die Schöpfungsgeschichte dar. In den ›Nachtgedanken‹ von Thomas Young steht am Anfang eine kalte und tote Nacht, in der die Schöpfung schläft und das Ende der Welt schon verkündet: »Wie tot das Schweigen! und wie tiefgründig die Dunkelheit! Weder Auge noch lauschendes Ohr findet seinen Gegenstand; Die Schöpfung schläft. Es ist, als ob der allgemeine Puls Des Lebens stillsteht und die Natur eine Pause macht; Eine schreckliche Pause, die ihr Ende prophezeit.«13
12 »All true history as a capital advantage over every work of fiction. Works of fiction resemble those machines which we contrive to illustrate the principles of philosophy, such as globes or orreries, the use of which extend no further than the views of human ingenuity; whereas real history resembles the experiments by the air pump, condensing engine and electrical machine, which exhibit the operations of nature and the nature of God himself.« (Joseph Priestley: Lectures on History and General Policy, London 1761, S. 27f.) 13 »Silence, how dead! and darkness, how profound! / Nor eye, nor listening ear, an object finds; / Creation sleeps. ‚T is as the general pulse / Of life stood still, and Nature made a
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Eine schrecklich-erhabene Pause der Natur ist das Boyle’sche Vakuum, in dem sich keine Schallwellen fortpflanzen, in dem alles zum Stillstand kommt und stirbt. In seinem wissenschaftlichen Lehrgedicht ›Der botanische Garten‹ überträgt Charles Darwins Großvater Erasmus die Schöpfungsgeschichte von Young ganz buchstäblich in den Rezipienten der Luftpumpe: »So wie sich in bronzenen Pumpen der Kolben regt Und das Membranventil die Gewichtslast trägt […] Wie sich dünn und immer dünner das Fluidum dehnt Und Stille mit Leere wohnlich versöhnt So regieren mit grimmer Freude im Nichts mit Macht Das vorzeitliche Schweigen und uralte Nacht.«14
Dieses erste Kapitel dieser Experimentalgeschichte des Vakuums trägt daher die Überschrift ›Schöpfungsgeschichte‹. Sie verdeutlicht den Aufstieg des Nichts, das Einblick in die Werkstatt der Natur verschafft und Teilhabe an zerstörerischen wie kreativen Verfahren, an denen sich die Fantasie, aber auch der Streit entzündet. Das nächste Kapitel wird sehr viel kürzer und gehört schon zur Verfallsgeschichte des Nichts. Es trägt den Titel ›Durchgangsritus‹, weil die experimentelle Erzeugung der Leere hier nur noch ein Initiations- und Reinigungsritual ist, das Zugang zu einer von der gesellschaftlichen Wirklichkeit geschiedenen Welt gewährt. Die so abgetrennte Welt ist das Labor, das sich vor allem durch die Isolierung gewöhnlich unzugänglicher Phänomene auszeichnet und die Absonderung der zweckfrei vorgestellten reinen Wissenschaft von der sie umgebenden Gesellschaft.
pause; / An awful pause! prophetic of her end.« (Edward Young: Night Thoughts or The Complaint and The Consolation, New York 1975, S. 2) 14 »How as in brazen pumps the pistons move, / The membrane-valve sustains the weight above: / Stroke follow stroke, the gelid vapour falls, / And misty dew-drops dim the crystal walls; / Rare and more rare expands the fluid thin, / And Silence dwells with Vacancy within. - / So in the mighty void with grim delight / Primeval Silence reign’d with ancient Night.« (Erasmus Darwin: The Botanic Garden, Bd. 1, New York 1978, S. 172f.)
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D URCHGANGSRITUS Auch im 19. und 20. Jahrhundert wird ein Barometer in den Rezipienten einer Luftpumpe gestellt, wobei die Luftpumpe inzwischen motorisiert und automatisiert ist. Damit soll nun nicht demonstriert werden, dass es ein Vakuum bzw. luftleeren Raum gibt. Dies wird vielmehr längst vorausgesetzt. Das Fallen der Quecksilbersäule ist hier kein Phänomen, das Aufschluss über die Identität des Torricelli’schen und des Boyle’schen Vakuums gibt. Vielmehr dient das Barometer dazu, die Luftpumpe zu eichen oder zu kalibrieren. Wie gut eine Luftpumpe ist und wie weitgehend der Rezipient entleert wurde, das misst das Barometer. Im Moment seiner Anerkennung ist das spektakuläre und kontroverse Experiment zur Messprozedur degradiert worden. Als Hobbes und Boyle noch darüber stritten, ob die Luftpumpe einen luftleeren Raum überhaupt nachweisen kann, galt die nicht ganz heruntergefallene Quecksilbersäule als ein Indiz dafür, dass es ein Vakuum nicht gibt, auch nicht oberhalb des Quecksilbers im Glasröhrchen des Barometers. Kaum hatte das vacuum-in-vacuo Experiment jedoch überzeugt, stellte sich auch schon eine theoretische Indifferenz gegenüber der Imperfektion unterschiedlich leistungsfähiger Luftpumpen ein.15 Wenn es nur noch darum geht, den luftleeren Raum mit der Luftpumpe zu realisieren, dann gibt es eben unterschiedliche Grade der Perfektion und eine vollständige Realisierung nur im technischen Grenzfall, wenn nämlich gar kein Luftdruck mehr herrscht und das Barometer gar nichts mehr anzeigt, weil sich das Vakuum im Glasröhrchen mit dem umgebenden Raum quasi verschmolzen hat. Die Beobachtung des vacuum-in-vacuo ist nunmehr eine bloße Operation des Experimentators. Sie verschafft Eintritt in eine künstliche Welt, in der ganz bestimmte Bedingungen herrschen und die störende Wirkung der atmosphärischen Luft beseitigt worden ist. In soziologischen Untersuchungen wissenschaftlichen Wissens ist all dies bereits analysiert und diskutiert worden. Bruno Latour deutet das Geschehen so, dass die Anerkennung des Experiments mit Schließung der Debatte um die Existenz des Vakuums zusammenfällt und alle Fragen nach der Funktionsweise des Instruments in einer ›black box‹ impliziten Wissens verschwinden.16 Die Luftpumpe ist jetzt nur noch ein Gerät zur Herstellung des Vakuums und die Anzeige
15 Benannt wurde diese theoretische Indifferenz von Harry Collins, Martin Kusch: »Automating Air Pumps: An Empirical and Conceptual Analysis«, in: Technology and Culture, Bd. 36, 1995, S. 802-829; siehe auch Collins, Kusch: The Shape of Actions: What Humans and Machines can do, Boston 1998. 16 Bruno Latour: Science in Action, Boston 1987.
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des Barometers gibt Auskunft über den erreichten Zustand. Dagegen argumentieren Harry Collins und Martin Kusch am Beispiel moderner Luftpumpen, dass mit der Einigung über das Experiment so etwas wie theoretische Indifferenz einsetzt, aber die Sorge um die Integrität des Apparats und seine Funktionsweise noch nicht aufhört: Wenn es mit einer Luftpumpe nicht gelingt, ein Vakuum zu erzeugen, dann wird nicht die Existenz des Vakuums bezweifelt, sondern werden vielmehr die Ventile genau untersucht. Das ist mit theoretischer Indifferenz bei gleichzeitiger Toleranz gegenüber technischen Fehlern gemeint. Erst mit der heute vollzogenen Automatisierung der Luftpumpe verschwindet auch das implizite Wissen des Experimentators in einer black box: Jetzt ist die Leistung der Luftpumpe unabhängig nicht nur von der Theorie, sondern auch von den praktischen Fertigkeiten des Experimentators.17 Was sich zunächst als Skandal in den Wohnzimmern der englischen Gesellschaft präsentierte, hat sich hiermit in die Reinheit der Wissenschaft und ihrer Phänomene zurückgezogen. Die Luftpumpe erzeugt immer noch eine merkwürdig entlegene Welt, aber nicht im Sinne einer Bühne, auf der Schöpfungs- und Zerstörungsgeschichten der Natur rekapituliert werden und die den sinnlich faszinierten, furchtsamen Betrachter in ihren Bann schlägt. Diese andere Welt ist vielmehr durch und durch künstlich, weil es zu den Anforderungen der Wissenschaft gehört, sich künstliche Welten zu schaffen, in denen die Phänomene in geradezu widernatürlicher Reinheit dargestellt werden können. Das Fallen des Barometers ist ein Gradmesser hierfür. Es verschafft Eintritt in einen luftleeren Raum, in dem sich gut beobachten aber gar nicht leben lässt, und der von dem ihn umgebenden gesellschaftlichen Raum scharf getrennt ist: Hier herrschen besondere Bedingungen, hier wird von den Verhaltensweisen, den körperlichen Charakteristika und Fertigkeiten der Wissenschaftler ebenso abgesehen, wie von Luftdruck, Reibung, Verschmutzung. Als reine Geister im Austausch untereinander und mit den experimentell erzeugten Phänomenen treffen sich die Wissenschaftler unter den Idealbedingungen des luftleeren Raums bei annähernd 0 Grad Kelvin. Gerade aus der derartig international vernetzten und standardisierten Idealkunstwelt heraus reklamiert diese Wissenschaft ein privilegiertes Wissen und eine besondere Autorität, die nur denen zuteil wird, die beispielsweise mit Hilfe der Luftpumpe Einlass gewonnen haben. Das vacuum-in-vacuo leistet nun also eine reinigende Trennungsarbeit, indem es erstens den Wissenschaftler vom Normalbürger trennt, zweitens die Natur unter künstlichen Laborbedingungen von ihrer komplexen Erscheinung in der vertrauten Erfahrungswelt, und drittens die an der Betrachtung des reinen
17 Collins, Kusch: »Automating Air Pumps«.
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Phänomens interessierte Wissenschaft von der handgreiflich unreinen Technik. Die Wissenschaft selbst zieht sich somit in das Vakuum zurück und behauptet für sich eine gesellschaftliche Leere. Was in ihrer Sphäre gilt, soll ewig und überall gelten, unabhängig von allem, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einer gewissen Zeit behauptet wird. Und wenn es in ihrer Sphäre eine sinnvolle Frage gibt, dann gibt es in der Regel auch schon eine experimentelle Methode, die forschungslogisch und experimentalmechanisch eine Antwort generiert. Die sich so verstehende Wissenschaft, die aus einem behaupteten gesellschaftlichen Vakuum heraus ihre Wahrheiten verkündet, wurde von Hannah Arendt und Herbert Marcuse kritisiert, während Jürgen Habermas und wiederum Hannah Arendt die Gesellschaft kritisierten, die dieser Entleerung in ihrer Mitte so viel Platz einräumt. Es ist nämlich nicht mehr die Natur, die im Rezipienten eine schreckliche und erhabene Pause macht, ihr eigenes Ende ankündigt und somit zur Kontemplation auffordert. Vielmehr ist es die menschliche Gesellschaft, die im Labor eine Pause macht. Ökonomische und politische Interessen mögen Geld und Personal in das Labor hineinfüttern und wollen kommerziell verwerten, was aus dem Labor herauskommt – aber gänzlich unberührt von ihnen sei angeblich das Geschehen im Labor selbst. So zusammenhanglos wie ein isoliertes Phänomen unter Laborbedingungen dargestellt wird, so zusammenhanglos erscheint dort auch die wissenschaftliche Frage nach einem Kausalverhältnis und seiner Erklärung. Nicht reflektiert wird auf die Mittel und Zwecke der Forschung, nicht auf ihre gesellschaftliche Bedeutung und technische Anwendung, es wird nicht nach dem Naturverhältnis gefragt, das die Herauslösung beobachtbarer Prozesse ermöglicht. »Das Naturbild der modernen Physik, dessen Anfänge man bis auf Galilei zurückverfolgen kann und das dadurch entstand, daß das Vermögen des menschlichen Sinnesapparates, Wirklichkeit zu vermitteln, in Frage gestellt wurde, zeigt uns schließlich ein Universum, von dem wir nicht mehr wissen, als daß es in bestimmter Weise unsere Meßinstrumente affiziert. […] Anstatt mit objektiven Eigenschaften, mit anderen Worten, finden wir uns mit den von uns selbst erbauten Apparaten konfrontiert, und anstatt der Natur oder dem Universum begegnen ›wir gewissermaßen immer nur uns selbst‹«.18
18 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2005, S. 333. Arendt zitiert hier Werner Heisenberg mit einer Aussage, die schon Martin Heidegger in ›Die Frage nach der Technik‹ aufgegriffen hatte. Er merkte dazu an, dass ein Mensch, der sich überall nur noch selbst begegnet, die Welt und sich selbst nur noch technisch begreift und sich darum im Grunde nirgendwo mehr selbst begegnet: »Heisenberg hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß sich dem heutigen Menschen das Wirkliche
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Laut Arendt wäre die Selbstbezüglichkeit, vielleicht Selbstgenügsamkeit, einer in ihrer Laborforschung verfangenen Wissenschaft kein Problem, wenn sich nicht aus ihrer esoterisch-hohepriesterlichen Entlegenheit heraus die Macht eines Expertenwissens entfaltete, das gesellschaftliche Auseinandersetzungen auf Sachfragen und technische Probleme reduzierte. Ein bloß instrumentelles Denken führe in eine Art Technokratie, in der politische Entscheidungen an den wissenschaftlichen Sachverstand delegiert würden und demokratische Selbstbestimmung gewissermaßen ausgehöhlt, entleert werde. Auf Grund solcher Diagnosen forderte etwa Herbert Marcuse eine ideologische Kritik und Neuorientierung von Wissenschaft und Technik. Jürgen Habermas sieht die Herausforderung anders und formuliert als gesellschaftliche Aufgabe die Reklamierung des Politischen: Nur in ein durch Nachlässigkeit selbst geschaffenes politisches Vakuum konnte die wissenschaftlich orientierte Zweckrationalität mit ihrer Anmutung von ›Sachzwängen‹ eindringen und als Ersatzideologie fungieren.19 Das vacuum-in-vacuo nimmt hier eine neue Bedeutung an: Die auf empirische Sachfragen reduzierte und von öffentlicher Selbstverständigung scheinbar entleerte Forschung vollzieht sich in der Leere einer bloß prozeduralen Demokratie, die sich an den Auskünften der Sachverständigen orientiert. Fast genau dreihundert Jahre liegen zwischen der Auseinandersetzung von Hobbes und Boyle und der Auseinandersetzung von Marcuse und Habermas. Hobbes sorgte sich, dass der Bezug auf wissenschaftliches Instrument und technisch-empirisches Argument ein intellektuelles Vakuum schaffe, in das Auslegungskonflikte strömen, so dass eine auf gesetzliche Grundlegung angewiesene Gesellschaft destabilisiert werden könnte. Habermas und Marcuse beklagen umgekehrt, dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen nicht stattfinden, weil Entscheidungsprozesse an ein scheinbar dienstleistendes Sachwissen delegiert und die impliziten Zwecksetzungen und Herrschaftsansprüche der Wissenschaft nicht thematisiert werden. Hiernach werden die ökonomischen und politischen Ansprüche moderner Industriegesellschaften festgeschrieben, indem das Experiment auf das Labor begrenzt bleibt und nicht in gesellschaftliche Zusammenhänge hineinwirken kann. Marcuse fordert an dieser Stelle eine Ausweitung der
so darstellen muß. […] Indessen begegnet der Mensch heute in Wahrheit gerade nirgends mehr sich selber, d. h. seinem Wesen.« (Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1994, S. 28) 19 Herbert Marcuse: »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, in: Otto Stammer (Hg.): Max Weber und die Soziologie heute – Verhandlungen des 15. deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 161-189; Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt/M. 1991.
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technisch-wissenschaftlichen Vernunft und Habermas die Stärkung kommunikativer Vernunft in politischen Verständigungsprozessen. Während also Hobbes, aber auch Priestley der Luftpumpe zutrauten, dass sie in die Gesellschaft eingreift, sie destabilisieren und womöglich sogar zerstören kann, stehen experimentelle Verfahren bei Marcuse und Habermas für ein bloß instrumentelles, technisch-prozedurales Denken, dessen politische und kulturelle Bedeutung vor allem im Ausschluss der Verständigung über Interessen, Zwecke oder Herrschaftsansprüche besteht.20 Insbesondere an der Physik orientiert sich das hier skizzierte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, da es vor allem die Physik ist, die mit hohem Aufwand unter kontrollierten Bedingungen entlegene Winkel ausspäht, um ihre Elementarteilchen aufzuspüren. Selbst für diese Physik jedoch hat die Trennung vom Labor als wissenschaftlichem Innenraum und dem gesellschaftlichen Außen nie wirklich funktioniert. Das Bild einer technisch hoch gerüsteten Laborwissenschaft und ihren immer größeren Instituten für scheinbar autonome Grundlagenforschung hat in den letzten Jahren einen wenig klangvollen Namen bekommen: Um Modus-1 Forschung handele es sich hier und somit um einen Typ von Forschung, der sein höchstes Ansehen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genoss und darüber hinaus das Denken über Wissenschaft und Gesellschaft bis in die 1970er Jahre bestimmte. Seither jedoch werde dieser Typ zunehmend von Modus-2 Forschung abgelöst. Während sich Modus-1 Forschung in ein gesellschaftliches Vakuum zurückzieht, um theoretisch interessante Weltbausteine sichtbar zu machen, macht sich Modus-2 Forschung die ganze Welt zum Labor. Statt entlegen fremde Welten für die ›strange particles‹ der Physik zu schaffen, geht es der Modus-2 Forschung um das Paradies auf Erden.21
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Das letzte Kapitel der Geschichte kann vorerst nur in Aussicht gestellt werden, schon darum weil es gerade erst begonnen hat. Allenfalls andeuten lässt sich vielleicht schon, dass es in diesem Kapitel weder um Aufklärung und aufklärerische Gesellschaftsveränderung geht, noch um eine von der Alltagswelt streng geschiedene Wahrheitssuche. Insofern das wissenschaftliche und gesellschaftliche Interes-
20 Vergleiche zu diesem Abschnitt Alfred Nordmann: Technikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, S. 133ff. 21 Helga Nowotny, Peter Scott, Michael Gibbon: Wissenschaft neu denken – Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist 2004.
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se hier vor allem auf Innovation gerichtet ist, stellt sich das von der Luftpumpe im Labor erzeugte Vakuum vor allem als Ausgangspunkt des Neuen dar. Dieses Neue ist zunächst beispielsweise die erstmals gelungene Manipulation eines Moleküls im Vakuum bei fast Null Grad Kelvin, aber vielversprechend dabei ist die Erwartung, dass dieses Neue technisch handhabbar werden kann. Was unter den besonderen Bedingungen des Vakuums gezeugt und heraufgezogen wurde, soll möglichst bald auf eigenen Beinen stehen und unter atmosphärischen Bedingungen bei Normaltemperaturen aus dem Labor hinaus ziehen in die Alltagswelt der Geräte und Artefakte. Die anfängliche Leere bezeichnet dabei die Möglichkeit eines möglichst überraschenden Neubeginns, der theoretische Erwartungen und jetzige technische Möglichkeiten überrumpelt und gerade dadurch erstmals seinen grenzüberschreitenden Charakter unter Beweis stellt.22 Die Forschung, von der hier konkret die Rede ist, kann als technowissenschaftliche Modus-2 Forschung bezeichnet werden, gemeint sind damit die Forschungen der Nanotechnologie, der Informations- oder Biotechnologien und all das, was als Zukunftstechnologie oder Schlüsseltechnologie bezeichnet wird. Die Unbestimmtheit dieser Bezeichnungen, die Größe und gleichzeitige Vagheit ihrer Versprechen, ist auch schon das Programm: In den Worten Gerhard Gamms zielt diese Unbestimmtheit »auf jene grundlegende Veränderung der Neuzeit, in der das technische Handeln sich […] in die Leere der vorbildlosen Produktivität einschreibt, für die es im Prinzip weder eine innere noch eine äußere Schranke gibt«.23 Als Ausgangspunkt der Technikentwicklung entspricht diese Leere den experimentellen Bedingungen, die im Labor geschaffen werden, damit etwas Neues, Überraschendes passiert, dessen Beherrschbarkeit und technischer Nutzen sich dann erkunden lassen. Die schrankenlose Produktivität der Natur im Labor enthält das Versprechen darauf, dass sich dort für jedes gesellschaftliche Problem – vom Klimawandel über die alternde Gesellschaft bis hin zur Umweltverschmutzung – eine Lösung ankündigen wird. Sollte sich wirklich jedes Molekül mit jedem anderen Molekül verbinden lassen, sollte die synthetische Biologie wirklich beliebige Organismen konstruieren können, sollten Computer wirklich autonom miteinander auch über uns Menschen und unsere Bedürfnisse kommunizieren und handeln lernen, dann ist das nicht Innovation um
22 In vielen Forschungsbeiträgen wird betont, dass ein im Labor erzeugter Effekt viel größer gewesen sei als von der Theorie vorausgesagt. Dies ist aber nicht als Kritik an der Theorie gemeint, sondern soll vor allem die beeindruckende Bedeutsamkeit und das technische Potenzial des Effekts belegen. 23 Gerhard Gamm: Nicht Nichts, Frankfurt/M. 2000, S. 279.
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der Innovation willen, sondern Verheißung der grenzüberschreitenden Erneuerbarkeit von Natur, Wirtschaftssystemen, Gesellschaft.24 Hier hat sich das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft also noch einmal geändert, insofern die Wissenschaft ganz einverleibt wird in Innovationsprozesse und -erwartungen. Das Experiment im leeren Raum wird gesamtgesellschaftlich durchgeführt, wobei von Unterstützern und Kritikern gleichermaßen in einem ersten Schritt darauf gesetzt wird, dass noch ungeahnte technische Lösungen im unbegrenzten Raum technischer Möglichkeiten erzeugt werden. In einem zweiten Schritt werden diese Innovationsprozesse als kollektive Experimente der Wissensgesellschaft und ihrer vielen Akteure aufgefasst. Die Gesellschaft selbst ist nun also das Labor, in dem zunächst günstige Bedingungen für die Erzeugung des Neuen geschaffen werden,25 in dem aber auch die Auswirkungen der neuen Technologien auf Sicherheit und Gesundheit in Echtzeit beobachtet und moderiert werden.26 Die Leere der bloßen Möglichkeit, der freien Erfindung, der beliebigen Kombinierbarkeit von Elementen, der Ungebundenheit an technische Vorbilder ist für die mit sich selbst experimentierende Wissensgesellschaft nur der Anfang oder Ausgangspunkt ihrer Forschung. Was sich dort vielversprechend ankündigt, soll möglichst schnell in die Fülle des Lebens hinaustreten und sich als Füllhorn erweisen. Wie bei Boyle, Priestley oder dem Maler Wright of Derby erscheint hier die Vakuumpumpe buchstäblich und bildhaft als eine produktive Maschine. Sie ist der Ort, an dem etwas entsteht, das sich tief in die Gesellschaft hinein ausbreitet. Nicht das Licht der Aufklärung ist es aber, das heute verbreitet wird, sondern ein unbestimmt verallgemeinerter Experimentalismus, für den die im Labor und zu Füßen der Technowissenschaften kultivierte Überraschung auch schon die letzte Hoffnung auf die Lösung der Menschheitsprobleme darstellt.27
24 Astrid Schwarz, Alfred Nordmann: »The Political Economy of Technoscience«, in: Martin Carrier, Alfred Nordmann (Hg.): Science in the Context of Application, Dordrecht 2010, S. 317-336. 25 So heißt es etwa, dass ein Innovations-Ökosystem geschaffen werden muss, das die Innovationsprozesse unter anderem durch frühzeitige Reflektion auf gesellschaftliche Auswirkungen der neuen Technologien begünstigt. 26 Bruno Latour: »Ein Experiment von und mit uns allen«, in: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel, Markus Lilienthal (Hg.): Die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2004, S. 185-195; Ulrike Felt u.a.: Taking European Knowledge Society Seriously, Brüssel 2007. 27 Astrid Schwarz, Wolfgang Krohn: »Experimenting with the Concept of Experiment: Probing the Epochal Break«, in: Alfred Nordmann, Hans Radder, Gregor Schiemann (Hg.): Science Transformed? Debating Claims of an Epochal Break, Pittsburgh im Er-
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Abb. 1: Valentine Green, Mezzotinto nach Joseph Wright of Derbys »A Philosopher Shewing an Experiment on the Air Pump« (1769), aus dem Katalog von Judy Egerton: Wright of Derby, New York 1990, S. 235.
Abb. 2: »Docter Phlogiston, The Priestley politician or the Political Priest« (1791), aus R. G. W. Anderson und Christopher Lawrence (Hg.): Science, Medicine and Dissent – Joseph Priestley (1733-1804), London 1987, S. 28.
scheinen; siehe auch Alfred Nordmann: »Experiment Zukunft – Die Künste im Zeitalter der Technowissenschaften«, in: subTexte 03: Künstlerische Forschung – Positionen und Perspektiven, Zürich 2009, S. 8-22.
Gesellschaft in Experimenten
Besser sehen durch einen Schleier Ein Gedankenexperiment der Gerechtigkeit K LAUS G ÜNTHER
Eines der berühmtesten und wichtigsten Experimente der Philosophie findet sich im Bereich der praktischen Philosophie. Auf die Frage nach dem moralisch Guten, nach dem Gerechten und Richtigen, gibt es bis heute viele verschiedene, teilweise einander ausschließende Antworten. Allen Antworten gemeinsam ist jedoch ein Merkmal, dessen Pointe sich schon durch ein kleines fiktives Experiment, das vielen von uns noch aus Kindertagen vertraut ist, intuitiv erhellen lässt. Mehrere Kinder wollen eine Torte essen, eine traumhaft gut schmeckende Torte, die es aber leider nur einmal im Jahr gibt. Wer schneidet diese höchst begehrte Torte in so viele Stücke, dass jedes Kind ein gleich großes Stück erhält? Die Gefahr ist nicht auszuschließen, dass dasjenige Kind, das die Torte in Stücke schneidet, sein eigenes ein wenig größer bemisst als alle anderen. Um das zu verhindern, gibt es einen kleinen Verfahrenstrick. Das Kind, das die Torte aufteilt, darf sich seinen Anteil erst als letztes nehmen. Dann, so vermuten wir, wird es schon im eigenen Interesse ganz penibel darauf achten, allen Stücken die gleiche Größe zu geben. Die moralisch-praktische Intuition, um die es dabei geht, ist die der Fairness oder der Unparteilichkeit. Ungerechtfertigte Diskriminierungen und Privilegierungen – die kleine oder große Ausnahme zu eigenen Gunsten oder zugunsten der Freunde und zu Lasten Dritter – können nicht gerecht sein. Wer als Schiedsrichter bei einem Fußballspiel alle Regelverletzungen der einen Mannschaft geflissentlich übersieht und bei der anderen dagegen nichts durchgehen lässt, handelt parteiisch. Wer sich auf Kosten anderer Vorteile verschafft, ohne dass es für diese Kosten eine Rechtfertigung gäbe, handelt ungerecht.
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S CHWIERIGKEITEN
MIT DER
U NPARTEILICHKEIT
Dieses einfache Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, die von allen geteilte Intuition der Unparteilichkeit und der Fairness so auszubuchstabieren und zu übersetzen, dass man ein verlässliches Verfahren findet, um angesichts einzelner moralisch-praktischer Probleme auch zu einem fairen und gerechten Ergebnis zu kommen. Damit ist das hartnäckige Problem jeder Theorie der Gerechtigkeit gekennzeichnet. Wie lässt sich eine motivierende Einsicht oder ein Verfahren finden, mit deren oder dessen Hilfe die Beteiligten eines Konflikts über Gerechtigkeitsfragen ihre konstitutionelle Egozentrik und Parteilichkeit überwinden oder neutralisieren können? Nicht jedes Gerechtigkeitsproblem ist außerdem so einfach beschaffen und überschaubar wie die einmalige Verteilung einer Torte unter einer bestimmten Anzahl von Kindern. Die Intuition der Unparteilichkeit und Fairness muss sich für die Mitglieder einer modernen, komplexen und arbeitsteilig organisierten Gesellschaft in einem komplexeren Verfahren artikulieren und realisieren als in dem Tortenbeispiel. Dazu sind in der praktischen Philosophie sowie in der politischen und in der Rechtsphilosophie verschiedene Vorschläge gemacht worden. Einer der berühmtesten stammt von dem amerikanischen Philosophen John Rawls. Es besteht in einem Gedankenexperiment, das er im Jahre 1971 im Rahmen seiner berühmten Theorie der Gerechtigkeit veröffentlicht hat.1 Es trägt den paradoxen Titel Der Schleier des Nichtwissens (engl. veil of ignorance), und der Schleier ist das wesentliche Element dieses Gedankenexperiments. Auf den ersten Blick mutet dieser Titel widersinnig an. Warum soll gerade dann, wenn es um Gerechtigkeitsfragen geht, das Nichtwissen eine so grundlegende Rolle spielen? Dass das nicht abwegig ist, lässt sich wiederum intuitiv schon daran erkennen, dass die Gerechtigkeit historisch immer wieder nicht nur mit Waage und Schwert, sondern vor allem auch mit einer Augenbinde dargestellt worden ist. Die Gerechtigkeit soll nämlich Waage und Schwert ohne Ansehen der Person gebrauchen. Für dieses gerechtigkeitskonstitutive Moment der Blindheit will Rawls mit seinem Gedankenexperiment eine adäquate Übersetzung liefern. Insofern erlaubt dieses Experiment, durch einen Schleier mehr zu sehen als ohne ihn. In methodischer Hinsicht dient der ›Schleier des Nichtwissens‹ vor allem der Aufklärung und Erläuterung des Begriffs der Gerechtigkeit. Das intuitive Alltagsverständnis reicht zwar in den meisten Fällen aus, wenn es darum geht, die
1
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975 (engl.: A Theory of Justice, Cambridge/Mass. 1971; revidierte Ausgabe Cambridge/Mass. 1999).
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lokalen Probleme in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten zu bewältigen. Sobald jedoch die grundlegenden und langfristig sich verschärfenden Probleme der gesellschaftlichen Kooperation und Verteilung des Reichtums, der Verfassung der politischen Institutionen und der Bedingungen und Grenzen der Freiheit zur Diskussion und Entscheidung stehen, stößt man mit seinen Intuitionen schnell an Grenzen. Rawls Gedankenexperiment will nicht dazu auffordern, unsere Intuitionen zugunsten einer komplexen Theorie der Gerechtigkeit aufzugeben, sondern es beansprucht lediglich, ihnen eine präzisere Fassung zu geben und sie gleichsam auszubuchstabieren. Als eine Methode der Begriffsklärung unterscheidet sich Rawls Gedankenexperiment von den Methoden, wie sie in der ›experimentellen Philosophie‹ angewendet werden.2 Diese zielt darauf, empirische Theorien über praktizierte Alltagsintuitionen zu entwickeln und daraus Konsequenzen für philosophische Begriffe und Theorien zu ziehen – also den Lehnstuhl des Philosophen, der sich vor allem selbst befragt und sich mit den Positionen anderer Philosophen auseinandersetzt, zumindest für eine gewisse Zeit zu verlassen und sich mit den tatsächlichen Überzeugungen der Menschen zu konfrontieren.3 Rawls Gedankenexperiment lässt sich im Lehnstuhl veranstalten, aber es stellt sich selbst den Anspruch, den Horizont des allgemeinen, intuitiven Verständnisses von Gerechtigkeit als Fairness dabei nicht zu verlassen. John Rawls hat sein wissenschaftliches Leben dieser einen Theorie der Gerechtigkeit gewidmet.4 Schon die erste Veröffentlichung Justice as Fairness5 enthielt im Kern das ganze Argument, das bis 1971 präzisiert und weiter entfaltet wurde, um es in dem umfangreichen Werk der Theory of Justice dem Publikum zu präsentieren. Schließlich, gegen Ende seines Lebens, hat man dann noch mal eine Ausgabe des ersten Buches Justice as Fairness mit aktuellen Kommentaren von Rawls veranstaltet, als ein Restatement, erschienen 2001.6 Eigentlich hat Rawls sein ganzes wissenschaftliches Leben mit restatements seiner Theorie der Gerechtigkeit zugebracht.
2
Joshua Knobe; Shaun Nichols (Hg.): Experimental Philosophy, Oxford 2008. Vgl. auch www.experimentalphilosophy.org.
3
Kirk Ludwig: »The Epistemology of Thought Experiments: First Person versus third Person Approaches«, in: Midwest Studies in Philosophy, 31 (2007), S. 128-159.
4
Vgl. dazu Klaus Günther: »John Rawls – Ein Restatement«, in: Rechtsgeschichte, Heft 2/2003, S. 151-159.
5
John Rawls: Justice as Fairness, New York 1958 (dt.: Gerechtigkeit als Fairness, Freiburg/München 1977).
6
John Rawls: Justice as Fairness. A Restatement, hg. von Erin Kelly, Cambridge/Mass. 2001.
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DER G ERECHTIGKEIT IM ZEITGENÖSSISCHEN K ONTEXT Die Publikation der Theorie der Gerechtigkeit im Jahre 1971 war zumindest in der anglo-amerikanischen Philosophie ein aufsehenerregendes Ereignis. Die praktische Philosophie hatte sich bis zur dieser Zeit eigentlich auf zwei Bereiche beschränkt: Der eine war die Meta-Ethik, eine sprachphilosophische Interpretation der Moral. Ein klassisches Buch ist zum Beispiel Die Sprache der Moral von Richard Hare.7 In der Tradition des späten Wittgenstein beschränkte man sich darauf, zu untersuchen, welche Bedeutung normative oder ›präskriptive‹ Sätze im Unterscheid zu deskriptiven haben und wie wir moralische Prädikate in sinnvollen Sätzen verwenden. Eine herausragende Rolle spielte dabei das Prädikat ›ist gut‹. Man enthielt sich dabei möglichst substanzieller normativer Aussagen, entwickelte also keine Theorie darüber, was denn gut sei, sondern beschränkte sich auf die Analyse der Verwendungsweise des Prädikates. Das war der wissenschaftliche Stand, den die Ethik 1971 erreicht hatte. Die einzige nennenswerte starke moralphilosophische Strömung, die es in der anglo-amerikanischen Welt in dieser Zeit parallel dazu gab, war der Utilitarismus. In der vereinfachten Version des Utilitarismus verdienen diejenigen Handlungen ›gut‹ und diejenigen Verhältnisse ›gerecht‹ genannt zu werden, die Glück, Wohlstand und Lust für die größte Zahl von Menschen maximieren oder zur Verringerung des Leidens und der Unlust beitragen. Diese einfache Version ist bereits von ihren großen Protagonisten im 19. Jahrhundert, Jeremy Bentham und John Stuart Mill, in eine sehr elaborierte Form gebracht und von den nachfolgenden Generationen weiter präzisiert und gegen Einwände verteidigt worden. Dem Haupteinwand, dass der Utilitarismus das Individuum und seine Rechte nicht angemessen berücksichtigen könne, weil er im Zweifel verlange, diese dem größeren Nutzen für eine größere Zahl an Individuen unterzuordnen, versuchte man mit der Unterscheidung zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus zu begegnen. Rawls Theorie der Gerechtigkeit war einer der ersten breit angelegten Versuche aus dem Zentrum der anglo-amerikanischen praktischen Philosophie heraus, den Utilitarismus nicht nur in einzelnen Hinsichten zu kritisieren und zu verbessern, sondern ihn mit der Alternative einer deontologischen Moral in der Tradition Kants zu konfrontieren – allerdings ohne dabei die hohen analytischen Standards zu unterlaufen, die sich bis dahin in der Sprachphilosophie der Moral entwickelt hatten. Rawls zeigte, dass beides geht: Höchsten Ansprüchen an analy-
7
Richard M. Hare: Die Sprache der Moral, Frankfurt/M. 1972 (engl.: The Language of Morals, Oxford 1952); vgl. zur Meta-Ethik auch: Günther Grewendorf, Georg Meggle (Hg.): Seminar: Sprache und Ethik, Frankfurt/M. 1974.
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tische Klarheit zu genügen und trotzdem auf substantielle moralische Aussagen nicht zu verzichten. Die Theorie der Gerechtigkeit ist nicht einfach aus dem Nichts geschaffen worden, sondern ihr Autor beruft und bezieht sich seinerseits auf TheorieTraditionen. Im Mittelpunkt stehen die Theorien des Gesellschaftsvertrags. Danach gründen sich die Grundsätze der Gerechtigkeit auf eine vertragliche Übereinkunft derjenigen, die unter diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen ihr Leben zusammen mit den anderen führen. Dieser Vertrag ist selbstverständlich kein historisches und empirisches Faktum, sondern eine theoretische Fiktion – wenn man will, ein Gedankenexperiment, das in die Frage mündet: Wie sähe unsere Gesellschaft aus, wie wären ihre grundlegenden Institutionen einzurichten, wenn wir uns vorstellen, dass jeder mit jedem einen Vertrag darüber schließen würde – und wie würden wir dabei wechselseitig miteinander umgehen, wie würden wir uns und jeden anderen als Partner eines solchen Vertrages anerkennen? Diese Tradition reicht historisch weit zurück. Locke, Rousseau und Kant sind die Autoren, auf die Rawls sich selber häufig bezieht: »Ich habe versucht, die herkömmliche Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben.«8 Thomas Hobbes wäre ebenfalls zu nennen, und es geht noch weiter zurück bis ins Mittelalter, zu den Theorien des Herrschaftsvertrages. Auch in Aristoteles Politik, findet sich das Begründungsmodell einer vertraglichen Übereinkunft bereits erwähnt.9
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WICHTIG IST
Rawls beginnt mit der Frage, worin die Rolle der Gerechtigkeit eigentlich bestehe. Man mag sich vielleicht wundern, dass er diese Frage überhaupt stellt – vor allem mit Blick auf unsere aktuellen Kontroversen über soziale Gerechtigkeit oder über globale Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den wohlhabenden Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens. Dass diese Frage gestellt werden muss, liegt nicht nur an der philosophischen Diskussionslage von 1971 mit ihrer Fixierung auf Meta-Ethik und Utilitarismus. Maßgeblich sind auch externe Gründe, die Rawls freilich als solche nicht explizit diskutiert. Seine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt er in einer Zeit, in der die großen sozialstaatlichen Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit in
8
Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, S. 12.
9
Aristoteles: Politik, III, 1280 b; zitiert nach der Ausgabe von Eugen Rolfes u. Günther Bien, Hamburg 1981, S. 94.
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den modernen Gesellschaften des Westens in unterschiedlichen Ausprägungen formuliert und etabliert werden. Dieser Kompromiss setzt eine regulative Politik voraus, die willens und in der Lage ist, die gesamte Gesellschaft zu steuern, sich also nicht bloß auf die staatliche Gewährleistung gleicher rechtlicher Rahmenbedingungen für eine ansonsten sich vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht selbst überlassenen Gesellschaft zu beschränken.10 Gerechtigkeit »materialisiert« sich, nimmt die sozialen Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger in Bezug, jenseits einer abstrakten und formalen Koordination gleicher Freiheiten der Individuen.11 Eine solche Politik interveniert in diese Lebensverhältnisse unter anderem dadurch, dass sie aktiv gestaltend Reichtümer umverteilt.12 Solche Interventionen müssen aber unter den Bedingungen einer Demokratie öffentlich begründet werden – und diese Gründe müssen auch von denen akzeptiert werden können, die von den sozialstaatlichen Interventionen negativ betroffen sind. Die Begründungsbedürftigkeit wird vor allem angesichts der von mehreren Seiten artikulierten großen Herausforderungen des sozialstaatlichen Kompromisses spürbar: Durch den heute in seiner historischen Bedeutung zumeist vernachlässigten Systemgegensatz zwischen Ost und West, der die Alternative einer rigiden Gleichverteilung aller Rechte und Güter als vermeintlichen Ausdruck vollkommener Gerechtigkeit zumindest in Gestalt einer Utopie ideologisch lebendig erhielt, durch ein civil rights movement, das die Realisierung gleicher Freiheits- und Teilnahmerechte gegen einen Staat und eine Gesellschaft einklagte, die mit Hilfe des sozialstaatlichen Kompromisses die Marginalisierung einiger gesellschaftlicher Gruppen stabilisieren wollte (z.B. der Afro-Amerikaner in den USA) sowie schließlich die anhaltende liberalistische Herausforderung, die den sozialstaatlichen Kompromiss als einen weiteren Schritt auf dem Weg in die Knechtschaft und zur Abschaffung einer Verfassung der Freiheit des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs bekämpfte.13 Gegenüber diesen Herausforderungen
10 Dieter Grimm: »Die sozialgeschichtliche und verfassungsrechtliche Entwicklung zum Sozialstaat«, in: Peter Koslowski u.a. (Hg.): Chancen und Grenzen des Sozialstaates, Tübingen 1983, S. 41-64; Klaus Günther: »Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts«, in: Dieter Grimm (Hg.): Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, Baden-Baden 1990, S. 51-68. 11 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1976, S. 468. 12 Michael Stolleis: »Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht«, in: ders.: Konstitution und Intervention, Frankfurt/M. 2001, S. 253-282. 13 Friedrich August von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, München 2009 (engl.: The Road to Serfdom [1944], Chicago 2007).
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hatte Rawls den modernen Sozialstaat als Verwirklichung einer Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness erwiesen.14 Nicht zufällig begannen die Protagonisten15 der letztgenannten Herausforderung nach 1971 zunehmend, ihre bereits Anfang der sechziger Jahre formulierten Argumente noch einmal zu schärfen und über die dadurch initiierte Bewegung schrittweise so viel politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen, dass sie schließlich in den späten achtziger und in den neunziger Jahren (während der Reagan-Ära in den USA und der Thatcher-Ära in Großbritannien) zur neo-liberalen Transformation des Sozialstaates übergehen konnten. Daher also die Notwendigkeit der Frage nach der Gerechtigkeit. Nehmen wir mit Rawls an, »eine Gesellschaft sei eine mehr oder weniger in sich abgeschlossene Vereinigung von Menschen, die für ihre gegenseitigen Beziehungen Verhaltensregeln als bindend anerkennen und sich meist auch nach ihnen richten.«16 Bei der Begründung solcher Verhaltensregeln für die Mitglieder einer Gesellschaft kommt die Frage nach der Gerechtigkeit auf. Freilich nicht bei allen, weder bei den Regeln der Höflichkeit noch der Tischmanieren usw. Es geht um einen spezifischen Bereich von Verhaltensregeln, nämlich diejenigen, die »ein System der Zusammenarbeit [beschreiben], das dem Wohl seiner Teilnehmer dienen soll.«17 Es sind die Regeln, die die Grundlagen unseres Zusammenlebens und unserer Zusammenarbeit so koordinieren, dass unser Wohlbefinden in der und durch die Gesellschaft gesteigert wird, d.h., in der es uns zumindest besser geht als in einem Zustand der Vereinzelung. Auf sie bezieht sich die Gerechtigkeit, sie sind ihr Gegenstand. Dieser Gegenstand ist nicht frei von Konflikten und Problemen, es gibt unterschiedliche, teilweise gegensätzlich Auffassungen darüber, wie die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit beschaffen sein sollen. Eine Gesellschaft ist nach Rawls ein Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils – das ist das primäre Interesse, das die meisten von uns motiviert, sich überhaupt auf die gesellschaftliche Zusammenarbeit einzulassen. Das impliziert, dass unsere vielfältigen Interessen auf gewisse Weise miteinander harmonieren, wir koordinieren unsere Handlungen so, dass jeder von uns
14 Gertrude Lübbe: »Die Auferstehung des Sozialvertrags – John Rawls Gerechtigkeitstheorie«, in: Rechtstheorie 1977, S. 185ff. 15 Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, 2. Auflage Tübingen 1983 (engl.: The Constitution of Liberty, Chicago 1960); Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt/M. 2002 (engl.: Capitalism and Freedom, Chicago 1962 u. 1982). 16 Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, S. 20. 17 Ebd.
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einen gewissen Vorteil erlangt. Aufgrund dieser Erwartung arbeiten wir mit anderen zusammen und produzieren arbeitsteilig Güter, die unseren Wohlstand steigern. Eine Interessenharmonie, sagt Rawls, ergibt sich daraus, dass die gesellschaftliche Zusammenarbeit allen ein besseres Leben ermöglicht, als wenn sie nur auf ihre eigenen Anstrengungen verwiesen wären. Man kann das übersetzen in das charakteristische Merkmal moderner Gesellschaften, die arbeitsteilig organisiert sind und deren Mitglieder sich über marktförmige Austauschbeziehungen koordinieren. Menschen spezialisieren sich in ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten, besorgen nicht mehr ein ›Ganzes Haus‹, einen umfassenden, nahezu autarken Haushalt wie in der Antike und im Mittelalter, in dem alle Lebensfunktionen durch ein und denselben Haushalt befriedigt werden.18 Sie können sich spezialisieren, weil sie wissen und sich darauf verlassen, dass ein anderer die Güter produziert, die für die Erfüllung der übrigen Lebensfunktionen erforderlich sind, und die sie durch Tauschgeschäfte erwerben können. Man hat daher ein Interesse daran, andere nicht allzu sehr zu schädigen, weil man um des eigenen Vorteils willen auf sie angewiesen und insofern auch bereit ist, mit ihnen zu kooperieren.
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BEI DER
W AHL DER H INSICHTEN
Dass ein gesellschaftlicher Zusammenschluss Vorteile hat, weil er die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen fördert – dieses Argument gab es in der Tradition der Gerechtigkeitstheorien schon immer. Es findet sich bei Locke und Hobbes, den großen Naturrechtlern der frühen Neuzeit. Auch in der Antike, bei Aristoteles, ist der wechselseitige Vorteil ein zentrales Argument dafür, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen, zumal der Mensch bereits von Natur aus auf das Zusammenleben mit anderen angewiesen sei, anders als einige einsam lebende Tiere oder die sich selbst genügenden Götter. Nur so sei dem Menschen die Befriedigung der elementaren individuellen Bedürfnisse möglich.19 Darin liegt aber gleichzeitig auch der Grund für Interessenkonflikte. Wenn eine Gesellschaft interessenharmonisch funktioniert und gemeinsam viele Güter produziert, mehr als jeder einzelne unmittelbar für die Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse zum Überleben braucht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Streit darüber kommt, wie diese Güter verteilt werden sollen. »Ein Interessenkonflikt ergibt sich daraus, dass es den Menschen nicht
18 Otto Brunner: Land und Herrschaft [1965], Darmstadt 1981, S. 254ff. 19 Aristoteles: Politik, III. Buch, 1280a-b.
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gleichgültig ist, wie die durch ihre Zusammenarbeit erzeugten Güter verteilt werden, weil jeder lieber mehr als weniger von diesen Gütern haben möchte.«20 Der Konflikt wird dadurch angeheizt, dass jeder gern mehr als weniger von wichtigen Gütern haben möchte. Auf diesen Interessenkonflikt antwortet eine Konzeption der Gerechtigkeit. Sie formuliert und begründet sogenannte Grundsätze der Gerechtigkeit, die über die Güterverteilung innerhalb einer Gesellschaft entscheiden: »Es sind Grundsätze nötig, um zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Regelungen der Güterverteilung zu entscheiden und eine Einigung darüber zu erzielen. Das sind die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit.«21 Dabei sind unter Gütern nicht nur materielle Lebensgüter zu verstehen, sondern alles, was man wertschätzt und was wichtig ist für das eigene Überleben. Das sind primär materielle Güter wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf, also lebenswichtige Güter. Aber dazu gehören z.B. auch Güter wie die Freiheit, die nach Rawls ebenfalls ein Gut ist, das nach verschiedenen Regeln verteilt werden kann. Man kann Freiheit einigen wenigen geben (z.B. nur den männlichen und erwachsenen Vollbürgern, die keine Sklaven sind, wie im antiken Athen), man kann sie jedem (erwachsenen) Mitglied der Gesellschaft geben, oder nur einem Einzelnen, dem alle anderen untertan sind. Auch die Freiheit ist daher ein Gut, über dessen Verteilung Streit entstehen kann. Für die Verteilung dieser in einem umfassenden Sinne verstandenen Güter gibt es eine Vielzahl von Regelungsvorschlägen. Rawls geht es nicht darum, für oder gegen eine dieser Verteilungsregelungen zu argumentieren, sondern um Grundsätze, nach denen man zwischen diesen Verteilungsregelungen entscheiden kann. Rawls spricht hier auch von der ›sozialen Gerechtigkeit‹ – heute, nach einem Jahrzehnt der neoliberalen Polemik, vielleicht langsam wieder ein akzeptables Wort. Seine Theorie ist ausdrücklich und explizit eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit, weil sie mehr umfasst als den liberalistischen Grundsatz, jede aus einem ungehinderten Wettbewerb auf einem freien Markt resultierende Güterverteilung zu akzeptieren. Die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit intervenieren in diese quasinatürliche Verteilung und regeln sie nach Grundsätzen, d.h., nach einer begründbaren Einsicht. Sie »ermöglichen die Zuweisung von Rechten und Pflichten in den grundlegenden Institutionen der Gesellschaft und sie legen die richtige Verteilung der Früchte und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit fest.«22 Damit ist gleichsam der äußere Rahmen abgesteckt, in dem sich jede Theorie der Gerechtigkeit bewegt. Man kann sich nun verschiedene Regelungen der
20 Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, S. 20. 21 Ebd., S. 20f. 22 Ebd.
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gesellschaftlichen Güterverteilung vorstellen, die allesamt dafür kandidieren, nach Grundsätzen der Gerechtigkeit ausgewählt und begründet zu werden. Der Wettbewerb auf freien Märkten wäre selbst eine mögliche Verteilungsregelung, wonach derjenige, der unter diesen Bedingungen den größten Anteil erhält, ihn auch zu Recht erhält. Andere Regelungen lauten z.B., dass jeder den gleichen Anteil an allen Gütern erhalten solle. Wiederum eine andere Regelung orientiert die Zuweisung von Gütern am Verdienst, z.B. am Leistungsprinzip. Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen als derjenige, der weniger leistet. Rawls hat zwar das Ziel, seinerseits Grundsätze der Gerechtigkeit zu begründen, aber bevor er dazu ansetzt, bedarf es noch einer genauen Klärung dessen, was eigentlich der Gegenstand der Gerechtigkeit ist. Nur so lässt sich die Abstraktionshöhe seiner eigenen Theorie richtig einschätzen. Das, worauf die Grundsätze der Gerechtigkeit sich regelnd beziehen, ist nicht jedes hier und heute zufällig mehr oder weniger bedeutende Verteilungsproblem in einer Gesellschaft, zu dessen Lösung kontroverse Verteilungsregelungen vorgeschlagen werden. Die Grundsätze sollen sich lediglich auf die so genannte ›Grundstruktur‹ der Gesellschaft (engl. basic structure) beziehen. Darunter versteht Rawls die wichtigsten Institutionen einer Gesellschaft, die über die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder sowie über ihre Lebenschancen entscheiden: »Zusammengenommen legen die wichtigsten Institutionen die Rechte und Pflichten der Menschen fest und beeinflussen ihre Lebenschancen und was sie werden können und wie gut es ihnen gehen wird. Die Grundstruktur ist der Hauptgegenstand der Gerechtigkeit, weil ihre Wirkung so tiefgreifend und von Anfang an vorhanden sind.«23 Dazu gehören so elementare Institutionen wie etwa die Rechte auf Handlungs- und Gewissensfreiheit, wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, Märkte und Wettbewerb, Privateigentum an Produktionsmitteln bis hin zum Familienrecht mit der Regelung der monogamen Ehe, der Zugang zu Ämtern und Herrschaftspositionen. Sie bilden die Grundstruktur einer Gesellschaft und damit den Hauptgegenstand einer Theorie der Gerechtigkeit.
W IE ÜBERWINDET MAN DEN R ICHTER IN EIGENER S ACHE ? Z WISCHEN T UGENDZUMUTUNG UND L EVIATHAN Nachdem diese Vorfragen geklärt sind, begibt sich Rawls auf den Wege zu seinem Gedankenexperiment. Wir wissen nun, worin die Funktion oder Rolle möglicher Grundsätze der Gerechtigkeit besteht und worauf sie sich beziehen –
23 Ebd., S. 21.
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jetzt möchte man gerne erfahren, wie man zu solchen Grundsätzen kommen kann. Einige Beispiele sind schon genannt worden, einige von ihnen haben sich historisch auch immer mal wieder durchsetzen können, doch waren sie auch stets der Kritik ausgesetzt. Das Programm von Rawls ist es, solche Grundsätze der Gerechtigkeit zu begründen. Dabei hat man es freilich mit dem eingangs erwähnten hartnäckigen Hauptproblem jeder Theorie der Gerechtigkeit zu tun. Einen Hinweis darauf hat Rawls selbst schon gegeben: Jeder, der am System der gesellschaftlichen Zusammenarbeit teilnimmt, möchte lieber mehr als weniger von den Früchten dieser Zusammenarbeit haben. Hinter diesem eher trivialen Hinweis verbirgt sich ein weiteres Problem. Man könnte vielleicht antworten, dass man eben lernen müsse, sich auch mit weniger zufrieden zu geben (früher: sich von den Sünden des Neides oder Geizes loszusagen) oder lernen zu teilen oder von den Früchten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit abzugeben. Das sind in einem begrenzten Umfang vernünftige Regeln, aber man wird nie den Verdacht los, dass dabei immer aus der Perspektive der je eigenen Betroffenheit geurteilt wird. Auch die herrlichsten Vorschläge für Gerechtigkeitsgrundsätze verblassen schnell, wenn der Verdacht sich bestätigt, dass ihr Befürworter sich mit ihnen letztlich doch nur selbst bedient – auch wenn er noch so wohlwollend und großmütig ist und sich noch so viel Mühe gibt, auch an das Wohl der anderen zu denken. Aristoteles hat dieses uralte Problem bereits auf eine Formel gebracht, die dann in der weiteren Geschichte der Gerechtigkeitstheorien stets wiederkehrt. Im dritten Buch seiner Politik stellt er die Frage, was das eigentliche Recht sei. Einige sagen, so antwortet er, es sei die Gleichheit. Diese könne jedoch nur darin bestehen, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die entscheidende Frage sei natürlich, nach welchen Hinsichten man entscheiden könne, was jeweils gleich und was ungleich sei. Wenn wir Menschen untereinander vergleichen, stellen wir fest, dass sie in einigen Hinsichten gleich sind (z.B. zweibeinige Säugetiere), in vielen anderen Hinsichten aber verschieden. Eine Theorie der Gerechtigkeit, die bei der Verteilung von bestimmten Gütern (in der Antike z.B. öffentliche Ehrungen, hohe Ämter in der Polis) an relevante Unterschiede anknüpfen, also bestimmte Unterschiede und Ungleichheiten als relevant für eine Ungleichbehandlung auszeichnen will, muss Hinsichten formulieren, unter denen die Menschen jeweils gleich und unter denen sie ungleich behandelt werden sollen. Wenn man – wie in den Zeiten des Aristoteles üblich – behauptet, relevant sei der Verdienst fürs Vaterland, dann sind vielleicht die Militärs diejenigen, die ungleicher sind als die anderen, weil sie ihr Leben fürs Vaterland riskieren. Aristoteles selber hing dieser Theorie nicht an, sondern referierte sie nur als ein Beispiel für das Parteilichkeitsproblem bei der Wahl und Begründung der Hinsichten, nach denen Ungleiches ungleich behandelt
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werden soll. Das Verdienst fürs Vaterland wird als entscheidende Hinsicht für die Ungleichbehandlung bei der Verteilung öffentlicher Ehrungen und hoher Ämter von denjenigen propagiert, die am meisten davon profitieren würden – z.B. vom kriegführenden Adel. Für Aristoteles heißt das, dass die meisten Vorschläge für die Auswahl von Hinsichten, nach denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden sollte, sich kaum trennen lassen von dem Standpunkt, in dem man selber innerhalb der Gesellschaft steht und von dem aus man über die Gesellschaft urteilt: Die Ursache für das Problem der Parteilichkeit »liegt darin, dass man in eigener Sache urteilt; so ziemlich die meisten Menschen sind in eigener Sache schlechte Richter«.24 Die Geschichte der Theorien der Gerechtigkeit besteht größtenteils aus verschiedenen Versuchen, den ›Richter in eigener Sache‹ zu überwinden. Fast alle arbeiten dabei mit einem Gedankenexperiment – die ›Goldene Regel‹ (›Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andren zu!‹) oder Kants ›Kategorischer Imperativ‹ – oder eben der Gesellschaftsvertrag. Alle Vorschläge haben mit Problemen zu kämpfen: Entweder muten sie den Beteiligten zuviel an Tugend zu (Empathie, Vernunft, republikanische Gesinnung) oder sie lösen das Parteilichkeitsproblem dadurch, dass sie einen Richter in eigener Sache zum Richter über alle anderen machen (Hobbes’ ›Leviathan‹). Rawls nimmt vor allem zwei Elemente aus der Tradition des Gesellschaftsvertrags auf, um ihnen eine schärfere Kontur zu geben. Erstens, bezieht er den Vertrag explizit nur auf die Grundstruktur der Gesellschaft. Der ursprüngliche Vertrag oder Gesellschaftsvertrag soll Gerechtigkeitsgrundsätze für die Grundstruktur in der Gesellschaft, für die basalen Institutionen, enthalten.25 Dabei muss es sich, zweitens, um Grundsätze handeln, »die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse annehmen würden.«26 Für Rawls liegt darin die Pointe der Vertragstheorien: Es geht darum, Gerechtigkeitsgrundsätze zu begründen, die für freie und gleiche Menschen akzeptabel sind. Dieses Programm soll durch die Figur eines Vertrages gleichsam nur für jeden einzelnen nachvollziehbar gemacht werden. Der Vertrag ist ja nur eine Metapher, »eine bloße Idee der Vernunft«, wie Kant gesagt hat27, oder ein »Hilfsmittel der Vor-
24 Aristoteles: Politik, Buch III, 1280 a. 25 Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. 26 Ebd. 27 Immanuel Kant: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, in: Kant: Werke, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. VI, S. 153 (A 250).
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stellung« (»a device of representation«) nach Rawls eigener Charakterisierung28 – oder eben auch ein Gedankenexperiment. Man kann sich das in vereinfachter Form vielleicht so vor Augen führen: Wir stellen uns vor, miteinander einen Vertrag zu schließen und dabei setzen wir wechselseitig voraus – das gehört zum Begriff des Vertrages dazu –, dass jeder von uns über gewisse kognitive Fähigkeiten verfügt, um zu verstehen, welche Rechte und Pflichten er oder sie mit der vertraglichen Einigung übernimmt, und über die Fähigkeit, sich selbst, den eigenen Willen so zu binden, dass er/sie auch tun wird, wozu er/sie sich verpflichtet hat. Neben dieser wechselseitigen Anerkennung als moralische Person setzt der Vertrag jedoch vor allem auch voraus, dass die Parteien qua Vertragspartner gleich sind. Sie binden sich selbstbestimmt und freiwillig – in dieser Freiheit sind sie gleich. Wäre der eine schon an den anderen gebunden und von ihm abhängig oder ihm in einem asymmetrischen Machtverhältnis unterworfen, bedürfte es keines Vertrages, sondern Befehl und Zwang würden genügen. Diese Gleichheit verdankt sich einer gewaltigen Abstraktion, wie sie für das Vertragsrecht insgesamt charakteristisch ist, trotz ansonsten bestehender vielfältiger individueller Verschiedenheiten oder auch in anderen Hinsichten bestehender Gemeinsamkeiten.
D ER W EG
HINTER DEN
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DES
N ICHTWISSENS
Wie lassen sich also Grundsätze der Gerechtigkeit fair begründen, d.h. so, dass sie von freien und gleichen Menschen akzeptiert werden können, ohne dass dabei eine Seite ihre Machtposition zugunsten der schwächeren Seite ausnutzen kann? ›Gerechtigkeit als Fairness‹ heißt, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit unter Bedingung der Gleichheit und Freiheit akzeptiert werden.29 Dazu muss nun aber die anfängliche Situation der Gleichheit so bestimmt werden, dass die auf faktischer Ungleichheit in den Eigenschaften der Menschen und ihrer jeweiligen sozialen Situation beruhende Ungleichheit überwunden wird. Das ist die zentrale Aufgabe, der Rawls sich widmet: »Irgendwie muss man die Wirkung von Zufälligkeiten beseitigen, die die Menschen in ungleiche Situationen bringen und zu dem Versuch verführen, gesellschaftliche und natürliche Umstände zu ihrem Vorteil auszunutzen.«30 Das lässt sich nur dann verhindern, wenn man genau die Elemente beseitigt, die jeden einzelnen auch bei dem besten Willen, sich nach
28 John Rawls: Political Liberalism, New York 1993, S. 24f. 29 Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. 30 Ebd., S. 159.
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dem Gemeinwohl zu richten, dennoch dazu motivieren, seine eigene Situation zum Maßstab für alle anderen zu machen. Wie lässt sich das aber tun, ohne wieder in die schlechte Alternative einiger Vertragstheorien zu tappen, den Betroffenen zuviel an Tugendhaftigkeit abzuverlangen, also ohne die ja zumeist heuchlerische Formel zu bemühen, dass man sich gefälligst disziplinieren und seine partikularen Bedürfnisse zugunsten des Allgemeinwohls unterdrücken solle? Und wie ließe sich dabei der anderen schlechten Alternative entgehen, nämlich die allgemeine Unterwerfung unter einen Leviathan zu fordern, der seine Parteilichkeit zum allgemeinen Programm macht? Anders formuliert: Wie lässt sich der Standpunkt der Unparteilichkeit bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze zur Geltung bringen? In einem ersten Schritt müssen sich die Beteiligten darauf verständigen, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer ›anfänglichen Situation der Gleichheit‹ festgelegt werden sollen, so dass über die Grundsätze ›im voraus‹, d.h., vor dem (Wieder-)Eintritt in die historisch kontingenten Umstände der Natur und der Gesellschaft entschieden wird. Wir urteilen also nicht aus unserer aktuellen Situation heraus, sondern tun so, als könnten wir unsere Gesellschaft für einen fiktiven Augenblick zum Halten bringen und aus ihr heraustreten. Und jetzt überlegen wir, wie wir die Grundstruktur umfassend und vollständig regeln würden. Dieses fiktive Heraustreten aus der Gesellschaft ist notwendig. Wenn wir uns wieder in die Gesellschaft zurück begeben, lassen sich die vorher einmal beschlossenen Regelungen nicht mehr ändern. Dann ›spielen‹ wir, aber nach vorab festgesetzten Spielregeln, die während des Spiels (wo jeder und jede gerade eine günstigere oder ungünstigere Position hat) nicht mehr geändert werden dürfen. Jene vor der Gesellschaft liegende Situation nennt Rawls deshalb den ›Urzustand‹, the original position, der nichts mit irgendwelchen Urzeiten zu tun hat, sondern lediglich den Umstand umschreiben soll, dass wir zur Bestimmung der Gerechtigkeitsgrundsätze aus den jeweils bestehenden individuellen und gesellschaftlichen Verhältnissen heraustreten müssen.
W AS
MAN NICHT SEHEN DARF , WENN MAN BESSER SEHEN WILL Natürlich können wir niemals real aus der Gesellschaft heraus- und dann wieder eintreten. Auch als Eremiten wären wir noch Teil einer historisch situierten Gesellschaft. Der einzige Weg, den wir beschreiten können, ist wiederum derjenige der Abstraktion, des Absehens von bestimmten Faktoren. Im nächsten Schritt müssen wir daher den Urzustand so bestimmen, dass alle Faktoren, alle
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Ungleichheiten und Zufälle, die für unsere Parteilichkeit im Urteilen und Entscheiden verantwortlich sind, nicht wirksam werden können. Wenn uns das gelänge, dann könnten wir sagen, dass die Parteien innerhalb dieses Urzustands, in dieser anfänglichen Situation vor jeder Gesellschaft, sich in gleichen, symmetrischen Beziehungen befinden und unabhängig von Parteilichkeiten fördernden Zufällen die Gerechtigkeitsgrundsätze wählen würden. Dann ließe sich mit Recht behaupten, die Grundsätze der Gerechtigkeit seien auf faire Weise begründet worden. Aber wie kann man diese Zufälle aus der Situation des Urzustandes ausschließen – und, vor allem, welche Zufälle? Den Parteien im Urzustand bleiben gewisse Tatsachen künstlich verborgen, d.h., während sie die Grundsätze der Gerechtigkeit wählen, haben sie über bestimmte Tatsachen keine Kenntnis. Diese Umstände umfassen bestimmte innere und äußere Faktoren, die sich auf die jeweilige individuelle Lage der Beteiligten in ihrer Gesellschaft beziehen. Rawls führt eine Liste von Tatsachen auf, die unbekannt bleiben müssen, damit das Urteil der am Urzustand Beteiligten im Ergebnis unparteilich bleibt. Dieser veil of ignorance, der Schleier des Nichtwissens, ist der Schleier, hinter dem die Parteien im Urzustand sich bei ihrer Wahl befinden. Salopp ausgedrückt: Sie stellen sich künstlich dumm. Aber dieses künstliche Sich-dumm-Stellen hat einen guten Grund. Es handelt sich um eine Dummheit bezüglich aller Quellen, die das Urteil parteilich werden lassen. Und diese künstliche Dummheit muss im Urzustand organisiert, d.h., die Quellen der Parteilichkeit müssen identifiziert und trockengelegt werden. Die erste Gruppe von Umständen, die niemand im Urzustand kennen darf, enthält alle Faktoren, die den jeweiligen Platz bestimmen, den er oder sie in der Gesellschaft einnehmen wird, also die Klasse, die soziale Schicht oder der soziale Status. Im fiktiven Moment des Urzustands weiß keiner und keine von uns, ob sie sich nach der Rückkehr in die Gesellschaft ganz oben, unten oder in der Mitte wiederfinden wird, ob man zu einer wohlhabenden, angesehenen oder ärmeren, weniger angesehenen Klasse gehören wird. Jeder und jede von uns muss mit allem rechnen – also, mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf einem bestimmten Punkt des gesamten Spektrums der gesellschaftlichen Verteilung von Reichtum, Ansehen, Macht und Einfluss zu landen. Zweitens, kennt niemand seine natürlichen Gaben wie Intelligenz, Körperkraft usw., d.h., niemand weiß, ob er besonders hoch, wenig oder durchschnittlich begabt sein wird – und um was für eine (oder mehrere) natürliche Gabe es sich handeln wird. Ob jemand ein guter Klavierspieler sein wird, ein guter Mathematiker oder ein guter Zehnkämpfer, eine gute Biochemikerin, eine gute Cellospielerin oder eine gute Marathonläuferin, oder ob es gerade zum Bestehen
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eines Surfkurses im Urlaub reicht oder noch nicht einmal für die unterste Stufe der Bildungszertifikate – das alles entzieht sich der Kenntnis. Auch jetzt wieder muss jede Person im Urzustand mit allem rechnen. Die Kenntnis über meine kognitiven, motivationalen, emotionalen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten und Potentiale kann mein Urteil also nicht beeinflussen. Drittens, kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines oder ihres vernünftigen Lebensplans. Das ist eine Formulierung, für die Rawls vielfach kritisiert worden ist. ›Vernünftige Lebensplanung‹: Wer führt sein Leben schon nach einem vernünftigen Plan? Damit ist aber einfach nur die relativ triviale Vorraussetzung gemeint, dass wir unser Leben durchschnittlich so führen, dass jeder und jede von uns sich eine Art Präferenzsystem bildet, in dem mehr oder weniger stabil und weitreichend festgelegt ist, was einem besonders und was einem weniger wichtig ist. Besonders wichtige Ziele verfolgen wir langfristig und bringen dafür auch Opfer an Zeit, Kraft und Vermögen, oder wir verzichten auf die Erfüllung unmittelbarer Wünsche, weil wir nur so uns einen Wunsch erfüllen können, den wir in höherem Maße wertschätzen. Das ist deine oder meine Vorstellung vom Guten, was für mich oder dich im Leben wichtig ist, worum es einem im Leben geht. Natürlich hat jeder und jede seine und ihre je eigene Vorstellung vom Guten und sie liegt auch überwiegend nicht ein für allemal fest. Sie wird durch Lernprozesse und Erfahrungen, die man innerhalb seines Lebens macht, revidiert – manche Präferenz eher seltener oder gar nicht, einige andere häufiger. Die Parteien im Urzustand wissen nur, dass sie Personen sein werden, die überhaupt über einen vernünftigen Lebensplan verfügen werden, doch weiß niemand genau, welche konkrete Vorstellung vom Guten er oder sie haben wird – ob man nach der Maxime no risk, no fun! leben wird oder sich eine große Familie wünschen oder sein Leben auf das Erreichen eines einzigen großen Zieles – tiefe religiöse Einsicht, Bundeskanzlerin, Nobelpreisträgerin für Physik – verwenden wird. Sie wissen aber, dass ihnen überhaupt irgendetwas wichtig sein wird und – diese Konsequenz ist fast noch wichtiger – dass sie auf jeden Fall bestimmte elementare Güter brauchen werden, um überhaupt irgendeinen Lebensplan verwirklichen zu können. Viertens, herrscht unter den Parteien im Urzustand Unkenntnis über die je individuellen psychischen Einstellungen, z.B. Risikofreudigkeit oder -scheu, ob man eher zum Optimismus oder zum Pessimismus neigen, ob man eher kontemplativ oder aktiv sein, eher ehrgeizig, leistungs- und erfolgsorientiert oder eher genügsam oder passiv sein wird, sich ins Gegebene fügend oder in Abhängigkeiten verharrend. Oder, um in den gegenwärtig gängigen Redeweisen zu formulieren: Ob man in sich Unternehmerqualitäten vorfindet, die einen oder eine anspornen, aktiv und tüchtig zu sein und sich zu engagieren, oder ob man eher
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immobil und unflexibel in sozialer Abhängigkeit bleibt, ohne die Chancen zur beruflich und finanziell erfolgreichen Selbstverwirklichung zu ergreifen. Die Verteilung dieser für eine moderne Industrie-, Wissens-, Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft relevanten psychischen Grunddispositionen ist den Parteien im Urzustand unbekannt. Fünftens, bleibt auch die besondere historische Situation, in der sich eine Gesellschaft befindet, ihre wirtschaftliche Lage und ihre politischen Verhältnisse, der Entwicklungsstand ihrer Zivilisation und Kultur, hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen. Ob man sich in einer sehr zivilisierten Hochkultur wiederfinden wird oder in einer eher einfachen Kultur auf niedrigem Entwicklungsniveau, ob der durchschnittliche Bildungsgrad mehr oder weniger hoch sein wird, ob hervorragend gute Wohlstandsverhältnisse herrschen oder eher Knappheit, ob die politischen Verhältnisse eher demokratisch-liberal oder eher autoritär oder gleichheitsorientiert sein werden. Auch dies entzieht sich der allgemeinen Kenntnis und kann daher das Urteil nicht bestimmen. Sechstens, und abschließend, weiß niemand, zu welcher Generation er oder sie gehören oder auf welcher Stufe des Lebensalters er oder sie sich wiederfinden wird. In Zeiten des tiefgreifenden demographischen Wandels in den wohlhabenden Gesellschaften des Westens ist dies ein zunehmend wichtiger werdendes Problem für die Entscheidung über die Gerechtigkeit der Grundstruktur dieser Gesellschaften. Eine Gesellschaft muss in ihrer Grundstruktur so eingerichtet werden, dass die Verteilung der elementaren Güter nicht davon abhängig ist, ob man zur älteren oder jüngeren Generation gehört. Diese soeben aufgezählten sechs Gruppen von Faktoren bestimmen jeweils die individuelle Lage eines und einer jeden Einzelnen. Sie werden durch den Schleier des Nichtwissens neutralisiert. Nun kann man berechtigterweise die Frage stellen, was die Parteien im Urzustand denn überhaupt noch wissen. Hat man sie nicht von allem Wissen so entleert, dass sie eher wie Marionetten agieren, wenn sie die Grundsätze der Gerechtigkeit wählen? Ist der Preis der künstlichen Wissensbeschränkung nicht zu hoch – läuft die Wahl dann nicht auf Grundsätze hinaus, die für Lebewesen ohne Fleisch und Blut, für eine Art Zombies passen mögen, aber nicht auf Menschen in ihren realen Lebensverhältnissen und mit ihren konkreten Alltagssorgen? Ein paar Eigenschaften und Kenntnisse haben sie nach Rawls natürlich noch. Sie kennen allgemeine Gesetze und Theorien über Natur und Gesellschaft, aber keine Einzeltatsachen. Sie wissen, dass Menschen generell so disponiert sind, dass sie für sich einen vernünftigen Lebensplan verwirklichen wollen, aber sie kennen keinen individuellen Lebensplan von sich und anderen. Allerdings genügt dieses Wissen bereits, um sich die Überzeugung zu bilden, dass man gewis-
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se elementare Güter und Freiheiten brauchen wird, um einen beliebeigen Lebensplan in der künftigen Gesellschaft auch realisieren zu können. Sie wissen natürlich auch, dass sie mit generellen psychischen Dispositionen ausgestattet sind, dass es Dinge und Ereignisse gibt, auf die der Mensch mit Lust oder Unlust reagiert, wie den Verlust nahestehender Menschen, Krankheiten, usw. Aber das ist nur ein allgemeines Wissen über den Menschen und seine psychischen Grunddispositionen. Sie wissen nicht, ob sie zu denen gehören werden, die sich leichter oder schwerer motivieren lassen, die gelassener oder ängstlicher auf bestimmte Dinge und Ereignisse reagieren werden, ob sie eher zu den Melancholikern oder Sanguinikern gehören werden, oder welches der anthropologisch fundamentalen Temperamente in ihnen dominieren wird. Außerdem verfügen die Parteien im Urzustand noch über gewisse wichtige Eigenschaften. Erstens, bleiben sie rational kalkulierende Individuen. Wenn sie hinter dem Schleier des Nichtwissens die Gerechtigkeitsgrundsätze wählen, wird ihnen nicht zugemutet, ihre partikularen Interessen und ihre egozentrischen Bedürfnisse zu unterdrücken. Sie sollen nach wie vor eigeninteressiert und rational handeln, Zwecke und Mittel, Kosten und Nutzen mit Blick auf ihren eigenen Vorteil kalkulieren. Sie sollen so handeln, dass sie für sich den größtmöglichen Vorteil bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze anstreben. Damit ist lediglich irrationales, sich selbst schädigendes Handeln ausgeschlossen. Verlangt ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Rationalität eines homo oeconomicus. Damit macht Rawls einen wichtigen Schritt über diejenigen klassischen Vertragstheorien hinaus, die den Vertragsparteien besondere Tugenden abverlangen. Rawls setzt bei den Parteien des Urzustands lediglich selbstinteressiert und darauf bezogen rational handelnde Individuen voraus, wie sie aus den meisten ökonomischen Theorien bekannt sind. Aber der Urzustand schneidet sie von bestimmten Informationen ab, die sie als eigenrational handelnde und ihren Nutzen maximierende Individuen unter normalen Umstand sich beschaffen würden. Ihnen werden rationale Entscheidungen erschwert, weil sie ihre eigene, individuelle Lage nicht mehr in das Kalkül einbeziehen können. Zweitens, verfügen die Parteien über einen sogenannten ›Gerechtigkeitssinn‹ (sense of justice). Auch damit sind keine hohen Anforderungen verbunden. Er entspricht dem, was in den naturrechtlichen Vertragstheorien mit dem schuldrechtlichen Grundsatz des pacta sunt servanda gemeint war. Die Parteien sind bereit, willens und fähig, die Grundsätze der Gerechtigkeit zu verstehen und danach zu handeln31, sie also auch dann zu befolgen, wenn sie in die konkrete
31 Ebd., S. 169.
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Gesellschaft zurückkehren und wieder alle Informationen über sich selbst und ihre jeweiligen konkreten Umstände besitzen. Diese Vorraussetzung muss Rawls deshalb machen, damit das Gedankenexperiment nicht folgenlos bleibt, damit sich also nach der Rückkehr in die Gesellschaft niemand auf eine veränderte Geschäftsgrundlage berufen und in Kenntnis aller für ihn nützlichen Informationen auf eine Revision der Gerechtigkeitsgrundsätze (zu seinen Gunsten und zum Nachteil anderer) drängen kann. Rawls Gedankenexperiment ist nun sehr einfach auszuführen: Welche Grundsätze der Gerechtigkeit würden die Parteien im Urzustand, in der künstlichen Situation hinter dem Schleier des Nichtwissens, wählen? Sie überlegen und handeln nach wie vor eigeninteressiert und kalkulieren rational, sie suchen nach wie vor nach ihrem größtmöglichen Vorteil, aber ihnen fehlen einige entscheidende Informationen. Sie wissen nicht, an welcher Stelle der Gesellschaft sie landen werden, und sie kennen ihre individuellen Fähigkeiten und Mängel nicht. Jetzt legt sich natürlich schon der Schluss nahe, dass sie Gerechtigkeitsgrundsätze wählen werden, die auch dann noch vorteilhaft für sie wären, wenn sich ihre größten Befürchtungen hinsichtlich ihres Platzes in der Gesellschaft und ihrer Begabungen bewahrheiten würden. Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach also ein Kalkül der klugen Voraussicht und Vorsicht walten lassen: Für den Fall, dass ich mich ziemlich weit unten wiederfinde und auch nicht mit besonders guten Fähigkeiten ausgestattet sein werde, mich aus dieser Lage emporzuarbeiten (und vielleicht auch nicht mehr so viel Lebenszeit habe), sollte die Grundstruktur der Gesellschaft so beschaffen sein, dass ich auch dann noch halbwegs zufrieden mein Leben führen kann. Freilich wird niemand, der so kalkuliert, die Vorsicht übertreiben. Es könnte ja ebenso gut der Fall eintreten, dass ich im mittleren oder oberen Bereich lande und dazu noch begabt, leistungsorientiert und jung bin – dann wären meine Lebensperspektiven wenig rosig, wenn ich einen so großen Anteil meiner selbst erworbenen Reichtümer einer sozialen Umverteilung zugunsten der weniger Begünstigten opfern müsste, dass es sinnlos würde, Chancen zu ergreifen und Initiativen zu entwickeln. Im Durchschnitt – ein paar Hasardeure vielleicht ausgenommen – werden die meisten solche Grundsätze bevorzugen, nach denen die Grundstruktur einer Gesellschaft so einzurichten ist, dass das Leben in dieser Gesellschaft auch für diejenigen noch vorteilhaft ist, die unten sind, ohne dadurch aber gleichzeitig die in der Mitte oder oben lebenden Menschen übermäßig zu belasten.
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W AS MAN BESSER SIEHT : D IE DREI G RUNDSÄTZE DER G ERECHTIGKEIT Diese skizzenhafte Darstellung des Gedankenexperiments des Urzustands ist freilich unvollständig und trifft nur auf einen wenn auch nicht unwichtigen Teil der Grundstruktur zu – die gerechte Verteilung von Gütern. Den Parteien im Urzustand geht es jedoch noch um mehr und auch um anderes. Sie wissen, dass sie irgendeinen vernünftigen Lebensplan haben werden, und das begründet ihr Interesse daran, nicht nur über möglichst viele Güter zu verfügen, sondern auch über gewisse Freiheiten und Aussichten. Dazu gehören so elementare Rechte wie die Handlungsfreiheit, aber auch komplexere wie die Freiheit der Berufswahl. Schließlich bliebe man in seiner Lebensperspektive massiv eingeschränkt, wenn man wüsste, dass man in gewisse Ämter und Positionen auch mit noch so guten Fähigkeiten und Leistungen nicht gelangen kann, weil es strukturelle oder institutionelle Barrieren und Hürden gibt, z.B. von der Art einer Zunftverfassung oder einer ständischen Zugangsschranke (z.B. Zugehörigkeit zum erblichen Adel). Die Parteien im Urzustand würden sich daher nach Rawls auf drei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen, die neben der Verteilungsordnung auch die anderen wesentlichen Aspekte einer gerechten Grundstruktur der Gesellschaft umfassen: Der erste Grundsatz lautet: »Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.«32 Das ist eine präzisere Formulierung des Grundsatzes der früheren Vertragstheorien, dass jeder ein gleiches Recht auf Freiheit habe. Freiheiten sind wichtig, weil sie die Räume eröffnen und die Wege erschließen, in und auf denen ich meine eigenen Überzeugungen und Wünsche, meine Vorstellung von einem guten Leben realisieren kann. Da es sich nicht nur um die Handlungsfreiheit (oder wirtschaftliche Betätigungsfreiheit) handelt, sondern um Freiheiten verschiedener Art, wie z.B. die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit der Berufswahl oder die Freiheit des Gewissens und der Religion, sind diese Freiheiten in einen Zusammenhang, in ein System zu bringen, d.h. sie müssen nebeneinander bestehen können, ohne dass die eine die andere verdrängt. Unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Zusammenarbeit ist das optimale Prinzip der Verteilung von Freiheitsrechten das der strikten Gleichheit. Meine Freiheiten enden dort, wo die gleichen Freiheiten des anderen anfangen. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit bezieht sich nicht auf die Verteilung von Freiheitsrechten, sondern
32 Ebd., S. 81 u. 336.
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auf die Verteilung von wirtschaftlichen und sozialen Gütern wie Ämter und Positionen. Rawls nimmt an, dass die Parteien im Urzustand kein System der absoluten Gleichverteilung dieser Güter beschließen würden. Sie würden sich vielmehr auf ein System wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten einigen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, die aus dem vorsichtigen Kalkül hinter dem Schleier des Nichtwissens folgen. Erstens, sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten »so zu gestalten, dass zu erwarten ist, dass die Ungleichheiten zu jedermanns Vorteil dienen.«33 Ungleichheit ist nur dann gerecht, wenn nicht nur diejenigen davon profitieren, die am meisten begünstigt sind, also die besten Positionen erlangen und über das größte Vermögen verfügen, sondern auch diejenigen, die am wenigsten begünstigt sind, die sich also ganz unten befinden. Die zweite Bedingung bezieht sich auf die Ungleichverteilung von Positionen und Ämtern. Sie ist nur dann gerecht, wenn sie »jedem offen stehen«.34 Diese Klausel findet sich in den meisten bürgerlichen Verfassungen, die das Ämterprivileg des Adels abgeschafft und den Zugang lediglich von Leistung und Befähigung abhängig gemacht haben. Eine Ungleichverteilung dieser Positionen von der Art, dass nur wenige in Spitzenpositionen und –ämter gelangen, während die meisten anderen sich auf niedrigeren Stufen oder in gar keiner Positionen finden, ist dann gerechtfertigt, wenn jeder und jede die gleichen Zugangschancen hatte. Dann ist die Ungleichverteilung nicht der Willkür eines Fürsten oder einem Hindernis geschuldet, dessen Überwindung nicht in der Macht des einzelnen steht (Zufall der Geburt in einen adligen oder nicht-adligen Stand), sondern das Resultat eines Wettbewerbs um Qualifikation und Leistung – also von jedem selbst zu verantworten. Rawls widmet einen umfangreichen Teil seines Hauptwerks der Erläuterung und Präzisierung vor allem des zweiten Grundsatzes und seiner beiden Klauseln. Die erste Klausel, nach der soziale und wirtschaftliche Ungleichheit dann gerechtfertigt ist, wenn alle davon profitieren, wird in einer umfangreichen Auseinandersetzung vor allem mit ökonomischen Theorien erläutert. Dabei spielt die Theorie des ›Pareto-Optimums‹ eine zentrale Rolle, wonach ein bestimmter Zustand der Güterverteilung dann optimal ist, wenn er sich nicht mehr so verändern lässt, »dass mindestens ein Mensch besser dasteht, ohne dass irgend jemand schlechter dasteht.«35 Rawls benutzt dieses Theorem für eine präzisere Fassung der Klausel über die gerechtfertigte Ungleichheit wirtschaftlicher und sozialer Güter, kritisiert jedoch dessen unbestimmte Fassung. Es würde nämlich auch solche Verteilungen
33 Ebd., S. 81. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 87f.
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zulassen, die unseren Intuitionen von Gerechtigkeit widersprechen. Das ›ParetoOptimum‹ ist stets auf einen zufälligen Ausgangszustand bezogen und allein auf eine abstrakte Schlechterstellung fixiert. So wäre es denkbar, als Ausgangszustand einen Verteilungszustand anzunehmen, in dem einer alles und alle anderen nichts haben – würde man den Monopolisten nun schlechter stellen, indem man ihm einen Teil wegnähme, um ihn den anderen zu geben, so wäre das nicht paretooptimal, weil die Besserstellung der einen mit einer Schlechterstellung des anderen einherginge. Die Ungleichheiten müssen daher nach Rawls den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen.36 Rawls nimmt also die Lage des am wenigsten Begünstigten als Maßstab. Daher wären Verbesserungen der Lage des am wenigsten Begünstigten (z.B. durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilung) auch dann gerecht, wenn dadurch die Aussichten einiger Bevorzugter verschlechtert würden – was nicht pareto-optimal wäre.37 Der Unterschied zwischen dem am wenigsten Begünstigten und denjenigen, die besser gestellt sind, muss dem ersteren zum Vorteil gereichen – daher der Name ›Unterschiedsprinzip‹.38 Ob die aus der Ungleichheit resultierende wirtschaftliche und soziale Lage ganz unten vorteilhaft ist, bemisst sich an der Differenz zwischen dem Ausgangszustand und dem neuen Zustand, in dem die Ungleichheit noch größer geworden (der Begünstigte noch besser gestellt) ist. Wenn es dem am wenigsten Begünstigten in der neuen Lage besser geht als in der Ausgangslage, dann ist die (größere) Ungleichheit gerechtfertigt. Noch klarer wird dieses Argument, wenn man als Ausgangslage einen Zustand der Gleichverteilung der sozialen und wirtschaftlichen Güter annimmt. Im Verhältnis zur Gleichverteilung wäre eine Ungleichverteilung nur dann gerecht, wenn es dem am wenigsten Begünstigten im Zustand der Ungleichheit besser ginge als im Zustand der Gleichheit. Ungleichverteilung muss für alle, also auch für die weniger Begünstigten, vorteilhafter sein als die Gleichverteilung. Rawls fügt diese subsidiäre Funktion der Gleichheit dann auch in seine Erläuterung des Unterschiedsprinzips ein: Nur dann, wenn die Ungleichheit im Unterschied zur Gleichheit den am wenigsten Begünstigten besser stellt, ist sie gerecht. Ansonsten ist eine Gleichverteilung vorzuziehen.39 Diese Fassung des Unterschiedsprinzips lässt zugleich den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Theorie der Gerechtigkeit erkennbar werden. In den Zeiten
36 Ebd., S. 336. 37 Ebd., S. 100. 38 Ebd., S. 98. 39 Ebd., S. 96ff.
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des Kalten Krieges, der Systemkonkurrenz im Ost-West Konflikt, lebten die kapitalistischen, mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen angereicherten Marktwirtschaften des Westens auf einem höheren durchschnittlichen Wohlstandsniveau als die realsozialistischen Planwirtschaften des Ostens. Die Erfahrung, dass es zumindest in einigen westlichen Gesellschaften den am schlechtesten Gestellten immer noch besser ging als den am wenigsten Begünstigten in den Planwirtschaften, ließ sich durch das Unterschiedsprinzip in ein legitimierendes Argument für die wohlfahrtsstaatlich-kapitalistisch organisierten liberalen Gesellschaften transformieren: Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind unter der Bedingung akzeptabel und einem System der Gleichheit vorzuziehen, wenn sie dazu führen (notfalls durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilung), dass es den am schlechtesten Gestellten besser geht. So gefasst, könnte das Unterschiedsprinzip freilich als Kriterium bloßer wirtschaftlicher Effizienz verstanden werden. Bis heute werden wachsende ökonomische Ungleichheiten – z.B. zwischen den Ländern des Nordens und des Südens – von einigen damit gerechtfertigt, dass steigende Zuwächse bei wenigen Wohlhabenden auch zu einer Verbesserung des Loses der Armen führten. Darin steckt eine empirische Behauptung, die sich bezweifeln lässt. Solche Effekte setzen außerdem unter anderem voraus, dass es eine Art ›Verkettung‹ zwischen den Verhältnissen ganz oben und ganz unten gibt, durch die ein Teil der oben erzielten Gewinne auch tatsächlich unten ankommt. Rawls will das Effizienzprinzip für den zweien Gerechtigkeitsgrundsatz nutzen und setzt auch voraus, dass es eine Art Verkettung gibt.40 Wirtschaftliche Ungleichheit ist also dann gerechtfertigt, wenn es dadurch tatsächlich gelingt, die am wenigsten Begünstigten besser zu stellen als in einem Zustand größerer Gleichheit. Aber das Unterschiedsprinzip erschöpft sich darin nicht. Das Unterschiedsprinzip ist nur dann gerecht, wenn es mit der zweiten Klausel des zweiten Grundsatzes, der fairen Chancengleichheit beim Zugang zu Ämtern und Positionen, kombiniert wird. Rawls diskutiert verschiedene Versionen des Prinzips des ›offenen Zugangs‹ zu Ämtern und Positionen. Nach der liberalen Lesart hat der Tüchtigste auch die höchsten Positionen verdient und den Anteil an Gütern, den er mit Gewinn aus seinen Talenten und Fähigkeiten zieht. Nach dem Unterschiedsprinzip ist die daraus erwachsende Ungleichheit gegenüber den weniger Begünstigten dann gerechtfertigt, wenn sich dadurch auch deren Situation verbessert. Unberücksichtigt bleibt bei dieser Lesart aber, dass der Erfolg, den der Tüchtige sich zurechnet, sowie seine Tüchtigkeit selbst zu einem erheblichen Teil von Voraussetzungen abhängen, die sich nicht seiner
40 Ebd., S. 88 u. 91 (Effizienz), S. 101 ff. (Verkettung).
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Leistung, sondern glücklichen Zufällen der Natur und der Gesellschaft verdanken. Wer das Glück hat, mit Begabungen und Talenten gesegnet zu sein, wer in wohlhabenden Verhältnissen aufwächst, gute Bildungsmöglichkeiten hat und in einem Milieu sozialisiert wird, das Selbstvertrauen, Ehrgeiz und hohe Eigenmotivation vermittelt, befindet sich in einer besseren Ausgangsposition als diejenigen, die mit keinem oder nur wenigen dieser Vorteile aus Fortunas Füllhorn beschenkt worden sind. Auch wenn der Tüchtige für sich in Anspruch nehmen kann, dass er oder sie doch aus seinen Anlagen und seinen privilegierten Verhältnissen erst noch durch eigene Leistung etwas machen musste, um Erfolg zu haben – sein Weg zum Erfolg war weniger lang und steinig als für denjenigen, der ganz unten anfangen musste. Soweit die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit diesen natürlichen und gesellschaftlichen Zufällen geschuldet ist, geht sie nicht aus einer gerechten Grundstruktur der Gesellschaft, sondern aus einer »Lotterie der Natur« hervor.41 Die Lotterie der Natur selbst ist weder gerecht noch ungerecht, aber sie beeinflusst die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit. Die liberale Maxime, nur dem Tüchtigsten stünden alle Positionen offen, übersieht die vom einzelnen nicht zu verantwortenden ungleichen Ausgangslagen, unter denen Tüchtigkeit entstehen und sich erfolgreich entfalten kann. Daher muss dieses Prinzip erweitert werden um die faire Gleichheit der Chancen. Menschen mit gleichen Tüchtigkeiten und Fähigkeiten sollen auch die gleichen Chancen haben, in entsprechende Positionen und Ämter zu gelangen sowie die damit verbundenen besseren Aussichten zu erwerben, unabhängig von den unterschiedlichen Ausgangslagen.42 Daraus folgt, dass die Grundstruktur so einzurichten ist, dass der zu strukturellen Benachteiligungen führende Einfluss natürlicher und gesellschaftlicher Zufälle ausgeglichen wird, z.B. durch adäquate Bildungsmöglichkeiten und überhaupt durch eine umfassende Teilhabe am kulturellen Wissen. Das Prinzip des offenen Zugangs zu Ämtern und Positionen ist daher zu präzisieren als Prinzip des offenen Zugangs gemäß der fairen Chancengleichheit.43 Vollständig lässt sich die Lotterie der Natur auch damit nicht neutralisieren. Auch das tatsächliche Ergreifen gleicher Chancen bei gleichen Fähigkeiten hängt individuell wiederum davon ab, ob man zumindest über eine entsprechende Motivation verfügt – auch diese Eigenschaft kommt nicht von selbst, sondern wird nur unter entsprechend günstigen Sozialisationsbedingungen erworben. Dieser Rest kann, wenn man nicht paternalistische, die gleichen Freiheitsrechte
41 Ebd., S. 94. 42 Ebd., S. 93. 43 Ebd., S. 104 u. 108f.
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des ersten Grundsatzes verletzende staatliche Eingriffe befürworten will, nur noch durch das Unterschiedsprinzip ausgeglichen werden. Daher gehören beide Klauseln des zweiten Grundsatzes untrennbar zusammen. Das liberale Prinzip der Chancengleichheit erweitert sich mit dem Unterschiedsprinzip zu dem der »demokratischen Gleichheit«.44 Diejenigen, die aufgrund ihres Talents, ihres Ehrgeizes, ihrer Leistung und ihrer günstigen Ausgangsbedingungen auch bei fairer Chancengleichheit immer noch bessere Aussichten haben, Reichtümer zu produzieren als andere, verletzen dann nicht den Grundsatz der Gerechtigkeit, wenn dies zur Besserstellung derjenigen führt, die von Natur und Gesellschaft ungünstiger ausgestattet worden sind. Insoweit, wie sich Talente, Fähigkeiten und günstigere Ausgangsbedingungen auch jenseits fairer Chancengleichheit noch natürlichen und gesellschaftlichen Zufällen verdanken, sind sie gleichsam Allgemeingut. Die damit hervorgebrachten Reichtümer gehören in dem Umfang der Gesellschaft, in dem sie nicht individuell verdient wurden: »Das Unterschiedsprinzip bedeutet faktisch, dass man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden.«45 Deshalb ist also auch ein umverteilender Eingriff in diese Reichtümer durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen zugunsten derjenigen, die weniger begünstigt sind, nicht ungerecht – allerdings nur bis zu der Grenze, jenseits derer jede Anreizwirkung für die Begünstigten verloren gehen und sich infolgedessen auch die Lage der am wenigsten Begünstigten wieder verschlechtern würde. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit mit seinen beiden untrennbaren Klauseln lässt sich nun mehr oder weniger freiheitlich institutionalisieren. Einige Parteien im Urzustand könnten sich – sozusagen spiegelverkehrt zum Hasardeur – wünschen, für den Fall, dass sie in der Gesellschaft zu den am wenigsten Begünstigten gehören sollten, versorgt zu werden und passiv die Wohltaten der Begünstigten zu empfangen. Freilich würde dies nicht nur die Möglichkeit eines vernünftigen Lebensplans in Frage stellen. Sie müssten außerdem auch für den Fall, dass sie zu den besser Gestellten gehören sollten, massive Eingriffe in ihre Freiheit und ihr Eigentum akzeptieren. Solche Folgen verhindert der dritte Grundsatz der Gerechtigkeit, auf den sich die Parteien im Urzustand einigen würden. Der dritte Grundsatz besagt, dass der erste und der zweite Grundsatz in einer lexikalischen Ordnung stehen. Das heißt, die Freiheit hat immer Vorrang vor dem wirtschaftlichen Wohlstand ebenso wie vor einer Umverteilung zuguns-
44 Ebd., S. 95. 45 Ebd., S. 122.
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ten der am wenigsten Begünstigten. Das System gleicher Freiheiten darf also nicht einem größeren wirtschaftlichen Wohlstand geopfert werden. Auch muss immer erst ein System gleicher Freiheiten eingerichtet und gesichert sein, bevor soziale und wirtschaftliche Güter verteilt werden. Keine Gesellschaft wäre gerecht, in der man die Freiheit abschaffen würde, um eine optimale Güterverteilung herzustellen.46 Freilich gilt auch umgekehrt, dass die gleichen Freiheiten ihren Wert für jeden einzelnen in dem Maße verlieren, wie wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten dem einzelnen die Chance nehmen, von seinen Freiheiten auch faktischen Gebrauch zu machen – nach jener berühmt-berüchtigten ironischen Formulierung Zolas, die gleiche Freiheit bestünde darin, dass jeder das gleiche Recht habe, unter Brücken zu schlafen (oder nach Janis Joplin: »Freedom is just another word for nothing left to loose«). Auch deshalb gehören der erste und der zweite Grundsatz zusammen – nicht, weil wirtschaftliche Ungleichheit zu ungleicher Freiheit führen würde, sondern weil sie den gleichen Wert der Freiheit für jeden und jede einzelne(n) vermindern könne. Ein geringerer Wert der Freiheit für die am wenigsten Begünstigten ist nach dem Unterschiedsprinzip nur dann gerechtfertigt, wenn dadurch der Wert ihrer Freiheit immer noch größer ist als in einem System geringerer wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit: »Nimmt man die beiden Grundsätze zusammen, so ist die Grundstruktur so zu gestalten, dass der Wert des gesamten Systems der Freiheiten, das für alle gleich ist, für die am wenigsten Begünstigten möglichst groß ist. Das ist das Ziel der sozialen Gerechtigkeit.«47
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ALTERNATIVER W EG ZUR S TÜTZUNG DES G EDANKENEXPERIMENTS : D AS Ü BERLEGUNGSGLEICHGEWICHT Wenn sich die Parteien im Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens auf diese drei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen würden, dann wären diese unter fairen Ausgangsbedingungen gewonnen worden und würden den Standpunkt der Unparteilichkeit adäquat zum Ausdruck bringen. Aber eben nur: ›würde‹. Kann ein Gedankenexperiment überhaupt eine rechtfertigende Kraft entfalten für eine alle berührende, hochrangige Angelegenheit wie die Grundsätze der Gerechtigkeit für die Grundstruktur einer Gesellschaft? Und warum sollte jemand, der hier und jetzt zur privilegierten Klasse gehört, sich überhaupt auf so ein Experiment
46 Ebd., S. 82f. 47 Ebd., S. 233.
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mit der fiktiven Befürchtung einlassen, ganz unten zu landen? Rawls stützt daher seine Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsätze sowie der den Urzustand definierenden Bedingungen der Fairness auf eine weitere Argumentation, die zeigen soll, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze und die Bedingungen der Fairness auch mit unseren moralischen Überlegungen, wie wir sie im Alltag anstellen, vereinbar sind. Wiederum versucht Rawls zu vermeiden, die Begründung von zu starken philosophischen Voraussetzungen abhängig zu machen. Statt von Ersten Prinzipien, aus denen dann einzelne Gerechtigkeitsgrundsätze deduziert würden, statt von metaphysischen Einsichten in den Menschen als Vernunftwesen, geht er von moralischen Alltagsintuitionen aus. Die Abwehr einer apriorischen und metaphysischen Moralphilosophie führt jedoch auch nicht in das andere Extrem einer Rehabilitierung des Vorurteils, das ja in vielen unseren spontanen moralischen Überzeugungen auch steckt. Die Methode, die Rawls von anderen Autoren übernimmt, aber zugleich auch präzisiert, bezeichnet er als ›Überlegungsgleichgewicht‹ (engl. reflective equilibrium).48 Wir finden einige moralische Urteile vor, die von vielen weitgehend akzeptiert sind, und die sich entweder auf Einzelfälle beziehen oder einen höheren Allgemeinheitsgrad aufweisen (z.B. ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹). Auf Befragen können wir Gründe für diese Urteile angeben, die sich auf weitere moralische Überzeugungen stützen – soweit handelt es sich nicht um spontane, sondern um ›wohlüberlegte Urteile‹ (engl. considered judgements). Damit konfrontieren wir unsere abstrakten Gerechtigkeitsgrundsätze und fragen uns, ob sie mit diesen Urteilen übereinstimmen und zu ihnen passen. Im Falle eines Widerstreits können wir unsere Gerechtigkeitsgrundsätze korrigieren. Aber auch umgekehrt können einige unserer Urteile im Lichte der abstrakten Grundsätze sich als korrekturbedürftig erweisen. Unsere moralischen Alltagsurteile stehen oft zusammenhanglos nebeneinander, zuweilen bedenken wir nicht die Folgen und Nebenfolgen der Anwendung eines Prinzips für die anderen wohlüberlegten Urteile, in Einzelfällen kollidieren einige von ihnen sogar miteinander, wenn sich zwei akzeptierte, aber einander ausschließende Prinzipien gleichzeitig anwenden lassen. Dann müssen wir die Prinzipien solange einschränken und revidieren, bis sie nebeneinander bestehen können und ein kohärentes Ganzes bilden. Freilich nicht alle gleichzeitig und nicht jedes einzelne Prinzip – einige geben wir nicht auf, weil wir von ihrer Richtigkeit nach wie vor stark
48 Ebd., S. 37ff. u. S. 68ff. Zusammenfassende Darstellung des Überlegungsgleichgewichts einschließlich seiner Vorläufer und seiner weiteren Entwicklung bei Norman Daniels: »Reflective Equilibrium«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http:// plato.stanford.edu/entries/reflective-equilibrium).
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überzeugt sind (z.B. Menschenwürde), andere sind wir eher bereit zu revidieren. Auf diese Weise nähern sich unsere wohlüberlegten Urteile den abstrakten Prinzipien und umgekehrt diese jenen an, bis wir einen Gleichgewichtszustand unter unseren moralisch-praktischen Überlegungen erreicht haben – das Überlegungsgleichgewicht. Die rechtfertigende Kraft dieses Holismus ergibt sich aus dem Erfordernis der Kohärenz, das weniger strikt ist als das der deduktiven Beziehung zwischen Axiomen und Schlussfolgerungen, aber stärker als das des bloß heterogenen Nebeneinanders. »Eine Gerechtigkeitsvorstellung lässt sich nicht aus evidenten Voraussetzungen oder Bedingungen für die Grundsätze ableiten; vielmehr ergibt sich ihre Rechtfertigung aus der gegenseitigen Stützung vieler Erwägungen, daraus, dass sich alles zu einer einheitlichen Theorie (engl. coherent view) zusammenfügt.«49 Die moralische Wahrheit liegt weder draußen in der Welt noch in unhintergehbaren letzten Prinzipien, sondern in den kohärenten Beziehungen zwischen unseren wohlüberlegten Urteilen, die sich beständig wechselseitig korrigieren. Daher bleibt ein einmal erreichtes Überlegungsgleichgewicht auch nicht starr und unveränderlich, sondern bildet sich neu unter dem Eindruck neuer Erfahrungen und neuer Einsichten.
D ER K ONSTRUKTIVISMUS Sowohl das Gedankenexperiment des Urzustands als auch die Methode des Überlegungsgleichgewichts lassen einen charakteristischen Zug an Rawls Theorie der Gerechtigkeit erkennen, der im Verlauf der Rezeption und vor allem auch durch Rawls anschließende Erweiterungen und Präzisierungen der Theorie immer deutlicher hervorgetreten ist. Es handelt sich um eine strikt konstruktivistische Theorie.50 Die Grundsätze der Gerechtigkeit sind nicht irgendwie vorgegeben, sie beschreiben auch keine normative Entität in der Welt, die wir mit unseren Überlegungen treffen oder verfehlen können, sondern wir sind es allein, die diese Grundsätze unter bestimmten, ebenfalls von uns selbst gesetzten Bedingungen herstellen. Das bedeutet keineswegs, dass Gerechtigkeit eine Angelegenheit subjektiver Vorlieben und der Willkür würde. An der Methode des Überlegungsgleichgewichts ließ sich schon erkennen, dass die internen Beziehungen zwischen unseren wohlüberlegten Urteilen nicht zu unserer beliebigen Disposi-
49 Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, S. 39. 50 Vgl. dazu Jay Wallace: »Konzeptionen der Normativität: Einige grundlegende philosophische Fragen«, in: Rainer Forst, Klaus Günther (Hg.): Die Herausbildung normativer Ordnungen, Frankfurt/M. u.a. 2011, S. 33-56, hier S. 41ff.
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tion stehen. Vor allem jedoch sind die Grundsätze der Gerechtigkeit solche, die von Personen bejaht werden, die rational (im oben erläuterten Sinne von eigeninteressiert rational) und vernünftig sind, d.h., unter Gerechtigkeitsgrundsätzen leben wollen, die fair zustande kommen und vom Standpunkt der Unparteilichkeit aus für jeden von ihnen akzeptabel sind. Die Gerechtigkeitsgrundsätze ebenso wie die Rechtfertigungsbedingungen der Fairness müssen zu dem Selbstverständnis von rationalen und vernünftigen Personen passen und es angemessen artikulieren. Rawls bezeichnet diese Art der Konstruktion von Grundsätzen der Gerechtigkeit als ›kantisch‹. Damit will er sich ausdrücklich nicht in die Tradition des Kantianismus einreihen, sondern nur eine Analogie zu dem Verfahren Kants ziehen, die Moraltheorie am Begriff der autonomen Person auszurichten und eine Moraltheorie für autonome Personen zu begründen.51 Insofern steht die Moraltheorie auf eigenen Füßen und ist weder von metaphysischen, religiösen oder kulturspezifischen Voraussetzungen abhängig. Dabei sind Deutungsdivergenzen unter diesen autonomen Personen darüber, ob eine Konzeption der Gerechtigkeit ihr Selbstverständnis angemessen zum Ausdruck bringt, nicht ausgeschlossen.
Z WEI R EAKTIONEN : V ERTEILUNGSGERECHTIGKEIT
UND
K OMMUNITARISMUS
Rawls Hauptwerk wird nicht nur bis heute breit rezipiert, sondern an ihm entzündeten sich auch eine ganze Reihe bis heute anhaltender Debatten. Von diesen will ich zum Schluss nur zwei kurz herausgreifen, die in einem engeren Zusammenhang mit dem Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens stehen: (a) Die Debatte über Verteilungsgerechtigkeit und (b) über den Kommunitarismus. (a) Die erste kritische, zu einer expliziten Gegenposition sich aufschwingende Reaktion gegen Rawls Theorie der Gerechtigkeit kam relativ schnell, im Jahre 1974, von Robert Nozick.52 Er wies Rawls Argument von der Lotterie der Natur zurück, da es für eine gerechte Verteilungsordnung weniger auf die zufäl-
51 John Rawls: »Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie«, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, hg. v. Wilfreid Hinsch, Frankfurt/M. 1992, S. 80-158 (engl. in: John Rawls: Collected Papers, hg. v. Samuel Freeman, Cambridge/Mass 1999, S. 303-358). 52 Robert Nozick: Anarchy, State and Utopia, New York 1974 (dt.: Anarchie, Staat und Utopia, München 2007).
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lige Ungleichverteilung von Talenten und günstigen Ausgangsbedingungen ankomme, sondern auf die Art und Weise der Aneignung von Gütern. Diese müsse rechtmäßig sein, d.h., den Eigentumsrechten entsprechen. Wer seine Talente auf dem Markt als Dienstleistung anbiete und dadurch viele Güter erwerbe, weil andere ihm dafür freiwillig einen Teil ihrer Güter übertragen (z.B. dadurch, dass sie ihm für seine Tätigkeit Geld zahlen), dann habe er seinen Reichtum mit Recht erworben. Ihm einen Teil davon wegzunehmen, um ihn den weniger Begünstigten zu geben, verletze sein Eigentumsrecht. Er habe aus seinen Talenten etwas gemacht, was den bestehenden Eigentumsrechten entspreche. Eine Gesellschaftsordnung sei dann gerecht, wenn niemand daran gehindert werde, von seinen Talenten Gebrauch zu machen und dadurch unter Beachtung der bestehenden Eigentumsrechte (also ohne Dritte zu schädigen) selbst Eigentum zu erwerben. Diese Verteidigung eines marktliberalen Gerechtigkeitskonzepts mit einem Minimalstaat im Gegensatz zu einem umverteilenden Wohlfahrtsstaat präludierte nicht nur die wenig später politisch initiierten neoliberalen Reformprojekte von Reagan und Thatcher, sondern provozierte ihrerseits Gegenreaktionen, die in erneuter Auseinandersetzung mit Rawls und seinem Argument von der Lotterie der Natur eigene Maßstäben distributiver Gerechtigkeit zu begründen versuchten.53 (b) Ungefähr zehn Jahre nach dem Erscheinen von Rawls Hauptwerk veröffentlichte im Jahre 1982 der damals 29-jährige Michael Sandel seine Dissertation, in der er Rawls Gedankenexperiment frontal angriff – und das mit einer solchen Wucht, dass die damit ausgelöste Debatte die Moralphilosophie und die politische Philosophie des folgenden Jahrzehnts dominierte.54 Sein Hauptargument macht jene Skepsis stark, die sich vielleicht spontan einstellt, wenn man zum ersten Mal auf den Schleier des Nichtwissens stößt. Wie kann die Gerechtigkeit einer Gesellschaft davon abhängig gemacht werden, dass man bewusst auf ein Wissen verzichtet, das doch existentiell für jeden und jede von uns ist? Personen, die nur noch allgemein als eigeninteressiert rationale Akteure be-
53 Klaus Günther: »Was heißt: ›Jedem das Seine‹? Zur Wiederentdeckung der distributiven Gerechtigkeit«, in: Günter Frankenberg (Hg.): Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, S.151-181. Aus der Fülle an Literatur zur Verteilungsgerechtigkeit seien zwei Werke genannt, in denen die jeweils eigene Position in einen guten Überblick über die gesamte Debatte eingebettet wird: Susan Hurley: Justice, Luck and Knowledge, Cambridge/Mass 2003; Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2004. 54 Michael Sandel: Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge/UK 1982. Das Buch ist erstaunlicherweise nie ins Deutsche übersetzt worden.
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schrieben werden, entbehren ihrer individuellen Eigenschaften, Zufälligkeiten und Zwecksetzungen. Aus diesen bilden sie aber ihre Identität, und zwar dadurch, dass sie in einer Gemeinschaft aufwachsen und leben, die sich in einem ständigen Selbstverständigungsprozess über ihre kollektive Identität, ihr Ethos befindet, in den jeder einzelne im Laufe seines Lebens sozialisiert wird, mit dem er oder sie sich auseinandersetzt und an dem er oder sie selbst produktiv teilhat. Den Menschen geht es vorrangig um ihr gutes Leben innerhalb der Gemeinschaft, in der sie jeweils gerade leben. Gerade davon soll jedoch nach Rawls abstrahiert werden, wenn es um die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze geht. Freilich – Rawls hatte dem Gerechten ausdrücklich einen Vorrang vor dem Guten zugesprochen, weil es ihm um eine gerechte Grundstruktur geht, die jedem einzelnen die Verfolgung eines vernünftigen Lebensplans ermöglicht, und zwar unter Bedingungen der Freiheit, Gleichheit und Fairness. Das Gerechte aber muss dann gegenüber den vielfältigen Konzeptionen des Guten weitgehend neutral bleiben. Insofern gehört Rawls in die Tradition des Liberalismus. Sandel kehrt dieses Verhältnis um: Das Gute hat Vorrang vor dem Gerechten – und das individuelle und kollektive gute Leben ist die Grenze der liberalen Auffassung von Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft müsse daher so organisiert sein, dass sie den Menschen gemeinsam ein gutes Leben ermögliche, und eine gerechte Verteilung von Gütern und Rechten habe sich an dem zu orientieren, was für die Menschen in einer Gesellschaft jeweils gut sei. Das hängt nicht nur von den je individuellen Überzeugungen, Wünschen und Identitäten ab, sondern auch und maßgeblich von dem, worum es einer Gemeinschaft im Ganzen geht. Es kommt daher nicht auf ein Gedankenexperiment der Gerechtigkeit qua Unparteilichkeit an, sondern auf die richtigen Interpretationen und Handlungen gemäß dem gemeinschaftlichen Selbstverständnis. Mit dieser Wiederkehr von Aristoteles und Hegel begann die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus55, die in vielen Differenzierungen und Verzweigungen bis heute andauert – und in der Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness nach wie vor der zentrale positive oder negative Referenzpunkt ist.
55 Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus – Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. u.a. 1993.
Vom Widerstand gegen soziale Autorität Die Milgram-Experimente G UNZELIN S CHMID N OERR
»Der Mensch ist gut, nur die Leute sind schlecht.«
Ein moralisches Urteil, ein Urteil über Gut und Böse, setzt voraus – so heißt es im Allgemeinen –, dass die dabei in Rede stehende Handlung frei intendiert wurde, dass sie also auch hätte unterbleiben können, wenn der Handelnde dies nur ernsthaft gewollt hätte. Die Freiheit des Willens, Entscheidens und Handelns gilt als Bedingung der Möglichkeit von moralischer Verantwortung. Ursache und Grund des Handelns ist demnach das sich seiner natürlichen und sozialen Bedingungen bewusste, sich dadurch zugleich selbst bestimmende Subjekt. Ohne die Annahme eines freien Willens zum Guten oder zum Bösen wird der Moral, und damit auch der ethischen Reflexion der Moral, der Boden entzogen. – Dies ist die klassische ethische Sicht auf die Möglichkeit und das Ziel von Moralität, die sich bis heute so oder ähnlich in jeder Einführung in die Ethik findet. Das Argument ist logisch stringent, wenn man unter Handeln einen intentional geleiteten Eingriff in die Welt versteht. Handeln ist, wie es bei Sartre heißt, eine »zweifache Nichtung«1, nämlich eine bewusste Negation des bestehenden Zustands zugunsten eines nicht bestehenden, aber entworfenen Zwecks. Und diese Negativität ist identisch mit Freiheit. Diesem an die Voraussetzung des Bewusstseins geknüpften »technischen und philosophischen Freiheitsbegriff«2 steht freilich die Alltagserfahrung gegen1
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Onto-
2
Ebd., S. 836.
logie [1943], Reinbek 1991, S. 756.
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über, dass der Mensch so frei doch nicht ist, wie er sich dünkt. Das Faktum des Selbstbewusstseins ebenso wie das des alltäglichen sozialen Lebens, in dem sich die Akteure wechselseitig Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit zuschreiben (müssen), werden nachhaltig infrage gestellt durch Erfahrungen der physischen, psychischen, sozialen oder politischen Unfreiheit. Zwar kann auch der, dem mit den Worten ›Geld oder Leben‹ eine Waffe vor die Brust gehalten wird, sich prinzipiell frei entscheiden, wie er nun handeln wird, das heißt, welche Möglichkeiten, Werte und Ziele er realisieren will. Aber man wird doch zögern, dies als eine rundheraus freie Entscheidung anzusehen und gar ein Leben, das unter ständiger Existenznot geführt wird, ein freies zu nennen. Solchen Erfahrungen kam schon seit dem 19. Jahrhundert der (natur- wie sozial-)wissenschaftliche Blick auf den Menschen entgegen, für den das Individuum zu einem Effekt von objektiven Strukturen und Prozessen wurde. Auch literarisch kam diese Erfahrung immer wieder zum Ausdruck. Gegen das idealistische Axiom des freien Willens drückte der gelernte Mediziner Büchner das anthropologische Schockerlebnis des naturwissenschaftlichen Zeitalters poetisch aus, wenn er dem gequälten Woyzeck die Worte in den Mund legte: »Der Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einen, wenn man hinab sieht.«3 In Brechts ›Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens‹ scheitert der Mensch an den sozialen Verhältnissen sowohl wegen seiner Moral (»Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlecht genug«) als auch trotz seiner Moral (»Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht gut genug«4). Schlau und dumm, schlecht und gut, gut und böse gehen, wie uns an den Personen der ›Dreigroschenoper‹ vorgeführt wird, ineinander über oder schlagen in ihr jeweiliges Gegenteil um. Während die Menschen gut sein wollen, bewirken sie Böses, und die Bösen können auch anrührend gut sein. Schließlich haben die moralphilosophischen Komiker Johann Nestroy, Karl Valentin und Erich Kästner die moralisch-amoralische Janusgesichtigkeit des Menschen mit dem Bonmot ausgedrückt und variiert: »Der Mensch ist gut, nur die Leute sind schlecht.«5 ›Die
3
Georg Büchner: Woyzeck [1837], Szene ›Maries Kammer‹, in: Hans Mayer, Georg
4
Bertold Brecht: Die Dreigroschenoper [1928], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2,
5
Bei Nestroy heißt es noch eher im Sinn eines Gegensatzes: »Da gibt’s viel gute
Büchner: Woyzeck. Dichtung und Wirklichkeit, Frankfurt/M./Berlin 1963, S. 17. Frankfurt/M. 1967, S. 465 und 467. Mensch’n, aber grundschlechte Leut’.« (Vgl.: »Die Welt steht auf keinen Fall mehr lang«. Nestroy zum Vergnügen, hg. von Jürgen Hein, Stuttgart 1995, S. 28) Karl Valentin und Erich Kästner, beide offenbar von Nestroy inspiriert, haben den Gedanken jeweils zur Paradoxie zugespitzt: »Der Mensch is guad, de Leit’ san schlecht.« (Va-
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Leute‹, das sind die Menschen im sozialen Kontext, unter Beobachtung und Anpassungsdruck stehend, nach Anweisungen handelnd, von den jeweiligen Umständen geprägt. Wenn wir auf die Frage ›Wie geht’s?‹ antworten: ›Danke, den Umständen entsprechend‹, dann steckt in der Alltagsfloskel eine hintergründige Wahrheit, die uns zumeist nicht bewusst ist, aber deren Tragweite von jenen Dichtern schon benannt wurde, nämlich dass im Allgemeinen mehr die Umstände das Handeln bestimmen als umgekehrt. Deshalb war auch schon Büchner davon überzeugt, dass es »in niemands Gewalt [liegt], kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden«6. Die Wissenschaften vom Menschen haben diese Einsicht in die Fragwürdigkeit des Empfindens unserer Freiheit und subjektiven Autonomie mit ihren nüchternen Mitteln bestätigt, was keineswegs geringzuschätzen ist, geht es ihnen doch nicht nur um die Ermittlung von Sachverhalten, sondern auch und vor allem um deren Erklärung. So hat auch der Sozialpsychologe Stanley Milgram mit seinen berühmten, Anfang der 1960er Jahre an der Yale-Universität in New Haven durchgeführten Experimenten zur Gehorsamsbereitschaft gezeigt und zu erklären versucht, warum ›die Leute‹ schlecht sind, obwohl ›der Mensch‹ zumeist durchaus gut ist. Dafür, dieser Frage überhaupt nachzugehen, gab es für ihn außer- und innerwissenschaftliche Gründe. Durch die Verbrechen der Nazis war die Frage virulent geworden, wie diese inmitten einer modernen Zivilisation möglich gewesen waren. Auf der Suche nach einer Antwort kam der junge Forscher Milgram auf die Idee, kulturell geprägte Nationalcharaktere miteinander zu vergleichen, um herauszufinden, ob die NS-Verbrechen auch durch eine derartige Besonderheit der Deutschen erklärbar seien. Um großflächige interkulturelle Studien zu konzipieren, mussten aber zunächst Vorstudien unternommen werden, die zeigen sollten, wie die Frage der Gehorsamsbereitschaft experimentell beantwortet werden könnte. Diese im lokalen Rahmen durchgeführten Experimente zeigten jedoch schon bald, dass auch im freiheitlichen Amerika die Bereitschaft erschreckend weit verbreitet war, auf Befehl einer Autorität anderen Schmerzen zuzufügen. Milgrams Voruntersuchungen wiesen damit in eine ganz andere Richtung als die ursprüngliche Hypothese eines entsprechenden Nationalcharakters. Es war dieselbe Richtung, die auch Hannah Arendt – zeitgleich, aber unabhängig
lentin, zit. nach: http://www.karl-valentin.de/zitate/zitatedatenbank.htm, Zugriff 5.12. 2008); »Die Menschen sind gut, bloß die Leute sind schlecht.« (Kästner, zit. aus: Das Erich Kästner Lesebuch, Zürich 1978, S. 122). 6
Georg Büchner: »Brief an die Eltern, Gießen, Februar 1834«, in: Mayer, Büchner: Woyzeck, S. 64.
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von Milgram – mit ihren Überlegungen zum Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961 einschlug, wobei sie die Formel von der ›Banalität des Bösen‹ prägte.7 Milgram verstand seine Resultate als Bestätigung von Arendts These über den Bürokratismus des Terrors und beanspruchte zugleich, eine Erklärung staatlich organisierter Verbrechen formuliert zu haben. Im Rahmen der Sozialpsychologie betraf dieses Forschungsinteresse die Theorie des Konformismus, zu der einer der akademischen Lehrer Milgrams, Salomon Asch, schon zu Beginn der 1950er Jahre wichtige Beiträge geliefert hatte. Bis heute bekannt ist sein Experiment, bei dem eine Versuchsperson zusammen mit einer Gruppe anderer Personen (die aber Vertraute des Versuchsleiters sind) aufgefordert wird, aus jeweils drei unterschiedlich langen Linien diejenige zu bestimmen, die die gleiche Länge wie eine Referenzlinie hat. Diese Aufgabe wird, wenn auch die Gruppe jeweils die richtige Antwort gibt, in der Regel fehlerlos bewältigt. Gibt dagegen die Gruppe abgesprochener Maßen falsche Antworten, dann neigen auch viele Versuchspersonen dazu, sich der (falschen) Mehrheitsmeinung anzuschließen. Dieses Resultat zeigte die große Bedeutung eines impliziten Gruppenzwangs gegenüber Einzelnen. Jedoch war eine der grundsätzlichen methodischen Fragen, die sich daran anschlossen, die, wieweit solche Laborexperimente Aussagen über die Lebenswirklichkeit zuließen. So dachte auch Milgram darüber nach, wie man derartige Konformitätsexperimente lebensnäher gestalten könnte, und entwarf ein Szenario, in dem Menschen auf bloße Anordnungen hin und ohne persönliche Betroffenheit anderen Menschen Schmerzen zufügen sollten. Es sollten Anordnungen sein, die sowohl funktional als auch moralisch fragwürdig waren. Mit seinen Forschungen gab Milgram der Einsicht in die moralische Schwäche des Menschen eine durchaus überraschende, neue Wendung. Die Grundidee seiner Experimente war von nachhaltiger Wirksamkeit, so dass man geradezu von einem Milgram-Paradigma sprechen könnte. Die Experimente sind weit über die Fachgrenzen hinaus bekannt geworden und gehören bis heute zu den berühmtesten, aber auch zu den ethisch umstrittensten der Sozialpsychologie. Ähnliche Versuche wurden später immer wieder in psychologischen Laboratorien vieler Länder unternommen, wobei die Ergebnisse der ersten Versuche weitgehend bestätigt wurden.8 Auch in Form einer massenmedialen Inszenie-
7
Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen
8
Einen Überblick über die wichtigsten Replikationen zwischen 1960 und 1985 gibt
[1963], München 1986. Hans B. Lüttke: »Experimente unter dem Milgram-Paradigma«, in: Gruppendynamik und Organisationsberatung, 35. Jg., H. 4, 2004, S. 431-464.
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rung9, einer politisch-pädagogischer Demonstration10 oder auch filmischer und literarischer Plots11 wurde diese Idee wiederholt aufgegriffen. Ihre Grundstruktur ist die eines Paradoxons. Gemäß dem Milgram-Paradigma ist das Experiment nach moralischen Regeln genau dann geglückt, wenn es nach den pragmatischen Regeln der Verständigung gescheitert ist. Zutage tritt auf diese Weise die Brüchigkeit der moralischen Alltagsüberzeugungen. Aber ist es nicht ebenso moralisch fragwürdig, Menschen nur aus Forschungsinteresse derart in die Irre gehen zu lassen, Subjekte zu bloßen Beobachtungsobjekten zu degradieren? »Das Experiment war nicht gut«, so argumentiert der Ich-Erzähler in Bernhard Schlinks ›Heimkehr‹. »Es hat die Leute getäuscht und benutzt und zu etwas getrieben, was sie lieber nicht getan hätten. Wollten Sie, dass man so mit Ihnen umgeht?« Doch sein Gegenspieler de Baur hält dagegen: »Muss ich das wollen? Genügt nicht, dass ich bereit bin, es mir zuzumuten – um der Wissenschaft und des Fortschritts willen?« Aber diese Freiheit hatten die in Gewissensnöte getriebenen Versuchspersonen nicht. Allenfalls im Nachhinein konnten sie dazu Stellung nehmen. Und: »Etwas Schlechtes«, so beharrt der Erzähler, »wird nicht dadurch gut, dass man eine Lehre daraus zieht.«12 Das 1974 in New York erschienene Buch, das Milgram weltberühmt gemacht hat, trägt den Titel ›Obedience to Authority‹13. Milgram wollte die Ursachen von Gehorsamsbereitschaft und Autoritarismus untersuchen, und entsprechend sind seine Ergebnisse im Allgemeinen auch rezipiert worden.14 Man konnte sie als Einsicht in eine anthropologische Konstante, in das psychische Wesen des Gehorsams, oder auch in eine für die moderne Gesellschaft typische Konstellation verstehen. Oder sie ließen sich für die Erklärung von staatlich organi-
9
In einer als Testsendung ausgegebenen Quizshow des französischen Fernsehens wurden Teilnehmer aufgefordert, einem Mitbewerber bei falschen Antworten Elektroschocks zu verabreichen. Eine entsprechende Dokumentation wurde Anfang 2010 gesendet.
10 Hagen Korde: Das Aussonderungsexperiment, Münster/Hamburg 1995. 11 Vgl. zuletzt Bernhard Schlink: Die Heimkehr, Zürich 2006. 12 Ebd., S. 301f. 13 Deutsch unter dem Titel: Das Milgram-Experiment, Reinbek 1974. Bereits 1963 hatte Milgram einen Zeitschriftenartikel zum Thema veröffentlicht: »Behavioral Study of Obedience«, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, Vol. 67, Nr. 4, 1963, S. 371-378. 14 Vgl. Thomas Blass: The man who shocked the world. The life and legacy of Stanley Milgram, New York 2004.
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sierten Gewalttaten wie den Kriegsverbrechen der Nazis fruchtbar machen.15 Jedenfalls wirkten sie als ethischer Schock, als Desillusionierung über die moralische Autonomie des Menschen. Das erscheint auch heute noch angemessen. Jedoch ist darüber ein weiterer Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Man kann und sollte Milgrams Erklärungen auch gleichsam gegen den Strich bürsten und aus ihnen, was ebenso möglich ist, Bedingungen des Widerstands gegen soziale Autorität ablesen.
D IE M ILGRAM -E XPERIMENTE Aufbau, Ablauf und Ergebnis des Grundexperiments sollen hier etwas ausführlicher mit Milgrams eigenen Worten geschildert werden: »Zwei Leute betreten ein Psychologielabor, um an einer Untersuchung über Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit teilzunehmen. Einer von ihnen wird zum ›Lehrer‹ bestimmt, der andere zum ›Schüler‹. Der Versuchsleiter erklärt ihnen, dass sich die Untersuchung mit den Auswirkungen von Strafe auf das Lernen befasst. Der Schüler wird in einen Raum gebracht, auf einen Stuhl gesetzt, seine Arme werden festgebunden, um übermäßige Bewegungen zu verhindern, und an seinem Handgelenk wird eine Elektrode befestigt. Man erklärt ihm, dass er eine Reihe von Wortpaaren zu lernen habe und dass er bei jedem Fehler einen Elektroschock von wachsender Stärke erhalten werde. Im Mittelpunkt des Experiments steht die Versuchsperson als ›Lehrer‹. Nachdem sie zugesehen hat, wie der Schüler festgeschnallt wird, bringt man sie in den Hauptexperimentierraum und lässt sie vor einem eindrucksvollen Schockgenerator Platz nehmen. Dessen Hauptcharakteristikum ist eine horizontale Anordnung von 30 Schaltern, die bei einer Steigerung von jeweils 15 Volt mit 15 Volt bis 450 Volt bezeichnet sind. Darunter stehen noch Aufschriften, die von ›leichtem Schock‹ bis zu ›bedrohlichem Schock‹ reichen. […] Wenn der Schüler eine richtige Antwort gibt, soll die Lehrer-Versuchsperson zum nächsten Fragepunkt übergehen; wenn er eine falsche Antwort gibt, soll die Versuchsperson ihm einen elektrischen Schock versetzen. Sie soll mit der niedrigsten Schockstärke beginnen und sie graduell bei jedem Fehler erhöhen, also auf 30 Volt, 45 Volt und entsprechend weiter. Der ›Lehrer‹ ist eine echte, uninformierte Versuchsperson; sie kommt ins Labor, um an einem Experiment teilzunehmen. Der Schüler (oder ›das Opfer‹) spielt nur seine Rolle und erhält selbstverständlich keinerlei Schock. Ziel des Experiments ist es, herauszu-
15 Vgl. z. B. Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ›Endlösung‹ in Polen, Reinbek 1993.
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finden, wie weit ein Mensch in einer konkreten, messbaren Situation geht, in der ihm befohlen wird, einem protestierenden ›Opfer‹ zunehmende Qualen zuzufügen. An welchem Punkt wird sich die Versuchsperson weigern, dem Versuchsleiter weiter zu gehorchen? Die Konfliktsituation ist deutlich, wenn das Opfer (der ›Schüler‹) beginnt, Unbehagen auszudrücken. Bei 75 Volt murrt es, bei 120 Volt beklagt es sich ausdrücklich, bei 150 Volt bittet es darum, aus dem Experiment entlassen zu werden. Seine Proteste steigern sich, je höher die zugefügten Schocks steigen. Die Proteste werden heftiger und stärker emotional gefärbt. Bei 285 Volt kann die Reaktion nur noch als qualvolles Schreien bezeichnet werden. […] Für die Versuchsperson ist die gegebene Situation kein Spiel; ihr Konflikt ist heftig und deutlich erkennbar. Einerseits drängt die offenkundige Qual des Schülers sie dazu, die Sache aufzugeben. Andererseits befiehlt ihr der Versuchsleiter – also eine legitimierte Autorität, der sie sich in gewisser Weise verpflichtet fühlt –, das Experiment fortzusetzen. Jedesmal wenn sie zögert, den Schockknopf zu drücken, befiehlt ihr der Versuchsleiter fortzufahren. Um sich aus dieser Situation frei zu machen, muss die Versuchsperson einen klaren Bruch mit der Autoritätsperson herbeiführen. Es war die Absicht meiner Untersuchung, herauszufinden, wann und auf welche Weise Menschen sich unter dem Eindruck eines deutlichen moralischen Imperativs gegen die Autorität auflehnen würden. […] Die erste Reaktion des Lesers auf das Experiment ist möglicherweise die Verwunderung, dass ein Mensch mit gesundem Verstand überhaupt die ersten Schocks erteilen kann. Würde sich die Versuchsperson nicht vielmehr einfach weigern und das Laboratorium verlassen? Tatsache ist, dass keine dies jemals tut. Da die Versuchsperson in das Labor gekommen ist, um dem Experimentator zu helfen, ist sie durchaus bereit, mit der Prozedur zu beginnen. Daran ist gar nichts ungewöhnlich, besonders da die Person, der die Schocks verabreicht werden sollen, zunächst kooperativ, wenn auch ein wenig ängstlich wirkt. Aber überraschend ist, wie lange sich durchschnittliche Menschen den Anordnungen des Versuchsleiters fügen. Die Ergebnisse des Experiments sind so überraschend wie bestürzend. Trotz der Tatsache, dass viele Versuchspersonen Stresserfahrungen durchmachen, trotz der Tatsache, dass viele von ihnen gegenüber dem Versuchsleiter protestieren, macht doch ein bemerkenswerter Prozentsatz bis zum höchsten Schock auf dem Generator weiter. Viele gehorchen dem Versuchsleiter, gleichgültig, wie heftig das Opfer unter Schock auch fleht, gleichgültig, wie schmerzhaft die Schocks zu sein scheinen, gleichgültig, wie sehr es darum bittet erlöst zu werden.«
16
16 Milgram: Das Milgram-Experiment, S. 19ff.
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In diesem sogenannten Standardexperiment gingen bei Milgram 62,5% der Versuchspersonen bis zum Maximum von 450 Volt. Im Durchschnitt aller Versuchspersonen wurden Schocks bis zu einer Stärke von 367,5 Volt verabreicht. Aufgrund dessen kam Milgram zu dem Schluss: »Dies ist vielleicht die fundamentalste Erkenntnis aus unserer Untersuchung: Ganz gewöhnliche Menschen, die nur schlicht ihre Aufgabe erfüllen und keinerlei persönliche Feindseligkeit empfinden, können zu Handlungen in einem grausamen Vernichtungsprozeß veranlasst werden. Schlimmer noch: selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handelns vor Augen geführt und klar bewusst gemacht werden und wenn man ihnen dann sagt, sie sollen Handlungen ausführen, die in krassem Widerspruch stehen zu ihren moralischen Grundüberzeugungen, so verfügen doch nur vereinzelte Menschen über genügende Standfestigkeit, um der Autorität wirksam Widerstand entgegenzusetzen. Eine Vielzahl von Hemmungen gegenüber dem Ungehorsam gegen Autorität spielt mit und 17
sorgt erfolgreich dafür, daß einer nicht aufmuckt.«
Wie kam es zu dieser überraschend hohen Gehorsamsbereitschaft? Um hier einer Antwort näher zu kommen, musste Milgram die Versuchsanordnungen kontrolliert variieren. Denn ein solches Experiment gibt zunächst nur Aufschluss über beobachtbare Auswirkungen (sogenannte ›abhängige Variablen‹), deren Ursachen (›unabhängige Variablen‹) anfänglich keineswegs hinreichend deutlich sind. Verändert man nun eine unabhängige Variable, und verändert sich im Gefolge davon auch die Auswirkung, dann spricht vieles dafür, dass man einen ursächlich wirksamen Faktor eingegrenzt hat. Zu diesem Zweck veranstaltete Milgram insgesamt 18 unterschiedliche Abläufe des Experiments. Einige besonders aufschlussreiche Varianten waren folgende: • Der Schüler befindet sich in einem vom Lehrer abgetrennten Raum ohne akus-
tische Rückkopplung. Bei 300 V hämmert das Opfer protestierend an die Wand. (Ergebnis: 65% vollständig gehorsame, bis zum Ende gehende Versuchspersonen) • Der Schüler befindet sich im selben Raum wie der Lehrer und in dessen Berührungsnähe. (30% vollständig gehorsame Versuchspersonen) • Der Lehrer kann die Höhe der Schocks, die er gibt, frei bestimmen. (Durchschnittlich kaum mehr als 5% gehen höher als 150 Volt.) • Ein weiterer Freiwilliger (in Wahrheit ein eingeweihter Mitspieler des ›Versuchsleiters‹, der ebenfalls für diese Rolle vorbereitet wurde) gibt als Lehrer
17 Ebd., S. 22.
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die Schocks, während die eigentliche Versuchsperson die Aufgabe erhält, den Verlauf zu notieren. (Mit 92,5% höchste Gehorsamsrate aller Varianten des Experiments) • Während der Versuchsleiter bei 150 Volt den Versuch abbrechen will, bittet der Schüler darum, weitermachen zu dürfen. (Der Aufforderung, abzubrechen, wird ausnahmslos Folge geleistet.) • Die Versuchsperson ist eine von drei gleichberechtigten Lehrern. Die beiden anderen Lehrer sind in Wahrheit eingeweihte Mitspieler. Sie lehnen sich ab einer bestimmten Schockstärke gegen den Versuchsleiter auf. (Weniger als die Hälfte gehen höher als 225 Volt, nur noch 10% gehen bis zur höchsten Schockstufe.) • Der Versuchsleiter/Wissenschaftler agiert als Schüler, der zweite (vertraute) Freiwillige als temporärer Versuchsleiter. (Der Bitte um Abbruch wird ausnahmslos Folge geleistet.) Als besonders wichtige verhaltensbestimmende Faktoren erwiesen sich dabei die räumliche und die interpersonelle Situation. Je weiter räumlich getrennt bzw. nur je weiter eingeschränkt der Lehrer die Schmerzreaktionen des Schülers wahrnehmen konnte, desto größer war seine Gehorsamsbereitschaft gegenüber der Autoritätsperson des ›Versuchsleiters‹. Dies bedeutete auch, dass ein rein kognitiv motivierter Ungehorsam (vermittelt durch die warnenden Aufschriften auf dem ›Generator‹) nicht nachzuweisen war. Und ebenfalls ein Maximum an Gehorsamsbereitschaft zeigte, wer nur Mitglied in einer Gruppe von Gehorsamen und so gleichsam Teil einer Maschinerie war, wer also selbst als einzelner keine Verantwortung tragen musste. Demgegenüber fand Milgram kaum signifikante Verhaltensunterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Auch die Geschlechtszugehörigkeit schien im Endergebnis keine Rolle zu spielen. Unterschiede zwischen den sozialen Milieus waren feststellbar, aber ebenfalls offenbar von geringem Einfluss. Dies alles ließ den Schluss zu, dass es vor allem zwei ›Kräfte‹ waren, die um den Einfluss auf das Verhalten der Probanden konkurrierten: einerseits der moralische Anspruch auf Schmerzvermeidung, ausgelöst durch unterschiedliche Signale, andererseits der ebenfalls moralische Anspruch auf Erfüllung der von den Probanden zugesagten Übernahme einer Aufgabe im Zusammenhang eines Forschungsprojekts. Dieser zweite, situative Einflussfaktor war der Milgram vor allem interessierende Faktor des Konformitätsdrucks. So hatte Milgram mit Hilfe der Varianten des Experiments eine Reihe von Faktoren isoliert, die das Verhalten der Individuen in genau definierten Situationen mehr oder weniger voraussehbar bestimmten. Wie aber war dies zu erklären?
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W ARUM
DESTRUKTIVER
G EHORSAM ?
Bei der theoretischen Konzeptionalisierung seiner Forschungsresultate postulierte Milgram zwei miteinander verbundene, aber unterschiedlich arbeitende Moralsysteme, die Gehorsamsmoral und das autonome Gewissen. Indem, so Milgram, der heranwachsende Mensch im Laufe der Sozialisation die besonderen Moralanforderungen seiner Familie und Kultur erlernt, lernt er zugleich allgemein-strukturell, sich in Hierarchien einzuordnen und zu gehorchen. Während das persönliche Gewissen eher bewusst, kulturell und epochal variiert und gegenüber konkurrierenden Impulsen schwächer ist, wirkt die damit zugleich eingeübte Gehorsamsmoral eher unbewusst, kulturell und epochal invariant sowie stärker, weil affekt- und angstbesetzt. Milgram begründete diese Unterscheidung zweier Moralformen im Rückgriff auf evolutionstheoretische Annahmen. »Vom Standpunkt des Überlebens in einer Evolution aus betrachtet, ist es einzig wichtig, dass wir Organismen erhalten, die in Hierarchien funktionieren können.«18 Zugleich aber haben die Gesellschaften auf einem bestimmten Niveau der Entwicklung auch individuelle Entscheidungen und Verantwortungsübernahmen ermöglicht und erforderlich gemacht, so dass nun das Individuum zwischen zwei möglichen Zuständen wechseln muss: dem Autonomie-Zustand und dem von Milgram sogenannten ›Agens-Zustand‹ (d. h. dem Zustand, in dem das Individuum als Agent, also im Auftrag einer höheren Instanz, handelt). Während der Mensch im Zustand der Autonomie aus eigenem Antrieb handelt und sein Handeln durch erlernte moralische Schranken kontrolliert, empfindet er sich im Agens-Zustand als Instrument zur Durchführung eines Auftrags und betrachtet sich dementsprechend auch letztlich nicht als verantwortlich für sein Handeln. Der Agens-Zustand ist zwar schon für frühe Stufen der gesellschaftlichen Evolution kennzeichnend, andererseits aber verfügen auch und gerade hoch komplexe Gesellschaften mit Schulen, Militär, Bürokratie, Wirtschaft über Institutionen, in denen das Handeln in Hierarchien durch Aufstieg und Beförderung belohnt und auf Dauer gestellt wird. Moralisch gefordert ist hier in erster Linie die Bereitschaft zur Erfüllung einer Aufgabe, während das personale moralische Selbstverständnis suspendiert wird. Im Agens-Zustand, in dem eine als legitim angesehene Autorität eine Handlung veranlasst, »ist Beziehung stärker als Gehalt«19.
18 Ebd., S. 147. 19 Ebd., S. 202. Man könnte diese These auch im Rückgriff auf die kommunikationstheoretische Unterscheidung zwischen ›Beziehungsaspekt‹ und ›Inhaltsaspekt‹ unter-
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Den Begriff des Agens-Zustands bezeichnete Milgram als »Schlussstein unserer Analyse«20. Im Agens-Zustand sind alle Sensorien des Subjekts auf die Autorität ausgerichtet, während die Ansprüche der von den Handlungen betroffenen ›Objekte‹ deutlich weniger intensiv wahrgenommen werden. Die Situation, in der sich das Subjekt befindet, wird nach den Vorgaben der Autorität gedeutet und bewertet. Dabei wird insbesondere die eigene Verantwortungsmoral in eine Erfüllungs- und Pflichtmoral transformiert. Wer der Moral der Pflichten folgt, hat auch gelernt, von seinen unmittelbaren Neigungen, aber auch von seinen Emotionen des Mitgefühls abzusehen.21 Um das Subjekt entgegen der Strebung seiner Gewissensmoral im AgensZustand festzuhalten, sind, wie Milgram herausfand, verschiedene Bindungsfaktoren wirksam. Bindend wirkt bereits, dass die Handlungsanweisung nichts anderes als die Fortsetzung einer zuvor befolgten Anweisung beinhaltet, sodass eine Weigerung im besonderen Fall zugleich die Infragestellung des gesamten, bisher gebilligten Arrangements beinhalten würde. Weiterhin hält der Respekt vor der Situationsdefinition der Autorität das Handlungssubjekt von Veränderungen ab, die ihrerseits als Verletzungen moralisch gerechtfertigter Ansprüche erscheinen. Und schließlich wirkt die Angst, sich bloßzustellen, zu isolieren, getadelt zu werden als emotionale Barriere gegenüber einer möglichen Gehorsamsverweigerung. So stellen die moralischen Faktoren, sich im Handeln als konsistent und kooperativ zu zeigen, zugleich eine starke Autoritätsbindung dar. Die Situation, in der sich die Versuchspersonen befinden, lässt sich dann eigentlich nicht mehr als Dilemma zwischen zwei nahezu gleich starken normativen Ansprüchen fassen, die vom ›Schüler‹ und vom ›Versuchsleiter‹ ausgehen. Entscheidend für den Agens-Zustand ist vielmehr jene Veränderung der Situationswahrnehmung, durch die »sich eine maximale Empfangsfähigkeit für die ›Frequenzen‹ der Autorität ergibt, während die vom Schüler ausgehenden Signale gedämpft und fern wirken«22.
scheiden, wobei Hierarchien institutionalisierte und damit überwiegend entpersönlichte Beziehungsformen darstellen. 20 Ebd., S. 157. 21 Es ist kein Zufall, dass Empathieschwäche fast das einzige Merkmal war, durch das sich, wie eine anonymisierte Re-Analyse von Rorschachtests mit den Angeklagten des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses ergab, diese wenigstens ansatzweise vom Bild des ›Normalen‹ unterschieden. Vgl. Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/M. 2005, S. 10. 22 Milgram: Das Milgram-Experiment, S. 168.
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Andererseits gibt es auch Faktoren, die zur Vergegenwärtigung oder Erhöhung der inneren Spannung beitragen, in der sich die Versuchspersonen befinden: das Stöhnen oder Schreien des Opfers als Appelle ans Mitgefühl, überkommene moralische Orientierungen, aber auch die Angst vor Vergeltung seitens des Opfers. Steigt diese Spannung über ein bestimmtes Maß an, dann muss sie aufgelöst werden, was entweder durch eine verstärkte Wirkung der anästhetischen Mechanismen oder durch Gehorsamsverweigerung erreicht werden kann. Anästhetisch wirken räumliche Distanz, technische Medien zwischen den Beteiligten sowie die Minimalisierung der geforderten Handlungen im Rahmen von Arbeitsteilung. Wird dagegen die Spannung im Sinn einer Gehorsamsverweigerung vermindert, dann muss das Subjekt es aushalten können, als verantwortlich für das Scheitern des Experiments angesehen zu werden und in den Augen der anderen versagt zu haben.
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ZEIGEN DIE
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Wie Milgrams eigene theoretische Untermauerung und Weiterführung seiner empirischen Resultate demonstrieren, sprechen Beobachtungsdaten nicht für sich, sondern werden erst innerhalb eines Interpretationsrahmens aussagekräftig. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Milgrams Experimenten bezog sich deshalb in der Folgezeit auch auf zwei verschiedene Bereiche. Zum einen ging es um die empirische Überprüfung der Beobachtungen und die Weiterentwicklung des experimentellen Designs zur Generierung weiteren Materials, zum anderen um die Frage der angemessenen Interpretation der Daten, die ja grundsätzlich nicht nur in dem von Milgram selbst gewählten behavioristischen Ansatz möglich war. Wie bereits erwähnt, ergaben die etwa zwei Dutzend Replikationen der Versuche, die seit Mitte der 1960er Jahre in vielen Ländern durchgeführt wurden, im Großen und Ganzen empirische Bestätigungen der ursprünglich erhobenen Daten, auch wenn die Zusammenstellung der Versuchspersonen insgesamt keine regelrechte Repräsentativität beanspruchen konnte. Aus den Übereinstimmungen mit Milgrams ursprünglichen Resultaten lässt sich, abgesehen von einigen Besonderheiten kultureller Milieus, schließen, dass die Gehorsamsstrukturen auch in der Folgezeit weitestgehend konstant geblieben sind. Umstritten blieb dagegen die Frage, wie die durch die Experimente gelieferten Daten zu interpretieren seien. Obwohl Milgram grundsätzlich einem behavioristischen Ansatz folgte, spielten für seine Deutung der Beobachtungsdaten auch die Erlebnisse und Mitteilungen der Probanden eine wichtige Rolle. Er gewann sie durch Befragungen, die den eigentlichen Experimenten nachfolgten.
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Diese Aussprachen wurden freilich weit weniger methodisch kontrolliert geführt und ausgewertet als die Verhaltensbeobachtungen. Sie hatten vor allem den Zweck, mögliche verbliebene Spannungs- und Konfliktgefühle der Versuchspersonen aufzulösen. Wie weit aber schon die in die Verhaltensstatistik eingehenden Daten interpretativ geprägt waren, zeigt Milgrams Konzeptualisierung des für ihn relevanten ›Gehorsams‹-Verhaltens: »Zu einem vorab nicht bekannten Zeitpunkt wird sich die Versuchsperson wahrscheinlich weigern, den Befehl auszuführen, und das Experiment abbrechen. Das Verhalten vor diesem Abbrechen wird als Gehorsam betrachtet. Der Punkt, an dem abgebrochen wird, gilt als Akt des Ungehorsams; er kann früher oder später in der Befehlssequenz eintreten 23
und bietet so die nötige Maßeinheit.«
Auf diese Weise konzipierte er eine eindeutige, gut anwendbare ›Maßeinheit‹ des Verhaltens, freilich um den Preis, dass dabei weder die besondere Art der psychischen Konflikte während der Phase des Gehorsams noch die jeweils unterschiedlichen Motive für ›Gehorsam‹ oder ›Ungehorsam‹ genauer in den Blick kamen und in die quantitative Auswertung eingehen konnten. Die Experimente und die nachträglichen Auskünfte der Versuchspersonen zeigen eine weitaus größere Variationsbreite des Verhaltens, als die allzu einfache Unterscheidung zwischen ›Gehorsamen‹ und ›Ungehorsamen‹ suggeriert. Hans B. Lüttke24 hat in seiner instruktiven Sekundäranalyse der MilgramExperimente darauf hingewiesen, dass die Gruppe der ›Gehorsamen‹ in sich derart heterogen ist, dass dadurch der Schluss von der Laborsituation auf das alltägliche Handeln zweifelhaft wird. So unterscheidet Lüttke • Autoritätsgehorsame: Sie gehorchen trotz innerer Spannung, die aber bei wei-
terer Verschärfung auch zum Ungehorsam führen kann; • Autoritätshörige: Sie gehorchen ohne innere Spannung; • Autoritätsgläubige: Sie folgen derjenigen Autorität, die für sie die höhere
darstellt, und gehorchen deshalb gegebenenfalls nicht der als niedriger angesehenen Autorität des ›Versuchsleiters‹; • Instrumentell Autoritätsgehorsame: Sie nutzen die Befolgung der Anweisungen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse.
23 Ebd., S. 30f. 24 Hans B. Lüttke: Gehorsam und Gewissen. Die moralische Handlungskompetenz des Menschen aus Sicht des Milgram-Experimentes, Frankfurt/M. 2003.
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Dem entsprechend verbergen sich auch hinter dem Etikett ›Ungehorsam‹ ganz verschiedene Einstellungen. Jedenfalls ist es, in der Summe betrachtet, nicht nur ein genuin moralischer Respekt, der die Versuchspersonen davon abhält, den ›Schülern‹ Schmerzen zuzufügen, sondern, wie insbesondere einige spätere Replikationen gezeigt haben, die Angst vor der Rache der Betroffenen und die Sorge ums eigene Wohlbefinden. Aufgrund dieser Heterogenität sowohl der ›Gehorsamen‹ als auch der ›Ungehorsamen‹ ist es nicht überraschend, dass Versuche, die Unterschiede zwischen beiden mithilfe klinisch-psychologischer Persönlichkeitstests zu bestimmen, kaum zu aufschlussreichen Ergebnissen führten. Damit verliert auch Milgrams pointierte Gegenüberstellung von personalen und situativen Faktoren einiges an Plausibilität. Denn offenbar ist das Handeln der Individuen nicht auf eine unmittelbare Einwirkung der Situation zurückzuführen, sondern auch unter Bedingungen des sozialen Drucks auf das subjektive Bewertungssystem des Handelnden selbst, der auf die Aufforderungen der Autorität reagiert. Reduziert man die psychische Dynamik behavioristisch auf die Frage, welcher der konkurrierenden Reize sich als der stärkere erweist, um eine entsprechende Reaktion hervorzurufen, dann vernachlässigt man den innerpsychischen Konflikt, in dem sich die Versuchspersonen befinden.25 Das tatsächliche, von Milgram dokumentierte Erleben einschließlich des personalen Zwiespalts ist demnach nicht einfach zu erklären durch die Dominanz, sei es der situativen, sei es der personalen Faktoren, sondern durch die konflikthafte Interaktion zwischen verschiedenen psychischen Entscheidungsinstanzen, mittels derer die Situation und die mehr oder weniger verinnerlichten moralischen Anforderungen bewertet werden. Die Milgram-Experimente erlauben es, Lüttke zufolge, den Begriff der moralischen Kompetenz präzise zu rekonstruieren, wobei man allerdings Milgrams eigener Lesart seiner Resultate nicht immer folgen sollte. Denn sowohl die von ihm sogenannten ›Gehorsamen‹ als auch die ›Ungehorsamen‹ zeigen mehrheitlich eine funktionierende Gewissensinstanz, mittels derer sie das geforderte Handeln als problematisch bewerten. Jedoch ist die Instanz des Gewissens, als Bewusstsein der relevanten moralischen Normen, nur ein Faktor unter anderen, die für moralisches Handeln erforderlich sind. Gehorsamsverweigerung stellt zwar bei vielen Probanden eine echte Möglichkeit dar, ist aber von verschiedenen Bedingungen abhängig, die alle erfüllt sein müssen: Neben dem
25 Diesen Einwand erhob Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität [1973], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. VII, München 1989, S. 47ff.
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• Vorhandensein eines Normenbewusstseins, dem zufolge das Quälen von Mit• • • • •
menschen verboten ist, sind erforderlich: die Anwendung dieser Regel auf die konkrete Situation bzw. die Subsumtion der Situation unter die allgemeine Regel, die moralische Bewertung des eigenen Handelns innerhalb dieser Situation, die Übernahme persönlicher Verantwortung und, damit verbunden, die Abweisung von möglichen Entlastungsmechanismen, der Entschluss zum ungehorsamen Handeln sowie schließlich Ich-Kompetenzen, um die getroffene Entscheidung auch in die Tat umsetzen zu können, wie Planungssicherheit, Verzicht auf unmittelbare Anerkennung, Überwindung von Angst davor, sich zu exponieren.
Fällt nur eine dieser Instanzen aus, dann wird die Handlung blockiert. Bei seiner Analyse der Resultate der Milgram-Experimente sieht Lüttke keine Anhaltspunkte dafür, diese Anteile moralischer Handlungskompetenz als Teile einer autonomen und prinzipiengesteuerten Gewissensmoral im Sinne Kants oder Lawrence Kohlbergs anzusehen.26 Eine nur bei den Pre-Tests verwendete Version des Experiments enthielt zwar auch die schriftlichen Kennzeichnungen der Gefährdungen durch die verschiedenen Stromstärken, aber keinerlei Rückkopplung zwischen ›Schüler‹ und ›Lehrer‹; hier betrug die Gehorsamsrate 100 Prozent. Daraus kann man schließen, dass die moralische Handlungskompetenz auch dort, wo sie sich gegen einen starken Konformitätsdruck durchsetzen muss, weitgehend im Rahmen egozentrischer Abwägungen verbleibt. Die Anweisungen der Autorität werden nicht grundsätzlich und im Rekurs auf ethische Prinzipien, sondern nur in Bezug auf die eigene Person infrage gestellt. Ungehorsam stellt sich nicht aufgrund eines kognitiven Prinzipienbewusstseins, sondern allenfalls konkret gestützt durch persönliches Mitgefühl und orientiert an Modellen des Ungehorsams ein, durch die die Befehlsautorität geschwächt wird. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus Milgrams Experimenten ist demnach die, dass ein autonomes autoritätskritisches Verhalten, das unabhängig von äußeren Einflüssen und Sanktionserwartungen moralische universalistische Prinzipien in Handlungen umsetzt, eine ethische
26 Kohlberg, der zur Zeit der Experimente ebenfalls an der Yale-Universität arbeitete, konnte während der milgramschen Pre-Tests mit Studenten diese auch mit seinem berühmten Heinz-Dilemma traktieren. Nach Kohlbergs damaliger Fassung der Moralstufen war Ungehorsam auf den postkonventionellen Stufen 5 und 6 möglich, aber auch zu erwarten. Doch selbst diejenigen wenigen Probanden, die diese Stufen erreichten, zeigten ein ›ungehorsames‹ Verhalten erst an einem bestimmten Punkt weit jenseits dessen, was ihre Moralprinzipien erfordert hätten.
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Fiktion ist. Damit wird auch dem Vertrauen in einen stabilen Fortschritt der moralischen Kultur der Boden entzogen: »Die in den westlichen Industrienationen, und damit in einem kleineren Teil der Welt, übliche relative Friedfertigkeit des menschlichen Zusammenlebens und der weitgehend herrschende Schutz der Rechte des einzelnen sind weniger das Ergebnis einer im kulturellen Entwicklungsprozess gewonnenen allgemeinen stabilen demokratischen und menschenfreundlichen Gesinnung, als der Abwesenheit von anderslautenden Direktiven ge27
schuldet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger hat Milgram aufgedeckt.«
F RAGEN
DER
F ORSCHUNGSETHIK
Ist es ethisch zulässig, Menschen, die sich freiwillig als Versuchspersonen oder Hilfskräfte für wissenschaftliche Experimente zur Verfügung stellen, über die eigentlichen Ziele der Experimente systematisch zu täuschen, sie einem teilweise extremen psychischen Stress auszusetzen, indem sie divergierenden, miteinander unvereinbaren sozialen Anforderungen ausgesetzt werden, sie zu Handlungen zu verleiten, die sie selbst im Nachhinein moralisch missbilligen und dadurch der Gefahr auszusetzen, ihr Selbstwertgefühl einzubüßen? Diese und ähnliche Vorwürfe erhoben nicht wenige Kritiker der Milgram-Experimente. Freilich gehört die Täuschung von Probanden seit jeher zu den Methoden der sozialpsychologischen Forschung, lassen sich doch manchmal nur auf diese Weise die zu untersuchenden Verhaltensweisen hervorrufen. Aber bei Milgram wurde durch die methodische Täuschung offenbar ein Grad an psychischem Stress verursacht, der qualitativ stärker als sonst ins Gewicht fiel. Er selbst erklärte diesen Umstand damit, dass zu Beginn der Forschungen niemand erwartet habe, dass die Probanden derart gegen ihre moralischen Gefühle handeln würden und derart weit in der Zufügung von Schmerzen gehen würden.28 Jedoch beharrte er darauf, dass der Vorwurf nicht zutreffe, der ›Versuchsleiter‹ habe die Versuchspersonen zu unmoralischem Verhalten gleichsam gezwungen. Vielmehr habe jeder grundsätzlich die Freiheit gehabt, zu handeln oder sich zu verweigern. Die Belastung durch Stress und die mögliche Untergrabung des Selbstwertgefühls, so äußerte er sich gelegentlich, sei beim Anschauen eines Hitchcock-Thrillers oder bei der Ableistung eines Universitätsexamens deutlich höher als bei seinen Experimenten.29
27 Lüttke: Gehorsam und Gewissen, S. 102. 28 Milgram: Das Milgram-Experiment, S. 121ff. 29 Vgl. Blass: The man who shocked the world, S. 115ff.
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Dies mag teilweise zugetroffen haben, jedoch waren die Vergleiche nicht wirklich überzeugend. Der entscheidende Unterschied zur künstlerisch erzeugten Spannung besteht im Bewusstsein des fiktionalen Charakters des Artefakts, und der Unterschied zum Stress eines Examens besteht in dessen Rechtfertigung als Indiz dafür, dass die Probanden auch den späteren Stress des entsprechenden Berufsalltags bewältigen können. Auch spielte Milgram bei seiner Verteidigung die Stressbelastung insgesamt herunter, während es durchaus Fälle gab, in denen Versuchspersonen ihre emotionale Zerrissenheit weit dramatischer schilderten. Jedoch war die am meisten überzeugende Rechtfertigung der MilgramExperimente ihr – immerhin beträchtlicher – Erkenntnisgewinn. Diesen reklamierte Milgram auch für seine Versuchspersonen selbst, die ihm in zahlreichen Rückmeldungen versichert hätten, eine für sie wertvolle Erfahrung gemacht zu haben. Auch gab es in seiner Sicht keine Hinweise auf schädliche Folgen der Experimente. Dennoch führten die wissenschaftsethischen Debatten über Milgrams Experimente dazu, dass solche oder ähnlich angelegte Versuche heute nicht mehr in der gleichen Weise wie damals durchgeführt werden könnten. Die Ethik-Kodices der psychologischen Berufsverbände über die Forschung am Menschen behandeln die durch Milgrams Methoden aufgeworfenen Fragen deutlich restriktiver als dies in den 1960er Jahren üblich war. Beispielsweise wird in den derzeitigen ›Ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. und des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.‹ die notwendige Einwilligung der Versuchspersonen an deren umfangreiche Aufklärung geknüpft, so unter anderem über Zweck und Dauer der Versuche, über das Recht der Versuchspersonen zum Abbruch ihrer Teilnahme und über »potenzielle Risiken, Unbehagen oder mögliche anderweitige negative Auswirkungen, die über alltägliche Befindlichkeitsschwankungen hinausgehen«. Ein weiterer berufsethischer Grundsatz ist der »Täuschung in der Forschung« gewidmet, wobei die Täuschung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen wird und sich nicht auf solche Aspekte der Forschung beziehen darf, »von denen vernünftigerweise angenommen werden kann, dass sie ernsthafte physische und/oder psychische Belastungen erzeugen«30. Auf diese Weise kann man die problematischen Aspekte von Forschungen, die dem Milgram-Paradigma folgen, wenigstens im Prinzip eingrenzen. Dies ist deshalb erforderlich, weil diese Forschungen in einem durchaus höheren Maß, als Milgram sich dies klar machte, von ihrem Erkenntnisgegenstand gleichsam
30 Abschnitte C III 3 und 8. Internet: http://www.dgps.de/dgps/aufgaben/003.php [Zugriff 22.5.2010].
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infiziert sind. Dieser besteht in der Verfügung des ›Lehrers‹ über den ›Schüler‹, oder verallgemeinert: der Verfügung über Menschen unter Absehung ihrer Empfindungen. Eben dies aber kehrt in der Behandlung des ›Lehrers‹ durch den ›Versuchsleiter‹, des Beobachtungsobjekts durch den wissenschaftlichen Beobachter, wieder. Kant hat am Ende des 18. Jahrhunderts die naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung mit einem gerichtlichen Verhör verglichen:
»Die Vernunft muss mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt auf die Fragen zu antworten, die 31
er ihnen vorlegt.«
Die Natur spricht demnach nicht von sich aus – in der Moderne nicht mehr. Ihr nur zuhören zu wollen, verspricht keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn mehr, die schweigende (oder zum Schweigen gebrachte) Natur muss vielmehr vor dem Tribunal der Vernunft wieder zum Reden gebracht werden. Das Mittel dazu, die Tortur, ist das Experiment. Das Experiment ist diejenige Konstellation von peinlichen Befragungen, in der die Natur ihre Geheimnisse preisgeben muss. Die naturwissenschaftliche Psychologie hat die vom juristischen Verfahren auf die Naturbeobachtung übertragene Methode zurück auf den Menschen übertragen, der in ihren Experimenten tatsächlich oft genug bloß als ein Objekt der Naturbeherrschung erscheint. In diesem Zusammenhang stellen Milgrams sozialpsychologische Experimente noch einmal eine Besonderheit dar, insofern sie Erkenntnisse liefern, die daran gebunden sind, dass die beobachteten Menschen systematisch über Ziel und Zweck der Beobachtung, ja über die Tatsache der Beobachtung selbst getäuscht werden. Methodologisch ausgedrückt: »Was in anderen psychologischen Experimenten als validitätsgefährdender Störfaktor angesehen wird, nämlich der instruktionswidrige vorzeitige Abbruch des Experiments durch die Vp, wird hier zur abhängigen Variable.«32 Anders gesagt: Die normative Hintergrunderwartung des Experimentators ist genau dann erfüllt, wenn die beobachtete Versuchsperson in ihrer Sicht die weitere Mitarbeit am Experiment aufgrund persönlicher Erwägungen oder Widerstände verweigert
31 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XIII, Akad.-Ausg. 3, S. 10. 32 Ullrich Günther: »Gehorsam bei Elektroschocks: die Experimente von Milgram«, in: Dieter Frey, Siegfried Greif (Hg.): Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, München 1983, S. 446.
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und es damit scheinbar scheitern lässt. Nicht zuletzt auf diese methodologische Raffinesse ist ein hohes Maß einer – durchaus zwiespältigen – wissenschaftlichen Faszination zurückzuführen, die die Milgram-Experimente nach nunmehr fast einem halben Jahrhundert immer noch ausstrahlen. Hier ist aber auch der methodologische Gelenkpunkt von Beobachtung und Selbstreflexion: Auf dem Gipfel der wissenschaftsmethodologischen Distanz zwischen Beobachter und verdinglichtem Beobachteten, dem ›subject‹ (wie in der angelsächsischen Wissenschaftssprache, mit Rückgriff auf ältere, vorneuzeitliche Terminologien, die Versuchsperson innerhalb eines Experiments auch bezeichnet wird), schlägt diese Beziehung um in die ethische und anthropologische Reflexion der conditio humana. Die Milgram-Experimente gehören zu jener besonderen Art von Experimenten, die die Gewalttätigkeit der experimentellen Rahmung unmittelbar sinnlich erfahrbar machen, aber zugleich sich dadurch legitimieren, dass nicht ein äußeres Objekt, sondern am Ende das erkennende Subjekt selbst vors Tribunal geführt wird.
L ABOR
UND
L EBENSWIRKLICHKEIT
Sind die Milgram-Experimente bloße Labor-Konstrukte, die letztlich nichts über das Verhalten im wirklichen Leben aussagen? Mit diesem Einwand, den Milgram selbst gegen seinen Lehrer Asch vorgebracht hat, musste er sich auch selbst auseinandersetzen. Milgram beanspruchte durchaus, mit seinen Untersuchungen gleichsam den soziopsychischen Grundmechanismus namhaft gemacht zu haben, der normalerweise das Verhalten von Menschen in Beziehung zu einer Autorität reguliert, von der man annimmt, sie habe kraft ihres Status das Recht, dieses Verhalten zu fordern. »Die Färbung und Einzelheiten des Gehorsamsverhaltens sind vielleicht unter anderen Umständen anders, doch die fundamentalen Prozesse bleiben die gleichen, genau wie der Verbrennungsprozeß bei einem Streichholz und bei einem Waldbrand der gleiche ist.«33 Milgram wusste sehr wohl, dass in der sozialen Wirklichkeit das Verhalten durch viele zusätzliche Faktoren beeinflusst werden kann, die im Labor, gewollt oder ungewollt, keine Rolle spielen. So ist in bürokratischen oder militärischen Institutionen die Sanktionsgewalt von Autoritäten entschieden höher als die des psychologischen ›Versuchsleiters‹; andererseits ist das Überraschungsmoment, das den Versuchspersonen kaum Zeit gewährt, sich Entscheidungen reiflich zu überlegen, in der Laborsituation weitaus höher als zumeist im Alltag, in dem wiederum Verhaltensorientierungen durch längerfristig wirksa-
33 Milgram: Das Milgram-Experiment, S. 201.
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me Gewöhnungen erzeugt oder stabilisiert werden. Erkenntnisse aus Laborexperimenten auf die soziale Wirklichkeit zu übertragen, ist demnach nie möglich ohne genauere Berücksichtigung der Umstände. Dann verlieren aber auch die an sehr spezifische Bedingungen gebundenen quantitativen Ergebnisse der Experimente deutlich an Aussagekraft über die Lebenswirklichkeit. Milgram zeigte, dass Gehorsam auch dann weitgehend erwartet werden kann, wenn die Anordnungen einer als legitim angesehenen Autorität unsinnig oder fadenscheinig sind oder gar nicht begründet werden und wenn sie, was den üblichen sozialen und moralischen Normen des Zusammenlebens widerspricht, beinhalten, andere, dem Handelnden unbekannte Menschen zu quälen. Im Nachweis der zumeist krass unterschätzten situativen Einflussfaktoren sah Milgram selbst das wichtigste Resultat seiner Experimente. Mit Rekurs auf die Taten und Handlungsmotive von Nazis wie Eichmann oder amerikanischen Soldaten im Vietnam-Krieg wie der Gruppe um Leutnant Calley, die für das Massaker in My Lai verantwortlich waren, resümierte er:
»Es ist bittere Ironie, dass die Tugenden der Loyalität, der Disziplin und der Selbstaufopferung, die wir am einzelnen so hoch schätzen, genau die Eigenschaften sind, die eine organisierte Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie schaffen und Menschen an bösartige Autoritätssysteme binden. Jeder Mensch hat ein Gewissen, das mehr oder weniger dazu beiträgt, die Triebbefriedigung, die anderen Schaden zufügt, zu verhindern. Doch wenn der Mensch seine Person in eine Organisationsstruktur einbringt, tritt an die Stelle des autonomen Menschen ein neues Wesen, das von seinen individuellen Moralvorstellungen nicht mehr eingeschränkt ist, das von der Behinderung durch Gebote der Menschlichkeit befreit ist und nur auf die Sanktionen seitens der Autorität achtet. […] Es ist oft nicht so sehr die Wesensart eines Menschen, die seine Handlungsweise bestimmt, wie die Eigenart der Situation, in der er sich 34
befindet.«
Milgrams Ansatz war explizit gegen triebtheoretische Erklärungen von Grausamkeiten gerichtet, aber das schloss nicht aus, dass im Labor wie in der Lebenswirklichkeit auch autonome Aggressionsimpulse wirksam sein konnten. So erwies sich seine Theorie in der historischen Holocaustforschung als wichtiges Erklärungsmittel, ohne dass doch überschießende destruktive oder sadistische Impulse zu leugnen gewesen wären. Browning, Goldhagen und andere haben bei ihren Untersuchungen z. B. zu den Aktivitäten der deutschen Polizei-Bataillone im besetzten Polen gezeigt, dass viele Täter bei der Judenverfolgung ein hohes Maß an Grausamkeiten zeigten, das keineswegs durch Befehle gefordert war. Ebenso wenig wie
34 Ebd., S. 216 und 235.
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Arendts Formel von der ›Banalität des Bösen‹ umstandslos auf alle NaziVerbrechen anwendbar war35, stellte demnach Milgrams Begriff des reinen Gehorsams eine ausschließliche Erklärung der mörderischen Abläufe dar. Die publizistische Breitenwirkung der milgramschen Forschungen beruhte auf der Überraschung, die mit ihren Ergebnissen verbunden war. Mit dieser Überraschung hat es seine besondere Bewandtnis. Denn jene Erkenntnis konnte nun insofern überhaupt nicht erstaunen, als uns die Geschichte zahllose Beispiele dafür bietet, wie Menschen andere Menschen auf Befehl oder auch in vorauseilendem Gehorsam gequält haben. Auch schon vor Milgram wusste man aus unzähligen Beispielen, nicht nur in Bezug auf die von den Nazis oder anderen Befehlsgebern angeordneten Verbrechen, dass »aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«36. Demgegenüber beruhte die schockartige Überraschung, die Milgram auslöste, darauf, dass er ein entsprechendes destruktives Verhalten unter Bedingungen einer reproduzierbaren experimentellen Anordnung erzeugen und damit auch seine jeweiligen Voraussetzungen beschreiben konnte. Dazu kam als besondere Pointe seiner Experimente die Erkenntnis, dass Autorität und Gehorsam auch dann funktionieren, wenn keine Gewaltandrohung und keine einleuchtende Begründung dafür vorliegen. Der destruktive Gehorsam funktioniert auch ohne Sanktion und ohne Sinngebung. Jenseits der sozialwissenschaftlichen Erklärungen, durch die das mörderische Verhalten ganz normaler Menschen enträtselt wird, bleibt freilich ein weiteres Rätsel bestehen. Erklärungsbedürftig – so wäre am Ende festzustellen – ist dann weniger der destruktive Gehorsam selbst, sondern der Umstand, dass sich die Frage als Frage so hartnäckig hält. »Rätselhaft«, meint Jan Philipp Reemtsma in seiner Untersuchung über Vertrauen und Gewalt, »ist nicht die Katastrophe [der staatlich organisierten Massenmorde], sondern ihre Integrierbarkeit, wir verrätseln die Katastrophe, um uns unsere Normalität nicht als permanente Irritation zumuten zu müssen.«37 Milgram hat demnach Wesentliches zum Verständnis nicht nur der mörderischen Tendenzen in Hierarchien, sondern auch des nahezu unerschütterlichen Vertrauens in unsere Normalität beigetragen. Dieses Vertrau-
35 Die bereits erwähnten psychologischen Tests der Angeklagten des Nürnberger NSKriegsverbrecherprozesses ergaben Persönlichkeitsprofile, die keineswegs Hannah Arendts Charakterisierung von der ›Banalität des Bösen‹ [entsprachen] – dazu waren die sich zeigenden Profile zu schillernd, kreativ und fantasiebegabt.« (Welzer: Täter, S. 10f.). 36 So der Untertitel von Welzer: Täter. 37 Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 22.
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en scheint sich vor allem daraus zu speisen, dass wir unser Selbstbild des seiner selbst mächtigen Handlungssubjekts verallgemeinern und dabei systematisch die Veränderungen übersehen, die mit uns geschehen können, wenn wir autoritär wirkenden Situationen ausgeliefert sind. Doch vergessen wir nicht: Anweisungen von Autoritäten ordentlich auszuführen, ist ebenso eine Kulturleistung wie der moralisch orientierte Widerstand gegen unmoralische Befehle. Beiderlei Kompetenzen werden durch individuell langwierige und grundsätzlich konflikthafte Prozesse der Eingewöhnung in normative Sozialsysteme gebildet. Sozialisationsprozesse verlaufen niemals in sich einheitlich, sondern ambivalent zwischen Anpassung und Eigenverantwortlichkeit, Gehorsamsmoral und Verantwortungsmoral. In der für sie neuen, ungewohnten Laborsituation konnten sich die Versuchspersonen zunächst gar nicht anders verhalten, als auf Verhaltensmuster zurückzugreifen, die sich bis dahin in ihrer Lebenswelt bewährt hatten. Zu diesen Verhaltensmustern gehören nicht zuletzt das Bemühen um Konsistenz im eigenen Handeln und das Vertrauen in die Seriosität universitärer Forschung. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, wenn alle Versuchspersonen sich über weite Strecken gehorsam verhielten. Nun kann man aber auch – Bernhard Kroner hat dies in einer anregenden Studie getan – den Focus statt auf die Bedingungen des Gehorsams auf die des Ungehorsams legen, um festzuhalten: Ungehorsam wird dann zunehmend wahrscheinlich, wenn • der ›Schüler‹ durch räumliche Nähe und ungeschmälerte Wahrnehmung mit
seinen Reaktionen ins Bewusstsein der Versuchsperson tritt; • die Kontrollmöglichkeit des ›Versuchsleiters‹ über die Versuchsperson gerin-
ger ist und seine Legitimität oder die der Anordnungen zweifelhaft ist; • die Möglichkeit von Verhaltensalternativen deutlich ist; • die Versuchsperson Ungehorsam bei anderen modellhaft beobachtet; • die Versuchsperson als Persönlichkeitsmerkmal über Ich-Stärke verfügt. Kroner macht diese Einsichten für eine psychologisch aufgeklärte Friedens- und Konfliktforschung fruchtbar, indem er Analogien zwischen einerseits den aus den Milgram-Experimenten erschließbaren situations- und persönlichkeitsbezogenen Bedingungen des Ungehorsams und andererseits den Faktoren in sozialen und politischen Konfliktfeldern herstellt. Generell entspricht hier dem milgramschen Ungehorsam die Bereitschaft zur Konfliktlösung und Friedensfähigkeit. Auch sie ist kaum als Anwendung eines kognitiv vergegenwärtigten universalistischen Moralprinzips erwartbar, sondern, wie jener Ungehorsam, abhängig von sozialen Konstellationen, die es zu fördern gilt. Näher betrachtet,
V OM W IDERSTAND
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• entspricht der Nähe zum Opfer die – herzustellende – Kenntnis der Motive und • • • •
Ängste der jeweils anderen Konfliktpartei und die Bereitschaft zur Empathie; entspricht der Distanz zum ›Versuchsleiter‹ die Delegitimation gefährlicher Autoritäten; entspricht der Möglichkeit von Verhaltensalternativen die Förderung einer offenen, wertpluralen Gesellschaft; entspricht der Beobachtung von Modellen des Ungehorsams die Bekanntmachung von Beispielen zivilen Ungehorsams; entspricht dem Persönlichkeitsmerkmal der Ich-Stärke ein kulturelles Wertesystem, in dem Legitimität Vorrang vor Befehl und Konsensbildung Vorrang vor Machtdurchsetzung hat.
Deutlich wird so, »daß friedenspraxeologische Handlungsmaximen wider Erwarten gerade in den Milgram-Experimenten enthalten sind und dass zwischen bestimmten Bedingungen und Wirkungen regelhafte Zusammenhänge bestehen«38. Eine solche Wendung kommt dem sartreschen Freiheitspathos entgegen, dem zufolge der Mensch prinzipiell nicht auf Reiz-Reaktions-Mechanismen zu reduzieren ist, sondern sich einen ›Entwurf‹ gibt, dem er mit seinem Handeln folgt. Sartre ging es nicht zuletzt darum, die Möglichkeit des Widerstandes gegen autoritäre Machthaber zu begründen, und er leitete diese aus der negativen Struktur des Bewusstseins ab. Um die Unausweichlichkeit dieser Freiheit, die mit Verantwortung einhergeht, zu betonen, spitzte er die Feststellung der Freiheit zum Paradoxon zu: »Ich bin verurteilt, frei zu sein. Das bedeutet, […] dass wir nicht frei sind, nicht mehr frei zu sein. In dem Maß, wie sich das Für-sich sein eigenes Nichts verhehlen und sich das An-sich als seinen wahren Seinsmodus einverleiben will, versucht es auch, sich seine Freiheit zu verhehlen.« 39 Das Für-sich, der seiner selbst bewusste Mensch, kann sich selbst verfehlen, indem er sich den äußeren und inneren Zwängen überlässt und so zum An-sich, einem kausal bestimmten Ding wird. Die Milgram-Experimente veranschaulichen die sartresche Paradoxie des Zur-Freiheit-verurteilt-Seins und spitzen sie noch weiter zu, indem sie die Gegenkraft demonstrieren, gegen die sich der im Prinzip freie Wille zu behaupten hat. Diese Gegenkraft entstammt der psychischen Grundstruktur des Konformismus. Während das in sich brüchige moralische Verhalten einer weitergehenden Stützung durch Vorbilder, Mitgefühl und Inte-
38 Bernhard Kroner: Gegen den Pessimismus des Milgram-Experiments, Bielefeld 1988, S. 23f. 39 Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 764.
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ressenkalkulation bedarf, funktioniert die Unterwerfung aufgrund ihres regressiven Charakters auch ohne eine solche. Dabei spielen kognitive Leistungen eher eine nachträgliche Rolle: Wir gehorchen nicht aus diesen oder jenen guten Gründen, sondern wir akzeptieren oder suchen Gründe, um das Gehorchen auch dort, wo es sich gegen unsere moralischen Gefühle durchsetzt, zu rechtfertigen. Oder im besseren Fall suchen wir uns Vorbilder, die unsere moralischen Gefühle bestärken und uns dabei unterstützen, gegen eine amoralische Autorität Widerstand zu leisten. »Es gibt sehr wenig böse Menschen«, wusste schon Nestroy, »und doch geschieht so viel Unheil in der Welt; der größte Teil dieses Unheils kommt auf Rechnung der vielen, vielen guten Menschen, die weiter nichts als gute Menschen sind.«40 Milgrams Ergebnisse, gegen den Strich gelesen, erlauben es, Nestroys Satz zu ergänzen: Es reicht nicht, bloß für sich ein guter Mensch sein zu wollen, auch die sozialen Verhältnisse müssen gut sein. Das Unheil in der Welt könnte weniger werden, wenn die guten Menschen nicht nur anderen folgten, sondern selbst herausfinden könnten, was gut ist. Dabei kann man sie durch eine Kultur der Verständigung unterstützen.
40 Nestroy: Nur Ruhe [1843], zit. aus: »Die Welt steht auf keinen Fall mehr lang« Nestroy zum Vergnügen, hrsg. v. Jürgen Hein, Stuttgart 1995, S. 25.
Experimentelle Selbstverwirklichung Von Marx bis heute G EORG L OHMANN
Die Philosophie beschäftigt sich seit einiger Zeit wieder mit alten Fragen, was unter »Glück« und »gutem Leben« zu verstehen sei.1 Eine häufig gegebene und diskutierte Antwort ist: »Selbstverwirklichung!«. Selbstverwirklichung ist eine Lebensdeutung, der Begriff charakterisiert die Modernität gegenwärtiger Lebensvollzüge. In gegenwärtigen Zeitdiagnosen nimmt er eine herausragende Stellung ein. In den soziologischen Forschungen zum Wertewandel moderner Gesellschaften dient er als eine Komponente zur Charakterisierung »post-materialistischer Werte«2, die Neokonservativen benutzen ihn, um »die Linke« zu charakterisieren3, die gegenwartsbezogene Moralphilosophie rechnet ihn dem modernistischen Kontext des Emotivismus zu 4 , und philosophisch hat Michael Theunissen die These aufgestellt, dass »der Modernismus […] im Ganzen und im Grunde die Ideologie der Selbstverwirklichung […] ist«.5 In der Tradition des 1
Siehe Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995.
2
Z. B. Ronald Ingelhart: The Silent Revolution, Princton 1977; ferner die Diskussion in: Helmut Klages, Peter Kmieciak (Hg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt/New York 1984; siehe auch Helmut Klages: Wertorientierungen im Wandel, Frankfurt/New York 1985; Ronald Ingelhart: ›Kultureller Umbruch‹. Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt/New York 1989.
3
So z. B. Robert Spaemann: Philosophische Essays, Stuttgart 1983, S. 99; siehe auch Hermann Lübbe: »Selbstverwirklichung. Kulturelle, gesundheitspolitische und soziale Aspekte des Wertewandels«, in: Deutscher Anästhesistenkongreß 1984, Mainz 1984.
4
Vgl. z. B. Alasdair MacIntyre: After Virtue, Notre Dame 1981 (dt.: Der Verlust der
5
Michael Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin 1982, S. 1f.
Tugend, Frankfurt/M./New York 1987).
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Marxismus gilt Selbstverwirklichung in der Arbeit als humanistisches Ideal; an dieser Einschränkung auf Arbeit ist Kritik geübt worden6, die Idee der Selbstverwirklichung des Menschen in seinem Tätigsein bleibt aber auch im kritischen Marxismus ein Kandidat für eine (inhaltliche) Konzeption von gutem Leben.7 Ich will die Ausgangsthese in einzelnen Schritten und an unterschiedlichen Autoren verdeutlichen und überprüfen. Ich skizziere zu Beginn, was man unter Glück und gutem Leben verstehen kann, und unterscheide dann zwei Weisen von Selbstverwirklichung, eine zielgerichtete, teleologische und eine experimentelle Selbstverwirklichung. Aus diesen begrifflichen Unterscheidungen und Vorüberlegungen gewinne ich vier Fragen an Konzeptionen der Selbstverwirklichung und spiele das an einer zugegeben losen Reihe von unterschiedlichen Konzeptionen von Selbstverwirklichung durch. Beginnen möchte ich mit Karl Marx und einer analytischen Marxinterpretation (John Elster). Dann will ich Konzeptionen untersuchen, die die ästhetischen Eigenarten experimenteller Selbstverwirklichung herausarbeiten und kritisieren (Sören Kierkegaard) oder sich isosthenisch eines Urteils zu enthalten versuchen (Georg Simmel), um mit der Diskussion von heutigen Vorschlägen zu schließen, die die experimentelle Selbstverwirklichung wieder in einen ethischen Rahmen einzufügen versuchen: Charles Taylor und Jürgen Habermas. In diesem losen, vielleicht selber etwas experimentellen Vorgehen ergibt sich kein festes Ergebnis, vielleicht aber ein vertieftes Problembewusstsein, warum wir auf die Freiheit und Kreativität experimenteller Selbstverwirklichung nicht verzichten können und sollten, aber auch, warum wir dem experimentellen Umgang mit uns selbst soziale und ethische Grenzen setzten sollten.
G LÜCK UND G UTES L EBEN Spricht man vom »wahrhaften« oder »wirklichen« Glück, im Unterschied zu einem nur scheinbaren oder illusionären Glücksempfinden, so ist damit Glück in einem umfassenden Sinne gemeint. Dieses wird freilich unterschiedlich ausge-
6
Zu Karl Marx vgl. Emil Angehrn: »Sein und Haben. Zum moralischen Fundament der Entfremdungskritik«, in: ders., Georg Lohmann (Hg.): Ethik und Marx, Königstein Ts. 1986; André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin 1989; Georg Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1991.
7
Vgl. Jon Elster: »Self-realisation in Work and Politics: The Marxist Conception of the Good Life«, in: Ellen Frankel Paul, Fred D. Miller et al. (Hg.): Marxism and Liberalism, Oxford 1986.
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legt: als umfassendes Ziel unseres Strebens, als befriedigende Erfüllung unserer Wünsche und Pläne, oder als emotionaler Zustand einer gelingenden Weise sein Leben zu leben. Damit rückt der Glücksbegriff in die Nähe der Konzeption eines gelingenden, guten Lebens. Das gute, gelingende Leben ist aber nicht in jeder Hinsicht identisch mit dem wahrhaften Glück. Das gute Leben ist die Weise von Leben, die wir anderen Lebensweisen vorziehen und die uns vorziehenswürdig erscheint. Für das Gelingen unseres guten Lebens glauben wir uns verantwortlich, weil es wesentlich von unseren Präferenzen und Wertungen, Handlungen und Einstellungen abhängt, von denen wir annehmen, dass sie auch die Zustimmung anderer (nicht notwendig auch aller anderen) finden können. Das gute Leben intendieren wir und können wir intendieren, es ist Bestimmungsziel unseres überlegten und begründeten Wollens und insofern steht es in unserer Macht. Das Glück hingegen ist der auch affektiv empfundene, bewusste Zustand, der sich einstellt, wenn unser intendiertes gutes Leben gelingt, wenn uns »alles nach Wunsch und Willen geht«8. Das Glück ist aber weder direkt intendierbar noch steht es allein in unserer Macht oder ist durch uns machbar. Richtig verstanden, ist das Glück nicht etwas, was wir direkt intendieren können, sondern es ist eine Auszeichnung, wie wir insgesamt handeln, es bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir unsere Zwecke verfolgen, unsere Wünsche befriedigen, und verbindet dabei zwei Bedeutungsaspekte des Glücks: Glückhaben und Glücklichsein.9 Das Glück steht auch nicht in unserer Macht, sodass wir uns etwa entschließen könnten, glücklich zu sein10, und wir können es auch nicht herstellen, so wie wir bestimmte Güter herstellen können. So wie Aristoteles die Lust (als das momentane »kleine Sinnenglück«) als telos epigignomenon, als »dazukommende Vollendung« 11 bestimmt, die sich einstellt, wenn wir eine Tätigkeit zu dem angestrebten Ziele ungehindert ausführen, so lässt sich auch das Glück als eine »dazukommende Vollendung« eines guten Lebens auffassen. Es stellt sich ein, wenn unser Leben auf eine gute, schätzenswerte Weise gelingt. Glücklichsein und ein gutes Leben führen können daher auch auseinanderfallen; jemand kann ein gutes Leben leben, ohne im umfassenden Sinne glücklich zu sein, z. B. wenn er »auf einen anspruchsvollen Beruf verzichtet, um kranke
8
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA., S. 124.
9
Siehe dazu Emil Angehrn: Glück und Gelingen, Ms. 1999.
10 Vgl. schon Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1111b28. 11 Ebd., 1174b30.
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Verwandte zu pflegen«.12 So verstanden kann man daher sagen, dass ein wirklich glückliches Leben immer auch ein (für mich, nur für mich?) schätzenswertes gutes Leben impliziert, dass aber umgekehrt ein gutes Leben nicht immer auch ein glückliches Leben sein muss. Das Glück übersteigt ein gutes Leben, es zeigt uns, dass die Weise, wie unser Leben von uns gut geführt wird, auch von uns umfassend als zustimmungsfähig empfunden wird. Insofern macht das alte Kriterium für Glück durchaus Sinn: Glücklich bin ich, wenn ich meinen Zustand umfassend bejahen kann – aber dass ich meinen Zustand bejahe, bewirkt nicht, dass ich glücklich bin. Bei allen gegenwärtigen Fragen, wie man leben sollte, oder nach dem, was uns glücklich macht, spielt eine große und entscheidende Rolle die Forderung, dass Bestimmungen von »Glück« und von einem glücklichen, gelingenden Leben und ebenso von Konzeptionen eines guten Lebens den Begründungsansprüchen der Moderne genügen können. Einig ist man sich weitgehend, dass die gesuchte Konzeption nicht von den einzelnen vorgegebenen Bestimmungen ausgehen kann, die als substantielle oder traditionale Bestimmungen des glücklichen und/oder guten Lebens den Vollzug menschlichen Lebens anleiten. Deshalb entfallen auch zunächst alle Versuche, die mit einer (anthropologischen) Bestimmung des Menschen operieren oder die ein bestimmtes Gut als oberstes Ziel des menschlichen Lebens auszeichnen. Ernst Tugendhat hat vorgeschlagen, einen modernen Begriff des guten Lebens nicht in einer inhaltlichen Bestimmung des ›Was‹ unseres Wollens, sondern in einer formalen Charakterisierung des ›Wie‹ unseres Wollens zu suchen. Dabei zeichnet er ein wahrhaftes Wollen aus, das nicht zwanghaft ist, weil es reflexiv und überlegend etwas will, was ich »wirklich will in dem Sinne, daß ich es frei (mit der Möglichkeit des Überlegens) wähle«.13 Tugendhat lässt am Schluss seiner Überlegungen offen, ob ein moderner Begriff von gutem Leben (oder wahrhaftem Glück) nur in dieser formalen Weise zu kennzeichnen ist oder ob ihm auch mögliche inhaltliche Ziele unseres Wollens korrespondieren14. Im Folgenden soll daher gefragt werden, ob und wenn ja, in welcher Weise der Begriff der Selbstverwirklichung ein Kandidat für eine inhaltliche Bestimmung des modernen guten Lebens ist und auch, ob und wie Selbstverwirklichung ein Vehikel sein kann, um glücklich zu sein.
12 Dieses Beispiel bringt Ursula Wolf im Anschluss an Anthony Kenny: »On Happiness«, in: Joel Feinberg: Moral Concepts, Oxford 1969; siehe Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbeck 1999, S. 69. 13 Ernst Tugendhat: »Antike und moderne Ethik«, in: ders.: Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 55. 14 Vgl. ebd., S. 56.
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Notwendige Basis des modernen Begriffs der Selbstverwirklichung ist seit Kant Autonomie, d. h. die freie Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung, die gemäß dem zweifachen Freiheitsbegriff bei Kant entweder als Willkürfreiheit oder als moralisch bestimmte Freiheit verstanden werden kann. Schiller deutet die kantische Autonomie um in »die Vorstellung einer Entfaltung der je eigenen Individualität.«16 Mit dieser individualistischen Umdeutung beginnt die moderne Karriere des Begriffs. In der Folgezeit konkurrieren für diese individualisierende Selbstverwirklichung zwei Deutungen: (a) Im Rückgriff auf die aristotelische Unterscheidung von dynamis und energeia wird die Verwirklichung des Selbst teleologisch gedeutet, als Entwicklung der im Selbst angelegten Möglichkeiten, »als fortschreitende Realisierung eines vorgegebenen Zwecks«17. (b) Unter der Annahme, dass das Selbst nicht vorherbestimmt ist und vor einem Wirklichwerden nicht bekannt ist, wird es »als ein Mit-sich-Experimentieren, als ein eigentlich zielloser Weg, auf dem das Individuum erst erfährt, was es ist«18, verstanden. Beide Vollzugsweisen von Selbstverwirklichung19 sind begleitet durch emotionale Stimmungen, die anzeigen, ob der jeweilige Vollzug von Selbstverwirklichung
15 Im Folgenden übernehme ich Einsichten von Michael Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. 16 Ebd., S. 2ff. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Im Ausgang von einer Analyse einer ethisch gewendeten Ironie unterscheidet Christoph Menke drei Modelle von Selbstverwirklichung, die in seiner Sprachregelung Modelle einer authentischen und besonderen Individualität kennzeichnen sollen: 1) Das traditionelle Modell der ›bejahenden Übernahme‹ vorgegebener Muster. 2) Das klassische Modell einer ›endgültigen Überwindung‹, in der das Individuum sich aus anfänglichen Bestimmungen befreit und seine eigene Bestimmung gewinnt. 3) Das skeptische Modell einer ›unaufhörlichen Überschreitung‹, in der das Individuum jede gegebene Form seiner selbst spielerisch auflöst und sich damit in der Schwebe hält. Modell 1 und 2 entsprechen den teleologischen Weisen der Selbstverwirklichung, Modell 3 entspricht den experimentellen. Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996, S. 200 und passim.
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gelingt oder fehlschlägt, d. h. ob das Individuum sich mit seinen Anstrengungen in Übereinstimmung finden kann oder nicht, allgemein: ob seine Selbstverwirklichung auch als Glück erfahren werden kann. Wegen des Grundgedankens der Autonomie haben sowohl die teleologische wie die experimentelle Deutung von Selbstverwirklichung ein besonderes Problem in ihrem Verhältnis zur Intersubjektivität und zu den Formen sozialer Allgemeinheit. Kant und noch Marx gehen von einer (impliziten) allgemeinen Wesens-Bestimmung des Menschen (in Vernunft oder durch eine soziale Natur) aus, sodass für sie die individuelle Selbstverwirklichung mit der Realisierung eines allgemeinen (moralischen oder sozialbestimmten) Lebens zusammenfällt. Spätestens seit Kierkegaard wird mit der Existenzphilosophie diese Beziehung zunehmend als Gegensatz gedacht, sodass aus der Selbstverwirklichung das »Selbstsein« des Einzelnen wird, der sich nur verwirklichen kann unabhängig von moralischen Bestimmungen und gegen die soziale Allgemeinheit, dessen Befreiung von den anderen daher zum Selbstwerden in radikaler Vereinzelung führt.20 Dieser solipsistischen Auffassung von Selbstverwirklichung widerstreitet aber die Erfahrung, dass eine sinn- und wertvolle Selbstverwirklichung den Anspruch auf mögliche Zustimmung durch andere erhebt. Ob und wie aber auch das Glück einer Selbstverwirklichung getrübt wird durch eine fehlende Allgemeinheit, das erscheint als eine offene Frage.21 Ich will im Folgenden einige Vorschläge zu Konzeptionen von Selbstverwirklichung diskutieren und an ihnen versuchen, die Ausgangsfrage zu beantworten. Wir haben dabei besonders auf vier charakteristische Probleme zu achten: 1) geht es um das Verständnis der zugrunde gelegten Autonomie (Willkürfreiheit oder moralisch bestimmtes Wollen/überlegtes Wollen oder Wahlfreiheit etc.), 2) ist zu beachten, ob eine teleologische und/oder eine experimentelle Vollzugsweise und Deutung von Selbstverwirklichung vertreten wird, 3) ist zu sehen, wie die resultierende und werterschließende emotionale Stimmung und das Verhältnis zum Glück beachtet wird, 4) ist das problematische Verhältnis zu Anderen und/oder zur intersubjektiven Allgemeinheit, d. h. die Frage nach dem Verhältnis von Selbstverwirklichung/Glück und Moral, zu klären. 20 Vgl. Michael Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 2f. 21 Michael Theunissen beantwortet sie im Anschluss an Hegel eindeutig: »Eine Selbstverwirklichung, die ein verbindliches Postulat sein soll, muß Allgemeinheit realisieren, indem das einzelne Subjekt in sich vernünftige Sachen in der Orientierung an der Allheit ihm gleicher Subjekte verfolgt.« (Ebd., S. 45) Und auch das in der Selbstverwirklichung angestrebte individuelle Glück ist nur »rechtmäßig«, wenn es das »Unglück der anderen« nicht impliziert (ebd., S. 48).
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Karl Marx konzipiert Selbstverwirklichung zuvorderst als Antwort auf die Entfremdungserfahrungen des Menschen im Kapitalismus.22 Menschliches Tätigsein ist für den Aristoteliker Marx ein Verwirklichen von in der Natur des Menschen vorgegebenen Anlagen und Fähigkeiten, die er im Anschluss an Hegel als eine Entäußerung von Vermögen interpretiert. Das marxsche Konzept der Selbstverwirklichung steht daher in der Tradition einer zielgerichteten, teleologischen Selbstverwirklichung. Normativer Maßstab der Entfremdungskritik ist das sich in einer Doppelbewegung entfaltende Konzept der Selbstverwirklichung des Menschen in seiner Arbeit. Die Selbstverwirklichung des Menschen bedeutet bei Marx im ersten Schritt die Entäußerung und Vergegenständlichung seiner Fähigkeiten und Anlagen und im zweiten Schritt die Wiederaneignung des Entäußerten, durch die zugleich der arbeitende Mensch sich bildet und seine Bestimmung, d. h. sein Gattungswesen, realisiert. Entfremdung bedeutet die Verhinderung der Rückkehrbewegung bei fortdauernder Entäußerung. 23 Dabei sind es die gesellschaftliche Institution des Privateigentums und das Kapital-Arbeits-Verhältnis, die die Rückkehrbewegung der Wiederaneignung verhindern und die Verwirklichung des Menschen in seiner Arbeit zur Entwirklichung und zur Entwürdigung verkehren. Die Entfremdung ist negativ zu werten, weil sie als Entwirklichung den Menschen verarmt und darüber hinaus entleert. Entleerung hat hier die Bedeutung, dass die eigene Tätigkeit und ihre Produkte sinnlos werden, weil sie gänzlich gleichgültig gegenüber dem Subjekt realisiert werden oder existieren. Die Entfremdung verarmt aber nicht nur den Arbeiter, sie macht ihn auch unglücklich und verletzt ihn in seiner Würde. Die Entwürdigung zeigt sich daran, dass das Selbstwertgefühl und das Gefühl des Lebenssinnes negiert werden und sein Anspruch auf eine freie, schöpferische Selbstverwirklichung in der Gesellschaft unerfüllt bleibt.24 So gesehen bestimmt Marx das Ziel der menschlichen Selbst-
22 Zur Aktualisierung der marxschen Entfremdungstheorie vgl. Rahel Jaeggi: Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt/M. 2005. 23 Vgl. Georg Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1991, S. 22ff.; Allen Wood: Karl Marx, Boston 1981; Emil Angehrn: »Sein und Haben«, 1986; Andreas Wildt: Die Anthropologie des frühen Marx. Doppelkurseinheit, Fernuniversität Hagen, 1987. 24 Vgl. Allen Wood: Karl Marx, S. 8ff. und Andreas Wildt: Anthropologie des frühen Marx, S. 90ff.
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verwirklichung nicht direkt positiv, sondern als Negation der Entfremdungserfahrungen im Kapitalismus.25 Ich möchte diese marxsche Konzeption von Selbstverwirklichung nicht unmittelbar an marxschen Texten26, sondern an einem Aufsatz von John Elster27 diskutieren, der aus einer analytischen Perspektive nicht ohne Sympathie, aber doch auch kritisch das Konzept der Selbstverwirklichung in der marxistischen Tradition diskutiert. Zunächst nennt Elster eine Reihe von Tätigkeiten, die wir offensichtlich nicht als Bestandteile oder Beispiele von Selbstverwirklichung ansehen, so »spontane, zwischenmenschliche Beziehungen, Konsum und Genuss von Drogen« (99) 28 . Auf diese Weise kann er unterschiedliche Aktivitäten unterscheiden und dadurch dann auch genauer angeben, welche Tätigkeiten ein mögliches »Vehikel« für Selbstverwirklichung sind. Diese müssen Tätigkeiten sein, die 1) ein externes Ziel haben, 2) mehr oder weniger gut oder schlecht ausgeführt werden können und dabei an einem »unabhängig gegeben Kriterium« (100) gemessen werden können, schließlich 3) muss das Tätigkeitsziel so hinreichend komplex sein, dass es weder, weil es zu einfach ist, Langeweile produziert, noch, weil es zu schwierig ist, Frustration. Die Tätigkeit muss eine Herausforderung darstellen, der man gewachsen ist (»the activity must offer a challenge that can be met.«29). Elster weist darauf hin, dass Tätigkeiten der Selbstverwirklichung umfassend befriedigend sein müssen, dass aber gleichwohl Zufriedenheit nicht das direkte Ziel des Tätigseins ist (vgl. 100), so wie wir oben gezeigt haben, dass Lust und Glück nicht direkt intendierbare Ziele unseres Handelns sind. Sie sind, in Elsters Worten, »wesentlich Nebenfolgen« (essentially byproducts, ebd.). Mit diesen Vorbemerkungen gibt Elster eine kritische Reinterpretation des Konzepts der Selbstverwirklichung in der marxschen Tradition. Allerdings teilt er von vornherein nicht Marx’ anthropologische Voraussetzungen, nach denen Selbstverwirklichung die Verwirklichung des Gattungswesens des Menschen ist, wie Marx das in den Pariser Manuskripten und in der Deutsche Ideologie behauptet. Elster dekomponiert den marxschen Begriff: »Selbstverwirklichung ist die volle und freie Aktualisierung und Entäußerung (externalisation) der Kräfte und Fähigkeiten eines Individuums.« (101) In der Diskussion der entscheidenden Bestim25 Siehe auch Georg Lohmann: Art. Dignity and Socialism, erscheint in: Cambridge Handbook on Human Dignity, Cambridge. 26 Dazu siehe Georg Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft. 27 Jon Elster: »Self-realisation in Work and Politics«. 28 Die Zahlen in Klammern im Folgenden beziehen sich auf den englischen Text; die Übersetzungen stammen vom Verfasser. 29 Ebd.
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mungen »voll«, »frei«, »Aktualisierung« und »Entäußerung« kann ich meine eigene Ansicht zu diesem Vorschlag klarmachen. a) Die »volle« Verwirklichung meiner Fähigkeiten kann nicht heißen, dass ich alle meine Fähigkeiten realisiere; das ist schon logisch nicht möglich und wird von uns auch gar nicht gewollt. Gemeint ist daher nicht die Summe aller meiner Fähigkeiten, und auch die verwandten Bestimmungen einer umfassenden und reichen Entwicklung meiner Fähigkeiten sind Fehldeutungen. Deshalb ist das auf Goethe und Marx zurückgehende Ideal einer »reichen, allseitig entwickelten Persönlichkeit«, wie es häufig das Erziehungsziel im Vulgärmarxismus und Realsozialismus war, keine sinnvolle Auslegung von »voller« Selbstverwirklichung30. Gemeint kann nur sein, dass ich diejenigen Fähigkeiten verwirkliche, die mir wichtig sind. Die »volle« Verwirklichung meiner Fähigkeiten meint daher die Art und Weise, wie ich die mir wichtigen Fähigkeiten betätige, nämlich selbstbestimmt und tüchtig. b) In engem Zusammenhang mit der Bestimmung »voll« steht die Bestimmung »frei«. »Selbst wenn ein Individuum nicht alle seine Fähigkeiten entwickeln kann, so sollte es doch frei sein zu entscheiden, welche von ihnen es entwickeln will« (101). Ich stimme Elster zu, wenn er das so versteht, dass ein Individuum ex ante frei sein sollte, welche Fähigkeiten es betätigen will, dass es aber ex post zugestehen muss, dass die Wege, die es nicht realisiert hat, auch verschlossen für es sein können. In einem gewissen Sinne setzt diese Auffassung daher voraus, dass das Individuum seine Fähigkeiten besitzt, dass es (negativ) frei über ihre Aktualisierung verfügen kann, aber es ist damit nicht behauptet, dass ich nur dann in meiner Selbstverwirklichung frei bin, wenn ich auch alle Gelegenheiten habe, meine Fähigkeiten zu realisieren. Deshalb ist Autonomie im Sinne einer negativen Freiheit notwendige Bedingung für Selbstverwirklichung. Wie ich hingegen meine Fähigkeiten gebrauche, also positive Freiheit zu etwas, das kann und wird in der Regel durch soziale Institutionen und Bestimmungen reguliert. c) Elster dekomponiert den Begriff der Selbstverwirklichung in zwei Begriffe: Selbst-Aktualisierung und Selbst-Entäußerung. Die Selbstaktualisierung erläutert er als in zwei Stufen verlaufend: Die Fähigkeiten müssen erst hervorgebracht (»must first be developed«) und dann entfaltet werden (»and then be deployed«, 101). Mit Kenny und Aristoteles wertet er dann die Entfaltung als Betätigung und »Verwirklichung« höher, als die bloße Hervorbringung der Anlage (dem Vermögen zu etwas). Aber die eigentliche Bedeutung dieser Unterscheidung wird an seiner weiteren Bestimmung, der Entäußerung, erst verständlich. 30 Siehe hierzu auch Georg Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft, S. 81ff.
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d) Elster ist der Meinung, dass die Entfaltung (deployment) einer Fähigkeit nur dann als »Entäußerung« (externalization) zählen kann, wenn sie von anderen extern beobachtet und beurteilt werden kann. Jemand, der die Fähigkeit hat, Wein besonders gut zu schätzen und zu genießen, aber diese Fähigkeiten nicht externalisiert und für andere äußerlich beurteilbar macht, vollzieht in seinem Sinne keine für eine Selbstverwirklichung relevante Tätigkeit. Vielmehr konsumiert er schlicht, genieß und schweigt. An dieser Stelle sieht man, dass Elster zu einseitig das marxsche Konzept der Selbstverwirklichung interpretiert. Er ist stillschweigend viel zu sehr am Modell von Arbeit als einer hervorbringenden Tätigkeit (poiesis) orientiert und deshalb glaubt er unterstellen zu müssen, dass alle Fähigkeiten der Selbstverwirklichung externe Ziele haben und extern beurteilbar sein müssen. Zu den Tätigkeiten unserer Selbstverwirklichung zählen aber auch Tätigkeiten, die wir um ihrer selbst willen tun (praxis) und die nicht extern, sondern intern beurteilt werden. Zudem scheint es so, dass bei Marx – wie Aristoteles es für die eudaimonia meinte – die selbstzweckhaften Tätigkeiten das Modell abgeben können, nach denen wir unsere Selbstverwirklichung insgesamt konzipieren. Nur so nämlich kann der selbstreflexive Zug von Selbstverwirklichung eine Explikation von uns selbst zum Ausdruck bringen; er ist daher in seiner Beurteilung auf interne Kriterien angewiesen. Gut gelingt eine Selbstverwirklichung nicht, wenn sie externe Maßstäbe erfüllt oder ihnen genügt, sondern wenn sie »gut für mich« ist, d. h. wenn sie interne Standards des Individuums erfüllt. Diese können durchaus offen sein für die beipflichtenden oder abratenden Wertungen durch andere, aber sie sind wesentlich individuelle oder subjektive Standards. Dieser Umstand wird auch durch das eine gelingende Selbstverwirklichung begleitende und anzeigende Glücksgefühl zum Ausdruck gebracht. Weil Elster aber Selbstverwirklichung in einem objektivierenden Sinne missversteht, entgeht ihm auch diese subjektivierende Funktion des Glücks. Auf seine abschließende Frage, warum wir denn ein Leben nach dem Konzept der Selbstverwirklichung höher einschätzen als ein Leben, das schlicht sich dem Konsum und Genuss hingibt (104f.), kann er daher nur eine halb überzeugende Antwort geben. Obwohl im zeitlichen Verlauf von Selbstverwirklichung und Konsum entscheidende Unterschiede bestehen31, so sind es doch nicht diese gegenläufigen Profile in der Lustbilanz, die uns ein selbstverwirklichtes Leben vorziehenswürdiger als ein konsumorientiertes erscheinen lassen, sondern es ist die im mitlaufenden positi31 Eine konsumptive Lebensweise befriedigt zunächst, wird aber auf die Dauer fade und unbefriedigend; während Selbstverwirklichung zunächst anstrengend und mühselig ist, mit der Zeit und mit zunehmender Tüchtigkeit aber freudvoller und zufriedenstellender.
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ven Gefühl der Zufriedenheit und umfassender dann in den Glückserfahrungen zum Ausdruck kommende positive Wertung und subjektiv erfahrene Schätzung, die uns zu diesem Urteil bewegt. Offen ist noch die weitergehende Frage, ob dieses interne Kriterium glückender Selbstverwirklichung auch intersubjektiven Ansprüchen genügen muss, ob mithin auch moralische Ansprüche erfüllt sein müssen. Elsters im Anschluss an Marx durchgeführte kritische und dekomponierende Analyse von Selbstverwirklichung kann daher wichtige Aspekte klären und lässt ebenso wichtige offen.
ÄSTHETISCHE V ARIANTEN DER EXPERIMENTELLEN S ELBSTVERWIRKLICHUNG : S ÖREN K IERKEGAARD UND G EORG S IMMEL Kierkegaard: Das Scheitern einer experimentellen Selbstverwirklichung Zeitlich parallel zu Marx hat Sören Kierkegaard das Konzept der Selbstverwirklichung stärker individualisiert, indem er zugleich unterschiedliche Existenzweisen (ästhetische, ethische, religiöse) analysiert und diagnostiziert. In einem gewissen Sinne taucht das Experimentelle dabei an zwei Stellen auf: Einmal beschreibt Kierkegaard mit der ästhetischen Existenzweise eine prototypische Form von experimenteller Selbstverwirklichung, dann aber ist methodisch seine Stadienlehre menschlicher Existenz selbst ein »psychologisches Experiment«, in dem er seine Leser als »erbaulicher Schriftsteller« von dem Scheitern der ästhetischen und ethischen Lebensweisen überzeugen will und »aufmerksam […] machen (will) auf das Religiöse, das Christliche«. Ich kann an dieser Stelle nicht auf Kierkegaards komplizierte Maieutik32 eingehen und skizziere hier zunächst nur kurz seine Kritik der ästhetischen Lebensweise als ein Paradigma experimenteller Selbstverwirklichung.33 Ausgehend von romantischen Anschauungen entwirft Kierkegaard (in der Weise seiner pseudonymen Schriftstellerei: der Ästhetiker A) eine ästhetische Lebensweise nach dem Programm des »poetischen
32 Siehe dazu Wilfried Greve: Kierkegaards maieutische Ethik, Frankfurt/M. 1990; zu Kierkegaard insgesamt: Michael Theunissen, Wilfried Greve (Hg.): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt/M., 1979; Tilo Wesche: Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2003. 33 Eine Bezugnahme auf die ethische Lebensweise ergibt sich bei der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ Konzept von Selbstverwirklichung.
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Lebens«. Dazu müssen zunächst alle Bindungen an die soziale und vorgegebene Wirklichkeit abgestreift werden, Ausgangspunkt ist der nur durch seine Willkürfreiheit bestimmte Mensch als künstlerischer Hervorbringer seiner Existenz. Dabei will er sich verwirklichen und die Wirklichkeiten, die er sich künstlerisch schafft, seien es fiktive, erdichtete oder umgewandelte Wirklichkeiten, haben einen experimentellen Charakter, da sie nur dazu dienen, dass er sie als Weisen seiner Selbstverwirklichung genießt. In Wahrheit also, so Kierkegaards kritische Diagnose, ist die ästhetische Lebensweise mit ihrer experimentellen, alle möglichen Spielweisen des Lebens34 durchspielenden Haltung nur auf gegenwärtigen Genuss aus, also ein hedonistisches Programm – und die experimentelle Selbstverwirklichung ist selbst auf Selbstgenuss terminiert. Dass diese Ausrichtung letztlich immer scheitert, versucht der Gegenspieler von A, der Ethiker B, zu zeigen. Er destruiert die einzelnen Momente des Selbstgenusses, indem er auf die mit ihnen verbundenen Stimmungen rekurriert und zeigt, dass das Streben nach Genuss, der immer nur für einen Augenblick gelingt, nicht dauerhaft befriedigt werden kann und daher zu Empfindungen von Leere, Langeweile, Müdigkeit, Schwermut und schließlich Verzweiflung führt.35 So zeigen die sich ergebenen Gefühle ein Scheitern dieser Art der experimentellen Selbstverwirklichung an. Simmel: Experimentelle Selbstverwirklichung als Stilisierung des Lebens Um 1900 entwickelt Georg Simmel in seiner »Philosophie des Geldes«36 diese kierkegaardsche Idee einer ästhetischen Lebensweise zu seinem Konzept der Stilisierung des modernen Lebens weiter.37 Simmel antwortet damit zunächst auf Marx Entfremdungstheorie, aber er verändert gegenüber beiden Autoren die systematischen Hintergrundannahmen. Wie Marx bestimmt Simmel die Moderne als Auflösung von Tradition und Geschichte, zugleich aber geht er über Marx und Kierkegaard hinaus, indem er die Opposition gegen die Grundbegriffe der traditionellen Metaphysik radikalisiert. Die Entwicklung der Moderne ist nach Simmel
34 Siehe die unterschiedlichen Versionen in: Sören Kierkegaard: Entweder/Oder, Zweiter Teil, Bd. 2, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes, Gütersloh 1979ff., II 163-170. 35 Siehe Wilfried Greve: Kierkegaards maieutische Ethik, S. 60ff. 36 Georg Simmel: Die Philosophie des Geldes [1900], Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt/M. 1989. Seitenzahlen in ( ) im Folgenden beziehen sich auf dieses Werk. 37 Simmel ist dabei auch von Nietzsche bestimmt, aber darauf kann ich hier nicht eingehen.
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charakterisiert durch die Negation der metaphysischen Grundbegriffe: Substanz, Endzweck und Absolutes. Prozesse der Entsubstantialisierung und die Folgen des Verlustes von Endzwecken führen zu einem prinzipiellen Relationismus. Aus dieser Zeitdiagnose der Moderne heraus, die Simmel in seiner Philosophie des Geldes beeindruckend belegt, entwickelt Simmel seine Theorie der Lebensstile.38 Die Zunahme der Arbeitsteilung und sozialen Differenzierung und die Entwicklung der Geldwirtschaft erhöhen auf der einen Seite die Abhängigkeit des Individuums vom funktionalen Ganzen der Gesellschaft. Sie reißen es darüber hinaus in den »Schnittpunkt« mehrerer konfligierender Kreise oder funktionaler Imperative. 39 Dieser Zunahme von Abhängigkeiten und Konflikten steht eine immer größere Unabhängigkeit und Indifferenz zu einzelnen, bestimmten Leistungen, Dingen oder Personen gegenüber. Simmel deutet sie als Zunahme individueller (Wahl-)Freiheit. Freiheit nämlich ist für Simmel »Wechsel der Verpflichtung« (297). Sie ist zunächst Freiheit von etwas, ohne dass bestimmt ist, wozu die Freiheit führt (444ff.). Die Spannungen zwischen der Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Ganzen und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen charakterisieren die forcierte Individualisierung in der modernen Gesellschaft. Sie führt zur Herausbildung moderner, experimenteller Lebensstile. Diese sind charakterisiert durch »fortwährende Befreiungsprozesse« (449) und gleichzeitig durch je neue Versuche, der resultierenden Gleichgültigkeit und Entwertung konkreter Inhalte entgegenzuwirken, sich also neu zu binden. Wenn der moderne Mensch von bestimmten Bindungen »endlich, mit dem Erlös dafür in der Hand, wirklich ›frei‹ ist, so stellt sich oft genug jene typische Langeweile, Lebenszwecklosigkeit, innere Unruhe des Rentiers ein, die ihn zu den wunderlichsten und allen inneren und äußeren Sinnen zuwiderlaufenden Beschäftigungsversuchen treiben, damit er nur seiner ›Freiheit‹ einen substantiellen Inhalt einbaue« (447). Aus dieser »tiefe(n) Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit […] zu verleihen«, erklärt Simmel »das Suchen nach neuen Stilen, nach Stil überhaupt« (449). Die nun fortdauernd experimentellen Stilisierungen der Lebensweisen sind Ausdruck einer Selbsterfahrung der Moderne. Der Wert, der einem gewissen Stil zugeschrieben wird, hängt ab von der Distanzierung, die er repräsentiert, d. h. 38 Siehe dazu Georg Lohmann: »Der Schleier zwischen uns und den Dingen: Georg Simmels ›Stilisierung‹«, in: Urs Fuhrer, Ingrid E. Josephs (Hg.): Persönliche Objekte, Identität und Entwicklung, Göttingen 1999, S. 40-59. Ich übernehme im Folgenden Teile aus diesem Aufsatz. 39 Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft [1893], 2 Bände, Gesamtausgabe Bd. 3 und 4, Frankfurt/M. 1991, S. 385. Seitenzahlen in ( ) im Folgenden beziehen sich auf dieses Werk.
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nach Simmels Werttheorie von den Mühen und Opfern, die zur Überwindung des Abstandes nötig wären.40 Simmel löst also das Problem, dem modernen Leben eine »neue Festigkeit«, d. h. Wert und Sinn, zu ermöglichen, indem er via seiner Werttheorie an Nietzsches »Pathos der Distanz« anknüpft und in dem Modus der Stilisierung den Lösungsweg angibt. Simmel hofft, dass der moderne Mensch durch eine immer erneuerte, experimentelle Stilisierung, durch die rasche Abfolge von Stilen, paradigmatisch in der Mode 41 , und durch die Verfeinerung seiner Unterschiedsempfindlichkeit die ätzende Vergleichgültigung kompensieren kann. Es ist aber ganz fraglich, ob Simmel den Optimismus teilt, den er Nietzsche zuschreibt, dass nämlich die modische und beschleunigte Abfolge moderner Lebensstile als eine Entwicklung zu deuten ist, die »in dem Überwundenwerden jeder Stufe durch eine vollere und entfaltetere […] (ihren) Eigenwert besitzt«42. Die Alternative wäre in Schopenhauers Diktum zu sehen, dass das moderne Leben nur ein »Pendel zwischen Schmerz und Langeweile« ist und die angestrebte Stilisierung des Lebens nur ein Quietiv gegen seine Gleichgültigkeit und Leere. Auch insofern bleibt Simmel im Rahmen der kierkegaardschen Zeitdiagnose. Aber Simmel setzt nicht auf eine zunächst ethische, dann religiöse Überwindung der negativen Resultate experimenteller Selbstverwirklichung, sondern er radikalisiert das ästhetische Moment in ihr, indem er es reflexiv ausweitet. Simmel setzt auf Kultivierung und Ästhetisierung der Lebensstile. Freilich: Für Simmel führt der Prozess der Kultur zu einer selbstverursachten Tragödie, die in der immer größeren Verselbständigung und Indifferenz der Produktion objektiver Kultur gegenüber den Aneignungsfähigkeiten des Subjektes und den Erlebnisfähigkeiten der Seele angelegt ist. Auf dieses kulturinterne Problem reagiert der moderne Lebensstil mit unterschiedlichen reflexiven Ästhetisierungen. Zunächst ist hier die (inhaltliche) Orientierung am Künstler zu nennen. Der Künstler hebt die Diskrepanz zwischen der schöpferischen Seele und dem objektiven Werk in seiner Produktion auf. Die Faszination des Künstlerlebens, der Geniekult, die romantische Suche nach dem authentischen Selbst, alles das sind Facetten einer Ästhetisierung der Lebensstile, die sich letztlich am expressionistischen Bildungsideal experimenteller Selbstverwirklichung orientieren. In dieser Linie liegt auch Simmels Versuch, durch ein »individuelles Gesetz« ein authentisches Leben zurückzugewinnen. Eine andere (mehr formal) angelegte Reaktionsweise ist die mehr oder weniger vollständige »Ästhetisierung der Lebensgestaltung«. Die Leistungen einer ästhetischen Lebenshaltung liegen nach Simmel darin, dass sie 40 Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, S. 3ff. 41 Gerog Simmel: »Die Mode«, in: ders.: Philosophische Kultur, Berlin 1983, S. 26-51. 42 Georg Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, München u. Leipzig 1923, S. 5.
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durch Interesselosigkeit an der inhaltlichen Vielfalt und gegenüber der realen Existenz der Kulturobjekte Distanz wahrt, die aber eben dadurch selektive Bezugnahmen ermöglicht und sich gegebenenfalls durch den Genuss der bloßen Form befriedigt (vgl. 22ff., 352f.). Diese Ästhetisierung kann in Blasiertheit und Reserviertheit abgleiten (vgl. 264ff.). Simmel vergleicht einen solchen ästhetischen Typus mit dem des Geizhalses, der Befriedigung aus »der vollbesessenen Potentialität, die niemals an ihre Aktualisierung denkt« (ebd.), gewinnt. Es ist die Möglichkeit, sich zu kultivieren, die die ästhetische Freude aufkommen lässt. Wir haben hier daher einen Übergang vom wirklichen Experiment zum nur vorgestellten (Gedanken-)Experiment. Simmel nimmt auf diese Weise die heute vielfach zu beobachtende Virtualisierung menschlicher Lebensweisen vorweg. Und wie heute ist der Lebensstil geprägt von den Mitteln, die das versprechen. Simmel schätzte die Kultur der Dinge, insbesondere das stilisierende Kunsthandwerk sehr hoch ein, sie sind ihm notwendige Mittel und Vorbedingungen für die ästhetische Genussfähigkeit. Aber er sieht auch die Gefahr, dass die ehrerbietige »Tragödie der Kultur« in die Komödie von, wie wir heute sagen können, »Schöner Wohnen« abgleitet. Er lässt offen, ob die Ästhetisierung des Lebensstiles diese Tragödie kompensieren kann. Er zögert, die Seele noch »Herr im eigenen (kulturellen) Haus« (529) zu nennen. Es ist typisch für Simmels isosthenische Beurteilung experimenteller Selbstverwirklichung, dass er auch dieses Urteil in erneute Weisen des experimentellen Umgangs mit sich auflöst. Zwar steht für Simmel die Seele für die hartnäckige Sehnsucht nach Einheit und das Versprechen von Lebenssinn ein (527ff.) und die kulturelle Überproduktion und die »laute […] Pracht des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters« betäuben nach Simmel diese Sehnsucht, aber sie machen sie nicht wirkungsloser. In den Gestaltungen der Lebensstile schlägt sich dies in der typischen Nervosität des modernen Menschen nieder. Seine »Hast und Aufgeregtheit« zeigt den »Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele« an und treibt »dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen« (551). Der Kult des Gegenwärtigen, des nur flüchtig Präsenten ist hiervon ebenso Ausdruck wie die Großstadt der Ort ist, an dem diese »Steigerung des Nervenlebens« sich ausleben kann, wo Rhythmus und Tempo der modernen Lebensstile fluktuieren.43 Geradezu als eine Definition der Moderne bestimmt Simmel, ganz dem Konzept der experimentellen Selbstverwirklichung verpflichtet, den »Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt
43 Gerog Lohmann: »Die Anpassung des individuellen Lebens an die innere Unendlichkeit der Großstädte. Formen der Individualisierung bei Simmel«, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, 1993, S. 153-160.
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gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als Innenwelt« 44 . Die moderne Auflösung der Einheitlichkeit und Substantialität der äußeren wie der inneren Welt ist aber ohne eine »psychologische Distanzierung einfach unerträglich«: Der moderne, sensible und nervöse Großstadtmensch würde schier verzweifeln, wenn nicht der äußeren Distanzierung auch eine Distanz nach Innen entsprechen würde. Auch hier hat Simmel eine doppelte Interpretation: Einmal deutet er sie als einen Läuterungsprozess, der auf einen Punkt »produktiver Indifferenz« zielt, an dem spontan Kreativität frei gesetzt wird. Zum anderen empfiehlt Simmel den Nicht-Künstlern in der Moderne, in einer sehr bemerkenswerten Tagebuchnotiz, es mit »Oberflächlichkeit« zu versuchen45.
C HARLES T AYLOR : EXPERIMENTELLE S ELBSTVERWIRKLICHUNG ALS AUTHENTISCHE S ELBSTINTERPRETATION Im Gegensatz zu diesen letztlich ästhetischen Selbstverwirklichungstheorien stehen heute Versuche, Konzepte experimenteller Selbstverwirklichung stärker mit ethischen und moralischen Anforderungen wieder zu verbinden. So hat Charles Taylor in mehreren Veröffentlichungen eine »Ethik des Authentizität«46 entworfen, in der eine Konzeption von Selbstverwirklichung als in einem bestimmten Sinne zu vollziehende experimentelle Selbstinterpretation entworfen wird. Taylor knüpft zunächst an H. Frankfurts47 Unterscheidung von Volitionen 1. und 2. Stufe an: Nach Frankfurt wählen wir unsere Handlungen nicht nur aufgrund unmittelbarer Wünsche, sondern wir sind in der Lage, diese Wünsche erster Ordnung im Lichte von übergeordneten Wünschen, Volitionen 2. Ordnung, zu interpretieren und zu beeinflussen. Dieses reflexive Wollen ist eine reflexive Selbstbewertung und kennzeichnet menschliche Aktorschaft. Taylor unterschei-
44 Georg Simmel: »Rodin«, in: ders.: Philosophische Kultur, Berlin 1983, S. 152. 45 Siehe dazu Georg Lohmann: »Fragmentierung, Oberflächlichkeit und Ganzheit individueller Existenz. Negativismus bei Georg Simmel«, in: Emil Angehrn, Hinrich Fink-Eitel, Christian Iber, Georg Lohmann (Hg.): Dialektischer Negativismus, Frankfurt/M. 1992, S. 349ff. 46 Vgl. Charles Taylor: The Ethics of Authenticity, Cambridge/Mass./London 1992; ders.: Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1994. 47 Harry G. Frankfurt: »Freedom of the will and the concept of a person«, in: Journal of Philosophy, 67:1, 1971, S. 6.
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det nun die Volitionen 2. Ordnung nach zwei Weisen 48 : Einmal folgen wir »schwachen Wertungen«, in denen wir das als gut bewerten, was wir aktuell wünschen, während in »starken Wertungen« etwas nicht allein schon deshalb gut ist, weil es gewünscht wird, sondern weil wir es für gut oder vorziehenswürdig im Kontrast zu anderen Bewertungsmaßstäben halten. Eine Person, die sich über starke Wertungen bestimmt, ist fähig, eine zunehmende kontrastive Artikulation ihrer Wertungen vorzunehmen. Sie gewinnt dabei eine zunehmende Tiefe und Differenziertheit ihres Lebensvollzuges; was sie letztlich motiviert, wird ihr auf dem Wege einer reflexiven Selbstinterpretation klar. Taylor deutet nun diese Artikulation dessen, was wir reflexiv wollen, als Ausdruck. Es ist diese Wendung, die nun dazu führt, dass sein Modell von Selbstverwirklichung die Weise einer experimentellen, nicht vorab entschiedenen Selbstfindung favorisiert. Wir verstehen uns selbst anhand von Ausdrücken, an denen wir erst zu klären haben, wer wir selbst sind und sein wollen. Auf diese Weise individuieren wir uns, indem wir eine nur uns zurechenbare und durch uns vollzogene authentische Selbstverwirklichung anstreben. Weil diese Weise der selbstbestimmten Selbstverwirklichung nicht von einem vorgegeben bestimmten ›Selbst‹ ausgeht, sondern immer erst durch kontrastive Bewertungen und Selbstdeutungen klären muss, was Ausgang, was Resultat ist, ist diese expressive Weise der Selbstverwirklichung immer durch Unbestimmtheit und damit durch mögliche Irrtümer und Fehler geprägt. Wir bedürfen daher um unserer selbst willen einer transsubjektiven Korrekturmöglichkeit. Deshalb orientieren wir uns am sprachlichen Ausdruck unserer Selbstinterpretationen, die als sprachlich verfasste Bewertungen auch für andere, mit denen wir ähnliche Wertstandards und damit eine gemeinsame Kultur teilen, für Kritik und Ratschläge offen sind. Die subjektiven Artikulationen unserer Selbstinterpretation, die unsere Selbstverwirklichung anleiten, sind eingebettet in eine sprachlich verfasste Kultur, in der Authentizität als Besonderung verstanden wird.49 Authentisch ist eine Selbstverwirklichung, wenn sie (a) kreativ, konstruktiv und entdeckend ist, wenn sie (b) originell ist, d. h. von mir vollzogen wird, und (c) die Möglichkeiten einer polemischen Opposition zu den sozial und kulturell und moralisch vorgegeben Wertungen offen hält. 50 Taylor glaubt, dass authentische Selbstwerdung und
48 Vgl. Charles Taylor: »What is human agency?«, in: ders.: Human Agency and Language, Phil. Papers Vol. I., S. 15ff. 49 Siehe dazu jetzt umfassend Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin, New York 2009, zu Taylor bes. S. 341ff. 50 Charles Taylor: The Ethics of Authenticity, S. 66.
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Selbstverwirklichung nur dialogisch51 möglich sind und dass sie einen kulturell bereitgestellten »Sinnhorizont« 52 benötigen, der die notwendige Subjektzentriertheit durch subjekttranszendierende Bestimmungen und Wertungen ausbalanciert. Taylor lehnt daher existentialistische Konzepte wie Sartres radikale Selbstwahl oder eine Schöpfung des Selbst aus dem Nichts ab. Eine solche experimentelle, an der Idee der Authentizität orientierte Selbstverwirklichung gelingt freilich nur, wenn das Individuum sich nicht nur von anderen unterscheidet und im Wert dieser Unterscheidung seine Besonderung sieht, sondern wenn es den selbstgeschöpften Bewertungen auch einen relativ tragenden Sinn verleihen kann. An dieser Stelle kommt, was wir oben zu Glück ausgeführt haben, ins Spiel. Glück als »hinzukommende Vollendung« zeigt uns an, ob ein konkreter Lebensvollzug gelingt oder nicht. Aber diese Anzeige ist leer, wenn die Maßstäbe des Gelingens, auf die das Glück verweist, nicht selber eine »relative Festigkeit« besitzen. Taylor spricht deshalb (statt von der Glückswürdigkeit) von der Sinnhaftigkeit unserer Selbstinterpretationen. Über diese aber können wir nicht mehr subjektiv verfügen, sie sind nicht machbar, weil Sinn als Lebenssinn, d. h. als eine das Leben tragende Bedeutung, eine gewisse transsubjektive Objektivität beansprucht. Bei Taylor bleibt es letztlich unklar, ob diese Sinngebung jeweils durch eine Kultur, in die wir durch unsere Selbstverwirklichung hineinwachsen, vorgegeben ist, ob sie religiös und damit transzendental gestiftet wird, oder aber, ob sie intern durch eine Moral intersubjektiver Achtung und Anerkennung gestützt werden kann. Glückserfahrungen, oder wie Taylor hier sagt: Sinnerfahrungen, markieren daher nur ein Problem, sie sind noch keine Lösung.
J ÜRGEN H ABERMAS : MORALISCHE S ELBSTBESTIMMUNG UND ETHISCHE S ELBSTVERWIRKLICHUNG Jürgen Habermas versucht, die Sprengkraft des modernistischen experimentellen Selbstverwirklichungstyps moralisch und ethisch zu bändigen. Dafür entwickelt er eine Konzeption von Selbstverwirklichung, die er zunächst53 im Anschluss an George Herbert Mead als ein Moment der Individualisierung und Ichbildung
51 Ebd., S. 33ff. 52 Ebd., S. 39f. 53 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, S. 147ff.
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beschreibt (a) und dann54, im Anschluss an Kierkegaard, durch die Einbettung und Aufhebung in eine ethische Lebensweise des Selbstseinkönnens überformt (b). a) Im Anschluss an eine Mead-Interpretation bestimmt Habermas in »Theorie des kommunikativen Handelns« Selbstverwirklichung als den einen »Aspekt[] der Ich-Identität«, deren anderer Selbstbestimmung ist.55 Er erläutert die Konzeption unter idealisierten Bedingungen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Deren Mitglieder erwerben eine Identität, die durch ein normativ gewendetes, komplementäres Verhältnis von Verallgemeinerung und Besonderung charakterisiert ist. Dabei versteht Habermas den einen Aspekt der Selbstbestimmung als Fähigkeit zur Orientierung an universalistischen Normen; dies nennt er (mit Kant) Autonomie. Eine moralische Selbstbestimmung gelingt nun in dem Maße, wie ein Individuum sich an universellen Grundsätzen ausrichtet. Demgegenüber wird Selbstverwirklichung als »Besonderung« und als »Kraft zu spontaner Selbstverwirklichung« (148) thematisiert, als deren »exemplarische Form […] die kreative Tätigkeit des Künstlers oder des Wissenschaftlers« (150) gilt, mithin eigentlich ein Typ von experimenteller Selbstverwirklichung. Eine so verstandene (experimentelle) Selbstverwirklichung führt zu einer Selbstbestätigung und einem möglichen »sense of superiority« (Mead), die aber ihre »moralisch fragwürdigen Seiten« haben. Die recht verstandene Selbstverwirklichung soll daher unter dem moralischen Ideal eines »zwanglosen Umgangs« stehen, »in dem die Selbstverwirklichung der einen Seite nicht mit der Kränkung der anderen erkauft werden muß« (ebd.). Erst wenn so »Selbstverwirklichung auf der Grundlage autonomen Handelns ermöglicht« (ebd.) ist, erläutert Habermas, wie hier das Gelingen der Verwirklichung des Selbst zu verstehen ist: Sie bewähre sich »in der Fähigkeit, der eigenen Lebensgeschichte (eine unverwechselbare G. L.) Kontinuität zu geben« (ebd.). »Nur wer seine Lebensgeschichte übernimmt, kann in ihr die Verwirklichung seiner selbst anschauen. Eine Biographie verantwortlich übernehmen heißt, sich darüber klarzuwerden, wer man sein will und aus diesem Horizont die Spuren der eigenen Interaktionen so zu betrachten, als seien sie Sedimente der Handlungen eines zurechnungsfähigen Urhebers.« (151) Es handelt sich also um eine »qualitative Identifizierung«, in der eine Person sich »die Frage beantwortet, was für ein Mensch sie ist und nicht die Frage, welcher von allen« (161). Worin aber besteht die Kontrolle über die Antwort, woran erkennt ein Individuum, dass es die kom54 Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M., 2001, S. 17ff. 55 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 149. Seitenzahlen in ( ) im Folgenden beziehen sich auf dieses Werk.
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plexe und moralisch angereicherte »Fähigkeit, sich in einer Lebensgeschichte […] selber zu verwirklichen« (162), richtig oder in wahrhafter Weise betätigt hat. Denn immer, wenn eine Verwirklichung als Verwirklichung von Fähigkeiten verstanden wird, muss es Kriterien für den Gütegrad der Verwirklichung geben. In der Theorie des kommunikativen Handelns sieht Habermas dieses Kriterium noch in der komplementären Korrekturfunktion der moralischen Autonomie. Ich bestimme mich so, dass ich die Zustimmung aller »zu meinen Urteilen und Handlungen« unterstellen kann. Später entwirft er parallel zu der Idealisierung autonomer moralischer Selbstbestimmung eine davon unterschiedene Idealisierung in Bezug auf meine Selbstverwirklichung, nach der alle »meinen Anspruch auf Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit anerkennen«56. Anerkannt wird der Anspruch einer »Bürgschaft, die ich im Lichte eines überlegten individuellen Lebensentwurfes für die Kontinuität meiner Lebensgeschichte bewußt übernehme«57. Kriterium für das Gelingen einer so verstandenen Selbstverwirklichung ist daher die Anerkennung durch (alle) anderen, weil, nach dieser Auffassung, ich mir nur »vor aller Augen« selbst begegne, nur auf dem Umweg über andere zu mir selbst finden kann 58 . »Wer sich in einer verantwortlich übernommenen Lebensgeschichte verwirklicht, muß die Anerkennung einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft erwarten dürfen«59. Kriterium ist daher so etwas wie ein idealisiertes, teleologisches Verständnis von Verwirklichung, die nur in diesem ethischen-moralischen Rahmen einen experimentellen Selbstfindungsprozess des modernen Individuums zulässt. Eine so verstandene Selbstverwirklichung scheitert daher dann, wenn die ethisch-moralische Orientierung nicht vollzogen wird oder wenn die idealisierte Anerkennung ausbleibt. Das Selbst fällt dann aus »intersubjektiven Bezügen« heraus, Autonomie verwandelt sich in Willkürfreiheit und Selbstverwirklichung sich in die »Vereinzelung eines freigesetzten Subjekts, das sich selbst besitzt«60. Es kann sich daher immer nur als ein Fall aus einer Fülle von möglichen, experimentellen Selbstverwirklichungen verstehen und insofern als besonders. Diese Besonderung ist aber nicht numerisch, sondern qualitativ zu verstehen. Eine qualitative Besonderung aber gäbe es nur, wenn ich meine so und so beschaffene, experimentelle Selbstverwirklichung von anderen, qualitativ ver56 Jürgen Habermas: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Subjektivität«, in: ders: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 226. 57 Ebd. 58 Vgl. ebd. 59 Ebd., S. 233. 60 Ebd.
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schiedenen Selbstverwirklichungsfällen unterscheiden könnte.61 Die Bürgschaft, die ich im Sinne von Habermas übernehme und die von den anderen anerkannt wird, bezieht sich aber nicht auf die qualitative Differenz unterschiedlicher experimenteller Selbstverwirklichungsfälle, sondern auf den Kontinuitätsanspruch meiner Lebensgeschichte gemäß eines Lebenskonzeptes. Die Besonderung ist daher immer schon mit der (ethischen) Wahl des einen Lebenskonzeptes vorausgesetzt und Selbstverwirklichung wäre daher angemessener nicht nach dem Grad der Besonderung zu beurteilen, sondern inwieweit die impliziten Ansprüche der Lebenskonzeption von mir erfüllt worden sind. Vor diesem Hintergrund ergeben sich Fragen nach den Folgen der Idealisierungen von Habermas’ Konzeption. Erstens beantwortet sie die Frage, ob die in einer freien Selbstwahl gewählte Konzeption, wie man leben will, auch moralisch vertretbar sei (klassisch ausgedrückt: ob wahrhaftes Glück auch moralisch gut sei), so, dass schon die Selbstverwirklichung moralisch orientiert und bestimmt ist, weil das Selbst selbst »ein kommunikativ erzeugtes Phänomen ist« 62 und damit den Ansprüchen der kommunikativen Ethik unterliegt. Damit aber gibt es eine, jetzt nicht mehr naturhafte, sondern kommunikative Bestimmung des Menschen, die Selbstverwirklichung schon begrifflich auf moralisch-ethische Verpflichtungen festlegt. Zweitens kann in dieser Konzeption die virtuelle Zustimmung und Anerkennung aller anderen, an denen ich mich orientiere, ja zeitlich und sachlich immer nur retrospektiv erfolgen. Dadurch wird aber auch der Zeitcharakter meines Wollens, wie ich sein will, durch Retrospektion bestimmt; was ich erwarte und entwerfe, wird zugleich als zukünftige Vergangenheit interpretiert. Da aber bei der experimentellen Selbstverwirklichung, anders als bei der moralischen Selbstbestimmung, ja meine Kreativität und Spontanität gefragt sind, kann ich gar nicht im vorhinein wissen, was für ein Mensch ich sein werde oder wie zu leben für mich sinnvoll wäre. Auch dadurch ist diese Konzeption für eine Deutung von experimenteller Selbstverwirklichung weniger geeignet, sie favorisiert eine teleologische Konzeption von Selbstverwirklichung, deren Ziel dann moralisch-ethisch bestimmt oder bestimmbar ist. Schließlich kann man bestreiten, dass die externe Anerkennung durch andere oder alle anderen das Kriterium sein könnte für gelingende oder misslingende experimentelle Selbstverwirklichung. Kriterien können doch nur bestimmte subjektive Wertstandards sein, die mir affektiv in meinen Gefühlen und Stimmungen gegeben sind und deren normativer Gehalt mir ein implizites Urteil über 61 Darauf bezieht sich bei Charles Taylor die Fähigkeit zu einer kontrastiven Bewertung der eigenen Selbstverwirklichung, s. o. 62 Ebd., S. 217.
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meine Selbstverwirklichung vermittelt und die ich erst dann mit anderen oder vielleicht auch allen anderen als angemessen ansehe. Habermas vernachlässigt insofern die Bedeutung der emotionalen Komponente von Selbstverwirklichung, die nämlich den Wertcharakter meiner Selbstverwirklichung mir erschließt, ohne schon ein objektives Urteil zu enthalten. Auch hier wären Glückserfahrungen Anzeichen dafür, dass die Ichidentität, die im Zuge von moralischer Selbstbestimmung und ethischer Selbstverwirklichung gebildet wird, nicht bloß moralisch richtig und ethisch gut ist, sondern dass sie auch insgesamt gelungen ist. Die Glückserfahrungen als »hinzukommende Vollendung« eines guten Lebens, oder eben das Ausbleiben von Glückserfahrungen als Anzeichen eines Scheiterns individueller Selbstverwirklichungsversuche, zeigen damit auch Begrenzungen des menschliche Lebens an: Weil nicht alles in unserer Macht steht und weil wir nicht direkt beabsichtigen können, was wir letztlich wollen, deshalb mahnt uns die zumeist ausstehende Glückserfahrung an, dass wir endlich und fehlbar und begrenzt sind. Es ist ein Glück, dass die Selbstverwirklichung nicht schlicht der sichere Weg zum Glück ist, sondern das Glück immer auch Anzeichen eines gelingenden Lebens ist, das nicht voll in unsrer Hand, also nicht nur an uns selbst, liegt. b) Auf diesen, aller menschlichen Selbstverwirklichung entzogenen, unverfügbaren Grund menschlichen Lebens kommt Habermas in der an Kierkegaard anknüpfenden Betrachtung eines »verfehlten oder nicht verfehlten Lebens«63 zu sprechen. Mit Kierkegaard sieht er in der »Gegenüberstellung von ›ethischer‹ und ›ästhetischer‹ Lebensanschauung« (18) den entscheidenden Ansatzpunkt für eine, im habermasschen Sinne »nachmetaphysische« Konzeption des Selbstseinkönnens. Sie umschreibt eine Konzeption des guten Lebens, die die beiden Weisen der Selbstverwirklichung, die teleologische und die experimentelle, miteinander verbindet. Habermas folgt zunächst der von Kierkegaard in »Entweder/Oder« entwickelten Stadientheorie der menschlichen Existenz. Im ersten Stadium richte sich das Individuum auf eine letztlich ästhetische Lebensweise aus, in dem es mit sich experimentiert und unterschiedliche und kontingente Lebensentwürfe praktiziert. Es gehe ihm letztlich dabei um die mitlaufenden Lust- und Glücksempfindungen, die ein ästhetisch gestaltetes Leben verspricht und gewährt. Auf diese Weise erfährt aber das ästhetische Individuum, dass es zugleich in der Vielfalt der Weisen, sich zu verwirklichen, sich verliert. In der ethischen Lebensführung dann sammele sich das Individuum aus dem zerstreuenden und zerstreutem Hedonismus der ästhetischen Existenz und raffe sich zu einem Bewusstsein seiner Indi63 Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 17. Im Folgenden beziehen sich Seitenangaben in ( ) im Text auf dieses Buch.
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vidualität und Freiheit auf (vgl. ebd.). Dabei lege der einzelne Rechenschaft (gemäß der Bergpredigt) über sein Leben ab. Hier nun liegt Habermas entscheidender Bezug auf Kierkegaard: Die Struktur des Selbstseinkönnens ist die »Form einer ethischen Selbstreflexion und Selbstwahl, die vom unendlichen Interesse am Gelingen des eigenen Lebensentwurfes bestimmt ist« (19). Damit eignet sich »der Einzelne […] die Vergangenheit seiner faktisch vorgefundenen und konkret vergegenwärtigten Lebensgeschichte im Hinblick auf künftige Handlungsmöglichkeiten selbstkritisch an. Dadurch erst macht er sich zur unvertretbaren Person und zum unverwechselbaren Individuum«. Standen in der Mead-Rezeption von Theorie des kommunikativen Handelns noch moralische Selbstbestimmung (= Allgemeinheit der »unvertretbaren Person«) und experimentelle Selbstverwirklichung (= Besonderung des »unverwechselbaren Individuums«) letztlich in einem Fundierungsverhältnis, so werden sie nun voneinander gelöst und durch eine dritte Perspektive miteinander verbunden und auch bewertet. Diese dritte Perspektive gewinnt Habermas, indem er die mitlaufenden Gefühle beachtet. Die subjektive Aneignung des in moralischer Selbstbestimmung und experimenteller Selbstverwirklichung verlaufenden Lebens ist von jeweils charakteristischen Gefühlen begleitet: »Der einzelne bereut die verwerflichen Aspekte seines vergangenen Lebens« und will »ohne Scham« vor anderen anerkannt werden (20). Durch diese einmal »moralisch skrupulöse Bewertung« und zum anderen »kritisch sondierende Aneignung der faktisch vorgefundenen Lebensgeschichte konstituiert er sich als die Person, die er zugleich ist und sein möchte«, als, und das ist nun mit den Worten von Kierkegaard die gesuchte dritte Perspektive: »verantwortlicher Redakteur« seines Lebens (ebd.). Als Redakteur des eigenen Lebens tritt der einzelne in Distanz zu seiner eigenen Autorschaft, seiner Selbstbestimmung und -verwirklichung, und kann so der Tatsache ansichtig werden, dass ein biographisch gelingendes Leben, obwohl von ihm bestimmt, nicht vollständig seiner Bestimmungsmacht unterliegt. Als verantwortlicher Redakteur übernimmt er daher auch die Verantwortung für das, was nicht in seiner Macht lag, und zwar, das war Kierkegaards religiöse Wendung, indem er gläubig der absoluten Macht Gottes vertraut. Zu dieser spezifischen Über-antwortung der Verantwortung kommt Kierkegaard durch eine Analyse der unterschiedlichen Weisen der Verzweifelung64, und Habermas folgt ihm insoweit, als auch er die Bedingungen gelingender Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung nicht im einzelnen allein liegen sieht. Er als »philosophischer Schüler« akzeptiert, »dass der endliche Geist von Ermöglichungsbedingungen abhängt, die sich seiner Kontrolle entziehen. Die ethisch bewusste Lebensführung 64 Siehe dazu Michael Theunissen: Das Selbst auf dem Grunde der Verzweiflung, Meisenheim/Frankfurt/M. 1991.
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darf nicht als bornierte Selbstermächtigung verstanden werden« (25). Aber anders als Kierkegaard sieht er diese Macht nicht als absolute Macht Gottes, sondern deflationiert als Logos einer sprachlich strukturierten Lebenswelt, »die der Subjektivität der Sprecher voraus- und zugrunde liegt.« (26). Verantwortlich ist daher der »verantwortliche Redakteur« nach Habermas der Kommunikationsgemeinschaft handelnder Menschen. Für Habermas ergeben sich daraus, in einer moralischen Dimension gesehen, objektiv rechtfertigbare, universelle Normen der gleichen Achtung aller, ethisch gesehen aber geht es um die Einhaltung gemeinsamer Wertüberzeugungen, die sich zugleich im Lichte des Neuen experimenteller Selbstverwirklichungen bilden und ändern können. Die narrativ gefassten Kriterien verantwortlich redigierter Biographien, in denen Gelingen und Misslingen von Selbstverwirklichungen in gleichem Maße eingehen, sind flexibel genug, um die moralische und ethische Einbindung nicht als schnürendes Korsett festzuzerren, sie schließen eine historisch offene, auch experimentierende Gewichtung der einzelnen normativen Kriterien gelingenden Lebens nicht aus, sondern gerade ein. Der »verantwortliche Redakteur« muss auch da Position beziehen und sein Leben als Antwort auf diese Forderungen gestalten. In beiden Fällen der Thematisierung experimenteller Selbstverwirklichung will Habermas daher die Sprengkraft des Experimentellen nicht vorab entschärfen, aber er will ihre nihilistischen Wirkungen durch Beziehungen auf die intersubjektive Allgemeinheit kommunikativ korrigieren und einhegen. Im ersten Falle soll das noch moralisch geschehen, im letzten Falle durch eine formale Konzeption des guten Lebens ethisch korrigiert werden.
Realexperimente Laboratorien der Gesellschaft W OLFGANG K ROHN
D ER B EGRIFF DES R EALEXPERIMENTS Was sind Realexperimente? Der gewöhnliche Ort des Experimentierens ist das Laboratorium als eine genau für diesen Zweck eingerichtete Wirklichkeit der Wissenschaft. Die Zweckmäßigkeit beruht darauf, dass der Experimentator weitgehend freie Wahl bei dem Einsatz von Materialien, Instrumenten und Methoden hat. Seine Wahl wird er, wenn möglich, so treffen, dass er gezielt Einfluss auf die Veränderung einiger Faktoren hat und deren Auswirkungen auf andere beobachten kann. Das in einem Laboratorium eingerichtete Experimentalsystem ist eine kleine Sonderwelt (gelegentlich auch eine große wie im Falle des Large Hadron Collider im CERN) – eine ideale Welt des Forschens. Realexperimente sind nun solche, die nicht unter den kontrollierten Bedingungen einer dafür eingerichteten Laborwirklichkeit stattfinden, sondern in der rauen Wirklichkeit draußen, die den Interessen der wissenschaftlichen Erkenntnis weniger freundlich gegenüber steht. Man kann daraus den einfachen Schluss ziehen, dass alles, was hinter den ideell und materiell isolierten Wänden des Labors erforscht werden kann, auch dort erforscht werden sollte. Es ist dazu erfunden worden und hat die Erwartungen bestätigt. Aber man kann nicht den Schluss ziehen, dass außerhalb des Labors keine Experimente stattfinden können, nur weil die Kontrollbedingungen fehlen, oder keine stattfinden sollten, weil es unverantwortlich wäre. Zwar werden beide Gesichtspunkte eine wichtige Rolle bei der folgenden Analyse des Realexperiments spielen; denn die lebensweltliche Einbettung eines Realexperiments verlangt in der Regel aufseiten des Experimentators eine Rücksichtnahme auf dessen Eigendynamik – sowohl in natürlicher wie in sozialer Hinsicht. Aber eben mit dieser Rücksichtnahme kann es gelingen, Experimente
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in Natur und Gesellschaft so einzubinden, dass Forschungsprozesse und Innovationsprozesse koordiniert stattfinden. Bei der Entgegensetzung von Realexperiment und Laborexperiment ist allerdings zu berücksichtigen, dass in vielen Bereichen nicht nur keine scharfen Grenzen zu ziehen sind, sondern der schrittweise Übergang und das Wechselspiel zwischen beidem erst das Gesamtbild des experimentellen Wissenserwerbs ergeben. Ein in dieser Hinsicht prominenter und zugleich prekärer Bereich ist die medizinische Forschung. Medikamente haben im Vorfeld der Laborforschung viele Hürden zu nehmen; jedoch irgendwann müssen sie an ›realen‹ Menschen getestet werden. Diese bilden zunächst eine ›Testpopulation‹, bei der Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen unter laborähnlichen Bedingungen beobachtet werden. Dennoch wäre es Augenwischerei, wollte man nicht bereits hier die realexperimentellen Züge einräumen. Wenn aufgrund der Resultate von klinischen Studien die Zulassung eines Medikaments durch das dafür zuständige Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgt, existiert allerdings nur Wissen über Nutzen und Risiken bei eben dieser Testpopulation. Aus dieser werden aber beispielsweise regelmäßig Patienten ausgeschlossen, bei denen zwar positive Wirkungen der Testsubstanzen erwartet werden können, die aber aufgrund anderer Erkrankungen bereits andere Medikamente einnehmen müssen. Mit der Markteinführung wird der Patientenkreis nicht einfach nur maßstabsgetreu vergrößert, sondern verändert. Es wäre an dieser Stelle blind, der Zulassung zu vertrauen. Stattdessen muss systematisch, umfassend und sorgfältig das tatsächliche Nebenwirkungspotential eines Arzneimittels bei seiner allmählichen Durchdringung der Gesamtpopulation beobachtet werden. Dies kann nur dadurch geschehen, dass verabreichende Ärzte und einnehmende Patienten Teile einer realexperimentellen Konstellation werden. Tatsächlich beruhen einige Skandale genau darauf, dass diese erweiterte Testsituation entweder nicht sorgfältig genug abläuft, oder mit krimineller Energie der Pharmakonzerne vernebelt wird. Einer der größeren Skandale spielte um das im Jahr 1999 zugelassene Schmerzmittel Rofecoxib (Handelsname Vioxx), durch das nach Schätzungen allein in den USA mehr als 10.000 Menschen geschädigt wurden1. Die typischen, jedoch wegen der Mehrfachmedikation von den klinischen Studien nicht erfassten Anwender von Vioxx trugen ein bis zu achtfaches Risiko für die beobachteten Nebenwirkungen.2 Die Zeitschrift Lancet zog daraus die Schlussfolgerung:
1
Eric Topol: »Failing the Public Health – Rofecoxib, Merck, and the FDA«, in: New
2
Peter Jüni et al.: »Risk of Cardiovascular Events and Rofecoxib: Cummulative Meta-
England Journal of Medicine 351, 2004, S. 1707-1709. analysis«, in: Lancet, Nr. 364, 2004, S. 2021-2029, hier S. 2027.
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»Ärzte müssen sich der vorläufigen Natur der Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit neuer Medikamente stärker bewusst werden. Die ursprünglichen Daten zu Refecoxib basierten auf etwa 5.000 Patienten. Im Vergleich mit den ungefähr zwei Millionen Patienten, […] ist das eine sehr kleine Zahl, die erklären kann, wieso wichtige Nebenwirkungen übersehen wurden und falsches Vertrauen in das Medikament gesetzt werden konnte. Für alle neu zugelassenen Medikamente gilt, dass Vertrauen in ihre Sicherheit nur provisorisch sein kann.«3
Das Beispiel der Arzneimittelrisiken zeigt, dass eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Realexperimenten keine Lösung wäre, weil man vor der unangenehmen Alternative stünde, nach der Labor- und Testphase entweder auf blindes Vertrauen zu setzen, oder wegen verbleibender Risiken neue Medikamente überhaupt abzulehnen. Die realexperimentelle Strategie ist – zumindest in diesem Bereich – angemessener. In Deutschland existiert seit dem Arzneimittelgesetz von 1976 ein dichtes Überwachungssystem aus präventiver Zulassungskontrolle und fortlaufender Beobachtung von Medikamenten im Markt, das durch das BfArM koordiniert wird. Das über die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft organisierte Spontanmeldesystem soll auf unerwartete Entwicklungen reagieren. Es stellt damit die Datengrundlage zur Falsifikation der Sicherheitshypothese zur Verfügung, die die Wirksamkeit und die Nebenwirkungsarmut von Medikamenten umfasst. Wenn sich ein Verdacht auf schädliche Nebenwirkungen einstellt, wird als erster Schritt die Aufmerksamkeit der Mediziner über die sogenannten Arzneimittel-Schnellinformationen erhöht. Dann greift ein Stufenplan, dessen Maßnahmen von Veränderungen des Beipackzettels über Verschreibungsempfehlungen bis hin zur Rücknahme der Zulassung reichen können. Die Medikamentenzulassung und -anwendung ist also ein Modell für akzeptierte Realexperimente, bei dem die Interessen von Patienten an Therapie und Sicherheit auf der einen Seite und die ökonomischen Verwertungsinteressen der Pharmaindustrie auf der anderen Seite aufeinander bezogen und in einem öffentlichen Ordnungsrahmen reguliert werden. Zu dem Thema wäre eine Reihe kritischer Anmerkungen nötig, die die gravierenden Interessenkonflikte zwischen Patienten, Ärzten und Pharmazieunternehmen, die mangelnde Transparenz und Kontrolle und nicht zuletzt die Aspekte von Bestechung, Betrug und Körperverletzung betreffen.4 Aber sie alle würden – im Gegensatz zu
3
Lancet, Nr. 364, 2004, S. 1288.
4
Dass dieses Modell durch den Einfluss von Auftraggebern und Sponsoren auf die Art der Durchführung der Tests sowie durch die Unterdrückung wirtschaftlich ungünstiger statistischer Daten wieder gefährdet ist, wird inzwischen in den führenden medizini-
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anderen Risikobereichen – nicht dazu führen, die realexperimentellen Züge zu beseitigen, sondern schärfer zu fassen und die Forschungsaufgabe bei der Erkenntnis der Risiken und Nebenwirkungen vor, während und nach der Markteinführung äußerst ernst zu nehmen. Historisch betrachtet ist die medizinische Wissenschaft sich ihrer komplexen Positionierung zwischen Grundlagenforschung, Anwendungsforschung und Therapie seit langer Zeit bewusst. Jede Krankengeschichte kann zugleich eine Fallstudie sein, die neue Erkenntnisse eröffnet; jede Medikation kann sich bei der nächsten Verschreibung als experimentelles Wagnis herausstellen. Ist sie damit eine Ausnahme in der ansonsten übersichtlich eingerichteten Wissensordnung unserer Gesellschaft? In mehreren Bereichen stößt man auf ähnliche Überlagerungen von Anwendung und Forschung – sie nehmen zu. Einige seien genannt, ohne dass hier der Platz für eine ausführliche Erörterung wäre. Naheliegend sind Beispiele aus den Technikwissenschaften. Experimente dienen hier weniger häufig der Analyse kausaler Zusammenhänge, sondern der Kontrolle von Mittel-Zweck-Verknüpfungen. Die Frage, ob alle in einer Technologie verwendeten Komponenten in ihren Funktionen und Wechselwirkungen den angestrebten Erfordernissen unter allen erwartbaren Umständen genügen, ist häufig in so viele Teilaspekte zergliedert, dass deren vollständiges Durchtesten im Labor nicht gelingt. Bei großen technischen Anlagen, Infrastrukturen und software-basierten Systemen muss es inzwischen beinahe als Regel gelten, dass trotz der Modularisierung der Komponenten die endgültige Erprobung erst mit der Implementation der Technologie beginnt. Bei Technologien mit hohem Schadenspotential wird dennoch versucht, ex ante technische Sicherheit zu garantieren. Bereits im Zusammenhang mit den Problemen der Dampfkesselexplosionen im 19. Jahrhundert entstand die technologische Sicherheitsforschung.5 Im Zusammenhang mit der Kernkrafttechnologie wurden ausgefeilte Techniken der
schen Fachzeitschriften diskutiert und hat bereits zu verschärften Regelungen bei der Erhebung und Offenlegung von Daten geführt. Bereits 2001 publizierten 12 international führende wissenschaftliche Zeitschriften der Medizin ein Editorial, das den Zugriff, den Geldgeber auf klinische Tests haben, kritisierte, insbesondere das Recht, den Studien vor der Veröffentlichung einer Kontrolle zu unterwerfen und gegebenenfalls die Veröffentlichung zurückzuhalten. Zur gegenwärtigen Situation siehe Bernard Lo and Marilyn J. Field (Hg.): Conflict of Interest in Medical Research, Education, and Practice. Institute of Medicine (US) Committee on Conflict of Interest in Medical Research, Education, and Practice, Washington (DC) 2009. 5
Ina vom Feld: Kontrollierte Staatsentlastung im Technikrecht. Dampfkesselgesetzgebung und -überwachung in Preußen 1831-1914, Frankfurt/M. 2007.
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Modellierung und Wahrscheinlichkeitsberechnung von Risiken des Normalbetriebs und der Unfälle entwickelt. Aber gerade am Beispiel der Reaktorsicherheit von Kernkraftanlagen wurde mit den sich häufenden Unfällen in den 1970er und 1980er Jahren offensichtlich, dass die Gesellschaft sich in eine realexperimentelle Lage hineinmanövriert hatte: Die Sicherheitsmodellierungen können in gewissem Sinne gelesen werden als die Hypothesen über die Robustheit von Anlagen, die erst durch deren Betrieb überprüft werden konnten. Besonders klarsichtig hat dies der Kernphysiker Wolf Häfele, führender Kopf bei der Entwicklung des ›Schnellen Brüter‹ in Kalkar, mit dem Begriff der ›Hypothetizität‹ erfasst.6 Man muss es so hinbekommen, dass niemals ernsthaft überprüft wird, ob die Sicherheitsszenarien halten. In der Tat kann man Unfälle wie in Three Miles Island oder Tschernobyl als Hypothesentests von Sicherheitsmodellierungen deuten, die niemals beabsichtigt waren, erst recht nicht für diesen Zweck, nun aber als solche dienen.7 Im Unterschied zum medizinischen Fortschritt gibt es in diesem Technikbereich die Option des Ausstiegs, die wenigstens zwischenzeitlich in Deutschland gewählt wurde. Wieder anders verhält es sich in dem Bereich der Gentechnologie. Hier hat früh zu Beginn der genetischen Biotechnology ein von besorgten Wissenschaftlern selbst veranlasstes Moratorium – bekannt unter dem Ort Asimolar, an dem sich die Forscher trafen, – dafür gesorgt, dass Belange der Sicherheit bereits in der Grundlagenforschung berücksichtigt wurden. Man war einfach nicht sicher, ob gentechnisch veränderte Organismen aus den Laboratorien entweichen konnten und was sie dort anrichten würden. Mit anderen Worten: Das Labor wurde nicht mehr nur als ein Ort angesehen, in den sich die Forschung zurückzieht, sondern auch als ein solcher, aus dem etwas in die Wirklichkeit entweichen kann, was dort Unheil anrichten kann. Historisch betrachtet, kann dieses Engagement der Wissenschaftler in den Jahren 1973 und 1975 als ein Wendepunkt betrachtet werden, weil zum ersten Mal in der vordersten Front der Forschung Bedenken über Auswirkungen deutlich vor deren Auftreten artikuliert und im Rahmen einer institutionellen Ethik zu verbindlichen Verhaltensvorschriften umgesetzt wurden. Es ist die Geburtsstunde des später sogenannten ›precautionary principle‹. Seitdem begleitet die genetische Biotechnologie eine entsprechende Sicherheitsforschung, die immer wieder die durchlässig gewordenen Grenzen zwischen Laborforschung und Realexperimenten thematisiert. Das
6
Wolf Häfele: »Natur- und Sozialwissenschaften zwischen Faktizität und Hypothetizität«, in: Josef Huber, Georg Thurn (Hg.): Wissenschaftsmilieus. Wissenschaftskontroversen und sozialkulturelle Konflikte, Berlin 1993, S. 159-172.
7
Wolfgang Krohn, Peter Weingart: »›Tschernobyl‹ – das größte anzunehmende Experiment«, in: Kursbuch 85, Berlin 1986, S. 1-25.
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grundlegende Paradox freilich, dass man ohne es auszuprobieren nicht wissen kann, welche Gefahren durch Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen entstehen, lässt sich nicht lösen. Sorgfältig angestellte und ausgewertete Realexperimente mit dem Ziel einer angemessenen politischen Regulierung sind die einzige Möglichkeit, wenn man nicht zum Verbot greifen will. Für sie wird auch der Begriff ›regulatory experiment‹ verwendet.8 Ein drittes Feld der Realexperimente ist die ökologische Forschung, die hier als Obergriff auch für Bereiche der Umweltforschung verwendet wird. Die traditionell verwendete Bezeichnung ist das ›Feldexperiment‹, ein Begriff, der auf semantisch leicht andere Weise den Gegensatz zum Labor ausdrückt und dabei stärker Anschluss an die sogenannte ›Feldforschung‹ wahrt9. Im Unterschied zur Bobachtung geht es beim Feldexperiment um den interventionistischen Aspekt, also das gezielte Eingreifen in ein ansonsten nicht labormäßig idealisiertes und kontrolliertes Feld. Allerdings ist dabei häufig die Intervention nicht von Wissenschaftlern veranlasst, sondern entsteht im Kontext eines Innovationsprojektes. Ein extremes und dramatisches Beispiel ist das Drei-Schluchten-StaudammProjekt in China, dessen gefährliche Unwägbarkeiten mit dem unvermeidlich experimentellen Charakter eines solchen Eingriffs gerechtfertigt wurden, der seinerseits unvergleichlich wertvolle Beobachtungen erlaubt.10 Weniger umstrittene Projekte zur Prärie-Restauration in mittleren Westen der USA arbeiten mit dem großflächigen aber kontrollierten Einsatz von Feuersbrünsten, um dann die Wiederentstehung einer ehemaligen Prärielandschaft beobachten und beeinflussen zu können.11 Ein anderes Beispiel ist die Sanierung eines Schweizer Sees mit Hilfe einer Belüftungstechnologie. Ein See ist seiner Natur nach zwar im Sinne eines Laborraums einigermaßen isoliert mit parametrischen Zu- und Abflüssen. Aber über sein Langzeitverhalten und die Sedimentgestaltung bei agrikulturell bedingten Einträgen wusste man nicht viel mehr, als daß er ›eutrophiert‹. Erst aufgrund der Intervention und der Beobachtung der Wechselwirkungen ihrer
8
Millo Yuval, Javier Lezaun: »Regulatory Experiments: Genetically Modified Crops and Financial Derivatives on Trial«, in: Science and Public Policy, Vol. 33, Nr. 3, 2006, S. 179-190.
9
Robert E. Kohler: Landscapes and labscapes: Exploring the lab-field frontier in biology, Chicago 2002.
10 Jianguo Wu, Jianhui Huang, Xingguo Han, Zongqiang Xie, Xianming Gao: »ThreeGorges Dam. Experiment in Habitat Fragmentation?«, in: Science 23, 2003: Vol. 300, No. 5623, S. 1239-1240. 11 Vgl. Matthias Gross: Inventing Nature. Ecological Restauration by Public Experiments, Lanham 2003.
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Folgen mit den Eigenschaften des Sees wuchsen die Kenntnisse an, die man natürlich gern bereits vor dem Einstieg in das Projekt gehabt hätte.12 Diese und ähnliche Fälle aus der ökologischen Forschung haben wir in einer Bielefelder Forschergruppe analysiert, und dargestellt, in welchem Umfang ökologische Gestaltungsprozesse realexperimentelle Züge tragen.13 Die Arbeiten werden heute von Matthias Groß am Umweltforschungszentrum Leipzig mit Blick auf die Entstehung von Bergbaufolgelandschaften fortgesetzt.14 Da es sich dabei um sehr krasse Fälle des Designs neuer Seelandschaften handelt, tritt der paradoxe Grundzug aller realexperimentellen Praktiken besonders deutlich zutage: Das vollständige Wissen darüber, wie solche Prozesse kontrolliert begleitet werden können, ergibt sich erst in ihrem Verlauf. Wann immer man experimentiert, muss man mit Überraschungen rechnen. Im Labor kann man sie ausblenden, weil sie auf andere Wege führen. Hier ist man gezwungen, produktiv mit ihnen umzugehen. Als letzter Bereich sollen Sozialexperimente angesprochen werden. Ähnlich wie in der medizinischen Forschung gibt es hier Hybridformen zwischen Laborund Realexperimenten, besonders im Bereich der Kleingruppenforschung, wenn diese unter recht isolierten Bedingungen und mit speziell für die Experimente geformten Aufgaben operieren. Da das Leben der Versuchspersonen nicht sauber in einen teilnehmenden und nicht-teilnehmenden Part aufgeteilt werden kann, ist die Grenzziehung gelegentlich schwierig. Eins der bekanntesten Beispiele für diese Schwierigkeit sind die Experimente von Stanley Milgram aus den 1960er Jahren über Autorität und Gehorsam. Mit professioneller Autorität wurden Versuchspersonen veranlasst, die vermeintlich dachten, in der Rolle eines Lehrers zu agieren, Lernende für Fehler mit Elektroschocks zu bestrafen. Sie konnten durch eine Einwegscheibe beobachten, dass sie ihre Schüler geradezu folterten. Sie taten es, weil der Versuchsleiter sie ermunterte, fortzufahren.15 Labor- oder Realexperiment? Jedenfalls veranlasste es eine Debatte, die dazu führte, dass Menschen nicht mehr uninformiert in ethisch bedenklichen Experimenten als Versuchspersonen eingesetzt werden können.
12 Eine Fallstudie hierzu liefert Holger Hoffmann-Riem: Die Sanierung des Sampachersees, München 2000. 13 Mathias Groß, Holger Hoffmann-Riem, Wolfgang Krohn: Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2005. 14 Matthias Groß: Ignorance and Surprise. Science, Society, and Ecological Design, Cambridge/Mass. 2010, Kap. 5. 15 Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment: zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbeck 2009. Milgram begann mit der Experimentserie 1961.
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Der Begriff des Sozialexperiments (social experiment) wird überwiegend verwendet für methodisch angeleitete Reformvorhaben, die – im Unterschied zum Milgram-Experiment – nicht aus einem Forschungsinteresse entspringen, sondern an gesellschaftliche Reformvorhaben gekoppelt sind. Deren Durchführbarkeit und Erfolgschancen sind jedoch so offen, das wissenschaftliche Beobachtung und gegebenenfalls Korrektur als Teil der Innovation ausgewiesen sind. Einen Ausgangspunkt dafür bilden die im Pragmatismus von John Dewey verwurzelten Schulversuche von Jane Addams in Chicago zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Addams’ Grundgedanke war, dass durch Begleitung von Universitätspädagogen das Erziehungsprojekt hinsichtlich seiner Lehr- und Lernstrategie sowie seiner sozialpolitischen Einbettung einer ständigen Verbesserung unterzogen werden könnte.16 Auch die New Deal-Projekte unter Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren wurden als methodisch kontrollierte Versuche begriffen, ebenso wie die Reformpolitiken der amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson in den 1960er Jahren, die unter den programmatischen Titeln »Die große Gesellschaft« (Great society) und »Krieg gegen die Armut« (War on poverty) öffentlichkeitswirksam etikettiert wurden und eng mit einer pragmatistisch verstandenen Verwissenschaftlichung der Politik verbunden waren. Sozialpolitisch ging es vorrangig um die Integration der schwarzen Bevölkerung. In den Bereichen Strafvollzug, Ausbildung, Wohnumfeldverbesserung, Armut und Arbeitslosigkeit wurden Versuche unternommen, die offenkundigen Benachteiligungen dieser Bevölkerungsgruppe zu bekämpfen, die zum Teil explizit in die methodische Form von Sozialexperimenten gegossen wurden. Als Paradigma gilt das ›New Jersey-Experiment‹ zur negativen Einkommenssteuer, an dem über 600 Familien und eine Kontrollgruppe von gleicher Größe teilnahmen. Das Experiment beruhte auf Theorien der späteren Ökonomienobelpreisträger Milton Friedman und James Tobin. Die Hypothese lautete, dass die Unterstützung durch Sozialhilfe die Betroffenen davon abhielt, Arbeit aufzunehmen, da dadurch nur geringe Einkommensverbesserung erzielt werden konnten. Die Vergabe von Transferleistungen wurde in den Versuchsregionen auf ein System umgestellt, das bei geringem Einkommen eine staatliche Finanzierung durch ›negative Besteuerung‹, also Zahlungen vorsah. Eigenes Arbeitseinkommen wurde ab einem bestimmten Schwellenwert anteilig eingerechnet, wodurch die Arbeitsmotivation gesteigert werden sollte. Angenommen wurde, dass die Teilnahme am Arbeitsmarkt und dadurch bewirkte weitere Effekte zur gesellschaftlichen Integration
16 Matthias Groß, Wolfgang Krohn: »Society as experiment: Sociological foundations for a self-experimentals society«, in: History of the Human Sciences, Vol. 18, Nr. 2, 2005, S. 63-86.
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führen würden. Das Sozialexperiment wurde über vier Jahre durchgeführt, seine Gesamtkosten betrugen fast acht Millionen Dollar. Die Versuchspopulation und die Kontrollgruppe wurden durch Zufallsauswahl zusammengestellt; die Teilnahme war freiwillig. Das Versuchsdesign sah eine umfangreiche Datenerhebung mit qualitativen und quantitativen Methoden vor. Die Daten wurden von Wissenschaftlergruppen der Universitäten Wisconsin und Princeton in engem Kontakt mit den lokalen Behörden erhoben und anschließend ausgewertet. Die statistische Auswertung erbrachte eine Reihe von unerwarteten Ergebnissen. Beispielsweise verließen in der Untersuchungsgruppe mehr Männer ihre Familien als in der Kontrollgruppe, was auf die sichere Versorgung durch die negative Einkommenssteuer zurückgeführt wurde. Trotz mehrfacher Auswertung ergab sich allerdings kein klares Bild über den Erfolg der Maßnahmen. Während eine Gruppe die Ergebnisse für aussagekräftig hielt, monierten Kritiker, trotz des dargestellten methodischen Aufwandes, habe kein Nachweis darüber geführt werden können, dass die negative Einkommenssteuer einen Anreiz zum aktiven Eintritt in den Arbeitsmarkt darstellt17. Das New Jersey-Einkommensexperiment setzte dennoch durch die Formulierung von Hypothesen und die Erstellung eines umsetzbaren Forschungsdesigns, die Zufallsauswahl der Versuchs- und Kontrollgruppe, die Anwendung qualitativer und quantitativer Messmethoden, die statistische Auswertung und die Nutzung von Evaluationsverfahren in methodischer Hinsicht Standards für weitere Sozialexperimente. Nach diesem Vorbild sind mehr als 240 Versuche in unterschiedlichen Bereichen durchgeführt worden. Gegenwärtig laufen in den USA mehr als zwanzig vergleichbare Verfahren.18 Ein einflussreicher Artikel des Epistemologen Donald Campbell gab dieser Praxis eine programmatische Formulierung: »Reformen als Experimente«19. Zugleich plädierte Campbell dafür, die methodische Messlatte etwa bei der Randomisierung nicht zu hoch zu hängen, sondern sich stärker an die Bedingungen des politisch vertretbaren Aufwands zu halten. Er prägte dafür den Begriff des ›Quasi-Experiments‹. Das Quasi-Experiment ermöglicht es, eine Vielzahl von gesellschaftlichen Prozessen, die aus ganz anderen Gründen stattfinden, für die Forschung auszuwerten.
17 Joseph Pechman, Michael Timpane: Work Incentives and Income Guarantees: The New Jersey Negative Income Tay Experiment, Washington 1975. 18 David Greenberg, Mark Shroder: The Digest of Social Experiments, Washington 2004. 19 Donald T. Campbell: »Reforms as Experiments«, in: American Psychologist 24, 1969, S. 409-429.
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Z UR L EGITIMATION
VON
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Das bisher gezeichnete Bild der Realexperimente stellt die Wirkungsmöglichkeiten gegenüber den Laborexperimenten heraus, die sie trotz der offenkundigen methodischen Einschränkungen besitzen. Gelegentlich nur hat es die prekären Seiten gestreift, die damit verbunden sind, dass Menschen, Gruppen und Umwelten zu Experimentalgegenständen gemacht werden. Einige wenige Beispiele genügen, um in Erinnerung zu rufen, wie anfällig das Instrumentarium gegenüber Ideologien und Missbrauch ist. Anfällig dafür ist Wissenschaft selbstverständlich auch innerhalb ihres institutionell zugesicherten diskursiven und experimentellen Freiraums, der ihr früher als Privileg gewährt wurde und heute als Grundrecht beansprucht werden kann. Dieser Freiraum ist zugleich als ein Schutzwall der Gesellschaft konstruiert, der sie davor bewahren soll, vorschnell mit unfertigem theoretischen und experimentellen Wissen belastet zu werden. Das von seinen sozialen Wirkungen entlastete ›Probehandeln‹ der Wissenschaftler kann nach diesem Modell bei Irrtum oder Misserfolg scheinbar folgenlos wieder aus dem Verkehr gezogen werden. Irrtum und Misserfolg der Wissenschaftler werden auch – im Gegensatz zum Betrug – normalerweise moralisch nicht zugerechnet. Der Wert widerlegter Hypothesen oder fehlgeschlagener Experimente steht dem der bestätigten oder erfolgreichen kaum nach. Der Aufbau des neuzeitlichen Wissenschaftssystems als eine risikobereite Irrtums- und Fehlerkultur ist verbunden mit der strikten institutionellen Trennung zwischen Forschungsfreiheit und Anwendungsentscheidungen und gehört zu den Modernisierungsfundamenten der neuzeitlichen Gesellschaft. Da er von Francis Bacon vorgedacht wurde, wird er gelegentlich auch der »baconische Kontrakt« zwischen Gesellschaft und Wissenschaft genannt.20 Man muss allerdings einräumen, dass er bei genauerer historischer und gegenwärtiger Analyse wenig verlässlich funktionierte. Zu allen Zeiten gab es Wissenschaftler, die in einem sehr frühen Zeitpunkt der Überprüfung und Konsolidierung umstrittene wissenschaftliche Vermutungen als Weltformeln und Heilslehren verbreiteten. Das Leib-Seele Axiom des Cartesianismus, die Abstammungslehre Darwins, die fragwürdigen Annahmen der Psychoanalyse, der Reduktionismus des Behaviorismus, das Arsenal biologistischer Theorien von der Physiognomie bis zur Rassenlehre, die Elimination des ›freien Willens‹ bei Vertretern der Neurowissenschaft sind nur die prominentesten Beispiele. Immer auch gab es ein begieriges Publikum, das
20 Wolfgang Krohn: »Realexperimente – Die Modernisierung der ›offenen Gesellschaft‹ durch experimentelle Forschung«, in: Erwägen–Wissen–Ethik (EWE), Jg. 18, Heft 3, 2007, S. 343-356, hier S. 347.
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die Hitze des Streits liebte, wissenschaftsbasierte Glaubensgemeinschaften bildete oder einfach eine politische Ideologie ausschmücken wollte. Dass kritische Wissenschaftsphilosophen immer wieder solch szientistische Übergriffigkeit zu einem wissenschaftstheoretischen Non-sequitur erklärten, gehört eher zum Spiel, als zu seiner Verhinderung. Experimente können nicht weniger als Theorien Teil dieses Spiels sein. Genauer muss man sagen, dass ebenso wie Theorien im öffentlichen Raum zu Ideologien werden, deren Überprüfung nicht mehr angestrebt wird, Experimentalpraktiken zu Innovationsstrategien werden können, die mit unbestimmtem Ausgang in Gang gesetzt werden. Beispiele dafür finden sich in der europäischen Kolonialpolitik, zu der Bonneuil schreibt: »From the 1930s onward, the development narratives are filled with the deliberate use of words like ›experiment‹, ›experimentation‹, and ›test‹ – on the part not only of experts and scientists, but also of colonial officers and journalists«.21 Kein geringerer als Robert Koch hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die seuchenmedizinische Forschung in die Kolonien ausgelagert. Bei Forschungen zur Schlafkrankheit hatte er Massenimpfungen zur Erprobung von Impfstoffen durchgeführt. Er schlug Entwaldungen zur Bekämpfung der Überträger und ›Konzentrationslager‹ für Infizierte vor, die 1912 am Viktoriasee eingerichtet wurden, die der Isolierung Infizierter und ›wissenschaftlichen Untersuchungen‹ dienten. Weitere Experimente in Togo folgten.22 Ein in seiner Verbrämung von Überlegenheitsgefühlen, Forschergeist und Heilungswissen ähnliches Beispiel bietet die Syphilisforschung um 1900, die ziemlich bedenkenlos ›minderwertige‹ Frauen zu Versuchsobjekten der Venerologie machte.23 Dass das gesamte 20. Jahrhundert von fragwürdigen medizinischen Menschenexperimenten durchzogen war – die nationalsozialistischen eingeschlossen –, ist belegt worden.24 Von zugleich medizinischem wie militärischem Interesse war die Analyse der Auswirkungen radioaktiver Strahlung der Nuklearwaffen auf Nahrungsketten, Gesundheit und Kampfkraft. Eine erst unter Bill Clinton engagiert betriebene Aufarbeitung er-
21 Christophe Bonneuil: »Development as Experiment: Science and State Building in Late Colonial and Postcolonial Africa«, in: Osiris 15, 2000, S. 258-281. 22 Wolfgang U. Eckart: »The Colony as Laboratory: German Sleeping Sickness Campaings in German East Africa and Togo, 1900-1914«, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 25, 2002, S. 69-89. 23 Katja Sabisch: Das Weib als Versuchsperson. Medizinische Menschenexperimente im 19. Jahrhundert am Beispiel der Syphilisforschung, Bielefeld 2007. 24 Siehe verschiedene Beiträge in Volker Roelcke, Giovanni Maio (Hg.): Twentieth Century Ethics of Human Subjects Research: Historical Perspectives on Values, Practices, and Regulations, Stuttgart 2004.
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gab, dass nach dem 2. Weltkrieg über 400 Realexperimente mit radioaktiver Strahlung in einem Zeitraum von über 20 Jahren betrieben wurden.25 Um bei dem Stichwort zu bleiben: ›Kriege‹ werden seit langem als Experimentierfelder für neue Technologien und Strategien verstanden. In seiner dreibändigen Geschichte der Kriegswissenschaften von 1898 stellte bereits Max Jähns heraus: »die Kriegswissenschaften sind nichts weniger als spekulativ, sondern recht eigentlich experimental.«26 Literarisch ambitioniert umschrieb Jähns den Zusammenhang von universeller Wissenschaft und Kriegen: »Kriegskunst und Kriegswissenschaft sind die Kinder des gewaltigsten gegenseitigen Durchdringens der Nationen. Sie sind international im höchsten Maße …«27 Die Beispiele ließen sich vermehren, sollen hier aber genügen. Es lässt sich leicht aus ihnen ableiten, dass Gesellschaft und Natur der Wissenschaft nicht als Real-Laboratorien zur Verfügung stehen dürfen, sondern dass es in allen Fällen von Realexperimenten einer Speziallegitimation bedarf. Wenn in metaphorischer Sprechweise große gesellschaftliche Umwälzungen wie die französische oder amerikanische Revolution (so I. Kant und G. Washington), die deutsche Wiedervereinigung oder die europäische Währungsunion als Experimente mit historischen Dimensionen ausgegeben werden, oder anthropogene Klimaveränderung, die Überfischung der Meere und grüne Gentechnologie als Großexperimente mit der Umwelt bezeichnet werden, drückt sich hier eine extensive Modernisierungssemantik aus, die zwar keineswegs uninteressant ist, aber mit Wissenschaft als ausschlaggebendem institutionellen Akteur nicht identifiziert werden kann.28 Was immer mit wissenschaftlichen Argumenten als eine realexperimentelle Strategie vertreten werden kann, ist daran gebunden, dass diese nicht mit der Gesellschaft als Ganze, sondern in ihr mit einzelnen ihrer Einrichtungen verfährt. Dass solche strategischen Eingriffe ihrerseits Rückwirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung haben können, wird auch zu beobachten sein. Theoretisch ist nicht einmal ausgeschlossen, dass eine einzelne Intervention gewaltige Wirkungen haben kann; das ist eine der bedeutenden Lehren, die die
25 The Human Radiation Experiments: Final Report of the Advisory Committee on Human Radiation Experiments, New York 1996. 26 Max Jähns: Geschichte der Kriegswissenschaften, vornehmlich in Deutschland, I-III, München und Leipzig 1889-1891 (= Geschichte der Wissenschaften in Deutschland: Neuere Zeit, 21), Neudruck Hildesheim 1965, Bd.1, S. IX. 27 Ebd., S. XII. 28 Eine umfangreiche Darstellung der nichtwissenschaftlichen Semantik des Experimentierens findet sich in Krohn: »Realexperimente«, S. 345f., ergänzt durch kritische Kommentare weiterer Autoren, S. 427-442.
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Chaos-Theorie auch für die Relationierung von Ereignis und Struktur auch in der historischen Betrachtung bereithält. Aber insgesamt geht es um eine sehr viel bescheidenere Positionierung der Realexperimente vor allem mit Blick auf ihre politische Legitimierung. Allein der marxistische Sozialismus scheint gelegentlich den Mut gehabt zu haben, seine Transformation vom Design zur Realität zuerst in der UdSSR und später in Mitteleuropa als Großexperiment zu beschreiben. Bereits 1945 versuchte der damals noch weitgehend unbekannte Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, den Unterschied zwischen Experimenten mit der und solchen in der Gesellschaft zu erfassen und mit einem starken Plädoyer für eine gesellschaftlich anerkannte experimentelle Lernbereitschaft als Basis für eine zukunftsoffene Demokratie zu verbinden. Seine zentralen Begriffe waren die eines ›piecemeal social engineering‹ und ›piecemeal social experiments‹. Angelehnt an seinen bereits in der »Logik der Forschung« von 1935 niedergelegten ›Falsifikationismus‹ ging es ihm darum, wie in einer Gesellschaft die Bereitschaft, gerade auch aus Fehlern zu lernen, verankert werden könnte. Zwar gehört es zu den evolutionären Grundüberzeugungen, dass viele Entwicklungsschritte einem Versuchs-Irrtums-Schema folgen. Aber weder sind dabei die Versuche im Sinne eines experimentellen Designs angelegt, noch führt kühle Beobachtung zu Ergebnissen, aus denen zu lernen wäre. Zudem fehlt die politische Bereitschaft, Fehler einzugestehen. So war es Poppers Leitfrage, wie unterhalb gesamtgesellschaftlicher Großexperimente eine lernbereite Irrtums- und Fehlerkultur eingerichtet werden kann. In Poppers Worten: »Das soziale Leben ist so kompliziert, dass wahrscheinlich überhaupt niemand fähig ist, den Wert eines Bauplans für soziale Maßnahmen im großen Maßstab (blueprint for social engineering on the grant scale) richtig einzuschätzen. […] Im Gegensatz dazu sind Pläne für einen schrittweisen Umbau der Gesellschaftsordnung relativ einfach zu beurteilen. Es sind dies ja Pläne für einzelne Institutionen. […] Wenn sie fehlschlagen, ist der Schaden nicht allzu groß und eine Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht allzu schwierig.«29
Ansatzpunkt war für Popper, dass moderne Gesellschaften ohnehin ständig in ihrer alltäglichen politischen und ökonomischen Modernisierungspraxis Veränderungen vornehmen:
29 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 89.
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»ad hoc angestellte Sozialexperimente werden doch dauernd ausgeführt, und unter realistischen Bedingungen, inmitten der ganzen Gesellschaft. […] Die Einführung einer neuen Lebensversicherung, einer neuen Art der Besteuerung, einer neuen Strafreform – all das sind soziale Experimente, die auf die Gesellschaftsordnung zurückwirken, ohne sie als Ganzes umzuformen. Selbst ein jeder, der einen neuen Laden eröffnet oder sich eine Theaterkarte reserviert, führt eine Art Sozialexperiment im kleinen Maßstab durch: all unser Wissen von sozialen Bedingungen beruht auf Erfahrungen, die wir beim Anstellen derartiger Experimente gewonnen haben.«30
Popper sah natürlich auch, dass in der parteipolitischen Demokratie eine fehlertolerante Lernbereitschaft schwerlich einzurichten ist. Das Repertoire der politischen Rhetorik beginnt damit, dass die regierende Mehrheit weiß, was zu tun ist, und die Opposition, weiß, dass die Entschlüsse falsch sind. Fehlerhafte Entwicklungen werden dann zunächst vertuscht, dann wegerklärt und schließlich nach einem Regierungswechsel einfach durch neue Entscheidungen ausgetauscht. Einige Blicke auf unsere Schul- und Universitätspolitik, Integrationspolitik, Energiepolitik zeigen, dass Popper ein halbes Jahrhundert später nicht weit neben der politischen Realität liegt. Das Projekt einer experimentellen Politik ist vielleicht noch schwieriger umzusetzen, als die Mobilisierung großer Massen für politische Heilserwartungen. Denn die Bereitschaft, sich auf Experimente mit offenem Ausgang einzulassen, setzt eine Kombination von Engagement und Distanz voraus, die zu kühl für das normale politische Klima ist. Wenn Popper darin Recht hat, dass die evolutionäre Überlegenheit der Demokratie darin besteht, Offenheit für das Neue bei gleichzeitiger Kultivierung der skeptischen Distanz zu pflegen, verlangt sie eine irrtumsbereite Lerneinstellung, die mit der parlamentarischen pro-vs.-contra-Digitalisierung von Problemlösungen und parteipolitischer Verpflichtung auf Programmwahrheiten schwerlich vereinbar sind. Die obige Darstellung problematischer Realexperimente erfolgte, um vor Augen zu führen, dass unter heutigen Bedingungen deren öffentliche Deklaration unumgänglich ist. In gewissem Sinn ergeben sich aus dem Postulat alle anderen Normen, denen Realexperimente genügen sollten. Diese Normen decken sich zum Teil mit den wissenschaftstheoretisch begründeten Anforderungen an gute wissenschaftliche Praxis, die auch unter Laborbedingungen gelten, aber zum Teil weichen sie ab. Der Grund dafür, dass sich die Normen aus dem Postulat der Öffentlichkeit ergeben, ist, dass im öffentlichen Diskurs durch die Vielzahl von beteiligten Interessen und Organisationen über die Berechtigung,
30 Ebd., S. 93.
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Risiken und Nutzen eines Experiments so viel Information in allen Sachfragen, Interessenkonstellationen und Rechtsfolgen eingeklagt wird, wie irgendwie zugänglich ist. Man kann sogar davon ausgehen, dass in vielen Fällen härter als in der Wissenschaft Experten und Gegenexperten die Modelle überprüfen, Risiken abwägen und Alternativen heranziehen. Ginge es allein um Erkenntniserwerb, wäre dies lähmend. Eine Forschergruppe tut, was sie tut, und lässt andere anderes tun. Aber hier steht der Erkenntniserwerb immer im Kontext eines Innovationsvorhabens, bei dem unterschiedliche Interessen, Rechte und Wertvorstellungen beteiligt sind und höchste Verfahrenstransparenz gefordert wird. Gelegentlich gibt es dafür bereits einen institutionellen Rahmen, wie bei den medizinischen Testphasen; aber meistens muss er ausgehandelt werden. Um was geht es bei der Aushandlung eines Realexperiments? Es lassen sich die folgenden Gesichtspunkte benennen: 1) Festlegung der Akteurskonstellation: Zuweisung von Beteiligungen, Gestaltungsrechten, Informationspflichten, Verfahrensbeteiligungen. 2) Experimentelles Design: Beschreibung des Experimentalsystems, der Interventionspunkte und der erwarteten Effekte. 3) Spezifikation von erwartetem Nutzen und erwarteten Nachteilen: Risikomodellierungen, Sicherheitsszenarien, Abschätzung des Nichtwissens. 4) Eingriffsreserven und Abbruchbedingungen: Absicherungen vor Überraschungen. 5) Monitoring: Beobachtungsinstrumentarium und Aufzeichnungssysteme für den Verlauf. 6) Modifikationen: Auswertung und Verhandlung über Anpassung des Experimentellen Designs an Befunde. 7) Dokumentation: Rekonstruktion des Verlauf, wissenschaftliche Auswertung. Man kann feststellen, dass ein solches Set an Konditionen vermutlich zu höheren und strikteren Anforderungen führt, als sie bei vielen wissenschaftlichen Experimenten gegeben sind. Die von der Wissenschaftsforschung vorgelegten Analysen der Experimentalpraktiken haben dazu geführt, die einstmals geforderte strikte Abhängigkeit des Experimentierens von theoretischen Fragestellungen nicht mehr als alleiniges und vornehmliches Ziel zu exponieren. Die vielfältigen Erfindungs- und Entdeckungsfunktionen, das Wechselspiel zwischen der Verbesserung der Instrumententechnik und der Variation des Objektes, der Abgleich zwischen Simulationen und Verläufen sind nur einige der Aufgaben, die Laborexperimente leisten können. Müssen Experimente jedoch im öffentlichen Raum gerechtfertigt werden, weil sie auch außerwissenschaftliche Belange berühren, werden die Erwartungen an eine präzise, detaillierte und vollständige Spezifika-
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tion der genannten Punkte eingefordert. Es ergibt sich daraus die beinahe paradoxe Situation, dass die wissenschaftlichen Standards, die an Design, Modellierung und Beobachtung gestellt werden, tendenziell höher sind, als im normalen Wissenschaftsbetrieb. Aber natürlich ist es eine offene Frage, ob die Spezifikationen zu allen Punkten geleistet werden kann, oder ob man – der Forschung verpflichtet – einige erst im Verlauf der experimentellen Praxis verstehen und präzise formulieren kann. Das wird zu Risikoabwägungen und gegebenenfalls zu erhöhter Aufmerksamkeit führen. Man kann die genannten Bedingungen, über die Legitimation und Akzeptanz für Realexperimente erwirkt werden können, unter dem übergreifenden Konzept der ›Robustheit‹ zusammenführen. Während im laborzentrierten Wissenserwerb eine risikobereite Orientierung an dem Neuigkeitswert der Forschung dominiert, muss bei Realexperimenten die Bereitschaft, sich auf offene Forschungsfragen einzulassen, durch die in Aussicht gestellten Handlungsvorteile, die Transparenz des Verfahrens, die Aussagekraft des Design, die Elastizität gegenüber Überraschungen und nicht zuletzt durch partizipative Integration von Betroffenen in die Akteurskonstellation erreicht werden. Die demokratischen Anforderungen an Realexperimente sind nicht gering; aber Arrangements, mit denen man sich um die Legitimierung und Akzeptanz herumdrücken kann, richten Schäden an, die letztlich die Chancen einer zukunftsoffenen Lernbereitschaft verringern.31
W ISSENSCHAFTSTHEORETISCHE ANMERKUNGEN ZUM R EALEXPERIMENT Bei den genannten Schwierigkeiten, Legitimation und Akzeptanz für Realexperimente zu erringen, stellt sich neben der Frage, ob sich der politische Aufwand überhaupt lohnt, auch die epistemische nach dem Erkenntnisgewinn. Sofern Realexperimente die verlängerten Arme der Laborforschung sind – par excellence in den Testreihen der Medizin – ist der epistemische Beitrag zunächst offensichtlich: es geht um eine Art Lückenschluss bei statistischen und kausalen Erkundigungen. Wenn es dabei zu Überraschungen kommt, muss notfalls der Rückweg angetreten werden. Aber in vielen anderen Bereichen stehen Realexperimente auf eigenen Füßen oder zumindest auf einem eigenen Fuß, wenn durch
31 Zum Konzept der sozialen Robustheit siehe Wolfgang Krohn, Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem: »Realexperimente: Robustheit und Dynamik ökologischer Gestaltungen in der Wissensgesellschaft«, in: Soziale Welt 54 (3), 2003, S. 241-258.
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die Wechselwirkung mit der Laborforschung der zweite dort lokalisiert bleibt. Die beiden wesentlichen Nachteile von Realexperimenten sind schnell benannt: Erstens sind die Systeme nicht gut isoliert, so dass über offene Ränder Systemveränderungen bewirkt werden können, die schwierig mit den Interventionen abzugleichen sind; zweitens ist eine experimentelle Variation der Parameter nur sehr eingeschränkt möglich. Aus Neugier auch noch etwas anderes auszuprobieren, ist meist nicht zugelassen. Diese Einschränkungen sind dem Umstand geschuldet, dass Realexperimente in der Regel im Kontext von Innovationsprozessen stattfinden, die einen Wert in sich selbst tragen und nicht allein dem Erkenntniserwerb dienen. Aber Realexperimente besitzen auch epistemische Vorteile und um die soll es nun gehen. Der erste schließt an den gerade erwähnten Eigenwert einer realexperimentellen Konstellation an: Realexperimente bemühen sich um ein möglichst vollständiges Verständnis eines Einzelfalls unter Einschluss aller kontingenten Bedingungen, die ihn auszeichnen. Während das klassische Experiment in erster Linie an kausalen Beziehungen zwischen einzelnen Größen interessiert ist und nach Vereinfachungen sucht, wenn zu viele im Spiel sind, steht im Realexperiment die komplexe Erfassung einer spezifischen Konstellation im Vordergrund. Häufig ist sie so spezifisch, dass sie als singulär gilt oder sogar ihren Wert besitzt, weil sie ein Unikat ist. Ein See ist sicherlich ein Beispiel dafür. Realexperimente nehmen dann – etwa bei ökologischen Restaurationsprojekten – die Form von Fallstudien an, deren Verallgemeinerungsfähigkeit völlig offen ist. In anderen Fällen erwartet man Verallgemeinerungsfähigkeit, insbesondere in den medizinischen Testreihen. Viele Fälle liegen irgendwie dazwischen. Man weiß um die Spezifität des Falles und erhofft gewisse Erkenntnisse, die auf ähnliche Fälle mit angemessener Vorsicht übertragen werden können. Die wissenschaftstheoretische Aufarbeitung dieser Dualität von fallspezifischer Kontingenz, die im Gegensatz zum Laborexperiment nicht preisgegeben werden darf, und dem Lerneffekt, der für ähnliche Konstellationen genutzt werden kann, ist ebenso fruchtbar wie schwierig.32 Der zweite Vorteil hängt mit diesem Ideal der Vollständigkeit zusammen: Realexperimente besitzen definitorisch eine hohe externe Validität, wenn sie erfolgreich sind. Mit externer Validität bezeichnet man dasjenige Gütekriterium
32 Wolfgang Krohn: »Interdisciplinary Cases and Disciplinary Knowledge – Epistemic Challenges of Interdisciplinary Research«, in: Robert Frodeman, Julie Klein, Carl Mitcham (Hg.): Oxford Handbook of Interdisciplinarity, Oxford 2010, S. 31-38; Wolfgang Krohn: »Learning from Case Studies«, in: Gertrud Hirsch Hadorn et. al. (Hg.): Handbook of Transdisciplinary Research, Springer Science 2008, S. 369-384.
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eines experimentellen Befundes, das darauf rückschließen lässt, dass und wieweit das Geschehen in einem Experimentalsystem zutreffend ist für das Geschehen, für das es ein Exemplar ist. Fast regelmäßig wird hier die Wissenschaft durch vorschnelle Generalisierung in die Irre geleitet. So hat man lange geglaubt, dass psychologisch-ökonomische Laborexperimente zur Entscheidungsfindung übertragbar sind in die ›wirkliche‹ Welt, bis man herausfand, dass das Experimentieren mit echtem Geld und tatsächlichen Gewinn- und Verlusterfahrungen zu anderen Ergebnissen führt. Mit neuen, dem Realexperiment näher stehenden Anordnungen konnte man die Validität deutlich erhöhen, obwohl man wahrscheinlicher immer noch weit vom tatsächlichen Marktgeschehen entfernt ist.33 Realexperimente haben ohne Frage erhebliche Nachteile hinsichtlich der Reliabilität (oder internen Validität), da es immer problematisch ist, die Veränderungen eines Experimentalsystems eindeutig auf Interventionen zurückzuführen, wenn dafür keine Variationsmöglichkeiten der Interventions-Inputs zur Verfügung stehen. Dagegen steht der Vorteil, dass im Falle von Realexperimenten das Experimentalsystem ›sein eigener Fall‹ ist, für dessen Gültigkeit kein zusätzlicher Schritt unternommen werden muss. Wissenschaftstheoretisch ist der Königsweg vorgezeichnet. Wenn eine geschickte Kombination beider Erkenntnisstrategien gelingt, kann die Gesamtvalidität gesteigert werden. Jedoch kann es auch sein, dass die Dualität zwischen der Erkenntnis des Einzelfalls mit seinen singulären Strukturen und der Suche nach generalisierbaren Gesetzmäßigkeiten eine unauflösbare Spannung ergibt, die vielleicht sogar für die Wissensgesellschaft der Zukunft charakteristisch ist. Ein drittes Merkmal betrifft die Kontinuität des Experimentalsystems; es hängt mit den beiden vorhergehenden zusammen. Der logische Grundgedanke des Experimentierens ist die Reversibilität des Handelns – in der Wissenschaft wie im Leben. Man probiert etwas aus und hat einen Rückweg offen. Jedoch ist die Macht der Faktizität der vermeintlich nur zur Probe gewählten Alternativen erheblich. Bei Realexperimenten bedeutet dies, dass der Lernprozess in der Regel auf die Optimierung des Experimentalsystems gerichtet ist, nicht auf den Abbruch. Überraschungen, die auf strategischen Fehlern, mangelhaften Modellierungen oder offenen Rändern des Systems beruhen, führen nicht zum Abbruch – außer bei Gefahren für die Gesundheit –, sondern zum besseren Verständnis und angemesseneren Operieren. Dafür sind nicht nur ökologische Projekte gute Beispiele, sondern auch die vielfachen Formen, in denen heute Nutzer neuer
33 Siehe Andreas Dieckmann: Spieltheorie. Einführung, Beispiele, Experimente, Reinbek 2009; Ernst Fehr, Simon Gächter: »Altruistic punishment in humans«, in: Nature 415, 2002, S. 137-140.
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Technologien über sogenannte Beta-Versionen an deren Entwicklung beteiligt werden. Es kann sogar eher als politische Kurzsichtigkeit gelten, wenn beispielsweise bei pädagogischen oder sozialpolitischen Reformen ohne Abwarten der Wirkungen und ohne Versuche, aus den Fehlern etwas für die Verbesserung des Reformansatzes zu gewinnen, die nächste Mehrheit die nächste Reform durch das Land jagt. So eigentümlich es klingt: Realexperimentellen Reformen hängt ein gewisser Konservativismus an, der dadurch bedingt ist, dass in das Design, die soziale Akzeptanz, den Aufbau von Beobachtung und Auswertung viel investiert worden ist – übrigens auch finanziell. Der dadurch angestoßene Lernprozess ist darauf gerichtet, rekursiv die Erfahrungen einzubauen, anstatt alles stehen und liegen zu lassen.
S CHLUSSBEMERKUNG Realexperimente sind keine Übertragungen des Experimentierens im Labor in dafür nicht vorgesehene Umgebungen, sondern sind eingebettet in Modernisierungs- und Innovationskontexte, die zwar angestrebt werden, aber für die das dafür benötigte Wissen nicht hinreichend zur Verfügung steht. Die sogenannte Wissensgesellschaft ist nicht allein dadurch charakterisiert, dass ihr immer umfangreicher anerkanntes Wissen zur Verfügung steht, sondern auch dadurch, dass sie sich in ihrer Innovationsdynamik immer stärker auf den forschenden Umgang mit Nichtwissen einlässt. Dass dafür theoretisches Wissen, Methoden und instrumentelle Ausstattung der beteiligten Disziplinen genutzt werden, steht außer Frage; denn Realexperimente sind keine Alternative zur wissenschaftlichen Forschung, sondern eine Form des Forschens unter besonderen Komplexitätsbedingungen. Sie setzen sich gesellschaftlich umso stärker durch, je demokratischer die Modernisierungsprozesse werden, je mehr also Betroffene des Wandels zu Beteiligten an dessen Design werden.
Autorinnen und Autoren
Brigitte Falkenburg ist Professorin für Theoretische Philosophie mit Schwerpunkt Philosophie der Wissenschaft und Technik an der TU Dortmund. Ihre Arbeitsgebiete umfassen: Kants Theorie der Natur, Neukantianismus, Philosophische Probleme der Physik, Naturalismus, Determinismus und Hirnforschung, Philosophie der Technik. Publikationen, u.a.: Wem dient die Technik?, 2004; Particle Metaphysics, 2007. Gerhard Gamm ist Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Sprache, Wissen und Informationstechnologie; philosophische, wissenschaftliche und technische Aspekte der Unbestimmbarkeit (Überdeterminiertheit, Unberechenbarkeit, Ungewissheit und Risiko, Fraktalität usf.); Sozialphilosophische und ethische Probleme der modernen Welt. Veröffentlichte u. a. folgende Bücher: Der Deutsche Idealismus, 1997; Nicht nichts, 2000; Der unbestimmte Mensch, 2004; Philosophie im Zeitalter der Extreme, 2009. Petra Gehring ist Professorin für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Metaphysik und Metaphysikkritik im 19. und 20. Jahrhundert, klassische und nachklassische Phänomenologie, (Post-)Strukturalismus, Theorie- und Machtgeschichte der Lebenswissenschaften, Theorie von Zeichen – Text – Medien, Philosophische Begriffsgeschichte, Metaphorologie sowie ausgewählte Fragen der Ästhetik. Letzte Buchveröffentlichungen: Was ist Biomacht?, 2006; Traum und Wirklichkeit, 2008; Theorien des Todes. Zur Einführung, 2010. Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität Frankfurt/Main sowie Co-Sprecher des Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen. Jüngste Veröffentlichung: Die Herausbildung normativer Ordnungen, 2011 (als Mitherausgeber).
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Jens Kertscher lehrt am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachphilosophie und damit zusammenhängende Themen wie Normativität, Objektivität und Wahrheit in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie, sowie die Philosophie des Pragmatismus. Zuletzt erschien: Pragmatismus. Philosophie der Zukunft?, 2008 (als Mitherausgeber). Wolfgang Krohn war bis 2006 Professor für sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung an der Fakultät für Soziologie und am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Wissenschafts- und Techniksoziologie die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, Realexperimente und Ästhetik in der Wissenschaft. Jüngste Buchveröffentlichungen: Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, 2007 (als Mitherausgeber); Methoden transdisziplinärer Forschung, 2010 (als Mitherausgeber). Georg Lohmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Otto-vonGuericke Universität Magdeburg; Mitglied der dortigen Arbeitsstelle Menschenrechte. Forschungsschwerpunkte: Menschenrechte, Ethik u. Angewandte Ethik, politische Philosophie. Jüngere Veröffentlichungen: Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 2000 (als Mitherausgeber); Philosophie der Menschenrechte, 2002 (als Mitherausgeber); Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, 2008 (als Mitherausgeber). Matthias Luserke-Jaqui ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt. Lehr- u. Forschungsgebiete: die Literatur vom Beginn des Buchdrucks bis zur Gegenwart mit dem Schwerpunkt Kulturgeschichte der Literatur, 18. Jahrhundert und Literatur der Klassischen Moderne. Letzte Buchveröffentlichungen: Über Literatur und Literaturwissenschaft, 2003; Eduard Mörike, 2004; Friedrich Schiller, 2005; Schiller-Handbuch, 2005 (als Herausgeber); Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe, 2011. Alfred Nordmann ist Professor für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt. In jüngster Zeit setzt er sich insbesondere für eine Philosophie der Technowissenschaften ein. Dabei geht es um erkenntnistheoretische Aspekte heutiger Forschungskultur. Jüngste Publikationen: Technikphilosophie. Zur Einführung, 2008; Das bunte Gewand der Theorie, 2009 (als Mitherausgeber); Science in the Context of Application, 2010 (als Mitherausgeber).
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
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Michael Pauen ist Professor für Philosophie des Geistes an der HumboldtUniversität zu Berlin; Sprecher der Berlin School of Mind and Brain. Jüngste Publikationen: Illusion Freiheit?, 2004; Was ist der Mensch?, 2007. Nicolas Pethes ist Professor für Neugermanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Schwerpunkte seiner Forschung sind Gedächtnistheorie, Medientheorie, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte sowie Populärkultur. Jüngere Publikationen umfassen: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung, 2008; Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, 2009 (als Mitherausgeber). Gunzelin Schmid Noerr ist Professor für Sozialphilosophie, Sozialethik und Anthropologie an der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach. Mitherausgeber der Gesammelten Schriften und Briefe Max Horkheimers (1985-1996). Buchveröffentlichungen, u. a.: Gesten aus Begriffen. Konstellationen der Kritischen Theorie, 1997; Kultur und Unkultur, 2005 (als Herausgeber); Geschichte der Ethik, 2006. Jan C. Schmidt ist Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie/-soziologie/-ethik an der Hochschule Darmstadt. Zeitweise zudem Industrie- und Unternehmensberatung mit der Gesellschaft für Industriephysik mbH, Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts-, Technik- und Kulturphilosophie, Interdisziplinaritätsphilosophie, Technikfolgenabschätzung, Angewandte Ethik, Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Chaos-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie. Publikationen, u. a.: Instabilität in Natur und Wissenschaft, 2008.
Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen Mai 2011, 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7
Rita Casale Heideggers Nietzsche Geschichte einer Obsession (aus dem Italienischen übersetzt von Catrin Dingler) 2010, 374 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1165-6
Oliver Flügel-Martinsen Jenseits von Glauben und Wissen Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne Januar 2011, 144 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1601-9
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Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel September 2011, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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Fernand Mathias Guelf Die urbane Revolution Henri Lefèbvres Philosophie der globalen Verstädterung 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1511-1
Bernd Kronenberg Die Zerbrechlichkeit des Wahren Richard Rortys Neopragmatismus und Adornos Negative Dialektik 2010, 386 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1410-7
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2010, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1453-4
April 2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1445-9
Peter Nickl, Georgios Terizakis (Hg.) Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit? Philosophische Ergründungen. Texte zum ersten Festival der Philosophie in Hannover 2008 2010, 244 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1268-4
Nikolaus Urbanek Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente 2010, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1320-9
Morris Vollmann Freud gegen Kant? Moralkritik der Psychoanalyse und praktische Vernunft 2010, 262 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1360-5
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